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Musik als Experiment

Christian Grüny Musik als Experiment On the contrary, you must give closest attention to everything. John Cage John Cage, Experimental Music: Doctrine, in: ders., Silence. Lectures and Writings, Middletown 1973 (Wesleyan UP), S. 13-17, hier 16. 1. Zum Begriff des Experimentellen Die Rede von experimenteller Musik ist geläufig, mehr noch als die von experimenteller Kunst, und sie ist vielfach äußerst diffus. Bisweilen bezeichnet die Charakterisierung als experimentell wenig mehr als eine von den Hörern als solche empfundene Fremdartigkeit, ein Bruch von Konventionen – Heinz-Klaus Metzger spricht ärgerlich vom „Schindluder“ Heinz-Klaus Metzger, Zum Begriff des Experimentellen in der Musik, in: Positionen 82 (2010), S. 35-38 (Teil 1), Positionen 83 (2010), S. 32-36 (Teil 2), hier Teil 1, S. 35, der mit dem Begriff getrieben wird. Als Beispiel mag hier die Definition auf indiepedia.de dienen, einem laut Selbstbeschreibung „deutschsprachigen Wiki zur Indie- und Popkkultur“,, wo es heißt: „Als experimentelle Musik oder auch Avantgarde wird Musik bezeichnet, die sich so weit vom Mainstream entfernt, dass sie in ihrer Andersartigkeit als experimentell empfunden wird.“ http://www.indiepedia.de/index.php?title=Experimentelle_Musik_/_Avantgarde, abgerufen am 6.3.2012. Diese Bestimmung ist insofern aufschlussreich, als sie einen bestimmten Alltagsgebrauch des Wortes auf den Punkt bringt, dem wirklich alle Kategorien verschwimmen, wo er es mit Ungewohntem zu tun hat. Inhaltlich ist damit offensichtlich wenig gewonnen. Nun ist es aber auf der anderen Seite auch nicht so, als wäre die Sache vollkommen klar und wir hätten es nur mit laienhaften Unverstand zu tun, der mit einigen Klarstellungen von berufener Seite ausgeräumt werden könnte. Uneinigkeit könnte darüber bestehen, was überhaupt unter Experiment und Experimentalität verstanden werden soll, auf welche Dimension(en) der Musik man sich bezieht und ob wir es mit einer Deskription, einem Ehrentitel oder einer Beleidigung zu tun haben. Um diese Sachlage ein wenig zu sortieren, möchte ich zuerst eine genauere Bestimmung des Experimentellen versuchen, die sich produktiv auf die Musik anwenden lässt; dazu werde ich auf Vorschläge von Lydia Goehr, Hans-Jörg Rheinberger und Niklas Luhmann zurückgreifen. Von hier aus kann ein Blick in die drei Felder musikalischer Praxis geworfen werden, die besonders relevant erscheinen: Improvisation, Indeterminiertheit und Prozesshaftigkeit. Diese Unterteilung ist nicht ganz deckungsgleich mit derjenigen, die Marion Saxer vorgenommen hat, und insgesamt legt der vorliegende Beitrag einen etwas anderen, eher theoretisch-systematischen Akzent (vgl. Marion Saxer, Nichts als Bluff? Das Experiment in Musik und Klangkunst des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in: Musik & Ästhetik 43 (2007), S. 53-67). Saxers Ausführungen im Einzelnen und ihrem Resümee eines Verschwimmens der scheinbar klaren Grenze zwischen Künsten und Wissenschaften und damit zwischen kontrolliertem Experiment und offener Experimentalität kann ich weitgehend zustimmen. Während es sich in den ersten beiden Fällen um Begriffe handelt, die gerade auch im Hinblick auf Experimentalität viel diskutiert worden sind und werden, mag letzterer in diesem Kontext überraschen. Es wird sich aber zeigen, dass man nicht nur in den naheliegenden Feldern mit Experimentellem zu rechnen hat. Ob Musik experimentell ist oder nicht, mag sich dann nicht nur daran entscheiden, wie sie gemacht ist bzw. wird, sondern auch daran, wie sie aufgefasst und beschrieben wird. Lydia Goehr stellt in ihrem Text zum Experiment in der Musik eine aufschlussreiche musikalisch-philosophische Konstellation bestehend aus Francis Bacon, John Cage und Theodor W. Adorno zusammen und führt in diesem Kontext eine zunächst erhellende Unterscheidung ein, die aber selbst noch einmal befragt werden muss: diejenige zwischen dem Experiment und dem Experimentellen. Sie führt aus: „In short, in an experiment, the planning happens in advance, clear objectives are laid out, and optimal conditions are sought; where errors occur, they are conveniently theorized and controlled. […] At the other end of the spectrum, the concept of experimental exudes the aura of open-endedness, revisability, and incompleteness.“ Lydia Goehr, Explosive Experiments and the Fragility of the Experimental, in: dies., Elective Affinities. Musical Essays on the History of Aesthetic Theory, New York 2008, S. 108-135, hier 117. Auch wenn man zuerst einmal die Naturwissenschaft am einen und die experimentelle Kunst am anderen Ende dieses Spektrums verorten würde, zeigt Goehr, dass die Sache so einfach nicht ist. Es ist durchaus nicht so, dass die Kunst insgesamt und die Musik im besonderen ausschließlich auf der Seite des Experimentellen zu verorten wären – die Arbeit mit Versuchsanordnungen und in Serien und die geläufige Rede von „Laboren“ weisen auf ein Selbstverständnis hin, das zumindest die Assoziation systematischer Forschung evoziert bzw. explizit in Anspruch nimmt. Edgar Winds Beschreibung der Ergebnisse einer solchen Haltung lassen sich vielleicht weniger auf tatsächliche musikalische Praxis als vielmehr eine bestimmte Grundhaltung beziehen (sein Gegenstand ist primär die bildende Kunst): [W]enn diese strikten Lösungen dann ausgestellt werden, reduzieren sie den Betrachter zum Beobachter, der des Künstlers letzte Forschungsreise mit Interesse, aber ohne innere Anteilnahme zur Kenntnis nimmt.“ Edgar Wind, Kunst und Anarchie, Ffm 1979, S. 26. Auf der anderen Seite ist die Frage, ob Goehrs Beschreibung des (naturwissenschaftlichen) Experiments die Sache tatsächlich trifft. Sie folgt hier der klassischen Popperschen Vorstellung einer feststellbaren Struktur, einer Logik wissenschaftlichen Forschens: „Der Experimentator wird durch den Theoretiker vor ganz bestimmte Fragen gestellt und sucht durch seine Experimente für diese Fragen und nur für sie eine Entscheidung zu erzwingen; alle anderen Fragen bemüht er sich dabei auszuschalten.“ Karl Popper, Logik der Forschung, Tübingen 81984, S. 72. Das Bild, das die lab studies, die sich naturwissenschaftlicher Forschung in ihrer konkreten Praxis zugewendet haben, in den vergangenen Jahrzehnten gezeichnet haben, ist ein vollkommen anderes: Anschließend an den Wissenschaftstheoretiker und Epistemologen Ludwik Fleck konnten Bruno Latour, Steve Woolgar, Karin Knorr-Cetina, Hans-Jörg Rheinberger und andere zeigen, dass die Forschung von einem Zusammenspiel von Theorien, materiellen Anordnungen, habituellen Dispositionen und konkreten Praktiken geprägt ist und sich durchaus nicht der Vorstellung einer geregelten Reihe von möglichst streng determinierten und replizierbaren Abläufen fügt. Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980; Bruno Latour u. Steve Woolgar, Laboratory Life: The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986; Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1991; Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt am Main 2006. Ich möchte im Folgenden auf Rheinbergers Rekonstruktion naturwissenschaftlicher Forschung eingehen, die mir besonders geeignet für eine Anwendung auf künstlerische Praktiken erscheinen. Ob es demgegenüber experimentelle künstlerische und speziell musikalische Praxis im strengen Sinne des Experiments überhaupt gibt, ist alles andere als klar – und sie wären, da hat Wind recht, ohnehin nicht sonderlich interessant. Um das Setting zu beschreiben, innerhalb dessen Forschung stattfindet, führt Rheinberger den Begriff des Experimentalsystems ein. Beschrieben werden soll damit ein Ensemble von materiellen Apparaturen, Institutionen und Praktiken, in dem sich die Forscher bewegen und das sie so sehr prägen wie es umgekehrt sie prägt. Vorrichtungen und Instrumente (der Vergleich mit der Musik liegt hier auf der Hand) sind Externalisierungen bestimmter Praktiken, die ein Eigenleben entwickeln und in denen sich wiederum die Wissenschaftler einrichten. Rheinberger spricht in diesem Zusammenhang von einer Erfahrenheit des Umgangs, die schließlich die Fähigkeit eröffnet, „mit den Händen zu denken“ Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a.a.O., S. 92. – und es scheint mir kaum ein besseres Beispiel für dieses leiblich verankerte Denken zu geben als das virtuose Spielen eines Musikinstruments. Dabei steht jenes manuelle Denken stellvertretend für das zwanglose sich Bewegen im Experimentalsystem insgesamt, den Umgang mit einem materiellen, sozialen und diskursiven Kontext, auf den man sich verlassen kann; für die Musik wäre hier etwa an die Notation, an Praktiken des Zusammenspiels, des Auftretens etc. zu denken. Um diese Verlässlichkeit zu erreichen, müssen die Systeme eine bestimmte Stabilität haben, die aber niemals vollständig sein kann, wenn sie nicht jegliche Veränderung zunichte machen soll. Innerhalb ihrer trifft Rheinberger eine wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen technischen und epistemischen Dingen. Technische Dinge sind Gegenstände oder vielleicht besser Entitäten, deren Identität, Funktion und Handhabung hinreichend klar ist, so dass sie zu einem Teil dessen werden können, das man in der experimentellen Forschung nicht mehr befragen muss, sondern auf das man sich stützen kann. Epistemische Dinge hingegen sind Gegenstände der Forschung: Dinge, von denen noch nicht wirklich klar ist, was sie sind, die sich auf der Schwelle zwischen Postulat und Wirklichkeit und damit noch im Diffusen bewegen. Ein anschauliches Beispiel dafür findet sich in Flecks Beschreibung der Entdeckung der Diphterieerreger: wie sich offenbar für die Forscher am Mikroskop nur sehr allmählich, über Jahre hinweg ein Bild klärte, eine charakteristische Gestalt sichtbar wurde. Vgl. Ludwik Fleck, Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen, in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1983, S. 59-83. Dabei sind sowohl die Stabilität der einen wie auch die Diffusität der anderen Dinge relative Größen, so dass die Unterscheidung „im historischen Verlauf des Forschungsprozesses einer ständigen Revision unterliegt“ Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a.a.O., S. 31. – epistemische Dinge stabilisieren sich, werden sozusagen benutzbar und wechseln den Status von Forschungsgegenständen zu Forschungsmitteln, während umgekehrt technische Dinge wieder fragwürdig werden können. Eingeführt wird die Unterscheidung, um das experimentelle Geschehen zu verstehen, das weder ein beliebiges Fischen im Trüben noch die peinliche Befragung der Natur ist, also um „das Spiel der Hervorbringung von Neuem zu verstehen, das Auftauchen unvorwegnehmbarer Ereignisse, und damit das Wesen der Forschung“ Ebd.. Experimentalsysteme insgesamt sind, in den Worten von François Jacob, eine „Maschinerien zur Herstellung von Zukunft“ Zit. A.a.O., S. 25.. Zukunft steht hier für Offenheit, für die Emergenz des Unvorhersehbaren, Neuen, das das Ziel experimenteller Forschung als solcher ist. Die lückenlose Herleitbarkeit, die die Vorstellung nähren mag, man habe das jeweils sich Ereignende in einem Popperschen Sinne systematisch hervorgebracht, ist für Rheinberger ein retrospektive Illusion. Mit diesem Motiv ist die Bergsonsche Zeittheorie aufgerufen, die die ständige Emergenz des Neuen betont und die Projektion seiner Vorgeschichte in die Vergangenheit als „rückläufige Bewegung des Wahren“ Vgl. Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 21ff. bezeichnet: In dem Moment, in dem sich das Neue als eindeutig und identifizierbar stabilisiert hat, scheinen alle Fäden der Vergangenheit auf es zuzulaufen. Die Gegenwart ist dann der Umschaltpunkt, an dem Zukunft und Vergangenheit jeweils neu figuriert werden. George Herbert Mead spricht davon, dass „die Gegenwart, in der das Neu-Entstehende auftritt, das Neue als einen wesentlichen Bestandteil des Universums aufnimmt und von hier aus ihre Vergangenheit neu beschreibt“ George Herbert Mead, Philosophie der Sozialität, in: ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie, Frankfurt am Main 1969, 229-324, hier 240.. Nun ist dies als Beschreibung von Zeitlichkeit insgesamt gemeint und als solche für unsere (und Rheinbergers) Zwecke zu allgemein. Sie ist produktiv als Erinnerung daran, dass Zeit weder als vollständig ausgebreitete Strecke noch auch als bloßes Vergehen oder reine Kontinuität gedacht werden kann, dass die Stabilität des „und so weiter“ stets prekär bleibt und jeweils neu auf dem Spiel steht – auch wenn es anders erscheinen mag. Das Neue ist in diesem Sinne die Normalität. Um aber etwas zu produzieren, das im reicheren Kontext von Wissenschaft oder Kunst auch als Neues zählt, bedarf es eigener Vorkehrungen. Diesseits der Komplexität historisch gewachsener Experimentalsysteme formuliert Niklas Luhmann Methode als Minimalbedingung für diese Produktion von Offenheit: „Methoden erlauben es der wissenschaftlichen Forschung, sich selbst zu überraschen. Dazu bedarf es einer Unterbrechung des unmittelbaren Kontinuums von Realität und Erkenntnis, von dem die Gesellschaft zunächst ausgeht.“ Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Ffm 1998, S. 37. Auch wenn sie sich nicht darauf reduzieren lässt, wäre der Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Methode damit die Unterbrechung des Selbstverständlichen. Als Methode kann von dort aus nicht nur ein systematisches, unabhängig von seiner Anwendung festleg- und beschreibbares Vorgehen gelten (oder vielleicht gerade dieses nicht?), sondern jede Beobachtung, die sich auf einen Bruch mit dem alltäglichen Verhalten gründet und von diesem Bruch die Richtung ihres Vorgehens nimmt. Als Ziel methodischen Verhaltens überhaupt gilt dabei interessanterweise die Möglichkeit, überrascht zu werden bzw. sich selbst zu überraschen, also gerade nicht die Steigerung der Kontrolle – keine gute Methode ohne die Dimension des Experimentellen, aber auch kein Experimentelles ohne Methode. Woran Rheinberger und Luhmann damit erinnern, ist, dass Offenheit nicht einfach besteht und man sie sich auch nicht schlicht vornehmen kann, sondern sie hergestellt werden muss, und dass dieses Herstellen sich auf die relative Stabilität eines in irgendeiner Weise organisierten Ausgangspunktes verlassen muss. Die Motive des Experimentalsystems und der Methode geben Aufschluss über Experimentalität bzw., allgemeiner, die Produktion von Neuem insgesamt, und sie sind flexibel genug, um auch ganz andere Formen zu beschreiben als naturwissenschaftliche Labore und soziologische Methoden. Für die Musik könnte beim Bruch mit der Klanglichkeit und dem Hören des Alltags angesetzt werden, der für sie insgesamt konstitutiv ist, aber das reicht nicht aus. Musikalische Offenheit bedarf einer zusätzlichen Anstrengung, einer nochmaligen Verfremdung – um den Begriff der Methode durch einen kunstnäheren zu ersetzen. Erst dann mag man sie experimentell nennen. Unterschiedliche Formen dieser Verfremdungstechniken möchte ich nun in den Blick nehmen, wobei es mir ausdrücklich nicht um das Thema künstlerischer Forschung geht, das in den vergangenen Jahren besonders in der bildenden Kunst Karriere gemacht hat. Die Frage ist vielmehr, inwiefern eine bestimmte musikalische Praxis sinnvoll als experimentell bezeichnet werden kann, auch ohne dass sie sich explizit als Forschung versteht und beschreibt. Ob der Kampf um akademische Anerkennung und die Verteilung von Ressourcen, der sich mit der Rede von künstlerischer Forschung vielfach verbindet, besonders gut geeignet ist, produktive Perspektiven zu eröffnen, wäre doch zu befragen. 2. Improvisation und Situation Es erscheint naheliegend, die Improvisation als den eigentlich experimentellen Teil der Musik zu verstehen. Gerade im Gegensatz zur Komposition scheint Improvisation die Verkörperung des Offenen und der Inbegriff des Experiments zu sein. Mit ihr verbinden sich Hoffnungen wie die des Ausbruchs aus eingefahrenen Bahnen, aus verkrusteten, beengenden Strukturen in eine ungeahnte, nicht abzusehende Freiheit – eine „einlösbare Utopie“ Theo Jörgensmann u. Rolf-Dieter Weyer, Kleine Ethik der Improvisation, Essen 1991, S. 31. Noglik beschreibt Improvisation als einen Versuch, „eine Bewegung in Gang zu setzen und weiterzuführen, die den Grundkategorien unserer auf Zweckrationalität, Quantifizierbarkeit und Kategorisierung beruhenden Kultur zuwiderläuft“ (Bert Noglik, Improvisation als kulturelle Herausforderung. Zu Spielhaltungen, Spezifika der Rezeption und zur sozialen Relevanz frei improvisierter Musik, in: Walter Fähndrich (Hg.), Improvisation, Winterthur 1992, S. 112-132, hier 128).. Nicht umsonst wurde die Musikrichtung, in der jede vorab festgelegte Form allmählich verabschiedet wurde, Free Jazz genannt: frei nicht nur von konkreten Vorgaben, sondern am Ende von den rhythmischen, harmonischen und melodischen Strukturen, die der westlichen Musik zugrundeliegen, und schließlich noch vom Zwang der Koordination in der Gruppe, verspricht sie einen Zugewinn an realer, nicht nur musikalischer Freiheit. Natürlich lässt sich Improvisation nicht auf diese Beispiele reduzieren, und immer wieder wurde festgehalten, dass historisch gesehen Improvisation einen beträchtlichen Teil der auf der Welt gespielten Musik ausmacht – und dass sich all das sicherlich nicht auf Experimentalität festlegen lässt. Der naheliegende Gegensatz zwischen Improvisation und Komposition gerät ins Schwanken, wenn man sich diese unterschiedlichen Musikformen genauer ansieht, und am Ende erweisen sich beide Begriffe als zu eng: Sie beschreiben nur eine Variante der grundsätzlicheren Unterscheidung zwischen vor der eigentlichen Performance festgelegten Formen und der Freiheit der Musiker in der Performance, also letztlich zwischen Bindung und Freiheit der Musiker. Es ist nebenbei bemerkt bezeichnend, dass man hier auf einen englischen Begriff zurückgreifen muss, weil die deutschen Begriffe „Konzert“ und „Aufführung“ beide deutlich zu eng sind: Ersterer markiert eine sehr spezifische kulturelle Praxis, letzterer verweist auf die Realisierung einer Komposition. Dass wir es hier nicht mit kategorialen Unterschieden, sondern mit einem Kontinuum zu tun haben, in dem unterschiedliche Kulturen an unterschiedlichen Stellen Grenzen gezogen haben, zeigt die Musikethnologie Vgl. Bruno Nettl, Thoughts on Improvisation: A Comparative Approach, in: Musical Quarterly LX, 1 (1974), S. 1-19.; überdies ist der Begriff der Komposition nur eine sehr spezifische, nämlich auf Schriftlichkeit mit all ihren Implikationen beruhende Form der Festlegung. Dennoch möchte ich der Einfachheit halber als heuristische Instrumente an den beiden Begriffen festhalten. In einer zugegebenermaßen groben Typisierung ließen sich dann vier unterschiedliche Verhältnisse unterscheiden: Improvisation im Rahmen von Komposition, als Quelle und Substitut von Komposition, als Realisierung von Komposition und als Alternative zur Komposition. Dass damit nur sehr allgemein, selektiv und typisierend auf die unterschiedlichen improvisatorischen Praktiken und ihre theoretische Aufarbeitung zugegriffen wird, ist offensichtlich. Zur Vielfalt der musikalischen Kulturen und theoretischen Ansätze und ihren kulturhistorischen und -politischen Dimensionen vgl. etwa Gabriel Solis u. Bruno Nettl (Hg.), Musical Improvisation. Art, Education, and Society, Urbana u. Chicago 2009 (Chicago UP) u. die Zeitschrift Critical Studies in Improvisation (www.criticalimprov.com). Es sind die letzten beiden Fälle, die mich hier vor allem interessieren werden. Fälle einer Musik, in der die Improvisation an den Stellen eintritt, an denen die Komposition ihr einen Freiraum lässt, lassen sich in der westlichen Musik in großer Zahl finden. Ein offensichtliches Beispiel wäre die Kadenz im klassischen Solokonzert, die dem Solisten einen eigenen, klar umgrenzten Gestaltungsraum bietet, in dem er seine Virtuosität unter Beweis stellen kann (eine Praxis, die bereits im 19. Jahrhundert abgestorben ist); weitere die wechselnden Solopartien im Jazz – man ist versucht, diese Spielart des Jazz ebenso mit dem Attribut des Klassischen zu versehen und denkt an Wynton Marsalis und das Lincoln Center – und das obligate Gitarrensolo in der Rockmusik. Die zeitlichen Grenzen, innerhalb derer die Improvisation stattfinden kann, das weiterlaufende harmonische Gerüst des jeweiligen Stückes, innerhalb dessen sich der Solist halten muss, das Material, mit dem er arbeiten kann und das in der Regel auf ein Repertoire an klassischen Wendungen eingeschränkt, die er mehr oder weniger originell variieren und kombinieren kann – Verteidiger der Improvisation sprechen von „patterns“, Kritiker von „Klischees“ – bilden hier eine Art musikalisches Experimentalsystem von einiger Rigidität. Nun muß man aufpassen, nicht bereits in die Beschreibung eine so deutliche Wertung einzubauen, dass die Sache von vornherein klar erscheint. So hat Adorno bekanntlich den Jazz wahrgenommen: Das harmonische und metrische Gerüst ist fixiert und im übrigen rigide, das Zusammenspiel geregelt, und hin und wieder tritt einer der Musiker nach vorn, um einen Ausbruch aus dem musikalischen und sozialen Korsett auf-, aber niemals wirklich auszuführen. Seine befreienden Gesten bleiben stereotyp und befangen, und schließlich tritt er wieder ins Kollektiv zurück, dessen Herrschaft sich dadurch noch festigt. Vgl. Theodor W. Adorno, Über Jazz, in: ders., Musikalische Schriften IV (Gesammelte Schriften Bd. 17), Ffm 1982, S. 74-100, und in zahlreichen anderen Texten in den folgenden dreißig Jahren. Man kann nicht leugnen, dass es solche Musik gegeben hat und gibt, Stücke und Konzerte, bei denen jedes Solo den Geist von Uniformität atmet; das immer wiederkehrende Faktum der sich abwechselnden Soli ist selbst ein Stereotyp, das in der heutigen Wahrnehmung allerdings vermutlich weniger als Befestigung von Herrschaft als vielmehr schlicht als langweilig erscheinen wird. Dass das aber niemals alles war, dass in der Qualität der individuellen Stimme, der musikalischen und sozialen Rolle der kollektiven Improvisation und schließlich auch in der immer weiteren Öffnung der Formen eine Befreiung lag, die diese Beschreibung ignoriert, ist Adorno seitdem zu recht entgegengehalten worden. Was er ebenso wenig in den Blick bekommt, ist die Rolle des Jazz als kultureller Darstellungs- und Reproduktionsmechanismus und als politischer Faktor, dessen Veränderungs- und Innovationskraft nicht unbedingt auf die einzelne musikalische Form zurückgerechnet werden kann. Vgl. dazu die detailreiche Untersuchung von Paul F. Berliner, Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation, Chicago 1994 (University of Chicago Press); Ben Sidran, Black Talk. Schwarze Musik – die andere Kultur im weißen Amerika, Hofheim 21993 (auch wenn Sidrans Begriff von oral culture aus heutiger Sicht zu eindimensional erscheint und Jazz heute sicher nicht mehr die Rolle spielt, die er ihm einräumt, bleibt das Buch aufschlussreich); zur politischen Dimension vgl. Ingrid Monson, Freedom Sounds. Civil Rights Call out to Jazz and Africa, New York 2007 (Oxford UP). Mit dem bloßen Einräumen eines Freiraums innerhalb des ansonsten Festgelegten ist wenig darüber gesagt, inwiefern und auf welche Weise die Maschinerie der Musik sich hier auf die „Herstellung“ von Zukunft orientiert. Im Zentrum steht hier in der Regel weniger die Offenheit des Experimentellen als vielmehr die Zurschaustellung von Virtuosität und, im Jazz, die Authentizität des Ausdrucks, die eher auf kommunikative Teilhabe als auf bloße Präsentation zielt. „We were expressing our minds and emotions as much as could be captured by electronics“ Ornette Coleman Double Quartet, Free Jazz, Atlantic SD 1364. – so Ornette Coleman in den liner notes von Free Jazz aus dem Jahr 1961 (einer Aufnahme, die freilich in die letzte der hier zu verhandelnden Kategorien gehört). Dahlhaus’ skeptische Einschätzung, die Improvisation sei für Spontaneität und subjektive Authentizität zuständig, ohne aber wirklich Neues hervorbringen zu können, scheint hier Anhalt zu haben. Carl Dahlhaus, Was heißt Improvisation, in: Reinhold Brinkmann (Hg.), Improvisation und neue Musik, Mainz 1979, S. 9-23, hier 20. Und dennoch ist hier die Stabilität nur eine relative, und die Grenze zwischen technischen und epistemischen Dingen lässt sich nicht auf Dauer festschreiben, wie im Jazz die nur wenige Jahrzehnte dauernde Entwicklung von King Oliver zu Coleman, Cecil Taylor und John Coltrane zeigt. Die zweite Rolle von Improvisation, die fest in der westlichen Musik verankert war, ist die als Quelle späterer Kompositionen und als ihr Substitut. Bach, Mozart und Beethoven, Schumann, Liszt und Chopin galten als brillante Improvisatoren, aber diese Improvisationen standen im Dienste der Komposition. Vgl. Herbert Schramowski, Der Einfluß der instrumentalen Improvisation auf den künstlerischen Entwicklungsgang und das Schaffen des Komponisten, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 1 (1971), S. 2-17. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Improvisationen nicht auch als Improvisationen ihre spezifische Spur in den Kompositionen hinterlassen haben, statt in ihnen vollständig aufzugehen; vgl. dazu William Kinderman, Improvisation in Beethoven’ Creative Process, in: Solis u. Nettl, Musical Improvisation, a.a.O., S. 296-312 u. Nicholas Temperley, a.a.O., S. 323-341 zu Chopin. Das freie Spiel am Klavier diente der Unterhaltung und dem Ausprobieren von Themen und Formen, die sich später ausarbeiten lassen würden – und auch hier der Präsentation von Virtuosität. Zeitgenössische Stimmen sprechen denn auch weniger von der Kühnheit der Improvisation oder der Neuheit des Erklingenden als von der Verblüffung darüber, wie virtuos und detailliert der Betreffende Formen hervorbringen konnte, die wie komponiert erschienen. In der zeitgenössischen Musik ist derlei kaum vorstellbar; die Ausnahme Scelsi bestätigt eher die Regel, als dass sie sie in Frage stellt. Gehalten hat sich die Improvisation als musikalische Disziplin dieser Art einzig im gesellschaftlich marginalen Bereich der Orgelmusik, wo der bis heute bestehende Ausgangspunkt die Notwendigkeit flexibler Begleitung eines Gottesdienstes ist. Die Improvisation ist hier ebenfalls damit beschäftigt, die Strukturen komponierter Musik nachzuahmen, nun aber ohne das Ziel späterer Ausarbeitung. Sie stellt sich, wie auch der größte Teil der für diesen Anlass komponierten Musik, ganz in den Dienst des Gottesdienstes. Vorgegeben sind hier lediglich der Zweck der Musik und ein Repertoire an Formen; was der Organist genau daraus macht, ist offen, auch wenn das Ergebnis nicht primär auf Originalität zielt. Hier ist die Improvisation noch ein selbstverständlicher Teil der musikalischen Praxis. Vgl. nur ein frühes und ein neueres Buch: Johann Christian Kittel, Der angehende praktische Organist oder Anweisung zum zweckmäßigen Gebrauch der Orgel bei Gottesverehrungen in Beispielen, Erfurt 1801; Reiner Gaar, Orgelimprovisation, Stuttgart 32003. Für eine historisch-systematische Perspektive vgl. immer noch Ernst Ferand, Die Improvisation in der Musik. Eine entwicklungsgeschichtliche und psychologische Untersuchung, Zürich 1938, Kap. VII. 2. Ein tatsächlich vollkommen anderes und für unsere Sache besonders interessantes Verhältnis findet sich etwa in der klassischen nordindischen Musik, wo die Improvisation die musikalische Praxis vollkommen durchdringt. Hier gibt es keine notierten Vorlagen, also keine Komposition in unserem Sinne, was natürlich nicht bedeutet, dass es keine vorgegebenen Formen gibt – nur ist das Verhältnis der Musiker zu diesen Formen ein grundsätzlich anderes. Wenn sie selbst zwischen Komponiertem und Improvisierten unterscheiden, so geben sie einen Anteil von 90-95% Improvisation an. Der Rest sind eher kurze, oft mehrfach wiederholte Passagen, die in ihrer Gestalt genau festgelegt, wenn auch nicht schriftlich fixiert sind. Markus Schmidt ist der Frage nachgegangen, wie realistisch diese Angaben sind, und dabei auf eine Vielzahl musikalischer Formen in unterschiedlichen Graden der Verfestigung gestoßen, auf die die Musiker in ihren Improvisationen zurückgreifen. Vgl. Markus Schmidt, ‚Es improvisiert’. Improvisation in der Nordindischen Kunstmusik, in: Ronald Kurt u. Klaus Näumann (Hg.), Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 99-131. Von der Sache her ist das natürlich nicht überraschend: Kein improvisierender Musiker bestreitet, dass er auf ein von Formen und Regeln durchdrungenes Material zurückgreift; es geht um das Verhältnis, das er jeweils zu diesem Material einnimmt, und der Freiheitsgrad, der sich dadurch ergibt. Entscheidend für diese Musik ist aber etwas anderes, das die hohe Prozentzahl fraglich erscheinen lässt und letztlich die Unterscheidung zwischen „Komponiertem“ und Improvisiertem als solche in Frage stellt: Die Raga, die einzelnen „Stücke“, die die Musiker spielen, sind zwar als solche festgelegt, aber nicht in ihrer konkreten Ausführung. Sie sind aufgrund des Tonvorrats und bestimmter Wendungen identifizierbar, bedürfen aber der Ausgestaltung durch den jeweiligen Musiker, um überhaupt realisiert zu werden. Es ist nicht verkehrt, zu sagen, dass die indischen Musiker „nicht über einen Raga wie ein Jazzmusiker über die Harmonien eines Standards, sondern immer in einem Raga“ Ronald Kurt, Komposition und Improvisation als Grundbegriffe einer allgemeinen Handlungstheorie, in: ders. u. Näumann, Menschliches Handeln als Improvisation, a.a.O., S. 17-46, hier 28f. „Raga“ kann sowohl den Singular als auch den Plural bezeichnen. Ich schließe mich hier den Autoren an, die raga als Plural von rag verwenden. improvisieren, letztlich aber muss man die Sache noch verschärfen: Sie improvisieren den Rag, der kein Rahmen ist, sondern eine der Realisierung bedürftige Einheit, mit Nettls Wort ein Modell. Vgl. Nettl, Thoughts on Improvisation, a.a.O., S. 11. Ganz in diesem Sinne formuliert Schmidt: „Das Ziel dieser jahrelangen Übungspraxis ist, dass sich der Rag im Rahmen einer Performance durch den Musiker manifestieren kann.“ Schmidt, ‚Es improvisiert‘, a.a.O., S. 128. Womit wir es zu tun haben, ist eine nichtschriftliche Herstellung kultureller Kontinuität, wie sie Jan Assmann beschrieben hat, die derjenigen über Texte und deren Überlieferung und Kommentierung – oder, in unserem Fall, über Werke und ihre Interpretationen – in nichts nachsteht, auch wenn sie ganz anders funktioniert. Assmann stellt Repetition und Interpretation als „funktionell äquivalente Verfahren in der Herstellung kultureller Kohärenz“ Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 89. Insofern ist die Rolle des Interpreten einer Beethovensonate eben nicht nur graduell von der eines Sitarspieler, der einen bestimmten rag spielt, verschieden, wie Nettl schließt (vgl. Nettl, Thought on Improvisation, a.a.O., S. 19) – der Unterschied von Literalität und Oralität ist grundlegender. Daher würde ich hier auch am Begriff der Improvisation festhalten, ihn aber nicht wie Benson auch für die Interpretation mit ihren zweifellos ebenfalls gegebenen Spielräumen ansetzen (vgl. Bruce Ellis Benson, The Improvisation of Musical Dialogue. A Phenomenology of Music, Cambridge u.a. 2003 (Cambridge UP)) einander gegenüber; in diesem Fall kann man allerdings nur in einem eigenwilligen Sinne von Repetition sprechen. Zwar werden die einzelnen Modelle immer wieder gespielt, sie müssen dabei aber jedes Mal neu hervorgebracht werden, ohne sich je zu gleichen – keine allmähliche und unvermeidliche Verschiebung also, sondern gänzliche Andersheit des Gleichen. Von Experimentalität in unserem modernen Sinne sind diese Improvisationen denkbar weit entfernt, indem sie gerade nicht auf Offenheit oder gar Neuheit zielen, sondern trotzdem als Medium kultureller Kontinuität und Stabilität fungieren. Das Neue ist hier eine Variation des Dauernden, das nur in Form von Variationen existiert und sich über ihre Vielgestaltigkeit realisiert und dabei unweigerlich auch verändert. Geschichte und Tradition in diesem Sinne sind nicht ein Verhältnis zu einem Vergangenen über die Distanz, sondern seine bewahrende und verändernde Realisierung im Hier und Jetzt. Wenn wir versuchen, auch hier die Rheinbergerschen Kategorien anzuwenden, ergeben sich einige merkwürdige Verschiebungen: Die Ausbildung der Musiker, ihre Instrumente, das Repertoire, der kulturelle Diskurs um die Musik und die Aufführungssituationen sind als System zwar auch eine Maschinerie zur Herstellung von Zukunft, aber diese Herstellung setzt nicht auf das Neue, sondern auf Kontinuität. Dennoch changieren die Raga zwischen technischen und epistemischen Dingen: Sie sind festgelegt und bilden insofern die Basis der gesamten Praxis, die sich auf sie stützt, gleichzeitig sind sie aber nicht präfabriziert oder fixiert, und die Performance kann als immer wieder neue Suche nach dem Vorgegebenen verstanden werden, die es in gewisser Weise allererst hervorbringt. Man muss es paradox formulieren: Das Neue tritt in Gestalt des Alten auf, und das Alte als Neues. Auch wenn sich diese Konstellation so mit Rheinberger erhellen lässt, würde es den Beteiligten vermutlich vollkommen abwegig erscheinen, sie als experimentell zu bezeichnen. Es muss kein sich Abarbeiten am oder sich Absetzen vom Alten geben, um etwas Neues hervorzubringen – und doch setzt man es fort. Der letzte Typ, um den es mir gehen soll, radikalisiert den Spielraum auf eine Weise, die ihn absolut zu setzen versucht. Dass sie sich an die Stelle der Komposition setzt, soll hier bedeuten, dass sie sie nicht mehr imitiert, sondern dem Anspruch nach jede vorher bestehende Festlegung, sei es eine bestimmte metrische Regelmäßigkeit, ein harmonisches Schema, Tonalität als solche oder ein Typus von Zusammenspiel hinter sich lässt, von festgelegten Stücken ganz zu schweigen, um sich ganz der Offenheit des Moments hinzugeben. Seit den sechziger Jahren gibt es hier eine internationale Szene von Musikern, die ursprünglich dem Jazz oder der Neuen Musik entstammen, aber weder an die eine noch die andere Tradition unmittelbar anschließen. Für den europäischen Kontext vgl. etwa die Website www.efi.group.shef.ac.uk. Von der energetischen Aufgeladenheit und der Emphase auf Individualität und Ausdruck des Free Jazz finden sich hier oft kaum noch Spuren, und viele der Musiker betonen immer wieder, dass ihre Musik nicht als eine Variante von Jazz angesehen werden kann. Wo die konkrete Musik extrem von den jeweiligen Musikern, ihren Konstellationen und den Situationen abhängt, in denen sie gespielt wird, kommt es auch nicht zu einem einheitlichen Klangbild. So schreibt der Gitarrist Derek Bailey, einer der Protagonisten und Autor eines aufschlussreichen Buches zum Thema: „The characteristics of freely improvised music are established only by the sonic-musical identity of the person or persons playing it.“ Derek Bailey, Improvisation. Its Nature and Practice in Music, Cambridge, MA 1992, S. 83 Der Verweis auf eine „klanglich-musikalische Identität“ der Beteiligten sollte hier nicht als Bestätigung des Ausdrucksparadigmas verstanden werden, sondern als Verweis auf den musikalischen Hintergrund, die Möglichkeiten und Eigenheiten des jeweiligen Musikers. Damit wird unmissverständlich klar, dass es auch hier absolute Freiheit im Sinne einer Verabschiedung jedweden vorgeformten musikalischen Materials nicht geben kann. Man könnte sagen, dass der frei improvisierende Musiker sich erst einmal in ein Material eingearbeitet haben, also eine möglicherweise facettenreiche musikalische Herkunft haben muß, um sich wieder aus ihm herausarbeiten zu können. Wenn die Musiker über ihr Spiel reden, so werden tatsächlich vielfach Begriffe von Arbeit und Verantwortung bemüht: Arbeit aus den sich immer wieder einstellenden und erneuernden Klischees und Verantwortung gegenüber den Mitspielern, dem Publikum, der Musik – letztlich aber der Situation gegenüber, die all das umfasst. Entsprechend ist die Haltung vieler Musiker von großem Ernst geprägt, der auch ihr Spiel durchdringt. Von dort her ist vielleicht zu verstehen, dass Bailey den Begriff des Experimentellen zurückweist: „Improvisors might conduct occasional experiments but very few, I think, consider their work to be experimental.“ A.a.O., S. 83. Das Gleiche gilt für den des Neuen: „One of the things which becomes apparent in any improvising is that one spends very little time looking for ‚new‘ things to play. The instinctive choice as well as the calculated choice is usually for tried material. Improvisation is hardly ever deliberately experimental. When the ‚new‘ arrives, if it arrives, it appears to come of its own accord.“ A.a.O., S. 73. Eine allzu große Betonung des Experimentellen und der Suche nach Neuheit würde dem Selbstverständnis von Bailey und anderen vermutlich von der für die Sache entscheidenden Fokussierung auf die konkrete Situation des Spielens ablenken und die Musik unter die Herrschaft von Kategorien stellen, die ihr letztlich fremd sind. Die systematische und eher forcierte Produktion des Neuen, die hier mit Experimentalität verbunden werden, erscheinen eher dubios. Im Kern dieses Selbstverständnisses steht nicht der Begriff des Experiments, sondern der der Situation, der auf die radikale Verortung im Hier und Jetzt verweist. Wie im Falle der zeitlichen Offenheit bzw. der Zeit als Offenheit geht es auch hier nicht um eine allgemeine Situativität, die in jedem Fall besteht, sondern von einem emphatischen Begriff von Situation als gegenwartsfokussiertem Ort von Emergenz, der eigens herzustellen ist. Musikalische Situationen beinhalten all die Kontexte, Anordnungen und Praktiken, die in sie jeweils eingehen, und ordnen sie auf ein sich konkret Ereignendes hin an. Bereits in ihrer Anlage sind diese Situationen nicht in allen ihren Dimensionen kontrollierbar. Wie genau die Vorbedingungen festgelegt sind, ist dabei so unterschiedlich wie die Art, wie vorgegangen, und der Ort, an dem angesetzt wird. Ein solcher, immer noch sehr allgemeiner Begriff der musikalischen Situation ist auch noch auf die nordindische Musik anwendbar, die sich ebenfalls ausschließlich situationsgebunden realisiert. Der grundlegende Unterschied besteht im radikalen Verzicht auf Tradition. Nun ist diese Vorstellung leicht als unrealistisch zu überführen: Es gibt keine wirkliche Traditionslosigkeit. Die erwähnte musikalische Identität der jeweiligen Musiker, die auf eine spezifische Sozialisation verweist, mehr oder weniger stabile Improvisationsensembles wie AMM und Joseph Holbrooke in England, Musica Elettronica Viva in Italien, Art Ensemble of Chicago in den USA, die Bildung von lokalen Traditionen des Zusammenspiels in unterschiedlichen, lokal oder inhaltlich bestimmten Szenen (etwa mit Spielstätten wie früher der Knitting Factory und heute The Stone in New York City als Fokus), die diskursive Begleitung und nicht zuletzt Tonaufnahmen etablieren unweigerlich einen Traditionszusammenhang, ein locker geknüpftes Experimentalsystem. Dabei geht es aber nicht um spezifische Stücke wie die Raga, sondern um bestimmte Typen von Klanglichkeit. Dass das Verhältnis zur Zeit und zur Geschichte ein grundsätzlich anderes ist, zeigt sich aber gerade daran, dass die Begriffe des Experimentellen und des Neuen abgelehnt werden: Beide beruhen auf der Kontinuität experimenteller Anordnungen bzw. kultureller Dispositive, vor deren Hintergrund sich das Neue abheben kann. Abweichungen, Differenzen gibt es immer, entscheidend ist aber, wie Boris Groys festhält, dass „die Kultur aber nach wie vor bestimmte Verschiedenheiten für interessant und wertvoll [hält] und andere nicht“ Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992, S. 31.. „Kultur“ ist hier eine Chiffre für ein sich verschiebendes Feld von Werturteilen mit praktischen Folgen, in dem einiges als „neu“ und damit bedeutsam ins Archiv eingeht und anderes ignoriert wird und verlorengeht. Das Archiv, das Bewahren ist für den Begriff des Neuen unerlässlich, weil es seinen Referenzpunkt bildet, so wie die relative Stabilität des Experimentalsystems Voraussetzung für die Offenheit der Zukunft ist. Ich komme im letzten Abschnitt noch einmal darauf zurück. Der knappe Durchgang durch unterschiedliche Ausprägungen von Improvisation in der Musik hat höchst unterschiedliche, vielfach zumindest ambivalente Haltungen und Stellungen zur Experimentalität zutage gefördert. Sie alle kommen aber nicht ohne eine Methode im Luhmannschen Sinne aus, die die Möglichkeit in die Welt bringt, überrascht zu werden. Ein immer wieder neu auszutarierendes Verhältnis von Vorgegebenem und Neuem (oder besser und weniger emphatisch: aus der Situation Geborenem) gibt es in jedem Fall, und vielleicht ist es die ständige Arbeit an diesem Verhältnis, die bewusste Auseinandersetzung mit der Grenze dazwischen, die Improvisation experimentell macht. Dabei reicht es aber nicht, sich Offenheit schlicht vorzunehmen; Gary Peters weist deutlich auf die Möglichkeit der Routine in einem sich um sich selbst drehenden und sich bestätigenden Kosmos hin. Dagegen hält er mit Verweis auf Keith Johnstone „the art of tilting, that is, of tilting the balance that is ever in danger of being achieved in an improvisation, by introducing destabilizing material into the emergent dialogue, thereby ‚demolishing‘ or ‚devastating‘ it“ Gary Peters, The Philosophy of Improvisation, Chicago 2009, S. 59.. Das Einrasten in gewohnte Muster und kommunikative Strukturen muss immer wieder durch eine explizite Störung gekontert werden, deren Wirkung sogar als zerstörend beschrieben wird und die im Falle der raga natürlich fehlt, weil sie hier die Sache zerstören würde, um die es geht. Am aufschlussreichsten ist aber vielleicht die Rede von Balance und Destabilisierung: Auf der einen Seite ist Balance ein gutes Bild für die Gelungenheit oder Stimmigkeit einer künstlerischen Gestaltung, denn das Balancierende hat zwar eine Art Ausgleich der Kräfte erreicht, beinhaltet dabei aber immer jenes Moment des Prekären, Unselbstverständlichen, ohne das die Kunst saturiert und am Ende belanglos wird; auf der anderen Seite ist gerade in der direkten Interaktion das Streben nach Balance in Gefahr, in eben jene Stabilität des Bekannten zu münden. Der Bruch, den wirkliche Offenheit voraussetzt, muss immer wieder von neuem in den Prozess eingeführt werden. Der Tänzer und Choreograph Jonathan Burrows beschreibt diesen Prozess mit Bezug auf die eigenen Fähig- und Fertigkeiten: „Improvisation is a negotiation with the patterns your body is thinking.“ Jonathan Burrows, A Choreographer’s Handbook, London u. New York 2010, S. 27. Die Muster des Vorgegebenen finden sich nicht nur in äußeren Regeln und einer Konsensorientierung der Kommunikation, sondern in den Möglichkeiten des Körpers des Musikers (und Tänzers) selbst. In einen Aushandlungsprozess mit dem eigenen Körper einzutreten, setzt einen Bruch voraus und führt eine Art Selbstspaltung ein. Das einzige, was dem Improvisierenden dann bleibt, ist ein kontinuierliches Aushandeln von inneren und äußeren Spielräumen, das den Bruch offen hält – ohne Garantie des Erfolgs, und ohne klare Kategorien dafür, was Erfolg hier überhaupt heißen könnte. Das Scheitern freier Improvisation ist heute vielleicht weniger im chaotischen Zerfall als vielmehr in der routinierten Langeweile zu befürchten (oder vielleicht in ihrem Zusammenfall). Es ist nicht überraschend, dass einige der beteiligten Musiker sich schließlich zeitweise oder ganz davon ab- und sich komponierter Musik zugewandt haben. Anlass dafür war vielfach die Beobachtung, dass der bloße Verzicht auf Absprachen und formale Orientierung als methodische Brechung nicht ausreicht, sondern, ganz im Sinne vieler Kritiker, am Ende doch nur Bekanntes reproduziert. Der Bezug auf die kalkulierte Offenheit indeterminierter Komposition erschien hier vielversprechender. Der Weg aus dieser Situation führte vielfach zu jener Musik, die die Charakterisierung als experimentell als angemessene Beschreibung betrachtet und die ich unter dem Stichwort der Indeterminiertheit behandeln möchte. 3. Indeterminiertheit Zuerst einmal ist die Rede von Indeterminiertheit mißverständlich: Wenn sie die bloße Tatsache bezeichnen soll, dass sich in einem Kontext der Festlegung musikalischen Geschehens bestimmte Aspekte dieser Festlegung entziehen, so gilt dies auch für die komponierte europäische Kunstmusik. Selbst nachdem sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Vorstellung des unabhängig vom Komponisten, konkreten Aufführungen und Situationen und dem Publikum bestehenden Werks etabliert hatte, das nach einer „fully specifying notation“ Lydia Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works, An Essay in the Philosophy of Music, Oxford 1992, S. 224f. verlangte, konnte diese entwickelte Notation niemals wirklich alles spezifizieren. Auch jene Partituren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die jede artikulatorische Feinheit möglichst genau festzulegen versuchen, können dies nicht leisten, und die konkreten Übergänge, Gesten und Artikulationen müssen unweigerlich dem Interpreten überlassen werden – von der konkreten Klanglichkeit einmal abgesehen, die vom jeweils benutzten Instrument, dem Raum, der Situation etc. abhängt. Insofern hat schlechthin jede Notation einen Anteil des nicht Determinierten. Je komplexer die Komposition wird und je weiter sie sich von harmonisch-tonalen Zusammenhängen entfernt, desto deutlicher wird dieser Anteil werden; ganz abgesehen von den Besonderheiten der individuellen Aufführung wird es schließlich schwierig bis unmöglich, sich überhaupt vorzustellen, wie das Geschriebene klingen wird – wenn es denn je möglich war: „Dass man alles und jegliches in voller sinnlicher Konkretion je sich vorgestellt habe, ist eine Legende, die jeder Komponist widerlegt finde, wenn er zum ersten Male den Klang des eigenen Orchesters vernimmt.“ Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle, in: ders., Musikalische Schriften I-III, (Gesammelte Schriften Bd. 16), Ffm 1978, S. 493-540, hier 525 Natürlich muß diese Dimension für Adorno zwingend wieder eingefangen, in die Kontrolle zurückgeholt werden: „[D]as Moment des imprévu im neuen und emphatischen Sinn darf ihm nicht davonlaufen.“ (A.a.O., S. 526) Mit Bezug auf den Maler Willi Baumeister spricht Heinz-Klaus Metzger überdies noch von einer anderen Dimension des Experimentellen, die sich der Kontrolle des Komponisten entzieht – indem das zu Schaffende nämlich im Arbeitsprozess eine Eigendynamik entwickelt. Was sich zuerst einmal als Mißlingen der Komposition darstellt, ist für Metzger das eigentlich Interessante, ja die entscheidende Quelle des Neuen: „Wenn wir annehmen, dass jedem Kunstwerk, das etwas taugt, ein derartiger Vorgang zugrunde liegt – im Sinne der Baumeisterschen Theorie –, dann würde sich daraus die definitorische Konsequenz ergeben, dass jedes Kunstwerk, das stringent ist und etwas bedeutet, experimentell wäre seinem Wesen nach.“ Metzger, Zum Begriff des Experimentellen in der Musik, a.a.O., Teil 2, S. 36. Hier ist die Experimentalität wieder zurückgenommen in den Kompositionsprozess, der selbst zu einem Unternehmen mit ungewissem Ausgang wird: Absolute Kontrolle über die Mittel und ihre Verwendung würde dann bestenfalls mittelmäßige Musik ergeben – man sollte sich überraschen lassen und die Komposition als Methode im Sinne Luhmanns verstehen. Metzgers Ansatzpunkt ist bekanntermaßen John Cage, dessen Arbeit hier für den weit über diesen partiellen Kontrollverlust hinausgehenden, bewussten Einsatz von Indeterminiertheit in der Komposition steht. Stringenz und Bedeutung, von Metzger ganz klassisch als Charakteristika gelungener Musik angesehen, werden hier frontal angegriffen. Cage, Morton Feldman, Earle Brown und Christian Wolff, die als Keimzelle der experimentellen Musik in diesem Sinne stehen können, und viele andere seitdem haben an unterschiedlichen Stellen angesetzt, um Felder der Indeterminiertheit in die komponierte Musik einzubauen. Hermann-Christoph Müller schlägt hier als Ansatzpunkt zur Typologisierung treffend die Frage vor: „Was bleibt für wen unter welchen Bedingungen unvorhersehbar?“ Hermann-Christoph Müller, Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik. Aufführungspraxis zwischen Experiment und Improvisation, Kassel 1994, S. 99. Müllers Buch ist insgesamt von beispielhafter Differenziertheit. Wenn es etwas all jenen Ansatzpunkten und Strategien Gemeinsames gibt, so wäre es weniger in irgendeiner spezifischen Grundform der Anordnung zu suchen als vielmehr im paradoxen Versuch, das Unveranstaltete zu veranstalten, das nicht Gemachte zu machen – wenn man so will Natur hervorzubringen –, der hier eher noch prononcierter ist als im Falle der unterschiedlichen Modi der Improvisation. Eine Variante wäre eine Indeterminiertheit im Prozess der Komposition, etwa bei Cages Praxis, Stücke buchstäblich auszuwürfeln. Als Cage in den fünfziger Jahren nach Darmstadt kam, der Hauptstadt der seriellen Musik und damit des Inbegriffs konstruktiver Strenge und Systematik, schockierte und faszinierte er damit, dass er das chinesische Orakel I Ching zum Komponieren benutzte und damit die zentralen Entscheidungen aus der Hand gab und die letztliche Gestalt der Musik dem Zufall überließ. Pierre Boulez, dessen Freundschaft mit Cage letztlich über musikalische Differenzen zerbrochen ist, die vor allem für ihn gleichbedeutend mit gravierenden weltanschaulichen Unterschieden waren, hat hier den Begriff des Aleatorischen eingeführt, der vom Problemhintergrund der seriellen Komposition, also der Vorstellung totaler Kontrolle zu verstehen ist. Vgl. Pierre Boulez, Alea, in: ders., Werkstatt-Texte, Berlin u.a. 1972, S. 100-113. Der Begriff stammt tatsächlich vom Physiker und Phonetiker Werner Meyer-Eppler; vgl. Zur Systematik der elektrischen Klangtransformationen, in: Wolfgang Steinecke (Hg.), Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 3, Mainz 1960, S. 73-86. Zu den unterschiedlichen Hintergründen vgl. Müller, Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik, a.a.O., S. 24ff. Man kann dies als rationalisierende Eindämmung der Cageschen radikalen Offenheit begreifen, die sich bereits in der Wahl des Fremdwortes und der Prägung eines eigenen Methodenbegriffs spiegelt: Wenn es tatsächlich den Einsatz von Zufallsverfahren geben soll, dann in einem klar abgezirkelten Rahmen. Tatsächlich radikale Indeterminiertheit in der Komposition finden wir demgegenüber in Cages Music of Changes von 1952: Bereits im Titel an das Orakel (Buch der Wandlungen / Book of Changes) angelehnt, hat er hier, nach einer Festlegung des Materials, die konkrete Gestalt der Partitur durch Münzwürfe festgelegt. Aber eine Partitur gibt es, und an sie hat sich der Interpret zu halten. Dass sie extrem kompliziert und in Bezug auf die zeitliche Gestaltung eigenwillig ist, heißt nicht, dass dem realisierenden Musiker hier sonderliche Freiräume gelassen würden, eher im Gegenteil: Er wird so viel Energie und Konzentration darauf verwenden müssen, das Geschriebene überhaupt klanglich zu realisieren, dass für eine Interpretation, die eine eigene Auffassung ins Spiel bringt, kein Raum bleibt. Die experimentelle Dimension liegt hier im Prozess der Komposition, der ein vollkommen determiniertes Resultat hervorbringt (auch wenn es mit einer konkreten Klangvorstellung gerade bei Cage nicht weit her sein mag). Die Festlegung durch Zufall bleibt für Interpreten wie für Hörer eine Festlegung. Zentral für den Diskurs über experimentelle Musik sind aber jene Stücke geworden, in denen die Indeterminiertheit in die Partituren selbst eingebaut ist, indem sie den Musikern eigene Entscheidungen abverlangen – von der Aufforderung, die Reihenfolge komponierter Teile zu bestimmen, über die Notwendigkeit, innerhalb von auf einer Seite scheinbar erratisch verteilter Noten im Spiel eine Abfolge festzulegen (wie Earle Browns November 1952), bis hin zu Partituren, die nur noch allgemeine Anweisungen darstellen (wie Cages 0’00’’, das nur in der Anweisung besteht, eine elektronisch verstärkte disziplinierte Handlung zu vollziehen, oder Takehisa Kosugis Anima 7, das einzig vorschreibt, eine bestimmte Aktion so langsam wie möglich auszuführen), und musikalischen Graphiken Ligeti hat 1965 die bis heute tragfähige Unterscheidung zwischen graphischer Notation, die auf andere Formen der Spezifikation setzt als die traditionelle Notation, und musikalischer Graphik, die nur noch vage Anregungen gibt, eingeführt; vgl. György Ligeti, Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?, in: Ernst Thomas (Hg.), Notation Neuer Musik (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik IX, Mainz 1965), S. 35-50., die keinerlei klangliche Aktionen spezifizieren (wie Browns December 1952, das aus 31 lose auf einer Seite verteilten vertikalen und horizontalen schwarzen Balken unterschiedlicher Länge und Dicke besteht). Man könnte dies nun so verstehen, dass in allen diesen Fällen der Musiker als Improvisator gefragt ist: Er muss fortwährend Entscheidungen treffen und so eine Musik produzieren, für deren konkrete klangliche Gestalt er weit eher verantwortlich ist als der Komponist, der lediglich einen Rahmen oder einen mehr oder weniger inspirierenden Anlass gesetzt hat. Er kann als Person in den Vordergrund treten, während der Komponist eher zurücktritt. So sieht es etwa Dahlhaus: Vgl. Carl Dahlhaus, Komposition und Improvisation, in: ders., Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik, Mainz u.a. 1978, S. 374-381; ders., Was heißt Improvisation?, a.a.O. Wäre es so, so müsste man über diese Musik letztlich mit den gleichen Kategorien sprechen wie über die improvisierte Musik bzw. über Musik mit improvisierten Anteilen. Geht man allerdings vom Selbstverständnis der meisten der genannten Komponisten und auch von den Selbstreflexionen der Musiker aus, so wäre dies ein Missverständnis. Von daher sollte man hier vielleicht weniger von einem größeren Maß an Freiheit sprechen, die den Interpreten eingeräumt wird, als vielmehr von einem neuen Typ Aufgabe oder Problem, der ihnen gestellt wird und der eine andere Art von Spielraum lässt. Diese Aufgabe bildet den Rahmen für alle eigenen Entscheidungen, die nun getroffen werden müssen, und sie soll mit größter Disziplin ausgeführt oder auch gelöst werden. Der Pianist John Tilbury beschreibt die Situation einer Aufführung von Stücken von Christian Wolff folgendermaßen: „[Y]ou have no chance of emotional self-indulgence; you have a job to do and it takes all your concentration to do it efficiently – i.e. musically. With this music you learn the prime qualities needed in performing: discipline, devotion and disinterestedness.“ Zit. in: Michael Nyman, Experimental Music. Cage and beyond, Cambridge 21999, S. 69. Der Musiker stellt sich in den Dienst einer Sache, die zuerst einmal nicht seine eigene ist, und ist damit denkbar weit von jeder Form des Selbstausdrucks entfernt – eher weiter als die frei improvisierenden Musiker. Für Cage war Unbestimmtheit in allen ihren Dimensionen und Ebenen kein Vehikel der Befreiung des Selbst, sondern eines der Befreiung vom Selbst, ganz im Einklang mit seinen zen-buddhistischen Vorstellungen, und anders etwa als für Brown. Sowohl in ihrem Verfahren als auch in ihrem Ziel unterscheidet sich diese Offenheit grundlegend etwa von einer Jazzimprovisation. Das Ziel waren Klänge, die durch keine Intention gesteuert oder belastet sind, keine Bedeutung oder Interpretation anziehen und insofern ganz für sich stehen können – „sounds themselves“ Vgl. etwa John Cage, History of Experimental Music in the United States, in: ders., Silence, a.a.O., S. 67-75, hier 71., musikalische Natur, befreit von jeder Emotionalität und jedem Ausdruck. Die Naturhaftigkeit dieser Klänge liegt nicht in ihrer Natürlichkeit, sondern in ihrer Intentionslosigkeit, im Verzicht von Komponist und Musiker, etwas ausdrücken, sagen, bedeuten, vermitteln, erzeugen, auslösen zu wollen, am Ende im Verzicht, überhaupt etwas zu wollen. Hier liegt das gespannte Verhältnis zur Improvisation begründet, das Cage viele Jahrzehnte lang hatte; erst in dem Moment, in dem er auch hier die Möglichkeit sah, dem Paradigma des Selbstausdrucks zu entkommen, konnte er sie gelten lassen (vgl. dazu Sabine Feisst, John Cage and Improvisation. An Unresolved Relationship, in: Solis u. Nettl, Musical Improvisation, a.a.O., S. 38-51). Bedeutsam ist dabei, dass auch Cage bei aller Beschwörung von Natur keineswegs davon ausgegangen ist, dass derlei sich von selbst oder auch nur leicht einstellt; man könnte sagen, dass er auf besondere Weise der Forderung gefolgt ist, einen methodischen Bruch in die musikalische Praxis einzubauen und den Musikern immer wieder Experimentalsysteme von sehr unterschiedlicher Gestalt aufgestellt hat. Wenn er von „a purposeful purposelessness or a purposeless play“ John Cage, Experimental Music, in: ders., Silence, a.a.O., S. 7-12, hier 12 spricht, so ist das Echo an Kant offensichtlich (wenn auch vermutlich unbeabsichtigt), aber auch irreführend: Es geht nicht um eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck, sondern um eine absichtlich herbeigeführte Absichtslosigkeit. Um dies zu erreichen, muss man die Musiker auf extreme Weise von ihrem eigentlichen Kurs ablenken, so wie der Komponist auch sich selbst durch Zufallsverfahren umgelenkt hat, und den kleinsten Rest ihrer Vorlieben und Befindlichkeiten tilgen. Wirklich überraschen kann ich mich nur durch Dinge, die ich nicht kann, über die ich nicht verfüge und die ich auch nicht bestimmen kann, sondern die ich geschehen lasse. Oder von einer anderen Seite aus betrachtet: Einfachheit läßt sich unter Umständen durch eine Steigerung der Komplexität erreichen, und viele von Cages Partituren stellen an die Ausführenden extreme Anforderungen. Die Frage bleibt, wie viel die Hörer von der der Musik auf diese Weise eingeschriebenen Unbestimmtheit eigentlich mitbekommen. Man muss daran erinnern, dass für sie die erklingende Musik immer determiniert ist. Unbestimmtheit mag es im Prozess der Komposition geben und auf extreme Weise für die Interpreten; das paradoxe Unternehmen von Einfachheit durch größere Komplexität und Intentionslosigkeit durch gesteigerte Disziplin ist eine Art notwendiger Umweg, um Musikern und Hörern die Flausen der Individualität auszutreiben. Die Hörer aber sind mit immer schon getroffenen Entscheidungen konfrontiert, die eine Klanglichkeit hervorbringen, die in sich vollständig bestimmt ist. Jeder Klang ist genauso, wie er ist. Der Fluchtpunkt dieser angestrengten Aktivität liegt, als letztes Paradox, tatsächlich darin, gar nichts mehr zu tun und die Klänge einfach kommen zu lassen, wie sie kommen und sie dann auch genau so zu lassen, wie sie sind. Diese vollständige Offenheit könnte dann auf die Veranstaltung als solche verzichten, indem ihr das Unveranstaltete von allein zufiele – und sei es der Verkehrslärm vor dem Fenster, der durch die spezifische, intentionslose Weise des Hören selbst zu einer Art Natur wird. Das Experimentelle besteht darin, immer wieder Situationen herzustellen, in denen dies so gut es geht gelingt, bis hin zum stillen Stück 4’33” und darüber hinaus. Vgl. dazu Christian Grüny, Arbeit im Feld des Musikalischen. Cage und Lachenmann als zwei Typen musikalischer Kulturreflexion, in: Dirk Baecker, Matthias Kettner u. Dirk Rustemeyer (Hg.), Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion, Bielefeld 2008, S. 221-248. Natürlich haben nicht alle sich selbst als experimentell verstehenden Musiker Cages Ziele geteilt, und es gibt bereits bei ihm selbst vollkommen verschiedene Verfahrensweisen. Ich möchte nur noch auf zwei weitere, wiederum sehr unterschiedliche Beispiele eingehen: auf Alvin Lucier und auf das Scratch Orchestra. Lucier hat in unterschiedlichen Konstellationen, fast immer mit technischen Mitteln und elektronischer Verstärkung, an Materialien und ihren Eigenschaften gearbeitet: dem Klang eines langen Drahtes (Music on a long thin wire), dem Klang eines Raumes (I am sitting in a room), oder auch den in Klanglichkeit umgesetzten eigenen Gehirnwellen. In Music for a solo performer ist dieser Performer, der er in der Regel selbst war, an ein EEG angeschlossen, dessen Aufzeichnungen über Lautsprecher in Klänge umgesetzt wurden, die wiederum eine Reihe von Schlaginstrumenten in Schwingung versetzen. Nun ist es nicht so, als ob Lucier über eine komplizierte technischer Vermittlung sozusagen mit der Kraft seiner Gedanken Instrumente steuern und Klänge produzieren würde. Tatsächlich ist das Stück weit eher im Einklang mit Cages Vorstellungen, insofern ein Filter nur Alphawellen passieren ließ, also nur in den Momenten, wo er mit geschlossenen Augen entspannt dasitzt und gerade nichts will, etwas passiert. Je weniger er tut, desto mehr Klänge produziert er. Sabine Sanio beschreibt dies ganz im Vokabular des Experiments: „Da Lucier auf diese Intention völlig verzichtet, ist nur das zu hören, was durch seine Musik, die sich als physikalische Versuchsanordnung realisiert, freigelegt wird.“ Sabine Sanio, Komponieren als Experiment. Die Musik von Alvin Lucier, in: Positionen 19 (1996), S. 26-30, hier 29. Ob man angesichts des immensen technischen Aufwandes hier noch von „Freilegen“ sprechen kann, sei einmal dahingestellt; jedenfalls haben wir es mit einem sozusagen experimentellen Experiment zu tun, einer wirklichen technischen Versuchsanordnung, die etwas dazu bringen will, sich auf unwiederholbare und unkontrollierbare Weise zu zeigen. Dass es dieses Etwas außerhalb der experimentellen Anordnung nicht wirklich gibt, verbindet Luciers Vorgehen mit dem von Cage. Einen grundlegend davon unterschiedenen Ansatz haben wir im Falle des Scratch Orchestra, einem von Cornelius Cardew initiierten Projekt im England der siebziger Jahre. Cardew ist insofern ein interessanter Fall, als er in der frei improvisierten und der komponierten Musik gleichermaßen zu Hause war. Mit seiner Arbeit kommt eine Dimension in den Vordergrund, die bei vielen der bisher besprochenen Musikern im Spiel war: Musik als soziales Experiment bzw. als konkrete soziale Utopie. Die „sounds themselves“-Ideologie läuft Gefahr, auf der intersubjektiven Ebene zu einer Art Kollektivautismus zu werden, den Cage als Anarchismus versteht; so war er bei der Probe eines Jazzensembles, das ihn schätzte und eingeladen hatte (vermutlich das Art Ensemble of Chicago) entsetzt, dass die Musiker sich aufeinander bezogen, kurz zusammenspielten: „Ich riet ihnen, nicht einander zuzuhören, und bat jeden, wie ein Solist zu spielen, als ob er der einzige auf der Welt sei“ John Cage, Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 216. – eine eigenartige Utopie. Im Falle des Scratch Orchestra stand zwar ebenfalls die Individualität der einzelnen Musiker (die im übrigen höchst unterschiedliche musikalische Fähigkeiten hatten) im Zentrum, gleichzeitig waren aber weder die Ausdrucksidee noch die Praxis eines sich ständig neu formierenden sozialen Organismus derart verfemt wie bei Cage: Aufgabe und Ausdruck hielten sich sozusagen die Waage. Michael Nyman faßt die Aktivitäten dieses Ensembles in einem längeren Abschnitt zusammen, der hier ganz zitiert sei, um die Offenheit dieses Projekts deutlich zu machen: „But during the most stable Scratch Orchestra period individualism brought out a high level of differentiation of tasks, either in combination, succesion, overlap or isolation; musical or not, showing great or little competence or imagination, skill of conception or execution; exciting or boring; confined to a small space (a stage) or spreading around an open performance space; still or moving; silent or sounding; one thing blotting out another, but without any staging; activities with greater or lesser definition or identity; identifiable or not; necessary or unnecessary; humour or lack of it; silly or sensible; thoughtful or spontaneous; self-immersed or outgoing; real games or invented ones – in effect a microcosm of a society in which everyone is himself and brings his particular talents, virtues and defects to this creative ‚pool‘.“ Nyman, Experimental Music, a.a.O., S. 137. Hier ist tatsächlich nichts mehr verboten, und das Experiment ist ein soziales ebensosehr wie ein musikalisches. Es findet von vornherein auf der Ebene der Gruppe statt, nicht in erster Linie auf derjenigen einzelner Stücke benennbarer Komponisten, die hier lediglich ein Moment der gesamten Konstellation bilden. Vermutlich hätte es die Protagonisten dieses Pandämoniums sozialer Klangsituationen nicht einmal überrascht, dass ihre Aktivitäten von der Musikwissenschaft als „pseudomusikalische Tätigkeit“ angesehen würden, „die sich in blinder Aktivität erschöpft“ Müller, Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik, a.a.O., S. 91. Dass dies allerdings selbst in Hermann-Christoph Müllers differenzierter Untersuchung zu indeterminierter Musik geschieht, sagt vielleicht ebenso viel über die Disziplin wie über den Gegenstand.. Was all diese unterschiedlichen Ansätze und auch die freie Improvisation verbindet, ist ihr Versuch, den Stücken ihren Objektcharakter auszutreiben. Musik soll ihren Prozesscharakter derartig radikalisieren, dass genau das zurückgenommen wird, was die abendländische Musik in den letzten dreihundert Jahren ausdrücklich kultiviert hat, woran aber letztlich jedes Volkslied teilhat: Die Verfestigung musikalischer Praxis zu in sich strukturierten, analysierbaren Entitäten – „Stücken“. Wenn jede Aufführung von neuem einem Experiment gleicht, bleibt das Prozesshafte auch dann erhalten, wenn es allesamt Aufführungen desselben „Stückes“ sind. Man kann lange darüber streiten, ob damit das Werkparadigma der westlichen Kunst verlassen oder nur erweitert wurde; die Radikalität der Veränderung ist jedenfalls offensichtlich. Nur um den Preis einer grundlegenden Umdeutung kann man von diesen Aufführungen, seien sie improvisiert oder basierend auf indeterminierten Kompositionen, Aufnahmen machen. Cage bringt dies gut auf den Punkt: „Man hört es noch einmal, und das Objekt kommt zum Vorschein.“ Cage, Für die Vögel, a.a.O., S. 88. Dass es natürlich unzählige Aufnahmen gibt, ist eine Tatsache, die ebenso in die Bestimmung dieser Musik und ihrer Tradition hineingenommen werden muss wie ihr Momentcharakter. Mit der Prozesshaftigkeit und der Nichtwiederholbarkeit ist die letzte Dimension aufgerufen, die ich hier behandeln möchte, und damit kommt auf besonders emphatische Weise das Hören ins Spiel. 4. Prozesshaftigkeit In seinem ersten Text zum Thema experimenteller Musik beschreibt Cage die Skepsis, die er gegenüber diesem Begriff am Anfang hatte. Experimentalität sollte eine Phase der Komposition beschreiben, die vor der Vollendung lag, ein Austesten des Materials, unfertige Versuche, die schließlich in eine definitive Gestalt münden – eine Dimension, die ich hier ganz ausgespart habe. Um zu beschreiben, was ihn dazu gebracht hat, den Begriff schließlich doch zu akzeptieren und auf alle Musik anzuwenden, die ihn interessiert, gibt Cage eine interessante Begründung: „What has happened is that I have become a listener and the music has become something to hear.“ Cage, Experimental Music, a.a.O., S. 7. Dieser zuerst einmal recht irritierenden Formulierung liegt eine klare Entgegensetzung zwischen Komponist und Hörer zugrunde: Der Komponist weiß, was er tut, oder zumindest weiß er, was er getan hat. Er kennt das Stück, für ihn hält es keine Überraschungen bereit. Der Hörer hingegen begegnet ihm möglicherweise zum ersten Mal wie im Wald einer Pflanze, die er noch nie gesehen hat (Cages eigenes Beispiel). Es ist offensichtlich, dass beide Seiten dieser Entgegensetzung einigermaßen forciert sind. Dass auch der Komponist nicht immer und in jeder Hinsicht genau kontrolliert, was er tut, haben wir bereits gesehen. Für den Hörer muss eine ähnliche Einschränkung gemacht werden: Zuerst einmal begegnet ihm natürlich nicht jedes Stück zum ersten Mal; bei dem eingeschränkten Repertoire unseres Konzertbetriebs ist es eher so, dass man die meisten Stücke kennen wird, die jeweils gespielt werden. Gerade dies wird vielfach beklagt: nämlich die Tatsache, dass man bis zum Überdruss mit dem Gleichen gefüttert wird, das sich bereits zum Klischee seiner selbst verhärtet, während man neue Stücke eigentlich mehr als einmal hören müsste, was aber in der Regel nicht möglich ist. Erst bei mehrmaligem Hören würden sich Formen kristallisieren und Strukturen erschließen. Aber auch beim ersten Hören unternimmt man zumindest den Versuch, Strukturen auf die Spur zu kommen, gesteuert von einem „belief in the seriousness, purposefulness, and ‚logic‘ of the creative artist and the work he produces“, wie Leonard B. Meyer es formuliert: „Without this basic belief the listener would have no reason for suspending judgment, revising opinion, and searching for relationships; the divergent, the less probable would have no meaning. There would be no progression, only change.“ Leonard B. Meyer, Emotion and Meaning in Music, Chicago u. London 1956, S. 75. Nun ist es genau das, was Cage will. Radikalisierte Prozesshaftigkeit soll „occasions for experience“ John Cage, Composition as Process, in: ders., Silence, a.a.O., S. 18-56, hier 31. hervorbringen, unwiederholbar ereignishafte Verläufe, Veränderung ohne Entwicklung. Und insofern diese noch in irgendeiner Weise erdacht sind, sollen ihnen Intentionalität, Logik, Progress gerade ausgetrieben werden. Damit verbindet sich aber auch eine bestimmte Vorstellung, wie zu hören sei, und der Vergleich mit der unbekannten Pflanze im Wald ist eher eine Anweisung als eine bloße Beschreibung. Idealerweise soll bereits die Musik selbst eine andere Auffassung schlechterdings verbieten. Neben den genannten Verfahren hat Cage hier etwa auf eine derart massive Überforderung der Hörer gesetzt, die es ihnen unmöglich macht, noch so etwas wie Ganzheit und Einheit, am Ende überhaupt Kohärenz und Zusammenhang aufzufassen, und sie in einem unübersehbaren Meer von Klängen und Aktionen schwimmen läßt, in dem jede Intentionalität sich in der schieren Masse des Geschehenden verliert. Insofern die Anweisung an die Hörer sich aber nicht nur auf solche, sondern letztlich auf jede Musik, ja auf alles Klangliche bezieht, gewinnen Cages Stücke didaktische Züge: Sie arbeiten daran, bei den Hörern eine bestimmte Haltung zu erzeugen, die von der alteuropäischen Fixierung auf Überblick und Kontrolle ablässt und die schließlich verallgemeinert werden soll. Interessanterweise hat Cage weniger Schwierigkeiten mit dem Begriff des Neuen, allerdings in einem veränderten Sinne. Die Pflanze im Wald erscheint trivialerweise zuerst einmal dadurch als neu, dass sie als unbekanntes Element in einem im großen und ganzen vertrauten Zusammenhang auftaucht; die entscheidende Pointe liegt nun aber darin, ihr diese Neuheit nicht zu nehmen, sie nicht zu kategorisieren, in das Raster des Bekannten einzuordnen und dadurch in ihrer konkreten Gestalt zu neutralisieren, sondern sie als unbekannte festzuhalten. Der Prozess der Erfahrung soll sich nicht zu einem – neuen – Objekt verfestigen. Für die Musik, die dies zu erreichen versucht, ist Neuheit im Sinne des den Erwartungen Zuwiderlaufenden oder der Erweiterung des Formenrepertoires nur ein mögliches Mittel; ein anderes, das etwa Morton Feldman immer wieder eingesetzt hat, ist extreme Länge. Ziel der Übung ist ein Zustand, in dem immer alles als neu erscheint, als noch nicht zu Bekanntem geronnen, „no progression, only change“. Das Experimentelle dieser Musik würde sich dann nicht mehr vom Alltäglichen abgrenzen, sondern sich absolut setzen. Mit dem Begriff des Neuen, wie er in der westlichen Tradition geprägt worden ist und wie Groys ihn exponiert, hat das nichts mehr zu tun. Die Neuheit in diesem traditionellen Sinne ist, wie oben bereits angerissen, zwingend auf Schriftlichkeit, in Groys’ (bzw. Foucaults) Worten auf ein Archiv angewiesen. Was aus ihr hervorgeht, nimmt sie nicht nur in sich auf, sondern setzt sich ihr immer auch entgegen, indem es sich als für sich stehender Text zu anderen Texten verhält. Dass der Waldspaziergänger eine Pflanze nicht kennt, bedeutet von hier aus gesehen überhaupt nichts; vielleicht ist er ein Städter, der nicht einmal einen Spitz- von einem Breitwegerich unterscheiden kann. Ihre Neuheit müsste sich erst einmal bewähren, und zwar im Sinne der im Vergleich mit dem Bekannten wirklich neuen Form. Diesen Vergleich kann es nur im Rahmen von Aufzeichnungssystemen geben. Nur hier ist auch Dahlhaus’ erwähnte Unterscheidung zwischen dem Spontanen, subjektiv Authentischen und dem wahrhaft Neuen möglich. Dahlhaus, Was heißt Improvisation?, a.a.O., S. 20. Wobei man natürlich mit Groys daran erinnern muss, dass es das Neue nicht gibt, sondern immer nur eine sich verschiebende kulturelle Aufwertung spezifischer Unterschiede. Rheinberger hält ähnliches für die Wissenschaft fest; vgl. Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a.a.O., S. 227. Hält man die indeterminierte Musik und die freie Improvisation dagegen, so ergibt sich das scheinbar paradoxe Bild, dass erstere auf der einen Seite noch eher an diese Tradition angeschlossen ist, sie aber auf der anderen Seite mit ihren Partituren, die möglicherweise wirksameren Mittel hat, um mit ihr zu brechen. Gerade indem sie die Spontaneität des Ausdrucks ab- oder umlenken, sollen sie als methodische Vorkehrungen im Luhmannschen Sinne Neues hervorbringen – auch wenn in der Konsequenz des Cageschen Ethos der „sounds themselves“ das völlige Heraustreten aus der Tradition in eine derart radikalisierte Prozesshaftigkeit liegt, dass mit dem Aufhören der Form auch das Neue als Kategorie vollständig verschwindet. Die freie Improvisation ist in der Regel weniger radikal in der vollständigen Abkehr von allem, was für die Tradition Form war. Wenn das Gespielte nicht mehr in irgendeinem erkennbare Sinne als ein Stück bezeichnet werden kann, also keine identifizierbare und damit wiederholbare Gesamtgestalt hat und auch keinen Autor, sondern nur noch durch die Situation bestimmt ist, dann erledigt sich die Frage nach dem Neuen auf eine etwas andere Weise, die einiges mit der Auffassung durch die Hörer zu tun hat. Die Improvisation ist bestimmt durch die und als Situation und erhebt daher auch den Anspruch, genau so gehört zu werden. Gelingt dies, so stellt sich die Frage nach dem Neuen gar nicht erst, indem die vergleichende Entgegensetzung dieser musikalischen Situation zu anderen ausfällt. Ob es jemals wirklich gelingt und ob das beinahe unvermeidliche Auftauchen von Versatzstücken aus der Tradition und die Kenntnis unzähliger Aufnahmen dem nicht im Wege steht, sei einmal dahingestellt. Irgendeiner methodischen Brechung, einer Arbeit an den Formen und ihrer Entformung bedarf es auch hier, auch wenn sie nicht über die Partitur und die Differenz zwischen Komponist und Interpret funktioniert. Was dem Anspruch nach in beiden Fällen ausfällt, ist das anschließende Urteil, das für Groys überhaupt erst den Status als (kulturell) Neues verleiht. Entsprechend bestimmt Cage Experimentalität „not as descriptive of an act to be later judged in terms of success or failure, but simply as of an act the outcome of which is unknown“ Cage, Experimental Music: Doctrine, a.a.O., S. 13., hier erhellend. Aus dieser Perspektive kann das Experimentelle nicht scheitern, weil es sich weigert, irgendwelche Maßstäbe zu akzeptieren. Ob die jeweils emergierenden Differenzen „interessant und wertvoll“ sind oder nicht, soll gerade ausgeblendet werden – die epistemischen Dinge sollen diesen Status behalten und sich auch im Resultat nicht verfestigen, bzw. noch deutlicher, es soll überhaupt kein Resultat geben, also auch keine Transformation des Experimentalsystems, die man nicht als Fortschritt im emphatischen Sinne verstehen muss, aber doch eine Fortentwicklung bedeutet. Dass dies ein Bild ist, das nicht dem Selbstverständnis vieler der Protagonisten entspricht und nicht zuletzt angesichts der Aufnahmetechnik und der mittlerweile beinahe universalen Verfügbarkeit von Aufnahmen kaum realistisch ist, ist eines; dennoch liegt es in der Konsequenz sowohl der radikal „freien“ Improvisation als auch der indeterminierten Komposition. Wenn das so ist, ließe sich nicht mehr sinnvoll sagen, dass die Musik hier auf der Stelle tritt. Eher ist es so, dass sie der Logik nach aus dem historischen Zusammenhang hinaustritt, der ein Bewusstsein der Geschichte und ein Verhalten zu ihr beinhaltet, das sich gerade nicht in der immer wieder neuen Momenthaftigkeit der jeweiligen Situation erschöpft. Die Befreiung zur Situation ist eine Befreiung von der Geschichte, so wie das Bewusstsein der Geschichte immer auch eine Loslösung von der Situation bedeutet. Ich spreche hier wohlgemerkt von Ansprüchen und Tendenzen, nicht von einer tatsächlichen Wirklichkeit – und zwar in beiden Richtungen: So wenig es einen Ausstieg aus Tradition und Geschichte geben kann, so wenig „gibt“ es Tradition und Geschichte als bestehende, eindeutige Zusammenhänge. Wir haben es, so kann man von Bergson und vor allem von Mead lernen, immer mit Anschlüssen zu tun, die eine Zukunft eröffnen und die Vergangenheit umschreiben, indem sie sich auf sie stützen. Dennoch macht es einen Unterschied, ob man auf auf die Form des Werks oder auf radikale Situativität und Ereignishaftigkeit setzt. Das dem Anspruch nach alles umstürzende Verhältnis zur musikalischen Zeitlichkeit, das hier angesetzt wird, schließt an das an, was Georg Picht emphatisch formuliert hat: „Musik ist Ereignis, oder sie ist nicht Musik.“ Georg Picht, Grundlinien einer Philosophie der Musik, in: ders., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 409-426, hier 424. Nun hatte Picht dabei gerade nicht indeterminierte oder improvisierte Musik im Sinn, sondern durchaus die komponierte Musik der Tradition und Gegenwart. Woran er damit erinnert, ist die Prozesshaftigkeit jeder Musik, die die scharfe Abgrenzung von Objekt und Prozess fragwürdig und die verhärtete Objekthaftigkeit der klassischen Musik als Popanz erscheinen lässt. Abschließend möchte ich mich genau dieser Dimension zuwenden: Jede Musik findet in einer spezifischen Gegenwart statt, und ihre Zukunft ist offen. Als Konzeption von Musik und musikalischem Hören, die dieser Prozesshaftigkeit und Offenheit diametral entgegengesetzt ist, wird gern auf Adornos Vorstellung von „strukturellem Hören“ zurückgegriffen. Adornos Beschreibungen machen aber deutlich, dass es bei dieser strukturellen Auffassung nicht um eine Tilgung dieser Zeitlichkeit gehen kann: „Eine musikalische Form verstehen heißt vorab, jeden musikalischen Augenblick zur Synthesis bringen mit dem Inbegriff aller zeitlichen Relationen, in denen er steht.“ Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, Ffm 2005, S. 245. Diese Raum und Zeit auf paradoxe Weise synthetisierende Operation wird aber auch bei ihm noch ausbalanciert durch ein weiteres wesentliches Moment, nämlich eben das der Ereignishaftigkeit: „Kunstwerke sind neutralisierte und dadurch qualitativ veränderte Epiphanien. […] Am nächsten kommt dem Kunstwerk als Erscheinung die apparition, die Himmelserscheinung.“ Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Ffm 1975, S. 129. Die Neutralisierung liegt hier nicht in einer Entzeitlichung, sondern in dem Fehlen eines erscheinenden Übersinnlichen, wodurch das Ereignishafte ganz auf der Ebene des konkreten Geschehens situiert wird. Was bleibt, ist die radikale Zeitlichkeit des offenen Horizonts, des Moments der Überraschung auch bei Stücken, die man gut kennt. Ohne dieses Moment würde Musik sich bei mehrmaligem Hören verbrauchen. Aber selbst wenn man weiß, was geschehen wird, muss man es doch hören, und dieses Hören wird durch kein Wissen und keine Synthesis ersetzt. Der scharfe Gegensatz zwischen Prozessualität und Form wird dadurch zumindest gemildert. Die Offenheit der zeitlichen Horizonte ist ein Merkmal der Zeitkunst Musik als solcher und nicht auf improvisierte oder indeterminierte Musik beschränkt. Damit aber wird deutlich, dass das Ereignis, Lyotards „es geschieht“ bzw. „geschieht es?“ Vgl. Jean-François Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 159-187., durch Form vermittelt ist. Es geschieht, ja, aber was geschieht? In der Musik gibt es darauf eine Antwort, die ebenso wichtig ist wie das schiere Dass. Sie kann von der bloßen Beschaffenheit des Klanges bis zu aufwendigen Formbestimmungen gehen: Die Form ist eben das, was geschieht. Zwischen der reinen Ereignishaftigkeit, die keinerlei erkennbare Form aus sich entlässt, und der zeitlich stillgestellten Architektur entspannt sich ein Kontinuum, dessen Extreme für die Musik unerreichbar sind. In seinem großen Buch über Metrum und Rhythmus zieht Christopher Hasty daraus die Konsequenzen für die Musiktheorie: An sie ergeht der Anspruch, theoretische Modelle zu formulieren, die dieser sich immer wieder neu herstellenden Offenheit Rechnung tragen. Sie darf nicht so tun, als seien Musikstücke in sich vorweg vollständig bestimmt, und so die Zeitlichkeit der erklingenden Musik durch das räumliche Auseinander der Partitur ersetzen. So wäre etwa metrische Offenheit oder Mehrdeutigkeit auch dann als Offenheit zu beschreiben, wenn sie sich durch das Spätere vereindeutigt – und auch der Hörer würde an der Sache vorbeizuhören beginnen, wenn sie für ihn bei mehrmaligem Hören verschwände. Es ist interessant, dass Hasty im Zusammenhang mit der Frage, wie ein vollständig festgelegtes Stück wie Anton Weberns Quartett op. 22 angemessen aufgeführt wird, auf die Kategorie der Improvisation zurückgreift: „A performance adequate to the metrical subtlety of this music will require playing by ear rather than merely counting and improvisation rather than premeditation.“ Christopher F. Hasty, Meter as Rhythm, New York u. Oxford 1997, S. 260. Die Musiker müssen, um die Sprache des Jazz zu verwenden, ein feeling für die rhythmischen Gesten des Stückes bekommen, um diese lebendig darstellen zu können und sie nicht zu einer „anaesthetic reduction of particularity and a tedious homogeneity of tone and meter“ zu verflachen. Ebd. Von hier aus könnte man sagen, dass die klaren Unterschiede, die Charles H. Keil zwischen E-Musik und Jazz ausmacht, relativiert werden müssen (vgl. Charles M.H. Keil, Motion and Feeling through Music, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 24, 3 (1966), S. 337-349). Von dieser Seite betrachtet ist Musik per se experimentell: Wenn sie, wie Cage es verwundert bemerkt, „something to hear“ ist, so ist dem Hören, aber auch dem Spielen der experimentelle Charakter zumindest im Prinzip untilgbar eingeschrieben – auch wenn man nicht umhin kommt zu sagen, dass es Musik gibt, die scheinbar daran arbeitet, diese Dimension mit aller Gewalt zu tilgen. Die grundsätzliche Offenheit des Zeitlichen, auf die Bergson und Mead insistieren, und die untilgbare Situativität, die oben als zu unspezifisch zurückgewiesen wurden, tauchen hier nun doch noch einmal auf. Es bleibt bei der Notwendigkeit methodischer Vorkehrungen, damit diese Offenheit explizit in Erscheinung tritt, und man könnte sagen, dass für den Hörer die erklingende Musik selbst das Experimentalsystem bildet, das Zukunft hervorbringt. Das bereits Gehörte liefert eine relative Stabilität, vor deren Hintergrund das jeweils Neue hervortreten kann, das in eins einen neuen Horizont eröffnet und das Vergangene umfiguriert. Christopher Hasty entwickelt davon ausgehend ein Verständnis ästhetischer und philosophischer Praxis, das sie als Experiment beschreibt; vgl. Rhythmusexperimente – Halt und Bewegung, in: Christian Grüny u. Matteo Nanni (Hg.), Rhythmus – Balance – Metrum. Form raumzeitlicher Organisation in den Künsten, Bielefeld 2014 (i.E.) Die Auffassung der Zeit selbst als Selbstbezug und Neubeschreibung, auf die auch Rheinberger sich bezieht, kann an der Musik – und das heißt jetzt: im Prinzip an (fast) jeder Musik – erfahrbar werden. Musik ist, wenn man so will, ein Wahrnehmungs- und damit letztlich auch ein Gedankenexperiment: Wenn man Musik nachvollzieht oder besser: vollzieht, gewinnen ihre Verlaufsformen den Charakter affektiv-gedanklicher Bewegungen. Das gilt natürlich für unterschiedliche Musik in unterschiedlichem Maße; es gilt tatsächlich ganz besonders für die hier behandelten Musikformen, aber auch für die von der experimentellen Fraktion verfemten konstruktiven Avantgarde. In allen diesen Fällen hinterlassen die methodischen Brüche der Musik auch im Hören ihre Spuren, wodurch sich den Hörern die Möglichkeit eröffnet, im Nachvollzug auf diesen selbst aufmerksam zu werden. Die prägnanteste Erfahrung, die man daran machen kann, ist die der prozessualen Zeitlichkeit: wie eine sich weitende Gegenwart sich anhört, was es überhaupt bedeutet, dass es Zukunft gibt, und was Dauer ist. Die in anderer Hinsicht fundamentalen Unterschiede zwischen Komposition und Improvisation, zwischen integraler Konstruktion und Indeterminiertheit treten angesichts dieser Erfahrungsmöglichkeiten eher zurück. Bei Derek Bailey findet sich eine Anekdote, die die Sache so gut auf den Punkt bringt, dass man kaum glauben kann, dass sie sich wirklich so zugetragen hat. Frederic Rzewski erzählt dort, dass er den Saxophonisten Steve Lacy auf der Straße getroffen und ihn mit vorgehaltenem Aufnahmegerät genötigt habe, in fünfzehn Sekunden den Unterschied zwischen Komposition und Improvisation zu erklären. Lacy habe geantwortet: „In fifteen seconds the difference between composition and improvisation is that in composition you have all the time you want to decide what to say in fifteen seconds, while in improvisation you have fifteen seconds.“ Bailey, Improvisation, a.a.O., S. 141. Eben dies gilt auch fürs Hören: Fünfzehn Sekunden Musik dauern fünfzehn Sekunden. Und sie finden jetzt statt.