Rolf Sachsse1
Erkundungen auf dem Land
Marie Goslich als Bildjournalistin am Rande der Großstadt
Abstract: Observations in the countryside. Marie Goslich as image reporter at the borders
of the metropolis Berlin. Around 1900, Marie Goslich (1859–1938) was one of the earliest female photo reporters of her age. After 1905, she began to publish larger essays
illustrated with her own photographs. Her publications were either descriptions of the
social situation in the countryside near Berlin, helpful essays for Berlin housewives on
new kitchen aids or female clothing in reform fashion. Thus, she can be considered as
a part of the conservative feminism typical for the majority of the Berlin bourgeoisie
under Emperor Wilhelm II. This includes her engagement in and the support by the
Protestant church which becomes most evident in her work throughout World War
I. Her subjects ranged from typical views of the urban spectator on rural practices
like hay making, social reports on the situation of vagrant people to the introduction
of modern communication media. With a strong emphasis on sports, nutrition, and
health in general, her work represents the urban view on rural affairs. Marie Goslich’s
photographs have to be recognised not only as very early representations of a female
journalism but as photographs of their own quality in staging rural life at the borders
of a big town. Marie Goslich could not cope with this quality in the 1920s, her life
got lost in obscurity and ended in a Nazi mental hospital. Until 2005, her work has
remained completely unknown.
Key Words: photography, Berlin, Goslich, journalism, suburbia, Germany
Einleitung
Die Journalistin und Fotografin Marie Goslich (Frankfurt an der Oder 1859–1938 Landesheilanstalt Meseritz-Obrawalde) ist keine Unbekannte mehr, und dennoch ist es schwer, die
Orte ihres Lebens in ihrer Bedeutung für die Arbeitsweise wie für die Ergebnisse als Bilder
zu rekonstruieren.2 Zahlreiche Ausstellungen und Kataloge haben speziell die regionalen
Aspekte ihres Œuvres hervorgehoben, ohne tatsächlich auf die Umstände der dargestellten Menschen und Lebensräume einzugehen.3 Eine romanhafte, historisch unzureichend
begründete Fiktionalisierung versperrt immer noch weitgehend einen genauen Blick auf die
1
2
3
Hammstraße 1, D-53225 Bonn, mail@rolfsachsse.de. Beitrag eingereicht: 13.12.2017; Beitrag angenommen:
5.3.2018. – Der vorliegende Text beruht auf: Rolf Sachsse, Marie Goslich – eine engagierte Frau mit Schreibmaschine und Kamera in der Kaiserzeit, in: Krystyna Kauffmann/Richard Reisen (Hg.), Marie Goslich. Ein
Leben hinter Glas/A World Behind Glass, Bönen 2016, 295–317.
Vgl. Krystyna Kauffmann/Mathias Marx/Manfred Friedrich, Marie Goslich. Die Grande Dame des Fotojournalismus. The lady of photojournalism. 1859–1938, Leipzig 2013.
Vgl. Krystyna Kauffmann (Hg.), Die Poesie der Landstraße, Marie Goslich 1859–1936, Berlin 2008.
Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 15 (2018), 179–204
179
Biografie und das Werk dieser Frau.4 Der solchen Bemühungen immanenten Romantisierung
von Leben und Werk sollen hier Bemerkungen zu den Produktionsbedingungen, zum sozialen Umfeld, zu den politischen Voraussetzungen und zum medialen Verhältnis von Stadt und
Land entgegengestellt werden. Denn Stadt, Land, Leben am Rand der Stadt, in ländlichen
Peripherien: All dies waren wichtige Themen im Werk der Fotografin. Diese Themen hat
sie nicht selbst ausgewählt, sie sind ihr vielleicht nicht einmal besonders bewusst gewesen,
haben aber in den hier vorgestellten Werken nicht nur als mediale Konstrukte Bedeutung,
sondern auch als Zeugnisse sozialer Lebenswelten, die heute nur als Annäherungen betrachtet werden können.
Soweit das überlieferte Œuvre von Marie Goslich rekonstruierbar ist – in den Fotografien
durch die überlieferten Glasnegative, in der Schriftstellerei durch die publizierten Texte5 –,
fand ihre fotografische Arbeit im Kontext journalistischer Tätigkeit statt, von einigen privaten
Bildern und dem möglichen Material aus ihrer eigenen Ausbildung abgesehen. Die meisten
Bildserien, die sich aus dem überlieferten Material zusammentragen lassen, beziehen sich
direkt auf Artikel, die Marie Goslich frei oder als Redakteurin einer Zeitschrift verfasste.
Diese Artikel sind, auch wenn sie ohne fotografische Illustration publiziert wurden, zudem
die einzige Hilfe bei einer möglichen Datierung: Entweder wurden die Fotografien vorab für
einen Text erstellt – das gilt für alle Serien nach der ersten Bildveröffentlichung im Jahr 1905 –
oder sie waren quasi nachträglich einem bereits publizierten Thema gewidmet, etwa bei den
Artikeln der Jahre 1903 bis 1906. Alle bisherigen Publikationen zu Marie Goslich haben die
Fotografien entweder gar nicht oder eher willkürlich datiert. Ebenso unklar sind die meisten
Quellen zur Biografie, die vor allem aus persönlichen Erinnerungen des Adoptivsohns und
der Gastwirtsfamilie in Baumgartenbrück nahe Potsdam bestehen, bei der Marie Goslich
über mehr als drei Jahrzehnte lebte. Der folgende Text muss demnach unter der Maßgabe
einer weiterhin lückenhaften Überlieferung zu Person, Bildern und Texten gelesen werden;
er beruht auf der Sichtung eines Konvoluts von gut 300 Fotografien, die dem Autor als Scans
zugänglich gemacht wurden.
Journalismus um 1900
Über ihre Berliner Vermieterin kam die aus Frankfurt an der Oder stammende, zeitweise
auch in der Schweiz tätige Hauslehrerin Marie Goslich in den frühen 1890er Jahren zum
Journalismus und ging den klassischen Weg aller Frauen in diesem Beruf: Sie begann als
Stenotypistin und Sekretärin bei den Zeitschriften, deren Redaktion der Historiker und Politiker Hans Delbrück leitete und die er für die protestantische Kirche begründet hatte.6 Ihr
schriftstellerisches Instrument war von Anfang an die Schreibmaschine, was auch ihr Schreiben schnell professionalisierte und auf eine mediale Basis stellte.7 Zunächst durfte sie für den
4
5
6
7
180
Vgl. Tessy Bortfeldt, Frühes Licht und späte Schatten. Das Leben der Marie Goslich – eine preußische Biografie,
Wilhelmshorst 2005.
Die heutige Situation des Nachlasses, der sich in einer Privatsammlung befindet, entspricht nicht unbedingt
den notwendigen archivalischen Standards. Dem Autor wurden außer einer Anzahl digitaler Scans unterschiedlicher Qualität keine Quellen zugänglich gemacht.
Horst Wolf, Der Nachlass Hans Delbrück, mit einem Vorwort von Hans Schleier, Berlin 1980.
Vgl. Friedrich A. Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986, 271–378.
Almanach Preußische Jahrbücher Texte abschreiben, redigieren und gelegentlich ein wenig
überarbeiten; ihre ersten Veröffentlichungen dort waren Buchrezensionen und eine Briefedition aus den Jahren 1898 und 1899. Als Hans Delbrück 1904 die Zeitschrift Der Bote für die
Christliche Frauenwelt mitbegründen half, konnte Marie Goslich dort redaktionelle Arbeiten übernehmen und nach einiger Zeit eigene Texte verfassen, die sich zu eigenständigen
Kolumnen ausweiten ließen.8 Zuvor hatte sie schon kleinere Einzelbeiträge in verschiedenen
Publikumszeitschriften verfasst. Dass ihr aus dem Schreiben das illustrierende Fotografieren
zuwuchs, war um 1900 technisch wie journalistisch selbstverständlich.
Nachdem Georg Meisenbach und Karl Klietsch 1882 das Autotypieraster-Verfahren zum
fotografischen Bilddruck in Zeitungen und Zeitschriften vorgestellt hatten, dauerte es knapp
ein Jahrzehnt, bis diese Technologie allgemein eingesetzt wurde.9 Der Siegeszug der fotografischen Illustration in Zeitschriften vollzog sich dann recht schnell, für Tageszeitungen sollte
es noch ein Jahrzehnt mehr dauern: Ab Mitte der 1890er Jahre konnte es sich kaum noch eine
Zeitschrift leisten, nicht wenigstens gelegentlich Fotografien in ihre Blätter einzubinden. Für
Marie Goslich wird es in ihrem Redaktionsalltag um 1900 wohl normal gewesen sein, sich um
eine fotografische Illustration der Texte zu bemühen. Da sich aber zur selben Zeit die ersten
Bildagenturen selbständig machten und große Berliner Presseunternehmen wie Scherl und
Mosse erste Bildarchive in ihre Häuser integrierten, gab es für die kleineren, meist von Verbänden oder Mäzenen abhängigen Zeitschriften durchaus Probleme bei einer preisgünstigen
Bildbeschaffung.10 Nichts lag näher als die eigene Herstellung von Fotografien, zumal es sich
bei den Texten und Motiven selten, eigentlich nie um aktuelle Themen handelte, sondern um
moralische oder allgemein ökonomische Fragen der bürgerlichen Lebensführung unter den
Auspizien des preußischen Protestantismus, aus dem Marie Goslich ja selbst stammte. Bei
den Zeitschriften, für die sie zunächst – also bis etwa 1905 – arbeitete, handelte es sich um
Interessensblätter, deren Bezug sich nur ein kleiner, wohlhabender Teil der Bevölkerung leisten konnte und wollte. Wer visuelle Informationen für wenig Geld haben wollte, war seit den
1860er Jahren auf Sammel- und ab etwa 1900 auf Bildpostkarten angewiesen, die in durchaus
großen Stückzahlen auf den Markt geworfen und billig verkauft wurden.11 Die aber hat Marie
Goslich, wenn überhaupt, nur in kleinsten Stückzahlen hergestellt und nicht selbst verlegt.
Dank einer seit den 1880er Jahren florierenden Industrie war um 1900 das Fotografieren
bereits ein Massenvergnügen, mindestens für die, die genügend Geld hatten. Seit den 1870er
Jahren gab es die industriell hergestellte Trockenplatte, die man nach der Belichtung nicht
unbedingt sofort entwickeln musste; um 1900 war die Einrichtung einer einfachen Dunkelkammer für die Negativbearbeitung und das Anfertigen von Positiven kein technisches Problem mehr. Für ihre redaktionelle Fotografie hätte Marie Goslich alle notwendigen Arbeiten
8
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10
11
Regina Mentner, Ein bewährter Vorkämpfer für frommes deutsches Frauenwesen. Die Zeitschrift „Der Bote
für die christliche Frauenwelt“ (1904–1989), in: Christiane Busch (Hg.), 100 Jahre Evangelische Frauenhilfe
in Deutschland. Einblicke in ihre Geschichte, Düsseldorf 1999, 205–283.
Vgl. Bernd Weise, Reproduktionstechnik und Medienwechsel in der Presse, in: Rundbrief Fotografie, Sonderheft 4: Fotografie gedruckt, Beiträge einer Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach 1997, Göppingen
1998, 5–12.
Vgl. Bernd Weise (Red.), Fotografie in deutschen Zeitschriften 1883–1923, Ausstellungskatalog, Stuttgart 1993;
Wulf Herzogenrath (Hg.), Ausstellungsserie Fotografie in Deutschland von 1850 bis heute, Stuttgart 1991.
Vgl. Ludwig Hoerner, Zur Geschichte der fotografischen Ansichtspostkarte, in: Fotogeschichte. Beiträge zur
Geschichte und Ästhetik der Fotografie 7/26 (1987), 29–44.
181
in einem Volontariat oder Praktikum bei einem Fotografen, selbst an einigen Wochenenden
bei einem der vielen Amateurfoto-Vereine in und um Berlin erlernen können. Dass sie sich
dennoch für wahrscheinlich einen der Wochenend- und Abendkurse an der Lette-Schule in
Berlin einschrieb, hatte wohl zwei Gründe: Zum einen wurde der Konkurrenzdruck unter
den Berliner Agenturfotografen sehr groß, und Personen mit einer wenigstens rudimentären Fachausbildung wurden leichter zu Presseterminen oder berichtenswerten Ereignissen
zugelassen. Zum anderen aber war die Verbindung zur Lette-Schule – einer privaten Frauenbildungsanstalt, die seit 1866 existierte und seit 1890 fotografische Lehrinhalte anbot – sehr
einfach herzustellen, denn Hans Delbrück hat von 1886 bis 1899 dort gelegentlich gelehrt.12
Er wird ihr mindestens den Kontakt zur Schulleitung verschafft haben, sodass sie ihren Kurs
ohne Weiteres nach eigenen Vorstellungen zusammenstellen konnte. Eine genaue Datierung
ihrer Kursteilnahme existiert nicht; die übermittelten Quellen lassen den Schluss zu, dass die
Ausbildung um 1903 erfolgte.
Im Nachlass von Marie Goslich finden sich aus diesem Kurs augenscheinlich keinerlei
Überlieferungen. Einzig einige Motive deuten auf diese nur minimal dokumentierte Ausbildung hin: Einige touristische Ansichten von Berlin sowie die Reportage vom teilweisen Abriss
und Neubau eines größeren Mietwohnhauses mögen zu den Aufgaben des Lette-Vereins
gehört haben, denn sie passen nicht in den Kontext anderer Bildfolgen; eine Datierung ist
aus diesen Bildern nicht ersichtlich. Die erste nachgewiesene Bildveröffentlichung von Marie
Goslich zum Spreewald stammt aus dem Jahr 1905; die dort gegebenen Landschafts- und
Architekturansichten hätten gut als Aufgabe und Leistung in den Kontext der Lette-Unterrichtung gepasst, genauso wie einige der frühen Genre-Bilder von rastenden Landfahrern.13
Bis auf die letzten Bilder – Selbstportraits und Aufnahmen aus dem privaten Wohnumfeld
in der Mitte der 1920er Jahre – gehören alle überlieferten Fotografien von Marie Goslich zu
ihrer Arbeit als Autorin und Journalistin; selbst die Abbildung von nahestehenden Personen
wurde meist dem Thema, das zu behandeln war, untergeordnet. Bereits hier zeigt sich deutlich ein Stadt-Land-Gefälle: Wo die Themen städtisch – in Berlin gar großstädtisch – waren,
da gab es keinen Mangel an Protagonistinnen und Protagonisten der Bildthemen; auf dem
Land musste die Fotografin jene Menschen als Modell nehmen, die gerade anwesend waren.14
Fotografieren in politischen Zusammenhängen
Im weitesten Sinn ist die fotografische Arbeit Goslichs in den organisatorischen Kontext der
konservativen Frauenbewegungen einzuordnen, die nicht nur Zeitschriften betrieben und
damit medial wirksam waren, sondern auch direkt in die Tagespolitik einzugreifen suchten.
Trotz der Betonung spezifischer Fachausbildung für Frauen war der wichtigste Faktor aller
dieser Bewegungen die Beibehaltung tradierter Frauenrollen, woraus sich die besonderen
12
13
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182
Lilly Hauff, unter Mitarbeit von Elli Lindner, Der Lette-Verein in der Geschichte der Frauenbewegung, Berlin
1928, zu Delbrück: 92.
Marie Goslich, Der Spreewald, in: Der Bote für die christliche Frauenwelt 1/1 (1905), 12; 1/2 (1905), 20; 1/3
(1905), 31. Zur Thematik der Landfahrer, aber noch ohne Abb.: Marie Goslich, Auf der Landstraße, in: Die
Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift 11/2 (1903), 725–732.
Diese Angaben beruhen auf einer vom Autor angefertigten Datenbank, die systematische Bildzuordnungen
und -vergleiche ermöglichte.
Aktivitäten dieser Gruppen herleiteten – die viel beschworene Mütterlichkeit war die Basis
karitativen Handelns und vor allem einer immer wichtiger werdenden Rolle der Erziehung
von Kindern und Jugendlichen selbst in gut betuchten, großbürgerlichen Haushalten.15
In allen diesen Vereinen wurde es mit der Zeit jedoch wichtiger, sich mit eigenen Themen
von männlichen Rollenmodellen zu distanzieren, was sich vor allem in der Übernahme eigenständiger Aufgaben und Arbeiten durch Frauen niederschlug. Insbesondere die öffentliche
Selbstdarstellung weiblicher Arbeit erhielt mehr Aufmerksamkeit, und so war es eine selbstverständliche Forderung, dass die konservativen Frauenvereine ihre Zeitschriften, Aktionen
und Veranstaltungen selbst organisierten und mit eigenen Texten wie Bildern bestückten.
Hier sah Marie Goslich, die ja ungefähr ein Jahrzehnt älter war als die meisten Aktivistinnen
der Frauenvereine, ihre Hauptaufgabe: die Beschreibung eines gelingenden Frauen-, Familien- und bürgerlichen Lebens nach Maßgabe preußischer wie protestantischer Moralvorstellungen sowie die Ausstattung dieser Texte mit fotografischen Bildern.16 Entsprechend war
die Auswahl der Zeitschriften, für die sie arbeitete, und deren zeitlicher Rhythmus für ihre
schriftstellerische und fotografische Arbeit von grundsätzlicher Bedeutung. Neben Der Bote
für die Christliche Frauenwelt – ab 1915 Der Bote für die Deutsche Frauenwelt – waren es vor
allem Unterhaltungsmagazine, für die Marie Goslich, ab 1910 auch unter den Namen Marie
Kuhls bzw. Eva Marie oder Marie Kuhls-Goslich, schrieb und illustrierte: Über Land und
Meer, Die Woche, Die Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift und andere Titel sind da wichtig;
mit Die Mark. Illustrierte Wochenschrift für Touristik und Heimatkunde findet sich zudem ein
regional begrenzter Titel, aber auch dieses Blatt folgte dem mit aller Technologie einhergehenden Trend einer Personalisierung der Leseransprache, eben im Sinn einer Unterhaltung.17
Eine weitere Ausnahme dieses preußisch sittenstrengen und konservativen Portfolios, das
auch als „Christsoziale Frauenschriften“ klassifiziert worden ist,18 findet sich in Marie Goslichs etwas mehr als zweijährigem Engagement bei der Zeitschrift Körperkultur, das sich in
zahlreichen Texten und Bildern niederschlug. Allen Blättern ist gleichermaßen eigen, dass
sie außer einer allgemeinen Ausrichtung auf Jahreszeiten und modische Strömungen nicht
aktuell sein mussten, ihre Texte und Bilder also in aller Ruhe planen und mit Fotografin wie
Redaktion umsetzen konnten – den Werken der Marie Goslich kann man deutlich ansehen,
wie stressfrei und entspannt sie hergestellt wurden.
Bild und Technik
Dass Marie Goslich bei ihrer fotografischen Arbeit von vornherein auf eine journalistische
Nutzung abzielte, wird bei einem Blick auf ihre fotografische Ausrüstung deutlich: Wahr15
16
17
18
Vgl. Christiane Streubel, Sammelrezension. Literaturbericht: Frauen der politischen Rechten, in: H-Soz-Kult
(10.6.2003), http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-1697 (13.11.2015).
Vgl. Christa Bittermann-Wille/Helga Hofmann-Weinberger, Von der Zeitschrift Dokumente der Frauen zur
Dokumentation von Frauenzeitschriften, in: medien & zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart
15/2 (2000), 52–62.
Vgl. Jens Jäger, Eyewitness? The visual depiction of events around 1900, in: Martin Schreiber/Clemens Zimmermann (Hg.), Journalism and technological change. Historical perspectives, contemporary trends, Frankfurt
a. M. 2014, 165–184.
Streubel, Frauen der politischen Rechten.
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scheinlich besaß sie eine Kamera und die passende Ausrüstung dazu, wohl auch mindestens
die Chemikalien und Geräte, die für die Entwicklung der belichteten Platten notwendig
gewesen waren.19 Die Kamera hatte das Format der überlieferten Glasplatten, 13 x 18 cm,
und dürfte demnach eine der damals üblichen Reporterkameras gewesen sein: Das Negativformat entsprach bei querformatigen Bildern drei, bei hochformatigen zwei Spalten des
üblichen Zeitungssatzes und war für die Lithografie – die Umsetzung eines Bildes in eine
Druckvorlage – wie für die Druckereien die einfachste Grundlage des Bilddrucks. Für die
Fotografinnen und Fotografen und Laborantinnen und Laboranten hatte das Format die positive Eigenschaft, direkt im Abklatsch kopiert werden zu können, also kein weiteres optisches
System für die Verarbeitung zu benötigen – Kopien auf dem damals gängigen Albumin- oder
dem in Redaktionen viel genutzten Lichtpausen-Papier konnten in einfachen Kontaktrahmen
unter freiem Himmel angefertigt werden. Typische Pressekameras, wie sie damals hießen,
waren die Goerz Ango oder die Nettel Deckrullo; beide hatten ultraschnelle Verschlüsse, die
Belichtungszeiten von bis zu einer Tausendstelsekunde erlaubten, das passende Licht und
empfindliches Plattenmaterial vorausgesetzt.20
Die durchaus selbstironische Bild-Inszenierung von Marie Goslich am Badesee führt auch
ihre Kamera samt Aufnahmetechnik vor: Die Fotografin stellt ihre Bildkomposition im Blick
auf die Mattscheibe her – und nicht, wie die meisten Pressefotografen ihrer Zeit, mit einem
Sportsucher, der aus zwei unterschiedlich großen Metallrechtecken bestand und oben auf
Abbildung 1: Marie Goslich, Selbstbild am Strand des Schwielowsees, ca. 1907
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
19
20
184
Rolf Sachsse, Schlitzverschluss, Stativträger, Sportsucher, Scheinergrade – Zur Technik des Pressefotografen
Willy Römer, in: Diethart Kerbs (Hg.), Auf den Strassen von Berlin. Der Fotograf Willy Römer 1887–1979, Ausstellungskatalog, Berlin 2004, 51–77. Alle Aussagen zur fotografischen Technik beruhen auf der Betrachtung
der dem Autor zur Verfügung gestellten Roh-Scans der Glasplatten und weniger Positiv-Vorlagen unbekannter
Provenienz.
Hans Dieter Abring, Von Daguerre bis heute, Bd. I, Herne 1990, 91.
die Kamera montiert war. Sie sieht durch das berühmte schwarze Tuch, das sie allerdings
sehr kurz rafft, was auch bedeuten kann, dass sie unmittelbar vor einer Aufnahme steht: Das
Tuch wird nach vorn über die Kamera geschlagen, die Kassette mit der unbelichteten Glasplatte von der Seite eingeschoben, der Kassettenschieber herausgezogen und dann erst wird
das Bild aufgenommen. Das Stativ entspricht in Größe und Leichtigkeit einem Reise- oder
Pressestativ; eher unwahrscheinlich erscheint es, dass die Fotografin ihre belichteten und
unbelichteten Kassetten im Boot hinter sich aufhebt – insofern war das hier Gezeigte aller
Wahrscheinlichkeit nach eine Inszenierung für eine zweite Kamera. Vielleicht besaß Marie
Goslich noch eine solche zweite Kamera, aber dazu sind keine Hinweise auffindbar.
Mit ziemlicher Sicherheit hat Marie Goslich ihre Glasplatten selbst entwickelt; darauf
deuten außer den Randspuren auch die leichten Grauwert-Verdichtungen am Rand vieler
Aufnahmen hin, die mögliche Zeugnisse von mangelnder Bewegung beim Entwickeln und
Fixieren der Platten sein können, aber auch von einer Wässerung in nicht stark genug fließendem Wasser. Ebenfalls mögen die teilweise recht starken bakteriellen Veränderungen der
heute erhaltenen Platten Hinweis auf eine zwar gewissenhafte, doch technisch nicht immer
perfekte Ausarbeitung der Negative sein, und sie könnten zudem auf mediale Arbeit in ländlicher Umgebung hindeuten: Fließendes Wasser war dort in Innenräumen, also auch der
Dunkelkammer, kaum zu bekommen. Da fast keine Positive erhalten sind, kann über deren
Qualität keine Aussage gemacht werden – für die Druckvorbereitung waren nur einfache
Kontaktkopien, oft auf dem Papier von Blaupausen, vonnöten, die selbst nur wenige Tage
haltbar waren und für die Bildauswahl gebraucht wurden, so die Redakteure und Redakteurinnen nicht in der Lage waren, ihre Arbeit gleich anhand der Negative zu prüfen – was
damals jeder Fotografin, jedem Fotografen in der Bildredaktion nach kurzer Einarbeitung
möglich gewesen sein sollte.21 Die wenigen, als Scans überlieferten Kopien deuten auf eine
sehr professionelle Ausarbeitung in einer der großen Berliner Kopier- und Druckanstalten
hin – oder sind wesentlich später entstanden, was im Kontext der hier präsentierten Recherche nicht verifiziert werden konnte.
Die bildpublizistische Tätigkeit von Marie Goslich setzte um 1905 ein, zu einem Zeitpunkt,
als fotografische Druckvorlagen noch durchaus teuer waren, die Zeitschriften – weniger
als die Zeitungen – aber aus Konkurrenzgründen mehr und mehr mit Bildern ausgestattet
wurden. Der hohe Preis und die starke Attraktivität von Fotografien in einer Zeitschrift wurde
durch die Grafik kräftig unterstrichen: Die Bilder erschienen in Rahmen und Ornamente
eingebunden, welche die kleine Größe auf einer Druckseite zu relativieren suchten. Wo die
gedruckten Bilder mit den überlieferten Negativen vergleichbar sind, fällt auf, dass Marie
Goslich ihre Aufnahmen für den Druck eher wenig beschnitt, sondern sie gerade nur dem
Satzspiegel anpasste, aber sonst keine – und schon gar keine spektakulären – Ausschnitte
wählte.
Ein gutes Beispiel ist die einzige Reportage, die Marie Goslich 1907 in der weit verbreiteten
und stark bebilderten Illustrierten Über Land und Meer des Stuttgarter Verlags Hackländer &
Hallberger auf einer Doppelseite (S. 1074–1075) platzieren konnte.
Bei den vier (von sechs gedruckten) Aufnahmen, zu denen im Nachlass vergleichbare
Motive als Glasplatten erhalten sind, beschränkt sich der Beschnitt auf etwas Himmel oder
21
Vgl. Cornelia Kemp (Hg.), Unikat, Index, Quelle. Erkundungen zum Negativ in Fotografie und Film, Göttingen
2015.
185
186
Abbildung 2: Marie Goslich, Havelfischer, in: Über Land und Meer 49/43 (1907), 1074–1075.
in einem Fall auf die Beschneidung eines Querformats in ein Quadrat, aber sonst bleiben
die Ausschnitte fast ganz so, wie sie die Fotografin bei der Aufnahme gesehen hat. Von der
Komposition her sind die Bilder immer vollständig auf ihren späteren Druck hin angelegt:
Dynamische Motive wie das Auffangen der Fischernetze sind im Hochformat gegeben, ruhige
Darstellungen wie der Fischer im Boot dagegen im Querformat – sie sind ein freundliches
Fest für die Augen. Auch hier ist klar zu sehen, dass der Blick auf das Land aus der Stadt
kommt: Begonnen wird mit dem idyllisch gelegenen und gut in die Landschaft eingepassten Haus – die Heimatschutz-Bewegung unter Paul Schultze-Naumburg ist noch frisch im
Bewusstsein vieler Städterinnen und Städter, seine Bücher sind Bestseller22 –, dann folgen
Szenen aus der harten, auch die Kinder einbeziehenden Arbeit der Havelfischer, und schließlich wird die Serie mit einem hoch romantischen Bild der Frühstückspause auf dem Boot an
einem Altarm der Havel beendet. Wenn man überhaupt von einer – mehr vermuteten denn
durch Quellen belegbaren – persönlichen Entwicklung der Fotografin Marie Goslich sprechen möchte, dann ist hier noch der Blick der Städterin auf das idealisierte Land vorhanden,
was sich in späteren Serien änderte.
Bei der ökonomisch bedingten geringen Größe der noch wenigen gedruckten Fotografien
in den Zeitschriften um 1905 bis 1910 war die Wahl des Ausschnitts eines einzelnen Bildes
von großer Bedeutung. Wo Marie Goslich in der komfortablen Lage war, die redaktionelle
Aufarbeitung ihrer Bilder selbst zu versehen – etwa in Der Bote für die Christliche Frauenwelt
oder in der Körperkultur –, konnte sie den Beschnitt sorgsam auswählen und kleinere Störmomente am Bildrand ausschalten oder die Höhe des Horizonts im Bild selbst bestimmen,
was bei der Aufnahme nicht immer möglich war oder einfach einmal misslingen mochte.
In der Reportage zu den Havelfischern geriet die Autorin und Fotografin an einen hervorragenden und verständnisvollen Bildredakteur, der nur etwas hellen Himmel oder den allzu
wuchernden Busch am Rand abschnitt. Schon bei späteren Publikationen wie dem kleinen
Heft zur Frauenarbeit im Ersten Weltkrieg, das Marie Kuhls in Text und Bild vollständig verantwortete, gingen die Bildmonteure wesentlich stärker zu Werk als im Jahrzehnt zuvor: Hier
wurden Hausfassaden radikal zu Fensterreihen zusammen gestrichen und ein Panorama des
Kreuzgangs im Domkandidatenstift zu Berlin auf eine wenig attraktive Eckansicht verkürzt.23
Was die moderne Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion ab der Mitte der 1920er Jahre aus
den Bildvorlagen der Fotografinnen und Fotografen machte, ist allerdings noch eine ganz
andere Form der Redaktion, die Marie Goslich nicht mehr aktiv miterlebte.24
Stadt, Land und Imaginationen des ‚Ländlichen‘
Drei Themen sind es, um welche die journalistische Arbeit von Marie Goslich in Wort und
Bild gleichermaßen kreist: weibliche Arbeit im nahen Umfeld von Haushalt und Familie, die
22
23
24
Paul Schultze-Naumburg, Kulturarbeiten, Bd. 3: Dörfer und Kolonien, München 1903.
M[arie] Kuhls, Bilder aus der Kriegsarbeit der Frauenhülfe, Potsdam 1917, siehe auch die Abbildungen 15 und
16.
Vgl. Ulrich Keller, Fotografie und Begehren. Der Triumph der Bildreportage im Medienwettbewerb der Zwischenkriegszeit, in: Annelie Ramsbrock/Annette Vowinckel/Malte Zierenberg (Hg.), Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen 2013, 129–174.
187
Erhaltung der körperlichen Gesundheit durch Sport und Ernährung sowie Differenzen und
Imaginationen des Lebens in der Stadt und auf dem Land.
Der erste Bereich wird durch zahlreiche Einzelbilder zu Beilagen von Der Bote für die
Christliche Frauenwelt mit den Titeln Für die Arbeitsstube sowie Kleidung und Handarbeit
illustriert; das langfristige Engagement der Journalistin reicht von 1905 bis 1920, allerdings
relativ diskontinuierlich mit oft jahrelangen Pausen. Goslich war in den Jahren 1909 bis 1915
Chefredakteurin der Beilage Für die Arbeitsstube, die ihren Titel einer seit 1895 sehr populären Frauenzeitschrift namens Die Arbeitsstube. Zeitschrift für leichte und geschmackvolle
Handarbeiten mit farbigen Originalmustern [...] entlehnt hatte. Dort wurden nur Themen
behandelt, die weitgehend in den redaktionellen Alltag einer konservativen Frauenzeitschrift
jener Jahre gehörten und exemplarisch inszeniert oder demonstriert wurden. Das schließt
die Schönheitspflege inklusive der Schnürung eines Korsetts, die umfassende Vorführung
einer Kochkiste samt deren Nutzen für die bürgerliche Küche oder auch die Vorbereitung
von Bügelwäsche durch ein neuartiges, elektrisches Dampfgerät ein. Bis um 1910 wurden alle
Themen so behandelt, dass sie direkt in den Kontext einer urbanen Existenz als protestantische Frau und Mutter eingefügt wurden, in einer Großstadt wie Berlin wurde immanent ein
gutes Wohnviertel vorausgesetzt, wie es sich auch in jeder anderen deutschen Stadt finden
ließ. Die Beilage Die Arbeitsstube konnte wohl aus Kostengründen nicht mit Fotografien
Abbildung 3: Marie Goslich,
Junge Frau mit Kochkiste, Berlin, ca. 1905
Quelle: Albrecht Herrmann
Collection of Marie Goslich.
188
illustriert werden, also musste man die Bilder von Marie Goslich als frei stehende Holz- oder
Stahlstiche zum Druck aufbereiten.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienen manche der Fotografien in kleinen Buchausgaben passender Texte unter dem Sammeltitel Ländliches Glück; der Titel Nähen, Flicken,
Stopfen etwa besteht aus 16 Seiten im Oktav-Format.25 Hier wird ganz offensichtlich eine
ganz wesentliche Verschiebung vorgenommen, die sich auch in einzelnen Texten von Marie
Goslich widerspiegelt: Die Arbeitsstube ist nicht mehr das Zimmer, in dem junge Frauen vom
Land für die betuchte Gesellschaft der Stadt tätig sind, sondern der Ort, in dem der weibliche Teil der ländlichen Bevölkerung an der Werterhaltung des Eigentums aus Kleidung und
Heimtextilien beteiligt wird. Das Gefälle zwischen Stadt und Land wird hier im Visuellen
vor allem dadurch gemildert, dass die Abbildungen als Stahlstiche vom Hintergrund befreit
werden und damit keine urbane Umgebung mehr voraussetzen. Marie Goslich war inzwischen selbst aus Berlin nach Baumgartenbrück am Schwielowsee – einen Ortsteil von Geltow
nahe Potsdam – umgezogen und hatte dort ihren Adoptivsohn quasi als Alleinerziehende zu
versorgen, sie dürfte also viel Verständnis für die Sorgen ihrer Leserinnen gehabt haben. Für
die Fotografien brauchte sich nicht viel zu verändern: Die ländliche Leserschaft war nicht so
sehr von modischen Veränderungen abhängig wie die städtische, also machte es auch nichts,
wenn Frisuren oder Röcke bereits ein wenig aus der Mode geraten waren. Halten wir hier fest,
Abbildung 4: Marie Goslich, Mann bei Dehnübungen am Flussufer, ca. 1907
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
25
Marie Kuhls-Goslich, Nähen, Flicken, Stopfen (Ländliches Glück, Bd. 11), Potsdam 1912.
189
dass es mit wenigen Veränderungen des medialen Kontextes möglich war, ein ‚städtisches‘
Frauenbild in ein ‚ländliches‘ zu transformieren, und zwar in eine ‚glückhafte‘ Imagination.
Für das zweite Thema zeichnete Marie Goslich vor allem mit zahlreichen Texten und Bildserien in der Zeitschrift Körperkultur. Illustrierte Monatsschrift für körperliche Vervollkommnung zwischen 1908 und 1910 verantwortlich; in diesem Blatt wurden ihre Bilder außerdem
für Texte anderer Autorinnen und Autoren benutzt, nur hier ist sie in engerem Sinn Bildjournalistin. Mit dem Thema der Körperkultur war wiederum eine dezidierte Bildlichkeit
verbunden, die ‚Natur‘ und das heißt zugleich den ländlichen Kontext betonte.
Ein mittelalter, sehr kräftiger Mann – er taucht in anderen Bildern als Schwimmer oder
ein Boot ziehend auf – macht Streck- und Dehnungsübungen. Er ist in Rückenansicht gegeben, um das Muskelspiel perfekt vorführen zu können, und er agiert in einem Auenwald an
einem Gewässer, das am rechten Bildrand gerade noch erkennbar ist. Wie das Bild deutlich
demonstriert – kein Mensch aus der Landwirtschaft würde sich in dieser Weise im Wald
bewegen –, richtet sich die ganze Zeitschrift an eine städtische Bevölkerung, die das gesunde
Leben auf dem Land erst wiederentdecken soll. Darauf deuten auch zahlreiche weitere Bilder
aus der Arbeit für diese Zeitschrift hin, die durchaus auch Serien wie die Havelfischer konterkarieren: Wo die einen mit Fischerboot und Reuse um ihr Überleben kämpfen, ziehen die
anderen mit Angel und ebenfalls kleinen Booten aus, um in sonntäglicher Kontemplation
vielleicht einen Fisch zu fangen. Wichtiges Anliegen von Marie Goslich scheint die Propagierung des Schwimmsports gewesen zu sein; immer wieder gibt es Bilder von großen
und kleinen Menschengruppen in Badekleidung am Schwielowsee. Dennoch ist aus dem
vorhandenen Material keine konsistente Strategie der Fotografin für die dem Blatt zugrunde
liegende Körperkultur zu destillieren.
Die längste Zeit ihrer Arbeit ist Marie Goslich dem Blatt Die Mark. Illustrierte Wochenschrift für Touristik und Heimatkunde verbunden gewesen; die erste Publikation datiert von
1907, die letzte von 1927, auch hier mit einer Pause von mehr als zehn Jahren. Der Untertitel
des Blatts umfasst recht gut das Programm der Texte und Bilder, das es dort anbot: Es ging
einerseits um die Darstellung der Landschaft als Erholungs- und Freizeitort, wozu auch die
Betrachtung von Beschäftigungen der Landbevölkerung gehörten, und andererseits um den
eben erst publizistisch etablierten Heimatschutz, wie er sich in zahlreichen lokalen Gruppen
und dort in der dokumentarischen Amateurfotografie niederschlug.26 Allerdings dürfte Marie
Goslich eher weniger an der ästhetischen Verbesserung von Villen-, Wohnungs- und Industriebauten gelegen haben, wie sie suburbanen Architekten und der Heimatschutz-Bewegung
vorschwebten; auch scheint sie an der planerischen Anlage von Gärten und Parks wenig
Interesse gehabt zu haben – derlei Aufträge richteten sich um 1900 durchwegs an Männer,
und daher waren diese Themen für eine Frauenzeitschrift nicht opportun. Was Marie Goslich
in Wort und Bild berichtet, hat dennoch viel mit dem Heimatschutz und einem städtischen
Blick auf das Land zu tun.
In einer für Goslich ungewohnt komplexen Komposition zeigt das Bild der Landstraße,
die zum Gasthof Herrmann in Baumgartenbrück führt, verschiedene Transport- und Kommunikationsmittel in engem Zusammenhang: Auf den Verbindungsbrettern zwischen den
26
190
Vgl. Hans-Ulrich Wepfer, Der Photograph Ernst Hausamann. Die Anfänge der Heimatschutzbewegung im
Thurgau, in: Siegfried Tann (Hg.), Frühe Photographie 1840–1914, Das optische Gedächtnis der BodenseeLandschaft, Friedrichshafen 1985, 222–232.
Abbildung 5: Marie Goslich,
Mann am Telefonmast, Baumgartenbrück, ca. 1912
Quelle: Albrecht Herrmann
Collection of Marie Goslich.
beiden Pfosten der Bildmitte steht ein Mitarbeiter der Telefongesellschaft und prüft mit einem
Hörer die Leistung des Relais, vor dem er steht. An einem unsichtbaren vierten Pfosten lehnt
ein Fahrrad, und auf der Straße ist ein Einspänner mit geschlossenem Aufbau zu erkennen.
Dahinter sieht man den Gasthof und sein Werbeschild – mehr zeitgenössische Regionalität
geht kaum, und auch ein wenig Modernität ist zu spüren. Marie Goslich präsentiert mit
diesem Bild auch eine Form des Selbstportraits: Sie lebt in diesem Gasthof, aber sie benötigt – im Gegensatz zu den Menschen ihrer Umgebung – auch alle modernen Medien der
Kommunikation und des Verkehrs. Dass sie ihre Abhängigkeit von medialen Verbindungen
überhaupt thematisiert, ist bereits ein Hinweis auf die städtische Fundierung ihrer Arbeit.
Die Themen von Goslichs langjähriger Mitarbeit bei Die Mark kreisen um die Sichtbarmachung von Elementen des ländlichen Alltags, die in städtischen Umfeldern verloren gegangen
sind; es gibt in jeder Hinsicht ein Primat des Textes. Einfühlsam werden die Mühen der
ländlichen Existenz geschildert, einzelne Berufsfelder von der Fischerei über die Landwirtschaft bis zur Landfahrerei vorgestellt und in je einem Bild zusammengefasst, manchmal mit
einer zweiten Variante; gelegentlich stehen hinter diesen Einzelbildern auch ganze Serien,
die Goslich über einen kürzeren oder längeren Zeitraum aufgenommen hat. So sind die fünf
Bilder einer Heuernte sichtbar an einem Nachmittag entstanden, während die Serie zu den
191
Landfahrern und Wanderverkäuferinnen ebenso offensichtlich über einen Zeitraum von
mehreren Jahren geplant und durchgeführt wurde.
Insgesamt repräsentieren die Bilder bei aller Empathie für die Dargestellten und ihr hartes
Leben doch den Blick einer städtischen Intellektuellen auf das Landleben, sie geben indes mit
den Landfahrer-Bildern Einblicke auch in ein Leben zwischen Stadt und Land. Als Gegenstücke zu damals bereits bekannten Bildserien wie John Thomsons Street Life in London,27 Jacob
Riis’ How the Other Half Lives28 oder den vielen lokalen Dokumentationsunternehmungen
jener Jahre zum urbanen Subproletariat29 können Marie Goslichs sporadische Einzelbilder
kaum gelten. Aber sie zeigen ein Bewusstsein dafür, dass es an den Rändern der Großstadt
auch Ränder der Gesellschaft gibt, denen Aufmerksamkeit zukommen sollte.
Die Texte zu diesen Bildern, so sie denn veröffentlicht wurden, sind deskriptiv und enthalten ihre Wertungen eher im Nachsatz:
Abbildung 6: Marie Goslich, Landfahrer mit Familie und Karren, ca. 1908
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
27
28
29
192
Sylvia Sukop, Die soziale Wirklichkeit als Bild. John Thomsons Street Life in London, in: Bodo von Dewitz/
Robert Lebeck (Hg.), Alles Wahrheit! Alles Lüge! Photographie und Wirklichkeit im 19. Jahrhundert. Die
Sammlung Robert Lebeck, Ausstellungskatalog, Köln 1997, 201–209.
Jacob A. Riis, Flashes from the slums: Pictures taken in dark places by the lightning process (1888), in: Beaumont Newhall (Hg.), Photography: essays & images, Boston MA 1980, 155–158.
Vgl. Werner Michael Schwarz/Margarethe Szeless/Lisa Wögenstein (Hg.), Ganz unten. Die Entdeckung des
Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York, Ausstellungskatalog, Wien 2007.
„So ziehen sie denn mit Pferd und Wagen umher, […] und während der Mann die Pferde im gemütlichen, aber sicheren Trott durch Wald und Heide lenkt, ruhen die Frauen
im Hintergrund des Wagens von ihrer Arbeit aus. Und diese Arbeit ist nicht gering,
ihnen liegt der Hauptanteil des Hausiergewerbes ob, zu dem die weibliche Zunge sich
nun einmal besonders eignet.“30
Alle Texte zu diesem Themenkreis betonen die Armut der beschriebenen Menschen, aber
auch ihr Gefühl für Freiheit und Abenteuer – und genauso erscheinen die passenden Bilder
im Nachlass, gleich ob sie gedruckt wurden oder nicht: Einzelpersonen, maximal eine Gruppe
aus zwei oder drei Menschen agieren ruhig in einer Umgebung, die im Film als Halbtotale
zu charakterisieren wäre.
Auf einer dieser Aufnahmen lagern drei Männer am Rand einer Straße; ihr Habitus und
ihre Kleidung weisen sie als Landfahrer aus, aber nahezu in der Form einer Karikatur. Das
Bild gehört zu einer Serie mit immer denselben Personen, einmal einzeln mit Bierflasche sitzend und stehend und ein anderes Mal mit Gepäck, das diese Männer als ambulante Verkäufer ausweist. Der Hintergrund ist fast immer dieselbe Straße; gelegentlich wird an der Seite
ein Haus sichtbar, um die Funktion des Verkaufens oder des Gelegenheitsarbeiters deutlich zu
machen. Bei allen diesen Männerportraits wird deutlich auf Elemente eines unbürgerlichen
Lebenswandels hingewiesen: Rauchen, Trinken, Müßiggang, dazu oft eine eher nachlässig
Abbildung 7: Marie Goslich, Zwei Frauen mit Wäschebeuteln, Geltow, ca. 1908
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
30
Marie Goslich, Poesie der Landstraße, in: Die Woche. Moderne Illustrierte Zeitschrift 4/16 (1906), 688–692.
193
gepflegte Kleidung. Sobald die Männer ruhen, werden die Schuhe ausgezogen – guten BürgerInnen als LeserInnen der Blätter, für die Marie Goslich arbeitete, wäre dies nie in den
Sinn gekommen.
Zwei Frauen stehen vor einem Gartentor an einer gepflasterten Straße, also im typischen
Ambiente eines bereits verbürgerlichten, ehemals ländlichen Vororts in der Kaiserzeit. Über
ihrer Schulter hängen weiße Leinentücher, die zu einem Bündel geknotet sind; darin befindet
sich Weißwäsche, die sie ambulant verkaufen. Der Wagen am linken Bildrand kann als Transport- und Materialfahrzeug zu den Frauen gehören, muss es aber nicht. Eine andere Variante
des Bildes zeigt dieselben Frauen auf einer Brücke; dort geht hinter ihnen ein älterer Mann
her, der zwar nicht ganz so nachlässig gekleidet ist wie viele der männlichen Landfahrer, aber
doch nicht so gepflegt und sauber erscheint wie die beiden Frauen. Marie Goslich hat sie auf
diesem Bild in ein perfektes Chiaroscuro platziert, bei dem sich das Profil ihrer Gesichter
präzise vom dunklen Hintergrund abhebt. In der Würde ihrer Haltung und der durchaus
monumental aufgefassten Pose macht die Fotografin die Frauen geradezu zu Heldinnen der
Landstraße.
Abbildung 8: Marie Goslich, Wanderarbeiter am Gartentor, Geltow, ca. 1908
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
Ein geöffnetes Gartentor in diffusem Gegenlicht; auf der Grenze des Grundstücks, gerade
noch draußen vor dem Tor, steht ein Mann mit einem Stock in der linken Hand, die rechte
hält er an den letzten Pfosten des Gartenzauns. Durch seine Brille ist der Mann als blind
oder zumindest als sehbehindert ausgewiesen; dafür steht er erstaunlich aufrecht, sein offen-
194
sichtlich schwerer Rucksack schnürt die Silhouette seiner Schultern ein. Der Mann trägt
schwere Schuhe und weite, etwas zu kurze Hosen, sein Mantel ist verschlissen und spannt
mit offenem Knopf über den Bauch, auf dem Kopf ein leicht schiefer Hut. Möglicherweise
ist der Mann ein Wanderarbeiter, wobei nichts im Bild darauf hindeutet, was er arbeiten
könnte; für einen Bettler jener Jahre steht er aber zu selbstbewusst und aufrecht da – ganz
offensichtlich gilt ihm die Sympathie der Fotografin. Im Hintergrund des Bildes ist zunächst
die Straße zu sehen, dann eine Böschung, dahinter ein Gewässer und am Horizont wieder
ein bewachsenes Gelände. An demselben Gartentor hat Marie Goslich zu unterschiedlichen
Jahreszeiten verschiedene Menschen fotografiert, von einer jungen Frau mit Kiepe über eine
ausliefernde Wäscherin mit großem Tragekorb bis eben zu diesem Mann, dessen Erscheinung
durchaus leicht surreale Züge trägt.
Abbildung 9: Marie Goslich, Scherenschleifer mit Frau und Hund, Geltow, ca. 1908
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
Der Scherenschleifer – eine der seltenen Berufsbezeichnungen, die einem Bild von Marie
Goslich selbst mitgegeben wurden – steht mit Frau und Hund neben dem kleinen Karren,
den er selbst ziehen muss. Die blinde Frau hält sich mit der rechten Hand an einer am
Wagen passend angebrachten Stange fest, in der linken Hand hält sie an einem Blindengeschirr den Hund, der als einziges Lebewesen die Fotografin anschaut. Im Hintergrund sind
die niedrigen Wohnhäuser der märkischen Ackerbürgerschaft und kleine Baumgruppen zu
sehen; immerhin ist auf dem Bild genug Platz, um noch die Tiefendimension des räumlichen
Gefüges erkennen zu können, eben die flache Landschaft Brandenburgs. Menschen und Tier
195
sind in dicke Tücher und Mäntel gehüllt; die Aufnahme entstand an einem kalten, trüben
Wintertag. Die Verlorenheit dieser Gruppe hinterlässt bei heutiger Betrachtung durchaus
zwiespältige Assoziationen: Zwar sind die Inszenierung und der Blick der Fotografin von
Empathie getragen, aber zu keinem Zeitpunkt lässt Marie Goslich daran Zweifel aufkommen,
dass die dargestellten Menschen in irgendeiner Weise in dieser Landschaft heimisch werden
könnten. Hier schließt die Bildwelt wieder an jene Vorurteile an, die auch in den Texten der
Zeitschrift verbreitet werden; der Begriff „Pusztakinder“ fällt dort genauso wie der Hinweis
auf die weibliche Eloquenz beim Hausieren. Der Schulterschluss zwischen der Autorin und
ihren Leserinnen und Lesern, der zur bereits damals so genannten Blattbindung gehört,
basiert auf einem genuin großbürgerlichen, städtischen Blick.
Aus Marie Goslichs Bildern von Landfahrern, Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern und Hausiererinnen und Hausierern lässt sich keinerlei Systematik destillieren, die auf
eine Ähnlichkeit mit den Sammelkampagnen vieler Fotografinnen und Fotografen um 1900,
von Eugène Atget bis August Sander und Edward Sheriff Curtis, deuten könnte. Mit August
Sander und vielen seiner Vorgänger teilt die Fotografin das konservativ-ständische Weltbild einer nahezu gottgegebenen Prägung der Menschen durch den städtischen oder ländlichen Umraum und vor allem durch den Beruf. Das Thema des Lebens auf der Landstraße
hat Marie Goslich über ein halbes Jahrzehnt begleitet, zwischen den ersten, rein textlichen
Abbildung 10: Marie Goslich,
Bäckerin Alwine Rottstock auf
dem Fahrrad, Geltow, ca. 1911
Quelle: Albrecht Herrmann
Collection of Marie Goslich.
196
Publikationen um 1903 bis zu größeren Bildserien der Jahre 1907 und 1908. Gerade bei
den späteren Bildern – fast wie eine Vorbereitung der Sportarten und ihrer Inszenierung in
der Körperkultur – hat die Fotografin ihre Protagonisten und Protagonistinnen zunehmend
in visuelle Stereotypen eingebunden, die die Erwartungshaltungen ihrer Leserschaft bedienen. Ein Gesicht ist kaum erkennbar und wird für die Aussage dieser Aufnahme auch nicht
benötigt.
Das gilt auch für das Bild der Bäckerin Alwine Rottstock, deren Namen wir nur vom
Türschild ihres Verkaufsraums in Geltow her kennen. Es zeigt die Frau mit ihrer charakteristischen, an niederländische Gemälde erinnernden weißen Haube schräg von der Seite bei
der Abfahrt zur Auslieferung ihrer Waren. In einer für Marie Goslich ungewohnt dichten
Komposition wird vom Fahrrad nur die vordere Hälfte gezeigt, mit der Bäckerin darauf,
deren Gesicht unter der Haube jedoch kaum zu erkennen ist. Am Lenker baumeln drei kleine
Leinenbeutel mit Broten darin. Im Hintergrund ist von der Bäckerei nur ein Fenster mit dem
Schild darüber zu sehen, aber das reicht, um das Haus als ungewöhnlich gut ausgestattet, im
Vergleich zu den anderen Häuser als geradezu wohlhabend darzustellen. Ein starkes Seitenlicht gibt der Szenerie große Plastizität und stellt den Vorderreifen des Fahrrads mit seinem
Schlagschatten wie die in dunklem Umfeld leuchtende Haube als bildbestimmende Elemente
heraus. Möglicherweise war der bevorstehende Abriss der Geltower Mühle Anlass für das
Bild, denn dass die Bäckerin ihren Betrieb ohne das Mehl dieser Mühle zu gleichen Kosten
nicht fortführen konnte, war Marie Goslich sicher auch klar.
Abbildung 11: Marie Goslich, Heuernte, Geltow, ca. 1908
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
197
Aber selbst dort, wo das Geld mit harter Arbeit in der Landwirtschaft verdient werden
musste, bleiben die Bilder idyllisch: Das Füttern von Schweinen, Hühnern und anderen
Haustieren wird ebenso gekonnt für die Kamera inszeniert wie das Pflücken von Obst oder
die Heuernte. Marie Goslich verzichtete hier ganz auf die offensichtlichen Bezüge zur sozialkritischen Malerei eines Jean-François Millet oder Gustave Courbet, wie sie etwa später in
der Bildwelt der US-amerikanischen Fotografin Dorothea Lange auftauchen; die sachliche
Schilderung dreier Frauen auf dem Feld entzieht sich jeder Heroisierung, sondern wirkt allein
aus der Dynamik der Rechen und ihrer Dreieckskomposition im Bild heraus.
Dieses Bild ist das dritte einer Serie, die offensichtlich als solche konzipiert und an einem
Tag aufgenommen worden ist. Das Thema ist die Heuernte, vor allem als Teamwork von
Gruppen aus Frauen und Männern als Kennzeichen landwirtschaftlicher Produktion. Die
Frauen harken das Gras zusammen, das zuvor mit Mähern und Sensen geschnitten worden
ist; dieser Tätigkeit, die von Männern ausgeführt wird, ist das erste Bild gewidmet. Die Geltower Mühle im Hintergrund bildete in vielen Bildern von Marie Goslich einen räumlichen
Fixpunkt, bis sie um 1911/12 abgerissen wurde; anscheinend hat sie aber in diesem Bild
keinen metaphorischen Charakter. Auch scheint sich die Fotografin nicht in der jüngeren
Malerei ihrer Zeit umgesehen zu haben – kein Detail des Bildes verweist auf den deutschen
oder französischen Impressionismus und seine Schilderungen der gleichen Szenerie. Dennoch dürfte es kompositorisch von zahllosen Grafiken beeinflusst worden sein, die in Zeitschriften und Zeitungen jener Jahre als Holz- oder Stahlstiche publiziert worden waren. Das
gilt auch für ein weiteres Bild, das vom Narrativ her zwischen das erste und zweite gehört:
Es zeigt aus mittlerer Distanz einen Mann beim Schärfen seiner Sense.
Ein viertes Bild zeigt das Ergebnis der ersten drei: Frauen und Männer stehen zwischen
aufgehäuften Heubüscheln, sie warten auf den Wagen. Im fünften Bild wird die Ernte auf
den Wagen geladen, eine körperliche Schwerstarbeit, die vollständig von Männern ausgeführt wird. Der Mann oben auf dem Wagen, der für die richtige Anhäufung zum sicheren
Transport zuständig ist, beugt sich vor, um einen Heubaum entgegenzunehmen, der als
Gewicht auf die Heuladung gelegt wird. Marie Goslich war bei ihrer Aufnahme offensichtlich
nicht ganz mit der Geschwindigkeit des Aufladens mitgekommen: Der Horizont ist etwas in
Schieflage geraten, ein Fehler, der bei der redaktionellen Arbeit keine Rolle spielte, weil die
Bilder fast immer beschnitten und bearbeitet wurden. Im Hintergrund ist nun die Kirche von
Geltow zu sehen; die ganze Gruppe ist bei dieser Ernte weiter an den Ort herangerückt. In
einem sechsten Bild der Serie steht eine Frau oben auf dem Wagen und sortiert offensichtlich
die letzten Bündel Heu, die aufgeladen worden waren.
Die beiden letzten Bilder der Serie widersprechen einander zunächst; beide zeigen den
Transport der Heuernte zurück zum Bauernhof. Auf dem einen Bild bewegen sich Pferd
und Wagen – mit drei Personen obenauf – durch einen Fluss, während in einem achten Bild
der Wagen aus größerer Entfernung von hinten auf einer Brücke zu sehen ist. Sicher spiegelt
das eine Bild die Furt durch einen Altarm der Havel wider, während das andere die neue
Brücke am Schmielowsee zeigt, doch wirken beide Bilder wie Inszenierungen ohne Bezug
zum Geschehen einer Heuernte – und ob mit diesen Bildern der Unterschied von alten
und neuen Verkehrswegen aufgezeigt werden soll, muss Vermutung bleiben. Marie Goslich
hätte für diese Reportage, wäre sie denn jemals publiziert worden, viel Text als Erläuterung
gebraucht. Ähnlich aufgebaut wie diese ist eine weitere Serie, die sich mit dem Waschen,
198
Abbildung 12: Marie Goslich, Heuernte, Geltow, ca. 1908
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
Aufhängen und Bleichen der täglichen Wäsche beschäftigt; auch hier sind die Bilder wenig
selbsterläuternd.
Das Land ist und bleibt, wie in späteren Bildwelten aus Fotografie und Film, ein Sehnsuchtsort der Städterinnen und Städter, die in der Konzentration auf das Bild alle Gerüche,
Geräusche und Widrigkeiten des harten Lebens aussparen.31 Das gilt auch im Umkehrschluss:
Am deutlichsten werden die zeitgebundenen Stereotypen im Œuvre von Marie Goslich, wenn
sich die Bilder mit dem bürgerlichen Leben am Stadtrand beschäftigen, also die Lebenswelt
der Leserinnen und Leser von Der Bote der Christlichen/Deutschen Frauenwelt beschreiben. Da
werden Herzen in Bäume geritzt, da lagern gut gekleidete Damen auf improvisierten Liegen
und lesen ein gutes Buch, da werden schöne Tische auf großen Balkonen gedeckt. Trotz aller
Erfahrungen, die Goslich während ihrer Hauslehrerinnen-Karriere auf dem Land machen
konnte, bleibt ihr Blick immer ein städtischer, ganz im Sinne der Zeitschriften, für die sie arbeitete, und im Einklang mit den Bildern von Frauen als Versorgerinnen für Haus und Hof vor
aller anderen, persönlichen Selbstverwirklichung. Einzig das Montessori-artige Modell einer
freien Kindererziehung scheint durch die Bilder durch, die sich mit dem Spiel und Lernen der
31
Vgl. Katharina Stütz, Die Kamera immer griffbereit. Stadt-Land-Visualisierungen im Amateurfilm. Deutschland und die Niederlande im Vergleich 1930–1980, in: Franz-Werner Kersting/Clemens Zimmermann (Hg.),
Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn 2015, 179–196.
199
Abbildung 13: Marie Goslich, Kinder beim Bau einer Gartenlaube, ca. 1914
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
nachwachsenden Generation beschäftigen. So gibt es eine kleine Bildserie davon, wie Kinder –
sicher unter Anleitung eines unsichtbaren Erwachsenen – eine Laube bauen und das kleine
Stück Land um sie herum als Garten anlegen. Hier wird der suburbane Kontext dieses Tuns
auch dadurch evident, dass sich am Horizont immer wieder Reihen von Miethäusern zeigen.32
Zahlreiche Bilder vom Tierfüttern direkt an Haus und Stall, von der Obsternte auch mithilfe von Kindern, von der Aussortierung der Früchte für die Marmeladen-, Konserven- oder
Schnapsproduktion gemahnen an die Bewegung der Schrebergärten.33 Dennoch sieht es in den
Bildern selbst eher nicht danach aus, sondern mehr nach dem Überlebenskampf einer ländlichen Klein- oder Nebenerwerbsbauernschaft, bei der die Männer in den Parks und Gärten
Berlins arbeiteten und die Frauen in den umliegenden Dörfern mit den Kindern zuhause
blieben. Das Bild von drei Kindern beim Obstpflücken – es gehört zu einer Serie von insgesamt
drei überlieferten – zeigt denn auch eine eher größere Anzahl an Bäumen, die an eine Streuobstwiese oder regelrechte Obstbaum-Anpflanzung denken lässt. Die Kleidung der Kinder
deutet aber auch auf eine Inszenierung hin, die ein sonntägliches Vergnügen vorführen soll.
32
33
200
Zur Suburbanisierungsgeschichte vgl. Gunter Mahlerwein, Modernisierung der ländlichen Gesellschaft in
Deutschland – der Beitrag der Suburbanisierung, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 57/2
(2009), 13–29.
Vgl. Frank Baacke/Catherina Hildebrand/Miriam Pfordte, 150 Jahre StadtErnte: Die Geschichte der Schrebergärten, Leipzig 2014.
Abbildung 14: Marie Goslich, Kinder bei der Obsternte, Geltow, ca. 1910
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
Alte Menschen sind auf den Bildern vom Vorstadtleben und in den ländlichen Szenen eher
selten zu sehen. Hier einmal eine alte Frau am Spinnrad, dort ein paar ältere Frauen beim Sortieren der Früchte, und Portraits brauchten offensichtlich nur junge Menschen im Umkreis
von Marie Goslich. Gelegentlich inszenierte sie sich selbst durchaus beißender Selbstironie
als die denkende und damit störende Städterin zwischen den Menschen vom Lande, die wiederum in erster Linie für Gruppenbilder mit der ganzen Familie zu haben waren. Daneben ist
ein gutes Einvernehmen mit den Ordnungsmächten des Kaiserreichs erkennbar – Bilder von
Polizisten und Militär zeigen diese immer als beschützende Freunde der Bürgerinnen und
Bürger. Da darf das „Gläschen in Ehren“ wie die genüsslich gerauchte Zigarette oder Zigarre
auch nicht fehlen. Die Fotografin rahmt ihr Bild vom „Schutzmann“ mit dem Soldaten – es
scheint kurz vor dem oder in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs entstanden zu sein –
mit dem respektvoll distanzierten Blick durch das Terrassenfenster der Gastwirtschaft: eine
Szene direkt von der Grenze zwischen Stadt und Land.
Als Fotografin mag Marie Goslich auch von einer Bewegung wie der Kunstfotografie
geprägt gewesen sein, die gerade in ihrer Unabhängigkeit vom beruflichen Umfeld der Fotografinnen und Fotografen, also im bewussten und positiv gesehenen Dilettantentum die
Grundlage eines künstlerischen Blicks sahen. Bilder dieser in Berlin, Hamburg und Wien sehr
geschätzten und geförderten Bewegung waren um 1900 in vielen Ausstellungen zu sehen,
wurden oft in den Blättern der jeweiligen Stadt besprochen und dürften somit auch Marie
Goslich bekannt gewesen sein. Gerade in Deutschland ist die Kunstfotografie ein wichtiges
201
Abbildungen 15 und 16: M[arie] Kuhls, Bilder aus der Kriegsarbeit der Frauenhülfe, Potsdam 1917,
Cover und S. 15
Abbildung 17: Marie Goslich, Frauenhilfe, Potsdam, ca. 1915
Quelle: Albrecht Herrmann Collection of Marie Goslich.
202
Bindeglied zwischen der handwerklichen Tradition des Berufs, der Modernität des Bildjournalismus und den visuellen Sehnsüchten aller Amateurfotografinnen und Amateurfotografen
der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gewesen, also Grundlage jener eigenartigen Differenz
von technischer Modernität und rückwärts gewandter Idyllik des Landlebens, die zur konservativen bis rechten Propaganda des frühen 20. Jahrhunderts gehört.
Die heile Welt wird auch im Ersten Weltkrieg aufrecht erhalten: Verglichen mit den allgegenwärtigen Aufnahmen von Kriegsküchen und Kohlenkellern voller Rüben, die aus dieser
Zeit bekannt sind, ist die kleine Bildreportage, die 1917 in Buchform unter dem Titel Bilder
aus der Kriegsarbeit der Frauenhülfe erschien, von nachgerade idyllischer Einfachheit: Postkartenverkauf vor Potsdams Haupttor im schönen Wintermantel, eine Haushaltungsschule in
Neumünster mit adretten Damen davor, selbst die Sammelstelle der Liebesgaben ist gut aufgeräumt – und kein Sack verlässt das Büro, der nicht ordnungsgemäß abgestempelt wurde.34
Die Bildserie selbst – überliefert sind neben den fünf im Heft abgedruckten noch weitere
sechs Aufnahmen vom Aussuchen, Sortieren, Verpacken und Versenden der Waren – dürfte
im Herbst 1914, spätestens im Herbst 1915 fotografiert worden sein, denn danach wurden
die Versorgungsschwierigkeiten der deutschen Bevölkerung so groß, dass es nicht mehr für
große Würste, Schnaps, Schokolade und warme Wäsche in den Beuteln reichte. Wahrscheinlich vom Kriegsende oder aus der Zeit kurz davor sind einige Fotografien, die trauernde
Frauen vor Gräbern stehen und beten zeigen – Symbolbilder für eine letzte Frauenarbeit im
familiären Kontext.
Spätwerk und Nachleben
Nach dem Ersten Weltkrieg versiegte die Text- und Bildquelle von Marie Goslich: In Der
Bote für die Deutsche Frauenwelt erschien 1920 der letzte Artikel von ihr; Die Mark druckte
1927 einen letzten Text, nachdem dort bereits ab 1914 keine Publikation mehr von ihr und
1920 nur eine kurze Notiz über sie nachweisbar ist. Um 1926/27 stellte sie eine letzte Reihe
von Bildern her, die als Selbstportraits oder Interieurfotos ihre Lebenssituation schildern.
Da steht sie an einer Staffelei oder liest ein Buch, da gibt es die Reproduktion eines spätbarocken Wandgemäldes, alles Bilder eines späten, selbstbezüglichen Lebens im offensichtlichen
Ruhestand. Die früheren Auftraggeber von Marie Goslich wie Hans Delbrück waren selbst
weit über siebzig Jahre alt, der neue Bildjournalismus konnte mit ihrer Arbeit nichts mehr
anfangen, und der große Aufschwung, den die illustrierte Zeitung nach der Hyperinflation
der deutschen Währung nahm, ging an dieser Autorin vollkommen vorbei.35
Schaut man ihre Gemälde an, die auf den Selbstportraits und den Wohnungsbildern
erkennbar sind, so scheint es sich stilistisch um einen späten Impressionismus à la Max
Liebermann zu handeln, den sie so pflegte wie meisten Dilettantinnen und Dilettantinnen
ihrer Zeit.36 Aber man kann auch feststellen, dass sich manches gemalte Motiv zuvor in ihrer
34
35
36
Kuhls, Bilder aus der Kriegsarbeit.
Vgl. David Oels/Ute Schneider (Hg.), „Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere“. Ullstein in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts (Archiv für Geschichte des Buchwesens – Studien, Bd. 10), Berlin/München/Boston
2015.
Vgl. Rudolf Scheutle, Überdurchschnittliche Leistungen bedeuten unliebsame Konkurrenz, in: Sabine Sternagel
(Hg.), Ab nach München! Künstlerinnen um 1900, Ausstellungskatalog, München 2014, 332–335.
203
Kamera befunden haben mag. Früh ist eine stilistische Übereinstimmung der Kunstfotografie mit dem späten Impressionismus erkannt worden, das mag in gleicher Weise für die
künstlerische Arbeit von Marie Goslich gelten.37 Allerdings ist die Farbigkeit der Gemälde
aus den schwarzweißen Fotografien kaum noch zu rekonstruieren; zu vermuten steht, dass
die Bilder in jenen matten Pastelltönen gemalt wurden, die für deutsche Impressionisten
der zweiten und dritten Generation, wie etwa Leo von König, typisch waren. In der Malerei
mag Marie Goslich jene Erfüllung gefunden haben, die ihr in der Fotografie wie im Schreiben letztlich versagt blieben: Das eigenständige Schaffen war ihr wohl nur im Moment des
Machens möglich, nicht aber im großen (Ent-)Wurf eines literarischen oder bildnerischen
Werks sui generis.
Abgesehen von den tragischen oder grausamen Ereignissen ihres Todes 1938 in der Klinik
Obrawalde bei Meseritz östlich von Frankfurt an der Oder38 ist Marie Goslich lange genug
die Würde einer Platzierung im historischen Umfeld ihrer Arbeit verweigert worden: Immerhin wurde ihr Nachlass bewahrt, in einer Zeit des materiellen Verschwindens schon eine
bemerkenswerte Tatsache und enorme Anstrengung derer, die dieses Œuvre erhalten haben.
Mindestens in Brandenburg ist Marie Goslich inzwischen eine Größe der regionalen Fotogeschichte. Dabei kann sie – wie viele ihrer Zeitgenossinnen, deren (Wieder-)Entdeckung noch
aussteht, solange sich hoffentlich noch auf Dachböden oder in Kellern Material dazu findet –
durchaus von verschiedenen Seiten angeblickt werden: als Schriftstellerin, die ihre Werke mit
fotografischen Kommentaren versah, auch als Fotografin, die aufgrund ihrer literarischen
Arbeit genau wusste, wie sie welche Geschichte zu erzählen hatte. Hier liegt das Desiderat
zukünftiger Beschäftigungen mit Marie Goslich: sie zu entdecken als eine Mediatorin zwischen Stadt und Land, zwischen bürgerlichem Protestantismus und sozial durchaus hartem,
aber als naturnah gesehenen Landleben, zwischen ihren eigenen Erwartungshaltungen und
dem, was tatsächlich auf ihren Bildern zu erkennen ist.
Am Werk der Marie Goslich lassen sich, über die hier entwickelte individuelle Werk- und
Lebensgeschichte hinaus, grundsätzliche Eigenschaften der fotografischen Darstellbarkeit und
der darin aufgehobenen Darstellungskonventionen der Blicke auf das Land im Kontrast zur
Stadt erkennbar machen: die stets zwischen Idealisierung eines erträumten ländlichen Raumes
und seiner (vorsichtig) realistisch-journalistischen Behandlung changierenden Praktiken von
Fotografinnen und Fotografen. Ferner, dass es sich beim verfügbaren Material, zumal beim
publizierten, doch zumeist um einen Blick auf das Land aus der Stadt heraus handelte – die
Stadt, auch die Kleinstadt, ist stets präsent, selbst dort, wo es um Naherholung und Garten
geht. Bürgerliche Kodizes und Einflüsse der Heimatschutz-Bewegung gingen hier ebenso ein
wie neue Horizonte von Reformbewegungen, die Natur und körperliche Gesundheit in den
Mittelpunkt ihres Tuns stellten. Die heute wieder enorme und wachsend aktuelle Bedeutung
von ‚Land‘ als Erholungsort, von ‚Natur‘ als Erlebnis zeigt sich nicht nur bei Goslich sehr deutlich. Die dokumentarische Darstellung harter Landarbeit lag ihr eher fern, aber Arbeit, auch
das Thema geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, ist in ihrem Werk durchaus präsent – und
das ist weitaus mehr, als man sonst in der Fotografiegeschichte kennt.
37
38
204
Vgl. Enno Kaufhold, Bilder des Übergangs. Zur Mediengeschichte von Fotografie und Malerei in Deutschland
um 1900, Marburg 1986.
Vgl. dazu Kauffmann/Marx/Friedrich, Marie Goslich.