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Literatur und Religion

2012

Dieser Band enthält dreizehn Vorlesungen der Ringvorlesung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur im WS 2011/2012, die dem vielfältigen Verhältnis von Literatur und Religion interdisziplinär in historischer und interkultureller Perspektive nachgehen und dabei auch gegenwartskulturelle Bezüge herstellen

View metadata, citation and similar papers at core.ac.uk brought to you by CORE provided by University of Hildesheim Toni Tholen Burkhard Moennighoff Wiebke von Bernstorff (Hrsg.) Literatur und Religion Hildesheimer Universitätsschriften; 25 Impressum Verlag Vertrieb Universitätsverlag Hildesheim Universitätsverlag Hildesheim Marienburger Platz 22 31141 Hildesheim verlag@uni-hildesheim.de Druck Druckhaus Lühmann Marktstr. 2-3 31167 Bockenem Gestaltung Verena Hirschberger ISSN 1433-5999 ISBN-10 3-934105-39-4 (Print) ISBN-13 978-3-934105-39-3 (Print) ISBN ISBN-A 978-3-934105-61-4 (Open Access) 10.978.3934105/614 (Open Access) Hildesheim 2012 Inhalt Vorwort ........................................................................................... 5 Martin Schreiner Brot und Wein – Literarische Zugänge zum Abendmahl ............. 8 Silke Kubik Religion für Aufgeklärte – Lessings Vorstellung einer humanen Religion ......................................................................... 25 Wiebke von Bernstorff Im Zeichen des Messianismus: jüdische Erzähltraditionen bei Walter Benjamin und Anna Seghers ...................................... 47 Toni Tholen ‚Schwebe-Religion‘. Von Bettina von Arnim bis Pina Bausch ..................................... 75 Burkhard Moennighoff Die Rede des Satirikers und das Desaster der Natur. Zur Apokalypse in der Literatur ................................................... 96 Guido Graf Es gibt keinen Sieger außer Gott. Goethe und der 11. September 2001 .........................................117 Irene Pieper Die Dichterin und ihre Religion: Else Lasker-Schülers poetisch-eigensinniger Umgang mit der jüdischen und christlichen Überlieferung ..................................................134 Guido Bausenhart Die sogenannte Heilige Familie ................................................ 155 Hanns-Josef Ortheil Mönche, Heilige, Märtyrer. Zur Literatur des frühen Christentums ...................................... 177 Annett Gröschner Herrgottswinkel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ..................................... 199 Christian Schärf Marmorbilder und Madonnen. Die erotische Religion der Romantik ........................................ 224 Sebastian Günther „Der Lebende, Sohn des Wachen: Über die Geheimnisse der orientalischen Weisheit“ − Literatur und Religion in einem philosophisch-allegorischen Roman des klassischen muslimischen Gelehrten Ibn Tufail ........................................... 250 Rolf Elberfeld Buddhistische Betrachtungen aus der Stille − Yoshida Kenkōs Tsurezuregusa ................................................ 274 Autorinnen und Autoren ............................................................ 293 Vorwort Literatur und Religion – man ist geneigt zu fragen, warum ein solches Thema Gegenstand einer Ringvorlesung sein sollte, wenn man bedenkt, dass die Wirkungskraft von Religion und Glauben in unserer Gesellschaft und Kultur unverkennbar nachlässt. Die Gottesdienste bleiben leer, die Zahl derjenigen, die aus der Kirche austreten, wird größer, Gotteshäuser werden geschlossen bzw. umfunktioniert und Gemeinden werden zusammengelegt. Auch das Wissen um die kulturelle Bedeutung religiös-christlicher Symboliken, Narrationen, Bilder und Riten bröckelt. Vielfach schon sind den Angehörigen der jüngeren Generationen die Traditionszusammenhänge und Grundquellen religiöser Bildung, Belehrung und Glaubenspraxis nicht mehr bekannt; und in der Folge eben auch nicht deren Beziehungen und Wechselwirkungen mit anderen Formen der Kultur, insbesondere nicht mit den Künsten. Kurz: Die Gegenwart lässt sich als eine Zeit diagnostizieren, in der religiöse Bilder, Geschichten, Deutungen und Glaubensangebote ihre Bindungskraft in rasanter Weise einbüßen. Andererseits, so ließe sich einwenden, zeigt unsere Gegenwart auch, dass das Bedürfnis nach Sinn und Orientierung, nach bekennender Praxis und schließlich nach Formen, in denen all dies gefunden, erlebt und praktiziert werden kann, – dass all diese im weitesten Sinne spirituellen Bedürfnisse im selben Ausmaß wachsen, wie die Sinn- und Vertrauensressourcen in vielen anderen Bereichen heutigen Lebens schrumpfen. Dementsprechend ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren ein Trend dahingehend zu beobachten, dass Traditionen, Epochen, philosophische und insbesondere ästhetische Quellen und Konzepte wieder mehr auf ihre ethischen und spirituellen Sinnpotenziale hin betrachtet werden. Dies geschieht in Fächern wie der Philosophie, der Soziologie und der Erziehungswissenschaft, aber auch in der Literaturwissenschaft. Und wenn man – gemeinschaftlich mit Kollegen benachbarter Fächer – die Augen für die reichhaltigen Verbindungen von Religiösem und Literarischem in den Bildern und Erzählungen aus Tradition und Gegenwart nur weit genug öffnet, wird man erkennen, in 5 welch intensivem Gespräch Literatur und Religion von allem Anfang an waren und es heute – noch, wieder – sind. Diese zu beobachtenden Entwicklungen gaben Anlass genug, im Wintersemester 2011/12 eine Ringvorlesung zum Thema „Literatur und Religion“ durchzuführen, und sie geben Anlass, die Vorlesungen im vorliegenden Band der Lektüre zugänglich zu machen. Bei der Konzeption des Programms waren vor allem zwei Gesichtspunkte leitend: Zum einen sollten die Beiträge den Austausch von Literatur und Religion, die wechselseitige Anregung und die Transformationsprozesse von einem kulturellen Teilsystem zum anderen thematisieren, denn: Religiöses Wissen wird in Texten weitergegeben, z.B. in Gebeten, Gesetzen, Lehrbüchern, Hymnen. Literarische Formen lassen ihrerseits religiöse Traditionen fortleben. Und: Literatur erscheint bisweilen als Religion und Dichter treten immer einmal wieder als Priester auf; schließlich werden religiöse Erzählungen in allen Epochen und auch gegenwärtig literarisch adaptiert und aktualisiert. Zum anderen sollten die Vorlesungen die Interkulturalität des Themas und die Vielfalt spiritueller Traditionen, welche sich in der Literatur, aber auch als Literatur finden, exemplarisch wahrnehmbar machen. Die Literatur hat sich kaum je an die Grenzziehungen orthodoxer Glaubenssysteme gehalten und von den unterschiedlichen religiösen Quellen und Anregungen ausgehend transformiert sie diese in eigene narrative Bildwelten, in ästhetische Konzepte, aber auch in eigenwillige Lebens- und Schreibpraktiken. Und gerade dadurch ermöglicht die Literatur mit ihren besonderen ästhetischen Mitteln nicht selten einen anderen und sinnreichen Zugang zu religiösen Phänomenen und Praktiken. Solche literarischen Zugänge zum Feld des Religiösen hängen selbst aber auch von der kulturellen Eigentümlichkeit und den Vollzugsformen der jeweiligen religiösen Tradition ab. Deshalb war es für die Ringvorlesung von besonderer Bedeutung, die Fühler weit auszustrecken und die Themenpalette interkulturell anzulegen. Wir freuen uns, dass es gelungen ist, Vorträge zu hören, die die christlichen und jüdischen, aber auch arabische und buddhistische Traditionen zum Thema gemacht haben. Wir freuen uns ebenfalls, Texte vorlegen zu können, die einerseits scheinbar abliegende, historisch 6 ferne religiöse Vorstellungen und Praktiken für die Gegenwart neu erschließen und andererseits aktuelle Themen und Bezugnahmen in der Tiefe religiöser und literarischer Überlieferung verorten. Allen Kolleginnen und Kollegen, die zum Gelingen der Vorlesung beigetragen und uns ihren Text für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben, gilt unser herzlicher Dank. Ebenso danken möchten wir Frauke Spangenberg, die bei der Vorbereitung des vorliegenden Bandes wertvolle und unermüdliche Arbeit geleistet hat. Hildesheim, im Mai 2012 Toni Tholen Burkhard Moennighoff Wiebke von Bernstorff 7 Martin Schreiner Brot und Wein – Literarische Zugänge zum Abendmahl Auch bedarf der Mensch, der gewöhnlich sein Leben in Zerstreuung und Leichtsinn vor sich hin lebt und immer voraneilt, ohne zu wissen, was ihn eigentlich treibt und was er eigentlich will, in seinem Lauf von Zeit zu Zeit angehalten und zu sich selbst zurückgeführt zu werden; er bedarf eines Steins am Wege, auf den er sich hinsetze und in sein vergangenes Leben zurücksehe. Und dazu kann ihm das heilige Abendmahle dienen [...]. 1 Matthias Claudius macht uns mit diesen Worten auf die Selbstvergewisserung und persönliche Besinnung aufmerksam, zu der das Abendmahlsgeschehen beitragen kann. Claudius' Worte laden ein, sich für eine kurze Zeit anhalten zu lassen und hinzusetzen. Als Steine am Weg mögen uns einige ausgewählte literarische Texte und ein Filmausschnitt zu unterschiedlichen Dimensionen des Abendmahls dienen. Lassen Sie uns gemeinsam einen Einblick in diese „heilige, große Handlung“ gewinnen, in dieses „sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen Gunst und Gnade“ – wie es Johann Wolfgang von Goethe im siebenten Buch des zweiten Teils seines großen Textes Dichtung und Wahrheit nennt – „in dem [...] die irdischen Lippen ein göttliches Wesen verkörpert empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen teilhaftig werden“. 2 Goethe schreibt im Kontext eines Versuchs „anschaulich zu machen, wie die großen Angelegenheiten der kirchlichen Religion mit Folge und Zusammenhang behandelt werden müssen, wenn sie sich fruchtbar wie man von ihr erwartet, beweisen soll“ 3: 1 Matthias Claudius: „Das heilige Abendmahl“. In: ders.: Werke in einem Band. Herausgegeben von Jost Perfahl. München: Winkler 1976, S. 607618, hier S. 607. 2 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 10. Herausgegeben von Ernst Beutler. Zürich: Artemis/ dtv 1977, S. 318. 3 Ebd. S. 317. 8 Die Sakramente sind das Höchste der Religion, das sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen Gunst und Gnade. In dem Abendmahle sollen die irdischen Lippen ein göttliches Wesen verkörpert empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen teilhaftig werden. Dieser Sinn ist in allen christlichen Kirchen ebenderselbe, es werde nun das Sakrament mit mehr oder weniger Ergebung in das Geheimnis, mit mehr oder weniger Akkomodation an das, was verständlich ist, genossen; immer bleibt es eine heilige, grosse Handlung, welche sich in der Wirklichkeit an die Stelle des Möglichen oder Unmöglichen, an die Stelle desjenigen setzt, was der Mensch weder erlangen noch entbehren kann.4 Was geschieht beim Abendmahl, dieser „heiligen, großen Handlung“? Was ist das Sakrament des Altars? Kurz und bündig antwortet bekanntlich Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus auf diese Frage: Es ist der wahre Leib und Blut unsers Herrn Jesus Christus, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken von Christus selbst eingesetzt. 5 An dieser Stelle sei kurz das christliche Abendmahlsverständnis zusammengefasst und auf verschiedene Dimensionen des Abendmahlsgeschehens aufmerksam gemacht, die auch Gegenstand der nachfolgenden literarischen Texte sind: 1. „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1). Das Abendmahl ist das Miteinander von Brot und Wein und Gottes Wort, begründet auf der durch Christus gegebenen Abendmahlsvermahnung (Mk 14,22-24/Lk 22,19-20/Mt 26,26-28). Alle Christen sind aufgefordert, beim Abendmahl das Brot zu essen und aus dem Kelch zu trinken zum Gedächtnis an Christi Tod und Auferstehung. Die Einsetzungsworte bilden dabei die „Brücke“ zwischen Christi Leib und Blut und der Vergebung der Schuld. Durch diese Worte werden die Elemente Brot und Wein zum Sakrament des Altars, durch diese Worte ist Christus im Abendmahl wirklich gegenwärtig, sie konstituieren das Abendmahl als geistliches Mahl mit Jesus Christus. So heißt es im „Kleinen Katechismus“: 4 Ebd. S. 318. Martin Luther: „Der Kleine Katechismus“. In: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Herausgegeben von Kurt Aland. Bd. 6: Kirche und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 154. 9 5 Wo steht das geschrieben? So schreiben die heiligen Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und der Apostel Paulus: Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach's und gab's seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; solches tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl, dankte und gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus: Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden; solches tut, so oft ihr's trinket, zu meinem Gedächtnis.6 2. Das Abendmahl schenkt immer wieder neu die befreiende Gabe der Sündenvergebung und die unzerstörbare Gemeinschaft mit Gott, begründet auf der durch Christus gegebenen Abendmahlsverheißung. Die Worte „Für euch gegeben“ und „vergossen zur Vergebung der Sünden“ erinnern an Tod und Auferstehung Christi und vermitteln immer wieder ein Leben in neuer Gerechtigkeit. 3. Das Abendmahl bewirkt die immer wieder mögliche Erneuerung des Menschen durch die Vergebung der Sünden. Wie in der Taufe verbindet sich im Abendmahl für alle Sinne wahrnehmbar unsere eigene Geschichte mit der Geschichte Gottes: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“! 4. Der rechte Empfang des Abendmahls besteht in nichts anderem als im Glauben an Christi Tod und Auferstehung und an die Abendmahlsverheißung. Nur das gläubige Herz erfährt das Geheimnis der wirklichen Gegenwart des für alle Menschen gestorbenen und auferstandenen Erlösers Jesus Christus und die Gabe der Sündenvergebung. Das Abendmahlsgeschehen umfasst verschiedene Dimensionen: Es geht um Transzendenzerfahrung und Geheimnis, um Heilung und Heilkraft, um Vergebung und Erlösung, um Erinnerung, Vergegenwärtigung und Neubeginn, um Sinnlichkeit und Leiblichkeit, kurz: es geht um die Verdichtung von Sein (Brot und Wein) und Sinn (Christi Leib und Blut). In Vergangenheit und Gegenwart gab und gibt der Ritus um Brot und Wein zahlreiche Anstöße, sich poetisch mit diesem im Rahmen der abend6 Ebd. 10 ländisch-christlichen Tradition zentralen semontologischen beziehungsweise ontosemiologischen Sakrament auseinanderzusetzen. Dabei sind es in erster Linie die zahlreichen Einzelparadoxien des Abendmahls, die zur literarischen Bearbeitung herausfordern. Mit dem Mannheimer Germanisten und Medienanalytiker Jochen Hörisch, der bereits 1992 eine vorzügliche Poesie des Abendmahls geschrieben hat, seien insbesondere erwähnt: in Brot und Wein ist Christus real präsent – aber nur für die, die an ihn glauben; das Abendmahl ist ein Gedächtnismahl – aber zugleich Feier der Präsenz Christi und ein eschatologisches Mahl; die sakralen Elemente sind mehr als nur Zeichen – aber sie bedürfen, um mehr als Zeichen zu sein, der Wandlungsworte; die Kraft wandelnder Worte kommt der priesterlichen Epiklese zu – aber sie ist bloßes Zitat der ursprünglichen Einsetzungsworte des Herrn; und schließlich – zentrale Paradoxie –: in den transsubstantiierten Elementen wird die Gegenwart des Gottessohnes gefeiert, um dann – verzehrt zu werden. Sein ist demnach sinnvoll nur auf der Folie seiner vergangenen Erlösung und seiner erlösten Zukunft, ja: seines Verschwindens. 7 Gerade diese Paradoxien sind immer wieder Anlässe zu poetischen Darstellungen und Deutungen geworden: „Kann denn das Brot so klein / für uns das Leben sein? / Kann denn ein Becher Wein / für uns der Himmel sein?“ 8 Man könnte nun eine illustre Reise durch die Jahrhunderte antreten. Es ist höchst reizvoll, beispielsweise eucharistische Motivik am Anfang des Tristan-Epos Gottfried von Straßburgs, in den Abendmahlstexten des Novalis (etwa in der fünften der Hymnen an die Nacht oder dem Abend7 Jochen Hörisch: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 17. Hörisch entfaltet in seinem Buch von den widersprüchlichen Abendmahlsberichten im Neuen Testament über die Reformation und das Barock, Goethe und Hölderlin bis zu Thomas Manns Zauberberg und Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire die Faszination der semontologischen Leistung des Abendmahls auf die Dichtenden. 8 Wilhelm Willms: „Kann denn das Brot so klein“. In: ders.: Meine Schritte kreisen um die Mitte: Neues Lied im alten Land. Kevelaer: Butzon & Bercker 1984, o. S. 11 mahlsgedicht aus dem Zyklus der Geistlichen Lieder), in Hölderlins bedeutender Elegie Brot und Wein und in einer Vielzahl anderer Texte vergangener Jahrhunderte zu analysieren. Hier nur kurz zwei Ausschnitte: Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet, Und vom donnernden Gott kommt die Freude des Weins. Darum denken wir auch dabei der Himmlischen [...]. 9 Cornelius Hell schreibt zu Recht dazu: Nach der traurigen Erinnerung an das ‚selige Griechenland‛, dessen Götter in einer anderen Welt leben, und der unbeantworteten Frage ‚Wozu Dichter in dürftiger Zeit?‛ erscheinen in der achten Strophe in Hölderlins Hymne Brot und Wein als Gabe der abwesenden Götter, die wiederkehren werden. Sie verweisen gerade nicht auf die Präsenz, sondern die Absenz Gottes! 10 Und bei Novalis heißt es zu Beginn der Hymne aus dem Zyklus Geistliche Lieder: Wenige wissen Das Geheimnis der Liebe, Fühlen Unersättlichkeit Und ewigen Durst. Des Abendmahls Göttliche Bedeutung Ist den irdischen Sinnen Rätsel [...]. 11 Nochmals Cornelius Hell: Schon der Beginn der Hymne zeigt, wie auch hier das Abendmahl pluralisiert und vor allem erotisiert wird. Hölderlin und Novalis ha- 9 Friedrich Hölderlin: Brot und Wein. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte. Hyperion. Herausgegeben von Paul Stapf. Wiesbaden: Emil Vollmer Verlag o.J., S. 276-280, hier S. 280. 10 Cornelius Hell: „Brot und Wein“. In: Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Heinrich Schmidinger. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1990, S. 510-526, hier S. 510. 11 Novalis: Hymne. In: ders.: Monolog u.a. Herausgegeben von Ernesto Grassi. Reinbek: Rowohlt 1963, S. 76-77, hier S. 76 (=Rowohlts Klassiker der Literatur und Gesellschaft. Deutsche Literatur Band 11). 12 ben entscheidende Weichen dafür gestellt, dass ‚Brot und Wein‛ zu einem Angelpunkt poetischer Weltdeutung geworden ist! 12 Bevor wir uns mit literarischen Darstellungen und Deutungen des Abendmahls im 20. Jahrhundert beschäftigen werden, machen wir Station bei Gottfried Keller, dem Zeitgenossen Nietzsches und Anhänger der Feuerbachschen Philosophie. In seinem Roman Der grüne Heinrich „feiert er einen von Weltlichkeit strahlenden Gott, den er aggressiv dem Gott der reformierten Kirche in der Schweiz gegenüberstellt, in der Keller aufgewachsen ist“ 13. Auf eine höchst unbequeme und uneinsichtige Weise wird die Titelfigur im Konfirmationsunterricht in die Geheimnisse von Brot und Wein eingeführt: Dort aber musste ich mich gewaltsam aus Schlaf und Traum reißen, um in der düsteren Stube zwischen langen Reihen einer Schar anderer schlaftrunkener Jünglinge das allerfabelhafteste Traumleben zu führen unter dem eintönigen Befehl eines weichlichen Schwarzrockes, mit dem ich sonst auf der Welt nichts zu schaffen hatte. Was unter fernen östlichen Palmen vor Jahrtausenden teils sich begeben, teils von heiligen Träumern geträumt und niedergeschrieben worden war, ein Buch der Sage, zart und luftig und weise wie alle Sage, das wurde hier als das höchste und ernsthafteste Lebenserfordernis, als die erste Bedingung, Bürger zu sein, Wort für Wort durchgesprochen und der Glaube daran auf das genaueste reguliert. Die wunderbarsten Ausgeburten menschlicher Phantasie, bald heiter und reizend, bald finster, brennend und blutig, aber immer durch den Duft einer entlegenen Ferne gleichmäßig umschleiert, mußten als das wirklichste und festeste Fundament unseres ganzen Daseins angesehen werden und wurden uns nun zum letzten Male und ohne allen Spaß bestimmt erklärt und erläutert, zu dem Zwecke, im Sinne jener Phantasien ein wenig Wein und ein wenig Brot am richtigsten genießen zu können [Herv., M.S.]. 14 12 Hell: „Brot und Wein“ (Anm. 10), S. 510. Gerhard Kaiser: „Christentum und säkulare Literatur“. In: Stimmen der Zeit 1/1998, S. 3-16, hier S. 4. 14 Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2. Herausgegeben von Thomas Böning und Gerhard Kaiser. Frankfurt/Main: DKV 1985, S. 368. Vgl. auch Gerhard Kaiser: „Inkarnation und Altarsakrament. Ein nichtchristliches Gedicht über die Messe und was es Christliches sagt. Zu Gottfried Kellers ,Der Narr des 13 13 Das Abendmahlsgeschehen – einzig ein leerer Wahn, ein Trugbild, eine Illusion – fernab jeder Wirklichkeit, mit dem schlechthinnigen Sinn, bürgerliches Sein zu begründen? Gewaltsamkeit und genaueste Regulierung als Wahrheiten über das rituelle Abendmahl? Wie ist das „wirklichste und festeste Fundament unseres ganzen Daseins“ zusammenzubringen mit dem „allerfabelhaftesten Traumleben“? In immer neuen Superlativen erscheint in der Sicht des grünen Heinrich die angestrebte Deckung von Sein und Sinn im Sakrament des Abendmahls von ‚geradezu abenteuerlicher Unplausibilität‘. Neben der fundamentalen Frage nach der Wahrheit der biblischen Geschichten und Botschaften überhaupt fokussiert der ausgewählte Textausschnitt insbesondere auch die Problematik der gelingenden Einführung in das Verstehen des rechten Genusses von „ein wenig Wein und ein wenig Brot“. In einer „gewaltsamen“, „düsteren“, „schlaftrunkenen“, „träumerischen“, „eintönigen“, „weichlichen“ und todernsten Atmosphäre stellt sich – damals wie heute – sicher kein Verständnis für die Geheimnisse von Brot und Wein ein. Der literarische Angriff im Grünen Heinrich auf Widersprüchlichkeiten des christlichen Liebes- und Vereinigungsmahls findet viele moderne Entsprechungen. Wenn wir sie wahrnehmen und uns nicht von ihrer Lektüre abschrecken lassen, so kann es auch geschehen – wie der Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser zurecht schreibt –, dass innerchristlich oder außerchristlich polemische Dichtungen durch Isolieren, Herausleuchten, Verzerren, Konterkarieren von Glaubens- und Verkündigungsgehalten des Christentums ein Stachel im Fleisch der Kirche und Gemeinde werden, dass sie dem, der bereit ist, sich treffen zu lassen, schockartig ein Licht aufstecken, gerade indem sie anderes radikal ausblenden 15. Lassen Sie uns nun gemeinsam auf weitere Entdeckungsreisen zur Erschließung der ontosemiologischen Leistung des Abendmahls gehen! In der Kürze der Zeit ist es mir leider nicht möglich, auf die einzelnen Texte sowie Autorinnen und Autoren inGrafen von Zimmern‘“. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 2/1997, S. 253-262. 15 Kaiser: „Christentum und säkulare Literatur“ (Anm. 13), S. 15. 14 tensiver einzugehen. Es kann sich nur um gleichsam ein AmuseGueule handeln, das zur Geschmacksanregung mit diesem spannenden Thema einladen soll. Kein ‚schockartiges Licht aufstecken‘ möchte Conrad Ferdinand Meyer in seinem Gedicht Alle: 16 Es sprach der Geist: Sieh auf! Es war im Traume. Ich hob den Blick. In lichtem Wolkenraume Sah ich den Herrn das Brot den Zwölfen brechen Und ahnungsvolle Liebesworte sprechen. Weit über ihre Häupter lud die Erde Er ein mit allumarmender Gebärde. Es sprach der Geist: Sieh auf! Ein Linnen schweben Sah ich und vielen schon das Mahl gegeben, Da breiteten sich unter tausend Händen Die Tische, doch verdämmerten die Enden In grauen Nebel, drin auf bleichen Stufen Kummergestalten saßen ungerufen. Es sprach der Geist: Sieh auf! Die Luft umblaute Ein unermesslich Mahl, soweit ich schaute, Da sprangen reich die Brunnen auf des Lebens, Da streckte keine Schale sich vergebens, Da lag das ganze Volk auf vollen Garben, Kein Platz war leer, und keiner durfte darben. Georg Trakl verwendet in insgesamt 13 Gedichten das Motiv ‚Brot und Wein‘. In einem traditionell eucharistischen Zusammenhang steht dieses Motiv im Gedicht Die tote Kirche, das stark vom Einfluss Rimbauds geprägt ist 17: Auf dunklen Bänken sitzen sie gedrängt Und heben die erloschnen Blicke auf Zum Kreuz. Die Lichter schimmern wie verhängt, Und trüb und wie verhängt das Wundenhaupt. 16 Conrad Ferdinand Meyer: Alle. In: ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 2: Gedichte. Huttens letzte Tage. Engelberg. Textrevision von Friedrich Michael. Berlin: Th. Knaur Nachf. Verlag o.J. (ca. 1920) S. 153 f. 17 Georg Trakl: Die tote Kirche. In: ders.: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walter Killy und Hans Szklenar. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 71987, S. 150 f. 15 Der Weihrauch steigt aus güldenem Gefäß Zur Höhe auf, hinsterbender Gesang Verhaucht, und ungewiß und süß verdämmert Wie heimgesucht der Raum. Der Priester schreitet Vor den Altar; doch übt mit müdem Geist er die frommen Bräuche – ein jämmerlicher Spieler, Vor schlechten Betern mit erstarrten Herzen, In seelenlosem Spiel mit Brot und Wein. Die Glocke klingt! Die Lichter flackern trüber – Und bleicher, wie verhängt das Wundenhaupt! Die Orgel rauscht! In toten Herzen schauert Erinnerung auf! Ein blutend Schmerzensantlitz Hüllt sich in Dunkelheit und die Verzweiflung Starrt ihm aus vielen Augen nach ins Leere. Und eine, die wie aller Stimmen klang, Schluchzt auf – indes das Grauen wuchs im Raum, Das Todesgrauen wuchs: Erbarme dich unser – Herr! Nach Cornelius Hell manifestiert sich die zentrale Bedeutung von „Brot und Wein“ bei Trakl am deutlichsten im Gedicht Menschheit 18 , „wo auf Bilder apokalyptischer Bedrohung unvermittelt ein Gegenbild von Ruhe und Frieden folgt“19: Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt, Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen, Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt, Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen: Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld. Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl. Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen Und jene sind versammelt zwölf an Zahl. Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen; Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal. Hier wird direkt auf die biblische Abendmahlsszene rekurriert und es fungiert ‚Brot und Wein‛ als Bild universaler Rettung und Erlösung. Symbol der Rettung und Erfüllung ist ‚Brot und Wein‛ auch in dem bekannten Gedicht ‚Ein Winterabend‘, das die sakrale Sphäre in ein 18 Georg Trakl: Menschheit. In: ebd. S. 25. Hell: „Brot und Wein“ (Anm. 10), S. 513. 16 19 Haus verlagert und den religiösen Terminus Gnade in einem Natur20 bild verankert. In der ersten Fassung wird noch eine unmittelbare Verbindung zu Gott hergestellt 21: Wenn der Schnee ans Fenster fällt, Lang die Abendglocke läutet, Vielen ist der Tisch bereitet Und das Haus ist wohlbestellt. Mancher auf der Wanderschaft Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. Seine Wunde voller Gnaden Pflegt der Liebe sanfte Kraft. O! des Menschen bloße Pein. Der mit Engeln stumm gerungen, Langt von heiligem Schmerz bezwungen Still nach Gottes Brot und Wein. Und in der zweiten Fassung heißt es dann 22: Wenn der Schnee ans Fenster fällt, Lang die Abendglocke läutet, Vielen ist der Tisch bereitet Und das Haus ist wohlbestellt. Mancher auf der Wanderschaft Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. Golden blüht der Baum der Gnaden Aus der Erde kühlem Saft. Wanderer tritt still herein; Schmerz versteinerte die Schwelle. Da erglänzt in reiner Helle Auf dem Tische Brot und Wein. 20 Ebd. Vgl. Gerhard Kaiser: „Georg Trakl: „Ein Winterabend“. In: ders.: Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart“. Freiburg: Herder 1997, S. 132-141. 21 Georg Trakl: Im Winter. Ein Winterabend. 1. Fassung. In: ders.: Das dichterische Werk (Anm. 17), S. 210. 22 Georg Trakl: Im Winter. Ein Winterabend. 1. Fassung. In: ders.: Das dichterische Werk (Anm. 17), S. 210. 17 Etwa zeitgleich zu den Gedichten Trakls sind die beiden Gedichte Das Abendmahl und Abendmahl von Rainer Maria Rilke entstanden. Das Abendmahl23 beschließt den ersten Teil des Buchs der Bilder und Abendmahl 24 findet sich in der Sammlung der Neuen Gedichte. Das Abendmahl Sie sind versammelt, staunende Verstörte, um ihn, der wie ein Weiser sich beschließt und der sich fortnimmt denen er gehörte und der an ihnen fremd vorüberfließt. Die alte Einsamkeit kommt über ihn, die ihn erzog zu seinem tiefen Handeln; nun wird er wieder durch den Ölwald wandeln, und die ihn lieben werden vor ihm fliehn. Er hat sie zu dem letzten Tisch entboten und (wie ein Schuß die Vögel aus den Schoten scheucht) scheucht er ihre Hände aus den Broten mit seinem Wort: sie fliegen zu ihm her; sie flattern bange durch die Tafelrunde und suchen einen Ausgang. Aber er ist überall wie eine Dämmerstunde. Abendmahl Ewiges will zu uns. Wer hat die Wahl und trennt die großen und geringen Kräfte? Erkennst du durch das Dämmern der Geschäfte im klaren Hinterraum das Abendmahl: wie sie sichs halten und wie sie sichs reichen und in der Handlung schlicht und schwer beruhn. Aus ihren Händen heben sich die Zeichen; sie wissen nicht, daß sie sie tun 23 Rainer Maria Rilke: Das Abendmahl. In: ders.: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth SieberRilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 1: Gedichte. Erster Teil Erste Hälfte. Frankfurt/ Main: Insel 1955, S. 388. 24 Rainer Maria Rilke: Abendmahl. In: ebd. Bd. 2: Gedichte. Erster Teil. Zweite Hälfte. S. 591 f. 18 und immer neu mit irgendwelchen Worten einsetzen, was man trinkt und was man teilt. Denn da ist keiner, der nicht allerorten heimlich von hinnen geht, indem er weilt. Und sitzt nicht immer einer unter ihnen, der seine Eltern, die ihm ängstlich dienen, wegschenkt an ihre abgetane Zeit? (Sie zu verkaufen, ist ihm schon zu weit.) Unverkennbar ist der Bezug auf den Symbolcharakter des Abendmahls auch in dem konkrete Bezüge auf die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes enthaltenden Gedicht Tenebrae von Paul Celan.25 Es lassen sich darin auch Intertextualitäten aufzeigen vor dem Hintergrund der Psalmen, der „Patmos-Hymne“ Hölderlins („Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott./Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.“) und der Todesstunde Jesu im Neuen Testament bzw. in der katholischen Karfreitagsliturgie. In Celans Gedicht wird die traditionelle Symbolik des Abendmahls aufgehoben: Es geht um den realen Vollzug des Todes, in dem der eigene Leib dahingegeben und das eigene Blut vergossen wird. Das Trinken seines Blutes schafft daher nicht Teilhabe am Leben, sondern Teilhabe an seinem Tod.26 Tenebrae Nah sind wir, Herr, nahe und greifbar. Gegriffen schon, Herr, ineinander verkrallt, als wär 25 Paul Celan: Tenebrae. In: ders.: Sprachgitter. Frankfurt/ Main: Fischer Verlag 1959, S. 23 f. 26 Vgl. Hans-Georg Gadamer: „Sinn und Sinnverhüllung, dargestellt an Paul Celans Gedicht ‚Tenebrae‘“. In: Zeitwende 1975, S. 321-329; Götz Wienold: „Paul Celans Hölderlin-Widerruf“. In: Poetica 2/2968, S. 216228; Ursula Baltz-Otto: „Eucharistie im Gedicht. Religiöse Sprache in zwei Gedichten von Paul Celan und Gottfried Benn“. In: dies.: Poesie wie Brot. Religion und Literatur: Gegenseitige Herausforderung. München: Kaiser 1989, S. 85-111 sowie Peter Biehl: Symbole geben zu lernen II. NeukirchenVluyn 1993, S. 85 f. 19 der Leib eines jeden von uns dein Leib, Herr. Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah. Windschief gingen wir hin, gingen wir hin, uns zu bücken nach Mulde und Maar. Zur Tränke gingen wir, Herr. Es war Blut, es war, was du vergossen, Herr. Es glänzte. Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr. Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr. Wir haben getrunken, Herr. Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr. Bete, Herr Wir sind nah. Das Brot-und-Wein-Motiv lässt sich in der Literatur noch zahlreich und vielfältig entdecken. Gerne würde ich nun die entsprechenden Textstellen beispielsweise in der lesenswerten Erzählung Fettklößchen von Guy de Maupassant aus dem Jahre 1880, in der von einem ‚Abendmahl‘ in der Postkutsche, gestiftet von einer Prostituierten, berichtet wird, oder in dem grandiosen Roman Wein und Brot von Ignacio Silone aus dem Jahre 1936 untersuchen, in dem nach Heinrich Böll „der kirchlich etablierten Sakramentalität eine andere, irdische, menschliche Sakramentalität entgegengesetzt wird“. Stichwort Böll: „In zahlreichen Varianten durchzieht sakramentale, zumal eucharistische Symbolik das Werk Heinrich Bölls“ 27: von der Erzählung Das Brot der frühen Jahre über das Hörspiel Klopfzeichen bis zum Roman Gruppenbild mit Dame. Gerne würde ich unserem Leitmotiv beispielsweise in Gedichten von Gottfried Benn, Primo Levi, Rudolf 27 Hell: „Brot und Wein“ (Anm. 10), S. 518. 20 Alexander Schröder, Rose Ausländer, Christine Lavant, Ingeborg Bachmann, Christine Busta, Kurt Marti, Edwin Wolfram Dahl, Ulla Hahn, Hilde Domin und anderen nachspüren. Es lohnte sich Hesses Demian, Thomas Manns Zauberberg, Günter Grass Blechtrommel, Katz und Maus sowie Der Butt auf den Abendmahlsbezug hin zu analysieren. Nochmals Cornelius Hell: Mit welch beiläufiger Selbstverständlichkeit ‚Brot und Wein‛ im kulturellen Gedächtnis präsent ist, zeigt auch die erste Szene von Max Frischs Stück Biedermann und die Brandstifter, wo das einem Arbeitslosen angebotene Brot den Geiz des Herrn Biedermann hervorruft und ‚Brot und Wein‛ die bemühte, konventionelle Höflichkeit konterkariert. ‚Brot und Wein ... Aber nur, wenn ich nicht störe, Herr Biedermann, nur wenn ich nicht störe,‛ antwortet Schmitz ironisch. 28 Aus der Fülle der Literaturbelege zitiere ich nur kurz drei weitere Beispiele: Peter Handkes Texte von Langsame Heimkehr über Die Lehre der Sainte-Victoire bis zu Mein Jahr in der Niemandsbucht enthalten zahlreiche Elemente unseres Leitmotivs. So beispielsweise die Geschichte des Priesters in Mein Jahr in der Niemandsbucht: In einer Herbstnacht des laufenden Jahres jetzt hatte sich ihm, der nachhaltig sonst nur träumte in den Rauhnächten zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest, ein Traum eingeprägt, worin er kein Priester gewesen war, sondern ein Niemand, eine Kreatur, nackt er selbst. Er stand da in einem grellen künstlichen Licht allein vor dem Altar seiner Pfarrkirche, und unversehens kam aus der Sakristei ein jüngst, nach einem elendigen, mehrtagelangen Todeskampf verstorbener Dörfler gestürzt, in Überlebensgröße, und befahl ihn auf die Knie, zum Empfang der Kommunionshostie. Es gehörte zu dem Traum, dass er seit seiner Kindheit nicht mehr gekniet, geschweige denn den ‘Leib des Herrn‘ zu sich genommen hatte, und schon darum wurde ihm der Augenblick zu einem besonderen. Darüber hinaus war die Stimme des Verreckten und, im Priestergewand, zum Spender des Sakraments Gewordenen, auf eine Weise gebieterisch, wie er das bisher noch von keinem Erdenwesen gehört hatte. Was sie im Traum zu ihm sagte, setzte sie zugleich fest, für alle Zeit: Um diese Speise führte kein Weg herum; sie zu sich zu nehmen, war die Notwendigkeit; ohne sie bist du im Unheil! Und obwohl ihn bei jener Stimme zum 28 Ebd., S. 526. 21 ersten Mal seit überlangem der Schauder durchfahren hatte, war das nicht bloß ein Schreckenstraum; er wachte davon nicht auf, sondern schlief weiter, anfangs unter Zittern und Beben, dann friedlich, und schließlich selig.29 Keinesfalls einen seligen Traum, sondern ein fragwürdiges „Rätsel zum Wegwerfen“ evoziert die Bezugnahme auf das Abendmahlsgeschehen in Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel: Obwohl doch gerade erst einer erschienen war, der sich als Gottes Sohn bezeichnet hatte, als Gottes Sohn, der Fleisch geworden sei, um die Welt von ihren Sünden zu erlösen. War das vielleicht ein Dreigroschengeheimnis? Und er versprach das Heil allen, man brauchte bloß seinen Nächsten zu lieben. War das ein Geheimnis für Habenichtse? Und er hinterließ als Vermächtnis, dass jeder, der zur rechten Zeit die richtigen Worte sprach, ein Stückchen Brot und einen Krug Wein in das Fleisch und das Blut des Gottessohnes verwandeln und sich daran nähren konnte. War das ein Rätsel zum Wegwerfen? 30 Ein Rätsel zum Wegwerfen? Dem würde beispielsweise Christian Weber mit seinem Gedicht Abendmahl widersprechen: Er wußte, daß der Weg weit sein wird und wir eine Mahlzeit brauchen, um zusammenzubleiben und uns zu stärken und uns zu erinnern. Er wußte, daß unsere Träume immer wieder zurückkehren müssen auf den Tisch der Realitäten Brot und Wein, um erneut mit uns auszuschwärmen ins gelobte Land Erde. 31 Zum Abschluss sei eine Szene aus dem preisgekrönten Film Babettes Fest von Gabriel Axel (1988) nach der Erzählung von 29 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 613 f. 30 Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. München: Hanser 1989, S. 729. 31 Christian Weber: Unsere Zeit in Gottes Händen. Auf der Suche nach einer bewohnbaren Zukunft. Stuttgart: Quell 1988, o.S. 22 2 Tania Blixen vorgestellt. Auch sie spiegelt das besondere Verständnis beziehungsweise Nichtverständnis für die eucharistische Dimension von Brot und Wein wider. Hier sind die ‚Schwestern und Brüder‘ einer ‚pietistischen Partei oder Sekte‘ in einem kleinen Fischerdorf an einem norwegischen Fjord, die sich zum Gedenken an den 100. Geburtstag ihres Gründers im Hause seiner beiden Töchter Martine und Philippa versammelt haben und von deren französischem Dienstmädchen Babette auf das Vorzüglichste bewirtet werden, verstockt und in sich gekrümmt. Babette war 1871 aus den Wirren des Pariser Bürgerkrieges an die Küste Jütlands in die Obhut der beiden Schwestern geflohen. Nach einem Lotteriegewinn von zehntausend Francs bittet die ehemalige Köchin im berühmten ‚Cafe Anglais‘ die beiden Schwestern, für die sie zwölf Jahre lang nur kärglichen Stockfisch und Brotsuppe zubereiten durfte, einmal ein echtes französisches Diner ausrichten zu können. Martine und Philippa erfüllen ihren Herzenswunsch, haben aber schon bald angesichts der unbekannten Speisen und Getränke, die Babette für das Fest organisiert, das Gefühl, ihr Haus für einen Hexensabbat zur Verfügung zu stellen. Voller Angst und Mißtrauen legen die zehn Gemeindemitglieder das Gelübde ab, unter keinen Umständen über Speis und Trank ein Wort verlauten lassen zu wollen: Am Tag unseres Meisters wollen wir unsere Zungen reinmachen von allem Geschmack und sie reinigen von aller Lust und allem Ekel der Sinne, um sie zu bewahren und zu behüten für das höhere Geschäft des Lob- und Dankgesanges.32 Zur Überraschung aller vervollkommnen die uralte Frau Löwenhjelm und ihr Neffe, General Löwenhjelm, die Tafelrunde zur Zwölfergemeinschaft. Einzig der General kann die Künste Babettes würdigen. Er erinnert sich angesichts der kulinarischen Meisterleistungen, von denen freilich seine Tischnachbarn nichts wissen konnten beziehungsweise wollten, an die berühmte Köchin im Cafe Anglais, von der ein Kollege ihm erzählte: Diese Frau verwandelt ein Diner [...] in eine Art Liebesaffäre – eine Liebesaffäre von der edlen romantischen Sorte, wo man nicht mehr unterscheidet, was körperliche und was geistige Begierde und Sätti32 Tanja Blixen: Babettes Fest. Zürich: Manesse 51990, S. 44. 23 gung ist. Sie können mir glauben, ich habe schon um manche schöne Frau ein Duell gehabt. Aber es gibt in ganz Paris keine Frau [...], für die ich lieber mein Blut vergießen würde.33 Lassen Sie uns nun zum Abschluss gemeinsam betrachten, wie diese „Liebesaffäre“ eindrucksvoll zum „Abendmahl“ wird und welche wundersame Wirkung von diesem „unvergeßlichen Beispiel menschlicher Treue und Selbstaufopferung“ – so bezeichnet Philippa im Nachhinein Babettes Einsatz allen Geldes für das Festmahl – ausgeht. Auch hier erschließt sich der Sinn des Mahles im Vollzug. Indem das Mahl gefeiert wird, entfaltet sich seine Wirklichkeit erschließende und verändernde Kraft! „Schmecket und sehet“ das Versöhnungsmahl, das Liebesmahl, das Erinnerungsmahl, das Opfermahl! Zu Recht bemerkt allerdings Franz Günther Weyrich: Eine selbstverständliche Bemerkung zum Schluss: Natürlich, das nun folgende Festmahl ist kein Gottesdienst, ist nicht Eucharistie, ist nicht ‚das letzte Abendmahl‛. Und dies soll auch nicht durch die Verwendung der einschlägigen theologischen Begriffe suggeriert werden. In der Inszenierung dieses Essens im Film und in der narrativen Einbindung in die Geschichte kommt aber […] vieles in den Blick, was im christlichen Glauben und in der theologischen Reflexion über das Wesen des Abendmahls gesagt und gedacht werden kann – nicht im Sinne eines ,Abbildes‘, wohl aber in einer spannungsreichen aber vielleicht auch fruchtbaren Differenz. 34 33 Ebd., S. 62f. Vgl. u .a. Barbara Heller: „Wunderbare Wandlung. Babettes Fest oder: Schmecket und sehet“. In: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt 2/2000, S. 21 f. und Josef Lederle: „Augenschmaus. Drei Filme ,vom Essen, Trinken und Leben‘“. In: zur debatte 3/2002, S. 17. 34 Franz Günther Weyrich: „Tut dies zu meinem Gedächtnis ... Eucharistie im Spielfilm“. In: Religionsunterricht heute 2/2005, S. 26-29, hier S. 29. 24 Silke Kubik Religion für Aufgeklärte – Lessings Vorstellung einer humanen Religion Saladin: [...] Da du nun / So weise bist: so sage mir doch einmal – / Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet? Nathan: Sultan, / Ich bin ein Jud’. Saladin: Und ich ein Muselmann. / Der Christ ist zwischen uns. – Von diesen drei / Religionen kann doch eine nur / Die wahre sein. 1 Mit dieser Frage Saladins nähert sich Lessings Drama Nathan der Weise seinem inhaltlichen Höhepunkt: der Ringparabel. Saladins Frage zielt auf das, was man als Absolutheitsanspruch von Religion bezeichnet. Alle drei monotheistischen Weltreligionen – Islam, Judentum und Christentum – beanspruchen für sich, den einen und einzigen Weg zum Heil zu repräsentieren: Für das Judentum ist das Volk Israel Gottes auserwähltes Volk – wer nicht Teil dieses Volkes ist, kann auch nicht teilhaben an Gottes Heilsgeschichte, welche explizit eine Beziehungsgeschichte mit diesem Volk ist. Das Christentum sieht allein in Jesus Christus den Zugang zum Heil – allein der Glaube an Jesus Christus als Mittler zwischen Gott und den Menschen ermöglicht dem Christen die Erlösung. Der Islam erkennt zwar Judentum, Christentum und ihre Schriften als Vorläuferreligionen an, sieht aber den Koran als abschließende Offenbarung Gottes an die Menschen an und als endgültige und letztverbindliche Äußerung Gottes. Alle drei Weltreligionen beanspruchen somit für sich, dass sie ein Alleinstellungsmerkmal besitzen, das den Menschen retten und erlösen kann. Für die Anhänger der einzelnen Religionen entscheidet sich etwas daran, welcher Religion man angehört, denn davon hängt das Seelenheil ab. 1 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: ders.: Werke, Bd. 2, herausgegeben von Herbert G. Göpfert. München: Carl Hanser 1971, S. 205-347, hier S. 273f. 25 Saladins Frage nach der „wahre[n]“ Religion beinhaltet nicht nur ein theologisches Problem, sondern zugleich ein erkenntnistheoretisches und ethisch-praktisches. In erkenntnistheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, welche denn nun die „wahre“ Religion sei (wenn alle drei dies für sich beanspruchen, es aber nur eine sein kann), und in ethisch-praktischer Perspektive stellt sich die Frage, wie Angehörige verschiedener Religionen miteinander umgehen können. Lessing hat versucht, in seinem Drama auf diese Fragen eine Antwort zu finden und dabei einen sehr wirkmächtigen poetischen Toleranztext geschrieben, der nicht nur in unserem kulturellen Gedächtnis fest verankert ist, sondern der auch im Anschluss an die Ereignisse des 11. Septembers 2001 wieder Referenzpunkt aktueller Auseinandersetzungen mit dem Thema Toleranz wurde. Es lohnt sich, sich mit diesem Drama auseinanderzusetzen. Auch weil wir uns manchmal der Grundlagen unseres europäischen Toleranzverständnisses nicht bewusst sind. Soll Toleranz nicht zu einer leeren Formel verkommen, müssen wir zu Bewohnern unserer eigenen Geistesgeschichte werden. So versucht dieser Vortrag systematische und historische Perspektiven miteinander zu verbinden. Systematisch fragt dieser Vortrag danach, welche Antworten Lessings Text auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Toleranz und Religion gibt und welches Verständnis von Toleranz und Religion er dabei entwirft. Historisch versucht dieser Vortrag, die Aussagen von Lessings Drama im Kontext seiner Entstehungszeit zu rekonstruieren, und bettet dabei Lessings Ideen in den Kontext der europäischen Aufklärung und der damit verbundenen neuen Sichtweise auf Religion ein. 1 Deutung der Ringparabel in Lessings Drama Nathan der Weise Lessing hat mit Bedacht den Schauplatz seines Dramas in das Jerusalem des 12. Jahrhunderts – das Zeitalter der Kreuzzüge – verlegt. Hier treffen Vertreter aller drei monotheistischen Weltreligionen aufeinander. Höhepunkt der Auseinandersetzung ist das Gespräch zwischen Nathan und dem muslimischen Herrscher 26 Saladin, in dem Saladin Nathan bittet, ihm die „wahre“ Religion zu nennen. Nathan weiß, dass er in der Falle sitzt: Denn wie er sich auch äußert, wird er zwei der drei Weltreligionen abwerten und ihre Anhänger vor den Kopf stoßen müssen. Wenn er sich aber nicht positioniert, dann wirkt er unglaubwürdig, als würde ihm die eigene Religion nichts gelten. Nathan wählt als Lösung die Erzählung einer Geschichte, die der Auslegung bedarf, und überlässt es somit Saladin selbst, die Antwort auf die Frage zu entdecken. Bei der Geschichte handelt es sich um die Ringparabel. 1.1 Der Urstoff der Ringparabel Lessing verarbeitet in seinem Drama einen Stoff, der sich schon in Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone findet und der in einer langen – bis ins 11. Jahrhundert zurückgehenden – europäischen Überlieferungstradition steht. 2 Der Kern dieses Stoffes sei hier kurz erzählt: In einer Familie gibt es einen kostbaren Ring, der von Generation zu Generation an den vom Vater am meisten geliebten Sohn vererbt wird und mit dem die Berechtigung, das väterliche Erbe anzutreten, verbunden ist. Nun kommt der Ring an einen Vater mit drei Söhnen, die er alle gleich liebt. Der Vater möchte keinen von ihnen benachteiligen. Er löst das Problem, indem er zwei Duplikate anfertigen lässt und auf seinem Sterbebett jedem seiner Söhne einen Ring übergibt. Die Ringe sehen einander nun aber so ähnlich, dass nicht mehr entscheidbar ist, welcher der drei Ringe das ursprüngliche kostbare Original ist. 3 Es ist schnell erkennbar, dass die drei Ringe für die drei monotheistischen Weltreligionen stehen und die Unentscheidbarkeit der Frage, welcher Sohn nun den richtigen Ring besitze, die Offenheit in Dingen des religiösen Absolutheitsanspruchs symbolisiert. Die Geschichte im Dekameron endet folgerichtig mit dem Hinweis, „jedes der Völker glaubt seine Erbschaft, sein wahres Gesetz und seine Gebote zu haben, damit es sie befolge. 2 Vgl. Monika Fick: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2010, S. 490. 3 Vgl. Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Düsseldorf, Zürich: Artemis und Winkler 1999, S. 53. 27 Wer es aber wirklich hat, darüber ist, wie über die Ringe, die Frage noch unentschieden.“4 Aus diesen Worten spricht ein klarer Erkenntnisskeptizismus: Es ist nicht erkennbar, welche der drei Religionen zu Recht den Anspruch auf den einen richtigen Weg zum Heil verkörpert. Aus der Perspektive der beschenkten Söhne – und diese stehen hier für die menschliche Perspektive – kann nicht mehr erkannt werden, welcher der drei Ringe der echte war: Wir Menschen sind nicht in der Lage zu entscheiden, welche Religion die Wahrheit verkörpert. Deshalb müssen und sollen wir uns in Religionsdingen einer bewertenden Antwort enthalten: „die Frage ist noch unentschieden [Herv., S.K.]“ – daraus spricht kein Werterelativismus im Sinne einer Annahme, es gäbe keine letztgültige, eindeutige Antwort auf die Wahrheitsfrage, sondern die Erkenntnis, dass es intellektuell redlich ist, sich einer Antwort auf diese Frage zu enthalten und zwar aus einem ganz einfachen Grund: aufgrund unserer beschränkten menschlichen Perspektive, die es uns eben nicht ermöglicht, die Wahrheit in ihrer Vollkommenheit zu erkennen. Darauf deutet auch das kleine Wörtchen „noch“ hin: „Die Frage ist noch [Herv., S.K.] unentschieden“. Dieses kleine Wörtchen „noch“ verweist auf eine zeitliche Perspektive – noch ist sie unentschieden, d.h. sie könnte einmal zu einem späteren Zeitpunkt entschieden sein. Man könnte diese Formulierung als Ausdruck einer eschatologischen Erwartung verstehen: In dieser Zeit wissen wir es nicht, aber es kommt eine Zeit, in der wir der letzten Dinge – und dazu würde dann eben auch die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der verschiedenen Religionen gehören – offenbar werden. So deutet diese Formulierung auf nichts anderes hin als auf die begrenzten menschlichen Möglichkeiten in dieser Zeit, die Wahrheit zu erkennen. Bei Gott ist diese Frage entschieden, ein Wissen, das uns als Menschen grundsätzlich nicht zugänglich ist. Genau dieses gedankliche Moment der Geschichte scheint Lessing gereizt zu haben. Es trifft sich mit seinen eigenen 4 Boccaccio: Dekameron (Anm. 3), S. 54. 28 Überlegungen zum Thema Wahrheit. Er formuliert es in dem berühmt gewordenen Absatz der Duplik (einer Schrift, die im Zusammenhang mit dem Fragmentenstreit entstand) so: Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu seyn vermeynt, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater gieb! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein! 5 Hier findet sich ähnlich wie im Stoff der Ringparabel der Hinweis auf die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens, verbunden mit der Annahme, dass es grundsätzlich eine Wahrheit gibt, die aber nur Gott zugänglich ist: „Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ Zugleich deutet sich hier schon ein Moment an, das ganz wichtig für Lessings eigene Auseinandersetzung mit dem Thema ist, nämlich die Wendung des erkenntniskritischen Ansatzes ins Ethische: „die aufrichtige Mühe“, die der Mensch aufwendet um hinter die Wahrheit zu kommen, „macht den Werth des Menschen aus.“ Denn während der Besitz „ruhig, träge, stolz“ macht, scheint das Streben nach Wahrheit den Menschen dazu anzustacheln, die besten Kräfte in sich zu entwickeln. Vielleicht kann man sich das so vorstellen: Bei seinem Streben nach Wahrheit lernt der Mensch zu arbeiten, er lernt Geduld und Beharrungsvermögen, er lernt sich selbst zu überwinden und seine unmittelbaren Bedürfnisse zurückzustellen im Hinblick auf ein größeres Ziel, er entwickelt seine Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talente – letztlich kultiviert er sich selbst. 5 Gotthold Ephraim Lessing: Eine Duplik. In: ders.: Werke, Bd. 8, herausgegeben von Herbert G. Göpfert. München: Carl Hanser 1979, S. 31101, hier S. 32f. 29 Die Wendung eines erkenntnistheoretischen Problems ins Ethische findet sich auch in Lessings Verarbeitung des Stoffs der Ringparabel im Drama Nathan der Weise. 1.2 Lessings Veränderungen des Urstoffes Lessing behält die Grundidee der Geschichte – ein Mann, drei Söhne, ein Ring und zwei Kopien dieses Rings – bei, über weite Strecken ähnelt die Erzählung sehr der Version bei Boccaccio. So heißt es bei Lessing ganz ähnlich wie bei Boccaccio: „Kann selbst der Vater seinen Musterring/ Nicht unterscheiden [...] der rechte Ring war nicht/ Erweislich [...].“ 6 Lessing bleibt also der Grundaussage des Urstoffes, nämlich der Aufforderung sich hinsichtlich der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten in diesen Dingen zu bescheiden, treu. Zusätzlich erweitert und modifiziert er den Urstoff an zwei Stellen entscheidend, nämlich bei der Beschreibung des Ringes und am Ende der Parabel (hier fügt er noch eine Erzählsequenz hinzu), und geht damit deutlich über die Gestaltung des Stoffes bei Boccaccio hinaus und erweitert die Aussage wesentlich. Kommen wir zum ersten: 1.3 Die Beschreibung des Rings Lessing weitet die Bedeutung des Ringes in seiner Geschichte deutlich aus. Während es in Boccaccios Version über den Ring heißt: „ein […] wunderschöne[r] und kostbare[r] Ring“, dem die Funktion, die Erbfolge zu regeln, zukommt, nämlich „daß derjenige unter [seinen] Söhnen, der den Ring, als ihm vom Vater übergeben, vorzeigen könnte, für seinen Erben gelten“ 7 kann, findet sich bei Lessing folgende Beschreibung: Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielt, / Und hatte die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug.8 Hier hat der Ring nicht die Funktion, die Erbfolge zu regeln. Sein Wert ist nicht funktional bestimmt, sondern er ist an sich wertvoll. 6 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 277. Boccaccio: Dekameron (Anm. 3), S. 54. 8 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 276. 30 7 Diese Aufwertung des Ringes spiegelt sich in dem schönen Bild des Opals, „der hundert schöne Farben spielt“, wider, aber seine eigentliche Besonderheit und seine Kostbarkeit liegt in der geheimen Kraft, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“, begründet. Diese Idee, dem Ring selbst eine besondere Eigenschaft inne wohnen zu lassen, bildet die Grundlage für eine entscheidende gedankliche Wende, die Lessing am Ende seiner Ringparabel vollzieht und mit der er dem uralten Stoff von den drei Ringen sein eigenes gedankliches Gepräge verleiht. 1.4 Das neue Ende: Richter und sein Rat Lessing fügt der Erzählung von den drei Ringen noch eine weitere Episode zu. Während das Original ein offenes Ende hat – sowohl auf der Bild- wie auf der Auslegungsebene –, führt Lessing das Problem und die Geschichte in seiner Variante zu einem Abschluss: Die drei Brüder ziehen nach dem Tod des Vaters vor Gericht, um den Ringstreit klären zu lassen. Nachdem der Richter sich nun zunächst weigert, den Brüdern eine Antwort zu geben, weil er sich nicht in der Lage sieht, die Frage sachlich einer Lösung zuführen zu können, kommt ihm die Idee, das Problem mit Hilfe des Ringes selbst zu klären. Und an dieser Stelle spielt nun die geheime Wunderkraft des Ringes eine wichtige Rolle. Der Richter bemerkt nun: „Ich höre ja, der rechte Ring / Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; / Vor Gott und Menschen angenehm. Das muss / Entscheiden!“9 Die Idee ist so simpel wie schlagend – da der Ring rein äußerlich nicht von seinen zwei Duplikaten zu unterscheiden ist, kann er nur an seiner Wirkung erkannt werden. Nun wäre es ja Lessings Grundidee nicht zuträglich, würde sich nun einer der Brüder als der beliebteste herausstellen und somit die Frage nach der rechten Religion beantworten. Entsprechend nimmt die Erzählung der Ringparabel an dieser Stelle noch einmal eine erstaunliche Wende, bevor sie dann zu der für Lessing entscheidenden intellektuellen Pointe gelangt: Die drei Brüder wissen nämlich nichts auf die Frage des Richters zu 9 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 279. 31 antworten, so dass der Richter für einen Moment den Gedanken ins Spiel bringt, der richtige Ring könne eventuell sogar ganz verloren sein. Dann aber formuliert er den für Lessings Ringparabel entscheidenden Gedanken: Mein Rat ist aber der: ihr nehmt / Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von / Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: / So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten. – Möglich; dass der Vater nun / Die Tyrannei des Einen Rings nicht länger / In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiss; / Dass er euch alle drei geliebt, und gleich / Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, / Um einen zu begünstigen. – Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochenen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen! 10 Ich finde diese Textstelle besonders beeindruckend, weil es Lessing hier gelingt, das Problem der konkurrierenden Wahrheitsansprüche in geradezu genialer Weise zu transformieren. Die zentrale Wende des Problems gelingt dem Richter durch die Idee, aus der Wirkung des Steins ein Streben um eben diese Wirkung zu machen. Es heißt dort: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen.“ Das bedeutet nichts anderes als, anstatt sich auf die Wirkung des Steines zu verlassen, diese selbst durch das eigene Handeln hervorzubringen. Aus einer Eigenschaft, in dessen Genuss der Träger des Ringes qua Besitz gelangt, wird nun eine Eigenschaft, die das Resultat des eigenen Handelns und Strebens ist. So wird aus dem Sein ein Sollen. Die ursprünglich als Eigenschaft des Steines beschriebene besondere Kraft „beliebt zu machen“ wird zur Richtschnur für gutes Handeln. Und es entsteht ein Imperativ guten Handelns: Handle so, als hättest du den Ring – und du wirst dir seine Eigenschaften erwerben. Damit aber verlegt Lessing den religiösen Eifer vom Gebiet der Erkenntnistheorie auf das Gebiet der Ethik. 11 Im Grunde ist dies ein Angebot an alle religiösen Fanatiker, die Energie, die sie darauf verwenden, die Richtigkeit ihrer Religion – auch mit Mitteln der Gewalt – zu erweisen, in ein anderes Feld, nämlich in das des richtigen Handelns, zu in10 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 280. Vgl. auch Helmut Fuhrmann: „Lessings Nathan der Weise und das Wahrheitsproblem“. In: Lessing Yearbook 15 (1983), S. 63-94, hier S. 69. 32 11 vestieren und dadurch die Überlegenheit ihrer Religion zu bezeugen – dies wäre allerdings eine Überlegenheit, die grundsätzlich human sein muss, weil die Frage nach dem richtigen Handeln die Frage nach dem Ergehen der anderen Mitmenschen mit einschließt. Verstärkt wird diese Tendenz der Humanisierung des religiösen Eifers in Lessings Text durch die inhaltliche Konkretisierung dessen, was Lessing unter gutem Handeln verstanden wissen will. Er lässt den Richter sagen: „Es eifere jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach!“ 12 Mit „seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe“ ist in der Geschichte die Liebe des Vaters gemeint, damit wird das Handeln des Vaters, der keinen seiner Söhne abwerten wollte und alle drei Söhne in ihrer Unterschiedlichkeit gleich geliebt hat, zum Urbild einer toleranten Haltung, die Differenzen zulässt und aktiv bejaht. Die Aufforderung des Richters, sich an dieser Haltung des Vaters zu orientieren, lenkt den Blick weg von den Folgen meines Handelns hin zu der Intention meines Tuns. Es geht also nicht um einen äußerlichen Eifer, der möglichst viele gute Taten schafft, sondern um eine neue Haltung meinen Mitmenschen gegenüber. Man könnte das so beschreiben: Ging es zunächst um einen Ring, der in den Augen der Mitwelt beliebt machte – also um die Liebe, die der Träger des Ringes erfährt –, so geht es jetzt um die Liebe, die der Träger des Ringes seiner Mitwelt entgegenbringt. Damit aber geht es nicht mehr darum, wie mich die anderen sehen, sondern wie ich die anderen sehe. Beliebtheit erscheint dann vielmehr als ein Reflex auf die eigene liebevolle Haltung gegenüber seinen Mitmenschen und Toleranz wird zum höchsten Wert menschlichen Handelns. Lessing erweitert in seiner Version der Ringparabel den Toleranzgedanken. Während in der Ursprungsvariante Toleranz nur eine Form der Duldung impliziert, d.h. ein Hinnehmen von Unterschieden, ist sie bei Lessing mit einer Form der aktiven Hinwendung zum Mitmenschen verbunden. Er verbindet seine Einsicht in die Begrenztheit menschlichen Erkennens mit der Aufforderung zur Liebe – einer „von Vorurteilen freien“, d.h. 12 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 280. 33 toleranten Liebe. Diese Form von Toleranz, wie sie Lessing hier entwickelt, setzt allerdings ein neues Verständnis von Religion voraus, wie es sich in der Epoche der Aufklärung neu entwickelte. 2 Darstellung des ideengeschichtlichen Kontextes des Dramas 2.1 Das Verständnis von Religion in der Epoche der Aufklärung In der Epoche der Aufklärung entwickelten sich für die damalige Zeit revolutionär neue Ansichten über Religion. 13 War bis dato die Vernunft in den Dienst der Religion gestellt worden, beanspruchte sie nun Autonomie in Religionsdingen. Die Vernunft hatte bisher im Dienst der Religion gestanden, insofern sie die Inhalte der christlichen Offenbarung in ein systematisches begriffliches Verständnis zu überführen half, wie dies in der theologischen Dogmatik der Fall ist. Sie hatte aber keinerlei legitimatorische Funktion gehabt, d.h. sie begründete oder hinterfragte religiöse Wahrheit nicht. Dieser Status änderte sich mit dem Einsetzen der Aufklärung: Der Vernunft wurde von den Aufklärern die Funktion einer Legitimationsinstanz zugeschrieben, und zwar auf allen relevanten Gebieten des praktischen und theoretischen Lebens – sei es in Bezug auf die Reichweite unserer Erkenntnisse, die Ordnung unserer Gesellschaft, die Begründung unserer Moral, oder eben auch auf dem Gebiet der Religion. Die philosophische Strömung der Deisten, die besonders stark in England beheimatet war, postulierte die Autonomie der Vernunft in Religionsdingen: Sie forderte Gedankenfreiheit auf dem Gebiet der Religion, sie forderte, die Annahmen der tradierten christlichen Religion durch die Vernunft zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Entsprechend dieser Überzeugung konstruierten die Deisten ein neues religiöses System, das mit den Erkenntnissen der Vernunft kompatibel war. Dieses System enthielt nur noch vernünftige Elemente. Supranaturale Elemente des Christentums, wie 13 Es handelt sich bei den folgenden Ausführungen um eine stark komprimierte Darstellung des geistesgeschichtlichen und werkgeschichtlichen Kontextes, in den das Drama Nathan der Weise einzuordnen ist. Vgl. dazu ausführlicher Fick: Lessing Handbuch (Anm. 2), S. 408-420; Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2008, S. 701-744. 34 Wundererzählungen, die Annahme der Verbalinspiration, wurden abgelehnt oder durch rationalistische Erklärungen ersetzt. Die Deisten nannten diese durch die Vernunft bereinigte Religion natürliche Religion. Damit wollten sie zum Ausdruck bringen, dass es sich hierbei um eine Religion handelte, die dem Menschen qua seiner vernünftigen Natur zugänglich war, d.h. dass er aus eigener Kraft (nämlich Kraft dessen, was er selbst denken konnte) zur Erkenntnis religiöser Wahrheiten gelangen konnte. Er brauchte keine Offenbarung oder Vermittlung durch eine Institution. In ihrer Konsequenz führte deshalb die Überprüfung der Religion durch die Deisten zu zwei wesentlichen Kritikpunkten: Plötzlich wurde denkbar, dass die Bibel auch nur ein Text unter anderen Texten sein könnte und man sie – genauso wie andere Texte auch – einer kritischen Lektüre unterziehen durfte. In diesem Zusammenhang entstand die Grundlage der heutigen historisch-kritischen Methode im Umgang mit Bibeltexten, d.h. der biblische Text wurde einer kritischen, philologischhistorischen Untersuchung unterzogen. Das Ergebnis dieser Untersuchung war, dass die Bibel ein zusammenkompilierter Text aus höchst unterschiedlichen Textteilen unterschiedlichster Herkunft ist. Die Bibel war plötzlich kein von Gott direkt gesendeter, heiliger Text mehr, sondern ein Produkt säkularer, von Menschen gemachter Kanonisierungsprozesse. In zweiter Konsequenz führte die Überprüfung der Religion durch die Vernunft zu einer radikalen Kirchenkritik. Die Deisten sahen im Agieren der Kirche das Bemühen, die Gläubigen unmündig zu halten und durch die Betonung der supranaturalen Elemente geradezu die Erkenntnis der natürlichen Religion verhindern zu wollen. Was hatten die Deisten entdeckt? Sie hatten entdeckt, dass die bestehende Religion ein von Menschen gemachtes Phänomen war: Die Texte waren von Menschen geschrieben, überarbeitet und ausgewählt worden und ebenso Regeln, Riten und Normen innerhalb der Institution. Im Grunde hatten die Deisten ihrer Umwelt enthüllt, dass Religion ein kulturelles Phänomen war und somit auch religiöse Aussagen nur von begrenzter Gültigkeit waren. Damit aber haben sie den Weg geöffnet für die Suche nach 35 universell gültigen Werten – unabhängig von einer religiösen Begründung. Schauen wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal Lessings Toleranzverständnis an: Lessing spricht von einer ganz unspezifischen Liebe – das einzige, was er über sie aussagt, ist, dass sie von Vorurteilen frei ist. Es handelt sich nicht um eine spezifisch christliche Liebe – natürlich ist sie anschließbar an christliche Konzepte, z. B. der Nächsten- oder Feindesliebe –, sie ist aber auch an ähnliche Konzepte in anderen Religionen anschließbar. Es handelt sich bei Lessings Konzept vielmehr um eine allgemeine Menschenliebe, die jedem Menschen zukommt, einfach nur qua seines Menschseins – und somit um einen universellen Wert, der sich nicht von einer partikularen religiösen Tradition her legitimiert. Diese Betonung einer allgemeinen Menschennatur, aus der sich eine für alle Menschen gleiche Würde (und damit verbunden gleiche Rechte) ableitet, ist ein ganz zentraler Gedanke der Aufklärung. Somit ist Lessings Toleranzkonzept deutlich der Aufklärung zuzuordnen. Aber Lessing war kein Deist. Wie er zur Religion stand, darum soll es im Folgenden gehen. 2.2 Lessings Haltung zur Religion Lessings Position in diesem Kontext selbst ist schwer zu bestimmen, zwar teilte er die rationale Kritik der Deisten an der Bibel, andererseits schätzte er die bestehenden Offenbarungsreligionen und verteidigte ihren Wert. So heißt es in einer Notiz aus dem Nachlass: Ich habe gegen die christliche Religion nichts: ich bin vielmehr ihr Freund, und werde ihr Zeitlebens hold und zugethan bleiben. Sie entspricht der Absicht einer positiven Religion, so gut wie irgend eine andere. Ich glaube sie und halte sie für wahr, so gut und so sehr man nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten kann. 14 Aus diesem Zitat spricht eine Wertschätzung der bestehenden christlichen Religion – den aggressiven und entlarvenden Ton der 14 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Werke, Bd. 16, herausgegeben von Karl Lachmann, 3., aufs neue durchgesehene u. vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Stuttgart, Leipzig, Berlin: Göschen 1902, S. 536. 36 Deisten gegen die kirchliche Institution sucht man hier vergebens. Und gleichzeitig finden sich hier deutlich unorthodoxe Meinungen: Die christliche Religion wird als „so gut wie irgend eine andere“ bezeichnet – es wird in ihr nicht der alleinige Weg zum Heil gesehen und Lessing verweist auf den historischen Charakter der Religion: „Ich halte sie für wahr, so gut und so sehr man nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten kann“. Damit aber schränkt er ihren Wahrheitsanspruch ein – denn historische Aussagen sind kontingente Wahrheiten, sie haben nicht denselben Status wie Vernunftaussagen. Sie können keine Allgemeingültigkeit beanspruchen und sind nicht logisch zwingend. Lessing zeigt in dieser Äußerung also einerseits eine aufgeklärte Haltung gegenüber der Religion – in mancher Hinsicht ähnlich den Ansichten der Deisten –, zugleich bleibt offen, wie sich diese Haltung mit seiner Wertschätzung des Christentums als Offenbarungsreligion vermittelt. Besser verständlich wird diese Haltung, wenn man sich klar macht, dass Lessing mehr am Diskurs – also an der intellektuellen Auseinandersetzung – als an der Entwicklung eines schlüssigen Systems interessiert war. 15 Dies zeigt sich besonders im Fragmentenstreit, der schließlich zur Entstehung des Nathan führte: 1774 entschied Lessing sich in seiner Funktion als Bibliothekar der Wolfenbüttler Herzoglichen Bibliothek die Fragmente eines Ungenannten zu veröffentlichen, bei denen es sich um Auszüge aus einem Werk des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus handelte. Reimarus entwickelt in seiner Schrift eine radikale Bibel- und Kirchenkritik auf der Grundlage seines deistischen Denkens, die er aber zu Lebzeiten aus Angst vor Repressalien nicht veröffentlichte. Nach seinem Tod veröffentlichte Lessing den Text ohne Angabe des Verfassers. Er wollte damit die intellektuelle Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Standpunkten anregen. In diesem Zusammenhang kam es zu einem langwierigen Wortwechsel mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, einem eifrigen Vertreter der lutherischen Orthodoxie, und Lessing wurde mit der Position der 15 Vgl. Nisbet: Lessing. Eine Biographie (Anm. 13), S. 739. 37 Deisten identifiziert, obwohl dies gar nicht seine Meinung war und er einfach nur den intellektuellen Dialog anregen wollte. 1778 wurde Lessing von der Braunschweiger Regierung mit einem Publikationsverbot belegt und er entschied sich, sein Wirken wieder auf das Gebiet der Poesie zu verlegen: So entstand sein Drama Nathan der Weise. In diesem Zusammenhang ist besonders die Figur Nathan interessant, weil sie Toleranz und Religiosität miteinander verbindet. Wie – das soll im Folgenden untersucht werden. 3 Rekonstruktion von Nathans Einstellung zur Religion In seinem Drama bringt Lessing Figuren verschiedenster religiöser Herkunft miteinander ins Spiel. Dabei repräsentieren die Figuren nicht nur die drei monotheistischen Weltreligionen Islam, Judentum und Christentum, sondern auch verschiedene Standpunkte hinsichtlich der Aufgeklärtheit und Toleranz ihres eigenen religiösen Standpunktes. Nathan der Weise ist von Anfang an im Drama als positive Identifikationsfigur angelegt. Die Figur trägt einen großen Teil des utopischen Potentials des Dramas mit seinem positiven Ende. Durch die Begegnung mit Nathan und das Gespräch mit ihm werden die anderen Figuren aufgeklärt – so erkennt Saladin durch das Gespräch mit Nathan die Gleichwertigkeit der Religionen und der Tempelherr erwirbt sich durch die Begegnung mit Nathan eine tolerantere Haltung gegenüber den anderen Religionen. Nathan selbst wird im Drama als Inbegriff eines weisen Umgangs mit den Unterschieden zwischen den Religionen und als wahrer Menschenfreund präsentiert. Welche Ansichten über Religion sich aber in der Figur artikulieren, ist nicht sofort erkennbar. Denn man fragt sich bei der Lektüre: Ist er ein Vertreter der natürlichen Religion? Dies wäre ein Standpunkt, der es ihm erlauben würde, alle Religionen nebeneinander gelten zu lassen, und würde seinem toleranten Umgang mit den Anhängern verschiedener Religionen ein Fundament geben. Aber zugleich müsste er dann gegenüber den positiven Offenbarungsreligionen kritisch eingestellt sein, was nicht wirklich zu seinem respektvollen Umgang mit den Vertretern der verschiedenen Religionen passen würde. Also fragt 38 man sich weiter: Wie steht Nathan überhaupt zu den positiv bestehenden Offenbarungsreligionen? Und welche Haltung wendet er dabei auf sich selbst an: Glaubt er selbst an eine bestimmte Offenbarungsreligion? Ist er selbst religiös? Alles mündet in die Frage: Wie verbindet Nathan Toleranz und Religiosität? Dies soll anhand der drei Aspekte: Nathans Haltung zum Wunderglauben, seine Meinung zum Verhältnis von Geschichte und Religion und der Annahme einer subjektiven Wahrheit von Religion untersucht werden. 3.1 Nathans Haltung zum Wunderglauben Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist Nathans Verhalten gegenüber seiner Adoptivtochter Recha. Besonders brisant ist dies, weil Nathan Jude, aber seine Adoptivtochter christlich getauft ist, da sie aus einem christlichen Elternhaus kommt. Es ist also die Frage, in welchem Glauben Recha erzogen werden soll. Wie geht Nathan nun mit dieser Frage um? Es entspricht Nathans toleranter Haltung, dass er Recha nicht seine eigene Religion aufdrängt. Da er sie aber auch nicht in ihrem Herkunftsglauben erziehen kann, stellt Nathan ihr die christliche Gesellschafterin Daja zur Seite. Er selbst aber vermittelt Recha einen Glauben auf der Grundlage der Vernunft.16 So heißt es über Rechas religiöse Erziehung: Nathan habe sie „von Gott nicht mehr nicht weniger / Gelehrt, als der Vernunft genügt.“17 Das hört sich sehr nach einer religiösen Erziehung im Sinne einer natürlichen Religion an, insofern nur das von Gott gelehrt wird, was sich in rationale Begriffe fassen lässt. Und tatsächlich ist Nathan darum bemüht, seiner Tochter Recha einen aufgeklärten Weltzugang zu vermitteln und damit zugleich einen Gegenpol zu dem Einfluss des schwärmerischen Religionsverständnisses von Daja darzustellen. Besonders deutlich wird dies an Rechas und Nathans Auseinandersetzung über die Deutung der Rettung Rechas durch den Tempelherrn. Während Nathans Abwesenheit hatte es einen Brand in seinem Haus gegeben und Recha war vom Tempelherrn vor den Flam16 17 Vgl. auch Nisbet: Lessing. Eine Biographie (Anm. 13), S. 792. Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 299. 39 men gerettet worden. Daja hatte im Anschluss an das Ereignis Recha die Deutung nahegelegt, dass sie ein Engel aus den Flammen gerettet hätte. So kommt es später zu folgendem Dialog zwischen Recha und ihrem Vater: Nathan: Doch hätt’ auch nur / Ein Mensch [...] dir diesen Dienst erzeigt: er müsste / Für dich ein Engel sein. Er müsst’ und würde. Recha: Nicht so ein Engel; nein! Ein wirklicher; / Es war gewiss ein wirklicher! – Habt ihr, / Ihr selbst die Möglichkeit, dass Engel sind, / Dass Gott zum Besten derer, die ihn lieben, / Auch Wunder könne tun, mich nicht gelehrt? Ich lieb’ ihn ja. Nathan: Und er liebt dich; und tut / Für dich, und deines gleichen, stündlich Wunder; / Ja, hat sie schon von aller Ewigkeit / Für euch getan. Recha: Das hör’ ich gern. Nathan: Wie? Weil / Es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge, / Wenn dich ein eigentlicher Tempelherr / Gerettet hätte: sollt’ es darum weniger / Ein Wunder sein? – Der Wunder höchstes ist, / Dass uns die wahren, echten Wunder so / Alltäglich werden können [...]. 18 Es wird deutlich, dass Nathan einen aufgeklärten Standpunkt hinsichtlich der supranaturalen Elemente innerhalb der Religion vertritt: Er lehnt den Glauben an Wunder im Sinne übernatürlicher Kräfte, die in unsere Wirklichkeit hineinwirken, ab. Deshalb versucht er Recha davon zu überzeugen, dass sie ein wirklicher Mensch gerettet hat. Dennoch hat er den Ausdruck „Wunder“ und „Engel“ nicht aus seinem Wortgebrauch verbannt – Recha weist ihn darauf hin, dass er sie gelehrt habe, „dass Gott auch Wunder könne tun“. Wie ist dies nun zu verstehen – widerspricht Nathan sich hier nicht selbst? Anscheinend benutzt Nathan selbst das Wort „Wunder“, will es aber anders als Recha nicht als Bezeichnung einer supranaturalen Wirklichkeit verstanden wissen. Für Nathan verweist das Wort „Wunder“ auf eine ganz andere Art der Wirklichkeit, nämlich auf die Dimension von Wirklichkeit, die aufscheint, wenn Menschen sich entschließen, gut zu handeln. Diesem Gut-Handeln eignet eine Dimension des Wunderbaren, im Sinne eines Durchbrechens der normalen Abläufe unserer alltäglichen Welt. 18 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 213f. 40 Nathan führt als Beispiele für Wunder die Tat des Tempelherrn, der Recha aus den Flammen rettet, und die Tat Saladins, der den Tempelherrn zuvor begnadigt hatte, an. Am Beispiel der Tat Saladins macht Nathan deutlich, warum gut handeln als Wunder bezeichnet werden kann: „Denn wer hat schon gehört, dass Saladin / Je eines Tempelherrn verschont?“19 Saladin verhält sich anders, als er es sonst aufgrund seiner Herkunft, seiner Religion und seiner Rolle als Herrscher tut – er durchbricht mit seiner Tat seine üblichen Handlungsroutinen. Und damit verweist dieses Beispiel auf eine allgemeine Di-mension menschlichen Handelns, nämlich die Möglichkeit zur Freiheit. Das Wunder, auf das Nathan hier anspielt, ist das Wunder der freien Entscheidung für das Gute – der Mensch kann sich entschließen, jenseits aller Bestimmtheiten durch Rollen und soziale Zusammenhänge, allein aufgrund seiner freien Entscheidung, aus sich heraus, aus seiner Einsicht, aus seinem Willen, aus seiner Erkenntnis dessen, was gut und richtig ist, heraus zu handeln. In einem solchen Moment durchschlägt der Mensch die Kausalketten sozialer Determination. Man kann hier in Nathans Ansinnen, die gute Tat des Menschen als Wunder zu bezeichnen, die Idee Kants, das Wesen und die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zur Freiheit zu begründen, aufleuchten sehen. Nathan erweist sich hier als Aufklärer durch und durch – allerdings als ein Aufklärer, der die Rede in symbolischen Worten schätzt. Denn Nathan lehnt das Wort „Wunder“ nicht ab, vielmehr hält er an dem Begriff fest und nutzt seinen symbolischen Mehrwert, um damit eine besondere Dimension unseres menschlichen Seins zu beschreiben. 3.2 Die Verbindung von Religion und Geschichte Noch an einer weiteren Stelle zeigt sich Nathans aufgeklärte Haltung gegenüber der Religion: In der Szene, in der Nathan Saladin die Ringparabel erzählt, kommt es zu folgendem Wortwechsel: 19 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 214. 41 Saladin: Die Ringe! – Spiel nicht mit mir! Ich dächte, / dass die Religionen, die ich dir / Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank! Nathan: Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht. - / Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? / Geschrieben oder überliefert! 20 Saladin will sich zunächst nicht auf den Gedanken der Gleichheit der drei monotheistischen Weltreligionen einlassen, wobei er allerdings hier Gleichwertigkeit – wie es Nathan meint – mit Gleichheit im Sinne von gleicher Gestalt seiend verwechselt. Nathan führt ihn dann mit seiner Antwort wieder zurück auf die Frage der Legitimation der drei Religionen. Dabei begründet er nun die Gleichwertigkeit der Religionen, indem er darauf verweist, dass sie alle historisch gewachsene Phänomene seien (sie gründen sich alle auf Geschichte); sie legitimieren alle drei ihren Wahrheitsanspruch auf dieselbe Weise, indem sie mit Zeugnissen argumentieren, die alle historisch gewachsen sind – nämlich tradierte Schriften. In der Historizität der Religionen begründet liegt aber zugleich die Relativität ihres Wahrheitsanspruches. Religion als ein historisches Phänomen – insbesondere ihrer Schriften – zu sehen, ist nun aber eine zentrale Einsicht der Deisten. Und so könnte man sagen, dass Nathan hier einen Deisten par exellence gibt. Wenn man sich aber anschaut, wie Nathan dann im Gespräch mit Saladin fortfährt, zeigt sich, dass Lessing in der Figur des Nathan eben gerade keinen Deisten einzeichnen wollte, sondern eine Position erschaffen wollte, die im besten Sinne Aufgeklärtheit mit der Wertschätzung von Religion und Religiosität verbindet. Denn während die Deisten ihre Einsicht in die Historizität der Schriften zu polemischen Angriffen gegenüber der Kirche und somit zu Abwertung der positiven (historisch gewachsenen) Religion nutzten, zeigt sich in Nathans nun folgender Aussage – entnommen aus dem oben zitierten Disput mit Saladin – eine ganze andere Haltung: Nathan: Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? / Doch deren Blut wir sind? Doch deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe / Gegeben? 20 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 278. 42 Die uns nie getäuscht, als wo / Getäuscht zu werden uns heilsamer war? - / Wie kann ich meinen Vätern weniger, / Als du den deinen glauben? 21 Für Nathan ist die Historizität von Religion kein Argument gegen ihre subjektive Bedeutung, sondern nur ein Argument für die Pluralität von religiösen Ansichten. Die subjektive Bedeutsamkeit religiöser Einsicht speist sich geradezu daraus, dass sie ein historisches Phänomen ist. Weil der Mensch selbst ein historisches Wesen ist, ein Individuum zwar, das aber Teil einer Überlieferungsgeschichte ist, deshalb ist diese historische Überlieferungsgeschichte für ihn nicht unbedeutend – nein im Gegenteil – sie ist höchst bedeutend, denn sie bestimmt seine Identität mit. Es ist ein Trugspiel zu glauben, ich könne mich selbst unabhängig von meinem eigenen historischen Gewordensein wahrnehmen, und zu meiner eigenen Geschichte gehört auch, dass ich Teil einer religiösen Überlieferungsgeschichte in einem bestimmten Kulturraum bin. Deshalb antwortet Nathan durchaus sehr ehrlich – als Saladin ihn um eine Antwort auf die Frage, welches die wahre, richtige Religion sei, bittet – mit den Worten „Ich bin ein Jud’“. „Ich bin ein Jud’“ – das soll nichts anderes heißen als: Ich bin Teil einer religiösen Überlieferungsgeschichte, in ihr erzogen worden, in ihr groß geworden, in ihr beheimatet und dadurch ist meine Position notwendigerweise eine relative und ich maße mir nicht an, andere religiöse Positionen inhaltlich zu beurteilen. 3.3 Religion als subjektive Wahrheit Das Bild, das Lessing von Nathan bisher in seinem Drama entworfen hat, als das eines zugleich aufgeklärten und religiös beheimateten Menschen, erweitert sich noch um eine neue Sinnschicht, nimmt man eine Szene hinzu, in der der Leser relativ gegen Ende des Dramas davon erfährt, dass Nathans Familie Opfer eines christlichen Pogroms geworden ist. Nathan war, bevor er Recha zu sich nahm, verheiratet und Vater von sieben Söhnen. Nathans ganze Familie ist von Christen getötet worden. 21 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 278. 43 Er berichtet dem Klosterbruder, der ihm damals Recha brachte, von diesem Ereignis, das sich nur kurz vor der Adoption Rechas ereignete: Nathan: Als / Ihr kamt, hatt’ ich drei Tag’ und Nächt’ in Asch’ / Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. – / Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet, / Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; [...] Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. / Sie sprach mit sanfter Stimm’: „und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluss das! / Wohlan! Komm! Übe, was du längst begriffen hast; / Was sicherlich zu üben schwerer nicht, / Als zu begreifen ist, wenn du nur willst, / Steh auf! – Ich stand! Und rief zu Gott: ich will!/ Willst du nur, dass ich will!“ 22 An dieser Textstelle scheiden sich nun die Geister – denn sie lässt höchst unterschiedliche Deutungen zu – und dies spiegelt sich auch in der Forschungsdiskussion wider. Unübersehbar ist die Hiobparallele 23 – Nathan verliert alles, was ihm wert und teuer ist – und er begehrt gegen Gott auf, rechtet mit Gott. Aber ist dies im Sinne einer religiösen Erfahrung zu verstehen, in der der Mensch auch in der extremsten Form des Leidens noch bezogen auf Gott bleibt (so wie in der biblischen Hiobgeschichte) oder liest sich diese Nathan-Stelle als moderne Kontrafaktur zur biblischen Geschichte, in der ein Mensch sich emanzipiert und sich selbst seiner Geschichte bemächtigt? 24 So ist unübersehbar, dass es die Stimme der Vernunft ist, die hier dem Subjekt die entscheidenden Erkenntnisse vermittelt: „Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. / Sie sprach mit sanfter Stimm’: ‚und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluss das!‘“ Hier spricht nicht Gott direkt zum Menschen, sondern es ist die menschliche Vernunft, die die Einsicht in die religiösen Dinge gewinnt – wie es die Deisten für die natürliche Religion proklamieren. Und dann erhebt sich das „Ich“ und ruft „Ich will“ – auch hier wieder das Primat des menschlichen Subjektes und seine Entscheidung vor der gött22 Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 316. Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen: Max Niemeyer 1991, S. 68 ff. 24 Vgl. Günter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 228 ff. 44 23 lichen Fügung. Man kann diese Textstelle also als Ausdruck einer Emanzipation lesen. Man kann diese Textstelle aber auch anders lesen: als Ausdruck einer Ergebenheit in den göttlichen Willen – denn der Stimme der Vernunft und dem selbstbewussten Ich wird der göttliche Ratschluss gegenüber gestellt und es geht de facto auf der Inhaltsebene um ein Einwilligen in etwas, was längst geschehen und unabänderlich ist, und sogar der eigene Willensakt wird als vom göttlichen Willen abhängig gesehen: „Willst du nur, dass ich will!“ In dieser Formulierung ist das göttliche Du ganz klar dem menschlich Ich vorgeordnet. Diese Textstelle lässt sich nicht vereindeutigen, in ihr schwingen aufgeklärtes Selbstbewusstsein und die existentielle Sprache einer religiösen Erfahrung zusammen. Die religiöse Erfahrung selbst aber ist es, die sich einer vereindeutigenden Sprache verweigert – und so drückt sich im Verzicht auf eine vereindeutigende Sprechweise aus, was eine religiöse Erfahrung ausmacht: Sie bedarf in ihrer intimen Subjektivität keiner Kohärenz. Religion ist hier eine subjektive Wahrheit. Interessant ist zu sehen, dass Lessing Nathans religiöse Erfahrung in ihrem subjektiven Rahmen belässt. Wenn man die Dialogsituationen betrachtet und vergleicht, in denen Lessing seine Figur Nathan über Religion reden lässt, fällt auf, dass Nathan von seiner religiösen Erfahrung nur in dem sehr persönlichen Rahmen des vertraulichen Gesprächs mit dem Klosterbruder berichtet. In der intellektuellen Auseinandersetzung mit Saladin hat diese Erfahrung keinen Platz. So trennt Lessing in seinem Drama sehr deutlich zwischen dem Bericht von einer religiösen Erfahrung im persönlichen Gespräch und dem Ringen um eine allgemeingültige Wahrheit im philosophischen Disput. Man könnte diese Position wie folgt zusammenfassen: Historisch gewachsene und existentiell erfahrene Einsichten haben ihren Ort, aber es lassen sich aus ihnen eben keine allgemeingültigen Ansprüche ableiten, sie reichen nicht aus, um unserem Zusammenleben eine verbindliche Basis zu geben, dafür bedarf es einer vernünftig begründbaren Ethik, die universell gültig ist. Umgekehrt lässt sich aber auch feststellen, dass sich das Leben nicht in allgemeingültigen Wahrheitsaussagen erschöpft – 45 die Kontingenz der eigenen Geschichte und die Subjektivität existentieller Erfahrung ist ebenfalls Teil menschlichen Wissens und Lebens. Genau weil dies so ist, bedarf es einer Theorie der Toleranz, die die Grenzen persönlicher Überzeugungen schützt. 46 Wiebke von Bernstorff Im Zeichen des Messianismus: jüdische Erzähltraditionen bei Walter Benjamin und Anna Seghers Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. 1 Dieser Kommentar zu Paul Klees neuem Engel (Angelus Novus) bildet die IX. These aus Walter Benjamins letztem überliefertem Text Über den Begriff der Geschichte. Sie ist wohl einer der bekanntesten Texte des Autors, dessen postumer Nachruhm in den 1970er Jahren begann und bis heute in Wissenschaft, Kunst und Literatur andauert. Kaum ein gewichtiges literarisches Projekt, das ohne einen intertextuellen Verweis auf diesen vielleicht wichtigsten Denker und Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts auskommt. 2 Das Andauern hat seine Gründe nicht zuletzt auch darin, dass man und frau mit den Texten Benjamins schlechterdings nicht zu einem Ende kommen kann. Immer wieder ergeben sich im Blick auf dieses zerschlagene Werk, der Sturm treibt auch uns dabei immer weiter fort, neue Aspekte und bleiben Aporien und 1 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX. In: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 255. 2 Vgl. in kritischer Perspektive Otto Karl Weckmeister: „Benjamins ‚Engel der Geschichte‘ oder: Die Läuterung des Revolutionärs zum Historiker“. In: global benjamin1, hrsg. v. K. Garber, L. Rehm, München 1999, S. 597624. 47 Widersprüche bestehen, die zum Nach-Denken auffordern, ohne dass wir das Zerschlagene deswegen zu einem Ganzen wieder zusammenfügen könnten. Unser gemeinsames Nach-Denken heute soll der Frage nach den Einflüssen jüdischer Erzähltraditionen folgen. Das kann nicht ohne eine Beschäftigung mit Benjamins Geschichtsphilosophie geschehen, in der sein gesamtes Denken zu einer Synthese strebt und in der der Einfluss jüdischer Denktraditionen sehr deutlich wird. Ebenfalls in den 1930er Jahren und damit im Angesicht mit dem Nationalsozialismus, dessen Fratze das Gegenbild zum Engel ist, beschäftigt sich Benjamin mit der Frage nach den Möglichkeiten des Erzählens. Geschichtsphilosophie und literaturkritische Arbeiten zu Nikolai Lesskow (ein russischer Erzähler des 19. Jahrhunderts), Franz Kafka, Anna Seghers und anderen gehen gedanklich jeweils auseinander hervor. Walter Benjamin und Anna Seghers führten im Pariser Exil Gespräche über die „Situation des Erzählers“ in dieser Zeit. Den Überlegungen zum Erzählen und dem Einfluss jüdischer Traditionen auf diese Überlegungen der beiden Autoren, besonders in der Form der von Martin Buber gesammelten, übersetzten und neu geschriebenen chassidischen Erzählungen aus dem Ostjudentum, wird der zweite Teil meines Vortrags gewidmet sein. Der gedankliche Austausch der beiden politischen Exilanten jüdischer Herkunft in Paris hinterlässt in beider Werk Spuren, die es nachzuzeichnen gilt. In Seghers’ Erzählungen lassen sich von Beginn an der Einfluss jüdischer Erzähltraditionen und messianischer Denkmuster nachweisen, auch wenn dieser Einfluss auf das Schreiben der kommunistischen Autorin und langjährigen Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes der DDR erst in den letzten Jahren, nach dem Fall der Mauer und dem damit einhergehenden Fall von lange gepflegten Denkverboten auf beiden Seiten ins Blickfeld der Forschung geraten konnte. 3 Benjamin und Seghers haben sich beide intensiv mit Kafka und mit dessen Interesse am Chassidismus und haggadischen Er3 Vgl. auch Sigrid Bock: „Die Last der Widersprüche. Erzählen für eine gerechte, friedliche, menschenwürdige Welt – trotz alledem“. In: Weimarer Beiträge 36 (1990) 10, S. 1554-1571. 48 zählformen auseinandergesetzt. Ein Blick auf die Kafkarezeption der beiden Autoren soll daher das Nach-Denken für heute vorläufig beenden. 1. Der Engel der Geschichte Ich wage also einen erneuten Kommentar zur berühmten IX. und weiteren Thesen aus dem letzten Text Benjamins, den so genannten „Geschichtsthesen“, die er 1940 im Pariser Exil in der Nationalbibliothek (denn dort war es geheizt) schrieb. Das unvollendet gebliebene Passagenwerk4 ermöglichte ihm als Auftragswerk für das Institut für Sozialforschung, respektive Horkheimer und Adorno, die sich nach New York hatten retten können, in dieser Zeit seinen sehr kargen Lebensunterhalt. Dreimal reiste er aus Paris nach Dänemark zu Brecht, der ihm dort Unterkunft und Verpflegung bereitstellte. Beide profitierten von ausgiebigen Gesprächen und eben solchen Schachpartien. Die Auseinandersetzung mit Brecht und seinem Exilwerk bildet sich nicht nur in den Essays zu Brecht ab, sondern schreibt sich in Benjamins gesamtes Exilschaffen ein. Als Deutschland 1939 mit dem Überfall auf Polen den II. Weltkrieg entfachte, wurde Benjamin wie alle anderen deutschen Exilanten als feindlicher Ausländer vorübergehend in einem Lager inhaftiert. 1939 bis 1940, als er bis zum Einmarsch der Deutschen wieder in Paris war, schrieb er die „Geschichtsthesen“, die er Hannah Arendt noch in Paris in einer Fassung übergab. Über Lourdes gelang Benjamin 1940 die Flucht nach Marseille, das zwar zum unbesetzten Teil Frankreichs gehörte, unter der Führung der mit den Deutschen kollaborierenden Vichy-Regierung aber keineswegs ein sicherer Aufenthaltsort war. (Wer sich von der Situation der Flüchtlinge in Marseille zu dieser Zeit ein Bild machen möchte, der lese Seghers’ Roman Transit.) Von hier aus betrieb er wie die tausend anderen deutschen Flüchtlinge, die dort strandeten, seine Ausreise. Mit dem endlich erlangten Visum in die USA versuchte er, weil zeitweilig von Marseille aus keine Schiffe mehr fuhren, 4 Walter Benjamin: Das Passagenwerk. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, (im Folgenden abgekürzt als GS), hrsg. von Rolf Tiedemann., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982. 49 am 24. September 1940 mit Lisa Fittko, die etliche Flüchtlinge zu Fuß nachts über die Pyrenäen in den spanischen Grenzort Portbou geführt hat (so zum Beispiel auch Hannah Arendt und ihren Mann ein Jahr später), auf diesem Weg nach Spanien zu kommen, um später von Lissabon aus in die USA zu reisen. Als der Reisegruppe in Portbou die Einreise nach Spanien verweigert wird, da sie kein französisches Ausreisevisum vorlegen können, bringt sich Benjamin, den der stundenlange Fußmarsch an den Rand seiner Kräfte gebracht hatte, in der folgenden Nacht (26. Sept. 1940) wahrscheinlich mit einer Überdosis Morphium um. Am nächsten Morgen kann der Rest der Reisegruppe unbehelligt weiter reisen. In Portbou erinnert seit 1994 eine Installation Dani Karavans an den Tod Benjamins. Vor und hinter dem auf einem Felsen oberhalb des Meeres gelegenen kleinen Friedhof des Ortes hat Karavan drei Eisenelemente platziert: eine Treppe ins Nichts, eine Eisenplatte mit einem Würfel in der Mitte oberhalb des Friedhofs und einen Eisenschacht über der Steilküste, dessen inwendige Treppe direkt aufs Meer zuführt. Der Gang die bei jedem Schritt nachhallende Treppe hinunter endet auf halber Strecke vor einer Glasscheibe auf der ein Zitat aus den Anmerkungen zu den „Geschichtsthesen“ eingeritzt ist: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. […] Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht." (GS I, S. 1241) Das Zitat macht die Intention Karavans hier nicht ein Benjamin Memorial zu errichten, sondern stellvertretend an die vielen namenlosen Flüchtlinge, die im spanischen Bürgerkrieg an dieser Stelle von Spanien nach Frankreich flüchteten und die, die im zweiten Weltkrieg auf der Flucht vor den Deutschen hier vorbeikamen und die, die immer noch und immer wieder auf der Flucht sind vor Armut und Verfolgung, zu erinnern. Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. 5 5 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255. 50 Den Angelus Novus von Paul Klee hatte Benjamin im Mai 1921 während eines Aufenthaltes bei seinem Freund Gerhard Scholem in München gekauft.6 Scholem und Benjamin hatten sich 1915 in Berlin kennen gelernt. 7 Beide hatten bei Ausbruch des 1. Weltkriegs von ihrer jugendlichen Begeisterung für den Kulturzionismus und die Jugendkulturbewegung Abstand genommen, als sich deren Leitfiguren Martin Buber auf der Seite der Kulturzionisten und Gustav Wyneken auf der Seite der Jugendkulturbewegung euphorisch für den Krieg als erlösendes Erlebnis ausgesprochen hatten. Der unbedingte Pazifismus und die Prägung durch die jugendkulturellen Strömungen der Vorkriegszeit verbanden beide miteinander. Dazu kam ein ausgeprägtes Interesse an der jüdischen Tradition, die aus Scholem im Laufe der Zeit den ersten und wichtigsten Erforscher der jüdischen Mystik im 20. Jahrhundert machte. Scholem verwahrte Klees Bild einige Monate für Benjamin. Es wird von da an immer wieder Gesprächsgegenstand zwischen beiden sein. Scholem in Walter Benjamin und sein Engel dazu: Er kam mündlich und schriftlich öfters auf das Bild zu sprechen. Als er es erwarb, hatten wir Gespräche über jüdische Angelologie, besonders talmudische und kabbalistische, da ich damals gerade an einer Arbeit über die Lyrik der Kabbala schrieb, in der ich mich ausführlich über die Hymnen der Engel in den Vorstellungen der jüdischen Mystiker geäußert habe. Meiner eigenen langen Anschauung des Bildes entstammte auch das Gedicht „Gruß vom Angelus“, das ich Benjamin zu seinem Geburtstag am 15. Juli 1921 widmete [...]. 8 Dieses Gedicht stellt Benjamin seiner IX. These als Motto voran: Mein Flügel ist zum Schwung bereit ich kehrte gern zurück denn blieb’ ich auch lebendige Zeit 6 Gershom Scholem: „Walter Benjamin und sein Engel“. In: ders.: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 35-72, hier S. 44-46. 7 Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/Main 1975, S. 12/13. 8 Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft (Anm. 7), S. 46. 51 ich hätte wenig Glück. Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus. 9 Versteht man These IX als Emblem, bildet Scholems Gedicht die inscriptio, die Beschreibung des Bildes die pictura und die Ausdeutung im Anschluss an die Beschreibung die subscriptio. Die Verbindungen und Widersprüche, die sich zwischen den drei Teilen des Emblems ergeben, sind eine eigene Untersuchung wert, die hier zu weit führen würde. Die Koordinaten sind aber benannt, zwischen denen das Denken Benjamins zu seiner ganz eigenen Ausprägung gelang: die jüdische (mystische) Tradition (vermittelt durch den Freund Scholem) und der marxistische Materialismus (im Freundschaftsnetzwerk vertreten durch Adorno und Brecht). Die „Geschichtsthesen“ sind der Versuch, beide Denkrichtungen miteinander zu verbinden, um so zu einer Geschichtsphilosophie zu gelangen, die adäquate Antwort auf die Fragen und Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein konnte. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. 10 Die IX. These fasst die vorangegangenen Thesen zur Geschichtsauffassung des Materialismus in einem dialektischen Bild zusammen. Benjamin konstruiert ein Bild von Geschichte, das den Namenlosen, den Opfern und nicht den Siegern, gewidmet ist. Das verbindet sein Denken mit dem des Marxismus. Ganz anders als die sich auf Marx berufende vulgärmarxistische Annahme eines sinnvollen und gesetzmäßigen Gangs der Geschichte bis hin zur zwangsläufig sich ergebenden Diktatur des Proletariats aber, „sieht er [der Engel im Gegensatz zu uns] eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft.“ 11 Benjamin 9 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255. 11 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255. 52 10 radikalisiert so die marxistische Perspektive auf die Namenlosen. Der Gang der Geschichte ist für ihn immer der Gang der Sieger über die Besiegten hinweg, nicht wie im Marxismus der Gang des Proletariats auf seinen Sieg zu. Deswegen kehrt der Engel der Zukunft den Rücken zu. Sein Blick fällt auf die Katastrophen der Vergangenheit, das ist die Blickrichtung des jüdischen Eingedenkens seit der Vertreibung aus Jerusalem. Was die Zukunft bringen wird, kann er so nicht sehen. Der Schock, von dem der Engel befallen ist, ist das Bild für die Möglichkeit einer messianischen Stillstellung des Geschehens. Nicht im gesetzmäßigen Gang der Geschichte, sondern in dieser Stillstellung kann Erlösung möglich werden. So fasst Benjamin hier das Prinzip des Fortschritts, von dem der marxistische Materialismus durchdrungen ist, ambivalent als Sturm, der vom Paradies herweht, also von diesem heiligen Ort ausgeht, aber von ihm weg weht und den Engel daran hindert, sein gutes Werk zu tun. Der Bote Gottes kann das Zerschlagene nicht zusammenfügen und die Toten nicht wecken, weil ihn der Fortschritt davon abhält. Die Ambivalenz des Bildes entsteht durch die Zusammenfügung von politischen und theologischen Gehalten, die im Moment des Schocks, dem der Engel in Benjamins Bild permanent ausgesetzt ist, zusammenschießen. Programmatisch formuliert er in These XVII: Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. [...] In dieser Struktur erkennt er [der historische Materialist] das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit.12 Die messianische Stillstellung des Geschehens wird durch die Formulierung „anders gesagt“ als Synonym für die „revolutionäre“ Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit verstanden. Messianismus und Materialismus werden im Schock zusammen gefügt. Denkbewegung (von der These XVII hier spricht) und Geschichtsbewegung (von der beide Thesen sprechen) werden parallel geführt und dialektisch im Bild des Still12 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 260. 53 stands bei gleichzeitiger unaufhaltsamer Bewegung gefasst. Fragen wir, woraus sich diese paradox scheinende Vorstellung speist, so verweist uns die Formulierung „das Zeichen einer messianischen Stillstellung“ auf den Messianismus und die Studien Scholems zur Kabbala. „Die Kabbala, wörtlich ‚Überlieferung‘, nämlich Überlieferung von den göttlichen Dingen, ist die jüdische Mystik“, formuliert Scholem in der Einleitung zu seinen Untersuchungen Zur Kabbala und ihrer Symbolik. 13 Der Beginn der Kabbala als mystische Geheimlehre liegt im 12. Jahrhundert. Popularisiert wurde sie 1492 mit der Vertreibung der Juden aus Spanien. Im Zuge der Vertreibung nahm sie messianische Züge an. Der legendenumwobene Isaak ben Salomo Luria (1534-1572) entwickelte um 1570 in Kairo eine Neuinterpretation der Kabbala, die als so genannte „Lurianische Kabbala“ auch unter anderem Martin Buber, Scholem und Benjamin bekannt gewesen ist und auf die alle drei immer wieder Bezug nehmen. Scholem als ihr erster Wissenschaftler, Buber als neuer Mystiker und Benjamin in der Aufnahme grundlegender Ideen und Bildlichkeit in seine Geschichtsphilosophie. Während die mittelalterliche Kabbala Spekulationen über die Maße Gottes, den Gottesnamen, Zahlenmystik zur Errechnung des Zeitpunktes der Ankunft des Messias und Buchstabendeutungen enthielt, kombiniert die Lurianische Kabbala eine Ursprungserzählung mit dem Erlösungsgedanken. Der Ursprungsmythos lautet zusammengefasst: Aus einem Akt göttlicher Selbstbeschränkung und Zurücknahme (Zimzum) geht die Gestalt eines übernatürlichen Menschen hervor, von dessen Gesicht Licht in die Schalen der Sefirot, der göttlichen Emanationen (Manifestationen), gelangt. Die Sefirot zerbrechen aber an der Stärke des Lichtes (Schewirat ha-Kelim) und aus dieser kosmischen Katastrophe entsteht die materielle Welt, in die die göttlichen Lichtfunken versprengt werden. Der Prozess der Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit (Tikkun) verläuft über eine Bergung der göttlichen Funken durch Läuterung ganz Israels und durch Toraerfüllung und endet mit der Erlösung durch die Ankunft des 13 Gershom Scholem: „Zur Einleitung“. In: ders.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 7-10, Zitat S. 7. 54 Messias. 14 Der Messianismus neuzeitlicher Prägung findet einen Anknüpfungspunkt in dieser einflussreichen Ausdeutung der Kabbala. 15 So wird die Wiederherstellung zwar an das Verhalten des Volkes Israel gebunden, findet aber erst mit dem unberechenbaren Kommen des Messias seine Vollendung. In Benjamins „Geschichtsthesen“ finden sich Übernahmen der Bildlichkeit aus der lurianischen Kabbala und dem Messianismus. Die Geschichte als Katastrophe, auf die der Engel der Geschichte blickt, erinnert an die Aufgabe des Eingedenkens der Katastrophen der jüdischen Geschichte zur Erinnerung an das Wiederherzustellende, also die Zusammenfügung des Zerbrochenen im Tikkum. In der Bibel und im jüdischen Ritus ist dieses Eingedenken unter anderem in der Abschiedsformel des Sederabends: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ verankert. Diese Formel verweist auf die Möglichkeit der Ankunft des Messias, der sein Volk zurück ins Gelobte Land führen und den Tempel in Jerusalem wieder aufbauen wird. In These II heißt es: Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. [...] Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.16 Benjamin macht hier gleich zu Beginn seiner Thesen die zentrale Idee des Judentums, wonach die Vergangenheit des Volkes, so wie sie in der Tora (den 5 Büchern Mose) festgehalten ist, zugleich mit dem Galut (Exil) das Versprechen der zukünftigen Wiederherstellung der Einheit mit Gott durch das Kommen des Messias beinhaltet, zu einer allgemein gültigen Voraussetzung aller Geschichte. Es folgen mehrere rhetorische Fragen und dann 14 Vgl. Gershom Scholem: „Kabbala und Mythos“. In: ders.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik (1973) S. 146-158. Vgl. Lemmata „Kabbala“ und „Luria“. In: Neues Lexikon des Judentums, hrsg. von Julius H. Schoeps, München 1991, S. 248/249/297. 15 Vgl. Gershom Scholem: „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“. In: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 121-167. 16 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 252. 55 die Setzung: „Ist dem so, dann [...].“ Es ist ein Glaubenssatz, den Benjamin hier formuliert und seiner Geschichtsphilosophie zugrunde legt. Auch in den textlichen Vorstadien zu den Geschichtsthesen finden sich sehr deutliche Hinweise darauf: Die Thora und das Gebet unterweisen sie [die Juden] dagegen im Eingedenken. [...] Den Juden wurde darum aber die Zukunft doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.17 Eingedenken der Vergangenheit und Zukunft (Utopie) vereint im Stillstand des Jetzt als Pforte, durch die der Messias treten könnte, das ist Benjamins paradoxe Denkbewegung, die er ins Bild der jüdischen Tradition fasst. Die Aufgabe des Historikers in der Gegenwart beschreibt er so: „Er [der Historiker] begründet so einen Begriff der Gegenwart als ‚Jetztzeit‘, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.“ 18 Die Hebung und Wiederentdeckung der Splitter messianischer Zeit ist hier Aufgabe des historischen Materialisten, als den sich Benjamin verstand. Das Bild von den eingesprengten Funken und die Idee einer Möglichkeit der Erlösung durch die Arbeit des Eingedenkens, durch die Bergung der göttlichen Funken, stammt aus der Lurianischen Kabbala. 2. Jüdische Erzähltraditionen: Haggada und Chassidismus Benjamins Engel starrt mit offenem Mund auf die Trümmer, die sich unablässig vor ihm und zugleich hinter ihm, nimmt man seine rückwärts gewandte nach vorne treibende Bewegung ernst, auftürmen. Der Engel und Klees Bild sind sprachlos. Benjamin bringt beides in und durch seinen Text zum Sprechen. Das Sprechen von der Möglichkeit der Ankunft des Messias, der die entstellte Welt, wenn er kommt, um nur ein weniges zurechtrücken wird, wie Benjamin es in seinem Kafkaessay formuliert, 19 ist das Offenhalten der Pforte, durch die der Messias wird eintreten können. Ähnlich verhält es sich mit dem Sederritual, an dem die Tür 17 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 261. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 261. 19 Walter Benjamin: „Franz Kafka“. In: ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 248-263, hier S. 263. 56 18 offen und ein Stuhl frei bleibt für den Propheten Elias, der dem Erscheinen des Messias der Überlieferung nach vorangehen soll. Das Lesen und Erzählen vom Exodus dient an diesem Abend dem Eingedenken der Vergangenheit, das die Möglichkeit der Erlösung aufrechterhält. Von jeher haben daher auch Erzählungen eine bedeutende Rolle in der Schriftreligion des Judentums gespielt. Die Haggada vereint erzählerische Kurztexte aller Art und ist neben der Halacha, die eine Sammlung aller Gesetze enthält, Teil der Tora. Sagen, Legenden, Anekdoten, Märchen, Fabeln, Gleichnisse, Wundergeschichten, Witze und auch die Rätsel der Haggada sind Auslegungen der Schrift, die aber nicht wie in der Halacha auf die Herleitung praktischer Normen zielen und autoritativen Charakter besitzen, sondern ohne System und Anspruch auf Alleingültigkeit auf die hinter der Lehre stehenden Ideen zielen.20 Als solche sind die Texte der Haggada wichtiger Teil von Predigten und mündlichen Unterweisungen, in denen die Lehre lebendig wird. Das, was ich als jüdische Erzähltraditionen bezeichnet habe, fußt auf diesen Texten und der Bedeutung des mündlichen Erzählens im jüdischen Ritus.21 Für Walter Benjamin, Anna Seghers und viele andere dieser Generation ist eine ganz spezifische Ausprägung dieser Erzähltraditionen bedeutsam geworden, die sich mit dem Namen Martin Buber (geb. 1878 in Wien – gest. 1965 in Jerusalem) untrennbar verbunden hat. Buber, den man auch als Antipoden Scholems bezeichnen könnte, vertrat etwa seit der Jahrhundertwende die kulturzionistische Position in Abwendung von Herzls politischem Zionismus.22 1909/10 hielt er in Prag Drei Reden über das Judentum 23, in denen er seine Position, dass eine geistige Erneuerung des Judentums vor einer politischen Lösung der Palästinafrage erfolgen müsse, entwickelte. Der Einfluss dieser Reden auf die zionistische 20 Vgl. Lemma „Haggada“. In: Neues Lexikon des Judentums (Anm. 14). Vgl. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München: Carl Hanser Verlag 2007. 22 Zur Geschichte des Zionismus vgl. Hans-Jochen Gamm: „Zur Entstehung des Zionismus“. In: Der Deutschunterricht 3 (1985), S. 7-17. 23 Martin Buber: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt/Main: Rütten & Loening 1919. 57 21 Jugendbewegung war immens, auch Franz Kafka und Max Brod zum Beispiel setzen sich intensiv mit Bubers dort formulierter Position auseinander. Bis heute immer wieder neu aufgelegt werden seine chassidischen Erzählungen, mit deren Übersetzung aus dem Jiddischen und Hebräischen er um die Jahrhundertwende begann. Der Chassidismus entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Südostpolen und verbreitete sich von da aus in die Ukraine, nach Galizien, Zentralpolen, Weißrussland und Ungarn. Als Begründer dieser Bewegung gilt Israel ben Elieser Baal Schem Tow (Meister des guten Namens, gest. 1760), der die Lurianische Kabbala erneuerte und für das Volk zugänglich machte. Er lehrte, dass jeder einzelne die in der Materie versprengten Lichtfunken erlösen kann. Wenn alle Funken erlöst sein werden, wird der Messias erscheinen. In Abweichung von der Kabbala geschieht die Erlösung der Funken im Chassidismus aber durch Freude und Begeisterung, nicht durch Fasten, Trauer und fortwährendes Studium. Angetrieben von der Suche nach dem wahren Kern einer jüdischen Identität entdeckte Buber für sich und andere Westjuden diese Traditionen des Ostjudentums neu. 24 Es ging ihm nicht um eine philologische Sicherung der Quellen, wie Gerhard Scholem noch in den 1960er Jahren, als Bubers Ruhm auf dem Höhepunkt war und das, was gemeinhin als Judentum galt, fast ausschließlich durch die Schriften Bubers definiert war, immer wieder ins Bewusstsein zu bringen versuchte. 25 Vielmehr sah er sich selbst am Beginn seiner Beschäftigung mit den Chassidim als ein direkter Nachfolger und Erneuerer dieser Tradition. Die Lehren 24 Der Name Ostjuden selbst stammt erst aus dieser Zeit. Er wurde von Nathan Birnbaum, der auch den Begriff Zionismus prägte, erstmals gebraucht. Birnbaum diente der in seinem Volk, seiner Tradition und in seiner angestammten Zukunftshoffnung verwurzelte Ostjude ebenfalls als Gegenbild zum assimilierten, innerlich unsicheren Westjuden. Vgl. Ludger Heid: „Das Ostjudenbild in Deutschland“. In: Neues Lexikon des Judentums (Anm. 14), S. 350-352, hier S. 350. Vgl. auch Martin Buber: Die jüdische Mystik. In: ders., Werke. Schriften zum Chassidismus, Bd. 3. München: Kösel-Verlag 1963, S. 15. 25 Vgl. Klaus Samuel Davidowicz: Gershom Scholem und Martin Buber. Die Geschichte eines Missverständnisses. Neukirchen: Neukirchener Verlag 1995. 58 des Zaddik (des Gerechten) wurden im Chassidismus durch Erzählungen weitergegeben, die neben den Lehrsprüchen auch legendenhaft vom Leben des Meisters handelten. Buber stellte sich durch seine Übersetzungen und Neufassungen in diese Traditionslinie und sah sich selbst als neuen Zaddik.26 Zwar distanzierte er sich später von diesen Bekenntnissen, es blieb aber immer ein ethisches Interesse, kein wissenschaftliches, das er dem Chassidismus als der „Ethos gewordene[n] Kabbala“27 entgegenbrachte.28 Bubers Nacherzählungen beginnen meist mit „Es wird erzählt“, „Es wird weiter erzählt“, „Es heißt“, „Der Baalschem fragte einst seinen Schüler“, „Der Baalschem sprach“, „Ein Schüler fragte den Baalschem“ und ähnlichen Topoi. Die mündliche Überlieferung der Legenden und Sinnsprüche war fester Bestandteil der Lehre, die damit – was Buber immer wieder betonte – anderen mystischen und volkstümlichen Textformen gleicht. Die sehr kurzen Erzählungen erklären wenig, die Botschaft ist selten eindeutig, meist aber offen versteckt. Die Erzählung „Der Geschichtenerzähler“ beginnt zum Beispiel: Als Rabbi Jaakob Jossef noch Raw in Szarygrod und dem chassidischen Weg sehr abhold war, kam einst in seine Stadt an einem Sommermorgen, um die Zeit, da man das Vieh auf die Weide trieb, ein Mann, den niemand kannte, und stellte sich mit seinem Wagen auf den Marktplatz. Den ersten, den er eine Kuh führen sah, rief er an und begann, ihm eine Geschichte zu erzählen, und sie gefiel ihrem Hörer so gut, dass er sich nicht losmachen konnte. Ein zweiter griff im Vorbeigehen ein paar Worte auf, wollte weiter und vermochte es nicht, blieb stehen und lauschte. Bald war eine Schar um den Erzähler versammelt, und die wuchs noch stetig. 29 26 Vgl. Martin Buber: Mein Weg zum Chassidismus. Frankfurt/Main: Rütten & Loening 1918, S. 19. 27 Martin Buber: Die jüdische Mystik (Anm. 24), S. 15. 28 Für einen genauen philologischen Vergleich einiger Quellen mit den Überarbeitungen Bubers siehe: Davidowicz: Gershom Scholem und Martin Buber (Anm. 25), S. 119-128. 29 Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Mit einer Einführung des Verfassers, Zürich: Manesse 2003, S. 138/139. 59 So ergeht es auch dem Bethausdiener, der als er eine Stunde zu spät zum Bethaus kommt, um dieses zu öffnen, heftig vom Rabbi gescholten wird. Als der Diener den Grund seines Fernbleibens verrät, lässt der Rabbi den Mann, der der Baalschem ist, zu sich kommen und beschimpft ihn, was ihm einfalle, die Menschen vom Beten abzuhalten, er werde ihn zur Strafe verprügeln lassen. Der Baalschem aber schaut dem Rabbi in die Augen, was diesen verstummen lässt, und beginnt dann eine Geschichte zu erzählen: „Ich bin einmal mit drei Pferden über Land gefahren“, erzählte der Baalschem, „einem Roten, einem Scheck und einem Schimmel. Und alle drei haben sie nicht wiehern können. Da ist mir ein Bauer entgegengekommen, der hat mir zugerufen: „Halt die Zügel locker!“ So habe ich die Zügel gelockert. Und da haben sie alle drei zu wiehern angefangen.“ Der Raw schwieg betroffen. „Drei“, wiederholte der Baalschem, „Roter, Scheck, Schimmel, wiehern nicht, Bauer weiß Bescheid, Zügel lockern, wiehern auf!“ Der Raw schwieg gesenkten Hauptes. „Bauer gibt guten Rat“, sagte der Baalschem, „versteht ihr?“ „Ich verstehe, Rabbi“, antwortete der Raw und brach in Tränen aus. Er weinte und weinte und merkte, er hatte bis heute nicht verstanden, was das heißt: ein Mensch kann nicht weinen. „Man muß dich erheben“, sagte der Baalschem. Der Raw sah zu ihm auf und sah ihn nicht mehr. 30 Exemplarisch kann man an dieser Erzählung beobachten, welche herausragende Bedeutung das Geschichtenerzählen für die Chassidim hatte. Wenn in aller Materie die göttlichen Funken eingefangen sind, dann ist jede bewusst und freudig ausgeführte Arbeit ein Gottesdienst. Um zu solcher Bewusstheit zu gelangen, nutzt der Zaddik nicht das erzwungene Torastudium und das pflichtbewusste Gebet. Zahlreich sind die Geschichten über Rabbi, die vor lauter Studium der heiligen Schriften das Leben und damit ja die Materie, in der die Funken gefangen sind, aus den Augen verlieren. Stattdessen dienen Erzählungen und Gleichnisse, die den Alltag der Menschen begleiten, und so mitten im Leben Rat geben und Gutes tun, dazu, die göttlichen Funken zu erlösen. Die Erzählung selbst ist der Gottesdienst. Und zwar hier in vierfacher Weise: die Erzählungen des Baalschem an die Dorfbewohner und seine Erzählung plus deren Wiederholung gegenüber dem Rabbi. 30 Buber: Die Erzählungen der Chassidim (Anm. 29), S. 140. 60 Das Wiehern der Pferde aus der Geschichte (metadiegetische Erzählebene) ist der dritte Verweis auf das Erzählen. Die Pferde ziehen den Wagen und tun so ja eigentlich alles, was Kutschpferde tun sollen. Dass aber das Wiehern zu ihrem ureigensten Ausdruck gehört und, wenn es fehlt, etwas nicht in Ordnung ist, das ist die Setzung des Geschichtenerzählers, der vom Geschichten erzählen erzählt. Wir können hier eine Parallele ziehen zum stummen aber offenen Mund des Engels. Der Rabbi, der sich ganz vom normalen Menschenleben entfernt hat, braucht eine sehr deutliche Belehrung. Nicht nur erzählt ihm der Baalschem ein Gleichnis, das an Einfachheit kaum zu übertreffen ist. Noch dieses einfache Gleichnis braucht eine bestätigende Kurzfassung, damit der Rabbi von seinem selbstgefälligen und selbstsicheren Podest herabsteigen oder besser herabfallen kann: „Drei“, wiederholte der Baalschem, „Roter, Scheck, Schimmel, wiehern nicht, Bauer weiß Bescheid, Zügel lockern, wiehern auf!“ Der Raw schwieg gesenkten Hauptes. „Bauer gibt guten Rat“, sagte der Baalschem, „versteht ihr?“31 Sogar die Deutung wird für den Rabbi noch mitgeliefert. Durch dieses insistierende Erzählen wird ein quasitherapeutischer Prozess eingeleitet, durch den der Rabbi zurückfindet zur eigenen Menschlichkeit, für die die Fähigkeit zu weinen metonymisch steht. Zum Schluss der kurzen und einfach erscheinenden Erzählung von den Erzählungen des Baalschem werden wir noch mit offenen Fragen und einem wunderbaren Element konfrontiert. Was bedeutet der letzte Satz des Baalschem: „Man muß dich erheben?“ Hier könnte eine neue Erzählung anknüpfen. Hinzu kommt, dass in dem Moment, in dem der Rabbi bereit ist, zu erkennen, dass er ‚seinen Meister’ gefunden hat, der Baalschem geradezu geisterhaft verschwindet. Diese Art provozierenden Wunderglaubens ist essentielles Element des Chassidismus. Auf ihm gründete die Gegnerschaft der jüdischen Orthodoxie und der jüdischen Aufklärung gleichermaßen, was wiederum für Buber und andere junge Kulturzionisten eine Erneuerung des Judentums aus dieser häretischen Tradition besonders attraktiv erscheinen ließ. 31 Buber: Die Erzählungen der Chassidim (Anm. 29), S. 140. 61 Auch wenn Benjamin und Scholem der Art und Weise, wie Buber sich als Fortsetzer der Chassidim inszenierte und wie er mit den Quellen umging, sehr kritisch gegenüber standen, haben sie diese gelesen und gemeinsam diskutiert. Die Kenntnis der chassidischen Erzählungen hat Einfluss genommen auf Benjamins Konzeption vom Erzählen: die Mündlichkeit, das Rat geben, das in Gemeinschaft sprechen, sind Elemente, die in Benjamins literaturkritischen Texten immer wieder auftauchen. Das Nachdenken über die Möglichkeiten literarischen Erzählens bildete neben der Geschichtsphilosophie einen zweiten Schwerpunkt seines Arbeitens am Ende der 1920er und in den 1930er Jahren. 3. Erzählen bei Benjamin und Seghers Im Pariser Exil führte Benjamin Gespräche mit Anna Seghers über den Zustand des Erzählens angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen. 1937 rezensierte er Anna Seghers’ Roman Die Rettung (1937). 32 Dort nennt er sie eine „Chronistin der deutschen Arbeitslosen“. Damit betont er die Nähe ihres Erzählens zu alten epischen Formen. Er schreibt: „Die Stimme der Erzählerin hat nicht abgedankt. Viele Geschichten sind in das Buch eingesprengt, welche darin auf den Hörer warten.“ 33 Anders als im Roman, den er, in Anlehnung an Georg Lukács, als den Ausdruck des Individuums in seiner Einsamkeit und Ratlosigkeit versteht, sieht er in diesem Erzählerischen und der episodischen Struktur ein auf Hilfe zielendes Schreiben. Besonders hebt er die Umkehrung bzw. Stillstellung des Zeitlaufs hervor. Der Text beginnt mit der Rettung von 7 Bergleuten aus einem verschütteten Stollen. Nach der Rettung wird die Grube geschlossen, weil sie nicht mehr rentabel sein soll. Die restlichen 500 Seiten passiert nichts. Die Männer sind arbeitslos, die Familien hungern, die Gespräche drehen sich um die letzten Reste trügerischer Hoffnungen, ein Mädchen stirbt unbemerkt und allein an einer Abtreibung, langsam sickern nationalsozialistische Paro32 Walter Benjamin: „Eine Chronik der Deutschen Arbeitslosen. Zu Anna Seghers’ Roman „Die Rettung““. In: ders.: GS III, S. 530-538, folgendes Zitat S. 533. 33 Benjamin: „Eine Chronik der Deutschen Arbeitslosen.“ (Anm. 32), S. 533. 62 len in das Arbeiterdorf ein. Das einzige Ereignis findet am Anfang statt, danach gibt es nur noch endloses Warten und die damit verbundenen Gespräche. Solch ein Handlungsaufbau widerspricht jeder herkömmlichen Romandramaturgie. Deswegen betont Benjamin den mündlichen auf ein Kollektiv zielenden Charakter des Erzählens und stellt ihn dem bürgerlichen Roman gegenüber. Seghers’ Darstellung ist ihm Chronik, der die zeitliche Perspektive und damit ein Einverständnis mit dem Gang der Geschichte fehlt. Es ist ein Innehalten angesichts der Herrschaft des Nationalsozialismus, das einzelne Trümmer beschreibt, ohne aus den einzelnen Bruchstücken ein sinnvolles Ganzes zu konstruieren, das zur Rechtfertigung missbraucht werden könnte. In Benjamins Rezension wird die Nähe seiner Geschichtsphilosophie zu den literarischen Texten von Seghers, wie er sie las, sehr deutlich. Anna Seghers war zu diesem Zeitpunkt bereits eine recht anerkannte Schriftstellerin. Direkt nach dem Reichstagsbrand war sie als Mitglied der KPD einen Tag lang verhaftet worden, woraufhin sie und ihr Mann Laszlo Radvanyi 34, der die marxistische Arbeiterschule (MASCH) in Berlin leitete, sofort über die Schweiz nach Paris flohen. Nachdem sie in einem Pariser Vorort ein Haus für die Familie gefunden hatten, konnten die beiden kleinen Kinder von Seghers’ Eltern zur Grenze gebracht werden. Ausreisen durften die Eltern nicht mehr. Im Pariser Exil war sie rastlos tätig. Sie gründete zum Beispiel mit anderen AutorInnen den Schutzverband Deutscher Schriftsteller und übernahm den Vorsitz. In dieser Funktion lud sie unter anderem Benjamin ein, der dort seinen Vortrag Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hielt. Seghers, die 1928 den KleistPreis für ihre Erzählungen Der Aufstand der Fischer von Santa Barbara (1928) und Grubetsch (1927) bekommen hatte, war in 34 Ihr Mann hatte dem Budapester Sonntagskreis um Georg Lukács und Karl Mannheim angehört, dessen Mitglieder 1919 nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik Béla Kuns durch rumänische und polnische Truppen unter der Führung von Nikolaus von Horthy ins Exil gehen mussten. Auch in diesem Kreis waren messianistische und chiliastische Vorstellungen über die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden durch sozialistische Reformmodelle diskutiert worden. 63 Paris eine treibende Kraft in den Aktivitäten der Exilanten zur Formierung einer Volksfront. Netty Reiling, wie sie eigentlich hieß, kam aus gutbürgerlichem jüdischem Mainzer Elternhaus. Während sie 1924 an ihrer Doktorarbeit in der Kunstgeschichte zum Thema Jude und Judentum im Werk Rembrandts 35 schrieb, veröffentlichte sie zugleich ihre erste Erzählung unter Pseudonym: Die Toten von der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen, nacherzählt von Antje Seghers. Die vorgebliche Nacherzählung dieser Sage, eine von Seghers immer wieder zweideutig benutzte Gattungsbezeichnung (Sagen = Erzählen und Sage = Heldensage), ist wie Bernhard Greiner formulierte, „[...] Grundtext im Sinne eines Ursprungstextes. Sie lässt die Autorschaft ‚Anna Seghers’ aus einem Text entstehen.“36 Die fiktionale Autorin Antje Seghers stellt sich, was erst am Ende der Erzählung deutlich wird, in ein Verwandtschaftsverhältnis mit der Hauptperson, einem Priester auf einer kleinen Insel, dessen „Wollust“ es ist, möglichst alle ertrunkenen Schiffsleute, deren Schiffe zahlreich an den Klippen der Insel zerschellen, zu bergen und sie zu begraben. Eines Abends nun: [...] saß der Pfarrer eine aufgeschlagene Bibel vor sich, in seiner Kammer. „Und es ging ein Brief an die Gemeinde von Laodicea...“, sagte er zum dritten Mal laut vor sich hin und schlug auf den Tisch; denn aus irgendeinem Grund schien ihm diese Stelle besonders wohlklingend und eine Zierde des Neuen Testamentes zu sein, wenngleich das Alte den Dursaiten seines Herzens besser anstand. 37 35 Netty Reiling (Anna Seghers): Jude und Judentum im Werk Rembrandts. Leipzig 1981. Reiling erwähnt sowohl die Bedeutung der Lurianischen Kabbala für einige Amsterdamer Juden, als auch die Bewegung des falschen Messias Sabbatai Zewi und sie zeigt, dass sich in Rembrandts Spätwerk Judendarstellungen finden, deren Modelle eine neue Gruppe von Einwanderern sind: die durch die Pogrome in Polen 1640 in den Westen vertriebenen Ostjuden, die zerlumpt, verarmt und gerade mit dem Leben davon gekommen in Amsterdam eintreffen. 36 Bernhard Greiner: „‚Sujet Barre’ und Sprache des Begehrens: Die Autorschaft ‚Anna Seghers’“. In: Literatur der DDR in neuer Sicht. Frankfurt/Main: Peter Lang 1986, S. 46-79, hier S. 48. 37 Anna Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen. Berlin und Weimar: Aufbau 1987, S. 16/17. 64 Es tritt jemand geräuschlos in seine Kammer ein und bittet den Pfarrer, ihn zu dem Grab seines Vetters, eines kürzlich hier gestrandeten Kapitäns, zu führen. Als der Gast die Bibel auf dem Tisch erblickt, schaut er hinein. „Ich kann nicht begreifen“, sagte er höhnisch, wie ein vernünftiger Mensch an solchem Gefallen finden kann. Wenn man sich hierauf verlassen würde, könnte man glauben, dass die Menschen auf der Welt sind, um innen und außen die wunderbarsten Sachen zu erleben, die aber alle erst ein Vorspiel zu dem Großartigen sind, was am Schluß kommt. Und wie ist’s in der Wirklichkeit? Sie fahren ein bißchen auf dem Wasser herum, krepieren irgendwo und liegen den Rest der Ewigkeit mit hohlem Magen in der schmutzigen Erde. Der Pfarrer wurde nicht wild, sondern bekam ein Lächeln in die Augenwinkel. Ich finde, daß es ein prächtiges Buch ist. Ich weiß es von A bis Z auswendig und hätte ich noch mal zu leben, würde ich’s nochmals auswendig lernen. Es ist darin von allen die Rede, von Dummen und Klugen, Starken und Schwachen, Harten und Weichen, Seeleuten und geistlichen Herren. Und was die wunderbaren Sachen anbelangt, so erlebt jeder genau so viel, als er vertragen kann. 38 Nach diesem Gespräch, in dem Seghers’ eigene Haltung zur Bibel in der Rede des Pfarrers zu Wort kommt, gehen beide auf den Friedhof, wo sich herausstellt, was der Pfarrer und mit ihm die Lesenden längst ahnen, dass es sich um den toten Kapitän selbst handelt, dem es zu langweilig geworden ist und der den Pfarrer an seiner Statt in das eigene Grab legen will. Das bringt den Pfarrer nur zum Lachen. Er zeigt dem Toten einen Grabstein mit der Aufschrift: Hier ruht JAN SEGHERS gestorben auf der Insel Djal im Jahre des Herrn 1625 im kalomistischen Glauben in dem er lebte und geboren wurde zu Altmark 1548. 39 38 Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen (Anm. 37), S. 19/20. 39 Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen (Anm. 37), S. 24. „Kalomistisch“ erklärt Helen Fehervary in The mythic 65 Daraufhin befördert der Pfarrer den toten Kapitän wieder zurück in dessen Grab: Was aber mich anbelangt, so begnügte ich mich nicht damit, eine Hand herauszustrecken, einen Grabstein umzuwerfen oder einen Pfarrer zu erschrecken, sondern ich setzte Gott mit so wilden und zornigen Gebeten so lange zu, bis er mich auf die Fürbitte seiner sieben Engel noch einmal in meiner alten Gestalt ins Leben lassen musste. Ihr müsst nämlich wissen, Kapitän --- ich selber bin ein Toter! 40 In dieser ersten Erzählung der jungen Netty Reiling konstituiert sich die Autorschaft ‚Anna Seghers’ als ein Nacherzählen, ein wiederholtes Erzählen der Vergangenheit. Man könnte es ein haggadisches Erzählen nennen, ein erneutes, leicht verschobenes Erzählen biblischer Texte, das Fragen stellt und zum Nachdenken auffordert. Der totlebendige Pastor Jan Seghers ist eine Gegenfigur zum Hiob. Sein Ringen mit Gott ist auf das Leben gerichtet, nicht auf das Jenseits. Die Phantastik der Erzählung betont die noch einzulösenden Möglichkeiten der Autorschaft ‚Anna Seghers’. In Seghers’ frühen Texten aus den 1920er und 30er Jahren finden sich immer wieder Heldenfiguren, die anders als das phantastische Autorspiegelbild Jan Seghers scheitern. Im Erzählen von diesem Scheitern wird auf die noch ausstehende Möglichkeit der Erlösung hingewiesen. Sichtbar wird diese messianische Aufgabe der Heldenfiguren in den Fünkchen, die in ihren Augen glimmen und die sie weiter geben. Diese Fünkchen sind eines der wichtigsten literarischen Symbole in Seghers’ Texten. Sie tauchen bis in die letzten Erzählungen von 1980 (3 Jahre vor ihrem Tod) immer wieder auf. Ihre erzählerische Geschichtskonstruktion verwendet eine Bildlichkeit, die ähnlich zeitlich paradox gebaut ist, wie wir sie in Benjamins „Geschichtsthesen“ beobachten konnten: Als der Waisenjunge Andreas, für den die Teilnahme am Aufstand der Fischer von Santa Barbara sein erstes hoffnungsvol- Dimension. Ann Arbor Michigan 2001 als eine Zusammensetzung aus ungarisch kaland=Abenteuer und misztikus=mystisch, ebd. S. 77. 40 Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen (Anm. 37), S. 24/25. 66 les Erlebnis war, auf der Flucht von Soldaten erschossen wird, heißt es zum Beispiel: Andreas hörte noch mal „Halt!“, er rannte noch schneller, er hörte auch einen Knall, das war wie ein Händeklatschen: weiter – er rannte – , Andreas war schon umgefallen, hatte sich schon überkugelt, war in den Steinen hängengeblieben, das Gesicht unkenntlich zerschlagen – aber etwas in ihm rannte noch immer weiter, rannte und rannte und zerstob schließlich nach allen Richtungen in die Luft in unbeschreiblicher Freude und Leichtigkeit. 41 Die Dichotomien von Stillstand (Halt!) und Weiterbewegung (Rennen) werden im literarischen Bild zusammengefasst. Umgefallen, überkugelt, hängengeblieben, unkenntlich und zerschlagen: dieser Reihung gewaltsamer Auslöschung setzt Seghers ein dreimaliges Rennen und Zerstieben entgegen, das an die Zerstörung der Sefirot und die Versprengung der göttlichen Funken in der Lurianischen Kabbala erinnert. Seghers säkularisiert und literarisiert den Messianismus, indem sie dessen Denkbewegungen konsequent für die Befreiung der von Menschen unterdrückten Menschen einsetzt. In der Öffentlichkeit, „auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, [...] in der Welt des Sichtbaren“ 42 soll Erlösung stattfinden. Darin unterscheidet sich die jüdische Messias- und Endzeitvorstellung grundsätzlich von der christlichen, die die Erlösung im Bereich des Geistigen und Unsichtbaren ansiedelt, wie Scholem ausführt. Das erzählerische Eingedenken und die Bindung der Erlösung an die Welt des Sichtbaren begünstigen die verschiedenen Säkularisierungen jüdischen Messianismus’, wie wir ihn in den 1920er bis 1940er Jahren bei Benjamin, Ernst Bloch, Martin Buber und in literarischer Form auch bei Seghers finden. In der letzten Berliner Wohnung von Anna Seghers, die heute Gedenkstätte ist und besichtigt werden kann, findet sich in der umfangreichen Bibliothek Bubers erste Übertragung chassidischer Texte: Die Geschichten des Rabbi Nachmann von 1906, die 41 Anna Seghers: Aufstand der Fischer von Santa Barbara. In: dies.: Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 7-96, Zitat S. 94. 42 Vgl. Scholem: „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“ (Anm. 15), S. 121-167, hier S. 121. 67 Drei Reden über das Judentum (1920) und Die Legende des Baalschem, die sie ihrem Verlobten 1922 mit einer Widmung schenkte. Außerdem besaß Seghers mehrere Haggada Ausgaben und eine Bibelsammlung. 43 Seghers hatte sich nur die ihr wichtigsten Bücher von ihren Eltern nach Paris schicken lassen. Diese Bücher wurden nach dem Krieg noch unversehrt wieder gefunden, so dass die heute noch vorhandene Bibliothek ein gutes Bild zeichnet, von dem, was Seghers in dieser Zeit wichtig war. Später hat Seghers nie dezidiert auf ihre jüdische Herkunft aufmerksam gemacht, so dass der Hinweis auf jüdische Erzähltraditionen in ihrem Werk noch bis vor zwei Jahrzehnten einhellig als absurd gegolten hätte. Zu bedenken ist, dass die Bezeichnung und Kategorisierung als Juden von den Nationalsozialisten für die Vertreibung und Ermordung von Menschen funktionalisiert wurde. Eine Anerkennung dieser Bezeichnung hieße, sich mit den Kriterien der Nationalsozialisten einverstanden erklären. Das kam für Seghers wie auch für die große Mehrzahl der als Juden und Kommunisten vertriebenen Deutschen nicht in Frage. Gombrich formulierte diesen Umstand noch 1996 als Antwort auf eine Anfrage bei einem Festival österreichisch-jüdischer Kultur in London einen Vortrag zu halten: „[…] aber, um es klar heraus zu sagen, ich bin der Meinung, dass der Begriff der jüdischen Kultur von Hitler und seinen Vor- und Nachläufern erfunden wurde.“ 44 Hinzu kam nach dem Krieg für die überlebenden Juden in den kommunistischen Staaten der lebensbedrohliche Antisemitismus des Stalinismus. Die jüdische Erfahrung bleibt aber eines der unterschwellig in Seghers’ Texten ständig präsenten Themen. 45 43 Vgl. Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 19001947. Berlin: Aufbau-Verlag 2000, S. 100/101. 44 Ernst H. Gombrich: Jüdische Identität und Jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung. Wien: Passagen-Verlag 1997, S. 33. Hinzu kam bei Seghers der massive Antisemitismus des Stalinismus, der ihr Überleben im sozialistischen Teil Deutschlands in den 1950er und 1960er Jahren unterschwellig aber massiv gefährdete. Ihr Name wurde zum Beispiel beim Slansky-Schauprozess in Prag im Zusammenhang mit der ‚Verschwörung des jüdischen Finanzkapitals’ genannt, der mit dem Todesurteil für den Angeklagten endete. 45 Darauf wurde besonders auf der Tagung der Anna-Seghers-Gesellschaft 1996 unter dem Titel: Aspekte jüdischer Erfahrung im 20. Jahrhundert 68 Auch Seghers war mit den Kindern 1940 aus Paris geflohen und in Marseille gestrandet. 1941 gelang es ihr, mexikanische Visa und Plätze für die ganze Familie auf dem letzten Schiff, das Marseille Richtung ‚Neue Welt’ verließ, zu bekommen. Im mexikanischen Exil erfuhr Seghers’ Leben und Schreiben eine Wende. Seghers’ Vater war 1938 nach dem Novemberpogrom an Herzversagen gestorben. Ihre Mutter wurde, sie besaß 1942 zwar ein Visum nach Mexico aber nicht die benötigte Kaution von 450 Dollar, in ein polnisches Konzentrationslager deportiert. Vermutlich ist sie auf dem Weg dorthin gestorben. Sicherheit über den Tod der Mutter erlangte Seghers erst nach 1945, seit 1942 hatte sie aber keine Nachrichten mehr, so dass sie das Schlimmste befürchtete. 1943 wurde Seghers von einem Auto angefahren und lag mit schwersten Kopfverletzungen monatelang im Koma. Die Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen hatte Seghers vor ihrem Unfall begonnen. Ihre Vollendung ist ein Weg zurück ins Leben durch das Eingedenken. Dieser Text ist zugleich der einzige, in dem Seghers unverstellt von sich selbst in der Ich-Form spricht. Der Ausflug der toten Mädchen lässt die alte Mainzer Heimat, die Schulfreundinnen, die Lehrerinnen und die Eltern wieder lebendig werden. In der Hoffnung, dass mindestens einige von Ihnen diese „schönste Erzählung“ des 20. Jahrhunderts, wie Böll sie einmal genannt hat, kennen, will ich nur einen Aspekt dieses Textes hervorheben. Am Ende des Schulausflugs der Mainzer Mädchenklasse den Rhein hinunter erteilt die jüdische Lehrerin, die im gleichen Transport wie Seghers’ Mutter ermordet wurde, Netty den Auftrag, die Erlebnisse des Tages aufzuschreiben. Die Erzählerin resümiert: Nie hat uns jemand, als noch Zeit dazu war, an diese gemeinsame Fahrt erinnert. Wie viele Aufsätze auch noch geschrieben wurden über die Heimat und die Geschichte der Heimat und die Liebe zur Heimat, nie wurde erwähnt, dass vornehmlich unser Schwarm aneinandergelehnter Mädchen, stromaufwärts im schrägen Nachmittagslicht, zur Heimat gehörte. 46 hingewiesen. Vgl. Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-SeghersGesellschaft 6 (1997). 46 Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. In: dies.: Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 97-130, Zitat, S. 123. 69 Als Netty durch das völlig zerstörte und zugleich nicht zerstörte Mainz, die Bilder von Vergangenheit des Schulausflugs und Gegenwärtigkeit des Krieges 1943 verschwimmen surrealistisch ineinander, vom Ausflug nach Hause zurückkehrt, sieht sie ihre Mutter bereits wie immer auf dem Balkon nach ihr Ausschau halten. Ich stutzte vor dem ersten Treppenabsatz. Ich war plötzlich viel zu müde, rasch hochzusteigen, wie ich noch eben gewollt hatte. [...] Ich zwang mich zu meiner Mutter hinauf, die Treppe vor Dunst unübersehbar, erschien mir unerreichbar hoch, unbezwingbar steil, als steige sie eine Bergwand hinauf. Vielleicht war meine Mutter schon in den Flur gegangen und wartete an der Treppentür. Doch mir versagten die Beine. Ich hatte nur als kleines Kind eine ähnliche Bangnis gespürt, ein Verhängnis könnte mich am Wiedersehen hindern. [...] Die Stufen waren verschwommen von Dunst, das Treppenhaus weitete sich überall in einer unbezwingbaren Tiefe wie ein Abgrund. Dann ballten sich in Fensternischen Wolken zusammen, die ziemlich schnell den Abgrund ausfüllten. Ich dachte noch schwach: wie schade, ich hätte mich gar zu gern von der Mutter umarmen lassen. Wenn ich zu müd bin, um hinaufzusteigen, wo nehme ich da die Kräfte her, um mein höher gelegenes Ursprungsdorf zu erreichen, in dem man mich zur Nacht erwartet. 47 In surrealistischer Überblendung von mexikanischer Gegenwart und imaginierter Vergangenheit muss die Erzählerin erkennen, dass Mutter, Vater, Freundinnen und Heimat unwiederbringlich verloren sind. Vor Erschöpfung in der mexikanischen Mittagshitze in einem Häuserschatten zusammengesunken spürt sie „jetzt einen unermesslichen Strom von Zeit, unbezwingbar wie die Luft.“ 48 Diesem Strom von Zeit scheinbar wehrlos ausgeliefert, erinnert sie sich an den Auftrag der Lehrerin, „den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch heute Abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen.“49 Um dem Zeit-Sturm, der aus dem Paradiese herweht und uns von ihm wegtreibt, etwas entgegenzusetzen, erinnert sich 47 Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen (Anm. 46), S. 97-130, Zitat S. 128/129. 48 Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen (Anm. 46), S. 130. 49 Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen (Anm. 46), S. 130. 70 Seghers an die Aufgabe des Eingedenkens. Der Mund des Engels soll zum Sprechen gebracht werden. Das Erzählen wird zur Auftragsarbeit der jüdischen Lehrerin. Diesem Auftrag fühlt sich Seghers von jetzt an verpflichtet. Die zunehmende Bedeutung der Frauenfiguren im Werk nach 1945 fußt auf dieser Selbstverpflichtung auch gegenüber ermordeter Mutter und Lehrerin. Bedenkt man, dass die Zugehörigkeit zum Judentum matrilinear vererbt wird, wird deutlich, dass das Gedenken von Mutter und Lehrerin nicht nur, aber in besonderer Weise, den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus gilt.50 4. Nachdenken über Franz Kafka Inmitten des Kalten Krieges hat Seghers, indem sie für eine Rehabilitation des im Ostblock verfemten Autors Kafka eintrat, sehr deutlich auf ihre eigene künstlerische Prägung durch die literarische Moderne der 1910er und 1920er Jahre und versteckter auf die durch jüdische Erzähltraditionen hingewiesen. In ihrer Erzählung Die Reisebegegnung von 1973, die sie im Untertitel: „Eine kleine Literaturgeschichte“ nannte, lässt sie E.T.A. Hoffmann, Nikolai Gogol und Franz Kafka in einem Prager Café aufeinander treffen. Mit dem Eintreten für drei Autoren, die nicht zum Kanon des Sozialistischen Realismus gehörten und als dekadent und bourgeois galten, initiierte sie die Romantikrezeption in der DDRLiteratur der 1970er Jahre, die als erstes deutliches Aufbegehren gegen die doktrinäre Kulturpolitik in die DDR-Literaturgeschichte eingegangen ist. Auch in dieser Erzählung verwebt Seghers verschiedene Zeitebenen miteinander: die unterschiedlichen Lebenszeiten der drei Autoren, die Jetztzeit des phantastischen Treffens, also des Erzählten, und die des Erzählens. Das Thema des gemeinsamen Gesprächs ist das Verhältnis von Phantasie und Wirklichkeit in der Literatur. Entgegen der Doktrin des sozialistischen Realismus, die für Seghers nie bindend war, bestehen ihre drei Autorfiguren, auf der Zugehörigkeit von Träumen und Phantasie zur Wirklichkeit und damit auch zur Literatur. Ihren Kafka lässt sie ausdrücklich von seinen Erfahrungen mit 50 Vgl. u.a. Ernst H. Gombrich: Jüdische Identität und Jüdisches Schicksal (Anm. 44), S. 46. 71 dem jiddischen Theater, seinem jiddischen Freund Jizhak Löwy und dessen Erzählungen chassidischer Legenden sprechen. Eine dieser chassidischen Legenden erzählt Kafka Hoffmann und Gogol. Sie handelt von einem Vater, der seinen tödlich erkrankten Sohn auf dessen Willen zu einem Zaddik bringen will. Zweimal versucht er es, zweimal überredet ihn ein Fremder, nicht an solche Wundergeschichten zu glauben und wieder umzukehren. Nachdem der Sohn gestorben ist, trifft der Vater den Fremden ein drittes Mal. Als dieser vom Tod des Sohnes erfährt, gibt er sich als Teufel zu erkennen. Seine Freude über den Tod ist groß, denn wären der Zaddik und der Sohn zusammen gekommen, wäre die Welt erlöst worden. Dass Seghers hier auf eine chassidische Erzählung zurückgreift, die das Misslingen von Heilung und Erlösung in den Mittelpunkt stellt, was innerhalb des Buberschen Korpus sehr selten vorkommt, richtet den Blick wiederum auf das Zerschlagene, auf das Misslungene des geschichtlichen Prozesses und betont die Notwendigkeit des Eingedenkens. Um seine Auffassung vom Verhältnis von Phantasie und Wirklichkeit zu erklären, erzählt Kafka Hoffmann und Gogol seine Geschichte vom Kübelreiter, die Seghers fast vollständig als Zitat in ihren eigenen Text einbaut.51 Sie handelt von einem Ich, das im Kriegswinter 1917 kein Geld für Kohlen hat und sich im Fieberwahn auf den leeren Kohlenkübel setzt, und mit diesem hinunter zum Kohlenhändler reitet, um sich eine Schaufel Kohlen zu erbitten, die ihn vor dem Erfrierungstod retten sollen. Das Anliegen verhallt, weil der Kübel zu leicht ist und so Reiter und Pferd von der Frau des Kohlenhändlers mit der Schürze einfach hinweg gewedelt werden können, wie eine lästige Fliege. Benjamins Kafkaessay, den er im Pariser Exil schrieb und den er nachweislich sowohl mit Brecht als auch mit Scholem, nicht nachgewiesen aber wahrscheinlich auch mit Seghers diskutierte, besteht aus drei Abschnitten. Jeder dieser Abschnitte wird durch eine kurze Erzählung eingeleitet. Der dritte Abschnitt beginnt mit einer chassidischen Legende, auf die die Geschichte 51 Vgl. für eine genaue Untersuchung der Auslassungen: Sigrid Bock: „Anna Seghers liest Kafka“. In: Weimarer Beiträge 30 (1984) 6, S. 900915. 72 vom Kübelreiter folgt. Benjamin zitiert daraus den Ritt hinunter zum Kohlenhändler. Einen extra Hinweis ist ihm der Wind wert, der den „Regionen der Eisgebirge“, in denen der Kübelreiter sich am Ende verliert, günstig ist und der aus den „untersten Regionen des Todes“52 bläst. Das Bild vom Wind und vom Reiter variiert Benjamin fortlaufend, um der Texte Kafkas habhaft zu werden, ohne sie in eine der damals schon etablierten Schablonen der Kafkarezeption einzuordnen. Die von ihm vorangestellte chassidische Legende erzählt von einem armen, völlig abgerissenen Mann, der in einer Kneipe auf der Ofenbank sitzend als letzter der Anwesenden auf die Frage nach dem, was er sich wünsche, seine eigene Herkunft und damit seinen Weg vom König, der von Feinden verjagt wird und am Ende der Flucht völlig mittellos in dieser Gaststätte ankommt, erzählt. „Verständnislos sahen die anderen einander an. – „Und was hättest du von diesem Wunsch?“ fragte einer. – „Ein Hemd“ war die Antwort.“ 53 Dieses eine Hemd hatte er seiner Erzählung hinzuphantasiert, das war es, was er vergessen hatte und sich jetzt wünschte. Benjamin kommentiert: „Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht.“54 Der Sturm des Vergessens, der das Bild vom Engel vorwegnimmt, ist es, dem die Figuren Kafkas sich in Benjamins Interpretation meist erfolglos, aber immer mit all ihrer letzten Kraft entgegenstellen, sei es in Der Prozess oder in Das Schloss oder eben in Der Kübelreiter. So tut das auch der König in der von Benjamin vorangestellten chassidischen Legende durch seine Erzählung: „So reitet auf der Ofenbank der Bettler seiner Vergangenheit entgegen, um in der Gestalt des fliehenden Königs seiner selbst habhaft zu werden.“55 Das Erzählen ist ein Ritt der Vergangenheit entgegen. Der Sturm des Vergessens stellt sich diesem Ritt entgegen. Die rückwärtsgewandte Stillstellung des Geschehens durch die sich gegenseitig aufhebenden Kräfte erinnert an die Möglichkeit einer 52 Walter Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa. In: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 436. 53 Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa (Anm. 52), S. 433. 54 Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa (Anm. 52), S. 436. 55 Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa (Anm. 52), S. 436. 73 Erlösung. Benjamin zitiert den von Max Brod tradierten Ausspruch Kafkas auf die Frage nach der Möglichkeit von Hoffnung: „Er lächelte: ‚Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.’“56 Dass aber trotzdem erzählt wird, immer wieder und immer wieder neu, hält die Pforte offen, durch die der Messias wird eintreten können, erinnert an die Möglichkeit von Erlösung, sei es messianischer oder menschlicher Art. Erzählen in „finsteren Zeiten“57, wie es Hannah Arendt genannt hat, verbindet die hier betrachteten Texte und AutorInnen. Das Bild vom Engel der Geschichte steht für diese die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts prägende Konstellation. Es drängt sich vielleicht die Frage auf: aber kann man das nicht überall finden in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts? Sind das nicht so allgemein verbreitete Topoi und Erzähltraditionen, dass es sich erübrigt, sie als jüdische zu bezeichnen? Wenn Sie diese Gedanken während der Vorlesung beschlichen haben sollten, dann bleibt mir nur übrig, mich zu freuen. Nicht die Klassifizierung im Sinne einer Diskriminierung des Jüdischen vom Deutschen war mein Ziel, sondern einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sehr jüdische Traditionen essentieller Teil der deutschen Kultur und Literatur sind. Auch diese Konstruktion diente dem Gedächtnis der Namenlosen. 56 Benjamin: „Franz Kafka“ (Anm. 19), S. 253. Hannah Arendt: „Walter Benjamin“. In: dies.: Benjamin, Brecht. Zwei Essays. München: Piper (1971), S. 28. 74 57 Toni Tholen ‚Schwebe-Religion‘. Von Bettina von Arnim bis Pina Bausch Freitag, 4. November 2011. Als ich heute Morgen nach dem Frühstück aus dem Fenster schaue, blicke ich weit hinaus auf die in den wundervollsten gelben, roten und bräunlichen Farben leuchtenden Bäume. Die goldene Herbstsonne, die uns schon eine ganze Weile mit ihrem warmen Licht verwöhnt, lässt die nähere und weitere Umgebung unseres Hauses in einer Schönheit erscheinen, die mich tief berührt. Es ist zugleich der Morgen, an dem ich mir vorgenommen habe, die Gedanken, die ich mir bereits seit Wochen über meine Vorlesung zur Schwebe-Religion mache, zu verschriftlichen. Etwas unruhig und ungeduldig durch mein Arbeitszimmer gehend, steht mir plötzlich vor Augen, über was ich eigentlich schreiben wollte, als ich mehr kühn als wohl überlegt vor einiger Zeit schon den Titel der Vorlesung für die Programmplanung formuliert hatte. Jetzt glaube ich zu wissen, welche Verbindung zwischen der Romantikerin Bettina von Arnim und Pina Bausch besteht. Jetzt fasse ich Mut, diesen großen Bogen vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart zu schlagen. Und jetzt steht mir mit einem Mal klarer vor Augen, in welcher Weise die Schwebe-Religion, die Bettina von Arnim auf den Begriff gebracht hat, ganz bestimmte Verbindungslinien zieht zu zwei Autoren im 20. Jahrhundert, über die zu schreiben ich mir zuvor ebenfalls schon vorgenommen hatte: Rainer Maria Rilke und Robert Musil; beides Autoren, die mich schon seit Jahren begleiten und als deren philologischer Begleiter ich mich selbst irgendwann auserkoren habe, wahrscheinlich weil ich zu realisieren begann, dass ich sie brauche. Diese philologische Anhänglichkeit an bestimmte Autorinnen (auch Bettina gehört dazu) und Autoren setzte in den 1990er Jahren ein, in einer Zeit des Taumels, der Auflösung der Identitäten, des Karnevals und der Orientierungslosigkeit. Die Welt zog sich damals zurück in die schmucken Verließe des Ästhetizismus. Der globale Kapitalismus begann zu wüten, gleichzeitig wurde die Welt mit einer medialen Revolution überzogen, und der Literatur traute man zunehmend weniger zu. 75 Sie begann, ein mehr oder weniger komfortables Nischendasein zu fristen, und nicht wenige der mit ihr hauptamtlich beschäftigten Literaturwissenschaftler schienen sich damit begnügen zu wollen, denn auch sie schotteten sich mit ihren ästhetizistischen Theorien der Referenzlosigkeit oder der Selbstreferenzialität der Literatur in jenen berühmten akademischen Elfenbeinturm ab, aus dem einige von ihnen nun allmählich wieder entfliehen wollen. Nur wie? Mit welchen Theorien, mit welchen Methoden, mit welcher Sprache und Begrifflichkeit? Auf welchen intellektuellen und ästhetischen Wegen? Ich blicke wieder auf die bunten Bäume. Und ich denke mir: Sei’s drum. Dieses Problem muss ich hier und heute nicht lösen. Ich habe stattdessen eine andere Gewissheit. Und ich weiß jetzt, worum es in der Vorlesung im Wesentlichen gehen soll: Um etwas Schlichtes und Einfaches – um das Ergriffen-Werden. Ich meine nämlich, dass das Ergriffen-Werden etwas ist, das gleichermaßen in der Religion und in der Literatur geschieht, vorsichtiger gesagt: geschehen kann. Nun bin ich kein Theologe und möchte in Bezug auf die Religion nur aus der Erfahrung eines in Kindheit und Jugend intensiv sozialisierten Katholiken sprechen. Aber als jemand, der sich seit längerem schon professionell mit Literatur und Ästhetik beschäftigt, möchte ich behaupten, dass es für die Literatur und überhaupt für alle Künste maßgeblich ist, dass die ästhetische Erfahrung von Kunstwerken auch ein Ergriffen-Werden, ein Berührt-Werden ist. Man muss, um die Bedeutung der affektiven Dimension ästhetischer Erfahrung zu betonen, als Literaturwissenschaftler nicht wieder an methodische Positionen der 1950er Jahre anknüpfen, um in einem Aspekt Emil Staiger, dem berüchtigten Vertreter der sog. Werkimmanenz, doch auch Recht zu geben, wenn er nämlich in seinem berühmten Buch Die Kunst der Interpretation schreibt: „Zuerst verstehen wir eigentlich nicht. Wir sind nur berührt; aber diese Berührung entscheidet darüber, was uns der Dichter in Zukunft bedeuten soll.“1 Wie gesagt, man muss die Implikationen der werkimmanenten Methode – ihren offenkundigen Elitarismus, den engen Kanon, 1 Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation [1955]. München: dtv 1971, S. 9. 76 die hermeneutischen Prämissen – nicht wiederbeleben, um gleichwohl dem zitierten Gedanken Staigers sechzig Jahre später noch oder vielleicht wieder etwas abgewinnen zu können. Ob wir nicht auch schon verstehen, wenn wir berührt werden, soll dahin gestellt sein. Dass allerdings das Berührt-Werden etwas elementar Wichtiges bei der Rezeption von Literatur und Kunst ist, ähnlich wie in der Religion, steht für mich außer Zweifel. Die genannten Künstlerinnen und Künstler: Bettina von Arnim, Rilke, Musil und Pina Bausch (sowie Wim Wenders, auf dessen Film Pina ich gegen Ende der Vorlesung eingehen werde) haben das Ergriffenund Berührtwerden in ihren Werken zwar in unterschiedlicher Weise thematisiert, aber eines ist ihnen gemeinsam: Sie tun es, so mein Leitgedanke, in Form einer Poetik des Schwebens, die ihre Ursprünge in der Romantik hat. Kennzeichen dieser Poetik des Schwebens ist, dass sie bestimmte Vorstellungen von Geist, Freiheit, Tätigkeit, Liebe und Schönheit miteinander verwebt. Diese Vorstellungen bilden in der Poetik des Schwebens gewissermaßen ein begriffliches Netz, in dem jedes Zeichen immer wieder mit allen anderen verwoben wird und an die Stelle des anderen Zeichens rücken kann. Dieses Netz ist ein lebendiges Ganzes, und als solches ist es in der Schwebe. Und weil es in der Schwebe ist, nimmt es keine festen Formen an. Das lebendige Ganze wird nicht ‚Gestalt’, wie es der Klassiker Schiller vom Kunstwerk fordert, sondern es ist Moment, Bewegung, Hingabe, fortgesetzte Tätigkeit und damit so etwas wie formlose Form. Diese macht aber den Kern romantischer Poesie und Poetik von Beginn an aus. Wenn Friedrich Schlegel im Jahre 1798 in seinem berühmten Athenäums-Fragment 116 die romantische Poesie als progressive Universalpoesie bestimmt, tut er dies unter Zuhilfenahme der Schwebe-Metapher. Dort heißt es: „Und doch kann auch sie [die progressive Universalpoesie] am meisten zwischen dem Dargestellten und Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse, auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben.“ 2 Und wenige Zeilen später heißt es: „Die 2 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment 116. In: ders.: Kritische Schriften und Fragmente [1798-1801], Studienausgabe, Bd. 2, herausgegeben von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn-München-WienZürich: Schöningh 1988, S. 114f. Das folgende Zitat findet sich ebd. 77 romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ Nach Schlegel ist die romantische Poesie erstens frei, zweitens ist ihr Medium das geistig-luftige Element, in dem sie schwebt, und drittens hat sie ihr Wesen im Werden, in der unaufhörlichen Progression und nicht in der vollendeten Form. In diesen drei Aggregatzuständen ist die Poesie der romantischen Erfahrung des Religiösen nahe. Denn auch der Charakter des Religiösen ist fließend, progressiv. Es ist nicht ganz richtig, wenn Rüdiger Safranski in seinem Romantik-Buch als göttlich „die Erfahrung des Ewigen im Endlichen“3 bezeichnet. Genauer wäre es, die von der Romantik formulierte immanente Transzendenz als Erfahrung des Unendlichen im Endlichen zu fassen. Folgen wir den Reden des frühromantischen Dichters und Theologen Schleiermacher Über die Religion, so ist das Religiöse der „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ 4. Seine Erscheinungsweise ist das Ereignis. Und das Religiöse ereignet sich dort, wo es nicht unter Regeln steht, keine Institution bildet, sondern frei und schöpferisch ist: in der lebendigen Mitteilung, in der Sehnsucht, im Unendlichkeitssinn, in der Ironie und in der offen-schwebenden literarischen Form wie zum Beispiel im romantischen Fragment. Bettina von Arnim ist es vorbehalten gewesen, für all diese freie und schöpferische, stets im Werden und in der Bewegung befindliche Tätigkeit, eine Tätigkeit, die sich wesentlich an ein Du richtet und deshalb Mitteilung und Teilnahme ist, eine bezwingende Losung zu finden: Schwebe-Religion. Bezeugt wird ihre Urheberschaft im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, wo ein eigenes Lemma ‚Schwebereligion’ aufgeführt wird und wo es, allerdings eher abschätzig, heißt: „dieses evangelium soll eine neue religion verkünden, ‚eine schwebereligion’, wie die stifterin (Bettina) es selber nennt, womit sie wohl, ohne es zu wollen, die eigene unklarheit über das neue christenthum andeutet.“ 5 Es 3 Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt/Main: Hanser 2009, S. 143. 4 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799]. Stuttgart: Reclam 1985, S. 36. 5 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 15. München: dtv 1991, Sp. 2380f. 78 ging Bettina um alles andere als darum, die geeignete Begrifflichkeit für ein neues Christentum zu finden. In ihrem GünderodeBuch nennt sie das, worum es ihr geht, beim Namen: Sie will eine „große Sprache“ 6 sprechen, wie ‚unklar‘ diese auch immer sein mag. Und Bettina tut dies nicht monologisch, sondern dialogisch, in Gestalt eines Briefgesprächs. Nachdem sie mit ihrem Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde im Jahre 1835 erstmals als Autorin ans Licht der Öffentlichkeit getreten war, begann sie kurz darauf an einem zweiten Buch zu arbeiten, das die Jugendfreundschaft zu Caroline von Günderrode zum Gegenstand hatte. Es ging Bettina auch darum, „sich von der psychischen Last der Erinnerung an Günderrodes Selbstmord [im Jahre 1806], den sie trotz aller Liebe und Unterstützung für die Freundin nicht hatte verhindern können, schreibend zu befreien“ 7. Dazu bearbeitete sie vor allem ihren Jugendbriefwechsel. Im Jahre 1840 erschien der Roman schließlich mit dem Titel Die Günderode. Er umfasst 23 Briefe ‚Günderodes’ und 37 Briefe ‚Bettines’. Die Forschung geht davon aus, dass fast alle Briefe interpoliert wurden. Die Günderode ist gewiss ihr poetisch und philosophisch komplexestes Werk. Es bewegt sich auf der Höhe des poetologischen, ästhetischen und philosophischen Diskurses der Zeit und wendet sich dabei kritisch gegen das als destruktiv empfundene, starre philosophische Systemdenken etwa Kants oder auch Fichtes.8 Wie oben schon angedeutet: Bettina von Arnim möchte eine „große Sprache“ finden, und diese große Sprache will sie mit der Anderen, der Freundin, zusammen entwickeln. In diesem Sinne wendet sie sich an die Günderrode mit den Worten: „Wir müssen uns miteinander abschließen; in der Natur, da müssen wir Hand in Hand gehen und miteinander sprechen nicht von Dingen, sondern eine große Sprache.“ (G, 176) Am Ende desselben Briefes schlägt sie der Freundin emphatisch vor, eine Religion für die Menschheit zu stiften: „ein Sein mit Gott“ (G, 178). Und den Brief abschlie6 Bettina von Arnim: Die Günderode [1840]. Mit einem Essay von Christa Wolf. Frankfurt/Main: Insel 1983, S. 176. Fortan werden Zitate im Text nachgewiesen mit der Sigle G und Angabe der Seitenzahl. 7 Konstanze Bäumer, Hartwig Schultz: Bettina von Arnim. StuttgartWeimar: Metzler 1995, S 32. 8 Vgl. ebd., S. 34. 79 ßend heißt es in appellativem Duktus: „Ein bisschen Spazierenreiten in den Himmel“ (ebd.). Das ist die ultimative Formel für das Feuer, das Bettina in sich entfacht fühlt und das sie dazu treibt, die Freundin für ihr Vorhaben zu gewinnen, freilich auch, um diese von ihren dunklen Momenten und ihrem zerstörerischen Vorsatz, sich selbst im künstlerischen Werk auszulöschen, abzubringen. Von ihrer Menschheits-Vision und intensiven HemsterhuisLektüren besetzt, ergibt sich Bettina ein neuer Zusammenhang von Religion und Literatur, und sie schreit es förmlich der Freundin schon im nächsten Brief entgegen: „Gott ist Poet“ (G, 179). Und weiter: [...] das eine habe ich behalten, daß Gott die Poesie ist, daß der Mensch nach seinem Ebenbild geschaffen ist, daß er also geborner Dichter ist; daß aber alle berufen sind und wenige auserwählt, das muß ich leider an mir selber erfahren; aber doch bin ich Dichter, obschon ich keinen Reim machen kann; ich fühl’s, wenn ich gehe in der freien Luft, Wald oder an den Bergen hinauf, da liegt ein Rhythmus in meiner Seele, nach dem muß ich denken [...]. (G, 180) Die Bilder und Gedanken, die ‚große Sprache’, die beginnt, sich in der Ansprache der Freundin zu formen, versetzt Bettina von Arnim in einen rauschhaften Zustand; dementsprechend kann sie ihren Brief nur schließen durch die Ankündigung eines nächsten am darauffolgenden Tag schon: „Ach Gott, ich schlaf gar nicht mehr, gute Nacht; alleweil fällt mir ein, unsre Religion muß die Schwebe-Religion heißen, das sag ich Dir morgen“ (G, 182). Ja, im Rausch einer Idee fallen einem auch die Zauberworte zu, mit Hilfe derer plötzlich die Welt aus den Angeln gehoben werden kann. Der Günderode-Roman ist unter dem transzendentalen Signifikanten ‚Schwebe-Religion’ auch ein einzigartiger kreativer Schreib- und Überarbeitungsprozess. Die göttliche Schöpfung transformiert sich via den Lehrsatz der Ebenbildlichkeit in den sprudelnden Sprach- und Schreibfluss der romantischen Autorin. Und das, was sie schreibt, hat kein System und keine klare Form, weswegen sie von der Freundin bisweilen (vgl. G, 207-209) und nicht nur von ihr gescholten wird. Dafür hat es Rhythmus. Um Bettinas Sprache zu verstehen, muss man dem ‚Rhythmus ihrer Seele’ lauschen, und das ist einer, der einen in die Schwebe versetzt, und zwar, weil die ‚große Sprache’ ‚nicht 80 von Dingen’ handelt, also nicht vergegenständlicht, nicht bezeichnet, nicht referenzialisiert, sondern die Subjektivität in Bewegung bringt. Ihr Schreiben ist lebendige Form und dieser lebendigen Form prägt sie ihre eigene Art da zu sein ein. 9 Um dieser eigenwilligen Weise, da zu sein, dieser unvergleichlichen romantischen Subjektivität noch mehr auf die Spur zu kommen, müssen wir die Schwebe-Religion ein wenig weiter ausbuchstabieren. Sie enthüllt sich bei aufmerksamer Lektüre des Günderode-Romans als ein Gewebe von Bildern und Gedanken, aber auch von starken Affekten, die insbesondere in der Hinwendung an die dritte göttliche Person: den Hl. Geist, entstehen. Auch wenn die Schwebe-Religion alles andere als eine neue institutionalisierte Christenheit begründen soll, so verbindet Bettina von Arnim gleichwohl mit ihr bestimmte Grundsätze bzw. Lebenseinstellungen. So soll man vom Begehren nach Reichtum und der mit ihm verbundenen Macht ablassen, um zur Weisheit zu gelangen: Zum Beispiel: man kann nicht von der Luft leben! – Ei, das könnt doch sehr möglich sein, und es ist eine sehr dumme Behauptung, die der Teufel gemacht hat, um den Menschen an die Sklavenkette zu legen des Erwerbs, daß man nicht von der Luft leben könne, daß er nur recht viel habe. Wer viel hat, der kann vor lauter Arbeit nicht zur Hochzeit kommen; und von der Luft lebt man doch allein, denn alles, was uns nährt, ist durch die Luft genährt, und auch unsere erste Bedingung zum Leben ist Atemholen. (G, 190) Bettina von Arnim verbindet die Aufforderung, von der Luft zu leben, mit einem Leben im Geist, und dieses Leben mit geistiger Nahrung muss selbstbestimmt, autonom sein: „sein eigner Herr bleiben, das muß ein Gesetz unserer schwebenden Religion sein“ (G, 191). Und gerade im Element der Luft verbindet sich Gott als Geist, als Lebensgeist mit den nach Weisheit hungrigen Menschen, deren Daseinsbedingung einzig und allein die Freiheit ist und – die Kreativität. 9 Vgl. dazu auch Toni Tholen: „Bettina von Arnim“. In: ders.: Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion. Heidelberg: C. Winter 1999, S. 226-235, hier S. 232. 81 Bettina strebt Unsterblichkeit als „innerste[n] Kern“ (G, 200) der Schwebe-Religion an. Diese ist freilich nur im Zusammenhang mit dem ästhetischen Imperativ der Romantik schon seit ihren Anfängen um 1800 zu verstehen. Wenn Friedrich Schlegel die Ironie – für ihn die paradigmatische Gestalt frühromantischer Subjektivität – als Bewusstsein der ewigen Agilität bestimmt, dann findet diese Bestimmung bei der jüngeren Geistesverwandten noch vierzig Jahre später Resonanz. Schwebe-Religion ist für Bettina nicht primär ein kontemplativer Zustand, vielmehr realisiert sie sich in der Bewegung, „in der lebendigen Mitwirkung aller Kräfte“ (G, 201), auf dass „alles tätig und rasch sei in uns“ (ebd.). Sie steht unter dem ästhetischen Imperativ, „immer Neues [zu] schaffen“ (ebd.) und in dieser Dynamik entpuppt sie ihre Aufwärtsbewegung, welche schon in dem Bild des ‚Spazierenreitens in den Himmel’ enthalten ist. Das Gipfelstürmerische dieses an die Genieästhetik des Sturm und Drang erinnernden Transzendierens, welches sich anschickt, den produktiv-tätigen Menschen den Göttern auf Augenhöhe begegnen zu lassen, fasst Bettina in folgendem Wortlaut zusammen: „Ach, das ist’s – dann steigt man allein auf die Berggipfel und atmet die Lüfte ein im Nachtwind, in denen der Genius uns anhaucht vor Lust und Dank, daß er ohne Sünde, ohne Verleugnung wiedergeboren ward in uns [...].“ (G, 202) Auf dieser Höhe erst – und für die interessiert sich auf andere Weise auch die korrespondierende Freundin, welche Bettina antwortet, sie hänge sich an die „Gipfel der Lebenshöhen wie das junge Gefieder“ (G, 187) – wird die Begegnung mit Gott möglich. Er begegnet der Schreibenden als Geliebter in der dritten göttlichen Person, dem Hl. Geist. Der Hl. Geist aber ist kein Du. Gott begegnet hier nicht als Gegenüber, er wird nicht in der 2. Person angesprochen. Das bedeutet, dass die Liebe, die nun den inneren Kern der Schwebe-Religion ausmacht, hier nicht im Sinne mittelalterlicher unio mystica zu verstehen ist. Es findet keine Vereinigung der Erleuchteten mit Gott bzw. Jesus statt, sondern der Hl. Geist ist bei Bettina das Medium oder auch das Kraftzentrum, innerhalb dessen die Vereinigung von Kunst und Leben, Schönheit und Liebe, Freundschaft und Sehnsucht statthat. Bettina schreibt sich, an die Freundin gewendet, wie im Rausch in dieses Kraftzentrum hinein: 82 [...] und Du lasest mir vor am Morgen, was Du am Abend gedichtet hattest; da sah ich mich immer nach dem um, der Dir’s wohl vorbuchstabiert hätt, der Klang, der riß mich hin, ich ahnte, es war der Geist, der auch mir begegnet draus, wenn ich auf der Höhe steh, und er braust von ferne daher, beugt die Wipfel auf und nieder und kommt näher und näher und fährt grad auf mich zu – umschlingt mich! wer soll’s sein? – wer kann’s wehren? – ich fühl seine Weisheit, seine Liebe ist Rhythmus. – Was ist Rhythmus? – Widerhall der Gefühle am großen Himmelsbogen, daß es schallt! – zurück! macht sich uns hörbar, was wir fühlten, daß es zärtlich anschlägt ans Ohr der Seele bis tief ins Herz, das ist Rhythmus, das ist der Heilige Geist [...]. (G, 203f.) Versuchen wir, das Zitierte ein wenig zu verstehen: Wer oder was ist der Hl. Geist? Er ist Rhythmus. Was ist Rhythmus? Seine Liebe ist Rhythmus. Und dieser ist der „Widerhall der Gefühle am großen Himmelsbogen“, mit anderen Worten: Erweiterung der Seele, Resonanz auf die Liebe der Liebenden im Weltseelenraum. Der Rhythmus als Liebe ist aber auch die synästhetische Gemeinschaft oder die gemeinschaftliche Synästhesie („macht sich uns hörbar, was wir fühlten, daß es zärtlich anschlägt ans Ohr der Seele“) der Freundinnen, deren Symexistenz sich hier synästhetisch offenbart. Die von Bettina von Arnim ins Zentrum ihrer SchwebeReligion gestellte Verbindung von Liebe und ästhetischem Erleben, das zugleich schöne Tätigkeit und Hingabe ist, hat so manchen Schriftsteller auch im 20. Jahrhundert bewegt. Man hat sich meines Wissens aber bisher weder in der Literaturwissenschaft noch in der philosophischen Ästhetik darum bemüht, eine moderne Poetik des Schwebens von Bettina von Arnims Werk ausgehen zu lassen. Der Tübinger Philosoph Walter Schulz schreibt 1985 ein gewichtiges Buch zum Thema mit dem Titel Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik, in dem er dem Zustand der Ungesichertheit des Subjekts in Philosophie und Kunst nachgeht und dabei auf die Romantiker Novalis und Friedrich Schlegel und in der Folge auf kanonische Autoren des 20. Jahrhunderts wie Rilke, Kafka, Joyce, Musil und Beckett ein- 83 geht. 10 Diese Untersuchungen finden ohne Erwähnung Bettina von Arnims, geschweige denn einer anderen Autorin statt. Seit einigen Jahren aber wissen wir durch die Arbeiten Christa Bürgers, besonders aus ihrem Buch Das Denken des Lebens, in dem sie den Lebens- und Schreibbewegungen von Autorinnen aus vier Jahrhunderten nachspürt, dass das Schweben eine in Texten von Frauen wiederkehrende und deren Ästhetik prägende Figur ist.11 Es gibt indessen einen Autor, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bettinas Schwebe-Religion explizit aufgenommen und sie in seinem Sinne poetologisch weitergedacht hat: Rainer Maria Rilke. Rilke hat das Potenzial des Gedankens erkannt und Bettina von Arnim in seinem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) dafür ein Denkmal gesetzt. Was Rilke daran neben der Person Bettina von Arnims im Umkreis der Romantiker und Goethes fasziniert, hat mit seiner eigenen Poetik zu tun. Diese geht nämlich auf die intensive Beschäftigung mit der Literatur von Frauen zurück, so etwa mit Texten von Sappho, Gaspara Stampa oder eben von Bettina von Arnim selbst. In seinem umfangreichen Briefwechsel mit Frauen entwickelt er überdies seine Gedanken zur Liebe zwischen den Geschlechtern. Und schließlich führt ihn beides dazu, in seinen Texten und Briefen von männlicher Seite aus eine Entwicklung zu fordern, welche darin besteht, „unseren [männlichen] Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns zu nehmen“ 12. In einem Brief an Annette Kolb vom 23. Januar 1912 wird Rilke sehr deutlich, wenn er im Verhältnis zur Frau von „der absoluten Liebesunzulänglichkeit des Mannes“ spricht und anschließend seiner Erwartung Ausdruck verleiht, dass „der Mann […], der dabei ist, vorläufig ‚in die Brüche zu gehen’, nach dieser ihm gewiß sehr gesunden Pause, für ein paar Jahrtausende zunächst, die Entwicklung zum ‚Liebenden’ auf sich nimmt, eine 10 Vgl. Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik. Pfullingen: Neske 1985. 11 Vgl. Christa Bürger: Das Denken des Lebens. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. 12 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge [1910]. In: ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden, Bd. 11, herausgegeben vom Rilke-Archiv. Frankfurt/Main: Insel 1975, S. 834. Fortan werden Zitate im Text nachgewiesen mit der Sigle A und Angabe der Seitenzahl. 84 lange, eine schwere, ihm völlig neue Entwicklung.“13 Rilke selbst ist der von ihm diagnostizierten männlichen Liebesunzulänglichkeit ein Leben lang nicht entkommen. Dafür hat er die Arbeit der Liebe zur Triebkraft seines Schreibens gemacht. Die Liebe als poetologische Energie entwickelt er in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, und zwar ganz ähnlich wie Bettina von Arnim, im Rahmen einer gemeinsamen Lektüre. Malte und seine Tante Abelone lesen gemeinsam Bettines Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Malte berichtet von dieser gemeinsamen Lektüre im Rückblick und hält fest, dass Bettinas Briefe zu den wenigen Büchern gehören, von denen er sich nicht trennt. Den Grund dafür erhellt folgendes Bekenntnis des jungen Literaten: Nein, Bettine ist wirklicher in mir geworden, Abelone, die ich gekannt habe, war wie eine Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie in ihrem eigenen, unwillkürlichen Wesen. Denn diese wunderliche Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt. Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so ausgebreitet, als wär sie nach ihrem Tod. […] Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht die Erde noch warm von dir, und die Vögel lassen noch Raum für deine Stimme. Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne deiner Nächte. Oder ist nicht die Welt überhaupt von dir? denn wie oft hast du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und hast sie lodern sehen und aufbrennen und hast sie heimlich durch eine andere ersetzt, wenn alle schliefen. Du fühltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn du jeden Morgen eine neue Erde von ihm verlangtest, damit doch alle drankämen, die er gemacht hatte. Es kam dir armsälig vor, sie zu schonen und auszubessern, du verbrauchtest sie und hieltest die Hände hin um immer noch Welt. Denn deine Liebe war allem gewachsen. (A, 897f.) Bettine ist in ihren Briefen für Malte eine Liebende, die schreibend Raum gibt für die Liebe zur Welt. Sie ist als Liebende Schreibende zugleich Schöpferin einer Welt, die in „Einklang mit Gott“ steht, insofern sie jeden Morgen eine neue wird. Malte beklagt im Anschluss, dass der größte Dichter, Goethe, in seinen Antworten dafür gesorgt hat, dass Bettinas poetische Schwebe13 Rainer Maria Rilke: „Brief an Annette Kolb vom 23.1.1912“. In: ders.: Mitten im Lesen schreib ich Dir. Ausgewählte Briefe, herausgegeben von Rätus Luck. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 142f. 85 Religion der Liebe keine Anerkennung bei den Zeitgenossen fand. Rilke holt dies nach, wenn er Malte sagen lässt, dass Goethes Nicht-Anerkennung von Bettinas elementarem Liebes-Geist die „Grenze seiner Größe“ (A, 898) war: „Diese Liebende ward ihm [Goethe] auferlegt, und er hat sie nicht bestanden.“ (Ebd.) Betrachten wir nicht in erster Linie die Kritik am Weimarer Dichterfürsten, welche freilich immer auch als aemulatio gedeutet werden kann, sondern die Leistung Bettina von Arnims in Maltes Perspektive, so bezieht sich das Interesse und die Wertschätzung nicht auf eine Liebe, die sich in der Hingabe an ein Du bzw. in der wechselseitigen Zuneigung zweier Liebender erfüllt, sondern auf eine intransitive Liebe. Die Liebe, die hier in der Gestalt Bettina von Arnims gepriesen wird, ist ohne Gegenüber: „Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört sich selbst.“ (Ebd.) An späterer Stelle des Romans heißt es, dass Malte sich mit Abelone in der Sehnsucht einig wusste, der „Liebe alles Transitive zu nehmen“ (A, 937), d.h. eben, Liebe nicht mehr in der Reziprozität von Lieben und Geliebtwerden zu verstehen, kein Objekt von Liebe mehr zu denken, geschweige denn, selbst eins sein zu wollen. Positiv formuliert: Die intransitive Liebe ist eine kontinuierliche Aktivität des Liebens, die sich keinen bestimmten Menschen sucht. Stattdessen nimmt in Rilkes Roman die leer bleibende Stelle des Geliebten in gewisser Weise Gott ein. Der göttliche Geliebte erscheint aber nicht im personalen Bezug als ein Du, sondern ist „nur eine Richtung der Liebe“ (A, 937). Tante Abelone nachdenkend, die den Bezug zu Gott nicht hergestellt hatte, fragt sich Malte: „Wußte sie [Abelone] nicht, daß keine Gegenliebe von ihm [Gott] zu fürchten war? Kannte sie nicht die Zurückhaltung dieses überlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns, Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder wollte sie Christus vermeiden?“ (A, 937) Gott steht hier wie schon bei Bettina von Arnim selbst für eine Liebe, die nichts mit mystischer unio zu tun hat, sondern Gott in der dritten Person aufsucht. Wenn Gott uns unser ganzes Herz leisten lässt, heißt das für den Sterblichen, „den unendlichen Weg“ (ebd.) einzuschlagen und in der Sehnsucht zu bleiben. Malte bricht am Ende des Romans nicht, wie es die explizit erwähnte biblische Erzählung vom verlorenen Sohn 86 suggeriert, nach Hause auf, sondern zu Gott. Aber nicht, um in seine Nähe zu kommen, sondern um ihn in seinem unermesslichen Abstand zu erfahren. Denn nur in diesem Abstand, in der unendlich entfernten Liebe hält seine Liebes- und Dichterkraft sich in der schöpferischen Schwebe, die von Bettina im Projekt der Schwebe-Religion begehrte ‚große Sprache’ zu sprechen und zu schreiben. In diesem Zusammenhang lässt sich folgende Passage aus dem Malte-Roman auch als poetologische Konfession Rilkes selbst lesen: […] die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit […] Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm, daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe. Aber während er sich sehnte, endlich meisterhaft geliebt zu werden, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand. Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den Raum; Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens. Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. (A, 943) Eine „herrliche Sprache“ hören und darin dichten wollen – das ist die Resonanz eines Dichters auf die ‚große Sprache’ Bettinas und zugleich ist es etwas Anderes. Bettina will sie sprechen und Rilke will in ihr dichten. Er will es allein, einsam, im entfernten Gespräch mit Gott, das der Möglichkeitsraum einer Ausweitung seiner dichterischen Sprache ins ‚Große’ ist. Bettina will die große Sprache mit ihrer Freundin Günderrode gemeinsam sprechen. Und damit ist sie auch emphatische Hinwendung an die Andere: Gespräch zwischen Freundinnen. Die dialogische Dimension von Bettinas Schwebe-Religion findet sich stärker als bei Rilke in Robert Musils Poetik des ‚anderen Zustands’. Musil entwirft in seinem Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften, mit dem er in den 1920er Jahren begann und an dem er bis zu seinem Tod 1941 arbeitete, die Utopie einer anderen geistig-sinnlichen Gegenwelt zur im Roman scharfsinnig diagnostizierten modernen Welt, die durch einen ziellosen Rationalismus und eine fessellose politische und soziale Technokratie zerfasert wird. Die Utopie des ‚anderen Zustands’ situiert 87 sich nicht im gesellschaftlichen Leben, sondern in der abgeschiedenen Lebensweise der beiden Geschwister Ulrich und Agathe, die sich anlässlich des Todes ihres Vaters wiedersehen und beschließen, nach dem Begräbnis zusammen zu leben. In ihrer Abgeschiedenheit kommen Sie sich über ihre geistigen Erkundungen und Gespräche nah und kreisen um den Gedanken der Möglichkeit eines anderen Lebens. Sie versuchen, an Konzepte und Formen anzuschließen, die Ulrich, der männliche Protagonist, zuvor schon aufgeschrieben hatte. So z.B. an den Gedanken des Essayismus. Ulrich bezeichnet den Essayismus als eine Lebensform, in der man denkt, schreibt und lebt ohne den Anspruch auf Geschlossenheit, Ganzheit und Passung in Bezug auf institutionalisierte – wissenschaftliche, literarische oder auch moralische – Regelsysteme zu haben. Die von ihm und seinem Autor Musil gesuchte freie und offene Existenzform findet er in einer SchreibTradition, die in einem Zwischenraum von Literatur, Wissenschaft und Religion angesiedelt ist: „Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, aber es würde keinen Zweck haben, sie zu nennen; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion […].“ 14 In der Ringvorlesung des letzten Jahres über Musil hatte ich darauf hingewiesen, dass Musil den Essayismus seines großen Schreibexperiments, das er selbst als Beitrag zur ‚geistigen Bewältigung der Welt’ versteht, auch als eine Form der Religiosität nach dem von Nietzsche proklamierten ‚Tod Gottes’ konzipiert hat. Und in der Tat ist Musils Schreiben nicht im Zusammenhang mit einer Wiederherstellung von göttlicher Transzendenz und heilsgeschichtlicher Orientierung in einer weitestgehend säkularisierten Gesellschaft zu sehen. Was für Musil nach dem ‚Tode Gottes’ aber weiterlebt, ist der Glaube an die beseeligende Kraft des Hl. Geistes, die im Mann ohne Eigenschaften, in gleichsam immanenter Wirkung, die ‚Heiligen Ge14 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: ders.: Gesammelte Werke in neuen Bänden, Bde. 1-5, Bd. 1, herausgegeben von Adol Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 254. Fortan werden Zitate im Text nachgewiesen mit dem Kürzel MoE sowie der Angabe des Bandes und der Seitenzahl. 88 spräche‘ zwischen Bruder und Schwester durchströmt. Die Gespräche selbst sind es, in denen sich – momenthaft freilich nur – etwas einstellt, das Ulrich und Agathe in ein sinnlich-spirituelles Schweben versetzt. In ihrer Ernsthaftigkeit auf der Suche nach einem Anderen und in der Intensität der gegenseitigen Zuwendung der Geschwister sind die Gespräche momentane Zwischenräume liebender Begegnung. In einer oft zitierten Passage heißt es, einen, wenn nicht den zentralen Gedanken des ‚anderen Zustands‘ auf den Punkt bringend: „Man muß sich also selbst den Reim darauf bilden, daß Gespräche in der Liebe fast eine größere Rolle spielen als alles andere. Sie ist das gesprächigste aller Gefühle und besteht zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit.“ (MoE, 4, 1219) Wichtig ist aber auch, den anderen Zustand nicht im Sinne eines ethischen Programms zu verstehen, also in keinem Fall als Orientierung von konkreten Handlungen, sondern eher als ein Gebiet, in dem nichts von Menschenhand Gemachtes geschieht, in dem gleichwohl etwas geschehen kann, etwas, das sich ereignet, plötzlich, ungeplant und ungedacht, etwas, das die Gesprächserotik der Geschwister übersteigt und zugleich beseelt, aber auch etwas, das nur zwischen ihnen stattfinden kann, zwischen denen also, die sich einander zuwenden. In Musils Nachlass findet sich ein Kapitel mit dem Titel „Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse“. Der Anfang lautet: „Bald nach diesem Besuch [von Agathes Ehemann Lindner] wiederholte sich das ‚Unmögliche’, das Agathe und Ulrich beinahe schon körperlich umschwebte, und es geschah, ohne daß irgenderlei geschah“ (MoE, 4, 1081). Beiden Geschwistern ist es, als schwebten sie schwerelos und leicht durch den Raum, als träfen sie sich in einem gemeinsamen Zustand, der die „Gebärden des Fleisches“ (ebd., 1083) hinter sich gelassen hat. Der Schwebezustand, in dem sie sich augenblickhaft befinden, stellt sich im Zeichen des Mondes ein. Ulrich sagt „sinnlos, wie man in die Luft spricht: Du bist der Mond“ (ebd., 1084). Agathe versteht es. Die Wirklichkeit der beiden Geschwister ist eine gesteigerte, wie sie – den Worten des Erzählers folgend – mit der „abenteuerlich veränderten in Mondnächten“ verwandt ist: 89 Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr, sondern jedes ist die unvergleichliche Geburt des Geistes aus dem Dunkel, die der Mensch in einem neuen Gedanken erfährt. So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die Natur des Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Geben ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht. […] Und das Flüstern mit den Gefährten ist voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird. (Ebd., 1084f.) Musil schließt in solchen Passagen seines Romans an Bettina von Arnims Schwebe-Religion an. Auch im anderen Zustand ereignet sich eine „Geburt des Geistes“, ähnlich der, die Bettina im Sinn hat. Bei ihr wie bei Musil verbinden sich in dieser Geburt Liebesund Schönheitssinn, Freiheit und Freigiebigkeit ohne Herrschaftsund Besitzansprüche, Hingabe und Mitteilung, und nicht zuletzt Berührung in einer unvergleichlichen, ‚großen Sprache’, die die Welt, solange sie spricht, in einen Weltinnenraum verwandelt. Das Ausschreiten der Zwischenräumlichkeit an der Grenze von Literatur und Religion hat seit der Romantik eine spirituelle Ästhetik des Schwebens hervorgebracht, die sich nicht nur in der Literatur tradiert, sondern Ausdruck auch in anderen Künsten gefunden hat. Geht man in der Gegenwart nach ihr auf die Suche, so findet sie sich kaum irgendwo so vollständig und ästhetisch faszinierend wieder wie in Pina Bauschs Tanztheater. Pina Bausch, 1940 in Solingen geboren, starb am 30. Juni 2009 in Wuppertal. Schon zu Lebzeiten war die Tänzerin und Choreographin eine Legende. Die Entwicklung ihres Tanztheaters seit den 1970er Jahren in Wuppertal ließ sie zu einer der bedeutendsten Choreographinnen der Gegenwart werden. Der Filmemacher Wim Wenders hatte noch kurz vor ihrem überraschenden Tod mit ihr vereinbart, einen Dokumentarfilm über die Entwicklung des Tanztheaters Pina Bausch zu drehen. Drehbeginn sollte im September 2009 sein. Zwischenzeitlich starb Pina Bausch. Wenders entschloss sich, an der Realisierung des Projekts festzu90 halten, umso mehr, als er durch die neue Raumerfahrung in der 3D-Technik die Möglichkeit gekommen sah, dem Zuschauer das Gefühl zu vermitteln, unmittelbar zwischen den Tänzern zu sein. Wenders Dokumentarfilm Pina kam im Februar 2011 in die Kinos.15 Er rückt vier Stücke ins Zentrum: Le sacre du printemps, Café Müller, Kontakthof und Vollmond. Vor allem lässt er aber auch Mitglieder des Ensembles zu Wort kommen. In ihren kurzen Statements, Erinnerungen und Widmungen bringen sie zum Ausdruck, was ihnen die oftmals langjährige Arbeit im Tanztheater Wuppertal bedeutet hat. Und deutlich wird, dass Pina Bausch für sie nicht nur künstlerische Leiterin war, sondern eine Menschenbildnerin von großer Tiefe, Empfindlichkeit, Wahrhaftigkeit und Zuwendung. Pina hat sie als Künstler und als Menschen geformt und dabei das Kunststück vollbracht, sie nicht zu beherrschen, sondern sie sich in ihrer Freiheit und Eigenheit entwickeln zu lassen. Dabei richteten sich, wie eine Tänzerin des Ensembles im Film sagt, ihre Augen auf alles Schöne, was sie machten, um noch etwas Schöneres daraus zu machen. Wim Wenders porträtiert Pina in einer Passage seines Films, in einigen unvergesslichen Momentaufnahmen bei der Arbeit, in den Pausen, mit ihren Tänzern, in ihren Bewegungen, Gesten und Blicken. In der Trauerrede auf die Verstorbene, die Wenders 2009 in Wuppertal hielt, versucht er die Wirkung, die ihre Anwesenheit und ihre Blicke auf alle entfaltete, in Worten einzuholen: Wir alle kannten Pina, und sie fehlt jedem (und jeder) von uns auf seine (oder ihre) Weise, ganz eigentümlich, ganz persönlich, ganz schmerzhaft. Nur etwas von Pina haben wir alle geteilt, auch wenn wir das (noch) nicht wußten – den Blick. Wenn Ihnen Pina jemals gegenübersaß oder –stand und in die Augen schaute, oder wenn Sie Pina je bei der Arbeit beobachtet haben, wie sie z.B. auf einer Probe ihren Tänzern zugeschaut hat, dann wissen Sie, was ich meine mit diesem ‚Blick‘, und wenn Sie ihn sich jetzt gegenwärtig machen, dann sehen Sie Pina auch gleich wieder vor sich [...]. 16 Wenders zeigt sie in seinem Film genau so, wie er sie hier beschreibt: Porträtbilder von ungewöhnlicher Schönheit und Ein15 Der Film ist noch im selben Jahr als DVD erschienen. Wim Wenders: „Trauerrede in Wuppertal 2009“. In: Sinn und Form 61 (2009). H. 6, S. 858-861, hier S. 858. 91 16 prägsamkeit: das Gesicht, die Bewegungen und die Blicke Pina Bauschs. Ich meine, dass einige Szenen aus Wenders‘ Dokumentation besonders deutlich machen können, dass Pina Bausch mit ihren vielfältigen ästhetischen Mitteln, mit ihren Ideen, mit ihrer Person und ganz entscheidend mit ihrem Ensemble anknüpft an die von Bettina von Arnim begründete und von anderen Autoren aufgenommene und fortgeschriebene spirituelle Ästhetik des Schwebens. Auch Pina Bausch verwebt in ihrem Tanztheater Geist, Sinnlichkeit, Freiheit, Tätigkeit, Liebe und Schönheit so ineinander, dass der Eindruck einer lebendigen Form entsteht, einer Form, die nicht ‚Gestalt’ (Schiller) ist, sondern Bewegung und darüber hinaus von dem durchdrungen ist, was Bettina den ‚Rhythmus der Seele’ nennt. In Pina Bauschs Arbeiten wird deutlich, dass der Rhythmus der Seele alle inneren und äußeren Orte des Lebens und der Welt durchdringt, den Schmerz und die Freude, die Einsamkeit und die Gemeinschaft ebenso wie das Abgestorbene und Lebendige, die städtischen Verkehrs- und Betonlandschaften einerseits und die Natur in ihrer elementaren Schönheit andererseits. Ich beziehe mich, um das Angedeutete etwas anschaulicher zu machen, abschließend auf vier Szenen aus Wenders Film und versuche dabei, die zuvor entfalteten Gedanken zur ‚Schwebe-Religion‘ in das Tanztheater Pinas einzuschreiben: 1. Szene: Eine Tänzerin unter der Wuppertaler Schwebebahn, umgeben von städtischem Verkehr inmitten einer Betonwüste, wie sie der Städtebau der 1970er Jahre hervorgebracht hat. Der inspirierende, teilnehmende Geist Pinas (sie ist u.a. in den zwischendurch eingeblendeten Erinnerungen der Tänzerin an sie sehr präsent) und die Resonanzbewegung der Tänzerin unter der Schwebebahn verwandeln im Zusammenspiel mit dem Rhythmus der Musik die Versteinerung der urbanen Betonwelt in Bewegung und Schönheit zurück. Ein technisches Wunderwerk, Wahrzeichen der rheinisch-bergischen Industriestadt, tritt hier in eine überraschende und transformierende Beziehung zum lebendigen menschlichen Körper. Die Schwebebahn wird zum allegorischen 92 Zeichen für die Wiederkehr des Lebens im abgestorbenen Körper der modernen Großstadt. 2. Szene: Ein Tänzer schreitet behutsam durch bläuliches Flimmern, derweil ihm auf Kopf, Schultern und Arme Äste gelegt werden, die er gleichsam an seinem Körper trägt. Seine langsam fortschreitende, vorsichtige Bewegung durch das Flimmerlicht lässt den Eindruck eines Schwebens und einer Schwerelosigkeit aufkommen. Der Körper des Tänzers verwächst mit den Ästen zum Baum. Ein Gedanke Bettinas wie auch anderer Romantiker ist die Wiederauferstehung der Natur im Menschen. Der Tänzer als behutsamer Träger von Zweigen im schimmernden Unendlichkeitsund Sehnsuchtsblau bildet eine zärtliche Einheit mit der Natur. Seine Sorge um das Gleichgewicht von Mensch und Natur und ineins damit sein Baumsein selbst verwirklichen eine augenblickhafte Versöhnung: das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ 17 wird für Momente wahr. 3. Szene: Eine Tänzerin tanzt in freier Natur über eine Reihe von Stühlen, indem sie in deren Kippbewegung hineingeht und sich im kurzen Moment des Kippens in einem Schwebezustand befindet. Die Szene geht in eine andere über, in der tanzende Frauen und Männer im Licht des Vollmondes aneinander hochsteigen, miteinander in purer Lebens- und Liebesenergie herumtollen und sich mit den Elementen der Natur, vor allem mit dem Wasser, ekstatisch vereinigen. Pina, so heißt es im Film, hat am Ende alles hinter sich gelassen und war frei. Die Tänzerin widmet ihr die Leichtigkeit, das Gefühl kein Gewicht zu haben, indem sie über die Stühle gleitet, ihr jeweiliges Kippen in die Vorwärtsbewegung integrierend, ohne wie die Stühle selbst umzufallen. Die Vollmond-Szene erinnert daran, dass Pina die Elemente der Natur wichtig waren: Wasser, Stein, Licht und andere. Im 17 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944]. Frankfurt/Main: Fischer 1988, S. 47. 93 Licht des Vollmondes feiert sich das Leben selbst, ekstatisch, gleichsam im ‚anderen Zustand‘. Im Mann ohne Eigenschaften heißt es ja, den anderen Zustand beschreibend: „So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die Natur des Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Geben ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht.“ (MoE, 4, 1084) Eine der Tänzerinnen ruft nachterregt aus: „Ich bin jung, meine Ohren hören Verheißungen, mein Geist ist machtvoll, meine Augen sehen Träume, meine Gedanken fliegen hoch und mein Körper ist stark.“ 18 4. Szene: Die Schlussszene des Films zeigt das Sterben und Abschiednehmen. Eine Tänzerin wird mit Erde überschüttet, ein Tänzer trägt den toten Körper, allerdings steht der Tod auch im Zeichen des Lebens (ein Baum symbolisiert dies), der Überlebenden, des Ensembles, welches Pina und ihre Kunst weiterleben lässt – und zwar im Humor eines wahrhaft theatralen kollektiven Schlussauftritts. Die Erde hat Pina zurück. Was aber bleibt, ist die Flamme, die eine „radikale Forscherin“, die tief in die „Seelen“ geschaut hat, weiterreicht. Eine Forscherin, die eine entscheidende Frage gestellt hat: Wonach sehnen wir uns, woher kommt unsere Sehnsucht? – Indem sie diese und andere wesentliche Fragen an die Künste und die KünstlerInnen gestellt und versucht hat, sie wie auch immer vorläufig in ihrem Tanztheater zu beantworten, hat sie eine ‚große Sprache‘ (im Sinne Bettina von Arnims) gesprochen. Die Größe der Sprache macht einen bisweilen sprachlos, und es ist vielleicht deshalb konsequent und legitim, ganz am Ende noch einmal die Sprache eines Anderen zu leihen. Was Malte bzw. Rilke über Bettina von Arnim schreibt, trifft auch auf Pina Bausch zu: Sie hat mit ihrem Tanztheater „Raum gegeben, geräumigste Gestalt. Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so aus18 Dieses und weitere, nicht eigens nachgewiesene Zitate stammen aus Wenders Film. 94 gebreitet, als wär sie nach ihrem Tod.“ (A, 897) Eben war sie noch, ist die Erde nicht noch warm von ihr und die Vögel lassen noch Raum für ihre Stimme? Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne ihrer Nächte. (Vgl. ebd.) Und was sie ihren Tänzerinnen und vielleicht auch uns mit auf den Weg gibt, ist die überlebenswichtige Losung: „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren.“ 95 Burkhard Moennighoff Die Rede des Satirikers und das Desaster der Natur. Zur Apokalypse in der Literatur I Literatur und Religion sind zwei große Ausdrucksformen der Menschheit. Ihnen zur Seite möchte man nach Maßgabe von Rang und Geltung nur die anderen Künste, den Mythos und die Wissenschaften stellen, vielleicht auch die Technik. Literatur und Religion sind vielfältig aufeinander bezogen und miteinander verknüpft. Religion äußert sich, sofern es sich um eine Schriftreligion handelt, in literarischer Form, nämlich in Stiftungsurkunden und heiligen Texten. Und Literatur schöpft aus den Stoffen, Motiven und Themen, die die Religion bereitstellt. Die Bibel, über die wir in unserem Kulturkreis unweigerlich und immer wieder zu sprechen kommen müssen, ist ein Glaubensbuch, aber sie ist dies nicht allein. Sie ist auch ein großer bunter Vorrat an Geschichten, Imaginationen, Bildern und Redeformen: eine Schatzkammer mit anregender Kraft für die Phantasie, ein Wörtermuseum der Sprachgemeinschaft, ein verbindendes Band unserer Kultur. So groß ist ihre sprachschöpferische und ihre gedankenbildende Energie, dass unsere Einbildungskraft selbst in säkularen Zeiten von der Bibel mitgeprägt ist. So ist unsere Vorstellung vom Paradies eine biblische. Und nicht allein Motive, auch Figuren und Stoffe sind uns aus der Bibel vertraut. Der irrsinnige Belsazar, die bildschöne Esther, der klagereiche Hiob, der mörderische Bruderzwist zwischen Kain und Abel, die verwickelten Geschichten des Moses und des Joseph, die Gleichnisse Jesus − die meisten kennen diese Gestalten und Erzählungen oder haben wenigstens eine Ahnung davon. Und selbst derjenige, der nicht bibelfest ist, benutzt doch hin und wieder biblische Wendungen. Wir sprechen von einem Menetekel, wenn uns ein unheildrohendes Zeichen begegnet, oder von einem Schibboleth, wenn wir an ein Losungswort denken. Wir sagen "Wer Wind sät, wird Sturm ernten" oder "Hochmut kommt vor dem Fall". Dem einen stehen die Haare zu Berge, während er sieht, dass Perlen vor die Säue geworfen werden, dem anderen fällt es dabei wie Schuppen von 96 den Augen. All diese Formulierungen legen Zeugnis ab von der großen Wirkungskraft, die von der Bibel ausgeht, denn in ihr sind sie vorgeprägt. Natürlich hat auch die außerbiblische geistliche Literatur anregend gewirkt: Kirchenlieder, der Katechismus, Gebetbücher, und selbst die Kirchenblättchen, die in der Vergangenheit im Kindergottesdienst ausgegeben wurden. Gleichwohl ist es die Bibel vor allem, die über Generationen hinweg ihre Hörer und Leser mit Geschichten, Formeln und Wörtern versorgt hat und sich damit in deren und unsere Hirne eingeprägt hat. Die Dichter, die ja auch Leser sind, wissen darum. Matthias Claudius schreibt an einer Stelle des Wandsbecker Boten in seiner für ihn charakteristischen naiven Art: Ich habe von Jugend auf gern' in der Bibel gelesen, für mein Leben gern. 's stehn solch schöne Gleichniss' und Rätsel drin, und 's Herz wird einem darnach so recht frisch und mutig. Am liebsten aber les' ich im Sankt Johannes. 1 Und Herder, der große Anreger der deutschen Literaturrevolution um 1770, weiß von sich zu sagen, dass die Bibel die Quelle war, "in die meine Einbildungskraft in zarter Kindheit getaucht wurde". 2 Das sind nur zwei Stimmen, die allerdings einer kulturspezifischen Allgemeinerfahrung Ausdruck verleihen. Die Bibel hat einen prominenten Platz im kulturellen Gedächtnis, sie bestimmt unsere Wörterwelt mit und sie bereichert die Geschichten, die sich die Menschen seit alters her erzählen. Das hat Wirkungen auf die Literatur. Das Durchsetztsein unseres Denkens mit Wissen aus der Bibel ermöglicht es den Autoren nicht nur, in ihren Dichtungen auf Elemente der Bibel zurückzugreifen. Sie können sogar darauf setzen, dass das Bibel-Wissen, das sie in ihre Dichtungen sinnbildend einbauen, vom Leser auch erkannt wird. Der nämlich teilt ja sein Wissen mit dem Autor. Dies ist sicherlich ein optimistischer Befund, was unsere unmittelbare Gegenwart angeht. Der einst gewaltige Bildungsstrom, der sich aus der Bibel speist, hat 1 Matthias Claudius: Der Wandsbecker Bote. Frankfurt am Main: Insel 1975, S. 40. 2 Vgl. Johann Gottfried Herder: Über Thomas Abbts Schriften. In: Werke. Hg. von Gunter E. Grimm. Bd. 2. Frankfurt am Main: Klassiker Verlag 1993, S. 600. 97 sich heutigentags in einen kleinen Bachlauf verwandelt. Frühere Leserschaften waren allerdings durchaus vertraut mit der Bibel, und das durch alle Bildungsschichten hindurch.3 Als nachgeborene Leser älterer Literatur müssen wir uns mit den Bildungsvoraussetzungen der jeweiligen Zeiten vertraut machen, wenn wir jene nicht missverstehen wollen. Heinrich von Kleists Dichtungen sind ohne Kenntnis der biblischen Erzählung vom Sündenfall nicht vollständig zu erfassen, auch weite Teile der Liebeslyrik nicht ohne Kenntnis des Hohelieds. Wie die Bibel in die Literatur hineinwirkt und wie sie dadurch die Bedeutung eines literarischen Textes steuert, das möchte ich an einem prominenten Beispiel demonstrieren. Ich wähle dazu die Offenbarung des Johannes und einen literarischen Text aus der Literatur des 20. Jahrhunderts und einen aus der Literatur des 21., die auf je unterschiedliche Weise auf die Offenbarung Bezug nehmen. II Vorstellungen vom Weltuntergang existieren in vielen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturkreisen. In der abendländischen Antike sind apokalyptische Elemente bei Hesiod und Plutarch nachweisbar. Im ersten Buch von Ovids Metamorphosen wird vom Ende der Welt erzählt. Die nordische Mythologie spricht vom Ragnarök. Die Eingangssequenz der Edda erzählt den Kampf der Götter mit feindlichen Kräften und die anschließende Vernichtung der Erde. Der Dresdner Kodex, eine Handschrift aus der Hochkultur der Maya, enthält einen Kalenderteil, der den Weltuntergang sogar datiert, nämlich auf die Wintersonnenwende 2012. All diese Beispiele integrieren das Weltende in das Konzept eines Geschichtsverlaufs, das das Ende als einmalig und unausweichlich ansieht. Es gibt aber auch Vorstellungen vom Zusammenbruch, die ihn als wiederkehrend in einem kosmischen Kreislauf ansehen. Im einfachen Mythos spiegeln sich lokal geprägte Vorstellungen. Im vulkanischen Kaukasus gibt es Erzählungen von ei3 In einer Szene in Georg Büchners Woyzeck blättert Marie in der Bibel, um Trost zu suchen. Ein aufschlussreicher literarischer Niederschlag der Bibelkenntnis im lesekundigen, einfachen Volk. 98 nem gefesselten Untier im Erdinnern, das loskommt und daraufhin das Weltende herbeiführt. Bei den Eskimovölkern gibt es Erzählungen, die das Weltende als ein Umkippen des Kajaks beschreiben, bei dem die Menschen und die Unterirdischen den Platz tauschen. 4 Auch die Welt des Films findet Gefallen an apokalyptischen Erzählungen. Die Katastrophe wird von außen verursacht, etwa durch einen Kometen, der auf die Erde zusteuert und sie zerstört (z.B. in Mimi Leders Deep Impact oder Lars von Triers Melancholia). Oder das Weltende vollzieht sich als Naturkatastrophe (als Klimakatastrophe z.B. in Roland Emmerichs The Day after Tomorrow oder als virale Pandemie in Steven Soderberghs Contagion). Oder die Katastrophe wird durch einen Erzschurken geplant. Jeder James-Bond-Liebhaber kennt den Bösewicht Blofeld, das Phantom, Leiter und "Nummer 1" der Terrororganisation SPECTRE, gegen den der Filmheld in Gestalt von Sean Connery antritt, um ihn am Feuerball zu hindern − so nennt Blofeld seine Weltvernichtung. Unter allen Darstellungen des Weltuntergangs ist die für unsere westliche Welt bedeutendste, nämlich vorstellungs- und traditionsbildende, diejenige, die uns durch die Bibel mitgeteilt wird. Ich meine nicht die alttestamentarische Apokalypse im Buch Daniel, auch nicht die kleine Apokalypse in den synoptischen Evangelien (Mt 24-25; Mk 13; Lk 21,5-36), sondern die Johannesapokalypse. Sie bildet das einzige apokalyptische Buch im Neuen Testament. 5 Die Johannesapokalypse hat eine doppelte Struktur. Sie wird als Brief eingeleitet. Und tatsächlich spricht vieles dafür, sie als ein Sendschreiben aufzufassen, gerichtet an sieben christliche Gemeinden in Kleinasien, die unter Römerherrschaft stehen und zu immensen Opfern gezwungen sind. Das Schreiben ist im 1. Jahrhundert entstanden, vermutlich um 95. Wir wissen nicht viel über seinen Verfasser. Aber nur wenig spricht dafür und fast alles dagegen, ihn mit dem Apostel Johannes zu identifizieren. 4 Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6. Tübingen: Mohr. 3. Auflage 1986, Sp. 1630. 5 Vgl. ebd., Bd. 3, Sp. 822-836. 99 Als Brief verfolgt die Johannesapokalypse einen praktischen Zweck. Sie ist Mahnung und Ermutigung. Sie soll die Gemeinschaft der christlichen Gemeinden stärken, ihren Glauben fördern, ihre spirituellen Gewissheiten bestätigen und mit all dem wohl auch die Widerstandskraft gegen die Römerherrschaft befeuern. Die Johannesapokalypse ist aber nicht nur Brief, sondern auch visionäre Schau, sprachlich ambitionierte Prophetie, bilderreiche Weissagung eines Sehers, der sich in seiner Rede als vielseitig begabter Rhetoriker ausweist. Die Darstellung der Endzeit entwickelt sich in Themenkreisen. Zunächst ist von einer Buchrolle mit sieben Siegeln die Rede, die Gott in Händen hält. Nur ein Lamm ist befugt, diese Siegel zu öffnen. Durch das Brechen der Siegel werden Gestalten erweckt, die gemäß der Tradition als apokalyptische Reiter bezeichnet werden. Sie bringen Hunger und Tod und initiieren die Katastrophe für die Menschen. Dann folgt die Naturkatastrophe, wenn es heißt: VND ich sahe / das es das sechste Siegel auffthet / vnd sihe / da ward ein grosses Erdbeben / vnd die Sonne ward schwartz wie ein harin Sack / vnd der Mond ward wie Blut / vnd die Sterne des Himels fielen auff die Erden / Gleich wie ein Feigenbawm seine feigen abwirfft / wenn er von grossem wind bewegt wird. Vnd der Himel entweich / wie ein eingewickelt Buch / vnd alle Berge vnd Jnsulen wurden bewegt aus jren Ortern / 6 Der zweite Themenkreis handelt von den sieben Posaunen. Sie bringen Hagel, Feuer, Blutregen. Die Lebewesen im Meer sterben, Schiffe sinken, der Himmel verfinstert sich. Heuschrecken bedrohen und quälen die Menschen fünf Monate lang. Himmlische Reiter verheeren Land und Menschen. Über sie heißt es: Vnd also sahe ich die Ross im gesichte / vnd die drauff sassen / das sie hatten fewrige vnd gele vnd schwefeliche Pantzer / Vnd die Heupte der rosse / wie die heupt der Lewen / vnd aus jrem Munde gieng fewr vnd rauch vnd schwefel.7 6 Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Studienausgabe. Herausgegeben von Hans-Gert Roloff. Bd. 1. Stuttgart: Reclam 1989, S. 694. 7 Ebd., S. 703. 100 Der dritte Themenkreis handelt von den sieben Schalen, die mit dem Zorn Gottes angefüllt sind und über die Menschheit ausgeschüttet werden. Die Menschen bekommen daraufhin Geschwüre. Wasser verwandelt sich in Blut. Große Hitze kommt über das Land. Flüsse trocknen aus. Ein Erdbeben nie gekannten Ausmaßes erschüttert die Welt. Schließlich geht die große Stadt Babylon unter. Sie wird als ein allegorisches Weib dargestellt, das reich gekleidet und wohl ausgestattet auf einem scharlachroten Tier mit sieben Häuptern und zehn Hörnern sitzt. Babylon ist der Inbegriff der Sündhaftigkeit, was neben dem sexuellen Fehlverhalten der Stadtbürger auch das ökonomische Fehlverhalten der Handelsleute einschließt. Sündhaft ist Babylon, weil all seine Bürger ihre Existenz nicht im Einklang mit der göttlichen Schickung führen. Ein starker Engel wirft einen großen Mühlstein ins Meer und entfesselt einen Sturm, durch den Babylons Zerstörung ihren Lauf nimmt. Der apokalyptischen Prophetie liegt in allen ihren Nuancen eine simple Gedankenstruktur zugrunde. Nicht die ganze Welt wird zerstört, nicht die ganze Menschheit vernichtet. Die Voraussage über das für notwendig gehaltene Eintreten des Untergangs betrifft nur diejenigen, die nicht Gottes Gesetz gehorchen. All diejenigen, die sich als Knecht Gottes verstehen, werden von der Vernichtung ausgenommen. Der visionäre Sprecher lässt Gott über die, die ihm gefallen, in trostreichen Worten sprechen: Diese sinds / die komen sind aus grossem trübsal / vnd haben jre Kleider gewasschen / vnd haben jre kleider helle gemacht im blut des Lambs / Darumb sind sie fur dem stuel Gottes / vnd dienen jm tag vnd nacht in seinem Tempel. Vnd der auff dem stuel sitzt / wird vber jnen wonen / Sie wird nicht mehr hungern und dürsten / es wird auch nicht auff sie fallen die Sonne / oder jrgent eine hitze / Denn das Lamb mitten im stuel wird sie weiden / vnd leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen / vnd Gott wird abwasschen alle threnen vin jren augen. 8 Am Ende der apokalyptischen Schau steht zunächst das tausendjährige Reich. Während dieses Reich besteht, ist Gottes Widersacher, der Satan weggesperrt, und die Gottgefälligen regieren es gemeinsam mit Christus. Nach der Zeit des Reichs kommt es zu 8 Ebd., S. 697. 101 einem letzten Kampf zwischen den antagonistischen Kräften des Guten und Bösen. Ein letztes Gericht wird abgehalten. Im Anschluss daran tut sich die utopische Vision eines neuen Jerusalems auf, eines religiös gedachten Endreichs, in dem Gott bei den gläubigen Menschen ist und eine Welt der Eintracht im Glauben herrscht. In der Apokalypse drückt sich ein teleologisches Geschichtsmodell aus. Dieses Geschichtsmodell ist eine der wirkungsreichsten (und wohl auch fragwürdigsten) Erbschaften des Christentums, die auf das Abendland übergegangen sind. Jedenfalls bilden seither Untergang und Utopie, Katastrophe und Erlösung, Vernichtung und Neuanfang in vielen Gedankengebäuden eine feste Größe. Das Modell versteht sich als Heilsgeschichte oder als Fortschrittsglaube. In dem einen oder anderen Sinn findet es sich in der Hegelschen Geschichtsphilosophie, im Marxismus, in ökonomischen Theorien des Neoliberalismus, im amerikanischen Neokonservatismus sowie in noch kürzlich hochgelobten akademischen Zeitgeisttheorien wie z.B. Francis Fukuyamas Das Ende der Geschichte. 9 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist mindestens dreierlei an der Johannesapokalypse bedenkenswert. Da ist erstens der rhetorische Zuschnitt der Schrift: ihr Gerichtetsein an einen klar benennbaren Adressaten, ihr gewaltiges Schwelgen in Untergangsphantasien sowie ihre Bilder der Zerstörung und die alles verbindende Redeform der prophetischen Schau. Da ist zweitens das zweiwertige Grundmuster, das für Abtönungen, Nuancen und Zwischenpositionen keinen Platz hat, das nur die Pole schwarz − weiß, gut − böse, Licht − Finsternis, gläubig − ungläubig und Friedensreich − Katastrophenwelt kennt. Und da ist drittens der Gedanke, dass die Apokalypse für einen kleinen Kreis von Auserwählten kein Unheil, sondern Rettung bringt. Aus all diesen Aspekten hat die Literatur geschöpft. III Der Untergang ist mannigfach zum Thema der Literatur gemacht worden. Jean Paul mit seiner Rede des toten Christus vom Welt9 Vgl. dazu John Gray: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 2010. 102 gebäude herab, daß kein Gott sei (1796), das Märchen, das die Großmutter in Georg Büchners Woyzeck (Erstdruck 1878) erzählt, Alfred Kubins phantastischer Roman Die andere Seite (1909), Jakob von Hoddis' groteskes Gedicht Weltende (1911), Karl Kraus' monumentales Drama Die letzten Tage der Menschheit (1918/19 und 1922), Alfred Döblins visionärer Roman Berge, Meere und Giganten (1924), Christa Wolfs Roman Störfall (1987), der die Atomkatastrophe von Tschernobyl thematisiert, und Tim Staffels Roman Terrordrom (1998) über die in Anarchie verfallende Stadt Berlin sind nur einige Beispiele. Eine Reihe von literarischen Thematisierungen des Untergangs nimmt Bezug auf die Johannesapokalypse. Diese ist literarisch produktiv wegen ihrer Redeform. Prophetie setzt eine besondere Begabung voraus. Denn sie ist zukunftsgewisse Weissagung. Sie verkündet ein künftiges Geschehen mit einer Gewissheit, zu der der Mensch eigentlich nicht fähig ist. Der nämlich kann nur in Wahrscheinlichkeiten denken, wenn es um Prognosen geht. Außerdem setzt Prophetie auf ein höchstes Maß an Informiertheit. Wer prophezeit, hat seine Gewissheiten aus Visionen empfangen oder durch Stimmen, die er gehört hat. Die Offenbarungen, die dem Propheten zuteilwerden, sind von höherer Ordnung. Sowenig Zweifel an diesen höheren und darum unumstößlichen Wahrheiten überhaupt möglich sind, so sehr ist die Rede des Propheten überzeugend. Denn sie ist die Kundgabe dieser unbezweifelbaren Wahrheit. Alles das hebt den Propheten hervor. Er hat eine privilegierte Rolle inne. Das Wissen um das zukünftige Geschehen erlaubt ihm einen bestimmten Blick auf die Gegenwart. Im Gegensatz zum Normalsterblichen, der über die Zukunft nur mutmaßen kann, kann der Prophet sie genauestens und sicher erkennen. In diesem Sinn ist die Redeform der Prophezeiung wie geschaffen für die Belange des Satirikers. Der Satiriker kritisiert die Welt. Sie ist in seiner Sicht aus den Fugen geraten. Normen werden in ihr außer Kraft gesetzt oder missachtet. Das ruft den Satiriker auf den Plan. Niemals kritisiert der Satiriker den Bruch von Rechtsnormen, sondern immer Brüche von sozialen Normen, also solchen des Verhaltens oder Umgangs miteinander. Er ist an den Zuständen der Welt interes103 siert, aber nicht an einzelnen Personen. Anders als der Polemiker, der vor seinem Publikum wirkliche Personen mit ihrem Namen nennt und sie mit seinen Mitteln der Vernichtungsrede zu zerstören sucht, richtet sich der Satiriker gegen die Verkehrtheit der Zustände, die er durchschaut. Sowohl der Polemiker als auch der Satiriker äußern sich im Modus der Aggression, aber der Satiriker ist ungleich harmloser als der Polemiker, denn er sucht nicht durch Vernichtung zu verändern, sondern durch Aufzeigen und Beschreibung eines Übelstands. Satire ist Kritik, aber Kritik nicht Satire. Damit aus kritischer Rede Satire wird, muss etwas hinzukommen. Sie muss sich ästhetischer Mittel bedienen. Besonders häufig verbindet sich die Satire mit dem Witz. Sie bedient sich der Register des Komischen, macht von beißenden Wortspielen und spöttischen Übertreibungen Gebrauch, auch von überrumpelnden Pointen, grellen Kontrasten, geistreichen Anspielungen und ironischen Wendungen. Oder die Satire bedient sich einer bestimmten Rollenrede. Der Satiriker kann mit der Maske des Naiven sprechen, der gerade aufgrund seiner Arglosigkeit die Missstände in der Welt erkennen kann. So geschieht es streckenweise in Grimmelshausens großem barocken Schelmenroman Simplicius Simplicissimus (1669). Oder der Satiriker spricht mit der Maske des Außenseiters, der aufgrund seines Andersseins sensibel auf die gewöhnliche Verkommenheit zu reagieren vermag. In Voltaires L'ingénu (1767) ist es ein junger Wilder aus Nordamerika, der die zweifelhafte europäische Zivilisation satirisch karikiert. In dem antiken Roman Der goldene Esel des Apuleius zeichnet ein Mensch in Tiergestalt die Welt satirisch, in François Rabelais RenaissanceRoman Gargantua und Pantagruel (1532-1564) sind es Riesen, die das tun. Eine andere Maske, deren sich der Satiriker bedienen kann, ist die des Propheten. Einer der sprachgewaltigsten und produktivsten Satiriker des 20. Jahrhunderts ist Karl Kraus. Der österreichische Autor hat vor allem in seiner monumentalen Zeitschrift Die Fackel über mehr als drei Jahrzehnte seine satirische Begabung gezeigt, außerdem in einer Vielzahl von Essaysammlungen und in einigen Dramen. Die Satire kennt zwei Grundformen, die scherzhafte und die strafende Satire. Jene verbindet sich vor allem mit dem Na104 men Horaz, diese mit dem Namen Juvenal. Die scherzhafte Satire verwundert sich über die kleinen Fehler des Menschen, quittiert dessen Torheiten mit Schmunzeln und übt augenzwinkernde Kritik an dem lächerlichen Vermögen des Menschen, seinem eigenen Glück im Wege zu stehen. Die strafende Satire hingegen zielt auf die willentliche Schändlichkeit des Menschen. Der Übelstand, den sie auf das Korn nimmt, ist bewusst herbeigeführt worden. Dem Affront der strafenden Satire entspricht deshalb nicht das Kopfschütteln des heiteren Über-den-Dingen-Stehens, sondern die bis zum Pathos gesteigerte Verachtung. Nicht die Sprache des Scherzes regiert sie, sondern die der argwöhnischen Wut und die des unerbittlichen Hasses. Karl Kraus ist ein strafender Satiriker. Die Haltung, mit der er sich zu Wort meldet, ist nicht die des Humors, sondern die des Spottes. In seinen satirischen Visionen zeichnet er die Hölle und die Apokalypse. Die Titel einiger seiner Werke lassen das erkennen: Untergang der Welt durch schwarze Magie, Weltgericht, Die letzten Tage der Menschheit. Kraus malt die Welt in den grellen Farben des Untergangs. Die Endzeit, die er heraufkommen sieht, wird ins Abgründige gesteigert nur zu dem einen Zweck, Tendenzen der Gegenwart überdeutlich erkennbar zu machen. Im Jahr 1908 stand die Fackel im zehnten Jahr ihres Erscheinens. Im Oktober-Heft erschien ein kurzer und konziser Artikel mit dem Titel Apokalypse. Es handelt sich um einen Text, der das Selbstverständnis des Satirikers Kraus zum Ausdruck bringt. Er steht in der Tradition der satirischen Programmschrift, auch satirische Apologie genannt. Nicht nur der Titel dieses Textes bezieht sich auf die Offenbarung des Johannes, auch viele Anspielungen und Zitate im Text stellen diesen Bezug her. Und auch der Titelzusatz, den Kraus seiner kleinen Schrift beifügt (Offener Brief an das Publikum), weist eine strukturelle Ähnlichkeit mit der der biblischen Vorlage auf, die ja auch einen deutlichen Adressatenbezug hat. Das Jahr 1908 fällt in eine Zeit der rasanten technischen Entwicklung. Damit einher gehen erhebliche politische Verwerfungen. 1900 findet die erste Zeppelinfahrt statt und die erste Dampfmaschine mit 100000 PS wird entwickelt. 1901 erreichen Berson und Süring im offenen Freiballon 10800m Höhe. Die Te105 legraphie wird optimiert und bald auch militärisch genutzt. 1903 erreicht eine elektrische Schnellbahn auf der Versuchsstrecke bei Zossen die Spitzengeschwindigkeit von 210km/h. Die Schwebebahn in Wuppertal wird eröffnet. 1905 wird das autogene Schweißen erfunden, auch die Gasturbine und die Luftdruckbremse und die Osramlampe. Der Motorflug kommt in Gang. Seit 1900 hatte ein ungestümes Wettrüsten der großen europäischen Mächte eingesetzt; insbesondere die Marinebegeisterung Wilhelms II. hat England misstrauisch gemacht. Die weltpolitische Lage wurde durch die imperialistische Konkurrenz der europäischen Nationen bestimmt. Die Marokko-Krise von 1905/06 weitete die Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland aus. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina durch ÖsterreichUngarn 1908 führte zu wochenlanger akuter Kriegsgefahr nicht nur auf dem Balkan, sondern in ganz Europa. In dieser Situation schreibt Kraus seine satirische Apologie. Sie enthält in nuce eine Reihe der wichtigen Themen, deren sich Kraus in seinem satirischen Gesamtwerk angenommen hat. Die Welt erlebt eine Kulturkrise und der Satiriker nennt das in vielen Einzelheiten beim Namen. Die Welt, von der er glauben machen will, dass sie dem Untergang geweiht ist, ist von Menschen bevölkert, die sich Ziele setzen, die sie überfordern. Insbesondere der technische Fortschritt ist es, dem die Menschen nicht gewachsen sind. Der Schnelligkeit der Entwicklung können die Herzen nicht folgen. Die Entfaltung der Produktivkräfte ist eigentlich ein Versagen. Für Kraus beruhen diese Entwicklungen auf Dummheit. Diese müssen wir uns als eine Fehleinschätzung der Menschen ihrer selbst verstehen. Er schreibt: Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschifffahrt. [...Die Wurzel des Weltuntergangs sieht Kraus] in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit. [...] Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen. [...] Die Tragik der gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt 106 als eine Jungfer fürs Bordell [...], ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. 10 Die Menschen haben sich einiges einfallen lassen, das ihr inneres Gleichgewicht herrichten soll. Zum Beispiel die Religion und den Trost, den sie bietet. Für Kraus versperrt sie allerdings nicht den Weg, den die Menschheit zum Galgen geht. Auch die Politik kann nichts ausrichten; sie macht nur lebensüberdrüssig. Und die Humanität kürzt die Galgenfrist nur ab. Selbst der Sport trägt zur allgemeinen Verdummung bei. Das alles sind für Kraus Symptome des Untergangs, aber nicht seine Gründe. Die sieht er in einem anderen Punkt. "Der wahre Weltuntergang", schreibt Kraus "ist die Vernichtung des Geistes." 11 Dieser Formulierung wohnt eine Diagnose inne: Die Krise, deren Zeitgenosse Kraus ist, ist eine Krise der Vernunft. Sie besteht darin, dass die Menschheit nicht genügend zur gedanklichen Differenzierung fähig ist, denn es fehlt ihr an Vorstellungskraft. Das schließt die mangelnde Fähigkeit zur sprachlichen Differenzierung ein, denn die Menschheit denkt in Phrasen und Allgemeinplätzen (die so verbreitet sind, dass Kraus einmal dem Staat zu dessen Gunsten vorgeschlagen hat, eine Phrasensteuer zu erheben, um so aus dem Elend Kapital zu schlagen 12). Das alles wird mit einem hohen Maß an Überheblichkeit und Anmaßung gesagt. Kraus geht sogar soweit, das Publikum seiner Fackel in den Objektbereich seiner satirischen Rede einzuschließen. Er misstraut dem Publikum, denn es zeigt sich weitgehend nur am Skandal interessiert, nicht aber an der Information. Wenn es nach Wahrheit verlangt, will es doch nichts anderes als Opfer sehen. Es zeigt sich von der Sensation und dem journalistischen Stil der Pressewelt beeindruckt und merkt gar nicht, dass es dadurch das eigene Urteilsvermögen verliert. Deshalb schreibt Kraus: "Ich sage, daß der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit des Publikums ist." 13 10 Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1989, S. 9-10. 11 Ebd., S. 14. 12 Ebd., S. 427. 13 Ebd., S. 18. 107 Der Satiriker, der so spricht, spricht eine Rollenrede. Kraus, der als Privatperson von seinen Zeitgenossen als umgänglich, freundlich und zugewandt beschrieben wird, 14 spricht als satirischer Autor mit größtmöglicher Distanz zur Welt und zu den Menschen. Er spricht als Prophet, der das kommende Unglück erkennt und als Richter, der mit unerbittlicher Strenge sein vernichtendes Urteil über die Menschheit ausspricht. Mit dem Pathos seiner Rede gleicht er dem Heros, mit dessen Taten seine Rede die Außergewöhnlichkeit und Überhöhung teilt. In seiner Einsamkeit gleicht er dem asketischen Einsiedler, in seinem Zynismus aber dem Menschenfeind. Er ist von der Gattung Mensch enttäuscht und wünscht, keine Gemeinschaft mit ihr zu haben. Das alles ist natürlich der Rhetorik, also der Wortkunst und der Wirkungsabsicht seiner Rede geschuldet; das ist aber auch auf die Anforderungen abgestimmt, denen das Maskenspiel des Satirikers folgt. Der Satiriker kritisiert und will ernst genommen werden. Er zeigt auf, was sonst niemand wahrnimmt. Er registriert das kosmische Ausmaß der kommenden Katastrophe, das von anderen nicht zur Kenntnis genommen wird. Darum schlüpft er in eine archetypische Rolle, in der Hoffnung, dass seine prophetische Rede ihm Glaubwürdigkeit verleiht und Zustimmung einbringt. Zur Steigerung und Beglaubigung seiner Schmährede bedient er sich der Anspielungen auf die Offenbarung des Johannes. Von der grassierenden Phantasielosigkeit seiner Zeitgenossen spricht Kraus wie folgt: Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und daß sie sich einander erwürgten.15 Das ist biblische Rede ohne religiösen Gehalt. Ein heilsgeschichtliches Geschichtsmodell, wie es in der Offenbarung des Johannes enthalten ist, ist bei Kraus nicht zu erkennen. Gleichwohl gilt: Alle Satire, also auch die strafende Satire ist nicht nur Negation und Ablehnung. In der Kritik drückt sich ein Bewusstsein für das 14 Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 244-250. 15 Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie (Anm. 10), S. 12. 108 Positive aus. So auch bei Kraus, wenn auch nur ansatzweise und undeutlich. Eine Zentralvokabel für Kraus ist "Natur". Sie steht für eine nicht von den Erscheinungen der Moderne beschädigte Welt. Die Menschen sind dumm; sie reden in Phrasen; ihnen fehlt die Phantasie; ihre Herzen sind ausgehöhlt. Die kommende Zerstörung und die künftige Katastrophe reagieren darauf. Zerstörung und Katastrophe sind nicht die unmittelbare Folge der Krise der Vernunft, also deren Hervorbringung, sondern eine Gegenkraft, also Antwort auf die Krise der Vernunft. Zerstörung und Katastrophe sind insofern schöpferisch, als sich in ihnen der Geltungsanspruch der Natur ausdrückt. Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler.16 Kraus übernimmt aus der biblischen Darstellung der Apokalypse den Wortschatz des Untergangs und ebenso die Polarität von Untergang und Erneuerung, wenn auch nicht in solch forcierter Form, wie es in der Offenbarung des Johannes der Fall ist. Der Untergang ist bei Kraus auch keine Etappe in einem nach vorn gerichteten Geschichtsprozess, sondern der Besinnungsmoment in einem Wiederherstellungsprozess, in dessen Verlauf ein Verlorenes wieder an Gestalt gewinnt. IV Kraus liefert ein literarisches Beispiel für apokalyptische Rede. Andere Autoren stellen die Fiktion ihrer literarischen Texte in den Horizont der Apokalypse. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Welt eines Romans eine Welt des Untergangs ist. Im Jahr 2004 erschien auf dem deutschen Buchmarkt der sogleich äußerst erfolgreiche Roman eines meereskundlich versierten Autors, Frank Schätzings Der Schwarm. Das Buch ist vielfach aufgelegt worden, auch als Hörbuch. Im Internet wird es von 16 Ebd., S. 10. 109 allerlei Begleitmaterial flankiert. Die Filmrechte sind inzwischen verkauft. Das Buch ist sicherlich kein großes Buch, denn es fehlt ihm einer von zwei Reizen. Das Buch drängt zwar bei der Lektüre trotz seiner ehrfurchtsgebietenden Länge zur Vorwärtsbewegung − man will wissen, wie die erzählte Geschichte voranschreitet und wie sie schließlich endet −, aber es fehlt ihm das Verharrungsmoment; an keiner Stelle will man bei der Lektüre innehalten und einzelne Sätze oder Formulierungen wieder und wieder lesen. Dennoch ist das Buch gut als Lehrstück geeignet: Es lässt uns über den Umgang mit apokalyptischem Denken reflektieren. Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, die von einem Prolog und einem Epilog gerahmt werden. Vor allem im ersten Teil wird eine pandämonische Welt zur Darstellung gebracht. In den Meeren des gesamten Globus ereignen sich gleichzeitig außergewöhnliche, zunächst unerklärliche und vor allem verheerende Katastrophen. Am Meeresboden vor Norwegen wird eine bislang unbekannte Art von Borstenwürmern entdeckt. Ihre Exemplare haben eine abnorme Gestalt. Diese Würmer bewirken mit ihren Kauwerkzeugen am Kontinentalschelf vor der skandinavischen Nordseeküste eine große Instabilität des Meeresbodens. Unterwasserplattformen der großen Ölgesellschaften werden dadurch betriebsunfähig und stürzen in sich zusammen. An der Ostküste der USA werden Schiffe mit Touristen, die zu Whale Whatching Touren aufgebrochen sind, von Walen attackiert. Wie es zunächst erscheint und sich später bestätigt, geschieht dies in organisierter Form. Formationen von Walen greifen Schiffe und Menschen an, zerstören die einen und bringen die anderen zu Tode. Es stellt sich heraus, dass die Tiere über einen Willen und die Fähigkeit zum planenden Handeln verfügen. An der chilenischen Küste verschwinden zur selben Zeit unter mysteriösen Umständen Fischer und ihre Boote. In Südamerika und Australien kommt es zu Qualleninvasionen in bislang unbekannten Ausmaßen. Dabei handelt es sich um hochgiftige Quallen, die den sommerlichen Badebetrieb an den Stränden und überhaupt jeglichen Tourismus vor Ort sofort zum Erliegen bringen. Vor Costa Rica verbreitet sich eine Quallenart namens Portugiesische Galeere. Eine solche Qualle ist nicht denen ähnlich, die wir von der Nord- und Ostsee her kennen. Sie tritt in Kolonien 110 aus vielen Einzeltieren auf; gemeinsam bilden sie ein gasgefülltes Segel, mit dem sich die Windkraft zur Fortbewegung nutzen lässt. Jede Zelle dieses Verbundes birgt eine Kapsel mit einem zusammengerollten Schlauch. Bei Berührung entfaltet der sich blitzschnell und schießt harpunenartig Giftnesseln auf sein Opfer, das nur selten dem Tod entkommt. Vor Australien taucht die sogenannte Seewespe auf. Das Gift eines einzigen Tieres reicht aus, um 250 Menschen zu töten.17 In Frankreich sorgen sonderbare Hummer für Verunsicherung. Sie sind toxisch. Manche von ihnen gelangen durch die Handelskette sogar in Sterne-Restaurants, wo sie für tödliche Vorkommnisse sorgen. Ähnlich toxisch sind massenweise auftretende Krebse, die zunächst New York, dann die ganze amerikanische Ostküste in den Ausnahmezustand versetzen. Massenerkrankungen sind die Folge. Die großen Städte, darunter Washington müssen aufgegeben werden. Planktonschwärme führen auf allen Weltmeeren zu Schiffskollisionen, denn sie setzen die Ortungssysteme und Echolotanlagen außer Kraft. Die Veränderungen in den Meeren gehen soweit, dass die großen Meeresströme Irritationen erfahren. Niemand kann sich erklären, wie es dazu kommt. Sogar der Golfstrom verliert an Kraft. Eine neue Eiszeit wird als Folge befürchtet. Während all dies die Menschheit in Schrecken versetzt und das Chaos überall ausbricht, bewirken die Aktivitäten der Borstenwürmer in der Nordsee ein gewaltiges Seebeben. Der Kontinentalschelf bricht zusammen, ungeheure unterseeische Erdabrutsche brechen sich Bahn, wodurch übergroße Methangasblasen frei gesetzt werden, die ihren Weg nach oben suchen und schließlich die Atmosphäre verpesten. Die großen interkontinentalen Datenkabel werden bei diesen Ereignissen zerstört; die weltweiten Kommunikationsnetze brechen zusammen. Das Seebeben löst einen Tsunami in Nordeuropa aus. Die Darstellung dieser verheerenden Überschwemmung gehört zum Eindrucksvollsten, was der Roman zu bieten hat. Bis ins kleinste Detail wird beschrieben: Wie zuerst das Wasser plötzlich zurück17 Frank Schätzing: Der Schwarm. Frankfurt/Main: Fischer. 4. Auflage 2005, S. 199-201. 111 geht; wie es dann mit gewaltigem Donner und in Küstennähe als tosende senkrechte Wellenwand wiederkehrt. Alle Anrainerstaaten der Nordsee sind betroffen. Bohrinseln kippen, Schiffe werden durch die Luft gewirbelt, Frachter zerschlagen. Schiffe, die auf See der Welle standgehalten haben, werden in den nachfolgenden Wellentälern verschluckt. 18 Küstenlandschaften werden überschwemmt, Dämme bersten, Hafenbefestigungen zerbrechen, die Fjorde in Norwegen werden zu Todesfallen. Auf andere Art zerstörerisch als die heranrollenden Flutwellen wirken sich die abfließenden Wassermassen aus. Ihr Sog zieht alles mit sich, Schlamm und Trümmer, Bäume, Äste, Hauswände, Fahrzeuge. Wer von solchem Wasser erfasst wird, gerät in einen aussichtslosen Überlebenskampf. Was zurückbleibt, ist ein unwirtliches Land mit zusammengebrochener Infrastruktur: Unkontrollierbare Feuer wüten, die Stromversorgung ist unterbrochen genauso wie die Kühlwasserzufuhr der küstennahen Atomkraftwerke, die medizinische Versorgung kann nicht mehr gewährleistet werden. 19 An hervorgehobener Stelle, nämlich vor dem ersten Romanteil, stehen zwei Motti. Eines davon zitiert aus der biblischen Apokalypse: Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im Meer starben. Der dritte goss seine Schale über die Flüsse und Quellen. Da wurde alles zu Blut. Und ich hörte den Engel, der die Macht über das Wasser hat, sagen: Gerecht bist du ... 20 Das große Zerstörungswerk, das der erste Teil des Romans eindringlich beschreibt, steht kraft dieses Mottos im Bannstrahl des biblischen Untergangsmythos. Dadurch wird zweierlei erreicht. Erstens wird die Geschichte der Katastrophe, die der Roman erzählt, im Spiegel einer anderen Geschichte, eben der biblischen Apokalypse mitgeteilt. Und zweitens wird die erzählte Geschichte einem bestimmten Verstehen, eben einem religiösen zugeführt. 18 Vgl. ebd., S. 425. An dieser Stelle fällt das Wort Apokalypse. Vgl. ebd., S. 481. 20 Ebd., S. 25. 112 19 Die Überlagerung einer Geschichte mit einer anderen, strukturell ähnlichen Geschichte dient der Intensivierung. Autoren machen das, um ihren literarischen Stoffen Gewicht zu verleihen. In diesem Sinn erinnern Andreas Gryphius' Trauerspiel Carolus Stuardus (1657) ebenso wie Goethes Werther (1774) in Einzelheiten an die Passion Christi. In diesem Sinn ist Franz Biberkopf, der Held in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) als HiobGestalt konzipiert und Adrian Leverkühn, die Zentralfigur in Thomas Mann Doktor Faustus (1947) als moderner Faust. Die Überlagerung und Doppelung der erzählten Geschichte dient aber auch der Relativierung des Unmittelbaren. Die erzählte Geschichte wird in Bezug zu einer anderen Geschichte gestellt. Ein Vergleich wird provoziert. Die in der Fiktion des Romans Der Schwarm dargestellte Katastrophe wird im Licht der anderen Erzählung begreiflich gemacht. Der aufmerksame Leser, dem dieses Detail nicht entgeht, rezipiert die Geschichte im Licht eines ihm bekannten Musters. Das kleine Element, das das Motto darstellt, ist deshalb von großer Bedeutung für die Wahrnehmung des Textes. 21 Die Johannes-Apokalypse handelt von Strafe und Vergeltung. Das sündhafte Leben der Menschen, ihre moralische und religiöse Verfehlung bewirkt die Reaktion Gottes und letztlich den Untergang. Das Muster von menschlicher Verfehlung und göttlicher Strafe wird durch das Motto auf Schätzings Roman übertragen. Hier ist es allerdings nicht die moralische Verfehlung, die zur Katastrophe führt, sondern die ökologische Verfehlung. In diesem Sinn ist von der umweltzerstörenden Emission von Treibgasen die Rede, 22 auch von der Überdüngung der Meere, 23 der Überfischung, der Vergiftung der Meere und der Klimaerwärmung. 24 Und es ist auch keine göttliche Strafe, von der der Roman handelt. Die Ursache der Katastrophe ist anderer Natur als die in der biblischen Apokalypse. Weite Strecken des Romans gelten der Erkundung dieser Ursache. Und diese Ursachenfor21 Das wird flankiert durch einige Verweise auf die Apokalypse laufenden Text; vgl. ebd. S. 234, S. 425 , S. 487, S. 569 und S. 805. 22 Vgl. ebd., S. 226. 23 Vgl. ebd., S. 204. 24 Vgl. ebd., S. 234. im 113 schung führt weit weg von dem Muster, das durch den Bibelbezug vorgegeben wird. International renommierte Wissenschaftler, Politiker und Militärs finden sich zu einem Team zusammen oder werden einberufen, um die Katastrophe zu verstehen. Das Ganze geschieht mit dem Ziel, die bedrohte Menschheit zu retten. Einige Erklärungen werden vermutungsweise geäußert, um sogleich verworfen zu werden. Weder kann das verheerende Geschehen auf terroristische Aktivitäten zurückgeführt werden noch auf Mutationen in der Tierwelt. Nach vielen Beobachtungen, Untersuchungen und Erkundungen, die von vielen Schritten der Hypothesen- und Theoriebildung begleitet werden, erkennt man in dem katastrophalen Geschehen das Wirken einer anderen als der menschlichen Intelligenz. Es handelt sich um eine unterseeische Intelligenz, die überaus flexibel, anpassungsfähig und darum überlebensfähig und sogar zur kollektiven Erinnerung fähig ist. Es ist eine Form von kollektiver Intelligenz, die in Gestalt von Zellschwärmen agiert. Mit großer Effizienz geht diese Lebensform daran, seinen Lebensraum, den der Mensch zu zerstören droht, zu behaupten. Dem Menschen gelingt es zwar, diese Lebensform zu erkennen, aber es gelingt ihm nicht, sie zu vernichten oder in ihrem Wirken einzuschränken. Am Ende zieht sich das mysteriöse Wesen in die Tiefen des Meeres zurück, ohne dass in Erfahrung gebracht werden kann, ob es und gegebenenfalls wann es wieder gegen den Menschen opponiert. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, bleibt prinzipiell bestehen. Eine Errettung der Menschheit ist nicht mit Sicherheit gelungen. In diesem Punkt verlässt der Roman die anfangs eingeräumte apokalyptische Dimension. Der Anfang des Romans beschreibt ein katastrophales Geschehen. Es wird zunächst in den Begriffen des apokalyptischen Untergangs mitgeteilt. Am Ende aber stellt sich das Geschehen nicht als eine Geschichte des Untergangs, sondern als eine Geschichte der Veränderung dar. Eine neue Lebensform hat sich entwickelt. Sie ist dem Menschen vermutlich evolutionär überlegen. Und der Mensch hat das zur Kenntnis zu nehmen. Frank Schätzings Roman Der Schwarm ist ein zivilisationskritischer Abenteuerroman. Von dem Potenzial der Literatur, mit viel Erfindungsgabe alles Mögliche zur Darstellung zu bringen, 114 macht er reichlichen Gebrauch. Eines scheint mir dabei wichtig zu sein. Wenig ist schwieriger als nicht pessimistisch zu sein. Wir meinen leichtfertig, dass früher alles besser, heute aber alles schlechter sei und die Zukunft noch miserabler werde. Kleine bis große Katastrophen verleiten rasch dazu, den universalen Untergang kommen zu sehen. Ein solch apokalyptisches Denken kann seine Ursache darin haben, dass der Mensch mit dem Verstehen der Gegenwart, zumal mit dem Verstehen von schrecklichen Ereignissen überfordert ist. Er flüchtet sich in den Mythos, der ihm vertraut ist. Der Roman zeigt aber auch, dass man Ereignisse und Vorkommnisse schlichtweg als Veränderungen ansehen kann. Diese können schmerzlich sein, müssen aber darum nicht von vornherein als Vorboten eines kommenden Untergangs gesehen werden. Schon eine vorsokratische Weisheit sagt, dass die Welt ständig im Fluss ist. Sie ist heute anders als gestern und wird vermutlich morgen anders sein als heute. Das Klima ändert sich, wie es das schon immer getan hat, und ebenso die Gesellschaft. Staaten zerfallen, Staaten entstehen. Nicht der Untergang, sondern die Veränderung ist der Normalfall. Man kann diese Sichtweise mit John Gray als realistisch bezeichnen. 25 Schätzings Roman illustriert diese Lehre. Das sind nur zwei Beispiele für die literarische Anverwandlung der biblischen Apokalypse. Dem ließen sich viele weitere literarische Adaptionen des biblischen Mythos hinzufügen. Ein großer Formenreichtum im Umgang mit der Vorlage würde sich dadurch auftun. In jedem Fall würde sich folgende unspektakuläre Einsicht bestätigen: Die Bibel ist ein wichtiger Baustein im Fundament der abendländischen Kultur. Wer diese verstehen will, muss jene in seine Überlegungen einbeziehen. Weiterführende Literatur John Gray: Politik der Apokalypse. Wie die Religion die Welt in die Krise stürzt. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 2010. Der aus dem Geist eines Anti-Idealismus geschriebene politische Essay 25 Gray: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt (Anm. 9), S. 296-316. 115 eines Ideengeschichtlers beschreibt das Nachwirken religiöser, insbesondere apokalyptischer Anschauungen in Ideologien der Vergangenheit und Gegenwart. Dietrich Hardt (Hg.): Finale! Das kleine Buch vom Weltuntergang. München: Beck 1999. Die bunte Anthologie versammelt Texte und Textausschnitte, die den Untergang thematisieren. Von Platon bis Prince. Gerhard Henschel: Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes. Frankfurt am Main: Eichborn 2010. Darstellung zentraler Topoi der Rede vom Untergang. Immanuel Kant: Das Ende aller Dinge. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band 9. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 173-190. Nach Kant entspringt die Rede davon, dass es ein absolutes Ende der Erscheinungen in Raum und Zeit gibt, einem Wunderglaube. Der menschliche Erkenntnisapparat ist überhaupt nicht in der Lage, Derartiges zu denken. François Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Stuttgart: Reclam 2010. Eine materialreiche historische Darstellung des Denkens in Kategorien von Untergang und Apokalypse. 116 Guido Graf Es gibt keinen Sieger außer Gott. Goethe und der 11. September 2001 Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass im Leben der Menschen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens, also der heutigen Staaten, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Makedonien, Kosovo, vor etwa 1990 Religion keine große Rolle gespielt hat. Die Region hat sich dann − Sie wissen das − wieder ethnisiert, nationalisiert und damit auch rereligionisiert. In der Bibliothek des Goethe-Instituts von Sarajevo stehen heute, neben diversen Ausgaben der Werke von Johann Wolfgang Goethe sowie des Goethe-Handbuchs und ein paar anderer Titel der Sekundärliteratur auch zwei Bücher, die zwar einen jeweils anderen Titel tragen, sonst aber identisch sind. Beide Bücher gehören zum Präsenzbestand, können also nicht ausgeliehen und nur in der Bibliothek eingesehen werden. Das eine ist 2008 in einem Verlag in Sarajevo erschienen und trägt den Titel Goethe I Islam und stammt von Katharina Mommsen. Es ist die bosnische Übersetzung des anderen Buches, der deutschen Ausgabe der berühmten Goethe-Forscherin Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. 1 In den Bibliotheken der Goethe-Institute von Belgrad und Zagreb sucht man das Buch vergeblich. Warum dem abzuhelfen ein Beitrag wäre, der durch Krieg und Nationalismus erpressten kulturellen und religiösen Identität etwas von der früher größeren Offenheit und etwas an Bereitschaft zur Verständigung entgegen zu setzen: das versuche ich im Folgenden zu erklären. Zunächst noch ein weiteres Beispiel für die mögliche Rolle der Literatur als säkularer Friedensstifterin: Seit ein paar Jahren gibt es das Netzwerk TRADUKI: ein europäisches Netzwerk für Literatur und Bücher, an dem Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Österreich, Rumänien, die Schweiz, Serbien und 1 Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. 117 Slowenien beteiligt sind. Getragen wird es vom Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland, der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, vom Goethe-Institut und einigen anderen mehr. Mit einem Übersetzungsprogramm für Belletristik, aktuelles Sachbuch sowie Kinder- und Jugendbuch des 20. und 21. Jahrhunderts wird der Austausch zwischen den Beteiligten gefördert werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Übersetzern, deren Wirken als wichtige Kulturmittler dem Projekt den Namen gegeben hat. Begegnungen zwischen Autoren, Übersetzern, Verlegern, Bibliothekaren, Kritikern und Wissenschaftlern sollen den europäischen und interregionalen Informationsaustausch fördern und die Kooperation stärken. Wenn also etwa ein Werk wie Zwischen Naturalismus und Religion von Jürgen Habermas ins Bosnische übersetzt wird oder eine Konferenz wie „Gefährliche Erinnerungen und Versöhnung“ ausgerichtet wird, bei der zahlreiche Referenten über die Rolle der Religion in postkonfliktären Gesellschaften sprechen, leistet das ganz unmittelbar einen Beitrag zur Verständigung, wie ihn nur die Literatur vermag. Im Rahmen der diesjährigen Veranstaltung wurde auch die kroatische Übersetzung des von Johann Baptist Metz herausgegebenen Buches Landschaft aus Schreien. Zur Dramatik der Theodizeefrage vorgestellt. Im Angesichts des Leids Unschuldiger nach Gott zu fragen, gehört in das Zentrum der Gottrede in monotheistischen Religionen wie Christentum oder Islam. „Gott“, heißt es ziemlich zu Anfang von Thomas Lehrs Roman September. Fata Morgana, „Gott schläft niemals.“ 2 Diesen Satz hören wir von Muna, einer der vier Hauptfiguren in diesem Buch, das eigentlich nur aus Stimmen besteht. Alles, was wir lesen, ist stimmhaft, will laut gelesen werden und kommt ohne jeden Punkt und Komma aus. Das ganze dicke Buch lang, wohlgemerkt. Vier Stimmen sind es, vier schlaflose Stimmen, die sich ganz und gar verlassen fühlen, denen alles genommen wird, die Hoffnung, der Atem, den es braucht zum Leben, die Zeit, in der 2 Thomas Lehr: September. Fata Morgana. München/Wien: Hanser 2010, S. 35. 118 man Atem schöpft, markiert durch Punkt oder Komma. Erst ganz am Ende des Romans steht ein Punkt. Dann ist es vorbei. Für Muna, für ihren Vater, den irakischen Arzt Tarik, für Martin, den deutschen Germanisten und Goetheforscher, und für Martins Tochter Sabrina, die bei ihm in den USA lebt. Gott schläft niemals und lässt geschehen, was uns tausendfach bekannt vorkommt, aus der Nachrichtenperspektive, aus der sicheren Distanz, mit der Fernbedienung in der Hand. Martin, der Goetheexperte, verliert seine Tochter Sabrina. Sie kommt am 11. September 2001 im World Trade Center in New York ums Leben. Drei Jahre später, der sogenannte Krieg gegen den Terror ist, wie wir wissen, noch lange nicht vorbei und wir empfangen täglich Nachrichten von Anschlägen aus Bagdad und anderen Städten im Irak und manchmal scheint es, als wäre das mittlerweile nur noch ab einer bestimmten größeren Anzahl von Toten die Nachricht überhaupt wert, − drei Jahre später also verliert auch der Arzt Tarik seine Tochter. Muna stirbt 2004 bei einem Bombenattentat. Gott schläft niemals. Er hat alle Hände voll zu tun. „Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen“, heißt es in der Bibel, in Psalm 121, „und der dich behütet schläft nicht.“ Und auch im Koran steht, dass Gott je weder Schlummer noch Schlaf ergreift. Diese vier Stimmen montiert Thomas Lehr keineswegs als parallele Tonspuren, sondern erzählt wie über Kreuz. Es gibt Anschlüsse und Brüche, es gibt Überschneidungen, Korrespondenzen. Unmerklich dringen wir ein in eine Spiegelwelt, die nicht nur die Facetten christlich und islamisch geprägter Kulturen enthält, verschränkt und überblendet, sondern auch ein komplexes intertextuelles Spiel mit Goethes spätem dichterischen Großwerk, dem West-östlichen Divan in Szene setzt. Martin etwa, der Goetheforscher, sucht nach seiner Hafis-Ausgabe, nach der einzigen, „die halbwegs erfolgreich versucht die arabischen Metren ins Deutsche zu übertragen“, in der ein handgeschriebenes Etikett klebt: „geklaut von Papa“.3 Er findet das Buch im einstigen Mädchenzimmer seiner nun toten Tochter. Hafis ist für ihn, wie Hafis es auch für Goethe war, ein Bruder. „Ich brauche jemanden der mir das alles zu verstehen hilft“. Hafis als Spiegel erklärt ihm nichts. 3 Lehr: September (Anm. 2), S. 19. 119 Was er liest bei Hafis, ist für Martin ein „Ornament aus Zeit, aus Licht“: „Auf einem Himmelsblatt aus Wein / schwebt still von Ost nach West der Traum. / Der Flug, der Stahl, das Öl, der Tod. / Ein Finger schreibt es an die Wand: / Aus Blut wird Glas, aus Glas wird Sand.“ 4 Und natürlich ist der Dichter Hafis, den auch Goethe immer wieder liest und den er dann zu einer zentralen Referenz und geradezu Figur im Divan macht, eine Erfindung, ein Wunschsubjekt, eine Strahlkraft, der sich Goethe anvertraut, der er − ganz seiner selbst bewusst und reflektierend - auch durchaus kritisch begegnet − aber eben so, wie man auch sein Spiegelbild kritisch mustert, wie man sich als einen anderen imaginiert und sich so eine Aura leiht, um etwa der eigenen Arbeit einen Ansporn zu geben, eine neue Legitimation. Hafis, der persische Dichter des 14. Jahrhunderts, begegnete Goethe im Mai 1814, in Gestalt einer zweibändigen Sammlung der Gedichte in der Übersetzung Josef von Hammers, die Goethe als Geschenk seines Verlegers Cotta erhielt. Sofort war Hafis für Goethe eine „mächtige Erscheinung“, gegen die er sich wenn nicht zur Wehr, so doch in irgendeiner Weise verarbeitend verhalten musste: „Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bei mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, tat sich hervor, und dies mit um so mehr Heftigkeit“, schreibt Goethe in den Tag- und Jahresheften, „als ich höchst nötig fühlte mich aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im Stillen bedroht, in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen Teil zu nehmen meiner Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war.“ 5 Damit umschreibt Goethe exakt die Lage, in der sich Thomas Lehrs Protagonist Martin in September. Fata Morgana befindet. Dieser Andere als Spiegelfigur, ob Hafis für Goethe oder in Thomas Lehrs Roman Tarik für Martin, darf zugleich Dinge sagen, die anders nicht möglich wären. Er gewährt im Spiegel eine mögliche andere Welt und für die Dauer dieses fragilen Spiegelstadiums auch die Vorstellung eines besseren oder überhaupt eines Verstehens. Denn in der imaginierten anderen 4 Lehr: September (Anm. 2), S. 20 f. Johann Wolfgang Goethe: Tag- und Jahreshefte. In: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I, Bd. 17. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1996, S. 260. 120 5 Identität löst sich die Ähnlichkeit zugunsten einer idealen, zumindest projektierten Einheit auf − bei Goethe; bei Thomas Lehr bleibt von dieser für Goethe das gesamte Leben prägenden Möglichkeit nur noch eine Ahnung und verwandelt sich angesichts der realen Schrecken von der schönen Utopie in eine Dystopie, in der Hafis Stimme zerrinnt wie Blut und Glas und Sand. Aber nein, das Bild stimmt nicht. Die Stimme zerrinnt nicht. Etwas zerbirst. Das Bild vermutlich, das Bild von Hafis, der spricht und ausspricht, was Versöhnen meint, Verstehen, was fromm ist in einem Sinn von Selbstbesinnung, Vertrautheit meint mit dem Wort Gottes, das allein imstande ist, dem Zweifel die Zuversicht an die Seite zu stellen. Nichts, scheint es, bleibt von dieser Zuversicht. „Goethes Hauptwerke I“ − Martin versucht zu lesen, versucht, sich zu konzentrieren. Doch CNN kommt dazwischen: ich lese täglich die Zeitungen ich lese eine Stunde am Morgen ich sehe jeden Tag eine Stunde Fernsehnachrichten ich treibe mit aufgeschlitztem Kopf auf den vollen Kanälen ich treibe in den so genannten Ereignissen (die die Kinder anderer Menschen an anderen Orten töten) ich sah Blackhawks über dem Hindukusch. 6 Martin bereitet sich − eigentlich − vor auf eine Vorlesung über Goethe und die Frauen, über Goethe und Marianne Willemer, die Suleika aus dem Divan, die junge Frau, die seine Tochter hätte sein können, die verheiratet war wie er auch, als sie sich in Rheingegenden kennen − und eigentlich auch lieben lernten, die er dann aber nur als Korrespondentin und auch − das ist das eigentlich Erstaunliche − als Mit-Dichterin zu seiner Geliebten machte, so wie sie ihn zu ihrem Geliebten erklärte. Hafis ist ihr Mittler, die Brücke, auf der sie sich begegnen, in orientalischer Verkleidung, die doch weit entfernt davon ist, eine Maske zu sein. Vor ein paar Jahren machte sich Thomas Lehr auf eine Reise nach Syrien und Jordanien, um für seinen Roman zu recherchieren. Er fuhr los mit der Erwartung, überall auf Misstrauen zu stoßen. Täglich mehrmals einen Mokka im Café trinken, einen Sesamkringel am Bäckerkarren kaufen, der freundliche Pförtner am Eingang zur Moschee, der ihn auffordert, ruhig alles zu fotografieren. Wie viele von uns war Thomas Lehr bei der Arbeit, als 6 Lehr: September (Anm. 2), S. 199. 121 die Nachrichten kamen von den Anschlägen in New York und Washington am 11. September 2001. Vom Nachmittag an verbrachte Lehr vor dem Fernseher und ließ sich von dem Strudel der Bilder treiben. CNN gab den Takt vor. So groß die Betroffenheit aber auch war: Lehr begann sofort, alles Mögliche mit dem Videorecorder aufzuzeichnen. Er wollte verstehen: Das Blau am Morgen es ist fast ein Jahr her es ist wieder September das Ende eines Sommers das wolkenlose Blau schneidet durch die Vorhänge nein dringt durch einen senkrechten Spalt dazwischen es ist natürlich nicht das Blau sondern nur die Helligkeit das weiße Licht das meine geschlossenen Lider trifft die unerträgliche Energie und Brillanz des späten Sommertages immer wieder kommt es mir so vor als erwachte ich taub (betäubt) als wäre es möglich dass mich das Licht die Helligkeit das gnadenlos unempfindliche Blau vor allen profanen Geräuschen einholt und mir eine örtliche Betäubung (Betäubung des Ortes) verpasst es scheint mir als erwachte ich auf einer ungeheuren Fläche dem Blue Screen mit im HEITEREN HIMMEL ich kann das deutsche Wort nur noch als Drohung denken als blankes zerstörerisches Potenzial aus einem solchen Himmel kann man nur fallen 7 Ohne zu wissen, was kommt: ins Blaue hinein. Der klare blaue Himmel an diesem Morgen des 11. September 2001 in Manhattan. Immer wieder taucht in Berichten und Reflexionen über die Katastrophe dieser blaue Himmel auf. Blau ist für Goethe die Farbe verlorener Nähe. Blau, im Diwan, ist die Farbe der Vergangenheit: Es klingt so prächtig, wenn der Dichter / der Sonne bald, dem Kaiser sich vergleicht; / Doch er verbirgt die traurigen Gesichter, / Wenn er in düstern Nächten schleicht. // Von Wolken streifenhaft befangen, / Versank zu Nacht des Himmels reinstes Blau; / Vermagert bleich sind meine Wangen / und meine Herzenstränen grau. 8 Blau ist die Farbe der Trauer und des Schmerzes, der Andacht und der Entsagung, Blau ist die Farbe der Flucht: 7 Lehr: September (Anm. 2), S. 158. Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II. München: C.H. Beck 1988, S. 81 f. 122 8 Und immer ging es weiter, Und immer ward es breiter, Und unser ganzes Ziehen, Es schien ein ewig Fliehen, Blau, hinter Wüst und Heere, Der Streif erlogner Meere. 9 Drei Jahre lang hat Thomas Lehr dieses Blau für seinen Roman erforscht. Seinen Protagonisten Martin, den Goetheforscher, der so recht gar nicht mehr zu Goethe zu kommen scheint, lässt er Gleiches tun. Je mehr er liest und sieht, um so mehr verkehren sich die Fragen „wie konnte das passieren“ und „weshalb hassen sie uns so“ in böse Märchen. Er beginnt zu verstehen und gleichzeitig wird die Möglichkeit des Verstehens durchkreuzt vom Schmerz und von der Wut auf die Mörder seiner Tochter. Er liest, was Mohammed Atta und die anderen zur Begründung ihrer Taten vorab geschrieben haben und inmitten dieser Sätze, die ihm größtenteils vorkommen, als ginge es um ein Spiel, um einen islamistisch verkleideten Ego-Shooter, in dem man Allahs Highscore schlagen muss und Gott doch der beste Spieler bleibt, mitten darin trifft ihn dann doch dieser eine Satz: „denn wir haben unser Leben verschwendet und nun ist Gelegenheit gekommen uns Gott hinzugeben und ihm zu gehorchen“10. Entsagung. Was für ein Gedanke! Entsagung und Zuversicht − Gottvertrauen wäre noch ein anderer Ausdruck − als zentrale Bausteine islamischen Glaubens, wie sie Goethe für sich geheiligt und zu seiner ganz persönlichen Religion erhoben hat, werden auch von den Mördern in Anspruch genommen. Unter all den Zeitungsausschnitten und Videobändern wird Martin müde. Die Sehnsucht nach Schlaf ist von der Erschöpfung nicht mehr zu unterscheiden: was bleibt übrig was bleibt uns übrig … als Trauer und Scham und gezielte Verbrecherjagd und Einsicht in die eigene Schuld was bleibt übrig ich träume ich alpträumte der alte Goethe sei gekommen und wollte Sabrina heiraten. 11 Alles geschieht mit Verzögerung. Nicht allein der Verlust der Tochter, die Katastrophe selbst wirkt immer noch nach und ihre mediale Inszenierung mindestens ebenso. Das Bild der Wirklich9 Goethe: West-östlicher Divan (Anm. 8), S. 42 f. Lehr: September (Anm. 2), S. 206. 11 Lehr: September (Anm. 2), S. 209. 10 123 keit hat sich aufgelöst.12 Die Derealisierung fordert die Sehnsucht nach Überwindung heraus, den Wunsch nach Halt in einem anderen Raum, ein Versprechen für eine „wirklichere Wirklichkeit“. Im Kern ist es eben dieser Impuls, der auch Thomas Lehr angetrieben hat, seinen Roman zu schreiben: die überlebensgroß inszenierte mediale Oberfläche einer vorgeblich religiös inspirierten Terroraktion zu durchdringen und mit literarischen Mitteln eine neue Tiefendimension zu erzeugen, eine Transzendierung des aktuellen historischen Objekts. Zur Hilfestellung hat Lehr dazu Vorlagen aus der Literatur herangezogen wie Homers Ilias, aber auch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht und natürlich ganz besonders den West-Östlichen Divan von Goethe. Dort treten Goethe und Hafis in einen − dichterischen − Dialog miteinander. Sie wurden zu dem deutschen Goetheforscher Martin in New York und dem irakischen Arzt Tarik. Aus den Schwestern Scheherezade und Dinharazade aus Tausendundeiner Nacht wurden die Töchter Sabrina und Muna, und von Homer hat Lehr gelernt, dass man einen kriegerischen Konflikt am besten aus zwei Perspektiven erzählen sollte. Diese vier Stimmen treten in einen imaginären Dialog miteinander. Der Dialog ist für Lehr das mindeste, was uns von Kriegen abhält. Am Ende des Romans kommt heraus, dass dieser Dialog ausschließlich im Kopf von Martin, dem trauernden Vater, stattfindet. Sich imaginär in diese anderen Stimmen und ihre andere Kultur hineinzudenken, ist Martins Form der Trauerarbeit: auf einem Holzstuhl vor dem steinernen Tisch das Glas gefüllt mit dem flüssigen Rubin Herzblut des Engels der uns einmal die Augen öffnen wird am Ende des Schlafes Leben ich brauche jemanden der mir das alles zu verstehen hilft.13 Auch Goethe ist mitten im Krieg, als er am West-östlichen Divan arbeitet. 1815 schlägt Napoleon Bonaparte seine letzten Schlachten und Goethe, geschmückt mit dem Orden der Ehrenlegion, tritt ein bei der Familie Willemer in der Gerbermühle bei Oberrad am Main. Vom 12. August bis zum 15. September bleibt er da. Mari12 Vgl. Klaus Theweleit: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. Frankfurt/Main: Stroemfeld 2002. 13 Lehr: September (Anm. 2), S. 20. 124 anne Willemer ist verheiratet. Doch die Ehrfurcht ihres Gatten, des Bankiers Johann Jakob Willemer, gegenüber Goethe ist groß. Er, der weitaus Ältere, hat auch gegenüber seiner jungen klugen Frau ein großes Herz. Es ist eine Herzensliebe, ohne je auch eine körperliche zu werden. Noch ist Goethe verheiratet mit Christiane und das Sakrament der Ehe ist ihm durchaus heilig. Das ist nicht nur dahingesagt als Floskel: Goethe glaubte an solche Bindungen und ihren Sinn, dessen Dimension über Maße hinausgeht, die vom Verlangen des Hier und Jetzt nicht überblickt werden können. Goethe ist ein Mann von über sechzig Jahren und damit für die damalige Zeit ein alter Mann. Er geht schon leicht nach vorn gebeugt, hat kaum mehr Zähne im Mund und beginnt, sich gemeinsam mit Marianne zu verkleiden. Er bekommt einen Turban aus indischem Musselin, Körbe mit exotischen Früchten stehen da, die Verse von Hafis liegen parat, er liest aus dem Divan vor. Es beginnt ein lyrischer Dialog zwischen dem alten Dichter und Geheimrat und dem Schauspielerinnenkind, der einstigen Adoptivtochter und dann Ehefrau Willemers, mit Marianne, die zu Suleika wird. So betrachtet scheint es pittoresk. Doch es geschieht noch etwas anderes. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Koran, mit dem Orient und mit der Dichtung von Hafis geht zu diesem Zeitpunkt für Goethe schon weit zurück. Das gilt insbesondere für Goethes Beschäftigung mit Mohammed. 1741, also acht Jahre vor Goethes Geburt wurde die Vers-Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète von Voltaire aufgeführt. Mahomet wird hier als eine Art Mischung aus Chomeini und Saddam Hussein dargestellt. Tatsächlich war das Stück aber nur Camouflage einer Polemik des ohnehin religionskritischen Voltaires gegen die katholische Kirche. Goethe hat das Stück früh gelesen, war ganz und gar nicht damit einverstanden, hat es übersetzt und dann in stark bearbeiteter Fassung selbst in Weimar auf die Bühne gebracht. Von manchen Kommentatoren in der arabischen Welt wird das Goethe noch heute zum Vorwurf 14 gemacht. Vgl. Katharina Mommsen: Ǧūtih wa-'l-ʿālam al-ʿarabī. Al-Kuwait 1995. (Arabische Ausgabe von Katharina Mommsen: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt/Main: Insel 1988). 125 14 Schon früh hat Goethe den Koran gelesen. Als er im Winter 1770/71 in Straßburg war, hat ihn Herder dazu angestoßen. Was uns Unkundigen heute überraschend vorkommen mag, war damals für einen jungen Intellektuellen en vogue: Religiosität musste, um eine Perspektive, einen unmittelbaren Bezug zum praktischen Handeln bieten zu können, von Toleranz sprechen. Toleranz war, wie Goethe sich später in Dichtung und Wahrheit erinnert, die „Losung der Zeit“. 15 Einige Jahre zuvor schon, 1755, kam dann das große Erdbeben von Lissabon. Berichte von unermesslichem Leid erreichten bald auch die Deutschen und Goethe zeigte sich zutiefst erschüttert. Das Erdbeben bedeutete − vermutlich nicht nur − für ihn die ganz persönliche Theodizee. Was ist das für ein Gott, der das zulässt? „Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden“, heißt es in Dichtung und Wahrheit, „hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs als väterlich bewiesen.“ 16 Terroranschläge sind etwas anderes als Erdbeben, doch für die Gottfrage entscheidend ist das Leid. Der existenzielle Zweifel kann rigide Entscheidungen provozieren, er kann aber auch − in den selteneren Fällen wie bei Goethe eine differenzierende Aufklärung bewirken. Goethes sehr individueller und von aller Rechtgläubigkeit und liturgischer Fasson freier Glaube an einen allgegenwärtigen Gott − das, was man später seinen Pantheismus genannt hat − findet hier − in der Vorstellung eines alle bekannten Maße sprengenden Leids − seinen Ursprung. Für den sechsjährigen Goethe war die Vorstellung von einem Gott in Menschengestalt verloren: „Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf“, in der Natur. Der Junge schuf sich seine eigenen Rituale, baute aus verschiedensten Fundstücken der Natur einen kleinen Altar in Pyramidenform, entzündete mit einer Lupe Räucherkerzen: „Alles gelang nach Wunsch und die Andacht war vollkommen.“ 17 15 Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9: Autobiographische Schriften I. München: C.H. Beck 1988, S. 512. 16 Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 15), S. 43. 17 Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 15), S. 45. 126 Im Koran dann fand Goethe nicht nur Toleranz, sondern vor allem einen Rahmen, der seinem persönlichen Glaubensentwurf Raum zur Entfaltung bot. Glaube war für Goethe „ein heiliges Gefäß, in welches ein jeder sein Gefühl, seinen Verstand, seine Einbildungskraft, so gut als er vermöge, zu opfern bereit stehe.“ 18 Die Lehre von der Einheit Gottes, die Überzeugung, dass Gott sich in der Natur offenbart, dass es Menschen gibt, die den Auftrag haben, diese Offenbarung zu vermitteln − man könnte sie auch Dichter nennen −, die Ablehnung von „Wundern“ und die Überzeugung, dass der Glaube sich in mitfühlenden und wohltätigen Handlungen beweisen muss: diese Grundlehren des Islam lernte Goethe in intensivem Studium des Korans kennen und sie hatten großen Einfluss auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit und haben vor allem die späten Werke wie etwa den Westöstlichen Divan geprägt. Noch 1820 zeigt ein Brief an den Freund Zelter, wie der Islam für Goethe zu einer selbstverständlichen Referenz geworden ist: Indessen sammeln sich wieder neue Gedichte zum Divan. Diese Mohammedanische Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer Poesie wie sie meinen Jahren ziemt. Unbedingtes Ergeben in den Willen Gottes, heiterer Überblick des immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, Neigung zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend.19 Was hier schon resümierend im Rückblick formuliert ist, erweist sich aber als entscheidendes Bindeglied, das die geistige Konstitution und seine poetische Durchdringung und Verwandlung zusammenhält: Religion, Mythologie und Sitte − also der Gebrauch der ersteren beiden − geben der Dichtung Raum, um alles Reale symbolisch auflösen zu können. Schon die Diskussion mit Herder über die Verwandtschaft von Dichter und Prophet hat Goethe elektrisiert. Dem Hymnus Mahomets Gesang des jungen Goethe, ursprünglich Plan einer 18 Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9: Autobiographische Schriften II. München: C.H. Beck 1988, S. 23. 19 Johann Wolfgang Goethe: Briefe 1805-1821. In: ders.: Briefe. Hamburger Ausgabe, Bd. 3. München: C.H. Beck 1988, S. 477. 127 eigenen Mahomet-Tragödie, die Voltaire etwas entgegensetzen sollte, wird diese Verwandtschaft zum Gegenstand. Herder behauptete gar eine ursprüngliche Identität von Dichtkunst und Sprache der „Mohammedaner“, die im Glauben noch bewahrt sei. In den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, in denen Goethe ausführlich Entstehung und Gehalt seines dichterischen Werks erläutert, bringt Goethe das auf die Formel, „beide“ − also der Prophet und der Dichter − „sind von Einem Gott ergriffen und befeuert.“20 In gewisser Weise schreibt Goethe in „Mahomets Gesang“ auch das Gegenprogramm zu Mohammed Atta, dem Anführer der Attentäter des 11. September 2001. Fatema, die Lieblingstochter des Propheten Mohammed (oder Mahomet, wie er in deutscher Literatur zur damaligen Zeit häufig geschrieben wurde), und ihr Mann Ali, ein Vetter Mohammeds besingen den Propheten: „Kommt ihr alle! / Und nun schwillt er herrlicher; / Ein ganz Geschlechte / Trägt den Fürsten hoch empor; / Triumphiert durch Königreiche; / Gibt Provinzen seinen Namen; Städte werden unter seinem Fuß! // Doch ihn halten keine Städte, / Nicht der Türme Flammengipfel, / Marmorhäuser, Monumente / Seiner Güte, seiner Macht.“ 21 Mit „der Türmen Flammengipfel“ sind hier zweifellos Leuchttürme gemeint, aber im Arabischen stehen diese Leuchttürme auch als Metapher für den Propheten selbst. Zugleich ist bei diesem Bild nur schwer nicht an das andere Bild der brennenden Türme des World Trade Center in Manhattan zu denken. Nur macht es einen Unterschied, ob man bereit ist, ein Bild als Metapher zu verstehen oder eben nicht. Man könnte an solchen Assoziationen kritisieren, dass Goethes Koran-Rezeption und der West-östliche Divan sowie dessen gemeinsame Inszenierung mit Marianne Willemer geradezu schulmäßig Edward Saids einstige These vom Orientalismus illustriert. Das westliche Orientbild sei nichts als ein kulturelles 20 Johann Wolfgang Goethe: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II. München: C.H. Beck 1988, S. 143. 21 Johann Wolfgang Goethe: „Mahomets Gesang“. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1: Gedichte und Epen I. München: C.H. Beck 1988, S. 44. 128 Konstrukt, das letztlich eine Zuschreibung im psychoanalytischen Sinne darstellt. Kulturelle und religiöse Verhältnisse werden interpretiert und damit umgeschrieben, also sozusagen mit Inschriften wie Besitzmarkierungen versehen, um Selbstbilder und Selbstinszenierungen zu legitimieren und zu entlasten, also ein konstitutives und damit in der Regel nur für eine Seite produktives Missverstehen. Goethe macht allerdings auch keinen Hehl daraus, wie wir gesehen haben. Ihm geht es um sein dichterisches Selbstverständnis, das er aber auch deutlich zu differenzieren versteht. Eben anders als etwa Voltaire es vor ihm getan hat und viele andere nach ihm, behält sich Goethe das Recht auf Irrtum vor. Mit seinem Roman September spiegelt Thomas Lehr dieses Verhältnis mit einem historischen Grundvergleich: Er vergleicht die frühere Beherrschung der arabischen Welt durch die europäischen Kolonialmächte und die jüngste Okkupation durch die USA. Etwa im Irak mit der Szenerie zu Goethes Zeiten, als die vermeintlich fortschrittliche Macht Napoleons ganz Europa überrollte. Lehr lässt seine Figuren darüber reflektieren − es gibt einen Satz im Roman, in dem es heißt: „Goethe war Araber“. 22 Goethe hatte ein bestimmtes Bild von Napoleon, das nicht unbedingt richtig war oder sagen wir: nicht frei von Zügen der bloßen Bewunderung der Macht und der vermeintlichen historischer Größe. Und mit der oben beschriebenen Verkleidungsszenerie zwischen Goethe und Marianne Willemer mit Musselinkränzchen und Bajaderen-Lied durchbricht Lehr auch den Orientkitsch, in den der alte Goethe bisweilen geraten ist. In der Hauptsache aber beschäftigt sich Goethe jedoch mit der Sprache des Koran. Er dringt in die Dichtung ein, um sie für seine eigene sichtbar und spiegelbar, um sie für sich − das genau ist sein Ausdruck − „produktiv“ zu machen. Goethe konnte nicht einfach Hafis lesen und absorbieren, wie es ein Leser oder Wissenschaftler getan hätte, sondern er musste selbst in der vorgefundenen Manier dichten. Damit hat er einen Dialog in der Lyrik begonnen. Er zitiert im Divan sowohl Hafis als auch die Gedichte, von denen wir heute wissen, dass sie von Marianne von Willemer stammen, ohne das kenntlich zu machen. Er fängt also an, ein Werk dialogisch aufzubauen. Eben die22 Lehr: September (Anm. 2), S. 413. 129 ses dialogische Prinzip war für Thomas Lehr der Ausgangspunkt seines eigenen Buches, um dafür den Dialog als Strukturprinzip zu etablieren und die Funktionsweise kultureller Metamorphosen zu erforschen. Die Opposition dazu heute heißt etwa Deutschland schafft sich ab, Sarrazins selbstgewisse Gemengelage aus Statistik, Ressentiment und Paranoia, die Islam und Islamismus verwechselt, Koranverse mit konkreter Politik mancher Staaten in Nahost durcheinander bringt und schließlich auch noch Goethe den Tort antut, ein abgebrochenes und damit falsches Zitat aus dem West-östlichen Divan zu missbrauchen, indem er dem Bundespräsidenten empfiehlt, er hätte den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan über die „dumpfe Beschränktheit des Islam“ belehren sollen. Christian Wulff, so insinuierte Sarrazin, kenne ja sicher nicht den Divan und damit nicht den dort wiedergegebenen islamischen Allmachtsanspruch: „Gottes ist der Orient / Gottes ist der Okzident / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände.“ 23 Diese überreligiös auf Versöhnlichkeit gestimmte Variation eines Koranverses so misszuverstehen, ist haarsträubend. Dass Toleranz gelehrt wird im Koran, passt nicht in Sarrazins Bild vom Dschihad-Islam. Gegenüber dieser dumpfen Instrumentalisierung Goethes passt das Orientalismus-Verdikt vermutlich besser. Von dem frühen Mahomet-Gedicht ging es Goethe vor allem darum, im Koran eine Bestätigung seiner Religiosität zu finden.24 Entscheidend war für ihn die Weltzugewandtheit des Islam im Zeichen des einen Gottes und die Ergebenheit ins Schicksal. Was die Menschen für Zufall halten, sei, so Goethe 1807 einmal, in Wahrheit „Gott“: Was die Menschen bei ihren Unternehmungen nicht in Anschlag bringen und nicht bringen können, und was da, wo ihre Größe am herrlichsten erscheinen sollte, am auffallendsten waltet − der Zufall nachher von ihnen genannt −, das ist eben Gott, der hier unmittelbar mit 23 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II. München: C.H. Beck 1988, S. 10. 24 Vgl. Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 2001, S. 60 f. 130 seiner Allmacht eintritt und sich durch das Geringfügigste verherrlicht. 25 Das Geringfügigste: das ist das Kleine, das Detail, das Nichtige, ein jämmerliches Leid, eine scheinbar unbedeutende Erscheinung in der Natur. Diese Haltung Goethes erklärt auch, worüber sich Zeitgenossen oft gewundert, ihn darum aber auch durchaus beneidet haben: seine schier unerschütterliche Fähigkeit, auch mit schweren Schicksalsschlägen fast gleichmütig umzugehen, Trost abzulehnen, nicht aus Härte, sondern vielmehr aus Zuversicht. Goethe glaubte an Vorherbestimmung. Vor allem als alter Mann hat sich Goethe in diesem Zusammenhang immer wieder auf den Islam berufen. 1792 etwa geriet Goethe einmal während des damaligen Feldzugs in Frankreich, an dem er im Auftrag des Herzogs teilnahm, mehrmals in große Gefahr. Eine ganze Weile nach der Arbeit am West-östlichen Divan schrieb Goethe darüber in Campagne in Frankreich, einem Spätwerk, das ansonsten ja einen durchaus pessimistischen Blick auf die jüngere Vergangenheit wirft: Mir stellte sich, sobald die Gefahr groß ward, der blindeste Fatalismus zur Hand, und ich habe es bemerkt, dass Menschen, die ein durchaus gefährliches Metier treiben, sich durch denselben Glauben gestählt und gestärkt fühlen. Die Mahomedanische Religion gibt hievon den besten Beweis.26 Ein Jahr vor dem Aufenthalt bei den Willemers war Goethe auch schon in der Gegend. Davon gibt es den Bericht Sankt-RochusFest zu Bingen, entstanden 1816. Die Details müssen an dieser Stelle gar nicht ausgeführt werden. Interessant zunächst soll nur die Selbstcharakterisierung der Darstellung sein. In einem Brief vom September 1816 bezeichnet Goethe seine Lobrede − eine fingierte Predigt in dem Bericht − auf den heiligen Rochus als „eine heitere im Innern fromme Darstellung“. In gleicher Weise wird Hafis im West-östlichen Divan beschrieben: „trotz Vernei25 Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe. Leipzig: Insel 1921, S. 308. 26 Johann Wolfgang Goethe: Campagne in Frankreich. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 10: Autobiographische Schriften II. München: C.H. Beck 1988, S. 266. 131 nung, Hindrung, Raubens / Mit dem heitren Bild des Glaubens“.27 Das hat etwas von einer Selbstinitiation. Der Rochus-Aufsatz ist entstanden kurz nachdem Goethes Frau Christiane am 6. Juni 1816 starb. Mit Trost versorgte Goethe sich selbst: in vermehrter, intensivierter Arbeit. Ein paar Wochen später schreibt er an Wilhelm von Humboldt: Ich musste mir in diesen Tagen eine wundersame Unterhaltung aufdringen, indem ich den alten Papierkram der Vergangenheit durchsichtete, wo so vieles Angefangene und Verlassene, so viele Vorsätze und Untreuen keine Entschuldigung zulassen, sondern bloß vergönnen im echten orientalischen Sinne an Gottes Barmherzigkeit Anspruch zu machen. Der Versuch, tief in die islamische Geisteswelt vorzudringen, in die Lektüre des Korans und orientalischer Dichtung, die Aneignung religiöser Haltungen − all das hatte für Goethe immer mindestens zwei wichtige Aspekte: die Einheit eigener Religiosität und poetischer Sendung sowie die Suche nach einem Mittel existenzieller Krisenbewältigung, ein inneres Gleichgewicht zu wahren, das auch durch Schicksalsschläge nicht zu erschüttern ist. Goethes Lob des Islam gipfelt in Aussagen, die Eckermann von einem Gespräch am 11. April 1827 aufgezeichnet hat. Goethe erzählt, wie sehr ihn die islamische Überzeugung beeindruckt habe, dass dem Menschen nichts widerfahren könne, was ihm Gott nicht vorbestimmt hätte. Zu Eckermann sagt Goethe: Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches sein mag; aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns Allen, auch ohne dass es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht, und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselben Quelle hervorgegangen, und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann. Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mo27 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II. München: C.H. Beck 1988, S. 21. 132 hammedaner mit der Lehre: dass nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muss. Nun aber nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewissheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet.28 Der Goetheforscher Martin in Thomas Lehrs Roman September. Fata Morgana ist ein trauernder Vater. In seiner Trauer zeigt er auch, wie es nun weitergehen könnte. Etwa mit Friedrich Rückert, der bald nach Goethes Tod erst seine dreijährige Tochter und dann seinen fünfjährigen Sohn verliert. Mehr als vierhundert Gedichte schreibt Rückert nach dem Tod von Ernst und Luise und wird nicht mehr froh. Doch er bleibt zugleich ungemein produktiv und stellt dann noch die erste und bis heute beste vollständige Übersetzung von Hafis Werken her. Eben das Buch, das Sabrina, Martins Tochter, ihm einst stibitzte. „Die Geschichte ist der Irrgarten der Gewalt“: so zitiert Martin Goethe und diesen Satz hat Thomas Lehr auch seinem Roman als Motto vorangestellt. „Goethe war Araber“, sagt Martin, „ein großer Dichter in seiner eigenen Tradition und Sprache der aber den Eintritt des Orients in die Moderne als unvermeidlich erachtet“, also, wenn man so will, gottgewollt. Denn Gott − das war es, was Goethe im Islam gesucht und gefunden hat − habe den Lauf der Dinge vorherbestimmt und wir können nichts daran ändern. „In diesem Fall also“, schließt Martin daraus, „ist Gott der Mörder meiner Tochter.“ 29 Wie soll das einer verstehen? 28 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. In: Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Zürich: Artemis 1948, S. 246. 29 Lehr: September (Anm. 2), S. 299. 133 Irene Pieper Die Dichterin und ihre Religion: Else Lasker-Schülers poetisch-eigensinniger Umgang mit der jüdischen und christlichen Überlieferung 1. Wo ist Jerusalem? Dichtung und Exil Vorweg geschickt sei eines: es ist möglich, Texte von LaskerSchüler zu lesen, die in der Wahl der Bilder, in der Skizzierung oder Ausmalung der Figuren, in der Gestaltung des Raumes nicht oder jedenfalls nicht explizit auf jüdische, christliche, religiöse Überlieferungen verweisen. Wer allerdings einen auch nur halbwegs langen Atem bei der Lektüre dieser ebenso bemerkenswerten wie eigenwilligen Schöpfungen entwickelt, sich in die Prosa einliest, die Dramen zur Hand nimmt, bei den Gedichten verweilt, zum Beispiel einen ganzen Band zur Kenntnis nimmt, stößt ungemein häufig auf lebendige und vielgestaltige Bezüge zu Traditionen des Judentums einschließlich der Kabbala, auf Anverwandlungen christlicher Ikonographie, auf orientalische Figurationen, in denen auch der Islam eine Rolle spielt. Poetisch-eigensinnig habe ich den Umgang der Dichterin mit diesen Überlieferungsbeständen genannt, sehr frei schreibt Lasker-Schüler, die ja durchaus auch als Bohemienne tituliert wird, ihrer Dichtung nahezu einverleibend allerhand Tradiertes ein, und mir dürfte in all den Verrückungen und Variationen manches entgehen. Die jüdische Herkunft der Dichterin ist unübersehbar, gewiss, Orthodoxie ist ihr jedoch fremd, weshalb im Poetischen mitunter verwirrender Wildwuchs zu herrschen scheint. War Abigail nicht eine Frau? Und warum jetzt Abigail Jussuf? Des öfteren geht es ohne eine gewisse Bibelkenntnis nicht. Wenn diese dann flexibel angewandt wird, fällt der Eintritt in den Imaginationsraum, der auch einer zwischen Orient und Okzident, zwischen Zeit und Ewigkeit ist, leichter. Beispielhaft verweise ich nur auf den kleinen Zyklus der Hebräischen Balladen, die derjenigen Leserin, die Joseph, Jakob, Esau, David und Jonathan, Kain und Abel, Sulamith nicht kennt, womöglich wenig Freude machen mögen. Ganz selbstverständlich geht die Dichterin mit die134 sen Überlieferungen um. Seminare zu Bibel und Literatur finden hier wunderbares Material. Wem die Selbstverständlichkeit der Einordnung fehlt, dem hilft die kritische Gesamtausgabe, die zwischen 1996 und 2009 endlich erschienen ist und nicht nur das wachsende und angemessene Interesse der Forschung am vielfältigen Werk dokumentiert, sondern mit den einschlägigen Bezügen aufhilft. Sprechend gewissermaßen auf einen Blick ist die Konkordanz, die dem Gedichtband beigegeben ist. 1 Hier haben sich die Herausgeber dem Bereich des Zählens zugewandt und die 50 häufigsten Substantive ermittelt: „Gott“ findet sich da auf Platz 3 (nach Herz und Nacht), was ich, offen gestanden, denn doch nicht vermutet hätte. Zum Anfang möchte ich Ihnen das Gedicht „Im Anfang“2 vorstellen, das in Lasker-Schülers erstem Gedichtband Styx 1901 erschien und sich später in den Hebräischen Balladen, aber auch in dem bemerkenswerten Drama „IchundIch“ wiederfindet, das erst 1940/41 entsteht: Im Anfang (Weltscherzo.) Hing an einer goldenen Lenzwolke, Als die Welt noch Kind war, Und Gott noch junger Vater war. Schaukelte, hei! Auf dem Ätherei, Und meine Wollhärchen flitterten ringelrei. Neckte den wackelnden Mondgrosspapa, Naschte Goldstaub der Sonnenmama, In den Himmel sperrte ich Satan ein Und Gott in die rauchende Hölle ein. Die drohten mit ihrem grössten Finger Und haben „klummbumm! klummbumm!“ gemacht Und es sausten die Peitschenwinde! 1 Lasker-Schüler, Else: Gedichte. In: dies., Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz-Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem herausgegeben von Norbert Oellers. Bd. 1, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag. 2 Lasker-Schüler, Gedichte (wie Anm. 1), S. 71. 135 Doch Gott hat nachher zwei Donner gelacht Mit dem Teufel über meine Todsünde Würde 10 000 Erdglück geben, Noch einmal so gottgeboren zu leben, So gottgeborgen, so offenbar Ja! Ja! Als ich noch Gottes Schlingel war! Der Anfang der Welt: ein biblisch gut belegtes Thema; hier wird es – launig, ein wenig tänzelnd, ganz im Sinne des Scherzo – in die Himmelsneckerei eines Gottesschlingels überführt: gottgeboren und gottgeborgen war dessen Anfang in der noch kindlichen Welt, Todsünde steht gegen Kinderstreich: Goldstaub naschen, den Mondgrosspapa necken, das steigert sich dann: Satan einsperren und zwar im Himmel, Gott einsperren – genau verkehrt herum – in der Hölle. Der Rahmen der Neckerei bleibt aber erhalten. Es lässt sich nun mit dem Finger drohen, ein zweifaches Klummbumm machen und auch Winde können sausen. Über das Ganze kann denn Gott auch „zwei Donner lachen“. Ganz typisch für die Dichtung Else Lasker-Schülers ist hier die Verbindung des ganz Kleinen mit dem ganz Großen: das Kind mit den Wollhärchen arbeitet sich hoch von der Neckerei zum Türhüter von Himmel und Hölle, und Gott und Satan drohen zunächst mit dem (wenn auch größten) Finger, ehe der quasi kosmische Donner Gottes nicht tobt und schreckt, sondern lacht. Das Ich, das sich hier artikuliert, ist nun allerdings in einem anderen Jetzt angekommen. Nicht länger ist es „Gottes Schlingel“. Die Sehnsucht nach dem Anfang spricht deutlich aus den letzten Versen. Im Zeichen dieser Sehnsucht kann die Währung Erdglück offenbar aufs Spiel gesetzt werden: „Würde 10 000 Erdglück geben, / Noch einmal so gottgeboren zu leben,“. In diesem Gedicht leuchtet also eine unüberwindbare Grenze auf: zwischen einem urzeitlich-unbestimmten Früher („Im Anfang“) und dem Zeitpunkt des Aussprechens, des Erzählens auch. Der Irrealis – würde geben – markiert die Unmöglichkeit. Der Verlust der Gottgeborgenheit, sehnsuchtsvoll vermisst, spricht auch aus den folgenden Versen des Gedichts „An Gott“:3 3 Lasker-Schüler, Gedichte (wie Anm. 1), S. 113. 136 Gott wo bist du? Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen Wenn goldverklärt in deinem Reich Aus tausendseligem Licht Alle die guten und die bösen Brunnen – rauschen – rauschen. Hier klingt auch ein Moment der Vereinigung an: nah am Herzen lauschen. Das Licht, goldverklärt, tausendselig, ist geeignet, Grenzen zu verwischen. Ob gut, ob böse ist im aufhebenden Rauschen der Brunnen egal – und tausendselig ist allemal selig. Der unio-Gedanke, Kernbestand jüdischer wie christlicher Mystik, ist hier implizit. Und es ist von imminent-wichtiger Bedeutung, dass er dichterisch artikuliert wird, denn es ist die Dichtung, die hier Weltenbrücken bauen kann, mindestens aber den Raum der Sehnsucht offen und bewusst hält. In einem bemerkenswerten Essay mit dem Titel „Das Gebet“ (1932) findet sich die bereits angesprochene Entgrenzungssehnsucht wieder. Sie ist auch eine, die das „Weltticktack“, wie Lasker-Schüler es nennt, unterbricht. In diesem Essay parallelisiert die Dichterin Gebet und Dichtung: Der Dichter „im Zustand des Dichtens“ ist zu der Aufhebung zeitlicher Grenzen fähig und so gilt auch: „Die Dichtung bettet sich neben Gott.“4 Sie hat sogar verkündenden Charakter, denn der Dichter ist, wie es anschließend heißt, der jüngere Bruder des Propheten. Leicht ist dieser Weg der Verkündigung wie Entgrenzung nicht: Der Dichter weiß wohl, es dauert ein Leben der Vertiefung und vorangegangener Vertiefung Leben, bis er zwischen den Weiten der Welt nur ein noch „leuchtendes Liebeswort“ findet, das seine Seele vorübergehend schon auf Erden vom Star erlöst. 5 Im Finden des leuchtenden Liebesworts liegt also der Schlüssel, und Lasker-Schüler schlägt nun die Brücke zu „jedem Menschenherz“, denn auch das Glück der Liebe kann jene Auflösung der Grenze und Aufhebung der Zeit punktuell erfahrbar machen. 6 4 Lasker-Schüler, Das Gebet, in: Werke und Briefe. Bd. 4.1, S. 211. Lasker-Schüler, Das Gebet (wie Anm. 4), S. 212. 6 Lasker-Schüler, Das Gebet (wie Anm. 4), S. 212. 5 137 Freilich lebt der Mensch – und auch der Dichter – in der Geschichte. Für Lasker-Schüler ist nun eine poetische Stilisierung dieser Grenze charakteristisch, in die sie sich selbst einbezieht. Eine der berühmten Spielfiguren, die sie auf sich selbst, die Dichterin, verweisen lässt, ist der Prinz von Theben oder Prinz Jussuf. In seinem Namen unterschreibt sie schon die Briefe an Franc Marc, ihn skizziert sie oder malt ihn aus. Jussuf verweist auf Joseph, und Joseph als derjenige Sohn des Erzvaters Jakob, der nach Ägypten verkauft wurde, steht auch „sinnbildlich für das Leben des Juden in der (europäischen) Diaspora fern vom Land Palästina.“ 7 Die Selbstfiguration weist mithin auf das Exil der Dichterin hin, das, nach dem oben Ausgeführten, ein mehrfaches ist: das Exil des Menschen fern der Gottgeborgenheit des Paradieses, das jüdische Exil, ein Exil, mit dem der Dichter allerdings schöpferisch umgehen kann und muss. Nun habe ich diesen ersten Teil mit der Frage überschrieben: „Wo ist Jerusalem?“ und vom bisher Gesagten aus lässt sich bereits erahnen, dass mit dieser Frage die Chiffre Jerusalem im Sinne desjenigen Ortes angesprochen ist, an dem alle Grenzen und Beschränkungen von Zeit und Welt aufgehoben sind, Horizont einer Sehnsucht, wie sie sich in dem Ruf „Nächstes Jahr in Jerusalem“ verdichtet, der im Judentum traditionell am Ende des Seder-Abends, Teil des Pessach-Festes, gesprochen wird. Das gelobte Land, besonders aber seine Heilige Stadt, ist Ziel und Ausdruck einer Hoffnung auf Gottgeborgenheit. Zu dieser gibt es Anlass, denn Gott hat, der jüdischen Überlieferung zufolge, das jüdische Volk aus der Knechtschaft in Ägypten befreit. Josef ist dann nicht mehr länger im Exil, er ist vielmehr angekommen. Prinz Jussuf von Theben allerdings bleibt der Umherziehende, als den ihn Lasker-Schüler ausdrucksstark in einer Kohle- und FarbstiftZeichnung mit dem Untertitel „Jussuf reitet auf dem Kamel durch die Wüste“ gefasst hat. 8 7 Lasker-Schüler, Die Gedichte (wie Anm. 1), Bd. 1.2, Erläuterungen, S. 159. 8 Die charaktervollen Zeichnungen Lasker-Schülers sind unter anderem auf den Internetseiten des Exil-Zentrums (Zentrum der verfolgten Künste) zugänglich: 138 Die wohl deutlichste Artikulation der Bedeutung Jerusalems wie Palästinas findet sich in Lasker-Schülers Prosatext „Das Hebräerland“, einem Reisebuch, das auf ihre erste Palästinareise 1934 zurückgeht und 1937 erschien. 9 Als Jüdin war die 1869 geborene Else Lasker-Schüler angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung 1933 zunächst in die Schweiz geflüchtet. Von ihrer ersten Palästinareise kehrt sie auch noch einmal in die Schweiz zurück, ehe sie 1937 erneut nach Jerusalem reist. Die Wiedereinreise in die Schweiz wird ihr 1939 verweigert. Sie bleibt bis zu ihrem Tod 1945 in Jerusalem. Jetzt trifft das Jerusalem-außer-aller-Zeit auf einen durchaus irdischen Lebensort. Auch in dieser Spannung wird es Gegenstand der dichterischen Refiguration. Das Hebräerland bietet keine Dokumentation, sondern eine imaginative Anverwandlung. Der folgende Ausschnitt kann das verdeutlichen: Ganz Palästina ist eine Offenbarung! […] Man muss gerne vom Bibelland erzählen; wir kennen es ja alle schon von der kleinen Schulbibel her. Nicht wissenschaftlich, nicht ökonomisch; Palästina ist das Land des Gottesbuchs; Jerusalem – Gottes verschleierte Braut. Ich kam von der Wüste aus, reiste zur heiligen Hochzeit, eingeladen zur Feier, die immer Jerusalem umgibt. Immer ist Hochzeit unter dem Baldachin seines Himmels. Gott hat Jerusalem lieb. Er hat es in Sein Herz geschlossen. […] Ich muss sagen, ich habe nie ein überlautes Wort, nie einen schrillen Ton in Jerusalem vernommen, weder in seinen Straßen, noch in seinen Häusern und Palästen. Man hört darum deutlicher Gott atmen. Ueberwältigt von Seiner Nähe, beginnt der Mensch zu beben. 10 Im gleichen Band findet sich allerdings auch der berühmt gewordene Satz: „Nur Ewigkeit ist kein Exil“, ein Satz, der im späten Drama IchundIch wieder aufgenommen wird. 11 Eine letzte http://www.exil-zentrum.de/index.php?option=com_content&task=view&id=34&Itemid=9 Letzter Zugriff: 9.3.2012. 9 Lasker-Schüler, Else: Das Hebräerland. In: Prosa. Werke und Briefe Bd. 5, S. 239-245. 10 Lasker-Schüler, Das Hebräerland (Anm. 9), S. 11-12. 11 Lasker-Schüler, Else: IchundIch. In: Dramen. Werke und Briefe Bd. 2, S. 209. 139 Grenze bleibt folglich erhalten. Nie wird das irdische Jerusalem dem himmlischen gleichkommen. 2. Dichtung, Existenz und Geschichte: Welttheater auf der Herzensbühne Der folgende Teil des Beitrags widmet sich einem Drama LaskerSchülers, das unvollendet geblieben und im Jerusalemer Exil entstanden ist: IchundIch. Eine theatralische Tragödie. 12 Der Titel ist treffend und irreführend zugleich: Ja, es geht um die Existenz, sehr deutlich wird diese aber in ein Weltgeschehen hineingenommen. Gegenläufig wird der Versuch einer Dichterin vorgeführt, das Weltgeschehen in die Existenz hineinzunehmen. Im Vorspiel der theatralischen Tragödie erläutert die Dichterin ihrem Begleiter, sie schreibe mit einer Geierfeder: „mit meinem Blut auf rostiges Papyrosleder. Lieber würde ich mein Manuscript auf mein vergilbtes Herzblatt schreiben“. 13 Die Bühne bezeichnet sie anschließend als „Herzensbühne“, vor der Platz zu nehmen sei. Die sogenannte Heilige Stadt ist hier als Kulisse gedacht, das Stück spielt vor dem Davidsturm der Zitadelle, ein spektakulärer Anblick. Endzeitliches kommt als Apokalyptisches zum Tragen, Harmonisch-Harmonisierendes fehlt ganz. In seltener Radikalität bricht hier Geschichte in die Dichtung ein. Das Stück bietet die wohl schärfste und expliziteste Auseinandersetzung der Dichterin mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutsch12 Verwiesen sei auf meine ausführliche Untersuchung des Dramas im Kontext der Welttheatermetaphorik, auf die ich im Folgenden zurückgreife: Pieper, Irene: Modernes Welttheater. Untersuchungen zum Welttheatermotiv zwischen Katastrophen-erfahrung und Welt-Anschauungssuche bei Walter Benjamin, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal und Else LaskerSchüler (Schriften zur Literaturwissenschaft Bd. 13). Berlin: Duncker & Humblot, 2000 (Heidelberger Universitätsdissertation 1998). Außerdem Pieper, Irene: „Und thront der Ewige noch auf seinem Thron?“: Else Lasker-Schülers „theatralische Tragödie“ IchundIch. In: Theodramatik und Theatralität. Ein Dialog mit dem Theaterverständnis von Hans Urs von Balthasar, herausgegeben von Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Klaus Lubber (Schriften zur Literaturwissenschaft, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hg. von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl). Berlin: Duncker & Humblot, 2000, S. 211-226. 13 Lasker-Schüler: IchundIch (Anm. 11), S. 185. 140 land. Poesie als Raum des Gegen- oder Überzeitlichen in dem Sinne, wie es eben ausgeführt wurde, das gerade funktioniert nun nicht mehr. Vielmehr werden hier in sehr bemerkenswerter, mich bis heute irritierender Form letzte Fragen gestellt: „Und tront der Ewige noch auf seinem Thron?“ – „Ich weiß nichts sicheres davon.“ 14 Hier fragt Faust nach der göttlichen Weltregierung und Mephisto antwortet unsicher. Der unreine Reim Thron/davon ist auffällig. Dergleichen Phänomene finden sich im Drama gehäuft, sie werden offenbar gezielt eingesetzt und weisen darauf hin, wie sehr die Welt „aus den Fugen“ geraten ist. Das Angebot der Dichterin sehen das Publikum und die Kritik, im Spiel im Spiel präsent, kritisch: „Verse, ich bitte Sie“ heißt es und „Ich hätte längst gebracht den Fakt.“15 Durch den spezifischen Einsatz poetischer Verfahren, insbesondere durch metadramatische Elemente, werden immer wieder Fragezeichen hinter vermeintliche Aussagen gesetzt. Den großen Rahmen bildet dabei die Theatermetaphorik. Das vielzitierte „All the world is a stage / and men and women merely players“ Shakespeares bildet eine wichtige Folie. Welt wird in IchundIch im mehrdimensionalen Modell des Welttheaters zur Anschauung gebracht. Es gibt Bühne, Regie, Schauspieler und Publikum. Die Dichterin kommt als dramatische Person vor, die einerseits das Geschehen mitbestimmt und beobachtet, andererseits aber keine Distanz halten kann. Auf der „Herzensbühne“ nämlich hat die theatralische Tragödie ihren Ort. Das unvollendete Drama führt die unterschiedlichen Instanzen hier in einem alles andere als wohlgeordnetem Miteinander zu harmonischem Ziele vor. Besonders deutlich wird dies vor der Folie traditioneller Ausprägungen des Welttheaters. Ein Mysterienspiel des Spaniers Calderón El gran teatro del mundo, in deutscher Sprache Das Große Welttheater, muss hier allererst genannt werden. Im vorliegenden Zusammenhang ist besonders bemerkenswert, dass dieses Spiel durch Hugo von 14 Lasker-Schüler: IchundIch (Anm. 11), S. 190. Das Typoskript, das Basis der kritischen Ausgabe ist, entspricht vielfach nicht der orthographischen Norm. Hier werden also auch die „Fehler“ übernommen. 15 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 189. 141 Hofmannsthal zwischen 1919 und 1922 eine Neubearbeitung erfahren hat: Das Große Salzburger Welttheater. Hofmannsthal präsentiert in diesem Stück Welt mithilfe der bei Calderon vorgefundenen barocken Ständeordnung: König, Reicher, Bauer und Bettler haben sich auf der Bühne zu bewähren, auch die Allegorie der Weisheit, sie alle werden abberufen und durch den göttlichen Meister gerichtet. Allein der Bettler und die Weisheit finden endlich Eintritt in die göttliche Harmonie. Dieses Stück wird 1933 in Berlin durch Max Reinhardt inszeniert, die Vorstellung als Gesamtkunstwerk ist viel beachtet, ihre Generalprobe fällt in die Nacht des Reichstagsbrands. Max Reinhardt verleiht der Angelegenheit zusätzliche politische Brisanz, indem er das Revolutionsthema mit einer Pantomime aufnimmt, bei Hofmannsthal ist es nicht expliziter, negativer Horizont. Reinhardt emigriert acht Tage später. Die Monumentalität der Anlage findet sich nun auch in Lasker-Schülers Drama. Auf den Spielort wurde schon hingewiesen, über die Bühne gehen auch Lavamassen, in denen Nazischergen untergehen. Es wird ein Bild vom Reichstagsbrand gezeigt, Anspielungen auf Konzentrationslager finden sich, ein Flammenballett tritt auf. Zur Orientierung sei das Drama im Folgenden inhaltlich umrissen: 16 Wie bereits angesprochen ist dem Stück ein Vorspiel vorangestellt, das hinter dem Vorhang stattfindet: die Dichterin, die autobiographische Züge Lasker-Schülers trägt, zugleich „Gottes Dichterin“ ist, wie es heißt, ist mit dem Begleiter auf dem Weg zum Theater. Im Gespräch artikuliert sie ihr durchaus elitäres Selbstbewusstsein als Poetin. Die Welt sei für sie ein „Erdenschrank“: „Für eines Dichters unbegrenzten Traum, / Hat wahrlich eure Welt gezimmerte nicht Raum.“ 17 Vielmehr sei sie, die Dichterin, im Dauerexil – ein, nach dem oben Ausgeführten, bekannter Gedanke. Sie fordert dazu auf, vor der Herzensbühne dem Höllenspiel zu lauschen. Es folgen fünf Akte, die wiederum als „uneigentlich“ gekennzeichnet sind, denn sie stellen eine Probe in einem Jerusale16 Ich übernehme hier (mit freundlicher Genehmigung des Verlages Duncker und Humblot) weitgehend die Skizze aus meinem in Anm. 12 genannten Aufsatz (S. 213/214). 17 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 185-186. 142 mer Theater dar. Die Regieanweisung zu Beginn des ersten Aktes macht dies deutlich: 1. Aufzug In der Nähe des Davidsturms von alteingesessenen Palästinensern benamten: Höllengrund. In der steinern abgebröckelten alten Königsloge sitzen auf Prunksesseln: unheimlich bewegungslos, bunt und golden angemalt wie die Figuren eines Panoptikums: die Könige: Saul, David und Salomo. In Der Direktorenloge: Direktor Max Reinhard aus Hollywood nach Jerusalem zur Inszenierung gebeten. Ihm gegenüber: The Three american. Komiker: brother: Ritz Der Theaterarzt: setzt sich gerade noch frühzeitig auf seinen Platz. Die Kritik armverschränkt. Sie begrüssen sich, vor dem Spiel. Die Spielenden: Der Teufel Doktor Faust. Frau Marte Schwertlein. Stimmen aus dem Publikum: (Adon Redakteur Swet) etc. Jungfrauen Die Dichterin der Tragödie Die Nacis und ihre Anführer Der Baal.18 Angekündigt wird – in einem weiteren Vorspiel – eine Mordgeschichte: die Dichterin habe sich in zwei Teile Ich und Ich geteilt. Sie, die zentrale dramatische Person und Urheberin der Tragödie, kündigt die Sensation an, dass Mephisto vor Gott kapituliert habe. Innerhalb der Tragödie agieren Faust und Mephisto als Hauptfiguren. Ihre Gespräche kreisen um die Ferne Gottes, den Charakter der Welt und deren Beherrschung. Im Verlauf des Stückes werden sie als zwei Teile einer Person deutlich. Die Ankunft der dämonisierten Nazis, die sich von Mephisto Petroleum liefern lassen wollen, unterbricht ihre Unterhaltung. Hitler erscheint als der „wahre Satan“ und „Gott der Deutschen“, doch Mephistos Macht und Wille in der Hölle reichen so weit, dass er den Untergang der Nazis in Lavamassen herbei führen kann. Der zentrale vierte Akt setzt eine Terrasse in der Hölle ins Bild. Faust und Mephisto spielen im Morgenrot Schach. Der Probe wohnen Max Reinhardt und natürlich auch die Dichterin bei: 18 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 187. 143 Von Ferne dumpfes, unaufhörliches Marschieren, das sich später ungeheuerlich verstärkt. Mephisto (hebt zerstreut den Kopf – lehnt sich weit in seinen kostbaren Sessel zurück.) Faust: Du bist nicht bei der Sache heute, Satanas, der Wein der gestrige vom neuen Fass benebelt was. Mephisto: Die Beeren atmeten beim Wachstum giftiges Gas statt Sonne. Doch in der Hölle – lebts sich auch in eingequalmter Tonne. Faust: (er lauscht) Kommt dieser dumpfe Schall vom Dach? Mephisto: Er lässt schon wieder nach – Soldaten sinds vom Fach und – Krach; Bleisoldaten, Barbaren, versklavte Belgier, Niederländer, Polen, Franzosen geraubter Staaten auf den Sohlen. Faust: (Vergessend wo er sich befindet) Der Teufel soll den Störenfried aus Braunau endlich holen!! - Verzeiht, Satanas, Ihr könnt ihn doch holen? Mephisto: (lächelnd) Bin im Begriff!! Halbwegs erreichten sie den Höllenstaat in zwei und einen halben Tag allready, hier unten geht die Sache schief. 19 Der Dialog zwischen den beiden setzt sich fort und wird mehrfach von Eingriffen Max Reinhardts und der Dichterin in die Probe unterbrochen. Das parodistische Element, das der theatralischen Tragödie ein Fragezeichen zufügt, tritt deutlich hervor. So fordert die Dichterin den Mephisto Darsteller auf: „Wacholderkarl, pardon, sprich in at home das ‚M’ wie ‚N’, dass es sich sachgemäßer reimt auf Napoléon.“ 20 Mephistos Ankündigung, wonach die Sache „hier unten schief geht“, liest sich dann als Klammerbemerkung: (Mephisto erhebt sich majestätisch. Den Schöpfer nachahmend schlägt er ein Rad durch die weiten heissen Lüfte der Hölle. Es zischt und brodelt. Der Boden im Park beginnt zu qualmen, sich zu erweichen zur Lavamasse. Es versinken die durch das Tor einmarschierenden Nacisoldaten mit ihrem Anführern bis zu den Köpfen.) (Sie schreien!!) Die Köpfe der Versinkenden: Heil Hitler!! Göhring, der durch das Tor tritt, wird rettungslos von der Flut ergriffen.) Teufelswerk!!21 19 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 208. Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 209. 21 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 214. 144 20 Der Gottes Schlingel aus „Im Anfang“ oder „Weltscherzo“ wird hier wieder sichtbar: der Rad schlagende Mephisto wird kurze Zeit später das Gedicht zitieren und Mephisto als Gottes Teufelchen statt Schlingelchen vorstellen. Nach diesem apokalyptischen Szenario in grotesker Übersteigerung, die gerade im Gegenüber von Rad-Schlagen und Untergehen deutlich wird, vollzieht sich die versöhnende Verbindung von Faust und Mephisto und deren Himmelfahrt. Bei all dem sollte noch der Gedanke gegenwärtig bleiben, dass die „Dichterin“ vor dem eigentlichen Drama die Bühne zu ihrer Herzensbühne erklärt hat. Mit dem letzten Akt, nach der Probe des eigentlichen Stücks im Garten eines Jerusalemer Augenarztes situiert, rückt die Dichterin wieder ins Zentrum. Im Gespräch zwischen ihr, dem Kritiker Adon Swet und dem alter ego der „Dichterin“, der Vogelscheuche, wird vor allem die existentielle Verbindung der Dichterin mit der deutschen und jüdischen Traditionslinie, der sie entstammt, deutlich. Der Kritik Swets an ihrem Stück, das doch offenbar das Weltenrätsel nicht gelöst habe, hat sie nichts entgegenzusetzen: Doch nun verehrte Dichterin, glaubt Ihr in Eurem großem / Reim das Rätsel dieser Welt gelöst? Die Dichterin: Nein! Wie meine Hälfte ähnlich schon erwähnte / ungeschminkt zur (sic) im zweiten Teil, Die Wahrheit gänzlich zu / beweisen, bin ich bereit auf höheren Geleisen.“ Mr. Swet: Nie wird auf dieser Welt, das Weltenrätsel ganz gelöst Im Kreis der Freunde nicht, im Wandel IchundIch, im Tale / Zwischen Höhen, Und nicht im Arm der Liebsten tanzumdrehen! Die Dichterin: Da sichs in dieser Welt nicht lösen lässt, Mr. Swet. 22 Es folgen noch ein paar Wortwechsel, dann entspannen sich „die Nerven“ der Dichterin, sie wird sehr müde und stirbt. Dieses Sterben kommt einem Verschwinden gleich: Die Vogelscheuche: Sie ist so klein – sie ginge in das neuaufgeworfene Maulwurfloch hinein – Mr. Swet: Wir decken sie mit feinen Zittergräsern zu – (…) Die körperlose Stimme Davids: Sie malte einen goldenen Spann / wie eins mein Absalom sich übers dunkle Haar. – (Stern) Mr. Swet: Sie stirbt … 22 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 232/233. 145 Die Vogelscheuche: Und ohn Geistlichkeit, Raf, Scheik, Pastor – Mr. Swet: Tor ---23 Das Nachspiel wird eingeleitet als „Moral des Höllenspieles theatralischer Geschichte“ und erzählt die Vision einer Erlösung: Faust, Mephisto und die Dichterin treten in die himmlische Harmonie bei Gott ein. Da kann das Teufelchen wieder Allotria treiben, es wendet sich artig an Gott, streichelt sein „sorgenvoll’ Gesicht und gibt ihm die „ungegorene Atmosphäre zurück, die er zuvor gestohlen hatte und die so viel Unglück gebracht hatte. Als dies erfolgt ist, können Gott und Teufelchen ins Spiel zurückkehren: - Drauf sprangen beid’ zur Himmelsleiter, - Spielten mit den grossen Engeln: Reiter. Am Sabbat-Tag „brummt“ das Teufelchen nun Psalmen. 24 Zum Schluss verlässt die Dichterin diese fantastisch-verspielte Erzählung, die massiv kontrastiert mit dem Untergangsszenario des vierten Aktes und dabei Bilder aufruft, die aus dem Frühwerk Lasker-Schülers bekannt sind, aufs Neue: Das Stück ist aus – Ich weiss nicht weiter …. Doch man hört vom Erdensterne nah – fragen: „Glaubst du an Gott? Vorhang fällt! Die Dichterin singt leise hinter dem Vorhang: Die Dichterin: Ich freu mich so, ich freu mich so: Gott ist ‚da’!! 25 3. Weltherrschaft: zwischen himmlischer Gottesnähe und höllischer Thronfolge26 „Und tront der Ewige noch auf seinem Thron?“ – „Ich weiss nichts sicheres davon“ – Die schon zitierte Frage nach der Herrschaft im Welttheater steht innerhalb des Dramas früh im Raum und spielt bis zuletzt eine bedeutende Rolle. 23 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 233/234. Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 235. 25 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 235. 26 Der folgende Passus (Teil 3 bis 5) ist dem in Anm. 12 zitierten Aufsatz entnommen und wird hier (mit freundlicher Genehmigung des Verlages) in leicht überarbeiteter Form wiedergegeben (S. 219-225). 146 24 Charakteristisch für Lasker-Schülers Schaffen ist, wie oben bereits ausgeführt und eben auch in IchundIch auffindbar, ihre kreative Anverwandlung der religiösen Überlieferung. Mit der eigenen, jüdischen Religion geht die Dichterin in unorthodoxer, ausgesprochen eigenwilliger Weise um. In ihrem Spätwerk, mithin auch im Nachlassdrama IchundIch, wird dabei eine wachsende Bedeutung der religiösen Tradition deutlich. Mit Vehemenz spricht der Text indes gegen jedwede Lehrhaftigkeit. Zuweilen gemahnen Mephistos Erwiderungen auf Fausts allzu schlichte Erklärungen an Hiobs Reaktionen auf die Beruhigungsversuche der Freunde, die mit starren Lehrgebäuden argumentieren, während er auf seiner unerklärlichen Leidenserfahrung insistiert. Zum spezifischen Umgang Lasker-Schülers mit der religiösen Überlieferung gehört es, dass die Frage nach Gott in den dichterischen Imaginationsprozess einbezogen wird und den Verfahren von Parodie und Groteske unterliegt. Sie steht im Zusammenhang poetologischer Überlegungen (die Dichterin ist „Gottes Dichterin“), aber auch des Dramas der Ich-Spaltung sowie der sensationellen Kapitulation des Bösen: Versöhnung soll gemäß dem Willen Gottes erfolgen, und Mephisto kapituliert vor Gott. Auch besteht eine deutliche Verbindung mit der nationalsozialistischen Gegenwart, zumal der Untergang der Nationalsozialisten in Lavamassen an Vorstellungen des Jüngsten Gerichts erinnert und das Geschehen strukturell mit dem weitgehend von der religiösen Thematik bestimmten Gespräch zwischen Faust und Mephisto verwoben ist. Das Hauptcharakteristikum des Gottesverhältnisses liegt in einer eigenartigen Spannung zwischen der Glaubensgewissheit einerseits und der – zweifelbegründenden – Erfahrung der Ferne Gottes andererseits. Der mit anthropomorphen Zügen gezeichnete Schöpfergott steht dem Fernen Gott, dem Deus Absconditus gegenüber. In einem Züricher Vortrag kurz vor ihrer endgültigen Emigration nach Jerusalem im Alter von über siebzig Jahren formuliert Lasker-Schüler die Spannung besonders ausdrucksstark: Allerinnigste Nähe doch und fernste Ferne trennt den Menschen vom höchsten Vater und vereint ihn zugleich mit Ihm. Der unbegrenzte, grenzenlose Raum der Ewigkeit nicht messbar mit üblichem Maße. Schauerliche Fernen und klaffende Weiten trennen uns vom Ewigen 147 und doch baut er auf dem Hügel deiner gefalteten Hände oft spielend mit Bauklötzen seines Jugendbaukastens, wie der kleinste Knabe, strahlend dir: Jerusalem. 27 Gott, kindlicher Spielgefährte und „höchster Vater“, erscheint als Erbauer Jerusalems, jenem Zentrum des biblischen Landes, das Spielort des Dramas ist und Ort der Heilshoffnungen des jüdischen Volkes, „mein HerzensLande“ – so fern von dieser Welt“, heißt es in den Tagebuchzeilen aus Zürich. Diese Vorstellung erscheint indes keinesfalls weltflüchtig-naiv, ist sie doch gezeichnet von einem ausgeprägten Bewusstsein der Diskrepanz von historischem Ort und Gottesschöpfung. Es ist die biblisch inspirierte Imagination der Gottesstadt, Residenz des Königs und Psalmendichters David, der Sehnsucht wie Vision der Gottesnähe gelten. In IchundIch kontrastiert sie hart mit einem Leben in der Hölle oder auch einem höllischen Dasein, das auf der Bühne des Welttheaters vorgeführt wird. Das sehnsuchtsvoll im Exil erwartete Jerusalem wird verwoben mit dem freundlich-väterlichen Schöpfer, der als eine Seite Gottes in IchundIch präsent ist und der im Nachspiel wieder „klummbumm, klummbumm“ macht und sich necken lässt (Weltscherzo). Der Entfaltungs- und Wirkungsraum dieses Schöpfergottes liegt indes außerhalb der Historie: in paradiesischer Zeit, als „die Welt noch Kind war“ 28 - ein Vers aus eben jenem Gedicht, der auch im Drama dieses Geschehen rahmt - und am letzten Ende, nämlich in der Erlösungswelt nach dem Endgericht. Darauf verweist die Erzählung des Allotria-Treibens im Nachspiel. Die historische Wirklichkeit hingegen zeichnet sich durch die Abwesenheit ordnender Gewalten aus. So haben die Könige der hebräischen Bibel ausgedient und sitzen „unheimlich bewegungslos“ in abgebröckelten Logen (wie oben zitiert). Und weder der Regisseur Max Reinhardt noch die „Dichterin“ füllen spielkontrollierende Positionen aus. Selbständig ändern die Schauspieler vielmehr zwischenzeitlich auch den Text, und die erste Beset- 27 Else Lasker-Schüler, Zürcher Vortrag, ELS-Archiv, 2:35. Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 217. 148 28 zung des Mephisto weigert sich, „den Goethe, ohne Steigerung zu mimen.“ 29 Kabbalistisch inspiriert ist wohl die Vorstellung, die historische Welt sei bloße „Weltenillusion“. Ihr werden die Imaginationen der „Gottes Dichterin“ als höchste Realität entgegengestellt: „Und nur mein Vers war keine Illussion!“ insistiert die Dichterin. 30 Aber auch die Dichtung bietet keine tragfähige Zuflucht an. Verzweifelten Trost, geradezu klamaukig vorgebracht, scheint allein die Transzendierung dieser Wirklichkeit in die mehrfache Fiktion einer Gottesnähe zu spenden. Die Himmelfahrt MephistoFausts, parodistische Inszenierung, führt aus dem Bühnenraum hinaus, das Nachspiel findet nach der Probe, mithin außerhalb des eigentlichen Dramas statt. Die Vision Gottes, von der der Schlussgesang der „Dichterin“ hinter dem Vorhang künden mag „Ich freu mich so, ich freu mich so, Gott ist da!!“, ist folglich jenseits des Stücks wie des Bühnenlebens der „Dichterin“ verortet. 31 Er zeigt wohl einen letzten sehnsuchtsvollen Versuch an, die Gottesgewissheit als bergende, und das heißt hier als phantasievollverspielte, in den Raum der Dichtung hineinzuholen. Es ist die historische Wirklichkeit, die den imaginativen Raum einer gottgeborgenen Spielwelt aufbricht. 4. Geschichte zwischen Urzeit und Endzeit Die Gottesnähe in „junger Morgenfrüh des ersten Schöpfungstags“32 weist in einen urzeitlichen Weltenanfang. Von dort reicht der Bogen über die Schreckensgeschichte der nationalsozialistischen Gegenwart einschließlich der Gas-Anspielungen Mephistos, die das Volk der „Dichterin“ massiv bedroht und sie ins Exil gezwungen hat, bis zum endzeitlichen Untergangsszenario. Die Entgrenzung der Zeit, die der Erzählungsraum der weiten Bühne birgt, wird immer wieder an der Historie aufgebrochen. Diese wird nicht dokumentiert, vielmehr erscheint die historische Wirklichkeit poetisch fiktionalisiert: Goebbels wird als „Pipifax der 29 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 193. Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 186. 31 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 235. 32 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 212. 30 149 Kleine“ 33 tituliert. Und im zweiten Akt enthalten die Verhandlungen der Nationalsozialisten mit dem Höllenfürsten um Petroleum Anspielungen auf den Kriegsverlauf, auf wirtschaftliche Interessen, auf die Judenvernichtung und das Exil. Als Inkarnationen des Bösen sind die Nationalsozialisten mit diabolischen Zügen, Goebbels gar mit einem Pferdefuß ausgestattet. Daneben karikiert Lasker-Schüler die Tendenz, den Führer zu sakralisieren. Goebbels gilt sein Herrscher etwa als „Germanias Gott“: Adolf Hitler ist Heiland. Während des anzüglichen Gartengesprächs zwischen Goebbels und Frau Marthe, die ebenfalls zum Personal des Dramas zählt, erscheint Hitler als groteske Kultfigur dort, wo Martes Schwerhörigkeit aus dem „Wotan“ einen „Truthahn“ macht, 34 und auf Mephistos „Frau Kuppelfei noch ist nicht Mai!“ festhält: „Die Ariergottheit legte doch ein Ei!“35 Die Apotheose der Macht des Bösen steht folglich nicht für sich, sondern wird in das assoziative Spiel des Reims hineingezogen. Das komische Klangspiel wird indes akustisch überboten durch die Allgegenwart des Lärms, den die Nationalsozialisten verbreiten. So wird der Gesang am Ende des Gelages, das dem Untergang der Heere vorausgeht, „von den verwilderten heiseren Stimmen der Nacis brutal begleitet.“ 36 Das theologische Gespräch zwischen Faust und Mephisto wird von den Schreien der in Lavamassen versinkenden Soldaten unterlegt, Mephistos Erzählung aus der „Edenwelt“ mit dem „dröhnenden Schreiten des Naciheeres“ 37 synchronisiert. Vor der monumentalen Kulisse der Jerusalemer Zitadelle erstehen Massenszenen, wie sie aus dem Theater Max Reinhardts und Erwin Piscators bekannt sind, und die absolute Kulturlosigkeit der Nationalsozialisten wird sicht- und hörbar. Stets bleibt die poetisch-figurierte Geschichte mit Anspielungen an die Weltenalter, Schöpfung, Fall und Erlösung durchwirkt. In die absolute Gegenwart des Dramas spielen folglich Ur-, Endzeit und Historie hinein. Damit mischen sich auch die Erinne33 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 201. Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 204. 35 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 220. 36 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 202. 37 Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 218. 150 34 rungsräume, die poetisch evoziert werden. Der verflüssigte und wieder erstarrende Stein der apokalyptischen Lavamassen, nun nicht konzentriert wie in der steinernen Figur des Götzen Baals, sondern sintflutartig, versinnbildlicht gleichsam den Prozess der Auflösung der Ewigkeit, die die Gegenwart verschlingt. Letztlich führt die Bewegung aus der Historie heraus: der Tod der „Dichterin“ und das „himmlische“ Nachspiel können auch anzeigen, dass in der Geschichte kein Bleiben ist. Die gottferne Welt, die die Dichterin immer wieder thematisiert hat, erhält in diesem Drama eine konkrete historische Dimension. Den Charakter faktischer Berichterstattung hat IchundIch freilich an keiner Stelle. Gerade dieser Anspruch eines fiktiven Publikums oder auch des Kritikers Swet, den Sie oben gehört haben, wird bewusst unterlaufen. Ihre Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Geschichte hat Lasker-Schüler hier verwirklicht: Sie liegt nicht in einer distanziert-dokumentierenden Darstellung, sondern in einer Annäherung, die den Versuch der Aneignung der – eigenen – Geschichte als utopisch ausweist. Der imaginativ-poetische Raum muss unter dem Gewicht dieser Last zerbrechen. Dies wiederum poetisch zu artikulieren und damit die Grenzen ästhetischen Wirklichkeitsausdrucks zu markieren, macht die besondere Bedeutung des Dramas aus. 5. Ver-spielt: Vom Unmöglichen des Gesamtkunstwerks Leise singend beendet die „Dichterin“ hinter dem Vorhang das Drama, entzieht sich selbst wie die Vision, von der sie kündet, der Schau-Stellung. Der Erprobungsraum des Welttheaters ist verlassen, die Spaltung des Ich, im Titel formuliert, ist utopisch aufgehoben und die Herzensbühne im Tod der „Dichterin“ aufgelöst. Vor den Augen der bewegungslosen biblischen Könige ist ein Untergangsszenario entworfen worden, dessen Gewaltsamkeit von tragikomischem Dialog Fausts und Mephistos, Martes’ und Goebbels’ unterlegt ist und durchbrochen wird. Nie erfasst das sintflutartige Geschehen die ganze Bühne. Immer bleibt Raum für den verspielenden Vers, für die selbstreflexive Dimension von Theater und Poesie angesichts der umfassenden Zertrümmerung. Durch die Montage verschiedenster Theatertraditionen, Tragödie, Mysterienspiel, Moritat, Kabarett und Allegorie zeigt Lasker151 Schüler jene Tendenz des Abbruchs an, die Walter Benjamin als charakteristisch für das neuzeitlich-moderne Trauerspiel herausgearbeitet hat. Sie unterläuft damit dasjenige Potenzial des Welttheaters, das Hugo von Hofmannstahl zur Aufnahme des Stoffes bewogen hat: das Ganze der Welt im Medium des Gesamtkunstwerks zu konstituieren, mithin einen Raum außerhalb der bedrohlichen, fragmentierten Wirklichkeitserfahrung zu schaffen, der diese heilsam zu transzendieren vermag. Das Festspiel in Salzburg stiftet mittels kultureller Erinnerung eine Art Heimat. Jerusalem ist hochbesetzter symbolischer Ort, Ort der eschatologischen Ambivalenz des Schon Jetzt und Noch Nicht. In IchundIch gilt die Stadt jedoch nicht als harmonisches Zentrum des Bibelsterns, sondern ist Schauplatz des Höllenspiels und letzter Entäußerungsraum der Herzensbühne, deren labiler Boden unter dem Gewicht der Geschichte bricht. An diesem Ort lässt Lasker-Schüler ihre Schauspieler traditionelle Stoffe wie ihre eigene Lyrik zitierend und variierend aufrufen. Wenn sie dabei an eine quasi kanonische Überlieferung der deutschen Literatur anknüpft, so jedoch nicht, um sich angesichts von Verlusterfahrungen einer bestehenden Bindung zu vergewissern. Vielmehr werden die Stoffe assoziativ versammelt, parodierend und grotesk verbunden und nicht zu einem Ganzen zusammengefügt. Seltsam gleichrangig werden biblische Stoffe, Goethe-Verse und Allusionen an das Kasperletheater mit zeitgeschichtlichen Elementen kombiniert. Das Auflesen der oft deformierten Stoffe zeugt dabei von dem Versuch, die eigene Geschichte, die im Zeichen von Verlusten und Zerstörungen steht, in den Bühnenraum hineinzuholen. Wenn in IchundIch das Scheitern dieses Versuchs vorgeführt wird, kann jedoch von einer Trivialisierung der katastrophalen Geschichtserfahrung nicht die Rede sein. Die wechselseitige Destabilisierung von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis, die Erinnerung quasi der eigenen Generation führt vielmehr die umfassende Haltlosigkeit, die Konsequenz dieser Erfahrung ist, in äußerst bedrängender Weise vor. Monumental in der Anlage, spricht IchundIch Auge und Ohren an, vereinigt eine Vielzahl von Kunstformen, nimmt Poesie, Musik, Tanz und Film ins Welttheater auf. Doch lädt die „Plurimedialität“ (Manfred Pfister) nicht zum gleichsam rausch152 haften Erleben einer Festspielgemeinde ein. Immer wieder zerbersten die zahlreichen sinnfälligen Einzelheiten in der Kollision miteinander, immer wieder wird die ausgefeilte Anlage auf die Probe gestellt, wird das Große, gar Ehrwürdige im parodierenden Zitat eingeholt. In diesen negativen Zerschlagungsbewegungen, die an Karl Kraus erinnern, wird indes eine konkrete Haltung sichtbar: wider die abstrakte theologische Weltdeutung, die dem gelehrten Diskurs folgen mag, der subjektiven Erfahrung insbesondere unter dem Eindruck der Historie aber nicht standhält, wider auch die Vorstellung, die (Theater-)Kunst könne und solle Fakten abbildhaft dokumentieren, um der Wirklichkeit zu entsprechen. Die souveräne welt-anschauende Zuschauerposition fehlt, die Herzensbühne zeigt die Sicht der Welt wie die Existenz als aufs Spiel gesetzt. Mensch, Welt und Dichtung bleiben miteinander verschränkt, werden eingebunden in den entgrenzenden Zusammenhang von Urzeit und Endzeit, aber weder in den Raum der dichterischen Imaginationswelten oder bergenden Gottesnähe entlassen, noch auf den geschichtlichen Augenblick reduziert. Die Menschheitsthemen von der Gerechtigkeit Gottes in der Welt, vom versöhnten Dasein in Glaube und Liebe werden angesichts der für die Poetin stets beschränkenden Existenz auf dem Erdenstern, vor allem aber angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung und der Gefährdung jeglicher Zuflucht der Jüdin wie ihres Volkes zur Anzweiflung der Möglichkeiten von Dichtung überhaupt. Wenn die Herzensbühne unter diesem Gewicht aufgegeben werden muss, scheitert der Erprobungsraum des Welttheaters. Die Vision des frei-imaginierenden Ortes, der auch Ort der Nähe Gottes ist, weist aus dem Drama hinaus. Wenn er gleichwohl vor der Grenze des Schweigens in den Bereich der Poesie zurückweist, so ist diese eine gezeichnete. Am Schluss meines Beitrags soll das Gedicht „Mein blaues Klavier“ stehen, 38 das dem letzten Gedichtband Lasker-Schülers den Titel gibt. Er erscheint 1943 in Jerusalem, und gerade dieses Gedicht kündet noch einmal von der poetischen Sehnsucht nach Gottgeborgenheit: 38 Lasker-Schüler, Gedichte (Anm. 1), S. 284-285. 153 Mein blaues Klavier Ich habe zu Hause ein blaues Klavier Und kenne doch keine Note. Es steht im Dunkel der Kellertür, Seitdem die Welt verrohte. Es spielten Sternenhände vier – Die Mondfrau sang im Boote – Nun tanzen Ratten im Geklirr. Zerbrochen ist die Klaviatür … Ich beweine die blaue Tote. Ach liebe Engel öffnet mir – Ich ass vom bitteren Brote – Mir lebend schon die Himmelstür – Auch wider dem Verbote. 154 Guido Bausenhart Die sogenannte Heilige Familie Der bescheidene Beitrag zum Gesamtkunstwerk dieser Ringvorlesung „Literatur und Religion“, gerät er in die Nähe von Glühwein, Spekulatius, Lebkuchen und brennender Kerze, wird schnurstracks zu einer Weihnachtsvorlesung. 1 So komme ich also zu dieser Weihnachtsvorlesung wie die Jungfrau zum Kind; und ich werde auf diese berühmte Jungfrau natürlich noch zurückkommen. Ich werde das ja müssen, wenn ich mein Thema nicht völlig verfehlen will: Die Heilige Familie, die sogenannte Heilige Familie. Religion und Literatur „Religion und Literatur zusammenzubringen, das ist mein Hauptmotiv.“ Der das sagt, ist Ehrendoktor dieser Universität: Martin Walser. Wo er das gesagt hat? Vor sechs Wochen – am 9. November 2011 in Harvard. Es war sein Schlusswort: „Religion und Literatur zusammenzubringen, das ist mein Hauptmotiv.“ – Schlusswort eines Abends im gläsernen Penthouse der John F. Kennedy School of Government, Harvards Schmiede der politischen Elite des Landes. „Religion und Literatur zusammenzubringen, das ist mein Hauptmotiv.“ Und Walser fügt hinzu: „Komisch, dass es unter Intellektuellen nicht mehr stattfindet.“ 2 Martin Walsers jüngster Roman Muttersohn 3 greift ausdrücklich das Motiv der berühmten Jungfrau auf. Als der Spiegel (Nr. 30/2011) sein Buch angepriesen hatte mit der Notiz, der Romanheld behaupte, er sei ohne Vater zur Welt gekommen, sieht 1 Das Datum der Vorlesung – 21. Dezember 2011 – führte dazu, den Vortrag zugleich als „Weihnachtsvorlesung“ anzukündigen. 2 Vgl. Jordan Mejias: „Der Meister des Selbstgesprächs“. In: FAZ 11.11.2011. Die Rede: Martin Walser: „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“. In: FAZ 10.11.2011, S. 33. Ausführlicher jetzt: Martin Walser: Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012. 3 Martin Walser: Muttersohn. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011. 155 sich Walser zu einer Klarstellung genötigt: „Auf 500 Seiten kommt das nicht vor! Dieser Percy – Anton Parcival, genannt: Percy Schlugen ist die zentrale Romanfigur – dieser Percy ‚behauptet‘ nichts, sondern teilt mit, was ihm seine Mutter gesagt hat, und er erwartet nicht, dass ihm das jemand glaube!“ 4 Eine wichtige Richtigstellung durch den Autor, die man, wenn man sich für die Lektüre mehr Zeit nimmt als der Spiegel-Redakteur, dann auch bestätigt findet. „Messias vom Bodensee“ 5 , „Das Evangelium des Martin Walser“ 6 (FAZ), „Jesus am Bodensee“ 7 (FAS), „Großer Gott, Walser!“ 8 (Die Zeit) – das sind nur wenige Titel von Besprechungen des Romans – wobei allerdings beim letzten wichtig ist, das Komma mitzuhören: ‚Großer Gott – Komma – Walser – Ausrufezeichen‘. Der Roman spielt bzw. sein Held Percy bewegt sich in der Region zwischen Bodensee und Schwäbischer Alb, im typischen literarischen Walser-Land. Percy hat Krankenpfleger gelernt; besonders macht ihn die Art, wie er Menschen begegnet: voller Aufmerksamkeit, mit unbeirrbarem Wohlwollen, und er hat Zeit. Patienten heilt er weniger durch Medikamente als durch seine unerschöpfliche Zuwendung. Der Roman setzt damit ein, dass Percy ans Psychiatrische Landeskrankenhaus Scherblingen zurückkehrt; es ist – wie im schwäbischen ‚Oberland‘ nicht selten – der gleichnamigen Abtei angegliedert. „Patres, Patienten und Angestellte sind dort nicht unbedingt voneinander zu scheiden; schließlich neigt die Medizin ebenso zum Wahn wie der Glaube.“ 9 4 Martin Walser: „Das kommt nicht vor!“ (Leserbrief). In: Der Spiegel Nr. 32/2011. 5 Stefan Meetschen: „Messias vom Bodensee“. In: Die Tagespost 23.07.2011, S. 12. 6 Vgl. Felicitas von Lovenberg: „Produziert ihr Kälte, ich produzier‘ Wärme“. In: FAZ 09.07.2011 Z. 5. 7 Volker Weidermann: „Die letzte Wende. Jesus am Bodensee: Martin Walsers neuer Roman erzählt von einem heiligen Muttersohn“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 03.07.2011, S. 21. 8 Adam Soboczynski: „Großer Gott, Walser!“ In: Die Zeit. 14.07.2011, Nr. 29. 9 von Lovenberg: „Produziert ihr Kälte, ich produziere Wärme“ (Anm. 6). 156 Percy ist ausgesprochen begabt zum Glauben: „Ich bin ein Echo und weiß nicht, von was.“ 10 Ohne dieses ‚und weiß nicht, von was‘ könnte man den johanneischen Christus hören: Wer mich hört und sieht, der hört und sieht den Vater. Glaube ist nicht verfügbar, er ist, wie Percys Mentor, Professor Feinlein, im Roman Muttersohn betont, kein fester ‚Besitz‘. Man kann den Glauben nicht anschalten wie das Licht. Glauben, so Walser, ist eine Bewegung, ein Prozess, ‚der andauernd glücken muss, aber auch missglücken kann‘. Zu seinem Glücken, seinem Gelingen, kann im Roman Muttersohn die ‚offizielle Kirche‘, die Walser primär als gesellschaftliche Macht ansieht, offenbar nichts beitragen. 11 Aber auch der Theologie kann unser Ehrendoktor bekanntlich nicht viel abgewinnen: Gott werde „in den Laboratorien der Theologie zerbröselt“, so schon vor dreißig Jahren in seiner Rede zur Entgegennahme des Büchner-Preises. 12 Etwa in der Mitte des Romans ist der Muttersohn in eine Talkshow eingeladen. Percy bringt Susi, die Moderatorin, zur Verzweiflung. Sie wird ihn schließlich an ihren Kollegen abgeben. Hier die kurze Szene – noch mit Susi: Susi: Und Sie wissen, warum wir Sie in unserer Talkshow haben wollten? Percy: Ich ahne es. Susi: Und was ahnen Sie? Percy: Weil ich manchmal, wenn ich irgendwo spreche, erwähne, dass Mutter Fini mir gesagt habe, zu meiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen. Susi: Richtig. Jetzt die Frage, die mich plagt, seit ich weiß, dass ich mit Ihnen sprechen darf, soll, muss: Glauben Sie das, was Ihnen Ihre Mutter gesagt hat? Percy: Ich glaube, dass Mutter Fini es glaubt. Susi: Und Sie? Percy: Wenn ich das nicht glauben würde, hätte ich es nicht da und dort erwähnt. Susi: Sollen wir Ihnen das glauben? 10 Vgl. ebd. Elisabeth Hurth: „Muttersohn“. In: Kirche In 11/2011, S. 42. 12 Martin Walser: „Woran Gott stirbt“. Rede vor der Darmstädter Akademie bei Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises. In: Süddeutsche Zeitung 24./25.10.1981, S. 81. 157 11 Percy: Du nicht. (Das Publikum lacht.) Kein Mensch außer mir muss das glauben. Aber jeder und jede tut so, als sei, was mir Mutter Fini gesagt hat, ganz und gar unmöglich. Einfach unglaubhaft. Ich erlebe, wie in jedem und jeder ein Widerlegungseifer wach wird. Warum ertragen sie nicht einfach, dass das meine Sache ist. Meine und Mutter Finis Sache. Dürfen wir etwas nicht glauben, weil andere nicht daran glauben wollen oder können: Glauben, das ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Bei Musik weiß jeder: Manche sind musikalisch, andere nicht. So mit der Glaubenskraft. Manche können nur glauben, was sie auch wissen können. Offenbar gibt es Menschen, die können nur mit Gleichungen leben, die aufgehen. Glauben, das ist eine Gleichung, die nie aufgeht.13 „Percy ist sicher der hellste Charakter, die hellste Figur, die bisher leichteste Figur. ‚Ich baue Leichtigkeit an wie andere Mais und dünge sie mit Himmelslicht-‚ Eine Figur, die so spricht, hatte ich bisher nicht.“ – so sein Autor Walser; 14 oder darf man sagen: sein Vater? ‘Es ist ein Anliegen dieses Buches geworden,‘ sagt Walser in einem dpa-Interview, ‚dass es das Glauben können in der Wichtigkeit erzählt, die in der Wirklichkeit vorhanden ist. Die meisten Leute glauben, sie seien vom Wissen abhängig, aber in Wirklichkeit sind sie vom Glauben abhängig‘. „Insofern hat das Buch ein bisschen den Ehrgeiz, Religiöses und Literarisches wieder als eine Fähigkeit und Ausdrucksart des Menschen zu zeigen.“ Und in einer Lesung aus dem Muttersohn im Bibliothekssaal des Klosters Bad Schussenried, in angemessenem Ambiente: „Percy wäre es recht, wenn die beiden Wörter Literatur und Religion wieder eins wären.“ 15 Religion – noch ein letztes Zitat aus seiner Harvard-Rede, weil es mir als Überleitung dient – Ich meine, Religion sei eine Ausdrucksart wie andere, wie Literatur, Musik, Malerei. Ich lese Religion als Literatur. Dass Texte, die für uns ‚nur‘ noch zur Religion gehören, Dichtung sind, um es im Betriebs- 13 Walser: Muttersohn (Anm. 3), S. 172 f. Martin Walser: „Die Genesis ist schöner als der Urknall.“ In: Die Tagespost 12.07.2011. 15 Jürgen Kanold: „Unsterbliche Hosenträger“. In: Schwäbisches Tagblatt 13.07.2011. 158 14 deutsch zu sagen: große Dichtung, das kann man doch noch sagen: Die Psalmen, Das Buch Hiob, Das Weihnachtsevangelium. 16 Von Mutter Fini zu Mutter Mirjam Vom Roman Der Muttersohn also zum Weihnachtsevangelium, von Mutter Fini – Josefine – zum Original: zu Maria oder Mirjam von Nazareth. Die Evangelien sind keine Biographien Jesu, und doch sind ihre Berichte chronologisch angeordnet – zuerst wird geboren und dann gestorben – nicht wie bei modernen Romanen mit ihren unangekündigten Rückblenden, mit denen der brave Leser verunsichert wird, zeitweise die Orientierung verliert, bis er die Methode durchschaut hat und sich schlau vorkommen darf. Noch kann man im Zusammenhang mit Weihnachten in unserem Kulturkreis eine gewisse Vertrautheit mit den Kindheitsgeschichten Jesu im Matthäus- und Lukas-Evangelium unterstellen. Ich erinnere nur: Gabriel, der Engel, verkündet der überraschten Mirjam in Nazareth, sie werde ein Kind empfangen, einen Sohn, und der solle Jesus heißen (Lk 1,26-38). Joseph, ihr Verlobter, bemerkt die Schwangerschaft und will Mirjam möglichst ohne Aufsehen aus der Verlobung entlassen, woran ihn wieder ein Engel hindert, der ihm mitteilt, das Kind sei „vom Heiligen Geist“; was sich Joseph darunter vorstellte, ist nicht überliefert, jedenfalls nimmt er Mirjam zu sich und bekennt sich zu dem Kind. (Mt 1,18-25) Beide Evangelien berichten von der Geburt Jesu in Betlehem: Lk lässt die Hirten zum Stall finden (2,1-20), Mt die Sterndeuter aus dem Osten (2,1-12). Allein das MatthäusEvangelium weiß dann von der Flucht nach Ägypten, dem betlehemitischen Kindermord und der Rückkehr der Heiligen Familie nach Nazareth nach dem Tod des Herodes (2,13-23). Bis auf die Geschichte des zwölfjährigen Jesus, der nach seiner Bar Mitsva-Feier in Jerusalem bleibt und seine Eltern in helle Aufregung versetzt hatte (Lk 2,41-52), wissen die Evangelien vom jungen Jesus nichts zu erzählen. Das macht ‚hoch die Tür und die Tor weit‘ für die Phantasie. Es entsteht z.B. das soge16 Walser: „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ (Anm. 2). 159 nannte Kindheitsevangelium 17, das die Kirche gut getan hat, es nicht in den Kanon der neutestamentlichen Schriften aufzunehmen. Man stelle sich vor, wir bekämen im Gottesdienst von den Lausbubenstreichen des jungen Jesus vorgelesen. Die Heimat Jesu Nazareth 18 war in den Zeiten Jesu ein Dorf, in dem Schafe und Ziegen, Esel und Kamele zum alltäglichen Bild gehörten. Die Familien wohnten in strohgedeckten Häusern aus Feldsteinen und Lehm, manche in ausgebauten Höhlen. Sie lebten von der Landwirtschaft als Kleinbauern, vor allem für den eigenen Bedarf, Aug in Aug mit möglichen Missernten und in deren Folge von ruinöser Verschuldung bedroht. Manche betrieben zusätzlich ein Handwerk und fluchten über die hohe Steuerlast durch die römischen Besatzer. Nur die Hälfte überlebt die Kindheit; auch dann wird man selten älter als 40 Jahre. Galiläa 19 meint den überschaubaren Landstrich südlich des Litani-Flusses im heutigen Libanon bis zur Jesreel-Ebene. Lange waren hier Juden in der Minderheit gewesen, woran der Name Galiläa erinnert: Er geht auf die hebräische Bezeichnung „galil hagoijim“ zurück, „Region der Heiden“. Ab etwa 100 v. Chr. zogen fromme Familien aus Judäa nach Norden und ließen sich in Galiläa nieder. Zur Zeit der Geburt Jesu lebten dort knapp 200.000 Menschen. Die fruchtbare Hügellandschaft Galiläas war ein Kontrast zur kargen, felsigen Gegend um Jerusalem. Im Herzen Galiläas speist das Wasser des Jordan den See Genezareth, das ‚Galiläische Meer‘, 21 Kilometer lang und 12 Kilometer breit. 17 Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord. Frankfurt/Main-Leipzig: Insel 1999, S. 1294-1304. 18 Vgl. zum Folgenden: GEOEPOCHE Nr. 45: Das Heilige Land; Der Spiegel Geschichte Nr. 6/2011: Jesus von Nazareth und die Entstehung einer Weltreligion. 19 Vgl. Welt und Umwelt der Bibel Nr. 24 (2002): Jesus der Galiläer; Welt und Umwelt der Bibel Nr. 42 (2006): Auf den Spuren Jesu. Teil 1: Von Galiläa nach Judäa; Willibald Bösen: Galiläa. Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu (Akzente). Freiburg-Basel-Wien: Herder 1998. 160 An seinen Ufern wird Jesus von Nazareth seine Predigttätigkeit beginnen. Die Jungfrau kommt zum Kind Theologen haben beim Thema ‚Heilige Familie’ zwei offene Baustellen: - die Frage nach der jungfräulichen Empfängnis Mirjams von Nazareth; - dann die Frage nach möglichen Geschwistern Jesu. Wie heiratet man in der Zeit von Josef und Mirjam in Palästina?20 Die Heirat findet in zwei Stufen statt. Sie beginnt mit der Verlobung, in der im Beisein von Zeugen der Heiratswille offiziell erklärt wird; auch der Brautpreis ist fällig. Die Verlobung bedeutete eine rechtlich verbindliche Verbindung; mit ihr beginnt der Übergang des Mädchens – gewöhnlich im Alter von 13-14 Jahren – aus der Macht ihres Vaters in die Hand des Ehemannes. Der erwirbt gesetzlich festgeschriebene Rechte über sie, sodass die Verlobung der jungen Frau in vielfacher Hinsicht den Status einer verheirateten Frau verlieh, auch wenn sie noch etwa ein Jahr im Haus ihres Vaters verbleibt. Wieder gelöst werden konnte die Verlobung nur durch eine Scheidung, die vom Mann initiiert werden muss. Wenn das Mädchen in der Verlobungszeit seine ehelichen Rechte verletzt, gilt dies als Ehebruch. Der Verlobung folgte die eigentliche Heirat: Das Mädchen wird ins Haus ihres Mannes aufgenommen, der von da an für ihren Unterhalt sorgt. Gewöhnlich wird vorausgesetzt, dass das Mädchen zum Zeitpunkt ihrer Verlobung und – zumindest in Galiläa – auch zum Zeitpunkt ihrer vollständigen Eheschließung Jungfrau ist. Nun weiß aber das Matthäusevangelium Folgendes: „Maria […] war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren,“ – gemeint ist wohl die Aufnahme Marias ins Haus des Josef, also die definitive Heirat – „zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete“ – und das Evangelium fährt fort: „durch das Wirken des Heiligen Geistes.“ (Mt 1,18) 20 Vgl. Jane Schaberg: „Die Stammütter und die Mutter Jesu“. In: Concilium 25 (1989) S. 528-533, hier S. 529 f. 161 Was soll der arme Josef jetzt tun? Wenn er weiß, dass er selbst nicht der Vater ist, kann er nur zwei Erklärungen sehen: Vergewaltigung oder Ehebruch; hier: Verlobungsbruch. Für die dritte Variante: „durch das Wirken des Heiligen Geistes“ wird Josef erst der Engel im Traum die Augen öffnen. Das kann er ja nicht wissen, darauf kann man ja auch nicht kommen. Das jüdische Gesetz regelt solche Vorkommnisse im Buch Deuteronomium: Wenn ein Mann eine Frau geheiratet und mit ihr Verkehr gehabt hat, sie aber später nicht mehr liebt und ihr Anrüchiges vorwirft, sie in Verruf bringt und behauptet: Diese Frau habe ich geheiratet, aber als ich mich ihr näherte, entdeckte ich, dass sie nicht mehr unberührt war!, … Wenn der Vorwurf zutrifft, wenn sich keine Beweisstücke für die Unberührtheit des Mädchens beibringen lassen, soll man das Mädchen hinausführen und vor die Tür ihres Vaterhauses bringen. Dann sollen die Männer ihrer Stadt sie steinigen und sie soll sterben; denn sie hat eine Schandtat in Israel begangen, indem sie in ihrem Vaterhaus Unzucht trieb. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. (Dtn 22,13-21) Steinigung also bei Ehebruch – so lautet das Gesetz. Zur Zeit von Josef und Mirjam wird diese Strafe aber in der Regel nicht mehr vollzogen – auch wenn das Johannes-Evangelium eine Szene schildert, da die Pharisäer und Schriftgelehrten (also die Theologen!) eine Frau zu Jesus bringen, die beim Ehebruch ertappt worden war, und er ihnen buchstäblich die Steine aus der Hand nimmt mit der knappen Sentenz: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ (Joh 8,1-11; 7) Auch für den Fall einer Vergewaltigung kennt das Gesetz eine Regel: Wenn ein unberührtes Mädchen mit einem Mann verlobt ist und ein anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen und sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe geschrieen hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Wenn der Mann dem verlobten Mädchen aber auf freiem Feld begegnet, sie fest hält und sich mit ihr hinlegt, dann soll nur der Mann sterben, der bei ihr gelegen hat, dem Mädchen aber sollst du nichts tun. Bei dem Mädchen handelt es sich nicht um ein Verbrechen, auf das der Tod steht; denn dieser Fall ist so zu beurteilen, wie wenn ein Mann einen andern überfällt und ihn tötet. Auf freiem Feld ist er ihr 162 begegnet, das verlobte Mädchen mag um Hilfe geschrieen haben, aber es ist kein Helfer da gewesen. (Dtn 22,23-27) Was tut Josef? Er hat zu wählen zwischen dem gesetzlich vorgeschriebenen Ehebruchsprozess und der Ausstellung eines Scheidebriefes. Im Fall von Ehebruch ist die Scheidung Pflicht. „Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen.“ (Mt 1,19) Er muss Mirjam geliebt haben. Er zielt zwar auf eine Scheidung, will ihr aber ein demütigendes, entwürdigendes öffentliches Verhör ersparen – und sich selbst vermutlich auch. Eine Scheidung muss zwar auch vor zwei Zeugen erfolgen, erregt aber nicht solches Aufsehen in der Öffentlichkeit Nazareths. Als frommer Jude kann Josef keine Ehe mit einer Ehebrecherin eingehen – und dann nimmt er seine Frau doch zu sich. Das muss bei seinen Nachbarn, denen der Engel nicht im Traum erschienen war, den Verdacht auf eine Vergewaltigung aufkommen lassen, die ohnmächtig, hilflos, unschuldig erlitten zu haben eine Eheschließung nicht verbietet. Dass Josef seine Meinung ändert, verdankt er dem Engel und seiner Botschaft: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.“ (Mt 1,20) Josef übernimmt die Verantwortung für Mirjam und das Kind; er wird ihm den Namen Jesus geben (Mt 1,21.25). Er adoptiert das Kind. Das alte Rechtsprinzip: ‚mater certa, pater incertus – sicher ist, wer die Mutter, nicht aber, wer der Vater ist’ – das ist ja heute noch so – führt dann dazu, dass der Vater in der Adoption sich zu dem Kind als seinem Kind bekennt. Rainer Maria Rilke spricht in seinem Gedicht Argwohn Jo21 sefs die inneren Spannungen an: Und der Engel sprach und gab sich Müh an dem Mann, der seine Fäuste ballte: Aber siehst du nicht an jeder Falte, daß sie kühl ist wie die Gottesfrüh? 21 Rainer Maria Rilke: Werke. Herausgegeben von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Bd. 2: Gedichte 1910 bis 1926, Bd 2. Frankfurt/MainLeipzig: Insel 1996, S. 26 f. 163 Doch der andre sah ihn finster an, murmelnd nur: Was hat sie so verwandelt? Doch da schrie der Engel: Zimmermann, merkst du’s noch nicht, dass der Herrgott handelt? Weil du Bretter machst, in deinem Stolze, willst du wirklich den zur Rede stelln, der bescheiden aus dem gleichen Holze Blätter treiben macht und Knospen schwelln?“ Er begriff. Und wie er jetzt die Blicke, recht erschrocken, zu dem Engel hob, war der fort. Da schob er seine dicke Mütze langsam ab. Dann sang er lob. Die beiden Geburtsgeschichten des Matthäus und Lukas – die beiden anderen Evangelien nehmen davon ja keine Notiz – sind in den Einzelheiten sehr unterschiedlich, einig aber darin, dass das Kind vom Heiligen Geist stammt. Schaut man genauer hin, ist aber das Interesse der beiden Evangelisten ein ziemlich unterschiedliches: - Matthäus ist am Titel ‚Immanuel’ und natürlich seinem Inhalt gelegen: Der ‚Gott ist mit uns’ – so heißt das übersetzt – wird geboren, und das Evangelium endet mit der Zusage des Auferstandenen: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20) So schließt sich der Kreis einer großen literarischen Komposition und theologischen Konzeption. Den ‚Immanuel’-Titel findet Matthäus in einer Prophetie des Jesaja gegenüber dem außenpolitisch schwer angeschlagenen König Ahas 734 v.Chr.: „Hört her, ihr vom Haus David! […] Der Herr wird euch ein Zeichen geben: Seht die junge Frau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben.“ (Jes 7,13.14) Der Prophet gibt dem unter Druck geratenen König ein Zeichen, das ihm Hoffnung machen soll: Eine junge Frau wird ein Kind bekommen; noch bevor es so alt sein wird, dass es Gut und Böse unterscheiden kann, wird die außenpolitische Gefahr vorbei sein, weil Gott sich als ‚Immanuel‘ erweisen wird. Nun wird aus der „jungen Frau“ (hebr. alma) nach der hebräischen Bibel in der griechi164 schen Übersetzung eine ‚parthénos’, was auch die Bedeutung ‚Jungfrau’ zulässt: „Seht, die Jungfrau wird empfangen […].“ - Lukas dagegen will mit dem Wirken des Heiligen Geistes den ‚Sohn Gottes’-Titel begründen; der Engel verkündet Maria: „Heiliger Geist wird über dich kommen […]. Darum wird, was aus dir geboren wird, heilig genannt werden, Sohn Gottes“ (Lk 1,35). Die offene Baustelle – hier haften nicht Eltern für ihre Kinder, sondern Bischöfe und Theologen für die Gläubigen – betrifft nicht die Frage, ob die ‚Sohn Gottes-Qualität’ des Jesus von Nazareth im Wirken des Heiligen Geistes begründet liegt; das ist ohne Frage so. Die offene Baustelle betrifft die Frage: Kann Jesus von Nazareth ‚Sohn Gottes’ genannt werden und sein nur um den Preis, dass er von einer Jungfrau empfangen und geboren werde? Nein. Die spätere theologische Reflexion auf das Unbegreifliche, das christlicher Glaube von diesem Jesus von Nazareth bekennt: er sei Gott und Mensch, bekräftigt diese Position: Das Konzil von Chalkedon – in der heutigen Türkei nahe Istanbul – hält 451 unmissverständlich fest: Jesus sei wahrer Mensch, in allem uns gleich außer der Sünde. Das widerspruchsfrei zusammen zu denken mit der Aussage, an der Empfängnis Mariens sei kein Mann beteiligt gewesen, wird nicht einfach sein – zumal die Entdeckung der weiblichen Eizelle noch keine zwei Jahrhunderte zurückliegt, ein Wissen darum den Evangelisten man also nicht unterstellen darf. Das sollte man ihnen fairerweise als mildernde Umstände gelten lassen. So geraten manche Kirchenväter – damit sind die bedeutenden Theologen der ersten sieben Jahrhunderte der Kirche gemeint – in abenteuerliche Verirrungen und lassen den göttlichen Logos an die Stelle des männlichen Spermas treten. Dann ist aber auch alles falsch geworden. Der Heilige Geist als Geschlechtspartner Marias – das ist absurd.22 22 Zu nennen wäre hier z.B. Maximos Homologetes (580-662). Vgl. Opusculum 4: PG 91,57D-60A; Ambigua 2: PG 91, 1037A. 165 Ein Stammbaum mit Auffälligkeiten Auch der Stammbaum, die Genealogie, die Matthäus seinem Evangelium voranstellt, gehört hierher – ein Stammbaum, der von Abraham bis Joseph die Abstammung mehr konstruiert als rekonstruiert. (Mt 1,1-16) Was besonders auffällt, sind vier Frauen, die aus dem Rahmen der männlichen Geschlechterfolge fallen und auch sonst recht auffällig sind: Tamar, Rahab, Rut und Batseba. Das Besondere dieser Frauen an dieser Stelle hat natürlich einen Hintersinn – aber welchen? Wie meist gehen die wie meist gut begründeten Meinungen der Bibelwissenschaftler auseinander. Ich stelle die Damen kurz vor: - Tamar verführt ihren Schwiegervater Juda, wird Stammmutter der Judalinie, die nach Rut 4,12 ff. zu David und nach Mt 1,3 dann zu Jesus führt; - Rahab, die Mutter des Boas, ist eine stadtbekannte Prostituierte in Jericho; sie rettet die beiden Kundschafter Josuas, die bei ihr eingekehrt sind, indem sie die Häscher des Königs von Jericho täuscht (Jos 2), die dann mit ihrer Familie bei der Eroberung der Stadt verschont wird (Jos 6,17.22-25). Ihre Tat wird als Tat des Glaubens (Hebr 11,31) und als rechtschaffenes Werk (Jak 2,25) gerühmt; - Rut, die den Obed zur Welt bringt, den Vater Jesses, ist eine Moabiterin, eine Volksfremde; - und Batseba lässt sich von David auf hinterhältige Weise (2Sam 11) zum Ehebruch verleiten und wird zur Mutter Salomos. Diese Geschlechterreihe endet mit Joseph. Gibt es einen gemeinsamen Nenner gerade dieser vier Frauen, von dem her sich ja dann auch eine Analogie zur Geburt Jesu ablesen lassen müsste? Offensichtlich handelt es sich bei allen vier Frauen um Nichtjüdinnen; sie sind in den göttlichen Heilsplan eingebunden, der in der Geburt Jesu gipfelt. Sie verleihen dem Stammbaum „einen universalistischen Unterton“ 23, was gut mit der Tendenz 23 Vgl. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. (Mt 1-7) (EvangelischKatholischer Kommentar zum Neuen Testament I/1). Zürich-EinsiedelnKöln: Benziger/Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1985, S. 94. 166 des Matthäus-Evangeliums harmoniert – jedoch trifft dieses gemeinsame Merkmal der vier Stammmütter auf Mirjam von Nazareth gerade zu: Sie ist Jüdin. Offensichtlich bezeugen die vier Frauen, dass Gott auf krummen Linien gerade zu schreiben vermag: „Eine göttliche irregularity ist gemeinsamer Nenner zwischen den vier Frauen. Gottes Heilshandeln geht manchmal unerwartete Wege. Von dieser Interpretation her ließe sich eine Beziehung zur Jungfrau Maria herstellen, bei der die Irregularität gipfelte.“ 24 – Lassen sich die ‚krummen Linien‘, lässt sich die ‚Irregularität‘ genauer bestimmen? Jane Schaberg schlägt vor: Die Erwähnung der vier Frauen geschieht mit der Absicht, den Leser des Matthäusevangeliums eine weitere Geschichte einer Frau erwarten zu lassen, die auf irgendeine Weise nicht in ihre soziale Umgebung passt; der Unrecht getan und Schaden zugefügt wird; die an einem sexuellen Akt beteiligt ist, der sie in große Gefahr bringt; und deren Geschichte einen Ausgang nimmt, durch den das soziale Gefüge wiederhergestellt und die Geburt eines legitimen oder legitimierten Kindes gesichert wird. 25 Schwestern und Brüder Jesu? Die andere Baustelle: Hatte Jesus Geschwister? Paulus schreibt von „Brüdern des Herrn“ in herausgehobener Stellung in der Gemeinde (1Kor 9,5), besonders von „Jakobus, dem Bruder des Herrn“ (Gal 1,19). Brüder Jesu – im Unterschied zu den Jüngern – finden auch anderswo Erwähnung.26 In Mk 6,3 und Mt 13,55-56 liest man von „Jakobus, Joses (oder Josef), Judas und Simon“, ebenso von „Schwestern“: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab.“ (Mk 6,3) Es haben sich drei Varianten entwickelt, diese ‚Brüder und Schwestern’ zu verstehen: - Man kann sie als leibliche Geschwister Jesu ansehen; die neutestamentlichen Texte reden ganz unbefangen von ihnen. Ter24 Ebd., S. 93. Schaberg: „Die Stammütter und die Mutter Jesu“ (Anm. 20), S. 529. 26 Apg 1,14, Joh 2,12 und 7,3, Mt 12,46, Lk 8,19 und Mk 3,31. 25 167 tullian zu Beginn des 3. Jahrhunderts war auch dieser Meinung gewesen. - Nach traditioneller katholischer Auffassung handelt es sich um Vettern und Basen, Kinder einer Schwester Mariens, die denselben Namen trug (Joh 19,25). Man sagt, das hebräische Wort „Bruder“ könne auch Verwandte entfernterer Grade bezeichnen (Gen 13,8); das ist im Hebräischen richtig, im Griechischen kann man aber durchaus Geschwister von Verwandten sprachlich unterscheiden. Weiter sagt man, Jesus habe am Kreuz seine Mutter dem Jünger Johannes anvertraut (Joh 19,26-27) – hätte es Geschwister gegeben, wären die verpflichtet gewesen, für die Mutter zu sorgen. Das wiederum setzt aber voraus, dass Jesus am Kreuz nichts Besseres zu tun gehabt hätte als die Altersversorgung seiner Mutter zu regeln… - Die ostkirchliche Tradition sieht in den „Brüdern und Schwestern“ Halb- oder Stiefbrüder und -schwestern Jesu aus einer ersten Ehe Josefs. Diese Vorstellung schöpft aus dem sogenannten Proto-Evangelium des Jakobus, entstanden gegen Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr. Darin gibt der Verfasser an, er sei Jakobus (Kap. 25), der „Halbbruder“ Jesu aus der ersten Ehe Josephs. Auch diese Baustelle mag offen bleiben, zumal die Haftungsfragen ja geklärt sind. Joseph von Nazareth Auffällig ist, dass Jesus von den Leuten in Nazaret als ‚Sohn Marias und Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon und von Schwestern‘ bezeichnet wird. Nicht nach dem Vater, sondern nach der Mutter wird ein Sohn nur benannt, wenn er entweder illegitimer Herkunft ist, einen nichtjüdischen Vater hat oder wenn die Mutter Witwe ist. Spätestens vom öffentlichen Auftreten Jesu an tritt Joseph in den Evangelien nicht mehr in Erscheinung. Die nächstliegende Erklärung ist sein früher Tod. Wann, wissen wir nicht. Diese Frage ist nicht allein der Neugier geschuldet. 27 Denn es fällt ja auf, dass Jesus in seinen Gebeten Gott ‚Vater’ nennt, 27 Vgl. Arno Schilson: „… den Jesus Vater nannte. Über Josef von Nazareth“. In: Christ in der Gegenwart 1/1981, S. 5 f.; Peter Hirschberg: 168 sogar “Abba“, eine eher intime Anrede, ähnlich dem deutschen ‚Papa‘. Vielleicht erlebte Jesus eine sehr positive Vaterbeziehung, und dies hat sein Gottesbild geprägt. Dann war zuerst Josef der, den Jesus ‚Vater, Abba’ nannte. Vielleicht war es aber auch genau umgekehrt. Ist Josef früh gestorben, hat vielleicht gerade die Gottesbeziehung ihm geholfen, über den Verlust des Vaters hinwegzukommen. Man wüsste es gerne. Noch etwas zum Zimmermann: Josef braucht man sich nicht arm vorzustellen – zwei Indizien gibt es dafür und ein überraschendes Bild. - Das erste Indiz liegt in Bethlehem: Muss er wirklich in Steuerangelegenheiten dorthin, dann hat er dort Grundbesitz, auf den es das römische ‚Finanzamt‘ abgesehen hat. 1960 fand ein Archäologe in einer Höhle am Toten Meer Gegenstände von Juden, die sich nach der Bar-Kochba-Revolte im Jahre 132 vor den Römern versteckten. Auch Dinge einer Frau namens Babata: Hausschlüssel, Schmuck und Papiere. Darunter war die beglaubigte Kopie einer römischen Zensusurkunde – mit Fachwörtern, die in Lukas’ Weihnachtsgeschichte stehen. Das Papier zählt Babatas Grundbesitz auf und legt die Steuer fest. Das geschah auf dem Amt, in dessen Bezirk der Besitz lag; für Babata und ihren Mann Judanes zwei Tagesreisen von zu Hause entfernt.28 Demnach hätte Joseph also über Pachteinnahmen verfügt. - Ein zweites Indiz: Nazareth lag nahe Sepphoris, das gerade nach einer Zerstörung zur Landeshauptstadt aufgebaut wurde – genug Arbeit für Zimmerleute wie Joseph. Die Zerstörung geht auf einen Aufstand eines gewissen Judas zurück, der vom römischen Feldherrn Varus brutal niedergeschlagen wurde, den man auch – weniger erfolgreich – aus dem Teutoburger Wald kennt. Genug Arbeit für einen tékton, so die griechische Bezeichnung (Mt 13,55): Handwerker für Statik, Holz- und Steinbearbeitung. Und das überraschende Bild: 29 Die Jesus von Nazareth. Eine historische Spurensuche. Darmstadt: WBG 2004, bes. S. 30 ff. 28 Detlev Ahlers: „Ein Ehemann am Rande: Joseph. Vom Tölpel zum Schutzpatron der Arbeiter“. In: Südwest-Presse 22.12.2007. 29 Vgl. Bernhard Bruns: „Josef und die eine Taube.“ In: Anzeiger für die Seelsorge 8/1993, S. 371. 169 Hildesheimer Bernwardstür zeigt u.a. auch die Szene, in der Joseph und Mirjam Jesus in den Tempel bringen. Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde. Dann kam für sie der Tag der vom Gesetz des Mose vorgeschriebenen Reinigung. Sie brachten das Kind nach Jerusalem hinauf, um es dem Herrn zu weihen, gemäß dem Gesetz des Herrn, in dem es heißt: Jede männliche Erstgeburt soll dem Herrn geweiht sein. Auch wollten sie ihr Opfer darbringen, wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben. (Lk 2,21-24) Nun trägt aber Joseph in der Darstellung der Bernwardstür unübersehbar nur eine Taube in der Hand, und die andere hat auch nicht etwa Maria. War da dem größten Sohn Hildesheims ein Fehler unterlaufen? Bischof Bernward kannte sein Altes Testament, das Buch Levitikus. Im 12. Kapitel heißt es dort in den Bestimmungen über die Reinigung der Wöchnerin: Der Herr sprach zu Mose: Sag zu den Israeliten: Wenn eine Frau niederkommt und einen Knaben gebiert, ist sie sieben Tage unrein, wie sie in der Zeit ihrer Regel unrein ist. Am achten Tag soll man die Vorhaut des Kindes beschneiden und dreiunddreißig Tage soll die Frau wegen ihrer Reinigungsblutung zu Hause bleiben. […] Wenn sie ein Mädchen gebiert, ist sie zwei Wochen unrein wie während ihrer Regel. Sechsundsechzig Tage soll sie wegen ihrer Reinigungsblutung zu Hause bleiben. Wenn die Zeit ihrer Reinigung vorüber ist, soll sie, für einen Sohn ebenso wie für eine Tochter, ein einjähriges Schaf als Brandopfer und eine junge Taube oder eine Turteltaube als Sündopfer zum Priester an den Eingang des Offenbarungszeltes bringen. […] Das ist das Gesetz für eine Frau, die einen Knaben oder ein Mädchen gebiert. Wenn sie die Mittel für ein Schaf nicht aufbringen kann, soll sie zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben nehmen […]. (Lev 12,1-8) Die Heilige Familie wird älter: Der erwachsene Jesus und seine Familie ist ein schwieriges Thema, denn es passt wieder nicht in die angebliche Idylle. Mit dem öffentlichen Auftreten in Galiläa verlässt Jesus seine Familie. Und es kommt zum Bruch. Markus berichtet: 170 Jesus ging in ein Haus, und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten. Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen (Mk 3,20-21). Wenig weiter heißt es: „Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben vor dem Haus stehen und ließen ihn herausrufen.“ (Mk 3,31) Was wollten sie von Jesus? „Wollten sie den durchgedrehten religiösen Neurotiker zurückholen und ihn ein für alle Mal im heimatlichen Nazareth dingfest machen? Der vorher gefallene Satz, dass ‚er von Sinnen sei‘, lässt dies vermuten. Jesus wehrt sich gegen dieses familiäre Anspruchs- und Besitzdenken aufs schärfste.“30 Er sieht sich bei seinen Zuhörerinnen und Zuhörern um und stellt provozierend fest: „Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ (Mk 3,34-35) Martin Scorseses The Last Temptation of Christ entfaltet diese Szene breiter: Maria bittet Jesus, mit ihr zu kommen. Da fragt er sie, wer sie sei. Seine Mutter reagiert wie jede Mutter in auch nur halb so drastischen Situationen: schockiert und verständnislos: „Deine Mutter.“ Darauf erwidert Jesus: „Ich habe keine Mutter. Ich habe keine Familie, aber ich habe einen Vater im Himmel.“ Da bricht Maria zusammen – im Film. Solche befremdlichen Szenen 31 haben eine hohe historische Wahrscheinlichkeit – soweit eben Historiker überhaupt etwas wissen können –, weil gerade die Familie Jesu nach Ostern in der jungen Christengemeinschaft eine angesehene Rolle spielte, die leicht hätte verhindern können, dass solche unappetitlichen Geschichten überliefert und aufgeschrieben würden. Kleists „Weihnachtsgeschichte“ Ich kehre von den biblischen Texten zurück zur Literatur, doch nicht wieder zu Martin Walser. Ich nütze eine der allerletzten Gelegenheiten, in diesem Jubiläumsjahr des 200. Todestages Hein30 31 Hirschberg: Jesus von Nazareth (Anm. 27), S. 33. Vgl. auch Joh 7,5; Lk 14,26. 171 rich von Kleist öffentliche Reverenz zu erweisen. „Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war“, schrieb er an seine Lieblingsschwester Ulrike. 32 Er sei ein „nichtsnütziges Glied der menschlichen Gesellschaft“.33 Was immer er anpackte, misslang grandios. Kleist studiert ab 1799 in Frankfurt an der Oder – drei Semester querbeet. Doch die Wissenschaft ist ihm suspekt. Später sagt er, Kant sei schuld. Nach dessen Philosophie könne man nicht entscheiden, „ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint“34. Durs Grünbein: Heinrich von Kleist ist der unerreichte Meister der doppelten Böden und der wechselnden Identitäten. Weil er die Katastrophen kannte, träumte er Idyllen […]. Einigen gilt er bis heute als pathologischer Fall. Andere sehen in ihm den Seismographen, der die historischen Umwälzungen im Europa seiner Zeit, und es waren gewaltige, mit feiner Nadel verzeichnete. Die Nadel war sein hochempfindsames Herz, nicht mehr nur das bewährte Leitorgan der Romantiker, sondern bei ihm auch Organ für die Abgründe der Politik, das Wüten der Bürgerkriege, den Verlust des Vertrauens in historische Sinngebungen, Gottes entsetzliche Ferne und die Krisen der Philosophie. Kein anderer hat zu seiner Zeit so offene Worte gewagt. Er war, so weit man sehen kann, der unruhigste Dichter in einer unruhigen Epoche.35 Jetzt zu Kleists Beitrag zu dieser Weihnachtsvorlesung; der liegt in seiner Erzählung: Die Marquise von O… 36 32 Vgl. Gerhard Stadelmaier: „Kleists Tod“. In: FAZ 19.11.2011, S. 1. Vgl. Adam Soboczynski: „Schöne Abgründe. Vor 200 Jahren hat sich Heinrich von Kleist erschossen. Warum er heute noch fasziniert.“ In: Die Zeit 05.01.2012, S. 37. 34 Vgl. Gerlinde Buch: „Auf Kleists Spuren.“ In: Schwäbisches Tagblatt 09.07.2011. 35 Durs Grünbein: „Der Schrecken im Bade. Heinrich von Kleist ist der unerreichte Meister der doppelten Böden und der wechselnden Identitäten. Weil er die Katastrophen kannte, träumte er Idyllen.“ In: Die Zeit 17.11.2011, S. 62 f; hier S. 62. 36 Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2. Herausgegeben von Helmut Sembdner. München: dtv 1994, S. 104-143. – Die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. Jochen Schmidt: „Die Marquise von O…“. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Interpretationen: Kleists Erzählungen. Stuttgart: Reclam 2007, S. 172 33 In M …, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O …, eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekanntmachen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten. (104) Die ersten Sätze reizen die Neugier: „die sexuelle Neugier, wie es zu dieser unwissentlichen Schwangerschaft kam; die kriminalistische Neugier: wer war der Täter; und schließlich die psychologische Neugier: wie und unter welchen Voraussetzungen wird die Marquise den Mann, der sie vergewaltigt hat, dennoch heiraten können?“37 Erst zum Ende der Geschichte wird Kleist wieder in die Gegenwart der Zeitungsannonce zurückfinden. Es herrscht Krieg. Russische Truppen stürmen die Festung der norditalienischen Stadt. Julietta, die Tochter des Kommandanten, fällt feindlichen Scharfschützen in die Hände. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame unter einer verbindlichen französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück. (105 f.) Man hat vom „berühmtesten Gedankenstrich der deutschen Literatur“ 38 gesprochen: „Hier – traf er [...] Anstalten“. Der Gedankenstrich zeigt in der Darstellung des Geschehens eine Lücke an, 67-84; Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Frankfurt/Main: Fischer, S. 195-202. 37 Schmidt: „Die Marquise von O…“ (Anm. 36), S. 67. 38 Koschorke: Die Heilige Familie (Anm. 36), S. 197. 173 die der Leser in seiner Vorstellung ausfüllen muss. Die gesamte Handlung wird jetzt aus diesem Gedankenstrich entwickelt: Die Zitadelle fällt, der Kommandant mit seiner Familie muss sich ergeben. Noch bevor Julietta sich bei ihrem Retter, Graf F…, bedanken kann, erreicht sie die Nachricht, dass er bei einem Gefecht in der Nähe von P… gefallen sei. „Julietta! Diese Kugel rächt dich!“, soll er zuletzt gerufen haben. Doch Graf F… überlebt und meldet sich bei Juliettas Familie und hält sogleich um ihre Hand an. Bei Tisch erzählt er von seinen Fieberträumen im Lazarett: wie die Marquise beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette gesessen hätte; wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer mit der Vorstellung eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern gesehen; daß ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er diesen Schwan einst mit Kot beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Flut wieder emporgekommen sei; daß sie immer auf feurigen Fluten umhergeschwommen wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, daß er aber nicht imstande gewesen wäre, sie an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloß am Rudern und In-die-Brust-sich-werfen; versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, daß er sie außerordentlich liebe: sah wieder auf seinen Teller nieder, und schwieg. (116) Der Heiratsantrag kommt für alle anderen doch etwas zu unvermittelt, und Graf F… reist nach Neapel weiter. Unterdessen zeigt Julietta alle Symptome einer Schwangerschaft und ist sich doch keiner Schuld bewusst – sie zeigt alle Symptome der Jungfrau, die zu einem Kind kommt: Nichts weiter, meine Mutter, versetzte die Marquise und legte ihre Hand auf die Brust. Nichts, Julietta? fuhr die Mutter fort. Besinne dich. Ein Fehltritt, so unsäglich er mich schmerzen würde, er ließe sich, und ich müßte ihn zuletzt verzeihn; doch wenn du, um einem mütterlichen Verweis auszuweichen, ein Märchen von der Umwälzung der Weltordnung ersinnen, und gotteslästerliche Schwüre häufen könntest, um es meinem dir nur allzugerngläubigen Herzen aufzubürden: so wäre das schändlich; ich würde dir niemals wieder gut werden. (122) 174 Auch eine hinzugezogene Hebamme bestätigt den Befund: Die Marquise, der das Tageslicht von neuem schwinden wollte, zog die Geburtshelferin vor sich nieder, und legte ihr Haupt heftig zitternd an ihre Brust. Sie fragte, mit gebrochener Stimme, wie denn die Natur auf ihren Wegen walte? Und ob die Möglichkeit einer unwissentlichen Empfängnis sei? - Die Hebamme lächelte, machte ihr das Tuch los, und sagte, das würde ja doch der Frau Marquise Fall nicht sein. Nein, nein, antwortete die Marquise, sie habe wissentlich empfangen, sie wolle nur im allgemeinen wissen, ob diese Erscheinung im Reiche der Natur sei? Die Hebamme versetzte, daß dies, außer der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestoßen wäre. (124) Während die Marquise von O… sich ihren Zustand nicht erklären kann, erhält sie die schriftliche Aufforderung ihres Vaters, wegen ihrer Sittenlosigkeit das Haus zu verlassen. Das tut sie dann auch – und setzt von ihrem Landsitz aus diese Zeitungsanzeige auf. Der große Unbekannte bringt seinerseits eine Annonce in die Zeitung: Wenn die Frau Marquise von O… sich, am 3ten… 11 Uhr morgens im Hause des Herrn von G, ihres Vaters, einfinden will: so wird sich derjenige, den sie sucht, ihr daselbst zu Füßen werfen. 39 Wer dann erscheint, ist Graf F… Die Überraschung ist groß – mehr im Hause der Familie als beim Leser. Nachdem er die Marquise von O… gerettet hatte und sie in Ohnmacht gefallen war, hatte er sie missbraucht – während des berühmten Gedankenstrichs. […] und da der Graf, in einer glücklichen Stunde seine Frau einst fragte, warum sie, an jenem fürchterlichen Dritten, da sie auf jeden Lasterhaften gefaßt schien, vor ihm, gleich einem Teufel, geflohen wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre. (143) Natürlich schreibt Heinrich von Kleist keine Weihnachtserzählung; aber er kennt die biblischen Kindheitsgeschichten Jesu natürlich, und die sakralen Anspielungen sind nicht zu überlesen:40 Der Titelheldin Julietta erscheint ein Engel, sie fällt in Ohnmacht 39 40 Heinrich Kleist: Die Marquise von O… (Anm. 36), S. 131. Vgl. Koschorke: Die Heilige Familie (Anm. 36), S. 199 f. 175 und erwacht als künftige Mutter; Graf F… als der Engel, der dann tot geglaubt wie aus dem Grabe erstanden bei der Familie erscheint; die Marquise selbst, der Schwan, dem keine Besudelung etwas anhaben kann, in ständigen Metaphern der Reinheit gezeichnet; auch das erwartete Kind: Nur der Gedanke war ihr unerträglich“, heißt es von der Marquise, „dass dem jungen Wesen, das sie in der größten Unschuld und Reinheit empfangen hatte, und dessen Ursprung, eben weil er geheimnisvoller war, auch göttlicher zu sein schien, als der anderer Menschen, ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben sollte. 41 Die sogenannte Heilige Familie – sie ist keine Idylle langweiliger Harmonie. Unregelmäßigkeiten sind die Regel, wie im sogenannten ‚richtigen Leben‘… 41 Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… (Anm. 36), S. 126 f. 176 Hanns-Josef Ortheil Mönche, Heilige, Märtyrer. Zur Literatur des frühen Christentums 1 Diese Vorlesung fokussiert auf die Spätantike, eine der wichtigsten europäischen Umbruchzeiten, in der sich die geistigen Konturen des frühen Mittelalters bereits abzeichnen. Dem spannungsvollen und für die abendländische Kulturgeschichte eminent wichtigen Zeitraum haben sich in letzter Zeit einige besonders interessante religions- und kulturgeschichtliche Forschungen gewidmet. 1 Sie alle beschäftigt die Frage danach, wie das heidnischantike Denken vom christlichen Glauben überformt und umgestaltet wurde. Dabei wurden Inhalte und Strukturen dieses Denkens von den christlichen Theologen teilweise übernommen und in andere Denkzusammenhänge überführt. Die Texte, die dabei im Glaubensraum des frühen Christentums entstanden, gehören noch immer zu den Gründungsurkunden unserer heutigen Welterfahrung und zeigen besonders deutlich, wie sich der christliche Glaube in all seinen Figuren und Potenzen allmählich von der antiken Philosophie absetzt. Ich möchte einige dieser Transformationen sichtbar machen und damit auch den Blick für das Spezifische des frühen Christentums schärfen, sodass die Unterschiede zum antiken, griechischrömischen Denken, aber auch die zu unseren gegenwärtigen Vorstellungen von einer säkularisierten, aufgeklärten Welt deutlicher werden. Ich werde dabei so vorgehen, dass ich einige der zentralen Figuren und Themen des frühen Christentums anhand von grundlegenden Texten porträtiere. Dabei handelt es sich vor allem um den Mönch, den Heiligen und den Märtyrer (und zwar genau in dieser Reihenfolge, die so etwas wie eine Steigerung von Le1 Guy G. Stroumsa: Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike. Aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011; Paul Veyne: Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht. Aus dem Französischen von Matthias Grässlin. München: C.H. Beck 2008. 177 bensentwürfen meint). Ich werde darüber hinaus aber auch noch andere „Neuerfindungen“ des frühen Christentums, die unsere abendländische Phantasie durch Jahrhunderte sehr beschäftigt haben, ins Spiel bringen, so etwa die Figuren des Pilgers und des Hymnikers. Die alten Texte, die ich vorstellen werde, sind insgesamt Prototypen einer neuen, christlichen Literatur und sollen deshalb auch daraufhin befragt werden, wie sie christliche Lebensentwürfe gestalten, welche Leitbilder sie entwerfen und wie diese Lebensentwürfe und Leitbilder nach besonderen Formen der literarischen Gestaltung verlangen. 2 Wenn ich von Transformationen gesprochen habe, so sind damit Umbruchprozesse gemeint, die auch den Zeitgenossen selbst bereits in ihrer großen Bedeutung deutlich geworden sind. Das wird am Auftauchen völlig neuer Begrifflichkeiten deutlich, mit deren Hilfe man versucht, die Umbruchzeiten zu benennen. So erscheint plötzlich der Begriff „modernus“ (modo=jetzt, hodiernus=heutig) zum ersten Mal; um 495/496 n. Chr. ist er eine Begriffsprägung für das „Jetzt“ der Gegenwart und damit für die christliche „Jetztzeit“, die in einem epochalen Sinn als ganz und gar neue Zeiterfahrung verstanden wird. Mit „Moderne“ ist dabei nicht das gemeint, was wir heute damit verbinden, „Moderne“ ist vielmehr ein Gegenbegriff zu „Antike“, sodass es zur Bildung eines Begriffspaars kommt, das dann in den folgenden Jahrhunderten in der abendländischen Kulturgeschichte immer wieder eingesetzt und strategisch so ausgebaut und entwickelt wird, dass es zu immer neuen „Modernen“ kommt. Antiquus-modernus, antik-modern – so lautet das folgenreiche Begriffspaar, das immer aufs Neue Debatten darüber auslösen wird, wie sich die jeweilige Jetztzeit von ihren Vorläuferzeiten abhebt und neu definiert. In diesem Sinne können wir sagen: Unsere große „Moderne“ ist seit den ersten durch das Christentum geprägten Jahrhunderten die Geschichte unserer Jetztzeiterfahrungen, deren jeweilige Gegenwart wir in immer neuen Fixierungen von kleinen Modernen umkreisen. Mit der allmählichen Etab178 lierung des Christentums im Mittelmeerraum und im Abendland beginnen wir, „modern“ zu denken, indem wir uns immer wieder neu und immer wieder definitorisch auf „Gegenwart“ und „Jetztzeit“ beziehen. Was aber verbirgt sich hinter diesem sich plötzlich so stark artikulierenden Zeitbewusstsein? 3 Skizzieren wir zunächst die antike Zeiterfahrung, die sich eng an eine zyklische Vorstellung von Lebens- und Naturprozessen anlehnt. Das bedeutet nicht, dass ihr der Begriff des Neuen unbekannt ist. Als „neu“ verstehen sich zum Beispiel jene römischen Autoren, die ihre griechischen Vorbilder nicht nur zu „imitieren“, sondern, gleichsam mit ihnen wetteifernd, noch zu übertrumpfen versuchen. Auch die zyklische Zeiterfahrung schließt den Gegensatz von „Altem“ und „Neuem“ also nicht aus, sie versteht diesen Gegensatz aber in einem eher schlichten Sinn: Die „Neuen“ sind zeitlich weiter als die „Alten“, irgendwann aber werden auch diese „Neuen“ wieder die „Alten“ sein, und das alles ad infinitum. „Geschichte“ ist hier noch nicht an den Gedanken der „Entwicklung“ oder des „Fortschritts“ gebunden, sie ist vielmehr „Kreislauf“ in dem Sinn, wie sie der Philosoph Karl Löwith beschrieben hat: [Die Griechen] waren von der sichtbaren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen, und das kosmische Gesetz des Werdens und Vergehens war auch das Vorbild ihres Geschichtsverständnisses. Nach griechischer Weltanschauung bewegt sich alles in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, wobei der Hervorgang in seinen Anfang zurückkehrt. Diese Anschauung enthält ein natürliches Verständnis des Universums, das die Erkenntnis zeitlicher Veränderungen mit der von periodischer Regelmäßigkeit, Beständigkeit und Unveränderlichkeit vereinigt. Das Unveränderliche, wie es vor allem an der geordneten Bewegung der Himmelskörper erscheint, war für sie von größerem Interesse und tieferer Bedeutung als alle progressive und radikale Veränderung. 2 Wir haben es bei der antiken Zeiterfahrung daher mit einem einfachen, an der menschlichen Welterfahrung ausgerichteten Mo2 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart: Metzler 1983, S. 14. 179 dell von Zeit zu tun: Das Leben besteht aus einzelnen Ereignissen, die sich zu Perioden verdichten können. Die Perioden selbst aber unterliegen dem natürlichen Schema von Geburt, Jugend und Alterung. Mit anderen Worten: Die antiken Zeit-Vorstellungen orientieren sich nicht an einem übergeordneten Konzept oder einer Idee von Steuerung oder Sinnzuweisung, sondern am Maß der menschlichen und kosmischen Zeiterscheinungen und damit letztlich am Zyklus der Jahreszeiten, die periodisch auftreten, in einer ununterbrochenen Wiederkehr. 4 Die christliche Zeiterfahrung dagegen macht das Erdendasein im Bild der Pilgerschaft zu einem lediglich vorläufigen Existieren, das sich auf die zukünftige und endgültige Offenbarung des Heils vorbereitet. Die Geschichte ist in diesem Verständnis weder eine Summe beliebiger Ereignisse noch eine Folge kurzfristiger Phasen, die in Analogie zum menschlichen Alterungsprozess gedeutet und erfahren werden. Erst recht aber fügt sie sich nicht mehr in die Vorstellungen von einem zyklischen Werden und Vergehen ein, das keine fundamentalen Einschnitte oder Akzentuierungen kennt. Im christlichen Verständnis übernimmt die Ankunft Christi als Ankunft des Erlösers vielmehr eine zentrale Funktion; sie scheidet das geschichtliche Geschehen in einen Zeitraum vor Christi und einen nach Christi Geburt. Dieser Ankunft geht nach theologischer Deutung der Sündenfall des Menschen voraus. Der Erlöser aber bindet die Schöpfung wieder an Gott und gibt dem Menschen und seiner Geschichte damit ein Ziel, das ihm in Gestalt des Jüngsten Gerichts dauernd vor Augen stehen soll. Die irdische Geschichte wird in diesem Vermittlungsprozess zwischen Gott und Mensch zu einer Übergangszeit und damit zur Zeit einer Bewährung, in der sich der Mensch auf seine endgültige Erlösung vorbereitet und für das Jenseits bereithält. Die einzelnen Etappen der Geschichte unterliegen dadurch der Gesamtperspektive der Erlösung, sie sind jetzt Punkte einer linearen Verbindung zwischen den Polen Schöpfung – Ankunft des Erlösers – Jüngstes Gericht. Augustinus formt den durch diese Auslegung der geschichtlichen Zeit radikalisierten Gegensatz von diesseitigem und jensei180 tigem Geschehen in De civitate Dei 3 weiter aus. Im Gegensatz zu den antiken Lehren von der Kreisbewegung der irdischen Dinge orientiert sich sein christliches Denken an der Gestalt des Kreuzes. Als einmaliges, weltgeschichtliches Ereignis von geradezu allmächtiger Präsenz durchschlägt die Ankunft Christi die scheinbar unveränderliche zyklische Bewegung und hinterlässt einen Bruch, von dem aus sich die Erfahrung alles Irdischen neu ordnet. Nur die Gottlosen verstehen das Leben nach diesem Bruch noch als ziellosen Verlauf eines Auf und Ab der Dinge, denn anders als in der Natur, wo sich in der Tat alles im Kreis bewegt, ist das Erleben des Menschen durch die überirdische Zukunft geprägt, auf die es sich hinbewegt. In diesem Sinn konzipiert Augustinus den Gegensatz von civitas Dei und civitas terrena. Ist die civitas Dei eine Gemeinschaft derer, die sich von ihrem Stammvater Abel her als Gemeinschaft der Gottesfürchtigen auf dem Weg der Pilgerschaft verstehen, so ist die civitas terrena, die sich von Kain herleiten lässt, die Gemeinschaft derer, die mit dem Blick auf bloße Zeitlichkeit auch der Sterblichkeit unterworfen sind. Im Unterschied zu den antiken Zeit-Vorstellungen sind die christlichen daher an ein fundamental anderes Zeitverständnis gebunden. Sie orientieren sich am Konzept des Unterwegs-Seins auf ein Ziel zu, von dem aus das irdische Dasein erst seine eigentliche Bedeutung erhält. Das diesseitige, irdische Leben unterliegt dadurch immer der eigentlichen Sinnzuweisung durch das jenseitige, oder, anders gesagt: Das Leben existiert in zwei parallel verlaufenden Zeitintensitäten, einem irdischen Leben und einem jenseitigen, und zwar so, dass das jenseitige das eigentliche Leben ist, das dem irdischen erst sein Maß, seine Struktur und seinen Sinn zuweist. Das irdische Leben erhält dadurch eine Ausrichtung auf Ziele hin, es erhält gleichsam einen linearen und einen vertikalen (spirituellen, zum Himmel hin ausschlagenden) Vektor. Von dem Moment an, in dem das einzelne Subjekt sich dieser Ausrichtung unterstellt und sich in sie einfügt, wird sein Leben von einer völlig neuen Ordnung gefasst und gerahmt. 3 Augustinus: De civitate Dei. Herausgegeben von Christoph Horn. Berlin: Akademie Verlag 1997. 181 In der Figur des Pilgers wird diese neue, doppelte Orientierung gut sichtbar. Der Pilger nämlich lässt sein gewohntes Zuhause hinter sich und begibt sich für einen bestimmten Zeitraum auf den Weg. Dabei wird er zum peregrinus, zum Fremden, der sich ein Ziel suchen und sich in einer Folge von Stationen linear darauf zu bewegen muss. Diese lineare Orientierung verläuft aber parallel zu einer vertikalen, denn im Grunde sieht der Pilger den Weg rechts und links von seiner Route nicht, sondern versteht seinen Weg in einem ganz anderen als dem konkreten Sinn. Zu pilgern bedeutet dann erheblich mehr, als mit forschender Neugierde in der Fremde unterwegs zu sein. Wer pilgert, reist vielmehr in spirituellem Auftrag auf ein bestimmtes Ziel (Jerusalem, später Rom, noch später dann Santiago de Compostela) zu. Die einzelnen Orte auf diesem Weg waren bedeutende Stationen, an denen man betend und meditierend zur Ruhe kam und sich spirituell auf das Ziel vorbereitete. Eine solche Bewegung von Station zu Station mit dem Blick auf ein großes Ziel führte, literarisch gesehen, zu einer völlig neuen Form von Aufzeichnungen. Darin reagieren die Reisenden nicht mehr – wie in der klassischen Reisebeschreibung – auf die pure Attraktion der Fremde, sondern beschreiben, wie und wodurch sie die Fremde als einen christlichen, spirituellen Raum erkannt und wie sie sich in ihm bewegt haben.4 In den Vordergrund der Pilgerberichte rückt daher die Praxis des Pilgerns, konzentriert auf das Beten, Bekennen, Bereuen. Dadurch wird die Selbstbefragung zu einem zentralen Thema. Zur Orientierungshilfe dieser gleichsam vortherapeutischen Technik wurden das Leben Jesu und das Leben der Apostel und Heiligen, deren Lebensbeispiele und Schriften den Pilgererfahrungen vorausgingen. Das Pilgern festzuhalten, bedeutete in diesem Sinne: die eigene spirituelle Erfahrung in Verbindung zu den Erfahrungen dieser Vorbilder zu bringen. So entstand ein vergleichendes und auf kanonische Vorläufertexte Bezug nehmendes Schreiben, das schließlich zu einer 4 Besonders eindrucksvoll ist der frühe Reisebericht der Pilgerin Egeria aus dem 4. Jahrhundert (Aetheria: Itinerarium=Reisebericht. Übersetzt und eingeleitet von Georg Röwekamp. Freiburg: Herder 1995). 182 Verinnerlichung des Reisens und zu seiner auch biografischen Dokumentation führte. 5 Der Pilger macht sich auf den Weg, um ein ganz und gar anderer zu werden. Diesem Anderswerden geht ein Bruch voraus, denn der Übergang zum Anderssein vollzieht sich eben nicht durch allmähliche Veränderung, sondern durch einen radikalen Schnitt. Das hat Konsequenzen für die biografische Erfahrung des Einzelnen. Zwischen den verschiedenen Lebenskonzeptionen der heidnisch-antiken und der christlichen Ausrichtung gibt es nämlich, was das biografische Erleben betrifft, keinerlei Übergänge. Der christliche Glaube bricht vielmehr mit den heidnisch-antiken Vorstellungen auf radikale, unbedingte Art. Wie ein Blitz und wie eine Offenbarung fährt die neue Glaubenslehre in die frühere Ausrichtung der Subjekte, die den Eintritt des Glaubensmomentes in ihr Leben als eine Überwältigung erfahren, die alle früheren Lebens- und Denkmuster aufhebt und hinter sich lässt. So durchzieht die Biografien ein Moment des „Davor“ und „Danach“, der den unvermittelbaren Gegensatz von nicht-christlichem und christlichem Leben als Drama markiert. Einen solchen dramatisch aufgeladenen Moment erzählt ein Text, der dann gleichsam das Urmodell für die christliche Offenbarungs-Erfahrung bildet; ich meine die Confessiones des Augustinus. Wahrscheinlich um 397 geschrieben, gruppieren sich diese Bekenntnisse um das Erweckungserlebnis der „Bekehrung“: Und da, plötzlich, höre ich die Stimme aus dem Nachbarhaus, wie die eines Kindes, ich weiß nicht, ob eines Jungen oder eines Mädchens, die im Singsang ausruft und oft wiederholt: ‚Nimm und lies, nimm und lies!’ Sofort änderte sich mein Gesicht, und ich überlegte gespannt, ob es etwa ein Kinderspiel gebe, bei dem sie einen solchen Vers trällern; aber ich konnte mich nicht erinnern, das irgendwo gehört zu haben. Ich...stand auf, denn ich konnte das nur so deuten, Gott befehle mir, ein Buch aufzuschlagen und die Stelle zu lesen, auf die als erstes mein Blick fallen werde...Deswegen eilte ich erregt zu dem Platz zurück, wo Alypius saß, denn dort hatte ich das Buch mit den Paulusbriefen hingelegt, als ich aufstand. Ich riß es an mich, schlug es auf und las still für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel: ‚Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und im 183 Bett, nicht in Streit und Neid, sondern zieht den Herrn Jesus Christus an und sorgt euch nicht um das Fleisch und seine Begierden’. Weiter wollte ich nicht lesen; es war nicht nötig. Denn sofort, als ich den Satz zu Ende gelesen hatte, strömte das Licht der Gewissheit in mein Herz; jegliche Finsternis des Zweifels war verschwunden. 5 Was Augustinus hier vorführt, ist das für die christliche Welterfahrung konstitutiv werdende Moment des Bruchs mit dem alten und irdischen Leben insgesamt. Dieser Bruch ist ein schmerzhafter, und er zieht den ganzen Körper in Mitleidenschaft. Die bösen Geister der bloß irdischen Gewissheiten müssen ausgetrieben und verbannt werden, der Leib krümmt sich darüber in Schmerzen, dargestellt ist ein psychotischer Schub, der den „schwachen Körper“ in einen Körper der jenseitigen und anderen Welt verwandeln wird. Diese jenseitige Welt spricht aus einer nicht einsehbaren Ferne, und sie erfüllt den Einzelnen mit dem, wie es heißt, „Licht der Gewissheit“. Dieses Licht ist, wie die Stelle weiter vorführt, Gabe und Gnade, denn es wird einem Zweifler ohne dessen eigentliches Zutun zuteil. Mit dieser Gewissheit ist zugleich aber auch das Überdenken, Überprüfen, Raisonnieren verschwunden. Der gesamte Skeptizismus des antiken Philosophierens löst sich sofort auf und hat gegenüber der Offenbarung einer „Gewissheit“ keinerlei Raum. Anders gesagt: An die Stelle einer Kultur der zweifelnden Überprüfung und der stets latenten Verneinung von Gewissheiten tritt eine Kultur der unbedingten Bejahung, die sich in geradezu hymnischer Zuwendung zum Jenseitigen artikuliert. 6 Das hymnische Moment wird für die frühchristliche Literatur dann charakteristisch. Hymnisch sprechen meint: Von der absoluten Gewissheit her sprechen und diese Gewissheit im Gestus eines elementaren Freudenerlebnisses deklamieren. Der berühmte Text des „Te Deum laudamus“, den – einer sehr hellsichtigen Legende zufolge – ausgerechnet Augustinus während seiner Taufe angestimmt haben soll, ist für dieses deklamatorische Moment frühchristlichen Jubels ein gutes Beispiel. Intern handelt dieser 5 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart: Reclam 2003, S. 220f. 184 Jubel von der Befreiung von der antiken Skepsis, extern artikuliert er sich als ein Verströmen, das gleichsam in freien Schwingungen den himmlischen Horizont unaufhörlich mit seinem irdischen Abglanz verbindet: Dich, Gott, loben wir, dich, Herr, preisen wir. Dir, dem ewigen Vater, huldigt das Erdenrund. Dir rufen die Engel alle, dir Himmel und Mächte insgesamt, die Kerubim dir und die Serafim, mit niemals endender Stimme zu: Heilig, heilig, heilig der Herr, der Gott der Scharen! Voll sind Himmel und Erde von deiner hohen Herrlichkeit.6 Das geradezu Ekstatisch-Schöne einer solchen Strophe hat keine antike Entsprechung, weder im antiken Götter- noch im Herrscherlob. Literarisch neu ist vor allem das Moment des Stillstands und der Wiederholung, das zudem noch lauter Worte auf den Plan ruft, die wie kleine Planeten um Absolutes kreisen: „ewig“, „niemals endend“, „heilig“, „voll von“ – die hymnische Bejahung lässt das Beschreiben, Besprechen und Zerteilen hinter sich und schwingt unaufhörlich zwischen immer denselben Polen von Himmel und Erde, Gott und Mensch – als handle es sich längst um einen inneren Magnetismus, der die diskursive Sprache gar nicht mehr kennt. Eine solche Sprache erscheint, einmal schlicht gesagt, als eine Sprache des Glücks. Vergleichbares hat es in der Geschichte noch nicht gegeben, denn die Sprache des Glücks erfasst nichts Konkretes mehr, sondern genügt sich in der wiederholten Bestätigung des Glückszustandes. „Glückssprache“ behauptet in diesem Sinne nichts, sie kennt kein Gegenüber und keinerlei Differenzen, sie pulsiert vielmehr. Hymnisches Sprechen ist pulsierendes Sprechen, das die Gewissheit der Offenbarung von Sekunde zu Sekunde erneuert und nichts sonst will oder tut (hier gründet die eminente Nähe von Glücks- und Liebessprache, über die der fran6 Adolf Adam: Te Deum laudamus. Große Gebete der Kirche. Lateinisch/Deutsch. Freiburg: Herder 2001, S.17. 185 zösische Philosoph Bruno Latour gerade ein interessantes Buch geschrieben hat. Es hat nicht zufällig den Titel Jubilieren und den Untertitel Über religiöse Rede. 7 Der Immaterialität dieses Sprechens entspricht die Immaterialität der Wesen, die primär über diese besondere Sprache verfügen. Gemeint sind die Engel, die – den Schriften des bis heute geheimnisvollen Dionysius Areopagita8 aus dem 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. zufolge – jene Wesen sind, die die Lobgesänge und Hymnen als ihre eigentliche Sprache betrachten und anstimmen. Hymnisch ist das Singen und Sprechen der Engel als eine Sprache, die am nächsten zu Gott ist. Sie enthält sich des irdischen Vokabulars und ist pures Preisen, sie wird in Gottes nächster Umgebung gesungen und angestimmt, und sie ist, metaphorisch gesprochen, nichts als ein „Rauschen vieler Wasser“. Dieses Rauschen ist Zeichen der „höchsten Erleuchtung“ und deshalb an erster Stelle die Sprache der bereits Erleuchteten, also der himmlischen Geister, der Engel: Deshalb hat auch die Offenbarung der Schrift uns Menschen der Erde die Lobgesänge überliefert, darin sich die Erhabenheit ihrer höchsten Erleuchtungen heilig kundgibt; denn ähnlich dem Rauschen vieler Wasser – um in der Sprache der Sinne zu reden – lassen die einen Glieder dieser Hierarchie den lauten Ruf erschallen: ‚Hochgelobt sei die Herrlichkeit des Herrn an ihrem Orte.’ Die anderen antworten, indem sie jenen viel gerühmten Gottespreis in tiefster Ehrfurcht laut und voll ertönen lassen: ‚Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen, die ganze Erde ist angefüllt mit seiner Herrlichkeit.’9 7 Von hier aus aber noch einmal zurück zu Augustinus. Die Confessiones übersetzen die Großerfahrung einer strikten Trennung von antiker und moderner (christlicher Welt) in eine biografische Erfahrung und begründen damit zugleich auch das Genre der Autobiografie. Autobiografisch zu denken und zu erzählen, war der 7 Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede. Berlin: Suhrkamp 2011. Beate Regina Suchla: Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung. Freiburg: Herder 2008. 9 Dionysius Areopagita: Die Engel-Hierarchie. Übersetzt von Walther Tritsch. Amerang: Crotona Verlag 2010, S. 59. 186 8 Antike noch fremd. In der christlichen Lebenskonzeption erhält das historisch neue Modell des autobiografischen Sprechens jedoch eine zentrale Aufgabe: Die Subjekte erzählen sich ihr Leben als eine fortschreitende Offenbarung, indem sie beginnen, Stationen der Offenbarung zu unterscheiden, ihre Dramen immer wieder zu vergegenwärtigen und sich im Blick auf den einen inneren, psychischen Fortschritt der Offenbarung zu begreifen. Sich dem autobiografischen Blick zu unterziehen, bedeutet von daher: Das eigene Leben nicht als klein, peripher oder kontingent zu verstehen, sondern es als den Versuch einer Komposition zu begreifen. Wenn das geschieht, stellen sich die neuen Fragen: Woraus besteht diese Komposition? Aus welchen Elementen und Aktionen? Und wie wird aus der Einsicht in solche Elemente und Akte dann das Kontinuum einer Erzählung? Die gesamte Grundtechnik der modernen TagebuchLiteratur ist in diesen Fragen bereits angelegt und vorbereitet; in christlichem Sinn erscheint sie zunächst als „Suche nach dem richtigen Weg“. Erste Tagebuch-Konzepte findet man denn auch nicht in der Antike, sondern im christlichen Raum dort, wo ein einzelner Gläubiger beginnt, seinen Lebenswandel zu protokollieren und die Zeit im Blick auf das christliche Heilsprogramm einer Kontrolle zu unterwerfen: War der Tag auch „erfüllt“? Was habe ich an ihm getan? Was versäumt? Solche Fragen ziehen Rituale der Meditation und der Selbstbesinnung nach sich und führen zu Gebeten (dem Morgengebet, den Tischgebeten, dem Abendgebet, dem Nachtgebet), die den Tag gliedern, bis hin zu Ritualen der Beichte und Buße. Protokollierende Sichtung des Lebens betrachtet das Leben also gleichsam vom Jenseits und vom Himmel aus und gibt dem Zeitverlauf des biografischen Erlebens dann auch eine neue Struktur. Nicht die irdische Zeitrechung ist zentral und vor allem bindend, sondern die christliche, die sich einen eigenen Kalender und ein eigenes Jahresleben – das christliche Jahr – gibt. Der christliche Kalender ist mit seinen Hochfesten zunächst um die Dreiheit von Weihnachten, Ostern und Pfingsten gruppiert. Das Kirchenjahr ordnet die Zeit neu, indem es die Wochen und Monate von diesen Festen her zählt und gestaltet. Dabei erhält jeder einzelne Tag eine spezifische Bedeutung, indem er im 187 christlichen Heiligenkalender als Tag eines oder mehrerer Heiliger vermerkt ist. Der christliche Kalender ist also Nachvollzug des Lebenswegs Christi („imitatio“) und Nachvollzug des Lebens der Märtyrer und Heiligen (und damit der Gründerväter der Kirche auf dem ganzen Erdkreis). Wollte man diesem doppelten Nachvollzug heutzutage noch folgen, so müsste man Tag für Tag den „Immerwährenden Heiligenkalender“10 bemühen. Ein Blick in diesen Kalender würde uns an jedem Tag mit dem Leben eines Heiligen konfrontieren, dessen „Vergegenwärtigung“ (in Gebet oder Gottesdienst) auf das Leben Jesu verweisen würde. Stellt der Gläubige diesen Bezug von Präsenz und Tradition her, so öffnet er sein eigenes Leben („imitatio“) hin auf die Zukunft. Der christliche Kalender nimmt sich in dieser Art des gesamten biografischen Zeitverlaufs bis in jedes Tagesdetail an: Der einzelne Tag erscheint nicht mehr isoliert, er ist vielmehr Gedenkund Erinnerungstag und damit auch ein Tag, der nun entworfen, gestaltet und begangen werden muss. Die Momente der Abwendung vom irdischen Leben und der Zuwendung zu einem Dasein der „erfüllten Zeit“ mit der Perspektive einer „imitatio Christi“ führen dann geradezu zwangsläufig zu einem Lebensprogramm, das sich in der Abgeschiedenheit eines Raums im Rahmen besonderer, dafür vorgesehener Zeitphasen ausschließlich auf diese „imitatio“ konzentriert. Klöster und ihre Bewohner, die Mönche, sind dann Teil eines solchen Radikalprogramms. In der sogenannten Benediktsregel, die der heilige Benedikt im 6. Jahrhundert nach Christus geschrieben hat, liegt uns der erstaunliche und wiederum absolut neuartige Text vor, der ein solches Lebensprogramm entwirft. 8 Die Benediktsregel beginnt mit den Worten und der Anrede eines erfahrenen Meisters, der einen Novizen auffordert, sein Leben an den Idealen der christlichen Lehre auszurichten: 10 Albert Christian Sellner: Immerwährender Heiligenkalender. Frankfurt/Main: Eichborn 1993. 188 1 Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat! 2 So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast. 3 An dich also richte ich jetzt mein Wort, wer immer du bist, wenn du nur dem Eigenwillen widersagst, für Christus, den Herrn und wahren König, kämpfen willst und den starken und glänzenden Schild des Gehorsams ergreifst.11 Dieser Beginn des Prologs erneuert die augustinische Bekehrungsszene und macht sie zugleich zu einem Programm. Der bereits ältere Meister spricht den jüngeren Novizen an, indem er nicht an sein verständiges Ohr, sondern an das „Ohr seines Herzens“ appelliert. Indem der Novize diesen Appell annimmt, vollzieht er den Akt der Besinnung und Verinnerlichung und entwirft in der nun empfangsbereiten und erleuchteten Kathedrale des Inneren (des „Herzens“) das einzige Bild und die einzige Figur, die in diesem Innern leuchten soll, das Bild des Herrn und wahren Königs Jesus Christus. Die Aufgabe des Eigenwillens ist damit eine Abkehr von den Bildern der Vielzahl und eine Rückkehr zu dem einen, nie aus dem Auge zu verlierenden, alle anderen Regungen dominierenden Bild Gottes, es ist die Vorstufe zum Gebet. Als ganzes ist die angemahnte Stufenfolge der „Verinnerlichung“ kein Akt bloßer Meditation oder Selbstbesinnung, sondern ein Akt der radikalen Überführung des eigenen Lebens in den Dienst für Christus. Die Betonung der „Tat“ und des Tätig-Werdens ist von großer Bedeutung, indem sie den endgültigen Bruch mit den Tätigkeiten des vergangenen, als „ungehorsam“ (oder falsch) deklarierten Lebens markiert: Sie ist endgültige Tat und hat damit nicht mehr einen beiläufigen oder beliebigen Charakter. Der Meister der Benediktsregel spricht dabei im Charakter und im Ton von Unterweisungen, aber er gruppiert sie nicht mehr – wie es in der Antike in solchen Fällen noch geschah – in lockerer, unverbindlicher, improvisierter Form, sondern als einen sorgfältig komponierten, alle Einzelheiten des Lebens in den Blick 11 Die Benediktsregel. Lateinisch/Deutsch. Herausgegeben von P. Ulrich Faust. Stuttgart: Reclam 2009, S. 7. 189 nehmenden Plan oder als ein Gesamtprojekt, das eine lückenlose, alle Lebensdetails miteinander kombinierende und auf die christliche Lehre hin ausrichtende Lebensführung anstrebt. Insgesamt besteht die Benediktsregel dann aus über siebzig Kapiteln, deren Themen die gesamte Praxis des Mönchslebens umfassen und gleichzeitig theoretisch legitimieren. Das reicht vom Gottesdienst in der Nacht über Fragen danach, wie und wo die Mönche schlafen sollen, wie mit kranken Brüdern umzugehen ist und was und wo gelesen werden soll, bis hin zu Regeln zur Aufnahme von Gästen, zur täglichen Handarbeit oder zur Bemessung der Speisen und Getränke. Es sind Konzepte von Totalität und Universalität, die dieser Lebensführung zugrunde gelegt werden. Jede Stunde des Tages und der Nacht gerät dadurch in den Blick. So geht es um die richtige Haltung beim Psalmensingen ebenso wie um die Arbeit in den klösterlichen Gärten und Anlagen oder die Arbeiten in der Küche, ja selbst Themen wie Kleidung und Schuhwerk werden behandelt. Der innere Weg, der sich dann aus der Befolgung der Regeln ergeben soll, ist ein Weg der stufenweise erfolgenden Erleuchtung, der schrittweisen Ausblendung alles für diesen Weg Unwesentlichen und der immer reineren Konzentration auf den letztlich einzigen, wahren Inhalt des mönchischen Lebens: die Nachfolge des Lebens Christi. Das noch heute Verblüffende an diesem einzigartigen und sehr folgenreichen Dokument ist die Lückenlosigkeit der Empfehlungen, die sich sowohl auf Raum und Zeit erstrecken. In diesem Sinn ist der Klosterraum ein geschlossener, von außen her unzugänglicher Raum, dessen Teilräume unterschiedlichen zeitlichen Aktivitäts- oder Besinnungsphasen gewidmet sind. Über die zentrale Empfehlung an die Mönche - „ora et labora!“ - sind diese Phasen lückenlos und dicht miteinander verknüpft. Die Arbeitsphasen am klösterlichen Raum und Bestand gehen unmittelbar in die Phasen des Gebets und der Meditation über, und diese verwandeln sich unverzüglich wieder in Arbeitsphasen. Der Kirchenund der Klosterraum erscheinen so wie Refugien unterschiedlicher, aber ausschließlich christlicher, bekennender und dieses Bekenntnis umsetzender Aktivität. Im Hintergrund dieses lückenlosen Programms spürt man daher förmlich eine Art Horror vacui, 190 als dürfte es um keinen Preis auch nur einen Moment geben, der einen Ausstieg oder eine vorübergehende Suspendierung von diesem Programm erlaubte. Der Mönch ist (übrigens ebenso wie der Pilger) eine Figur ohne Auszeit, er trägt sein Gewand von der Frühe bis in die Nacht, und er bleibt in jeder dieser Stunden dem Totalprogramm einer Lebensführung unterworfen, die den Einzelnen auf jedem seiner Schritte begleitet und nicht einmal ein Stolpern erlaubt oder vorsieht. 9 Will man sich eine Steigerungsform dieser totalen Inanspruchnahme des Subjekts für den Glauben, wie sie für das junge und frühe Christentum sehr charakteristisch ist, vorstellen, so rückt die Figur des Heiligen in den Blick und damit wiederum eine neue literarische Gattung dieser Frühzeit: die Heiligenvita. Um ihre Eigentümlichkeiten zu verdeutlichen, möchte ich auf die Vita sancti Martini (Das Leben des heiligen Martin) eingehen, die in der Spätantike dann gleichsam zum Prototyp der Heiligenviten des Mittelalters wurde. Geschrieben hat diese Schrift ein gewisser Sulpicius Severus, der ein Nachkomme eines aquitanischen Adelsgeschlechts war und wahrscheinlich in der Mitte des 4. Jahrhunderts nach Christus zur Welt kam und etwa um 420 nach Christus starb. Severus’ Biographie ist eine typische dieser frühchristlichen Zeit insofern, als sie in ihrem Verlauf wie eine Parallelaktion zur Biografie des heiligen Augustinus erscheint. Denn auch Severus wächst zunächst in den Traditionen der griechisch-römischen Antike auf, erhält Rhetorik-Unterricht und wird ein angesehener Anwalt. Der berühmte Bruch in seinem Leben ereignet sich mit dem Tod seiner Frau. Denn nach diesem Tod zieht er sich, übrigens zusammen mit seiner Schwiegermutter, auf ein Landgut zurück, wo er sich, getragen von einem asketischen Lebenswandel, an die Ausarbeitung seiner Schriften macht. Etwa in diesen Jahren muss er auch die Bekanntschaft des heiligen Martin von Tours gemacht haben, dessen tief christliches Lebensprogramm ihn derart beeindruckte, dass er immer wieder über diesen Heiligen schrieb. 191 Was nun ist aber das literarisch so Besondere an seiner Heiligenvita? Zunächst fallen die Widmung und die kurze Einleitung auf, in der sich Severus Gedanken über sein eigenes Schreibprojekt macht. Was, fragt er sich bei dieser Gelegenheit, unterscheidet denn die christliche Schriftstellerei eigentlich von der antiken, griechisch-römischen? 1 (1) Gar viele Sterbliche versprachen sich in eitler Hingabe an weltliches Streben und weltlichen Ruhm ein, wie sie meinten, fortdauerndes Andenken an ihren Namen davon, wenn sie das Leben berühmter Männer mit ihrer Feder verherrlichten. (2) Dies brachte freilich durchaus nicht auf Dauer, aber immerhin ein wenig die Erfüllung der Hoffnung, die sie hegten, weil sie ihr Andenken, wenn auch vergeblich, verlängerten und die Leser durch die Beispiele großer Männer, die sie ihnen vorsetzten, in nicht geringem Maße zum Nacheifern anstachelten. Doch für jenes selige und ewige Leben hatte dieses ihr Bestreben keinerlei Bedeutung. (3) Was nämlich nützte ihnen der mit der Welt vergehende Ruhm ihrer Schriften, oder welchen Vorteil zog die Nachwelt daraus, wenn sie von den Kämpfen des Hektor oder der Philosophie des Sokrates las? Zeugt doch sie nachzuahmen nicht nur von Torheit, sondern sie nicht heftigst zu bekämpfen sogar von Wahnsinn, da sie das menschliche Leben allein nach den gegenwärtigen Taten bewerteten, ihre Hoffnungen in Fabeleien setzten und ihre Seele dem Grab weihten. (4) Sie meinten ja, sich allein dem Gedächtnis der Menschen dauerhaft einprägen zu müssen, wo es doch Aufgabe des Menschen ist, eher ewiges Leben als ewiges Andenken zu erstreben, nicht durch Schreiben oder Kämpfen und Philosophieren, sondern durch ein frommes, gottgefälliges und gottesfürchtiges Leben. (5) Dieser Irrtum der Menschen freilich wirkte durch die literarische Überlieferung so stark, dass er durchaus viele Anhänger fand – sei es der eitlen Philosophie, sei es jenes törichten Heldentums. (6) Deshalb scheint es mir ein lohnendes Unterfangen zu sein und der Mühe wert, das Leben des hochheiligen Mannes aufzuzeichnen, das anderen bald zum Vorbild dienen wird. Dadurch werden die Leser gewiss zur wahren Weisheit, zum himmlischen Kriegsdienst und zur gotterfüllten Tugend angespornt werden. Wir rechnen uns dabei auch einen eigenen Vorteil aus, insofern wir nicht eitles Andenken von den Menschen, sondern ewigen Lohn von Gott erwarten, weil wir uns – auch wenn wir selbst nicht so gelebt haben, dass wir andern ein Vorbild sein kön- 192 nen – dennoch bemüht haben, dass der, den es nachzuahmen gilt, nicht unbekannt bleibe. 12 Die griechisch-römische Schriftstellerei ist also, wie es heißt, bloßes Schreiben, das nicht besser ist als bloßes Kämpfen oder bloßes Philosophieren. In der christlichen Welt wird aus diesem bloßen Schreiben ein Dienst an der wahren Weisheit und damit ein Kriegsdienst in himmlischem Sinn. Ein solcher Kriegsdienst strebt nicht nach Ruhm (eitles Andenken schaffen und eitles Andenken ernten), sondern ersehnt die Belohnung von Gott. Seine eigentliche Konsequenz ist daher sogar die Tilgung des Autorennamens: nicht ein namentlich benannter Sprecher soll aus dem Geschriebenen heraus reden, sondern die Sache selbst soll sprechen. Die Vita präsentiert das Leben des heiligen Martin von Tours dann in 27 Kapiteln in biografischer Folge: Mit nur wenigen Zeilen werden Herkunft und Kindheit beschrieben, dann aber steuert die Schrift sofort auf ihr eigentliches Thema zu. Dieses Thema ist die heilige Existenz, die gegenüber der Existenz der Mönche insofern eine Steigerungsstufe ist, als sie höchstens als ein Wunder begriffen werden kann: So suchte er denn als Zehnjähriger gegen den Willen seiner Eltern in einer Kirche Zuflucht und verlangte, als Katechumene aufgenommen zu werden. (4) Alsbald wandte er sich auf wunderbare Weise ganz dem Dienst an Gott zu: Im Alter von zwölf Jahren brannte er darauf, Einsiedler zu werden, und hätte seinen Wunsch auch in die Tat umgesetzt, wenn nicht sein zartes Alter ihn daran gehindert hätte. Aber sein Sinn kreiste ständig um Eremitentum und Kirche, und er bereitete sich geistig schon im Knabenalter auf das vor, was er später gottergeben erfüllte.13 Voller Wunder ist bereits das Leben des jungen Martin, indem es das Leben Jesu nicht nachahmt, sondern ihm gleicht. Wie Jesus nämlich zieht er sich in den Tempel oder die Kirche zurück und wie Jesus sucht er die Trennung von den Vielen und ein Leben, 12 Sulpicius Severus: Vita sancti Martini. Das Leben des heiligen Martin. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Gerlinde Huber-Rebenich. Stuttgart: Reclam 2010, S.9 f. 13 Severus: Vita sancti Martini (Anm. 12), S.13. 193 das sich ganz auf die Lehre konzentriert. Wie eine solche Haltung entsteht – darüber wird nicht einmal nachgedacht. Die unbedingte Haltung ist vielmehr von vornherein voraussetzungslos da. Der kindliche Martin lebt bereits ganz aus der Gewissheit des Glaubens, und eine solche Gewissheit braucht nicht weiter befragt oder gedeutet zu werden. Als heilsgewisse Existenz ist das Leben des Heiligen dann nichts anderes als ununterbrochene Wunderwirkung. Schon sein bloßes Erscheinen macht Wunder möglich, und zwar genau an Orten und gegenüber Personen, an denen und denen gegenüber die Wunderwirkung am unwahrscheinlichsten ist. So während einer Reise durch die unwegsamen und gefährlichen Alpen: Als erstes fiel er in den Alpen auf abgelegenen Wegen unter die Räuber. Als einer [schon] die Axt erhoben und zum Hieb gegen sein Haupt ausgeholt hatte, da hielt ein anderer, bevor er zuschlagen konnte, seine Rechte zurück. Martin aber wurden die Hände hinter dem Rücken gebunden, und man übergab ihn [wieder] einem [anderen], der ihn bewachen und ausrauben sollte. Als der ihn an einen noch entlegeneren Ort geführt hatte, begann er ihn auszuforschen, wer er denn sei. Martin antwortete, er sei ein Christ. (5) [Der Räuber] fragte ihn auch, ob er sich fürchte. Da aber erklärte er seelenruhig, dass er niemals so furchtlos gewesen sei, weil er wisse, dass die Barmherzigkeit des Herrn sich besonders in bedrohlichen Situationen als hilfreich erweisen werde. Er bedauere vielmehr jenen, da er – wegen seines Räuberhandwerks – der Barmherzigkeit Jesu nicht würdig sei. (6) Und er begann eine Erörterung über das Evangelium und predigte dem Räuber das Wort Gottes. Um es kurz zu machen: Der Räuber nahm den Glauben an, geleitete Martin zurück auf seinen Weg und bat ihn, beim Herrn für ihn Fürbitte einzulegen. Und derselbe [Mann] führte augenscheinlich in der Folge ein so gottgefälliges Leben, dass man das, war wir oben berichtet haben, von ihm selbst gehört haben soll. 14 Ähnlich wie hier gestaltet sich das Heiligenleben dann als ein immer weiter in die Lebensprozesse eingreifendes Wunderwirken: Martin kann Tote zum Leben erwecken, Lahme gehend machen, Besessene durch Dämonenaustreibung heilen, ja selbst den Teufel zum Kampf herausfordern. Sogar die Engel stehen ihm zu Gebot und greifen helfend in seine Auftritte ein, wenn er ihr Erscheinen beschwört. So bringen seine Wundertaten die Wunderta14 Severus: Vita sancti Martini (Anm. 12), S. 22 f. 194 ten Jesu nicht nur in Erinnerung, sondern zur Beglaubigung. Was Martin an Wunderbarem tut, ist das, was Jesus an Wunderbarem getan hat. Der Heilige ist in diesem Sinne die Erneuerung der Präsenz des Gottessohnes in einer sein Leben biografisch kopierenden Form. So erstaunt es nicht, dass der Autor Sulpicius Severus seine Schrift mit einem Höhepunkt beschließt, an dem er von nichts anderem erzählt als von seiner eigenen Begegnung mit dem Heiligen. In dieser Begegnung aber erlebt er den heiligen Martin nicht nur bei der gestischen Durchführung des Abendmahls und der ihr folgenden Fußwaschung als ein distanzierter Beobachter, sondern als seinen Meister und sich selbst als seinen Jünger. Die Schrift endet dann in der uns bereits bekannten Ekstatik des Hymnus, als Lob des Heiligen, das, wie wir von der Lektüre des „Te Deum laudamus“ her wissen, Glücks- und Liebessprache ist. Ihr literarisch-formales Moment ist der Jubel, und ihr literarisch-inhaltliches die ewige Gleichförmigkeit des Glücks, das alle anderen psychischen Regungen hinter sich lässt. So ist das Psychogramm des Heiligen von überwältigender Reinheit und von geradezu bestürzender Unveränderlichkeit. Heilige sind, könnte man sagen, Heilige erscheinen, könnte man fortfahren und schließen: Heilige haben keine Vita: Niemand sah ihn jemals erzürnt, niemand aufgebracht, niemand betrübt, niemand lachend; er war sich immer gleich. Himmlische Freude spiegelte sich in gewisser Weise in seinen Zügen, und er schien außerhalb der menschlichen Natur zu stehen. Niemals führte er etwas anderes im Mund als Christus, (2) niemals trug er etwas anderes im Herzen als Frömmigkeit, Frieden und Barmherzigkeit. 15 10 Der Pilger, der sich auf den Weg macht und damit den radikalen Bruch mit seinem bisherigen Leben vollzieht, der Rhetor und antike Philosoph, der plötzlich die Stimme Gottes hört und von diesem Moment an bekehrt ist und das Gotteslob anstimmt, der Mönch, der alle Stunden des Tages, gebunden an ein ausgeklügeltes Programm von Ritualen, dem Gottesdienst widmet, und der Heilige, der Jesu Leben nicht mehr nur nachahmt und ihm folgt, 15 Severus: Vita sancti Martini (Anm. 12), S. 71. 195 sondern dieses wundertätige Leben selbst wieder in Szene setzt – all diese Figuren sind hochdramatische Erscheinungen, die das Ungeheuerliche der neuen Glaubensbotschaft als „frohe Botschaft“ und als Botschaft einer unmittelbaren, durch die Reflexion nicht zu erreichenden Gewissheit verkörpern. Kann man sich über diese Dramenfigurationen des Unbedingten hinaus aber etwa noch eine letzte Steigerung vorstellen? Im frühen dritten Jahrhundert nach Christus schreibt der Kirchenlehrer Origenes wahrscheinlich in Palästina an einem Text, den man vom Genre her als eine Art Werbungstext bezeichnen könnte. In der Antike gehen solche Texte unter anderem auf Aristoteles zurück, der sich in einem solchen Werbungsschreiben dafür einsetzte, Philosophie zu betreiben und sich den philosophischen Schulen anzuschließen. Die Werbungsschrift des Origenes hat den Titel Aufforderung zum Märtyrertum, und sie visiert gleichsam das Äußerste einer vorstellbaren Nachahmung Christi, das Martyrium, an, durch das man dem Tod Christi am Kreuz folgt. Ein solcher Schritt führt in letzter Konsequenz über das Leben der Heiligen hinaus. Setzen die Heiligen Jesu Leben neu in Erscheinung, so gehen die Märtyrer in einer nochmals gesteigerten „imitatio“ mit ihm in den Tod. Oder, in der Sprache des Origenes: Die Märtyrer trinken mit Jesus den „Kelch des Heils“ bis zur Neige. Was aber das Martyrium bedeutet und welchen Freimut es Gott gegenüber verleiht, kann man durch folgende Überlegung begreifen. Da der Heilige einen gewissen Ehrgeiz besitzt und die ihm von Gott erwiesenen Wohltaten vergelten will, denkt er darüber nach, was er wohl dem Herrn zum Dank für alles, was er von ihm empfangen hat, erweisen könne, und findet, dass ein Mensch mit guten Vorsätzen Gott nichts anderes erweisen kann, das seine Wohltaten gewissermaßen aufwiegt, als den Märtyrertod. Im 115. Psalm steht zunächst die Frage: ‚Was soll ich dem Herrn zum Dank geben für alle Wohltaten, die er mir erwiesen hat?’ Die Antwort aber, die derjenige auf seine Frage erhält, was er dem Herrn als Gegengabe für alle von ihm empfangenen Wohltaten geben solle, wird so ausgedrückt: ‚Den Kelch des Heils werde ich nehmen und den Namen des Herrn anrufen.’ Als Kelch des Heils wird üblicherweise das Martyrium bezeichnet, wie wir es im Evangelium gefunden haben. Denn dort wird berichtet, dass der Herr 196 zu denen, die nach größerer Ehre strebten und zur Rechten und zur Linken Jesu in seinem Reich sitzen wollten, sprach: ‚Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?’ Mit dem Ausdruck ‚Kelch’ meinte er das Martyrium. Das verdeutlicht folgende Stelle: ‚Vater, wenn es möglich ist, nimm diesen Kelch von mir, doch nicht, was ich will, soll geschehen, sondern was du willst.’ Außerdem erfahren wir, dass der, der jenen Kelch trinkt, den Jesus getrunken hat, neben dem König der Könige thronen und zusammen mit ihm herrschen und richten wird. Das also bedeutet der Kelch des Heiles: Wer ihn ergreift, wird den Namen des Herrn anrufen, ‚jeder aber, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.’ 16 Mit der Konzeption des Märtyrertums als ultimativer Form der Frömmigkeit kommen die christlichen Heilsvorstellungen in aller Konsequenz zu ihrem Abschluss. Dem Lehrer im Sterben zu folgen, stellt den äußersten körperlichen Beleg des Glaubens dar, den das Christentum bei der Gestaltung seiner prototypischen Figuren und Konzepte ins Spiel bringt. Dieser Figuration gegenüber erscheint das Pilgern zwar als mühsame und oft steinige Wanderschaft, letztlich aber doch als gering. Ihr gegenüber sind die asketischen Bemühungen der Mönche zwar vorbildliche Ausrichtungen auf das Leben Christi, folgen diesem Leben aber eben nicht bis zum Äußersten. Und ihr gegenüber verwirklicht der Heilige mit dem Einsatz seines Lebens zwar die Präsenz von Jesu Leben in dauerndem Kontakt mit den himmlischen und oft wunderbaren Mächten, aber eben noch nicht in der Gewissheit, nach dem Tod den höchsten aller Plätze im himmlischen Jenseits einzunehmen. Deshalb heißt es bei Origenes, schon mit dem Blick auf die himmlischen Sitz- und Throngelegenheiten an der Seite Gottes im Jenseits: „Die Märtyrer werden höher erhoben werden, als sie erhöht worden wären, wenn sie zwar gerecht, nicht aber Märtyrer gewesen wären.“ 17 Ein so unbedingter Rigorismus lässt einen am Ende kurz verstummen und nach einem Ausweg für unser heutzutage märtyrerfreies Dasein suchen. Was sollen wir tun? ließe sich fragen. Mit dem Pilgern anfangen, würden die alten, großen Kirchenleh16 Origenes: Aufforderung zum Martyrium. Eingeleitet und übersetzt von Maria-Barbara von Stritzky. Berlin-New York: De Gruyter 2010, S. 69 ff. 17 Origenes: Aufforderung zum Martyrium (Anm. 16), S.109. 197 rer der Frühzeit raten. Das ist, meine ich, schon unter gesundheitsdiätetischen Gesichtspunkten und damit selbst in einer durch und durch säkularisierten Welt kein schlechter Rat. Die nächsten Pilgerwege verlaufen zum Glück mitten durch Hildesheim. 18 18 http://www.hildesheim.de/staticsite/staticsite.php?menuid=1630&topmenu=4. 198 Annett Gröschner Herrgottswinkel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Den Alten war der Herrgottswinkel die Stätte frommer Andacht. Die Bilder der Heiligen umgaben das Kreuz: der Rosenkranz hing ihm zu Füßen. Immergrüner Efeu, das Bild fester Beständigkeit, schmückte es 1, heißt es in dem Buch Christliche Heimgestaltung, erschienen als 16. Band der Religiösen Schriftenreihe der Buchgemeinde 1940. Bis in die fünfziger Jahre gab es reichlich Nachauflagen des Buches. Die Fotos zeigen schmucke, saubere Wohnungen, als hätte der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden oder sei − Dank des Glaubens − gänzlich an ihren Bewohnern vorbeigegangen. Landläufig ist ein Herrgottswinkel eine christliche Zimmerecke in der Wohnstube. Er besteht aus einem Kruzifix und Heiligenbildern. Durch Ikonen, die Bibel, das Gesangbuch und frische Blumen kann er leicht zu einem Hausaltar erweitert werden. Vor einem Herrgottswinkel kann man andächtig knien zum Gebet, und wohltuend ist es, unter dem Kreuz niederzusitzen zu stiller Ruhe, zu besinnlichem Lesen oder häuslicher Arbeit,2 heißt es in der Christlichen Heimgestaltung weiter. Diese Art seelischer Mitte 3, in der Fastenzeit vor allem dazu da, das Leiden Christi in den Mittelpunkt des häuslichen Lebens zu stellen, ist selbst im katholischen Hildesheim fast ausgestorben. Im 20. Jahrhundert haben erst das Radio und dann der Fernsehapparat diesen Platz übernommen. Als das noch Kästen waren, bildeten die Geräte oft den Sockel für den privaten Hausaltar mit Bildern und Objekten, der sich bei laufendem Gerät zu dem vermischte, was im Zusammenhang mit der Arbeit Die Welt im Wohnzimmer des Künstlers Timm Ulrichs aus dem Jahr 2008 über Hausaltäre auf 1 Clara Wirtz: Christliche Heimgestaltung. Bonn: Verlag der Buchgemeinde 1940, S.126. 2 Clara Wirtz: Christliche Heimgestaltung (Anm. 1), S.126. 3 Clara Wirtz: Christliche Heimgestaltung (Anm. 1), S.126. 199 laufenden Fernsehern „Terror der Dreifaltigkeit, nämlich Kitsch, Kirche und Katastrophe“ 4 genannt wurde. In nahezu jeder Wohnung gibt es jenen besonderen Ort, an dem, auch jenseits von Glauben oder Religiosität, persönliche Gegenstände ausgestellt werden. Vor zwei Jahren fragten wir in dem Projektsemester mit dem Titel Glauben machen nach diesen persönlichen Hausaltären in Hildesheim. Wir fanden Setzkastenaltäre, Startrek-Altäre, Fußballaltäre, Buddhistische Ecken, italienische Familien- und ukrainische Essensaltäre, Kreuze am Straßenrand für Verunfallte, heilige Porzellansammlungen und bei einer Blinden einen Riech-Altar aus Parfümflakons. Selbst der Professor für Katholische Religion besaß einen Altar, der nicht Gott, Jesus oder Maria, sondern dem Schriftsteller Walter Kempowski gewidmet war. Nur in einem Seniorenheim fanden wir schließlich eine heilige Ecke für die verstorbenen Bewohner. Wir fuhren nach Hannover in eine Kaserne und fragten die Stabsgefreiten und –offiziere, was sie mit in den Auslandseinsatz nehmen. Wir bekamen neben Plüschhirschen, Holzkreuzen und Christophorusplaketten auch Vodoopuppen zu sehen, die bei jedem neuen Einsatz nach Afghanistan vorgeschickt werden, um den Feind in Schach zu halten. 5 Wir fanden eine Sehnsucht nach Spiritualität, Transzendenz, Schutz und Trost. Manchmal auch Vergewisserung. Wie aber ist es, übertragen auf die deutsche Gegenwartsliteratur, mit den Herrgottswinkeln? Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf einzelne Beispiele der jüngeren und jüngsten Literatur und frage nur nach christlichen Zeugnissen und das mehr assoziativ als wissenschaftlich begründet, mehr als Schriftstellerin, denn als Germanistin. Das Thema Religion und Literatur hat in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die Diskussionen über Islam und Islamismus nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 und den angeblichen Clash of Civilisations eine Konjunktur erfahren. In der schöngeistigen Literatur der siebziger und achtziger Jahre gibt es Timm Ulrichs: Die Welt im Wohnzimmer: Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2009, S. 13. 5 Nachzulesen im Buch von Stephanie Drees, Annett Gröschner (Hrsg.): Hildesheimer Herrgottswinkel. Hildesheim: Edition Pächterhaus 2011. 200 4 kaum Herrgottswinkel, Kirche und Religion spielen selten eine Rolle. Kann man also im Blick auf die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller unserer Zeit von einer Renaissance des Religiösen sprechen? Spiegelt sich in Lyrik, Prosa und Drama ein neuer, ein anderer Umgang mit dem Phänomen Religion? 6, fragte der Religionspädagoge Georg Langenhorst anlässlich der Konferenz Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liason, die 2007 an der Theologischen Fakultät der Universität Basel stattfand. Eine breite Tendenz zur Renaissance, so konstatiert er, ließe sich nicht finden, überhaupt könne von einer Wiedergeburt im eigentlichen Sinne keine Rede sein, eher eine postmoderne Fortentwicklung. „Gleichwohl lässt sich der erstaunliche Befund verifizieren: Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller gehen im 21. Jahrhundert unbefangen, neugierig, kreativ mit religiösen Fragestellungen um.“ 7 Etwas kritischer sah das im Februar 2011 eine Konferenz an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, die nach der Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik fragte. Sie ging von der Beobachtung aus, dass die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in den letzten Jahren bevorzugt solche Autoren (Arnold Stadler 1999, Martin Mosebach 2007, Josef Winkler 2008, Walter Kappacher 2009) auszeichnete, deren Alleinstellungsmerkmal „entweder in einem an ältere Konventionen angelegten Schreibstil oder im ostentativen Festhalten an herkömmlichen Wertvorstellungen (speziell in puncto Religiösität) liegt“. 8 Das entscheidende Novum dieser Situation ist darin zu vermuten, dass es – trotz oberflächlicher Affinitäten – nicht mehr um ein (im Sinne von Leslie A. Fiedlers postmoderner ‚Moderne’Kritik) souveränes ‚Spiel’ mit überkommenen Formen gerade ihrer Überkommenheit wegen geht. Vielmehr handelt es sich dem 6 Albrecht Grözinger, Andreas Mauz, Adrian Portmann (Hrsg.): Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liason. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S. 53. 7 Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6), S. 54. 8 http://www.konservativismus.eu/pagecontents-zansehen-617-46-0S29uemVwdAdec2.htm, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012. 201 Anschein nach um einen nicht-ironisch intendierten, daher auch nicht-eklektischen Versuch, den Anschluss an einen vergangenen Standard wiederherzustellen und dessen Regeln in die Gegenwart herüberzuretten. 9 Auch im Sinne einer Rückkehr zum Elitegedanken. Um den vorkonzilianischen Katholizismus eines Martin Mosebach soll es hier nicht gehen, auch nicht um die Erweckungs- und Erlösungsphantasien in den letzten Büchern Martin Walsers, wie Mein Jenseits (2010) oder zuletzt Muttersohn (2011), in der der angeblich vaterlos (Jesus!) gezeugte und als Krankenpfleger in einer psychiatrischen Klinik arbeitende Hauptheld Percy Anton Schlugen die Patienten durch seinen Messianismus in Verzückung bringt. In meinem Vortrag geht es anhand ausgewählter Beispiele um Gegenwartsliteratur, in der das Religiöse nicht Programm oder Thema ist. Es geht um säkulare, nichtmessianistische Werke, in deren Ecken sich aber Herrgottswinkel befinden, die nicht zu übersehen, aber auch nicht Mittelpunkt des Raumes sind. Für den schon zitierten Georg Langenhorst gestaltet vor allem die Gattung der von autobiographischer Erfahrung geprägten, dennoch fiktiv ausgestalteten Romanliteratur religiöse Fragen auf vielfältigste Weise. „Im Rückblick auf das eigene Heranwachsen wird der jetzt 40- bis 60jährigen Schriftstellergeneration deutlich, dass und wie Religion eine prägende Wirkung ausgeübt hat.“ 10 Anders als bei vorherigen AutorInnengenerationen ginge es nicht mehr in erster Linie um eine Abrechnung mit den negativen, weil einschränkenden Wirkungen der Unterdrückung durch religiöse Erziehung. Es ginge viel mehr um eine ausgewogene Darstellung, um offene, positive wie negative Wirkung beschreibende Deutung von Religion und der sie vertretenden Institu- 9 http://www.konservativismus.eu/pagecontents-ansehen-617-46-0S29uemVwdAdec2.htm, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012. 10 Georg Langenhorst: „Konfession und Gottesrede im Werk Ralf Rothmanns”. In: Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6), S. 56. 202 tionen für den Prozess der eigenen und damit indirekt der gesellschaftlichen Selbstwerdung. 11 Als Beispiele für diese literarische Strömung zitiert Langenhorst Autoren wie Ulla Hahn, Petra Morsbach und Paul Ingendaay. Die schöne Maria und die Madonna von Smolensk Als Beispiel könnte hier − und um in Hildesheim zu bleiben − Hanns-Josef Ortheils Lebensroman: Die Erfindung des Lebens stehen. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in der Nachkriegszeit neben einer stummen Mutter aufwachsend, selbst stumm bleibt und erst durch die beharrliche Unterstützung des Vaters und durch die Entdeckung seiner Begabung für die Musik eine Sprache findet. Auf dem Weg dahin, im doppelten Sinne, meint es doch den Lebensweg als auch den Weg vom Haus in die Schule durch Köln, kommt er auch an einem Herrgottswinkel vorbei. Eine andere Station, die ich regelmäßig aufsuchte, war die Nische mit der schönen Maria in der kleinen Kirche. Dort zündete ich eine Kerze an, kniete mich vor das Altarbild und erzählte der schönen Maria und meinen gestorbenen Brüdern, was mir durch den Kopf ging. Dass die schöne Maria und meine Brüder mich den ganzen Tag über begleiteten, das spürte ich, nicht genau aber war herauszubekommen, ob sie auch meine Gedanken kannten. War das denn möglich, dass sie vom Himmel aus meine Gedanken lasen und alles mitbekamen, was ich überlegte? Da ich in dieser Hinsicht nicht sicher war, fasste ich meine Überlegungen in der dämmrigen Nische in Kurzform zusammen. So kam zumindest für die Dauer meiner Gebete etwas Ordnung in meine Gedanken, auch wenn diese Ordnung, kaum dass ich die kleine Kirche verlassen hatte, sofort wieder durcheinandergeriet. Das jedoch konnte ich außer Acht lassen, denn ich dachte wahrhaftig, dass es die Aufgabe der schönen Maria und meiner gestorbenen Brüder sei, sich um meine in der Kirche geordneten Gedanken zu kümmern, ich selbst konnte doch keine Antworten auf meine vielen Fragen wissen, und am wenigsten wusste ich, wie die vielen Probleme, die sich jetzt in der Schule auftaten, zu lösen wären. Ich schlug denn auch gar nicht erst solche Lösungen vor, sondern be11 Georg Langenhorst: “Konfession und Gottesrede im Werk Ralf Rothmanns”. In: Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6), S. 56. 203 endete die Erzählungen von meinen Sorgen und Nöten einfach mit zwei Gebeten. Das Vater unser im Himmel und das Gegrüßet seist du, Maria..., mit diesen beiden Gebeten kam man in jeder Notlage aus.12 Ein ähnlicher selbstverständlicher, aber zumindest im folgenden Werk manchmal etwas überspannt daherkommender Umgang mit dem Glauben findet sich in den Romanen und Erzählungen des 15 Jahre jüngeren Wetterauer Autors Andreas Maier. Dabei verstärkt sich die Auseinandersetzung mit Religion und Glauben von Buch zu Buch mehr, so als gehörte zum Älterwerden auch ein dringlicher werdender Gottesbeweis. In der Wochenzeitung DIE ZEIT legte Maier Zeugnis darüber ab: „Irgendwann habe ich damit angefangen, mir die Verwendung des Wortes Gott zu gönnen. Wenn man sich dieses Wort verbietet, hat man extreme Schwierigkeiten, bestimmte Dinge zu sagen.“ 13 In seinem Roman Sanssouci von 2008, der im eher atheistischen Potsdam spielt, wird Gott vor allem in einer Lichtgestalt, der eines orthodoxen, sehr heiligen und moralisch unanfechtbaren Mönchs namens Alexej reichlich gehuldigt. Im scharfen Gegensatz dazu ist das verschlungene Labyrinth unter dem Park von Sanssouci um so dunkler und rätselhafter. Für Alexej lag das Wesen des orthodoxen Christentums nicht zuletzt in einem Sich-Versenken. Das Licht, die Dunkelheit, der Glanz und der Gesang. Der sich immer wiederholte, waren Mittel dazu. Tolstoi schimpfte in seinem Roman Auferstehung sehr über dieses Mittel und hielt es für das Gegenteil dessen, was Jesus als das klare Wort Gottes verkörpere. Aber Tolstoj war Aufklärer, er war ein Utopist.14 Kinder von Vegetarierinnen heißen hier Jesus und in einem Kellerloch wird einer leichtbekleideten Zwillingsschwester gehuldigt, die der Heiligen Madonna von Smolensk ähnlich sieht, werden Sätze gesagt, wie: „Weißt du, daß die ganze Welt voller Engel ist? Sie sind überall, fliegen um uns herum, und sie sind 12 Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens. München: Luchterhand Literaturverlag 2009, 119f. 13 Andreas Maier: „Ich gönne mir das Wort Gott”. Gespräch. In: ZEITLITERATUR (2005) März, S. 33. 14 Andreas Maier: Sanssouci. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 85. 204 schön, die Engel. Die Engel bringen das Licht.“ 15 Oder Fragen gestellt, wie die, ob die Seelen im Himmel transparent sind. In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen 2006 hat Andreas Maier das Matthäusevangelium als seine höchste literarische Referenz bezeichnet: Ich bin nur ein Mensch auf der Suche nach Worten, die längst schon gefunden sind, die im Matthäusevangelium schon alle dastehen, in perfekten logischen Sequenzen, schärfer als Wittgenstein es je gekonnt hätte, eine erschöpfende Analyse dessen, warum wir falsch sind und warum wir dadurch schuldig werden vor allem und vor jedem, nämlich bloß kraft unseres wahrheitsfernen Tuns. Und mit dem seltsamen Satz: Das größte philosophische Werk des Abendlandes. Das uns nichts sagt als bloß: Seid nicht. Das uns sagt: Wenn ihr aufhört, zu sein, dann seid ihr.16 Manchmal scheint es, als wolle Maier die Säkularisierung als sprachbildende Kraft auf etwas kauzige Art wieder rückgängig machen, den heiligen Texten die Aura des unbefragt ewig Gültigen, des Unterwerfung Fordernden wieder zurückgeben und wenn nicht er, dann doch wenigstens seine Figur Alexej. Ironisch, gar postmodern, ist da nichts gemeint. Diese affirmative, aber gleichzeitig unideologische Haltung in Fragen der Kirche und Religion gibt es selten in der Gegenwartsliteratur. Nicht wenige aus der älteren und mittleren Generation deutscher Schriftsteller haben Kirche und Religion als beengend, moralisierend und furchteinflößend erlebt. Zuletzt haben auch die Missbrauchsszenarien der Katholischen Kirche in artifizieller Weise Eingang in die schöngeistige Literatur gefunden. Als Beispiel sei hier Albert Ostermeier genannt, der im Sommer 2011 seinen Roman Schwarze Sonne, scheine, veröffentlichte, in dem es weniger um den körperlichen als um den seelischen Missbrauch geht, eine Geschichte der Erweckung eines Künstlertums aus dem Geist des Missbrauchs, könnte man sagen. Und man könnte auch sagen, das Ganze kommt etwas überspannt daher. Ich blickte auf das Chorgestühl der Mönche, links und rechts des Altars. Darüber thronten die Emporen, auf denen wir während der Messe 15 16 Maier: Sanssouci (Anm. 14) Zit. n. Klappentext. Andreas Maier: Ich. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 75. 205 saßen, über den Köpfen der Mönche, die Blicke gesenkt auf ihre Häupter und glaubensvertieften oder schlafenden Gesichter. Blickte herab auf die Lehrer, zu denen ich sonst aufblickte. Mir kam vor, es gäbe kein Oben und kein Unten, kein Links und kein Rechts, sondern eine Art Gemeinschaft, eine gemeinsame Augenhöhe. Keine Furcht, keine Angst, Fehler, Schwächen. Intrigen, Verzweiflung, Verrat, aber auch Versöhnung, Verbundenheit, Vertrauen auf einen Zusammenhalt, der stärker war als das Trennende. (...) Wie befreiend musste es sein, sich zu trennen. (...) Jede Trennung war für mich etwas Undenkbares, ein Denkverbot. 17 Ijoma Mangold schrieb in der ZEIT über den Roman: Schwarze Sonne, scheine, erzählt nicht von der Macht über die Körper, sondern von der Macht über die Seelen. Und dringt damit tiefer ein ins katholische Mysterium. Die Macht über die Körper, der sexuelle Missbrauch, hat nichts Katholisches, sondern ist Pathologie, die lediglich eine katholische Struktur nutzt, die ihrem Treiben günstig ist. Die Macht über die Seelen aber − das ist der Glutkern der 2000jährigen Geschichte der römischen Kirche, ihr Anspruch, allein selig machend zu sein.18 Das aus der katholischen Badewanne geschüttete Kind Sprachmächtig ist auch die Prosa von Karl-Heinz Ott, aber niemals metaphernselig. Ott setzte sich in seinem ersten Roman Ins Offene nicht ohne Groll mit seiner, bis weit in die sechziger Jahr noch sehr bigotten katholischen oberschwäbischen Heimat auseinander. Ins Offene macht einem bewusst, wie stark sich die bundesrepublikanische Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren veränderte und vor allem in ländlichen katholischen Gegenden die religiösen Fesseln ablegte, sich säkularisierte. Plötzlich schickten sich auch Sachen, für die Mitte des 20. Jahrhunderts das Fegefeuer noch zu kalt gewesen wäre. In Ins Offene fährt der Erzähler zu seiner Mutter, die im Sterben liegt. Er ist lange nicht dagewesen, zu unangenehm waren die Erinnerungen eines Vaterlosen. Nicht einmal bei der Beerdigung der Mutter kann der Pfarrer erwähnen, dass sie ein 17 Albert Ostermaier: Schwarze Sonne scheine. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 75. 18 http://www.zeit.de/2011/23/L-B-Ostermaier, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012. 206 Kind geboren hat, zu groß ist die Schande, auch wenn das Kind schon 40 ist. Heimat ist eng. Und engherzig. Zur Heimat gehörten das ganze Jahr über: die Glockenseile in der Kapelle, am einen Strang der Mesner, am andern einer von uns Ministranten, das knirschende Kirchenportal, die zitternden Hände des Pfarrers, die Hostien mit der Kreuzkerbung, der Weihrauchduft, die wehende Wäsche im Garten, die schmalen Beete usw. Heimat war: Der Adventskalender, der heilige Nikolaus und Knecht Ruprecht, die Krippe mit dem Jesuskind, den Eseln und den Schafen, der Christbaum. 19 Der „eingeschnürte Gesichtskreis ums Dorf herum“ 20, nennt Ott das. Hier wird nichts als die Bibel gelesen, der Kirchenkalender mit den Heiligenlegenden, fromme Heftchen mit Fürbitten und Sinnsprüchen sowie das Gemeindeblatt. Da bleibt nur die Phantasie in einem Landstrich, der, so Ott, „von einem düsteren Ort überwacht wird“ 21, einem Ort, aus dem der Erzähler floh, als es ihm möglich war und, wie so oft, durch die Kunst. Wie früher beim Ministrieren kommen mir groteske Situationen in den Sinn: Alle fangen plötzlich an zu stolpern, der Pfarrer verspricht sich ständig, die Liturgie endet in schallendem Gelächter. Ich muss mich zwingen, nicht zu grinsen. Während tiefernster Momente scheint die Seele dafür zu sorgen, nicht in zuviel Würde zu ertrinken. 22 In seinem 2008 erschienenen Roman Ob wir wollen oder nicht spinnt Ott die Geschichte weiter. Hier ist es eine Ich-Figur, die wegen angeblich versuchten Totschlags in Untersuchungshaft sitzt und in einer 200 Seiten langen Suada seine Unschuld erklärt. Der Mann um die Fünfzig war einmal aufgebrochen, die ganze Welt zu verändern, schließlich aber als Aussteiger in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen am Rand eines inzwischen durch den Bau einer Autobahn von der Welt abgeschnittenen Dorfes hängengeblieben, wo von den großen Veränderungen nur noch ellenlange Monologe übrigblieben, die im Gefängnis zu Selbstgesprächen werden. Mit dem Helden wohnt ein ehemaliger Pfarrer, 19 Karl-Heinz Ott: Ins Offene. Wien: Residenz 1998, S. 64. Ott: Ins Offene (Anm. 19), S.64. 21 Ott: Ins Offene (Anm. 19), S.74. 22 Ott: Ins Offene (Anm. 19), S.125. 20 207 der vor Jahren vom Vorwurf des Kindesmissbrauchs freigesprochen wurde und nun jeden Tag dieselbe Arie aus Haydns Schöpfung hört und theologische Probleme wälzt, die niemanden interessieren, und dabei heilige Wutausbrüche bekommt, vor allem bei Themen, die im Grunde überhaupt nichts Persönliches an sich hatten, sondern – ganz im Gegenteil – mit diesen biblischen Übersetzungsfragen und dem ganzen weltanschaulichen Wirrwarr zusammenhingen. 23 Das Buch beschreibt den Niedergang einer Existenz: Hätte ich nicht schon als Kind in der Werkstatt daheim an Traktoren herumgeschraubt, könnte ich heutzutage nicht einmal Autos zerlegen, mit diesen drei, vier Semestern Seminare sprengen, Häuser besetzen und Kapital-Kurse absitzen, Kurse, bei denen ich immer sofort müde wurde, deshalb aber umso emsiger den Übereifrigen mimte und, wie alle anderen auch, in so gut wie jedem Satz die Worte Profit, System, Dialektik und Mehrwert unterbrachte, vor allem die Dialektik, immerzu mit Blick auf jenes Reich der Freiheit, von dem die Beflisseneren unter uns natürlich wussten, dass es im dritten Band auf Seite achthundertachtundzwanzig auftaucht, dick angestrichen, vor allem der Satz, dass es dort anfängt, wo das Arbeiten aufhört, weshalb ich, genaugenommen, seit sieben Jahren zu denen gehöre, die bereits im Paradies leben. Weil der Weg von den Kapital-Kursen zu der Aussteigerkommune auf einmal nicht kurz genug sein konnte und von da an bald alle halbe Jahre neue Glaubensbekenntnisse die Runde machten, suchten ein paar von uns schließlich das Heil in ständig wechselnden Weltbildern, bis Tina eines Tages nach Poona pilgerte, Anja ins Religiöse abdriftete, Andi die Kneipe seiner Alten in der Pfalz übernahm und Kai im Sessel vor laufender Kamera tot aufgefunden wurde. 24 Karl-Heinz Otts Werk beschreibt eine Befreiung aus zwei als Fesseln gesehenen Weltanschauungen, der katholisch-bigotten der oberschwäbischen Heimat und der katholischen Internate und die Gegenbewegung der siebziger Jahre, die das Kind mit dem Bade ausschüttete. Ganz anders die Herrgottswinkel im metaphorischen Sinne im Werk der fast gleichaltrigen Sibylle Lewitscharoff, einer be23 Karl-Heinz Ott: Ob wir wollen oder nicht. Hamburg: Hoffmann und Campe 2008, S. 16. 24 Ott: Ob wir wollen oder nicht, (Anm. 23), S. 195. 208 kennenden katholisch-schwäbischen Religionswissenschaftlerin und einer der momentan wichtigsten Autorinnen des deutschen Literaturbetriebs. Auf die Frage, wie sie die Liason beschreiben würde, die Literatur und Religion in ihrem Schreiben eingehe, antwortete sie: „Eine lockere, zuweilen unseriöse Verbindung“.25 Das Religiöse sei seit ihrer Kindheit präsent und nie verdrängt, müsse also nicht in die Erinnerung gerufen werden. Religiöse Anklänge in ihrem Werk sind vielschichtig und weitgehend intellektuell geprägt. Sie kommen ohne Weihrauch und Myrrhe aus. Mit dem naiven Kinderglauben gibt sich die Autorin nicht ab. Schon in ihrem Roman Consummatus sind die religiösen Erfahrungswelten nicht im Kind, sondern in der erwachsenen Hauptfigur angesiedelt. Der 55jährige Ralph Zimmermann hat eine Reise ins Totenreich gemacht und berichtet darüber. Er will mit dem Wodka aufhören, weil Jesus ihn fortan wärmen wird. Die Sprache des Helden ist von religiösen Begriffen und Zitaten geprägt, es gibt theologische Volten, Darstellungen von Gotteserfahrungen und Jenseitsreiseberichte. Um die Kirche geht es dabei in keiner Silbe, der Glaube des Ralph Zimmermann ist anarchisch. 26 Anders im neuen Roman der Autorin, Blumenberg. Dem Philosophen, der dem Roman den Titel gab, erscheint eines Tages ein Löwe im Arbeitszimmer, der nur für seine Augen sichtbar ist und Blumenberg wie auch dem Leser in seinem unsicheren Wirklichkeitsstatus Rätsel aufgibt. Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahmegerät zu stecken, da blickte er von seinem Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, Gelb, Atmend; unzweifelhaft ein Löwe. Der Löwe sah zu ihm her, ruhig sah er zu ihm her aus dem Liegen, denn der Löwe lag auf dem Bucharateppich, in geringem Abstand zur Wand. Es musste ein älterer Löwe sein, vielleicht nicht mehr ganz bei Kräften, aber mit der einzigartigen Kraft begabt. Da zu sein. Das erkannte Blumenberg zumindest auf den zweiten Blick, während er noch um Beherrschung rang. 27 25 Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6), S. 181. 26 Sibylle Lewitscharoff: Consummatius. München: DVA 2006. 27 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, Berlin: Suhrkamp Verlag 2011, S. 9. 209 „Ist eine religiöse Lesart auf den Roman anwendbar?“, fragte die Literaturkritikerin Sigrid Löffler die Autorin bei einer Lesung im November 2011 im Literaturforum im Brechthaus. „Nicht ausschließlich“ 28 , antwortete Lewitscharoff. Sie legt Wert darauf, dass in die Konzeption des Löwen nicht nur dessen lange Geschichte als christliches Symbol, sondern auch seine vorbiblische Bedeutung als Herrschaftsbegleiter eingegangen sei, wie am Anfang des Romans erwähnt: Agaues falscher Löwe. Die Fabel vom Hoftag des Löwen. Der Löwe des Psalmisten, brüllend. Der aus dem Lande Kanaan für immer verschwundene Löwe. Das Symboltier des Evangelisten Markus. Maria Aegyptiaca und ihr Begleitlöwe. Das fromme Tier des Hieronymus im Gehäus. Wer war der Löwe? Sein Gedächtnis sollte die Bibel im Schnelldurchlauf durchforsten? 29 Auch das abschließende Tableau des Romans, in dem alle Protagonisten sich nochmals in einer Höhle versammeln, bevor sämtliche Seinsgewissheiten sich langsam auflösen, will Lewitscharoff nicht durchweg als religiös aufgeladene Szene verstanden wissen. Sie gehe vielmehr auf Blumenbergs letztes Werk über die Höhle zurück. Außerdem ginge es um einen Philosophen. Löffler fragte weiter, ob Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die Lewitscharoffs Werk zuteil werden, auch zu tun hätten mit einer zeitgenössischen Haltung, die die Restitution eines konservativen Wertesystems und insbesondere die Wiederbelebung der Institution Kirche anstrebe? Lewitscharoff meinte, sie lehne den „Feuilletonkatholizismus“ als zu naiv ab, obwohl sie schon sagen müsse, dass sie ein „Kind der Zeit“ sei, das auf einer Welle mitschwimme. 30 Und wie heißt es am Anfang des Romans: „Blumenberg bekam Lust zu sagen: Ich bin katholisch, du kannst mich ruhig fressen, aber er behielt die Frivolität lieber für sich.“ 31 28 Zit. n. Lenard Petersen: „Rückkehr zum Katholizismus mit Skepsis”. Übung zur Kritik anlässlich der Lesung von Sibylle Lewitscharoff im Literaturforum im Brechthaus am 2.11.2011, Moderation Sigrid Löffler, o. S. unveröffentlicht. 29 Lewitscharoff: Blumenberg (Anm. 27), S. 12. 30 Zit. n. Lenard Petersen: „Rückkehr zum Katholizismus mit Skepsis” (Anm. 28), unveröffentlicht. 31 Lewitscharoff: Blumenberg, (Anm. 27), S. 10. 210 My Religions 32 Braucht es für diesen Vortrag ein eigenes Bekenntnis? Um es mit dem großen Filmemacher Luis Bunuel zu sagen: „Gott sei Dank bin ich Atheist.“ 33 Atheistin in meinem Fall. Und mehr als jegliche Spielart des Monotheismus interessierten mich die griechischen Götter. Doch wie bei allem Verschwiegenen oder Verbotenen in dem Land, wo ich ursprünglich herkomme, verspürte ich einen Reiz, mit Sechzehn in die christliche Buchhandlung zu gehen und eine Bibel zu kaufen und sie dann auch zu lesen, um die unausgegorenen Früchte der Lektüre bei erstbester Gelegenheit dem Staatsbürgerkundelehrer unter die Nase zu reiben. Aber eigentlich ging es darum, die abendländischen Traditionen zu verstehen, was nicht gelang, wenn man nur die Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik kannte. Die Bibel las ich, um Gedichte zu verstehen, wie jenes von Heiner Müller, eine Vorarbeit für das Stück Der Auftrag, nach einer Erzählung von Anna Seghers: Motiv bei A.S. Debuisson auf Jamaika Zwischen schwarzen Brüsten In Paris Robespierre Mit zerbrochenem Kinn. Oder Jeanne D'Arc als der Engel ausblieb Immer bleiben die Engel aus am Ende FLEISCHBERG DANTON KANN DER STRASSE KEIN FLEISCH GEBEN SEHT SEHT DOCH DAS FLEISCH AUF DER STRASSE JAGD AUF DAS ROTWILD IN DEN GELBEN SCHUHN. Christus. Der Teufel zeigt ihm die Reiche der Welt WIRF DAS KREUZ AB UND ALLES IST DEIN. 32 Nach Losing My Religions der Band REM, allerdings nur assoziativ, da es eigentlich ein Südstaatenausdruck ist, der am besten mit „Die Nase voll haben“ übersetzt wird. 33 Zitiert nach dem gleichnamigen Buchtitel: Gott sei Dank bin ich Atheist. Gott als Thema in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Klaus Vellguth. Lahr: Verlag Ernst Kaufmann 2001. 211 In der Zeit des Verrats Sind die Landschaften schön.34 In den achtziger Jahren war die evangelische Kirche ein Schutzraum für Menschen, die sich mit ihrem Denken und Handeln jenseits des sozialistischen Kanons bewegten. Dass ich die besten Punkkonzerte, die gottlosesten Texte, die deutlichsten Bekenntnisse zur Homosexualität und zum Feminismus und die mutigsten Absagen an Ideologie und Religion in welcher Form auch immer in Ostberliner evangelischen Kirchen gehört habe, will bis heute im Westen kaum jemand glauben. Mit der Wiedervereinigung war diese Epoche des Protestantismus, nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Geschichte, vorbei. Die Kirche kehrte zur vermeintlichen Normalität zurück, und die Freiheit lag auf der Straße. Eine Freiheit, die vielen Angst machte und sie zur Freiheit der Beschränkung zurückkehren ließ. Das fiel mir wieder ein, als ich nach einem Beispiel für einen Herrgottswinkel in der Literatur ostdeutscher Prägung suchte. In Christa Wolfs letztem großen Roman Stadt der Engel. The Overcoat of Dr. Freud von 2010 finden wir eine Protagonistin, die ihr Leben aus verschiedensten inhaltlichen und erzähltechnischen Perspektiven Revue passieren lässt. Anlass ist eine Reise nach Los Angeles, wo sie ein Stipendium des Getty-Centers bekommen hat, dort aber gefiltert durch ein Faxgerät, erfahren muss, wie durch einen kleinen schmalen Hefter, der ihre kurzzeitige informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit in jungen Jahren dokumentiert, einen Fakt, den sie vergessen hatte in den Jahrzehnten danach, wo sie selbst rund um die Uhr von der Staatssicherheit überwacht worden war, ihr Leben aus den Fugen gerät und sie in eine Lebenskrise stürzt, aus der sie sich nur schreibend befreien kann. Sie konsultiert einen chinesischen Arzt wegen ihrer körperlichen Schmerzen, sucht im Werk einer buddhistischen Nonne nach Gelassenheit und befragt Dr. Freud nach den Ursachen von Verdrängung. Sie sucht nach den Zufällen und Wendepunkten in ihrem Leben und lässt dabei die Geschichte ihres Lebens in der DDR und danach Revue passieren. 34 Heiner Müller: Motiv bei A.S. In: ders.: Werke 1. Die Gedichte, herausgegeben von Frank Hörnigk, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 45. 212 WAS WÄRE DENN DAS RICHTIGE LEBEN IM RICHTIGEN GEWESEN. WENN ES UNS BEI KRIEGSENDE GEGLÜCKT WÄRE, MIT UNSEREM FLÜCHTLINGSTRECK NOCH ÜBER DIE ELBE ZU KOMMEN, DER WIR DOCH MIT DER LETZTEN KRAFT DER ZUGPFERDE ZUSTREBTEN, WÄRE ICH UNTER DEN ANDEREN, RICHTIGEN VERHÄLTNISSEN EIN ANDERER MENSCH GEWORDEN. KLÜGER, BESSER, OHNE SCHULD? ABER WARUM KANN ICH IMMER NOCH NICHT WÜNSCHEN, MEIN LEBEN ZU TAUSCHEN GEGEN DAS LEICHTERE, BESSERE? 35 In der höchsten Not erscheint ihr ein Engel in Gestalt der Reinigungskraft Angelina. Dieser Engel ist ganz nüchtern erzählt, ohne jeglichen Kitsch, der den Engeln in der Literatur, selbst bei denen in Peter Handkes Himmel über Berlin an den Flügeln haftet. Aber Angelina hat keine sichtbaren Flügel. Sie setzt sich ungefragt mit ins Auto nach einem Gospelgottesdienst, an dem die Ich-Erzählerin teilnimmt und der in Nichts dem freudlosen Konfirmandenunterricht ihrer Kindheit glich. Nicht der Hauch eines Flügelschlags wurde uns damals zuteil, Angelina, während ich heute ein leises beständiges Fächeln verspürte. Mit wem sprach ich da? Angelina, der Engel war es, die schwarze Frau aus dem MS Victoria, die saß ganz selbstverständlich neben mir auf dem Rücksitz von Thereses Auto, entspannt, falls das ein passender Ausdruck für einen Engel sein sollte, lächelnd. Einmal müsse man sich doch schließlich erholen, oder? Ich wollte ihr keine direkten Fragen zumuten, nach der Vorstellung, die ich mir als Kind von meinem Schutzengel gemacht hatte, musste der sowieso Gedanken lesen können. Nicht immer, sagte Angelina, oft sei sie einfach zu müde dazu, von der vielen Arbeit. 36 Also ein Engel mit protestantischem Ethos, für den sich zu rechtfertigen die Protagonistin nicht bereit ist. Und natürlich glaubte und glaube ich, eine unerschütterliche Anhängerin der Aufklärung, nicht an derartige Vorkommnisse, das sollte ein für allemal klar sein. 37 35 Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 71. 36 Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 326. 37 Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 333. 213 Über den Seiten liegt ein Aber. Angelina begleitet die Protagonistin am Ende schließlich in die Wüste. Death Valley: „Dort lagen sie alle, meine Toten und quälten sich aus ihren Gräbern, während ich über sie hinflog? Sieh nur hin, sagte Angelina.“ 38 Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-kommen des Menschen? So hatte Christa Wolf sich schon 1968 im Vorspruch ihrer Erzählung Nachdenken über Christa T.39 mit Johannes R. Becher gefragt. Als Christa Wolf am 1. April 1998 eine Aufführung der Missa in tempore belli von Joseph Haydn in der Kirche St. Laurenzen, St. Gallen einleitete, aufgezeichnet für die Sternstunde Religion des Schweizer Fernsehens, bekannte sie: „Ich bin nicht gläubig, im Sinne einer Religion.“ 40 Am 1. Dezember 2011 starb Christa Wolf im Alter von 82 Jahren. Als sie am 13. Dezember 2011 in Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt wurde, sprach die evangelische Pfarrerin Ruth Misselwitz die letzten Worte am Grab. Nicht mit dem üblichen Bestattungswort „Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube. / Ihr Leib vergeht, Gottes Treue bleibt“41, sondern sie schaffte es, ganz ohne Gott den Sarg der Toten in die Erde zu geleiten: Sie hat uns geprägt, dieses Land und diese Zeit. / Sie hat die Erde und das Leben geliebt. / Ich habe Christa erlebt als eine Frau mit spiritueller Kraft, / die sich gelöst hat von religiösen und ideologischen Dogmen. / Sie hat es sich dabei nicht leicht gemacht. Sie hat im Leben und Schreiben ihre und unsere Erfahrungswelten transzendiert, / und so die Quellen des Lebens gesucht. / Und ich bin sicher, dass sie mit diesen verbunden ist. 42 Für Ruth Misselwitz, zu DDR-Zeiten eine der mutigsten Theologinnen, hat das 2002 erschienene Buch Leibhaftig von Christa Wolf eine besondere Bedeutung. In ihr verbindet die Schriftstelle38 Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 413. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Berlin und Weimar 1968, S.6. 40 http://www.videoportal.sf.tv/video?id=a95f773e-dbe6-4f52-bf5d783c657bb6b0, zuletzt aufgerufen am 10.1. 2012. 41 http://www.elk-wue.de/glauben/kirchlichefeiern/bestattung/bestattungsagende/, zuletzt aufgerufen am 10.1. 2012. 42 Ruth Misselwitz: Worte am Grab Christa Wolfs, Berlin-Dorotheenstädtischer Friedhof, 13. Dezember 2011, unveröffentlicht. 214 39 rin die Schilderung einer fast tödlichen Krankheit mit der Endphase der DDR. In dem halbbewussten Zustand der kranken Erzählerin vermischen sich zeitliche und räumliche Ebenen, macht sie unter der Anästhesie der wiederholten Operationen fantastische Wanderungen in die Kellergewölbe Berlins, eindeutig ein Hadesmotiv. „Ich habe ihr gesagt, dass sie mir da wie eine Mystikerin erscheint und sie hat dem nicht widersprochen.“ 43 Mystik definiert die Pfarrerin Misselwitz im Sinne der feministischen Theologin Dorothee Sölle, in deren Buch Mystik und Religion es heißt: In einem Bild gesprochen stelle ich mir die Weltreligionen in einem Kreis vor, der sein Zentrum im Geheimnis der Welt, in der Gottheit hat. Die Anhänger der verschiedensten Religionen werden angezogen von diesem X im Herzen der Welt, dem sie Namen wie Allah, die Urmutter, der Ewige, Nirwana, das Unerforschliche geben. Aber nicht die Namensgebung und die Traditionsbildung sind das entscheidende, sondern wie weit die PilgerInnen auf dem Weg von der Peripherie des Kreises in das Zentrum gelangen. Und wir nähern uns dem Zentrum des Kreises so an, daß die Abstände zwischen den unterschiedlichen Ausgangspunkten der Peripherie immer kleiner werden, je näher wir dem Zentrum kommen. So werden auch die Unterschiede zwischen den einzelnen religiösen Zugängen immer unwichtiger. Im Herzen Gottes sind sie verschwunden. Je konfessionell orthodoxer wir auf bestimmten Positionen beharren, desto ferner sind wir von den anderen, die nicht zur religiösen Sprachgemeinschaft gehören – wie auch vom Zentrum. 44 Fundamentalismus ist nach dieser Lehre das Gegenteil von Mystik. Ich habe Christa Wolf eine Star Trek-Kassette mit ins Grab gegeben. THE NEXT GENERATION. In Stadt der Engel schrieb sie von ihrer sich zur Sucht entwickelnden Leidenschaft, sich die Abenteuer der Crew um Captain Picard anzusehen. Abend für Abend, erinnere ich mich, saß ich vor dem Fernseher, wenn die Star Trek-Serie lief und erlaubte mir die Ausrede, ich müsse mein Amerikanisch vervollkommnen, wußte aber insgeheim, es war mein 43 Ruth Misselwitz in einer Mail an die Autorin vom 13.1. 2012. Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. Hamburg: Hoffmann und Campe 1997, S. 76. 215 44 Bedürfnis nach Märchen, nach glücklichen Ausgängen, das mich fesselte.45 Ich erinnerte mich an eine meiner Lieblingsgeschichte Tina oder Über die Unsterblichkeit von Arno Schmidt, dem erklärten Atheisten, der für seinen Roman Seelandschaft mit Pocahontas 1956 wegen Gotteslästerung und Pornographie angeklagt wurde (heute sucht man die inkriminierte Stelle, die „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gesund empfindender Menschen in geschlechtlicher Hinsicht zu verletzen“46 vergeblich, weil man nicht weiß, was da so gotteslästerlich und pornographisch gewesen sein soll). In Tina oder Über die Unsterblichkeit gelangt man über eine Litfaßsäule ins Elysium. „Alles, was keinen Namen hat, wird glücklich“, sagt der Mann mit dem Lodenmantel und fragt den Erzähler mit dem Namen Schmidt: „Wäre es Ihnen nicht interessant, dieses ‚Fortleben nach dem Tode’ mal in natura zu sehen?“ 47 Und ab gehts durch die Litfaßsäule ins Elysium. Wie wir von dem Mann im Lodenmantel wissen, ist jeder so lange zum Leben hier unten verdammt, wie sein Name noch akustisch oder optisch auf Erden oben erscheint. Oder, planer gesprochen: bis er weder genannt wird, noch irgendwo mehr gedruckt oder geschrieben vorkommt – dann ist jede Möglichkeit einer Rekonstruktion verschwunden.48 Dass Christa Wolf also voraussichtlich noch einige Dekaden da unten im Elysium verbringen wird (zum Glück ohne ihre realsozialistischen Antipoden, die keiner mehr liest), sollte sie sich die Zeit mit STAR TREK vertreiben können. Es gibt noch einen zweiten ostdeutschen Autor dem man auf den ersten Blick ein herrgottswinkelloses Werk unterstellen möchte − Clemens Meyer, Jahrgang 1977. In seinen Büchern, vor allem in Als wir träumten von 2006, hat er die Verwerfungen der Nachwendezeit an seinen gewaltbe45 Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 43. http://www.asml.de/index.php/arno-schmidt-seelandschaft-mitpocahontas/ zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012. 47 Arno Schmidt: “Tina oder Über die Unsterblichkeit”. In: ders.: Aus dem Leben eines Fauns. Kurzromane, Leipzig: Reclam 1981, S. 275. 48 http://www.schauerfeld.de/?p=710, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012. 216 46 reiten jungen Männern beschrieben, denen Gott zwar am Arsch vorbeigeht, wo aber dann doch hinter jeder schmuddeligen Ecke der Erlöser lauert oder doch wenigstens insgeheim erwartet wird. In seinem zuletzt erschienenen Buch Gewalten schreibt er: Einmal sind wir am Ostersonntag, morgens, es schneite, aus der Bar getaumelt und zur Nikolaikirche gezogen, die nicht weit weg ist. Hier pilgern die ewigen 89er hin und beten zur friedlichen Revolution, eine weiße Säule steht auf dem Kirchenvorplatz, aus der wachsen oben grüne Palmblätter aus Gips, das hat auch irgendwie mit 89 zu tun laut Inschrift, der Erlöser (alles hat ein Ende, nur der Durst ist frei) kam in einem Trabbi in die Stadt und nicht in einem Mercedes oder Audi, die Proleten haben ihn mit Grünzeug beschmissen, das er sammelte und all die Vegetarier weitergab, die sich leckere Salate damit anrichteten. Palmsonntag, ich habe eine Tätowierung, eine Kette mit einem Kreuz auf meiner Brust, die habe ich mal Theologiestudenten gezeigt, auf einer Theologenparty war das, 2004, ich habe mir das Hemd vom Leib gerissen, weil die mir kein Bier mehr verkaufen wollten und ich sie mit meinem tätowierten Kreuz bekehren wollte zum Bierverkauf von jetzt an bis in alle Ewigkeit, die Ewigkeit habe ich nie begriffen im religiösen Sinn, wäre es nicht furchtbar, Milliarden Jahre Bier zu trinken in der Gartenkantine Eden und kein Ende in Sicht, und der Kater nach fünf Millionen Jahren endlich ausgestanden, und die nächste Runde wartet schon...und wir stehen also vor der Kirche im Schnee und schlagen mit den Fäusten gegen die Tür: „Lasst uns rein, wir suchen die Erlösung!“49 Die Erlösung findet Clemens Meyer nicht, sondern sich am nächsten Morgen fixiert an einer Liege, weil er bei dem nächtlichen Trip zu den Kirchen Widerstand gegen einen Polizisten geleistet hat, den er für einen Fußball-Fan von Lok Leipzig hielt. Denn der Gott von Clemens Meyer ist der Fußball-Gott von Chemie Leipzig. Der Fußball-Gott ist, und das meine ich ganz ernst, nicht zu unterschätzen. Am 23. Dezember 2011 stand ich abends zwischen 18 000 Fußball-Fans der Zweitligamannschaft Union Berlin, die in ihrem geliebten Stadion an der Alten Försterei im Berliner Osten mit Kerze und Gesangbuch in der Hand auf den fußballlosen grünen Rasen starrten und aus vollem Halse Weihnachtslieder sangen, auch die christlichen wie Es ist ein Ros 49 Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch: Frankfurt/Main: S. Fischer, S. 19f. 217 entsprungen. Ein Pfarrer mit Fanschal las die Weihnachtsgeschichte vor, was meinen Begleiter, einen habilitierten Kulturwissenschaftler und Religionsphilosophen, nach zweieinhalb Stunden zu der Bemerkung veranlasste, so einen langen Gottesdienst kriegten nichtmal mehr die Katholiken hin. Wenn Schriftsteller pilgern 2005 wurde der Dramatiker Lucas Bärfuss mit seinem Stück Der Bus (Zeug einer Heiligen), das, mit der Logik des Alptraums einer vermeintlichen Pilgerreise, einer Art Passion nach Tschenstochau beschreibt, die die schlimmstmögliche Wendung nimmt. Bärfuss fragt nach den ethischen Implikationen unseres Handelns im postindustriellen Zeitalter, in der immer mehr Geheimnisse der Natur entschlüsselt werden, die Ethik aber nicht Schritt hält. Pilgerreisen sind im Trend, seitdem Hape Kerkeling, 2001 auf dem Jakobsweg wanderte und mit seinem 2006 erschienenen Bericht Ich bin dann mal weg 100 Wochen auf der Bestsellerliste Sachbuch stand. Mit vier Millionen verkauften Exemplaren ist es das finanziell erfolgreichste deutschsprachige Sachbuch überhaupt. Seitdem haben Tausende Pilger den Pfad nach Santiago de Compostella weiter breitgetreten. Und mit ihm wuchs auch das künstlerische Interesse. Ein Beispiel der jüngsten Zeit ist der hintergründige Film Lourdes über ein Wunder der Spontanheilung, der viel über die wirtschaftlich lukrative Gotteswunderindustrie erzählte. Bei unserem Herrgottswinkelprojekt erfuhren wir z.B., dass es ökumenische Soldaten-Bahnreisen der Bundeswehr nach Lourdes gibt. Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic hat sich 2011 aufgemacht, eine Pilgerreise schreibend zu begleiten. In einem nicht mehr ganz neuen Reisebus, der mich und die anderen Pilger von Wien nach Medjugorje bringen wird, wo täglich die Muttergottes erscheint, an die ich leider nicht glaube. Eigentlich wollte ich nach Lourdes fahren, aber da dauern sowohl Fahrt als auch Aufenthalt noch länger, und man muss es ja nicht übertreiben.50 50 Thomas Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn. München: Carl Hanser Verlag 2011, S. 7. 218 Und auch wenn das Buch in Kapitel eingeteilt ist, wie ein Roman, und auch einer ähnlichen Klimax folgt, ist es doch ein authentischer Reisebericht, mit dem Ich-Erzähler Thomas, der begleitet wird von einem Fotografen, der den mitreisenden Gläubigen wie ein Abgesandter des Teufels vorkommt. Thomas sagt: „Ich bin nicht gläubig, bin es nie gewesen“ 51 , aber der Ursprung seiner ganz persönlichen Erzählung kam durch die Jesusgeschichte der Großmutter: Sie erzählte mir jeden Tag diese Geschichte von einem bemerkenswerten Mann, und sie erzählte sie mit einer Wärme und Gewichtigkeit, die ich heute noch nachempfinden kann, wenn ich daran denke. Ich erinnere mich nicht, sie oft von Gott sprechen gehört zu haben, doch die Jesusgeschichte hörte ich regelmäßig, bis meine Großmutter starb. Danach las ich von Gott und Jesus nur noch in Zeitschriften und Büchern. 52 Die Reise macht er, weil ihn der Trost, den Menschen aus dem Glauben ziehen, fasziniert und wo ließe sich das besser erleben, als auf einer Reise zu einem Wunder. Er findet es natürlich nicht, stattdessen jede Menge Souvenirläden und seltsame Leute in Trance, Geschäftemacher und fastende Fundamentalistinnen. Ein Bus reiht sich an den nächsten, es geht zu wie bei einem Lady-Gaga-Konzert in London, nur dass die Leute in den Bussen wesentlich älter sind. „Vor zehn Jahren wars“, sagt der Reiseleiter. Ins Mikrophon. Zwei Verlobte sind zusammen mit mir heruntergefahren, in drei Wochen hättens heiraten sollen. Und die haben hier ihre Berufung gespürt. Sie ist jetzt Schwester in einem Kloster in der Nähe, und er hat Kroatisch gelernt und ist Pfarrer in einer Gemeinde in Split.“ „Jöö.“ 53 Autoren der jüngsten Generation Auch in den Werken ganz junger Autorinnen und Autoren lassen sich Herrgottswinkel finden. Auf Radio Eins führt der Lesebühnenautor Ahne sonntags zur besten Kirchgangszeit mehr oder weniger tiefgründige Gespräche mit Gott, wobei Gott von ihm selbst 51 Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn (Anm. 50), S.9. Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn (Anm. 50), S.15. 53 Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn (Anm. 50), S. 62. 52 219 mit betont tiefer Stimme gesprochen, sich mit ihm unterhält. Der junge Autor und Journalist Juri Sternburg, schickt in seinem, kürzlich im Maxim-Gorki-Theater aufgeführten Stück Der Penner ist jetzt schon wieder woanders Gott auf einen Höllentrip durch die Berliner U-Bahn, wo er kurz vor dem Bahnhof Friedrichstraße von einem Jugendlichen getötet wird, nachdem er die Zukunft Afrikas und Europas sowie die Lottozahlen verraten hat. Die Reise, die Sabrina Janesch, eine Absolventin des Studienganges Kreatives Schreiben der Uni Hildesheim, in ihrem Roman Katzenberge macht, führt sie nach Polen, besser gesagt nach Schlesien, wo ihre polnischen Großeltern während der großen Völkerwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem nun zur Sowjetunion gehörenden Galizien ins westliche Schlesien sich neu anzusiedeln gezwungen waren. Sabrina Janesch erzählt diesen Strang der Erinnerung mit dem Großvater als personalem Erzähler, eingeführt mit dem Satz: „Großvater sagte...“ 54 Auch hier gibt es Herrgottswinkel. Sie sind in den von den Deutschen verlassenen Häusern, auf ihren Friedhöfen und in Gestalt eines Biests, das − wie vom Teufel geschickt −, das Leben noch unbehauster macht. In dem Moment brach der Vollmond durch die Wolken, und die Augen der zusammengekauerten Kreatur glühten auf. Janeczko machte den Satz zur Wand und schrie aus voller Kehle: Jesus Christus! Da sei das Ding verschwunden. 55 Ganz anders geht der 1982 geborene Autor Sebastian Polmans, ebenfalls Absolvent des Studienganges Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus der Universität Hildesheim, mit dem Glauben um. Seine Hauptfigur, nur der Junge genannt, begreift, dass er anders ist. Er streift im Grenzland zwischen Deutschland und den Niederlanden hart am Dorfrand entlang und will fort. Im Ort gehen die Menschen in die Kirche und zum Schützenfest. Von den Dingen, die um sie herum passieren, nehmen sie kaum Notiz. Vor allem die Mutter scheint in einem Glauben gefangen: Die Mutter, die sich in der Zeit der Schützenfeste die meiste Zeit im Kloster Maria in Het Zande der sogenannten Rosa Schwestern 54 Sabrina Janesch: Katzenberge. Berlin: Aufbau Verlag 2010, S. 22. Janesch: Katzenberge, (Anm. 54), S. 146. 220 55 aufhält, liest ihm zum Aufwachen christliche Kalendersätze vor, die sich ihm einprägen und seine Tage begleiten. Der Herr lässt deinen Fuß nicht wanken; er, der dich behütet, schläft nicht oder Deine Augen Herr sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet. 56 Den Jungen aber treibt ein verängstigtes Staunen über die Welt jenseits der Enge des Dorfes, das ihn ganz anders einschnürt als den Helden in Karl-Heinz Otts Roman Ins Offene. Die Sprache kommt fast gänzlich ohne zeitgenössisches Vokabular aus, sie ist von großer poetischer Dichte. Fast archaisch mutet das an. Das Dorf, in dem er lebt, scheint in einer Zeitkapsel zu verharren, einzig die Asylanten in den Containern am Rande des Waldes kratzen an den ehernen Gesetzen. Der „Riss zwischen Ich und Welt“ 57 werde thematisiert, schrieb der Kritiker Helmut Böttiger in der Süddeutschen Zeitung. Der Junge lag unter der Decke, als die Mutter in sein Zimmer kam, sich über ihn beugte und ihm mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn malte, wie seine Großmutter es zuvor schon einmal getan hatte, als gelte es, dieses unsichtbare Mal immer wieder nachzuzeichnen. Seine Haut hatte sie kaum berührt. Obwohl er fast erstickte, bemühte er sich, langsam zu atmen, er wusste, dass sie noch in der Tür stand. 58 Und jeden Sonntag steht der Kirchgang an, zu dem der Junge die Kinderbibel mitzunehmen genötigt wird. Stattdessen reißt er aus dem Atlas die Japan-Seite, auf der er seinen Reiseweg markiert hat. Er faltet die Papiere und steckt sie in die Brusttasche seiner Jacke, deren Reißverschluss er bis zum Hals zieht. Dann gehen sie zur Messe. Im Inneren der Kirche herrschte Stille, ein schwerer Deckel ruhte auf diesem Ort und nur durch die Gitter, die an manchen Stellen im 56 Sebastian Polmans: Der Junge. Berlin: Suhrkamp Verlag 2011, S. 31. http://www.perlentaucher.de/buch/37124.html, zuletzt aufgerufen am 8.1.2012. 58 Sebastian Polmans: Der Junge (Anm. 56), S. 136. 221 57 Boden eingelassen waren, schien frische Luft einzuströmen, aus Luftmaschinen, deren leises Surren ständig zu hören war. 59 Der Junge will augenblicklich weggehen und wird das wohl eines Tages auch tun. „Irgendwas stimmt nicht mit dir“ 60, sagt die Mutter. Aber wahrscheinlich stimmt mit keinem Kind etwas, das anfängt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Der Ausgangspunkt allen Schreibens. Glauben mögen Heiligabend 2011, gegen 17.25 Uhr, hatten meine Schwester und ich eine Erscheinung. Am Nachthimmel über Magdeburg bewegte sich etwas von Nordwesten nach Südosten, das aussah wie der Stern von Bethlehem in den Auslagen der Geschäfte für den christlichen Grundbedarf oder in den Weihnachtskrippen evangelischer Kindergärten. Ein sternähnlicher Gegenstand mit einem dreigliedrigen Schweif, der aber nicht wie eine Sternschnuppe geradewegs nach unten fallen wollte, sondern viel langsamer und waagerechter als eine Sternschnuppe und zu leise, um ein Sportflugzeug mit goldenem Werbebanner zu sein, hinter den Erlen am Ufer der Alten Elbe verschwand. Ein wunderschönes Bild. Dass sich der Stern von Bethlehem schließlich als Schrott aus der Oberstufe einer zwei Tage zuvor gezündeten russischen Sojus-Rakete herausstellte, passte natürlich zu uns ungetauften ostsozialisierten Töchtern eines Ingenieurs und einer chemischtechnischen Assistentin. Der Stern von Bethlehem hätte uns aber schon aus ästhetischen und ganz besonders aus spirituellen Gründen besser gefallen. Hätten wir nicht gerne wie die große Mystikerin und Begine Mechthild von Magdeburg Gott zugerufen: „Herr, Dein Wunder hat mich verwundet! Deine Gnade hat mich erdrückt!“ 61 Nix da. Es bleibt bei aller Renaissance der Religiösität für mich bei dem, was die Dichterin Inge Müller so formu- 59 Sebastian Polmans: Der Junge (Anm. 56), S. 136. Sebastian Polmans: Der Junge (Anm. 56), S.150. 61 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, zitiert nach http://mechthild-von-magdeburg.de/textauszuege.htm, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012. 222 60 lierte: „Nicht Tränen nicht alle Wetter / Waschen die Larven uns ab / Kein Feuer kein Gott wir selber / Legen uns ins Grab“.62 Dank an Hans-Martin Buttler für theologische und an Richard Kämmerlings für literarische Hinweise sowie an Ruth Misselwitz für die Genehmigung des Abdrucks ihrer Abschiedsrede für Christa Wolf. 62 Inge Müller: Wenn ich schon sterben muss. Gedichte. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1986, S. 94. 223 Christian Schärf Marmorbilder und Madonnen. Die erotische Religion der Romantik I Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte. 1 So lautet der berühmte Anfang eines Essays von Novalis aus dem Jahre 1799 mit dem Titel Die Christenheit oder Europa. Friedrich von Hardenberg, wie Novalis ursprünglich hieß, bevor er sich den Sehernamen Novalis, Der Neuland Rodende gab, Hardenberg also breitet in diesem Aufsatz die rückwärtsgewandte Utopie eines christlichen Universums aus. Ein Universum, das es so nie gegeben hat und das gleichwohl den imaginären Kern der Epoche um 1800 in sich trägt. In zwei Motiven vor allem setzt Novalis in Szene, was man landläufig den Geist der Romantik nennt: Die Sehnsucht nach einem idealen Mittelalter einerseits und die Neubestimmung der Religion als Grundlage und Ausgangspunkt aller Kultur andererseits. Der Niedergang der Religion, den der Dichter mit dem Zerfall des katholischen Mittelalters gleichsetzt, habe eine fürchterliche Entzauberung der Welt bewirkt und „machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey.“ 2 1 Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München, Wien 1978. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl, S. 732. 2 Ebd., S. 741. 224 Die sich selbst mahlende Mühle darf als eines der prägenden und einprägsamsten Bilder für die Zurückgeworfenheit des aufgeklärten und spirituell ausgenüchterten Menschen aus der Frühzeit der Entfremdungstheoretiker gelten. Es war die personale und ideelle Konstellation, die wir frühe Romantik nennen, in der das Maß der Fremdheit des Menschen inmitten seiner vernunftbestimmt selbstgeschaffenen Welt erstmals von seinen spirituellen Wurzeln her ermittelt und artikuliert worden ist. Unter dem Einfluss der Transzendentalphilosophie greift in die Progressionsbewegungen der Aufklärung ein Moment der Retardierung ein. Die Vernunft fragt nach den Wurzeln ihrer selbst zuerkannten Autonomie und kann sie nicht finden. Den Verlust geistiger Substanzgründe im Zerfall des religiösen Glaubens empfand die Generation der um 1770 Geborenen als grandioses Niedergangsszenario der europäischen Kultur. Ihnen wurde klar, dass spätestens mit der Französischen Revolution ein Punkt erreicht worden war, an dem man nicht nur nach einer politischen, sondern zuvörderst nach einer spirituellen Erneuerung Mitteleuropas Ausschau zu halten hatte. Es galt, zur Religion zurückzufinden, nicht indem man sich ohne Umstand in den Schoß der katholischen Kirche begab – das sollten die Protagonisten der romantischen Bewegung erst später tun, nachdem ihre poetischen Träume verflogen waren −, sondern indem man die Einsicht in die Praxis umsetzte, es müsse eine neue Religion geschaffen werden. Das ideale Zeitalter des Glaubens, das Novalis entwirft, ist im Ursprung noch keineswegs eine Restaurationsbewegung, die manifeste Mittelaltersehnsucht erzeugt hätte. Im Gegenteil − wie allen Romantikern der ersten Stunde schwebte Novalis eine Neuerschaffung des religiösen Lebens vor, sein Plan bestand buchstäblich in der Zeugung einer Religion: „Wahrhafte Anarchie“, schreibt er in Die Christenheit oder Europa, „ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor.“ 3 Gern übersieht man bei der Betrachtung dieser historischen Episode, die sich in wenigen Jahren vor und nach 1800 ereignet hat, das erstaunliche Novum, welches sie enthält. Zum ersten Mal 3 Ebd., S. 743. 225 gehen Intellektuelle und Dichter daran, Religion zu erschaffen. Man darf das durchaus als einen der unerhörtesten Pläne betrachten, der bis dahin auf dem Gebiet der Literatur entworfen worden ist, vielleicht als den verwegensten überhaupt. Die von alters her zementierte Rangfolge in den eingeübten Produktionsverhältnissen wurde kurzerhand umgekehrt: Wo über Jahrtausende hin Religion die Geschichten, Bilder und Motive bereitstellte, deren sich die Dichter und Künstler bedienten, sehen sich nun diese dazu aufgefordert, aus dem Formen- und Bilderreservoir der Poesie – eine neue Religion zu erschaffen! Vor allem wenn man den überfrommen Katholizismus der Spätromantiker zum Maßstab nimmt, wird man so schnell nicht darauf kommen, welche Aufbruchstimmung die Romantiker in ihrer absoluten Frühzeit befeuerte. Der Ausgangspunkt war für die nach dem Basler Frieden im Windschatten der Zeitgeschichte dichtenden und denkenden Intellektuellen klar: nach dem Paukenschlag der Französischen Revolution und nach dem zivilisatorischen Schock der terreur sollte, ja musste die universale Ordnung neu durchdacht und konzipiert werden. Fichtes Philosophie, die in Jena nicht nur die Studenten in ihren Bann zog, sorgte für eine unvergleichliche Euphorie; die Wissenschaftslehre und ihr radikaler Idealismus beschworen das Heraufziehen eines neuen Zeitalters aus der Dynamik des transzendentalen Denkens. Friedrich Schlegel und Novalis stürzten sich geradezu auf die Fichtesche Lehre; jahrelang betrieben sie autodidaktisch ihre Fichte-Studien, und verfielen dabei in eine fieberhafte Überbietungssucht, die sie hypertichtisieren nannten, um schließlich zu einer metapoetischen Synthese zu gelangen: es bedurfte eines nicht philosophisch, sondern poetisch gestifteten Prinzips, das die isolierten Ich-Monaden zu einem wahren und funktionierenden Kosmos neuen Glaubens verknüpfte. Denken allein konnte das nicht schaffen. Das universale Credo des Neuanfangs musste aus dem schöpferischen Prozess gewonnen werden, es war in den Augen der werdenden Romantiker poietischer Natur. So hell und so hoch haben die Flammen einer neu anbrechenden Zeit wohl niemals zuvor gelodert. Warum also nicht gleich mit allem neu anfangen, warum nicht mit der Keimzelle, aus der alle Kultur sich entfaltet hat, mit der Religion? 226 Beim Jenaer Romantikertreffen im November 1799 war man gespannt auf Hardenbergs Essay, den der charismatisch-ätherische Apostel einer neuen Poesie erst ganz kurz vorher geschrieben hatte. Die Zuhörerinnen und Zuhörer berieten anschließend, ob der Text in die Zeitschrift Athenäum, dem ein Jahr zuvor gegründeten Zentralorgan der frühromantischen Bewegung, aufgenommen werden sollte. Die Meinungen dazu waren durchaus kontrovers, und da man sich nicht entscheiden konnte, fragte man Goethe um Rat, der regelmäßig in Jena spazieren ging, dem man im Paradies auflauerte und den Text vorlegte. Goethe riet von einer Veröffentlichung des Essays im Athenäum erwartungsgemäß ab. Er hielt das für substanzloses Spintisieren und ahnte noch nicht im Geringsten, was aus dieser Keimzelle noch werden würde. Er galt in jeder Hinsicht als letzte Instanz und man richtete sich nach seinem Urteil; auch Novalis gab sich einverstanden und folgte dem Schiedsspruch des Olympiers; später sollte er mit seiner vernichtenden Wilhelm-Meister-Kritik an Goethe Rache nehmen, woran man einerseits sehen mag, dass auch Novalis kein Heiliger war, und andererseits hinzufügen muss, dass Goethe diese Kritik gar nicht wahrnahm. Unterdessen ging das Romantikertreffen im Hause von August Wilhelm Schlegel und seiner Frau Caroline weiter. Noch viele andere Texte wurden mit Spannung erwartet, Schriften, die von den Teilnehmenden als im höchsten Maße innovativ begriffen wurden und die später zu den Gründungsdokumenten der Romantik zählen sollten. Dazu gehörten die Romane Lucinde von Friedrich Schlegel und Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck ebenso wie die Reden des in Jena abwesenden Friedrich Schleiermacher Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern, ein Buch, das schon Anfang des Jahres 1799 erschienen war und das wiederum Novalis als zentrale Inspirationsquelle für seinen Aufsatz diente. All die Romane, Essays und Reden, die in Jena kursierten, verbindet die Frage nach der Religion. Den dort Versammelten war klar, dass dieser Frage, auf welcher Ebene auch immer sie gestellt und behandelt würde, das allergrößte Gewicht zukäme. Der Untergang der alten Zeit, irreversibel vollzogen im Geiste der Aufklärung, führte an den Beginn eines neuen Zeitalters her227 an, das von Grund auf gestaltet werden musste. Und dieser Grund bestand in einer eindeutigen Dimension. Allein die Religion, dessen waren sich die Romantiker sicher, schafft Kultur, − ja Religion muss als das Zentralelement jeglicher menschlichen Entwicklung betrachtet werden, kollektiv wie individuell. In seiner Sammlung Ideen fasst Friedrich Schlegel diese Perspektive prägnant zusammen: Die Religion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche.4 Bleibt nur die Frage: was ist Religion, wo fängt sie an, was ist ihr Inhalt, und vor allem – kann man sie tatsächlich neu erfinden? Am 15. November 1799, auf dem Höhepunkt des Romantikertreffens, schreibt Dorothea Veit an den in Berlin weilenden Schleiermacher: Das Christenthum ist hier à l’ordre du jour; die Herren sind etwas toll. Tieck treibt die Religion wie Schiller das Schicksal; Hardenberg glaubt, Tieck ist ganz und gar seiner Meinung; ich will aber wetten was einer will, sie verstehen sich selbst und einander nicht. 5 Wie der Dichtertraum einer Glaubensstiftung Wirklichkeit werden sollte, ist in praktisch allen Romantiker-Texten der Zeit um 1800 das hervorstechende Thema. Im Zuge des Entwurfs einer Religion kommt es überhaupt erst zu einer radikalen Abstraktion des Begriffs von Religion. Nicht mehr der konkret ausgeübte, in den Lebenswelten längst vorhandene und immerfort praktizierte Glaube war hier von Belang, sondern zunächst Religion überhaupt als Inbegriff der auf dramatische Art und Weise verloren gegangenen Einheit und Substanz der Kultur. Der Ausgangspunkt der Romantiker in den Jahren des Athenäums ist eine religionsphilosophische Kulturkritik, die noch alle Blickpunkte von Kul4 Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Bd. 2 1798-1801. Paderborn 1988, S. 224. 5 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. 4 Bände und ein Begleitband. Stuttgart 1960ff. Band IV: Tagebücher, Briefwechsel und zeitgenössische Zeugnisse. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1975, S. 647. 228 turkritik mit einschließt, übrigens auch den der Glaubenssatire, für die beim Romantikertreffen der junge Philosoph Schelling zuständig war. Mit seinem Gedicht Franz Widerborsts epikureisch Glaubensbekenntnis haut der als Wunderkind eingeladene Gast die ganze spekulative Romantikerclique kurzerhand in die Pfanne und landet weithin Beifall in der Runde. Überhaupt wurde viel gelacht, nicht nur über Schelling. Wenn der Name Schiller fiel, sei man, so die Gastgeberin in einem vertraulichen Brief, regelmäßig vor Lachen von den Stühlen gefallen. Eine fidele Truppe also, die zudem gut vernetzt war. Aus Berlin kamen in hoher Frequenz die neuesten Ideen in Fragen der Religionsphilosophie per Brief ins Romantikerhaus. Der in der preußischen Hauptstadt unabkömmliche Theologe Friedrich Schleiermacher gründet seine Idee von Religion auf Anschauung und Gefühl und wendet sich bewusst gegen alle Dogmatik und traditionelle theologische Systematik. In seiner zweiten Rede über die Religion schreibt Schleiermacher über das Wesen der Religion: Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. 6 Schleiermacher entfaltet seinen Religionsentwurf aus einem pantheistischen Impuls und konfrontiert diese Anschauung mit dem Dogma der göttlichen Transzendenz, ohne diese explizit zu leugnen. Immer wieder erinnert er gerade auch seine theologischen Kollegen daran, dass jede Anschauung mit einem Gefühl verbunden sein muss und dass die daraus erfolgende Andacht den eigentlichen Ursprung des religiösen Verhaltens darstellt. Schleiermachers Reden über die Religion waren von durchschlagender Wirkung auf den gesamten romantischen Debattenzirkel. 6 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Stuttgart 1969, S. 35. 229 Friedrich Schlegel spricht zur selben Zeit gar von einer Neuen Mythologie und überdehnt den für Christen im Pantheismus schon hinreichend strapazierten Religionsbegriff ins Mystische und Magische: Es fehlt, behaupte ich, unserer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, lässt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber ich setze hinzu, wir sind nahe daran, eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, dass wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.7 Schlegel träumt im Zuge seiner Mythologie-Stiftung auch davon, eine neue Bibel zu schreiben und kündigt seinem Freund Hardenberg gegenüber im Dezember 1798 die Durchführung eines entsprechenden Projekts an: Mein biblisches Projekt aber ist kein literarisches, sondern ein biblisches, ein durchaus religiöses. Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie verkündigen helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne mich. 8 Dem biblischen Schaffensplan, den Schlegel ankündigt, korrespondiert das enzyklopädische Projekt des Novalis, in dessen Horizont eine Reihe von sieben zu schreibenden Romanen ihren Platz hätte finden sollen, ein alternatives Bibelprojekt mithin, in dem alle Aspekte des Lebens ihre semantische Kodierung im universalen Geist erfahren sollten. Sein früher Tod verhinderte die Umsetzung, die wohl auch sonst schwierig geworden wäre. Doch mit dem Allgemeinen Brouillon, der großen Notizensammlung zur Enzyklopädie, ist ein wunderbares und unerschöpfliches Zeugnis dieses großen Projekts erhalten geblieben. Am 7. November 1798 schreibt Novalis an Friedrich Schlegel: Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaften überhaupt – und ihres Körpers, des Buchs – ebenfalls auf die Idee der Bibel gerathen – der Bibel – als das Ideal jedweden Buchs. Die Theorie der Bibel, entwickelt, giebt die Theorie 7 Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente (Anm. 4), Bd. 2, S. 201. 8 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Bd. 24, Paderborn 1969, S. 205. 230 der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey überhaupt – die zugleich die symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt. 9 Diese Briefstelle ist deshalb besonders aufschlussreich, weil darin auf engstem Raum die Verbindung zwischen Bibelprojekt, Schriftstellerei und der „Constructionslehre des schaffenden Geistes“, also der Theorie der kreativen Produktivität hergestellt wird. Von dieser Disposition ausgehend, glaubten die Dichter und Philosophen von Jena tatsächlich, eigenmächtig und im schaffenden Vollzug ihrer Geisteskräfte das Fundament eines neuen Glaubens legen zu können. Die Idee des Buches spielt darin eine zentrale Rolle. Das Buch wird zum Körper der imaginativen Zeichen; mit und in diesem Körper treten die geistigen Entwürfe in den Zustand ihrer realen Inkarnation. Das Buch erscheint damit als Heilsweg zur Romantisierung der Welt. Man konnte schon vermuten, dass zur Zeugung einer Religion ein gerüttelt Maß an Größenwahn und noch mehr Vertrauen in die eigene Schaffenskraft gehören. So verwundert es nicht, dass von den Romantikern gerade die Kunst verherrlicht wurde und auch sie zum Inbegriff der Religion erklärt werden musste. Ludwig Tieck entwarf schon um 1796 mit seinem Freund Heinrich Wackenroder die erste Version einer Kunstreligion, eine emphatisch auf die Künstlerbiografien der Renaissance zurückweisende Genielehre, in der Kunst selbst zu einer Religion erklärt wird und die Künstler zu Propheten und Priestern des schöpferischen Ingeniums stilisiert werden. In diesen Varianten haben die Romantiker Religion als kulturpoetische Universalie in den poetisch-philosophischen Diskurs der Moderne eingeführt. Höchstwahrscheinlich liegt in der Bestimmung und Darlegung der Religion als Urphänomen der Kultur sogar die bleibende Bedeutung der Frühromantik. Das Thema ist gerade heute wieder auf der Tagesordnung. Ist es möglich, Kulturen ohne die Einbeziehung ihrer religiösen Grundlagen zu verstehen? Und inwieweit wären vollkommen säkulare Gesellschaften dazu in der Lage, kulturelle Identitäten aufzubauen und aufrechtzuerhalten? Ist Kultur ohne Religion etwas anderes als 9 Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe (Anm. 1) Bd. 1, S. 672f. 231 eine Industrie? Und wie viel Opium braucht das Volk eigentlich, um die Totalökonomisierung des Lebens auszuhalten? Es ist der Geist einer tiefen religiösen Sehnsucht, aus dem alles hervorgeht, was wir an der Kunst der Romantik bewundern, nicht zuletzt auch die Malerei Friedrichs oder die Musik Schuberts. Die romantische Idee der Religion wird weder einer philosophischen Spekulation untergeordnet, noch wird sie zu einem wissenschaftlichen Forschungsobjekt erklärt. Vielmehr sieht es so aus, als bildeten Religion und Poesie eine schaffende Einheit, als erwüchse aus der Poesie die neue Religion und als stifte das religiöse Gefühl allererst den Geist, der sich als poetischer Geist verstehen und demgemäß handeln könnte. Was aber verbindet Religion und Poesie ursächlich, was ist es, das sie in eine so enge Beziehung zueinander versetzt und solche Wechselwirkungen hervorruft? „Nur derjenige kann ein Künstler sein, welcher eine eigne Religion, eine originelle Ansicht des Unendlichen hat“, formuliert Friedrich Schlegel und schreibt wiederum in den Ideen ein paar Zeilen weiter: „Den Geist des sittlichen Menschen muß Religion überall umfließen, wie sein Element, und dieses lichte Chaos von göttlichen Gedanken und Gefühlen nennen wir Enthusiasmus.“ 10 II Die Erwartungen waren groß, als Novalis seinen Essay Die Christenheit oder Europa im Gepäck am 12. November 1799 in Jena eintraf. Beinahe noch größer aber waren sie im Hinblick auf Schlegels Lucinde; in diesem ganz neuartig konzipierten Roman ging es weniger um das glaubensfeste Mittelalter als vielmehr um das Evangelium einer neuen Erotik, und damit eben auch um Religion. Dieser für Mitteleuropa ganz ungebräuchliche Religionsbegriff jedoch beschwor einen Skandal herauf. Friedrich Schlegel verkündete nicht nur ein spirituell überhöhtes Verständnis von Liebe, er war auch schon dazu übergegangen, seine Fiktion im Leben zu manifestieren. Nach Jena reiste er mit seiner Geliebten Dorothea Veit an, einer Bankiersgattin aus Berlin, die von Schlegels Esprit derart hingerissen war, dass sie ihm spontan und entgegen allen Konventionen auf seinen ungewissen Feldzügen durch das Reich der 10 F. Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente (Anm. 4) Bd. 2, S. 223f. 232 Ideen folgte und dafür, einschließlich ihres guten Rufs, alle Sicherheiten ihrer bürgerlichen Existenz aufgab. Schlegel wiederum war von seiner neuen Liebe so begeistert, dass er Dorothea ein literarisches Denkmal setzen und die in seinen Augen gleichberechtigte Liebe zwischen Mann und Frau als ultimatives Medium für den Transfer der Poesie in die Lebenspraxis feiern wollte. Entsprechend war man sich unter den sympoetisierenden Freunden nicht sicher, welche Ebene man als die eigentlich poetische ansehen sollte, die gelebte Liebe des provokanten Paares oder den Roman, den Schlegel daraus machte. Es versteht sich, dass der Reiz dieser Annäherung von Dichtung und Leben für enormen Zündstoff sorgte. Doch Schlegel begnügte sich nicht mit der bloßen Herausforderung des Zeitgeistes. Er überdehnte die Provokation noch dadurch, dass er die Beziehung zwischen ihm und Dorothea als urreligiöse Erfahrung und die in der Lucinde beschriebene Liebesemphase als Leitmotiv in der Partitur seiner künftigen Bibel proklamierte. Gefühl und Andacht, die Schleiermacher als wesenhaft religiös bezeichnete, werden von Schlegel ohne Umschweife auf die Liebe ausgedehnt. Für den rastlosen Apostel einer Neuen Mythologie sind Gefühl und Andacht Kerngebiete erotischer Theologie. Es gibt nichts oder fast nichts Pornographisches in diesem Roman, und wer meint, in der Zügellosigkeit und Schamlosigkeit der Darstellung habe sein provokatorisches Potenzial bestanden, irrt. Das für die Zeitgenossen Ungeheuerliche an Schlegels Roman ist vielmehr die Identifizierung von Liebe und Religion − oder anders gesagt der Entwurf eines erotischen Glaubensbekenntnisses im Roman – einer literarischen Form, die maßgebliche Kunstrichter der Epoche durchaus noch dem halbwegs Trivialen zuordneten. Was der Zeitgeschmack am Roman bedenklich fand, wird von Schlegel, man möchte sagen: selbstverständlich, bis zum Äußersten getrieben. Wenn man dem Roman gegenüber dem Drama und der Lyrik Formlosigkeit vorwarf, so war es die Lucinde, die diesem Vorwurf völlig neues Anschauungsmaterial geben konnte. Wer eine geordnet erzählte Geschichte erwartet, wird jedenfalls enttäuscht. Der Roman besteht aus lauter auf den ersten Blick heterogenen Versatzstücken, ein Begriff der Ganzheit ist allenfalls 233 assoziativ aus der Differenz der Teile abzuleiten. Der Roman enthält intime Briefe zwischen Julius und Lucinde, die scherzhafte Charakterisierung eines Kleinkinds, eine Fantasie über die schönste Situation − zu der wir gleich noch kommen wollen − Miniaturen, Reflexionen, Fragmente und im Kern einen knappen Bildungsroman, der um den erotischen Werdegang des Protagonisten kreist und den vielsagenden Titel Lehrjahre der Männlichkeit trägt. Diese Lehrjahre laufen auf die Begegnung des erotisch ebenso bemühten wie glücklosen Julius mit der Idealfrau Lucinde zu. Als das eigentlich Beeindruckende und sie von allen Frauen aus Julius reichem Erfahrungsschatz grundlegend Unterscheidende erscheint Lucindes Unabhängigkeit: Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich für sie, alles andre nicht; und sie wusste was Wert hat. Auch sie hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig. 11 Diese Unabhängigkeit wird vor allem in der Kunst geübt. Kunst als ewig schaffende Praxis des Menschen stellt für den jungen Schlegel den Königsweg zur Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen zur ganzen Menschheit dar. In seiner erotischen Theologie übernimmt die Kunst die Aufgabe der täglich neu zu feiernden Liturgie. Julius, der zuvor in seiner Schaffenskraft gehemmte Maler, gelangt zur Vollendung seines Könnens durch den offenen Sinn seiner Geliebten, der selbst wiederum vor allem auf die Kunst gerichtet ist. Das Vordringen in diese Dimension bedeutet für Julius die Vollendung seines Daseins: Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr gelang, was er zuvor durch ein Streben und Arbeiten erringen konnte; so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne dass er eigentlich wahrnahm, wie es geschah. Es ward Licht in seinem Innern, er sah und übersah alle Massen seines Lebens und den Gliederbau des Ganzen klar und richtig, weil er in der Mitte stand. Er fühlte, dass er diese Einheit nie verlieren könne, das Rätsel seines Daseins war gelöst, er hatte das Wort gefunden, und alles schien ihm dazu vorherbestimmt und von den frühesten Zeiten darauf angelegt, dass er es in der Liebe finden 11 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Frankfurt/Main 1985, S. 91. 234 sollte, zu der er sich aus jugendlichem Unverstand ganz ungeschickt geglaubt hatte.12 Was sich aber in der Kunst ausdrückt und schließlich das Leben selbst zu einem Kunstwerk werden lässt, findet in der Religion der Liebe seine eigentliche Erfüllung. In der Dithyrambischen Fantasie über die schönste Situation kommt es bereits im ersten Drittel des Romans zu einer grundlegenden Darstellung dieses Konzepts. Zunächst fasst Schlegel die innige Einheit des Paares im Begriff der Ehe: Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beide sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unserer Geister, nicht bloß für das was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die eine wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein und Werden. 13 Diese Vereinigungsvision wird so lange konkretisiert, bis sie den Rang eines religiösen Gefühls erreicht: Wir beide werden noch einst in einem Geiste anschauen, dass wir Blüten einer Pflanze oder Blätter Einer Blume sind, und mit Lächeln werden wir dann wissen, dass was wir jetzt nur Hoffnung nennen, eigentlich Erinnerung war. [...] So schlingt die Religion der Liebe unsre Liebe immer inniger und stärker zusammen, wie das Kind die Lust der zärtlichen Eltern dem Echo gleich verdoppelt.14 Von der Liebe zwischen Julius und Lucinde ausgehend, kann man die Religion der Liebe als Inbegriff der romantischen Glaubenswelt verstehen und Friedrich Schlegel als ihren tief beseelten Propheten bezeichnen. In diesem ‚Machwerk’, wie es seine Kritiker über die Epochen hinweg immer wieder brandmarkten, hat der Autor ein vielgestaltiges Bekenntnis zur Gleichberechtigung von Mann und Frau auf der Ebene der Liebesbeziehung vorgenommen, das in besonderem Maße Aufsehen erregte – bei manchen bis in die Gegenwart. Als der Feminismus der ersten Stunde diesen emanzipatorischen Vorstoß des ideenreichen Jungautors als ausgemachte Männerfantasie geißelte und die madonnenhafte Lu12 Ebd., S. 98. Ebd., S. 21. 14 Ebd., S. 22. 13 235 cinde als poetisch verfeinertes Lustobjekt inkriminierte, hatten die streitbaren Jüngerinnen von Simone de Beauvoir wohl nicht ganz Unrecht. Mit Gleichheit von Mann und Frau in einem rechtlichpolitischen Sinne hatte Schlegels Liebesreligion wenig zu tun. Und das aus einem leicht einzusehenden Grund: bei Lucinde handelte es sich ja um eine spirituell-erotische Projektion, in der die Frau vor allem die Rolle einer Anbetungsgestalt des Mannes inne hat. Lucinde ist daher nichts anderes als eine Madonna der subjektiven Freiheit, die dem Mann zu schöpferischer Vollendung und zur psychosexuellen Erfüllung verhilft. Dem gesellschaftlichen Gleichstellungsauftrag ging eine erotische Fantasie voraus, die als Literatur ihren Niederschlag fand, aber auch als solche bereits die Grenzen des guten Geschmacks der Epoche zu sprengen vermochte. Die schönste Situation, von der Schlegel in seiner dithyrambischen Fantasie spricht, besteht in der spielerischen Umkehrung der Rollen von Mann und Frau beim Liebesspiel: Wie könnte uns die Entfernung entfernen, da uns die Gegenwart selbst gleichsam zu gegenwärtig ist. Wir müssen ihre verzehrende Glut in Scherzen lindern und kühlen und so ist uns die witzigste unter den Gestalten und Situationen der Freude auch die schönste. Eine unter allen ist die witzigste und die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindlicher Lust wetteifern, wer den anderen täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. [...] Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.15 Die Aushebelung der Rollenkonventionen durch Ironie, Scherz und multiple Deutung brachte das Fass, in dem sich die fragwürdige Essenz der zeitgenössischen Liebespraxis sammelte, zum Überlaufen. Die Anmaßung, Gleichberechtigung müsse so weit gehen, dass man die Rollen der Geschlechter bei der Fortpflanzung einfach umdrehte, kam in den Augen der Bürger einer Revolution gleich, deren geopolitische Ausdehnung kaum auf den Venusberg beschränkt bleiben konnte. Musste man darin nicht eine manifeste Gefahr für das gesellschaftliche Gefüge erkennen, 15 Ebd., S. 23. 236 wenn die Maßgaben von Subordination und Dominanz und ihre eindeutige Zuordnung zu den Geschlechtern so sorglos und frivol außer Kraft gesetzt werden? Jedenfalls kann man daran sehen, dass Friedrich Schlegel der Glaube an die Liebe Flügel verliehen hat, Instrumente aus leicht schmelzendem Wachs allerdings, die nur sehr kurze Zeit ihre Dienste erfüllten. Wir sehen jedoch in dieser kurzen Phase die erotische Religion der Romantik gleichsam in statu nascendi oder wenigstens in dem Kleinkindalter, das Schlegel bei der Charakterisierung der kleinen Wilhelmine als eine Allegorie auf die unergründliche Leichtfertigkeit des Seins beschreibt. Es ist noch ein Rest von Rokoko darin, die Schlegelschen Erotikvisionen sind durchaus noch in den verspielten Mustern der Epoche verhaftet. Weitaus deutlicher aber kündigt sich das bürgerliche Zeitalter in diesem artifiziell gebauten Roman an, die Hochschätzung der Ehe als seelischer Bund der unverbrüchlich Liebenden ebenso wie die Libertinage einer aufziehenden Décadence, wie sie dann am Ende des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Großstädten gelebt werden sollte und in der die Musen den Status von lebenden Madonnen erhielten. III Während Schlegel noch als intellektueller Prophet einer neuen Religion zu bezeichnen wäre, darf man in seinem Freund Novalis bereits das Erscheinen eines reinpoetischen Messias sehen. Manches spricht dafür, dass sich der Salinenassessor aus Weißenfels durchaus selbst als einen solchen verstanden hat. Aus seinem Roman Heinrich von Ofterdingen, den er ein Jahr nach der Lucinde fertig stellte und dessen vorauseilende Fama beim Romantikertreffen schon in aller Munde war, sind Scherz und Ironie gründlich verbannt. Jetzt erhält die Religion der Liebe ihr eigentliches Evangelium; Novalis, der Neuland Rodende, verkündet die Frohe Botschaft der Blauen Blume. Doch die hat eine fatale Eigenschaft: Man muss sie, die dem Erwählten im Traum erscheint, im Leben finden und erst die ausdauernde Suche danach macht aus dem begabten Jüngling zuletzt einen Dichter. Die Ein-Mann-Expedition nach der Blauen Blume erkundet die Traumpfade zur Romantisierung der Welt. Ziel des jungen 237 Mannes, der ein Dichter werden will, ist es, den Traum in die Wirklichkeit zu transferieren, ja letztlich beide Sphären zur Identität zu bringen. Romantischer Dichter zu werden bedeutet, durch den Bildungsroman der Liebe hindurchzugehen, um in einem Reich der freien Imagination anzugelangen. Novalis schließt Motive des Erotischen mit der gerade erst von Goethe geschaffenen Gattung des Bildungsromans zusammen und wirkt darin auf die ihm nachfolgende Generation von Poeten und Poetendarstellern in höchstem Maße stilbildend. Doch das wäre nur eine Formalie, gäbe es nicht unter dieser Oberfläche eine die Zeiten und Räume überbrückende Allegorie von allergrößter Brisanz, ein Metaphernfeld, auf dem Sexualität ihre die Epochen überspannende Symbolik und Sakralität gespeichert hat. Die Blaue Blume, die dem werdenden Dichter im Sinn liegt, weist eine nicht geringe Analogie zum Heiligen Gral auf, den weiland die Ritter der Tafelrunde unter Aufwendungen aller Mühen gesucht haben. Mit dem Heinrich von Ofterdingen werden die romantischen Dichter zu rastlosen Rittern in heiliger Mission. Die Symbolik des Romans, der das Gründungsdokument der romantischen Religion darstellt, verschmilzt Erotik mit Sakralität, um aus deren Identität eine neue Mythologie zu destillieren. Und wie einst der heilige Gral eine implizite sexuelle Semantik mit den höchsten christlichen Werten einer herrschenden Klasse zusammenschloss, so geht es bei den Suchenden der Blauen Blume ausschließlich um die Liebe und damit um die Einschwörung auf einen neuen Glauben für eine ihrer eigenen Identität noch nicht ganz sichere Schicht − das Bürgertum. Mit Novalis und seiner ebenso einfachen wie weihevollen Sprache tritt die erotische Religion ins Stadium ihrer neuchristlichen Sakralisierung. Jetzt werden aus den Rokoko-Libertins à la Schlegel fromme Pilger im Zeichen der erotischen Heilsgewissheit. Selbstverständlich verschwindet damit sofort die sexuelle Freizügigkeit, die noch in der Lucinde die Zeitgenossen aufwühlte. Heinrich von Ofterdingen ist etwa so weit von jeder praktischen Erotik entfernt wie der Minnesang von Henry Miller. Jedoch, nicht Schlegels Lucinde wurde zum Kultbuch der Heidelberger Romantiker, sondern der Roman der Blauen Blume. Nicht die gegen die Gesellschaft behauptete Freiheit des Skandalpaares Friedrich und Dorothea wurde zur Le238 gende, die sich ins Imaginäre der nachfolgenden Poeten einprägte, sondern das junge Hinscheiden des Erzdichters Novalis, der nichts wollte, als seiner noch jünger verstorbenen Verlobten Sophie von Kühn ins Grab zu folgen und der damit unsterblich wurde. Mit der Überformung irdischen Verlangens durch poetische Transzendenz wurde Novalis zum Vorreiter der Avantgarden bis hin zum Surrealismus. Dass es sich dabei um eine Heilserwartung handelte, die im Gegensatz zu Schlegels universalistischer Erotikreligion die christliche Transzendenz in den Diskurs zurück brachte, war für den weiteren Verlauf der Romantik von durchschlagender Wirkung. Die äußerste Verdichtung von imaginativer Realitätsüberwindung, Heilserwartung und erotischer Liebe findet sich in Novalis’ Hymnen an die Nacht, Katechismus und Gebetsbuch aller Jünger des romantischen Glaubens bis heute. Ich zitiere die dritte Hymne vollständig, um Ihnen das gegenwärtig werden zu lassen: Einst da ich bittre Thränen vergoß, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engen, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg – einsam – wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben – kraftlos, nur ein Gedanken des Elends noch. – Wie ich da nach Hülfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht, und am fliehenden, verlöschenden Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: – da kam aus blauen Fernen – von den Höhen meiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer – und mit einemmale riß das Band der Geburt – des Lichtes Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr – zusammen floß die Wehmut in eine neue, unergründliche Welt – du Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kamst über mich – die Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend schwebte mein entbundener, neugeborener Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel – durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In Ihren Augen ruhte die Ewigkeit – ich fasste ihre Hände, und die Thränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter. An ihrem Hals weint ich dem neuen Leben entzückende Thränen. – Es war der erste, einzige Traum – und erst seitdem fühl ich ewigen, unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte. 16 16 Novalis: Werke, Briefe und Tagebücher (Anm. 1), Bd. 1, S. 153/155. 239 IV Mit Novalis tritt die erotische Religion der Romantik in den Verklärungshorizont einer poetischen Mystik ein. Die lässt sich naturgemäß nicht aufs symbolische Medium der Sprachkunst einschränken. Die neu entfaltete Gedankenwelt wirkte auf die Protagonisten des romantischen Aufbruchs wie ein Rauschmittel und strahlte mächtig in die Lebenswelten aus. Die große Liebe war zu einer Frage der spirituell überhöhten Sinnlichkeit, zur Allegorie auf die ewige Identität des Männlichen und des Weiblichen und zur Mystik einer poetischen Transzendenz geworden. Wie also hätte man akzeptieren können, dass angesichts solcher Intensitäten das tatsächliche Liebesleben im prosaischen Einerlei eines alltagstauglichen Pragmatismus stecken bleibt? Man wollte, was man symbolisch beschwor und mystisch verklärte, durchaus schon zu Lebzeiten erleben. Friedrich Schlegel zelebrierte die freie Partnerschaft mit Dorothea Veit als wechselseitige Erfüllung aller Sehnsüchte; Caroline Schlegel, die Ehefrau des Professors August Wilhelm Schlegel und Gastgeberin des Romantikertreffens, lief mit fliegenden Fahnen zu dem groß auftrumpfenden Jungphilosophen Schelling über, Novalis richtete sein ganzes Trachten auf die Wiedervereinigung mit seiner Braut Sophie in der nächsten Welt und Clemens Brentano wurde fast wahnsinnig vor Verlangen nach Sophie Mereau. In Brentanos werbenden Briefen an die als Schönheit geltende und mit ihrer Lyrik Aufsehen erregende Sophie Mereau kommt die emotionale Aufladung besonders deutlich zum Ausdruck, mit der die romantische Generation die Liebe auch im Leben betrieb: Du wirst in Deinen lieben Armen mir einen Raum vergönnen, den auszufüllen mir endlich eine Gestalt gibt, ein Bett gibst Du dem flüssigen Element, die Untiefe machst du tief, das Stürmende rasch, das träge, schmerzvolle Drängende zur freien freudigen Bewegung – Du bringst das Leben mir, schreibt Clemens Brentano, als es Sophie endlich möglich scheint, mit ihm zusammen zu kommen. Und weiter: „O Sophie, 240 führe mich ins Leben, führe mich in die Ordnung, gib mir ein Haus, ein Weib, ein Kind, einen Gott.“ 17 Die Ehe zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau wurde bei aller Leidenschaft und Hingabe nicht glücklich. Brentano lebte weiter seinen romantischen Dichtertraum, war viel auf Reisen. Er suchte weiter rastlos nach der Blauen Blume, und seine Frau schrieb ihm: „Ich bitte Dich lieber Fremdling, komme doch endlich einmal nach Hause. Du bist stets nicht bei Dir – versuche es nur und komm zu Dir selbst.“ 18 Im Verlauf von drei Jahren gebar Sophie drei Kinder – alle tot. Bei der letzten Geburt verstarb sie selbst, mit 35 Jahren. Nach ihrem Tod fand Brentano wieder zu dem schwärmenden Ton zurück, den er bei seiner Werbung unablässig angestimmt hatte, nun aber in Moll und im Finalzustand untröstlicher Verzweiflung: Alles, Alles ist hin, ich bin versteint, ich hatte alles in Sophie wiedergefunden, waß ich in ihr liebte, in ihr verlor, was ich war, ach ich war unaussprechlich glücklich ... Ich habe alles verloren, alle Geschichte meines Lebens, alles waß mich liebte, trieb und erhielt, ich habe keinen Wunsch als zu sterben. 19 Es war die hohe Zeit eines sozialpsychologischen Wandels, in dem das Bürgertum seine eigene Form der leidenschaftlichen Liebe einübte und ihr höchst eigenes emotionales Universum entwarf. Das ging nicht ohne Verluste ab. Dass Frauen plötzlich ihr erotisches Verlangen äußerten, stellte die Männer nicht selten vor unlösbare Aufgaben. So konnte es dazu kommen, dass die erotische Leidenschaft, durch die eine Frau ihre innere Selbständigkeit überhaupt erst wahrzunehmen vermochte, von der Außenwelt nicht wahrgenommen wurde oder, wie im Fall des Stiftsfräuleins Karoline von Günderrode, in unerträgliches Unglück führte. Ihre Liebe zu dem Heidelberger Orientalisten Friedrich 17 Dagmar von Gersdorff (Hg.): Lebe der Liebe und liebe das Leben. Der Briefwechsel von Clemens Brentano und Sophie Mereau. Frankfurt/M. 1981, S. 48. 18 Ebd., S. 58. 19 Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jürgen Behrens. Bd. 31: Briefe III, Stuttgart 1991, S. 593. 241 Creuzer wurde von diesem zwar erwidert, jedoch ohne dass sich jemals eine Möglichkeit andeutete, ihr eine Form im Leben zu geben. Als Autorin, die unter männlichem Pseudonym veröffentlichte, und mit Vorliebe heroische Stoffe für ihre Dramen wählte, stellte sich die Günderrode in ihren Briefen als durchaus gleichberechtigte Partnerin gegenüber Creuzer dar und zog dieses Selbstbewusstsein ausschließlich aus ihrem Schreiben. Aber in ihrer Autonomie konnte sie weder beim Geliebten noch in den Augen der Zeitgenossen als Frau wahrgenommen werden. Ihre Briefe dokumentieren die wachsende Entfremdung zwischen ihr und der Außenwelt. 20 Im Sommer 1806 ging sie bei Winkel im Rheingau, wo sie sich im Sommerhaus der Brentanos aufgehalten hat, in den Rhein und nahm sich das Leben. Ich weise auf Fälle wie den Brentanos oder der Günderrode hin, weil ein Blick auf die soziale Wirklichkeit zur Betrachtung der erotischen Religion der Romantik dazugehört. Man sollte auch die glücklicheren Beziehungen nicht verschweigen, die es gegeben hat, etwa die Ehe zwischen Bettine von Brentano und Achim von Arnim. Insgesamt gilt jedoch, dass ein ideeller Überschuss von tatsächlich religiöser Gefühlsdimension einerseits dazu führte, dass man die Zweierbeziehungen zum Mittelpunkt des Universums erklärte und großen Erwartungen aussetzte, die sich nicht immer erfüllen ließen. Andererseits trug der damit verbundene psychische Aufbruch dazu bei, den Frauen aus den Bildungsschichten ein neues, starkes Selbstbewusstsein zu verleihen, durch das sie zumindest auf der Ebene der Emotion eine gewisse Selbständigkeit erlangen und in manchen Fällen auch nach außen vertreten konnten. Vielfach traten die Frauen als bedeutende Briefschreiberinnen in Erscheinung; über ihren Briefverkehr lief die interne Kommunikation der romantischen Gesellschaften und in ihren Salons trafen sich die führenden Köpfe der Zeit. Dennoch muss man festhalten, dass in diesem psychisch und spirituell hoch aufgeladenen Milieu relativ stereotype Rollenbilder Geltung beanspruchten, die für die Zeit als charakteristisch gelten können 20 Vgl.: Ich sende Dir ein zärtliches Band. Die Briefe der Karoline von Günderrode. Hg. von Birgit Weißenborn. Frankfurt/M. 1992. 242 und aus denen die tatsächliche Spannbreite des damals vorherrschenden erotischen Imaginären abzulesen ist. Der Historiker Richard von Dülmen weist in seiner Kulturgeschichte der deutschen Romantik darauf hin, dass im zeitgenössischen Imaginären drei Typen von Frauen in den Vordergrund traten, die zwar nichts mehr mit dem traditionellen Rollenbild der Frau im 18. Jahrhundert, aber eigentlich auch kaum etwas mit dem Sozialtypus der emanzipierten Frau zu tun hatten.21 Da wäre zunächst der schon angesprochene, neu entworfene Typ der Madonna zu nennen: Dieses Frauenbild bewahrte letztlich die extravagante Stellung der Männer, es korrespondierte mit der neuen Verehrung und Bewunderung durch das Genie, das die Welt erfindet. 22 Das aussagekräftigste Beispiel ist hier sicherlich Dorothea Veit, die von Friedrich Schlegel zur Madonna stilisiert wurde und in dieser Gestalt Eingang in seine Romanfiktion fand. Die Madonna vertritt die Funktion einer relativ eigenständigen Muse, die das Genie zur Vollendung seiner Kunstfertigkeit inspiriert. Das einzige Selbständigkeitsattribut, das ihr zugestanden wird, liegt in der Tatsache, dass sie selbst auch künstlerisch tätig sein kann und dass sie auf dieser Ebene wie in der sexuellen Praxis ein Wörtchen mitzureden hat. Daneben findet man die Projektionsfigur des ’luciferischen Weibes’, der selbstbewussten Frau, die ihr Leben selbst bestimmte und durch ihre Auftritte gleiche Rechte wie die Männer beanspruchte. Sie liebte und haßte man zugleich.23 Herausragendes Beispiel für diese Gestalt war Caroline BöhmerSchlegel-Schelling, in deren Namen die Kette ihrer Ehemänner wie ein Trophäenschweif mitschwingt und die von Friedrich Schiller einmal explizit als „Mamsell Luzifer“ tituliert worden ist. Carolines Leben gilt als die für die Epoche einzigartige Biografie einer Frau, die für die männliche Zeitgenossenschaft nicht zu fas21 Vgl. Richard von Dülmen: Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik. 1795-1820. Band 1: Lebenswelten. Köln/Weimar 2002, S. 257. 22 Ebd., S. 257. 23 Ebd., S. 257. 243 sen war und deren Selbständigkeit und intellektuelle Brillanz sich immer wieder von neuem zeigte. Doch auch das luciferische Weib ist eine Projektion männlicher Faszinationsschübe, in der das tatsächliche innere und äußere Leben der so Bezeichneten nur am Rande zur Sprache kommt. Schließlich ist als dritter Typus die Kindfrau anzuführen. Die Romantiker sind fasziniert von sehr jungen Frauen, die als rein und naturhaft gelten, und deren Begeisterungsfähigkeit den rauschbereiten Männern in nicht wenigen Fällen den Verstand raubte. Man denke an Bettina von Brentano, die als ewige Kindfrau unentwegt den alten Goethe so hartnäckig umschwärmte, dass er irgendwann nicht mehr konnte und zur Kur nach Karlsbad floh – nur um dort um die Hand einer Siebzehnjährigen anzuhalten. Bei der Frage, was Goethe durch die Ablehnung seines Antrags erspart geblieben ist, mag man an die sechszehnjährige Auguste Bußmann denken, die der unglückliche Clemens Brentano 1807, kurze Zeit nach dem Tod seiner Frau Sophie kennenlernte und die dem armen Poeten vollständig den Kopf verdrehte. In einer Art spontanem Durchbrennen, das manche auch als Entführungsaktion betrachten, brachte sie den vom Schmerz halb gelähmten Witwer dazu, ihr ins hessische Fritzlar vor den Traualtar zu folgen und kurzerhand den Bund der Ehe mit ihr einzugehen. Was daraus hervorging, muss man wohl als Katastrophe bezeichnen. Auguste legte es vor allem darauf an zu provozieren und zu schockieren, ihr Leben bestand aus einer nicht abreißenden Kette von Happenings, die nicht selten in handgreiflichen Auseinandersetzungen mit dem überforderten Ehemann gipfelten. Die Biographen berichten: Sie spielte nachts Klavier, las unentwegt ‚obscöne’ Bücher, trat verschwenderisch auf, ging allein auf Bälle und kokettierte mit Männern, trug zu unpassenden Gelegenheiten Männerkleidung, verzichtete auf ein Halstuch, wollte auf einem Esel reiten und badete mit Vorliebe bei Mondschein.24 Die romantische Ehe als Albtraum; auch diese Religion hielt eine Hölle bereit. Der Scheidungsprozess zog sich vier Jahre lang hin, und man kann Clemens Brentano fast verstehen, dass er zuletzt, 24 Ebd., S. 273. 244 tief im Glauben verwurzelt, am Bett einer Ekstatikerin in Dülmen saß und auf die Wiederkehr ihrer Stigmata wartete. Jedenfalls sandte Brentano seiner Auguste noch ein paar deftige Verse hinterher, in denen nichts mehr von erotischer Religiosität zu spüren ist: Wohlan! So bin ich deiner los/Du freches liederliches Weib/Fluch über deinen sündenvollen Schoß/Fluch über deinen feilen geilen Leib [...] Fluch über jede tote Stunde/Die ich an deinem lügenvollen Munde/In ekelhafter Küsse Rausch vollbracht.25 Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Die romantische Religion der Liebe hatte im irdischen Vollzug durchaus ihre Unvollkommenheiten. Jedenfalls kann man sehen, wie sich die drei herausragenden Frauenbilder der sehnsuchtsvollen Romantiker gelegentlich überschnitten und aus der kindhaften Verführung kurzzeitig die freigeistige Madonna und schließlich ganz schnell das Fräulein Luzifer werden konnte. Übrigens, Auguste Bußmann, die in Frankfurt ein zweites Mal heiratete und vier Kinder bekam – es heißt, nicht alle seien von ihrem Gatten gewesen − , ertränkte sich im Jahre 1832 einundvierzigjährig im Main. V Wir sind also auf den Nachtseiten der deutschen Romantik angekommen, genauer gesagt, die Versuche unserer Protagonisten, die Religion der Liebe ins Leben zu übertragen, haben eine Reihe tragischer Einzelschicksale produziert. Was als Aufbruch zu neuen spirituellen Ufern begann, endete als Suche nach den alten Bildern der Demut und des Trostes. Das Madonnenbild kehrt auch in der Spätromantik wieder, nur eben nicht mehr im Licht der sinnenfrohen Lebenskünstlerin Lucinde, sondern im Zeichen des Kreuzes und an den rettenden Ufern der Frömmigkeit. In Joseph von Eichendorffs Novelle Das Marmorbild, die erstmals im Frauentaschenbuch auf das Jahr 1819 erschien, also zu Beginn der großen Restaurationsepoche, die mit den Karlsbader Beschlüssen in Deutschland eingeleitet worden ist, finden wir ein Lehrbeispiel für die Errettung eines jungen Dichters aus den Abgründen der erotischen Leidenschaften durch den christlichen 25 Ebd., S. 273f. 245 Glauben. Der junge Edelmann Florio reitet an der Seite des Sängers Fortunato in die Stadt Lucca ein und zeigt sich voller Erwartung auf das lustige Leben in der Stadt und die zahlreichen Freuden, die sie bereitzuhalten scheint. Doch Fortunato warnt ihn eindringlich: Habt Ihr wohl jemals, sagte er zerstreut aber sehr ernsthaft, von dem wunderbaren Spielmann gehört, der durch seine Töne die Jugend in einen Zauberberg hinein verlockt, aus dem keiner wieder zurückgekehrt ist? Hütet Euch! 26 Nachdem der weiterhin arglose Florio bei einem Fest ein tanzendes junges Mädchen erblickte, von dem er fortan träumt, gerät er, von zunehmender und schließlich unstillbarer Sehnsucht geleitet und mit Fortunatos Gitarre unter dem Arm, bei einer spontanen nächtlichen Exkursion an einen von hohen Bäumen umstandenen Weiher: Der Mond, der eben über die Wipfel trat, beleuchtete scharf ein marmornes Venusbild, das dort dicht am Ufer auf einem Steine stand, als wäre die Göttin so eben erst aus den Wellen aufgetaucht und betrachte sie nun, selber verzaubert, das Bild der eigenen Schönheit, das der trunkene Wasserspiegel zwischen den leise aus dem Grunde aufblühenden Sternen widerstrahlte. 27 Floria stand wie angewurzelt da, denn ihm kam jenes Bild wie eine lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume, aus der Frühlingsdämmerung und träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. 28 Die bei dem jungen Adligen dergestalt angeregte Fantasie treibt weiter Blüten, bis er sich auf einem prachtvollen Schloss wiederfindet, in dem ihm die Hausherrin als lebendige Verkörperung jenes Marmorbilds erscheint und dem jungen Mann ihre Aufmerksamkeit widmet. Zwischendurch lernen die beiden Fahrenden 26 Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild, in: ders.: Werke in 5 Bänden, hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Band 2: Ahnung und Gegenwart; Erzählungen I. Hg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach, Frankfurt/Main 1985, S. 385-428, hier S. 386. 27 Ebd., S. 397. 28 Ebd., S. 397. 246 auch den Ritter Donati kennen, der in einem merkwürdigen verwirrten und gehetzten Geisteszustand erscheint und undurchsichtige Verbindungen zu dem Schloss der schönen Gräfin unterhält. Florio verfällt den Verführungskünsten der Schönen immer mehr, hört zudem öfter seinen Namen in den Gesprächen der Gesellschaft im Schloss und in dessen Umgebung nennen und glaubt schon daran, muss geradezu daran glauben, dass man in dieser illustren Gesellschaft nichts anderes zu tun habe, als über sein Schicksal zu befinden. Florio holt sich sogar bei dem bleichen, abgezehrten Donati Rat, der ihm mit seinen sprunghaften Reaktionen und seinen Panikattacken keine rechte Hilfe ist. Als Florio schließlich in einer gewittrigen Nacht allein mit der Gräfin ist und allerlei Gesichte hat, erlebt er einen seelischen Zusammenbruch, bei dem er gerade noch aus dem Zauberschloss heraus kommt und sich danach tagelang in seinem Zimmer einschließt. Zuletzt trifft er wieder auf Fortunato, der mit zwei Männern zu einer Reise durch Italien aufbricht. Florio, noch halb benommen von seinen Erlebnissen, schließt sich ihnen an. Beim Anblick der alten Ruine über der Stadt beginnt Fortunato ein Lied zu singen, in dem das Schloß als Residenz der heidnischen Göttin Diana vorkommt. Darauf entspinnt sich ein kurzer Dialog: Jene Ruine, sagte endlich Pietro, wäre also ein ehemaliger Tempel der Venus, wenn ich Euch sonst recht verstanden? Allerdings, erwiderte Fortunato, so viel man an der Anordnung des Ganzen und den noch übrig gebliebenen Verzierungen abnehmen kann. Auch sagt man, der Geist der schönen Heidengöttin habe keine Ruhe gefunden. Aus der erschrecklichen Stille des Grabes heißt sie das Andenken an die irdische Lust jeden Frühling immer wieder in die grüne Einsamkeit ihres verfallenen Hauses heraussteigen und durch teufelisches Blendwerk die alte Verführung üben an jungen sorglosen Gemütern, die dann vom Leben abgeschieden, und doch auch noch nicht aufgenommen in den Frieden der Toten, zwischen wilder Lust und schrecklicher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren, und in der entsetzlichsten Täuschung sich selber verzehren.29 Offenbar handelte es sich also bei dem Ritter Donati um einen jener armen Untoten, dessen Nachfolge Florio um ein Haar angetreten hätte. Nun aber sieht er sich gerettet, das junge Mädchen, 29 Ebd., S. 425f. 247 das er anfangs so anziehend fand, gesellt sich frisch, fromm und erfurchtsvoll zu ihm und begleitet die ganze Gesellschaft in Richtung Mailand. Die Erlösung von der Verführungsmacht des Marmorbilds aber kam durch eine anderes Frauenbild, das Fortunato am seines Lieds hervorhebt: Denn über Land und Wogen Erscheint, so still und mild, Hoch auf dem Regenbogen Ein andres Frauenbild. Ein Kindlein in den Armen Die Wunderbare hält Und himmlisches Erbarmen Durchdringt die ganze Welt. Da in den lichten Räumen Erwacht das Menschenkind Und schüttelt böse Träume Von seinem Haupt geschwind. Und, wie die Lerche singend, Aus schwülen Zaubers Kluft Erhebt die Seele ringend Sich in die Morgenluft. 30 In Eichendorffs Erzählung werden die beiden Frauenbilder in finaler Opposition gegeneinander gestellt: auf der einen Seite das verführerische Marmorbild, das noch immer jeden Frühling die jungen Leute in den Untergang führt und auf der anderen Seite die Madonna mit dem Kind, die für die Erlösung von dem Fluch der Verbannung in die Rastlosigkeit der Triebe, für seelenvolle Liebe, Treue und heiteres Leben steht. Die Blaue Blume und die Sixtinische Madonna werden endlich doch eins. Die Reste der neuen Mythologie, die Friedrich Schlegel stiften wollte, fallen auf die Ikonografie des Christentums zurück; aus der Religion einer spiritualisierten Erotik wird die Rückkehr in den Schoß der katholischen Kirche, die den heidnischen Eros ebenso aus ihren Gebeten verbannt hat wie die venerischen Marmorbilder aus ihren Kreuzgängen. 30 Ebd., S. 425. 248 Aber der unermüdlich singende und dichtende Romantiker hat endlich seine Ruhe gefunden. Eichendorffs Traumbilder sind Synthesen und als solche Endstufen jener großen Imagination, die bei Novalis und Schlegel ihren Ausgang genommen hat. Zum ersten Mal seit die heidnischen Götter vom christlichen Gott verdrängt worden waren, hat man versucht, Erotik und Religion zusammenzudenken. Dieses für die Epoche um 1800 auf den ersten Blick aberwitzige Projekt ist allerdings nur vordergründig gescheitert. Der romantische Durchgriff hatte die Welt des erotischen Imaginären verändert. Die Liebesreligion der Romantik ist zu einem prägenden Element im Bewusstsein des modernen Menschen geworden. Marmorbild und Madonna stehen sich nicht mehr als Antagonisten gegenüber, und die Blaue Blume blüht immer noch in irgendeinem Winkel der Welt. Man muss an sie glauben, dann lässt sie sich finden. 249 Sebastian Günther „Der Lebende, Sohn des Wachen: Über die Geheimnisse der orientalischen Weisheit“ – Literatur und Religion in einem philosophisch-allegorischen Roman des klassischen muslimischen Gelehrten Ibn Tufail Dieser Beitrag wird die Aufmerksamkeit geographisch auf die arabisch-islamische Welt sowie chronologisch auf die Zeit zwischen dem 6. und dem 13. nachchristlichen Jahrhundert richten. Nach einigen einführenden Bemerkungen zur literarischen und religiösen Situation im alten Arabien sowie in der Frühzeit des Islams gilt unser Hauptaugenmerk dann einem philosophisch-allegorischen Roman mit dem gleichermaßen originellen wie programmatischen Titel Der Lebende, Sohn des Wachen. Dieses Werk erzählt von einem Gottessucher, der allein und ohne Kontakt zur menschlichen Zivilisation aufwächst und einzig durch den Gebrauch seines Verstandes zu Gott findet. Es wurde im 12. nachchristlichen Jahrhundert von dem bedeutenden arabischen Universalgelehrten, Philosophen und Schriftsteller Ibn Tufail (1110-1185) aus dem islamischen Spanien verfasst. Doch bevor wir auf dieses Werk und seinen Autor näher eingehen, ist es angebracht, den historischen und kulturellen Kontext für das recht spezifische Verhältnis von „Literatur und Religion“ im Islam kurz zu umreißen. 1. Die Macht der arabischen Sprache Das Arabien der vorislamischen Zeit wird von Muslimen vor allem durch den Begriff Dschahiliyya (Deutsch: Zeit der „Unwissenheit“ im Hinblick auf den Einen und Einzigen Gott, Allah) charakterisiert. Dieses Arabien vor dem Aufkommen des Islams im 7. Jahrhundert war gekennzeichnet durch besonders harte Lebensbedingungen, wie sie das nomadische Leben in der Wüste und die immer wieder aufflammenden Fehden unter den arabischen Stämmen mit sich brachten. Gleichermaßen war dieses alte Arabien geprägt durch eine religiöse Vielfalt. Zu nennen sind hier die Verehrer verschiedener 250 altarabischer Gottheiten und die Anhänger von Sternen- und Ahnenkulten ebenso wie die Christen und Juden (in Teilen der Arabischen Halbinsel) sowie die Hanifen, d. h. die arabischen Anhänger einer Art semitischen Ur-Monotheismus. In kultureller Hinsicht ist für das alte Arabien vor allem die hochpoetische literarische Tradition der Araber kennzeichnend, die sich sprachlich durch intellektuell anspruchsvolle Ausdruckformen und eine komplexe Metaphorik auszeichnete. Neben Orakel- und Weisheitssprüchen sowie kurzen Prosatexten über „die Schlachtentage der Araber“ (Arabisch: ayyam al-‘arab) beeindrucken vor allem die großartigen Liebesoden sowie formvollendete Lob- und Schmähgedichte durch ihre kunstvolle Komposition und sprachliche Meisterschaft. Bemerkenswert sind für diese altarabische Poesie und Prosa einerseits das nahezu vollkommene Fehlen religiöser Konnotationen und andererseits die starke Präsenz des Menschen als Individuum, sein Drang nach Freiheit und Gerechtigkeit sowie sein enges Verhältnis zur Natur. Zu Recht gehören deshalb die Sieben Goldenen Oden, d. h. die Sammlung der sieben berühmtesten Gedichte aus vorislamischer Zeit, heute zur Weltliteratur. Diese Goldenen Oden besingen die Faszination des diesseitigen Lebens. Sie preisen die Schönheit der Geliebten oder klagen über ihren schmerzvollen Verlust. Sie sprechen vom Stolz der Araber auf ihre Reittiere und rühmen die Schönheit der Wüstenlandschaft. Doch sie berichten auch von legendären Ereignissen im Leben der arabischen Stämme, um schließlich einen Stammesfürsten oder den Mäzen des Dichters zu lobreisen. 2. Der Koran: Impuls und neuer Maßstab für Religion und Literatur Die sprachliche Kunstfertigkeit der Araber im Ausdruck komplexer Ideen führte die im 7. Jahrhundert dem Propheten Muhammad (ca. 570-632) geoffenbarte Heilige Schrift der Muslime, der Koran, nicht nur fort. Mehr noch, der überwiegend in gereimter Prosa gehaltene und von besonders ausdrucksstarken sprachlichen Bildern gekennzeichnete koranische Text eröffnete ganz neue sprachliche Dimensionen. Doch auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht setzte die koranische Aufforderung an 251 die Araber und die gesamte Menschheit, mit frevlerischen Lebensweisen und falschen Göttern zu brechen und sich bedingungslos Gott, Allah, hinzugeben, ganz neue Maßstäbe. Die von Muhammad über einen Zeitraum von 22 Jahren in einzelnen Teilen erfolgte Verkündigung des Korans (das arabische Wort Koran bzw. Qur’an bedeutet „Lesung“ bzw. „Verlesen“ oder auch „Rezitation“ der Heiligen Schrift) bewirkte somit geradezu einen Evolutionssprung des Arabischen im Hinblick auf die Ausdrucksformen für religiös-spirituelle Ideen. Doch diese neue semantische, stilistische und ästhetische Qualität des sprachlichen Ausdrucks im Koran sollte darüber hinaus auch die gesamte schöngeistige wie auch die wissenschaftliche Literatur in arabischer Sprache in ganz nachhaltiger Weise prägen – eine Entwicklung übrigens, die bis in unsere Tage anhält und die auch in der zeitgenössischen arabischen Kultur und Literatur nichts von ihrer ursprünglichen Kraft und Nachhaltigkeit verloren hat. 3. Wissenssuche als religiöser und gesellschaftlicher Auftrag im Islam Die Eroberungen großer Territorien durch die Araber unter dem Banner des Islams führte zur Entstehung eines Weltreiches, das in seiner Blüte im 9. bis 13. Jahrhundert vom islamischen Spanien bis an die Grenzen Chinas reichte und das vor allem zwei Faktoren zusammenhielt: der Islam als neue Religion und Lebensweise vor allem der Eliten der zahlreichen Völker, die in diesem Weltreich lebten, sowie die Verwendung der arabischen Sprache in allen Bereichen des politischen, administrativen, wissenschaftlichen und kulturellen Lebens. Zusätzliche neue intellektuelle Impulse verlieh der arabisch-islamischen Kultur im 9. und 10. Jahrhundert vor allem die große Übersetzungsbewegung, als deren Resultat wichtige Bereiche des griechisch-hellenistischen sowie des iranischen und indischen intellektuellen Erbes in arabischer Sprache verfügbar wurden. Durch diese Übersetzungen ins Arabische, die vor allem syrische Christen anfertigten, wurden die Muslime mit den Kernbereichen des antiken Wissens nicht nur vertraut, sondern sie wurden vor allem in die Lage versetzt, diese zur Entwicklung eigener, komplexer Gedankenmodelle in den verschiedenen Wissensbereichen – sowohl in religiösen als auch in profanen 252 Disziplinen – kreativ zu nutzen. In diesem dynamischen Prozess zeichnete sich insbesondere die arabisch-islamische Philosophie durch Brillanz im abstrakten Denken und Kreativität bei der Entwicklung ihrer Gedankenmodelle aus. Vor allem diese philosophischen Aktivitäten waren es, die auf mannigfaltige Weise den mittelalterlichen islamischen Wissenschaftsbetrieb befruchteten. Sie inspirierten die akademischen Diskussionen der Gelehrten (die sich ja alle – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft oder religiösen Zugehörigkeit – des Arabischen, der Wissenschaftssprache des Islams im Mittelalter, bedienten) und ermutigten sie zu originellen Interpretationen älterer sowie zur Entwicklung innovativer, neuer Gedankenmodelle in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, einschließlich der islamischen Theologie. 4. Der Autor: Ibn Tufail Einer der bedeutendsten arabisch-islamischen Philosophen war der aus al-Andalus, dem islamischen Spanien, stammende und auch im christlichen Europa des Mittelalters gut bekannte Denker des 12. Jahrhunderts, Abu Bakr Muhammad ibn ‘Abd al-Malik ibn Muhammad Ibn Tufail. Nur wenig ist über das Leben Ibn Tufails bekannt. Geboren wurde er um das Jahr 1110 in der Nähe der heutigen Stadt Guadix im Nordosten Granadas, d. h. einer Provinz, welche in jener Zeit von der muslimischen Berberdynastie der Almoraviden (10461147) beherrscht wurde. Ibn Tufail studierte wahrscheinlich in Sevilla und Cordoba, zwei intellektuellen Hochburgen auf der Iberischen Halbinsel, und erwarb hier Kenntnisse in Medizin, Mathematik, Astronomie, Physik und anderen Naturwissenschaften, aber auch in der Poesie. Nach Abschluss seiner Studien ließ er sich zunächst als Arzt in Granada nieder. Unter den der Almoraviden-Dynastie nachfolgenden Herrschern auf der Iberischen Halbinsel und im Maghreb, den Almohaden (11471269), war es dann der almohadische Sultan Abu Ya‘qub Yusuf (reg. 1163–1184), ein an griechischer Philosophie besonders interessierter Herrscher, der Ibn Tufail schließlich als Leibarzt und Berater an seinen Hof im marokkanischen Marrakesch berief. Hier gehörte Ibn Tufail zu einer Gruppe von Intellektuellen, die 253 das kulturelle und geistige Leben des Almohaden-Reiches mitbestimmten. Ibn Tufail starb im Jahre 1185 in Marokko.1 5. Hayy ibn Yaqzan: ein Name als Programm Ibn Tufail verfasste mehrere wissenschaftliche Werke, die allerdings allesamt verloren gegangen sind. Erhalten ist lediglich ein zwischen 1177 und 1182 entstandener philosophisch-allegorischer Roman mit dem Titel Hayy ibn Yaqzan: Fi asrar al-hikma al-maschriqiyya, eines der bemerkenswertesten Bücher des Mittelalters überhaupt. Der Titel des Romans steht dabei programmatisch für das Gesamtwerk. Der Haupttitel nämlich, Hayy ibn Yaqzan, d. h. der Name des Protagonisten dieses Romans, bedeutet übersetzt Der Lebende, Sohn des Wachen. Das arabische Wort hayy hat zunächst die Bedeutung „Lebender“ oder „Lebendiger“ im Sinne eines Individuums. Als Kollektivum bezeichnet der Begriff im klassischen Arabischen dann aber auch den „Kernverband“ und damit den „Lebensquell“ eines Stammes oder Klans. Er bedeutet „Leben“ im besten Wortsinne und darf gleichsam als ein Synonym für „die Menschen“ bzw. „die Menschheit“ generell gelten. Im religionsphilosophischen Sinne bezieht sich der Name Hayy, „Lebender“, auf eine Vorstellung, die sich sowohl im Koran als auch (in Anlehnung an griechisches Gedankengut) in der arabisch-islamischen Philosophie findet. Diese Vorstellung beinhaltet zum einen, dass das menschliche Leben ein Ausdruck von „Perfektion“ im Hinblick auf Gott ist, der sein Wesen in der Schöpfung geoffenbart hat.2 Das Ideal des 1 Zum Leben und Werk von Ibn Tufail, vgl. L. Goodman: “Ibn Tufayl”. In: Sayyid Hussain Nasr and Oliver Leaman (eds.): History of Islamic Philosophy, London: Routledge 1996, S. 313-329; und J.P. Montada: “Philosophy in Andalusia: Ibn Bājja and Ibn Tufayl”. In: Peter Adamson and Richard C. Taylor (eds.): The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, Cambridge University Press 2005, S. 155-179. 2 Der Name al-Hayy, also „der (ewig) Lebende“ bzw. „der Lebendige“, ist ein koranischer Beiname Gottes (Koran 2:255, 3:2, 20:111, 25:58, 40:65) und einer der sogenannten „neunundneunzig schönen Namen“ Gottes, welche sein Wesen zu beschreiben versuchen. Das menschliche Leben als von Gott geschaffen ist nach dem Koran heilig (Koran 17:33), auch wenn das Leben im Diesseits für die Gottesfürchtigen lediglich eine Station auf dem Weg zum „wahren“ ewigen Leben im Jenseits ist (z. B. Koran 6:32). Die 254 „vollständigen“, ja „perfekten“ Menschen tritt jedoch erst dann zutage, wenn die betreffende Person ihr „Handeln“ eng mit dem Gott-gegebenen, menschlichen „Verstand“ verknüpft. Dieser engen Verbindung von Intellekt, Erkenntnis und vernunftbetontem Handeln als Wesensmerkmale des perfekten Menschen wird von den arabisch-islamischen Philosophen, aber auch im engeren religiösen Kontext eine besondere Bedeutung beigemessen, wie das gleich näher zu besprechende Werk von Ibn Tufail eindrucksvoll verdeutlicht. Die islamischen Philosophen waren bei der zentralen Konzeption vom Intellekt bzw. seiner erkenntnisbringenden Funktion vor allem von den antiken griechischen Philosophen (insbesondere Platon, Aristoteles, Plotin, Porphyrios, Galen und Ptolemäus) beeinflusst. Daneben wurden aber auch altiranisch-gnostische Vorstellungen rezipiert. Der Beiname Ibn Yaqzan, „der Sohn des Wachen“, wiederum deutet an, dass es sich bei diesem Geschöpf um einen „Spross“ bzw. ein „Produkt“ der reinen Intelligenz handelt, d. h. jener Existenzform, welche weder Schlaf noch Unaufmerksamkeit kennt. Der Ausdruck „Sohn des Wachen“ spielt dabei auf die neuplatonische Emanationslehre vom „ausfließenden Intellekt“ an, wie sie auch al-Farabi (ca. 870-950), Ibn Sina (latiniIdee, dass Gott der zentrale Fokus allen Lebens ist, kommt im Koran am deutlichsten im sogenannten Thronvers, einem der berühmtesten und von Muslimen am häufigsten zitierten Verse, zum Ausdruck. Hier heißt es: „Allah [ist einer allein]. Es gibt keinen Gott außer ihm. [Er ist] der Lebendige und Beständige. Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf. Ihm gehört [alles], was im Himmel und auf Erden ist. Wer [unter den himmlischen Wesen] könnte – außer mit seiner Erlaubnis – [am Jüngsten Tag] bei ihm Fürsprache einlegen? Er weiß, was vor und was hinter ihnen liegt. Sie aber wissen nichts davon – außer was er will. Sein Thron reicht weit über Himmel und Erde. Und es fällt ihm nicht schwer, sie [vor Schaden] zu bewahren. Er ist der Erhabene und Gewaltige.“ (Koran 2:255; Übersetzung nach Rudi Paret (Übers.): Der Koran: Übersetzung, Stuttgart: Kohlhammer 4 1985.). Diese koranische Aussage impliziert die Vorstellung von Gott als dem „Fürsorglichen Schöpfer“, auf den – anders als bei Aristoteles ersten „unbewegten“ Beweger – die Schöpfung nicht nur zurückgeht, sondern der diese auch beschützt und für diese sorgt (vgl. auch Ian Richard Netton: “Life”. In: Jane Dammen McAuliffe (ed.): Encyclopaedia of the Qur’ān, 6 Bde., Leiden: Brill 1999-2006, Bd. 3 (2003), S. 182-185, hier S. 183.) 255 siert: Avicenna, 980-1037) und andere islamische Philosophen vertraten sowie weiterentwickelten und wonach die mit dem Verstand erkennbaren Strukturen und Formen auf das „Ausfließen“ aus einer metaphysischen Quelle zurückgehen bzw. als „Emanationen“ des Schöpfergottes verstanden werden. Der Name Ibn Yaqzan, „der Sohn des Wachen“, kann somit auch als eine Personifizierung des „aktiven Intellekts“ verstanden werden. Für den Nebentitel des Werkes sind zwei Lesungen möglich, die beide sinnstiftend sind. Die eine Lesung lautet: Fi asrar alhikma al-maschriqiyya, was so viel heißt wie: Über die Geheimnisse der östlichen Weisheit. Folgt man dieser Lesung, würde sich Ibn Tufail ausdrücklich in die lange Tradition zum Verständnis der Erkenntnislehren des Orients einordnen, die wir „im Westen“ gelegentlich mit dem Ausdruck ex oriente lux, „aus dem Osten kommt das Licht“, verbinden. Die andere Lesung, Fi asrar al-hikma al-muschriqiyya – also mit nur einem anderen Vokal, muschriqiyya anstatt maschriqiyya – ließe die Übersetzung: Über die Geheimisse der „erleuchtenden Weisheit“ oder auch „der illuminierenden Philosophie“ zu. 3 Diese Über3 Aristoteles (384–322 v. Chr.) verwendet in seinem Werk De Anima III.5 die Lichtmetapher für den „aktiven Intellekt“; Licht verwandele „potentielle“ Farben in „reale“, sichtbare Farben, so wie der aktive Intellekt die Vernunftanlagen (d. h. den „passiven Intellekt“) aktiviere und verwirkliche. Licht als Metapher spielt aber schon im Alten Testament ein zentrale Rolle, wo es u. a. heißt: „Da sprach Gott: ,Es werde Licht!‘, und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war …“ (Genesis 1:2-4). Im Neuen Testament ist Jesus das „Licht der Welt“, der denen, die ihm nachfolgen, das „Licht des Lebens“ verheißt (Johannes 8:12). Im Koran (Sure 24, „Das Licht“, Vers 40) wiederum heißt es, „Wem Gott kein Licht gibt, für den gibt es kein Licht.“ Es sind im Islam dann vor allem die islamischen Mystiker, die die Lichtmetapher immer wieder aufgreifen. Der einflussreiche Theologe und Mystiker Abu Hamid al-Ghazali (1058-1111) zum Beispiel spricht in mehreren seiner Werke vom Gotteslicht, durch welches die Ratio zu überwinden und zur Erkenntnis zu gelangen sei (siehe insbesondere Abū Ḥāmid al-Ghazālī: Die Nische der Lichter (Miškāt al-anwār), aus dem Arabischen übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Indices herausgegeben von Abd Elsamad Abd Elhamid Elschazli, Hamburg: Meiner 1987). Der muslimische Philosoph und Wissenschaftler Schihab ad-Din Suhrawardi (1154-1191) schließlich knüpfte an antike Vorbilder und muslimische Vorgänger an, als er die vor allem im iranischen Kulturraum be256 setzungsvariante stellt eine Verbindung zur Lichtmetapher her, auf die im Roman mehrfach Bezug genommen wird und die nicht nur für Aristoteles (384-322 v. Chr.), sondern auch für bestimmte islamische Philosophen und Theologen bedeutsam war. Im Sinne von „erhellender Weisheit“ bzw. „illuminierender Philosophie“ wäre das geistige Wachsen und die Möglichkeit zur Gottessicht durch „rationale Kontemplation“, wie sie Ibn Tufails Romanheld erfährt, explizit bereits im Titel des Buches zum Ausdruck gebracht. 6. Das Werk: Inhalt und Struktur Der Protagonist in Ibn Tufails Roman mit Namen Hayy ibn Yaqzan ist ein Mensch, der allein und ohne Kontakt zur menschlichen Zivilisation auf einer einsamen Insel lebt. Er verkörpert eine Art „Ur-Robinson“, d. h. eine Figur, die völlig auf sich selbst gestellt ist und fernab von allen anderen Menschen lebt. Doch diese Feststellung bedeutet nicht, dass Ibn Tufails Buch lediglich eine „Robinsonade“ im islamischen Gewand wäre, die von den phantastischen Abenteuern auf einer tropischen Insel erzählt. Im Gegenteil: Ibn Tufails Held, Hayy ibn Yaqzan, ist ein nach Erkenntnis strebender Mensch, der ohne göttliche Offenbarung und ohne Prophetie und ausnahmslos durch seine genauen Beobachtungen, nämlich der gezielten Erforschung der Natur, sowie sein Vermögen zur intellektuellen Abstraktion – in einem stufenförmigen Erkenntnisprozess – im Alter von fünfzig Jahren schließlich zu Gott findet. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass diese intellektuelle Abstraktion Hayys nicht von einer menschlichen Sprache getragen wird, da Hayy „keine Sprache kannte, weder um zu verstehen noch um zu sprechen“ (S. 77), und diese erst im fortgeschrittenen Alter erlernte. 4 deutsame „Philosophie der Illumination“ (Hikmat al-ischraq) begründete, wonach der Prozess des menschlichen Denkens der Hilfe des göttliches Lichtes bedarf bzw. erst durch dieses initiiert wird. 4 Ich zitierte hier und im Folgenden die Übersetzung von Jameleddine Ben Abdeljelil und Viktoria Frysak (Hrsgg.): Hayy Ibn Yaqdhan: Ein muslimischer Inselroman von Ibn Tufail, Wien: Viktoria 2007. Seitenzahlen im Text ohne weitere Angabe des zitierten Werkes beziehen sich auf diese Ausgabe. Eine weitere Übersetzung liegt vor in der Publikation, Abu Bakr 257 Doch zunächst einmal soll im Folgenden der Handlungsverlauf dieses Meisterwerkes der arabischen Literatur chronologisch betrachtet werden. 5 6.1 Vorwort Im Vorwort zum Roman setzt Ibn Tufail den wissenschaftlichen Rahmen für seine Erzählung. Der Autor nennt hier mehrere muslimische Gelehrte, deren religiös-philosophisches Weltbild er rezipierte und nun zum Teil kritisch hinterfragt. Er erwähnt die auch in Europa bekannten Philosophen al-Farabi, Ibn Sina und Ibn Badschdscha (andere Schreibweise Ibn Bajja, latinisiert: Avempace, 1095-1138) sowie den wohl wichtigsten islamischen Theologen und Mystiker, Abu Hamid al-Ghazali (1058-1111). Obgleich die Gedankenmodelle dieser Gelehrten sich wesentlich unterscheiden, sind ihnen allen – und mithin auch Ibn Tufail – zwei wichtige Charakteristika zu Eigen. Zum einen befassen sich alle diese Gelehrten mit grundsätzlichen philosophischen Konzeptionen zur Welterkenntnis, welche letztlich auf die Schriften von Platon und Aristoteles gestützt sind. Zum anderen spielt in ihren Überlegungen zur menschlichen Erkenntnisfähigkeit und zum Erkenntniserwerb das generelle Verhältnis von Philosophie und Religion eine zentrale Rolle. Nach dem theoretischen Vorwort informiert Ibn Tufail seine Leser über die ersten spannenden Details zu den ungewöhnlichen Umständen der Geburt seiner Romanfigur, Hayy ibn Yaqzan, sowie darüber, wie dieser auf eine einsame Insel mit mildem Ibn Tufail: Der Philosoph als Autodidakt: Ḥayy ibn Yaqẓān, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Patric O. Schaerer, Hamburg: Meiner 2009. Für den arabischen Originaltext, siehe Ibn Ṭufayl, Muḥammad ibn ‘Abd al-Malik: Risālat Ḥayy ibn Yaqẓān: roman philosophique d’Ibn Tufayl, Texte Arabe et Traduction Français: Léon Gauthier, Beirut: Imprimerie Catholique 1936 [Nachdr. in Publications of the Institute for the History of Arabic-Islamic Sciences, ed. F. Sezgin, Frankfurt/Main 1999.] 5 Detailliertere Studien zu Inhalt und Aufbau von Ibn Tufails Werk wurden u. a. vorgelegt von George Hourani: “The Principal Subject of Ibn Tufayl’s Hayy Ibn Yaqzan”. In: Journal of Near Eastern Studies 15 (1956), S. 4046; und Sami Hawi: “Ibn Tufayl’s Hayy Ibn Yaqzan, Its Structure, Literary Aspects and Methods”. In: Islamic Culture 47 (1973), S. 191-211. 258 Klima in der Nähe des Äquators, irgendwo im Indischen Ozean, gelangte. Unsere Aufmerksamkeit ist schnell gefesselt, da zwei unterschiedliche Versionen zu Hayys Geburt berichtet werden. Nach der ersten Version, so heißt es, habe die Schwester eines tyrannischen Königs aus der ihr verbotenen Liebesverbindung mit Yaqzan, einem Manne aus dem Nachbarkönigreich, einen Sohn geboren. Aus Furcht vor dem Zorn ihres hartherzigen Bruders und Königs stellte die Prinzessin das Schicksal des Neugeborenen Gott anheim und setzte den Säugling in einem gut verschlossenen Kästchen im Meer aus. Das Kästchen mit dem Säugling wurde schließlich an die besagte einsame Insel gespült, ein literarisches Motiv, das offensichtlich auf die biblisch-koranische Geschichte des kleinen Moses anspielt.6 Die zweite Version darüber, wie Hayy ins Leben trat, ist noch phantastischer. Danach wurde Hayy auf der besagten Insel ohne menschliches Zutun geboren. In dieser Variante der Erzählung heißt es, dass Lehm zu gären begann und sich Wärme mit Kälte und Feuchtigkeit mit Trockenheit verbanden. Diese Vorgänge in der Natur verursachten eine Blasenbildung des Lehms, dessen Aufschäumen wiederum Raum gab für die Seele, die „von Gott, dem Mächtigen und Großen, ununterbrochen und reichlich hervorgeht“ (S. 15). Aus dieser Verbindung von gärendem Lehm und gottgesandter Seele entstand das menschliche Wesen Hayy in einer Art mystischer Spontangenese bzw. Selbstgeburt. Er ist aus Lehm geformt wie schon der biblische Adam, der erste Mensch, der ohne Eltern und Vergangenheit ins Leben trat. Aus dem Lehm wiederum bildete sich ein Blutklumpen. Der Blutklumpen bildete einen Embryo, der zu einem Menschen heranwächst, wie dies 6 Exodus 2:1-10. Siehe auch Koran 20:37-39: „Wir haben uns doch auch [schon] ein anderes Mal um dich (d. h. Moses) verdient gemacht. [Damals] als wir deiner Mutter jene Weisung eingaben: ‚Wirf ihn in den Kasten, und dann wirf diesen ins Meer! Dann soll ihn das Meer an Land schwemmen, worauf ihn einer, der mir und ihm feind ist, [an sich] nehmen wird.‘ Und ich habe dich meine Liebe spüren lassen, und du solltest unter meiner Aufsicht aufgezogen werden“ (Übersetzung Paret (Übers.): Der Koran (Anm. 1)). Siehe dazu auch Gürbüz Deniz: “Hayy Ibn Yaqzan and its Qur’anic References”. In: Journal of Islamic Research 1.2 (2008), S. 33-50, insbesondere S. 38-39 (“Allusion to the Story of Moses”). 259 auch die islamische Überlieferung für das entstehende Leben feststellt.7 6.2 Hauptteil Diese zwei unterschiedlichen Versionen zu Hayys Geburt finden eine gemeinsame Fortsetzung im Hauptteil des Romans. Hier heißt es nämlich, dass Hayys Leben in Etappen von jeweils sieben Jahren erfolgte:8 Erste Lebensphase: Über den ersten Lebensabschnitt des Hayy, d. h. von seiner Geburt bis zum siebten Lebensjahr, erfährt der Leser, dass eine Gazelle den Säugling findet, das Kind säugt, umsorgt und fortan als ihr Junges aufzieht.9 Durch das Leben mit der Gazelle und den anderen Tieren der Insel lernt Hayy grundsätzliche Emotionen kennen wie Zuneigung und Vertrautheit, aber auch Bedrücktheit (etwa über ausbleibende Jagderfolge) und Scham und Kummer (darüber, dass er, anders als die Tiere, nackt und schutzlos ist). Er versteht es nun auch, die für das Überleben wichtigen Dinge zu meistern: d. h. zum Beispiel, sich selbst Nahrung zu suchen und sich zu verteidigen. Im Alter von sieben Jahren schließlich wird ihm bewusst, dass er kein Tier bzw. zumindest anders als die Tiere ist. 7 „Wir haben doch den Menschen [ursprünglich] aus einer Portion Lehm geschaffen. Hierauf machten wir ihn zu einem Tropfen [Sperma] in einem festen Behälter. Hierauf schufen wir den Tropfen zu einem Embryo, diesen zu einem Fötus und diesen zu Knochen. Und wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Hierauf ließen wir ihn als neues Geschöpf entstehen. So ist Allah voller Segen. Er kann am schönsten erschaffen“ (Koran 23:12-14; Übersetzung Paret (Übers.): Der Koran (Anm. 1). 8 Die Zahl sieben besitzt hier natürlich Symbolkraft. Man denke an den Mythos der Schöpfung in sieben Tagen. Im Islam findet sich die Zahl im Koran in der Vorstellung von sieben Himmelssphären, dann aber ebenso in der religiösen Literatur in den Beschreibungen von sieben Paradiesgärten und sieben Sphären der Hölle wieder. Für den islamischen Kult ist wiederum das siebenmalige Umkreisen der Kaaba, des Heiligtums in Mekka, zu nennen. 9 Die schöne und sanftmütige Gazelle ist hier als ein Sinnbild für die Mutter zu verstehen; sie ist aber auch schon seit der vorislamischen Zeit eine Metapher für „die Geliebte“ und das Weibliche im besten Wortsinne. 260 Zweite Lebensphase: Es beginnt der zweite Lebensabschnitt, der zweimal sieben Jahre umfasst und bis zum 21. Lebensjahr reicht. Hayy begreift nun, dass er, im Gegensatz zu den Tieren, nackt und unbewaffnet ist. Aufgrund dieser Einsicht bekleidet er sich mit Blättern und Federn und lernt, die Vorzüge des menschlichen Körpers und des aufrechten Gangs zu nutzen. Auch übt sich Hayy jetzt darin, zweckrational zu handeln. Durch Beobachtungen, Experimente und Analogieschlüsse kann er sein Wissen entscheidend mehren. Er entdeckt zum Beispiel, dass er manches in der Natur Gefundenes bearbeiten kann. Auch lernt er, das Feuer zu beherrschen und wie man eine schützende Behausung baut. Als die Gazelle stirbt, ist er voller Schmerz und Trauer. Er beschließt deshalb, die Gazelle zu sezieren, um herauszufinden, warum sich das Tier nicht mehr bewegt. Bei dieser Untersuchung findet er das Herz, in dem er den Sitz des Lebens vermutet. Als Hayy beim Öffnen des Herzens die eine Herzkammer gefüllt mit geronnenem Blut und die andere leer vorfindet, kommt er zu dem Schluss, dass das, was seiner Mutter, der Gazelle, Lebenskraft verlieh, in dieser leeren Herzkammer gewohnt haben muss. Dass diese Herzkammer nun leer war, erklärt ihm den Tod, denn Hayy erkennt, dass der tote Körper nur mehr eine Hülle ist, die ohne den Hauch, der ihn zuvor belebt hatte, wertlos ist. Die Liebe zu seiner Mutter konzentriert sich deshalb nun nicht mehr auf den leblosen Körper der Gazelle, sondern nur auf die aus dem Herzen „verschwundene Sache“ (S. 27), d. h. die den Tod überdauernde Seele. Hayy begreift damit die Endlichkeit aller materiellen Existenz und die Ewigkeit der Seele, die nach dem Tod fortlebt. Es ist dieser Gedanke, der Hayy den Schmerz über die verstorbene Gazelle erträglich macht und sie begraben lässt. Von einem Raben, der einen anderen Raben im Kampf getötet und dann verscharrt hatte, lernt Hayy, was mit einem toten Körper zu tun ist.10 10 Ibn Tufail nimmt mit diesem literarischen Bild direkten Bezug auf den Ur-Mythos von Kain und Abel, den feindlichen Brüdern. Denn in der islamischen Überlieferung, Koran 5:31, zu diesem ersten Bruderpaar der Menschheit lernt auch Kain von einem Raben, den er beim Verscharren eines toten Körpers beobachtet, dass er von seinem toten Bruder Abschied nehmen und ihn begraben muss. Vgl. auch Sebastian Günther: „Kain und 261 Dritte Lebensphase: Im dritten Lebensabschnitt bis zum 28. Lebensjahr macht sich Hayy mit den Gesetzen der Kausalität vertraut. Er erkennt, dass jeder Umstand und jede Begebenheit eine Ursache und eine Wirkung hat. Durch die Beobachtung des Himmels und die Einsicht, dass sich die Himmelskörper regulär in bestimmten Bahnen bewegen, gelangt Hayy schließlich zu philosophischen Betrachtungen: Die Himmelskörper hält er für eine Lichtmaterie. Er schließt daraus, dass sie von etwas noch Lichtvollerem erschaffen sein müssen, und dass diese Lichtquelle womöglich die Ursache aller Dinge ist. Hayy beginnt von nun an, die Individuen nach Arten, die materiellen Gegenstände nach Formen und die Wirkungen nach Ursachen zu unterscheiden. Vierte Lebensphase: Im vierten Lebensabschnitt bis zum 35. Lebensjahr entwickelt Hayy seine erkenntnistheoretischen Fähigkeiten. Er beobachtet nun ganz gezielt den Kosmos und die Gestirne und befasst sich mit Fragen nach der Beschaffenheit und Endlichkeit des Alls. Über die Betrachtungen zur Kosmologie und Astronomie gelangt er zu grundsätzlichen Fragen der Metaphysik. Letztere wiederum führen ihn zu der Einsicht, dass das Universum einen allmächtigen Urheber und Schöpfer haben müsse. Fünfte Lebensphase: Der fünfte Lebensabschnitt bis zum 50. Lebensjahr beschreibt schließlich Hayys religiöses Erwachen. Dieser Prozess ist wiederum in drei Stufen gegliedert: Die erste Stufe betrifft materielle Dinge und die Sicherung des nackten Überlebens. Die zweite Stufe bezieht sich auf die Erkenntnis, dass es außerhalb der unmittelbaren Umwelt andere wahrnehmbare Formen gibt und dass das Geschehen des Diesseits mit einer anderen Welt verbunden ist. Das Ergebnis dieses Lernprozesses ist, dass es eine höhere Wesenheit geben müsse, die dies alles erschaffen hat und bewegt. Diese Einsicht führt Hayy schließlich zu einer Art kontextuellem bzw. sozialem Verhalten, welches auch die Gottesverehrung einschließt. Die dritte Stufe schließlich bedeutet eine meditative Annäherung und mystische Versenkung in Abel, ,die Feindlichen Brüder‘: Archetyp und literarisches Motiv in der arabisch-islamischen Kultur“. In: Reinhard Gregor Kratz und Annette Zgoll (Hrsgg.): Arbeit am Mythos: Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart, Tübingen: Mohr Siebeck (im Druck). 262 die Dispositionen des Schöpfers. Hier gelingt es Hayy, der alle meditativen Stufen durchlaufen hat, körperliche Eigenschaften und weltliche Handlungen abzustreifen und sich ausschließlich Gott zu widmen. Die Gottesschau vermittelt sich ihm als die höchste Stufe der Erkenntnis. Er begreift, dass diese höchste Stufe Wissen enthält, welches die Attribute des Schöpfers betrifft. Sechste Lebensphase: Als Höhepunkt dieses Entwicklungszyklus, d. h. als Hayy 50 Jahre alt ist, geschieht es, dass der Protagonist mit dem Namen „Lebender, Sohn des Wachen“ schließlich schaut, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz (d. h. Verstand bzw. Sinn) gekommen ist.“ 11 Mit diesen Worten im arabischen Text wird ein Ausspruch des Propheten Muhammad zitiert, der in der islamischen Tradition mehrfach belegt ist und als kanonisch gilt.12 11 Vgl. die Übersetzung von Abdeljeli und Frysak (Hrsgg.): Hayy Ibn Yaqdhan (Anm. 4), S. 77 (hier leicht angepasst). Zur spannenden Frage des Übergangs vom Naturalismus (als dem „Beginn allen Philosophierens“) hin zum Subjektivismus im Kontext von Lernen und Erkenntnis, siehe Sami Hawi: Islamic Naturalism and Mysticism: A Philosophical Study of Ibn Tufayl’s Hayy Yaqzan, Leiden: Brill 1974, insbesondere S.87-139; Sami S. Hawi: “Beyond Naturalism: A Brief Study of Ibn Tufayl’s Hayy Ibn Yaqzan”. In: Journal of the Pakistan Historical Society 22 (1974), S. 24967. 12 „[Der Prophetengefährte] Abu Huraira (603-681) berichtete, dass der Gesandte Gottes gesagt habe: „Gott sprach: Ich habe für Meine rechtschaffenen Diener das vorbereitet, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz einging. Leset nach, wenn ihr wollt: ,Und niemand weiß, was für [beseligende] Freuden im Verborgenen für sie vorgesehen... .‘ (Koran 32:17). [Herv., S.G.]“ Im Original: َ‫ﺪ‬ َ‫ﺪ‬ ،ِ ‫َﺎﺩ‬ ‫ﱢﻧ‬ ‫ِﻲ ﺍﻟﺰ‬ ‫َﺑ‬ ‫ْ ﺃ‬ ‫َﻦ‬ ‫ ﻋ‬،‫ﻥ‬ ‫ْﻴ‬ ‫َﺎ ﺳُﻔ‬ ‫ﺛﻨ‬ ‫ ﺣ‬،‫ِِﱠﺍ‬ ‫ْﺪ‬ َِ ‫ُ ﻋ‬ ‫ﺑﻦ‬ ‫َﱡ‬ ‫َﺎ ﻋ‬ ‫ﺛﻨ‬ ‫ﺣ‬ ُ‫َﺎ‬ ‫َﱠ‬ ‫َﱠ‬ ْ ْ‫ِﻲ‬ َ َ ‫ِِﱠﺍ‬ ‫َﺳُ ﻪ‬ ُ ْ ‫َﻦ‬ ‫ﺿ َ ُﺍ ﺍ ﻋﻨ َ ﻋ‬ ‫ﺮ‬ ‫ِﻲ‬ ‫ﺑ‬ ‫ﺃ‬ ‫ﻦ‬ ‫ﻋ‬ ، ‫ﻦ‬ ‫ﻋ‬ ‫ﺍﺝ‬ ‫ﻦ‬ ‫ﻋ‬ ََ َْ ُ َْ ِ َْ َِ َ َ ‫ﺎﻟ‬ ‫ﺗﻌ‬ ‫ﻭ‬ ‫ﻙ‬ ُ ‫ﺎ‬ ِ ‫ﺗ‬ ‫ﺍ‬ ‫ﱠ‬ ُ ‫ﻪ‬ ‫َﺎ‬ ‫ﻗ‬ " : ‫ﻪ‬ ‫َﺎ‬ ‫ﻗ‬ ، ‫ﻭﺳﱡﻢ‬ ‫ﻋﱡﻴ‬ ‫ﺍ‬ ‫ﱡ‬ ََ َ َ َ َ َ َ ِ ُ ‫ُﻥ‬ ‫ُﺫ‬ ‫َﻻَ ﺃ‬ ‫ ﻭ‬،ْ ‫َﺕ‬ ‫َﺃ‬ ‫ٌ ﺭ‬ ‫َﻴْﻦ‬ ‫ﻣﺎ ﻻَ ﻋ‬ ‫ِﺤِﻴﻦ‬ ‫ﱠﺎﻟ‬ ‫ِﻱ ﺍﻟﺼ‬ ‫ِﺒَﺎﺩ‬ ‫ﻟﻌ‬ ‫ْﺕ‬ ‫ﺪﺩ‬ ‫َﻋ‬ ◌‫ﺃ‬ ٌ َْ َ َ ‫ءﻭﺍ‬ ‫ﺿ ﺍﻗ‬ ‫ﻪ ﺃ‬ ‫ ﻗ‬."ٍ ‫ﺑﺸَﺮ‬ ‫َﻰ َﻗﻠ‬ ‫َﻠ‬ ‫َ ﻋ‬ ‫َﻻَ ﺧَﻄَﺮ‬ ‫ ﻭ‬،ْ ‫َﺖ‬ ‫ِﻌ‬ ‫ﺳَﻤ‬ ََ َْ ‫ﺮ‬ َ‫َﺎ‬ ُ ‫ﺑ‬ َُ َُْ َ ِ‫ْﺐ‬ َْ .{ٍ‫ُﻦ‬ ‫ْﻴ‬ ‫َﻋ‬ ‫ِ ﺃ‬ ‫ُﱠﺿ‬ ‫ْ ﻗ‬ ‫ِﻦ‬ ‫ْ ﻣ‬ ‫ﻬﻢ‬ ‫ْﻔ‬ ‫ُﺧ‬ ‫ﻣﺎ ﺃ‬ ‫ﻧﻔ‬ َ ُ ‫ﱡﻢ‬ ‫ﺗﻌ‬ ‫ْ }ﻓ‬ ‫ُﻢ‬ ‫ْﺘ‬ ‫ِﺌ‬ ‫ﻥ ﺷ‬ ‫ﺇ‬ ِْ َ َ‫َﻼ‬ َ ٌ‫ْﺲ‬ ُ‫ِﻲَ َﻟ‬ Vgl. die berühmte Traditionssammlung des Gelehrten al-Buḫārī (810-870), Abū ‘Abdallāh Muḥammad ibn Ismā‘īl: al-Ğāmiʿ al-musnad al-ṣaḥīḥ almuḫtaṣar min umūr rasūl Allāh wa-sunanihi wa-ayyāmihi („Die authentische, mit Gewährsleuteketten versehene Kurzfassung des Kompendiums zu den Angelegenheiten des Gesandten Gottes, seinen Gewohnheiten und sei263 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der von Ibn Tufail zitierte Ausspruch des Propheten Muhammads identisch ist mit einem Passus im ersten Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth (1. Korinther 2:9). In diesem Brief überbringt Paulus den Korinthern Kunde von Gottes geheimnisvoller Wahrheit und Weisheit. Hierbei handelt es sich, wie es in der Bibel heißt, „jedoch nicht [um] Weisheit dieses Zeitalters, auch nicht der Fürsten dieses Zeitalters ...“ bzw. dieser Welt (1. Korinther 2:6). Ganz in diesem biblischen (und islamisch-prophetischen) Sinne sind es für Ibn Tufail Einsichten in jenen, den normalen Menschen bislang verborgenen Plan Gottes, welchen Gott fasste, schon lange bevor Er die Welt erschuf und mit dem Er uns an Seiner „Herrlichkeit“ Anteil haben lässt. Von dieser Gotteserfahrung überwältigt will sich Hayy fortan nur noch der Kontemplation Gottes widmen und diesen Zustand der Glückseligkeit nicht mehr verlassen. Hayy gelangt so zu einem abstrakt-mystischen Gottesverständnis. Es ist ein Verständnis von Gott, das weder an eine bestimmte Religion noch an irgendwelche gottesdienstliche Handlungen gebunden ist. ner Zeit“), hrsg. von Muḥammad Zuhair ibn Nāṣir al-Nāṣir, 9 Bde., Medina: Tauq al-Najāh 1422 H/2001 (hadith-Zählung nach der Ausgabe von Fu’ād ‘Abd al-Bāqī), Bd. 9, S. 144 (hadith Nr. 4779); der Ausspruch ist ebenfalls belegt in den Texten Nr. 3224, 4780, und 7498. Die Stelle im Neuen Testament lautet: „(1) Und ich (Paulus) [kam] zu euch, Brüder, … (5) damit euer Glaube nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft beruhe. … (6) Wir reden aber Weisheit unter den Vollkommenen, jedoch nicht Weisheit dieses Zeitalters, auch nicht der Fürsten dieses Zeitalters, die zunichte werden, (7) sondern wir reden Gottes Weisheit in einem Geheimnis, die verborgene, die Gott vorherbestimmt hat, vor den Zeitaltern, zu unserer Herrlichkeit. (8) Keiner von den Fürsten dieses Zeitalters hat sie erkannt – denn wenn sie erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben –, (9) sondern wie geschrieben steht: ,Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.‘ (10) Uns aber hat Gott es offenbart durch den Geist, denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes. [Herv., S.G.]“ (1. Korinther 2:1-10; zitiert nach der Elberfelder Bibel). Vgl. auch Ulrich Rudolph: Islamische Philosophie: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: Beck 2004, S. 67. 264 6.3 Epilog An dieser Stelle der Vervollkommnung von Hayys Erkenntnisprozess und dem Erreichen eines Zustandes der vollkommenen Glückseligkeit der Hauptfigur des Romans meint der Leser, das Ende des Werkes erreicht zu haben. Doch Ibn Tufail lässt der Erzählung einen Epilog folgen. Darin berichtet er, dass Hayy nun Kontakt zu anderen Menschen und zur Zivilisation erhält. Von einer benachbarten Insel nämlich war ein Mann mit Namen Absal auf die einsame Insel gekommen, weil er sich mit seinem Freund namens Salaman in wichtigen religiösen Fragen uneins war. In dieser Abgeschiedenheit und Ruhe hoffte Absal zu einem umfassenden Gottesverständnis zu gelangen. Er glaubte, dass in der Religion ein tieferer Sinn zu finden sein müsse als der, den er durch die formalisierte Praxis des Glaubens auf seiner Heimatinsel bislang erfahren hatte. Sein Gefährte Salaman hingegen gab sich mit den offenkundigen Inhalten und Konventionen der Religion zufrieden. Als Absal auf Hayy trifft, lehrt er Hayy die menschliche Sprache. Diese Fähigkeit zur menschlichen Kommunikation ermöglicht es den beiden schließlich, sich über philosophische Fragen auszutauschen. Hayy stellt dabei bald fest, dass er mit Absal in den wesentlichen Fragen, die ihn schon seit langem beschäftigen, übereinstimmt. Diese betreffen vor allem den Glauben an die Existenz eines allmächtigen Schöpfers sowie das intellektuelle Vermögen des Menschen, den Aufbau der Welt und die Struktur des Universums zu erkennen bzw. den Platz und die Bestimmung des Menschen in diesem System zu verstehen. Doch während Hayy zur „reinen Wahrheit“ durch eine Art innerer Reflexion gelangte, die verbunden war mit einem guten Maß an Objektivität in der Beurteilung der Eigenschaften, Dispositionen und Kräfte der ihn umgebenden Welt bzw. seinem eigenen Wirken in diesem Kontext, waren die Menschen der Nachbarinsel durch einen Propheten sowie die von diesem Propheten überbrachte Offenbarung – mit all ihren Belehrungen, Bildern und Symbolen – zu ganz ähnlichen Erkenntnissen gelangt. Absal und Hayy reisen schließlich gemeinsam zu der bewohnten Nachbarinsel, auf der Salaman inzwischen als König regiert. Hayy versucht nun, Salaman und die Inselbewohner zu 265 „unterrichten und ihnen die Geheimnisse der Weisheit zu offenbaren“ (S. 96), indem er den Menschen unermüdlich die von ihm erreichte umfassende Welt- und Gottes-Erkenntnis vermittelt. Doch trotz der Freude der Menschen an dem Guten dieser Botschaft und ihrer Sehnsucht nach der Wahrheit schrecken sie Hayys klare Formen der Einsicht in Gott ab. Sie sind weder empfänglich für die Metaphorik von Hayys Erklärungen zur Religion noch in der Lage, ihren tieferen Sinn zu verstehen. Schnell wenden sie sich von Hayy ab, um sich wieder dem buchstabengetreuen, rein exoterischen Verständnis ihrer religiösen Lehren und überkommenen Gewohnheiten zu widmen. Hayy muss erkennen, dass sich die Menschen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, lieber den Kleinigkeiten des Alltages, dem Streben nach materiellem Reichtum und Sinnesfreuden im diesseitigen Leben sowie ihrem sektiererischen Gottesbild widmen als einem rational vertieftem Gottesverständnis. Er verliert die Hoffnung, die Menschen zu bessern und beschließt deshalb, mit Absal auf die einsame Insel zurückzukehren, so dass sie den Rest ihres Lebens in Zurückgezogenheit und mystischer Gottesbetrachtung verbringen können. Der Roman schließt mit dem Satz: „Und diese beiden verehrten Gott auf dieser Insel bis zu ihrem Tod“ (S. 101). 6.4 Schlusswort Im Schlussteil des Romans wendet sich der Autor Ibn Tufail noch einmal direkt an den Leser. Er vermerkt hier ausdrücklich, ähnlich dem Apostel Paulus im ersten Korintherbrief, dass seine Erzählung ein „geheimes“ Wissen enthält, das allerdings nur die Menschen begreifen, die über ein wirkliches Gottesverständnis verfügen. Mit seinem Buch habe er erstmals „den Schleier“ zerrissen, der dieses Wissen bislang verbarg. Als Grund für diese Entscheidung nennt Ibn Tufail, dass bestimmte ungesunde Meinungen in der Gesellschaft überhandgenommen hätten, so dass zahlreiche schwache Menschen die Autorität des Propheten zurückwiesen und stattdessen Dummköpfen und Narren folgten. Es sei deshalb besser, so Ibn Tufail, vor den Augen dieser Menschen zumindest „einen Schimmer des Geheimnisses der Geheimnisse aufleuchten zu lassen, um sie auf die Seite der Wahrheit zu ziehen und sie vom anderen Weg abzubringen“. 266 Doch Ibn Tufail vermerkt auch, dass er mit seiner Abhandlung in den Lesern den „Wunsch entzünden“ möchte, sich selbst auf eine intellektuelle Reise zu den Höhen zu begeben, welche es ermöglicht, „das Geheimnis“ zu durchdringen und zur „Klarheit des Wissens um Gott“ zu gelangen (S. 102-103). 7. Vorläufer und Rezipienten 7.1 Vorbild: Ibn Sina Die Idee einer Intellekt-betonten, autodidaktischen Bildung einerseits, welche im Falle von Ibn Tufails Hayy Ibn Yaqzan zu einer rationalen Gottesschau führt, sowie deren literarische Präsentation in Form eines philosophisch-allegorischen Romans anderseits, ist nicht gänzlich neu in der arabisch-islamischen Literatur- und Ideengeschichte. Unter den Vorgängern und geistigen Lehrmeistern Ibn Tufails ist es im 11. Jahrhundert vor allem der Mediziner, Philosoph und Universalgelehrte Ibn Sina, der eine kurze, aber höchst originelle arabische Epistel mit dem Titel Hayy ibn Yaqzan verfasste, von der unser Autor Ibn Tufail den Titel seines Buches übernahm. Allerdings anders als bei Avicennas abstraktmystischen Handlungsträgern steht bei Ibn Tufail der Entwicklungs- und Erkenntnisprozess eines Menschen im Vordergrund. 13 Bei Ibn Tufail handelt es sich um ein 13 Im gleichnamigen allegorischen Werk von Ibn Sina, das wahrscheinlich im Jahre 1023 entstand, als dieser in Gefangenschaft war, trifft die menschliche Seele auf ihrer Suche nach Wissen auf einen Weisen mit dem Namen Hayy. Dabei unterweist der Weise Hayy die Seele unter anderem darin, auf welche Weise sie, die ja der immateriellen Welt entstammt, sich vor ihren gefährlichen irdischen Gefährten sowie den sinnlichen Freuden, der Gewalt und den trügerischen Vorstellungen schützen kann, um ihr inneres Gleichgewicht zu bewahren. Auf Bitten der Seele instruiert der Weise Hayy die Seele dann auch in der metaphysischen Geographie der Welt. Mit Hilfe von Rationalität und Logik überwindet die Seele schließlich aus eigener Anstrengung die irdische Dunkelheit und findet zum Licht, das die Quelle allen Lebens und aller Existenz ist, so wie der Weise Hayy ihr dies vorher bedeutet hatte. Wie sich schon durch diese Kurzbeschreibung zeigt, unterscheiden sich Ibn Sinas und Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzan-Erzählungen signifikant in Inhalt und Handlungsverlauf. Beide Werke verbindet aber dennoch ganz offensichtlich (a) der in ihnen auf besonders deutliche und poeti267 menschliches Wesen, mit dessen Wesenszügen und Streben nach Wissen sich die Leser seines Werkes durchaus identifizieren können.14 7.2 Muslimische Rezipienten Mit Blick auf die arabischen Rezipienten von Ibn Tufails Werk ist vor allem Ibn Ruschd (latinisiert: Averroes, 1126-1198), der bekannte spanisch-arabische Philosoph des 12. Jahrhunderts und Vertreter eines rationalen Religionsverständnisses, zu nennen. Ibn Ruschd schrieb einen Kommentar zu Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzan. 15 Im iranischen Raum wiederum wurde Ibn Tufails literarische Vorlage im 15. Jahrhundert von dem großen persischen Dichter und Mystiker Nur ad-Din Dschami (14411492) in einem mystischen Gedicht mit dem Titel Salaman und Absal mit neuem Leben erfüllt. In diesem Gedicht setzte sich sche Weise zum Ausdruck gebrachte, unbändige Drang des Menschen nach Erkenntnis sowie (b) die Betonung des autodidaktischen Moments im Bildungs- und Entwicklungsprozess der Roman-Protagonisten. Zu Ibn Sinas Hayy ibn Yaqzan-Erzählung, vgl. u. a. A.-M. Goichon: “Ḥayy b. Yaḳzān”. In: Bernard Lewis et al. (eds.): Encyclopeadia of Islam, Second Edition, Bd. 3, Leiden: Brill 1971, S. 330-334, hier S. 330-333. 14 Zu Ibn Tufails Rezeption von Ibn Sinas Gedankengut (insbesondere aus dessen Werk „Die Heilung“, Asch-Schifa‘), siehe Dimitri Gutas: “Ibn Ṭufayl on Ibn Sīnā’s Eastern Philosophy”. In: Oriens 34 (1994), S. 222242; Sami S. Hawi: “Ibn Tufayl’s Appraisal of His Predecessors and Their Influence on His Thought”. In: International Journal of Middle East Studies 7 (1976), S. 89-121. Die Frage, ob Ibn Tufails Werk als ein allegorisches Werk zu bezeichnen ist oder nicht, äußert sich Christoph Bürgel eher skeptisch (vgl. Christoph Bürgel: “‘Symbols and Hints.’ Some Considerations concerning the Meaning of Ibn Ṭufayl’s Ḥayy ibn Yaqẓān”. In: Lawrence I. Conrad (ed.): The World of Ibn Tufayl: Interdisciplinary Perspectives on Hayy Ibn Yaqzan, Leiden: Brill 1996, S. 114-132, insbesondere S. 132), während L. Conrad durchaus allegorische Züge erkennt (vgl. Lawrence I. Conrad: “Through the Thin Veil: On the Question of Communication and the Socialization of Knowledge in Ḥayy ibn Yaqẓān”. In: ders. (ed.): The World of Ibn Tufayl: Interdisciplinary Perspectives on Hayy Ibn Yaqzan, Leiden: Brill 1996, S. 238-266). 15 Vgl. R. Arnaldez: “Ibn Rushd”. In: Bernard Lewis et al. (eds.): Encyclopeadia of Islam, Second Edition, Bd. 3, Leiden: Brill 1971, S. 909-920, hier S. 909. 268 Dschami mit der Rolle des Menschen in der Welt und mit dem Mysterium des Glaubens als solchem auseinander.16 7.3 Europäische Übersetzungen und Rezeptionen Ibn Tufails Roman hat auch auf die jüdischen und christlichen Gelehrten Europas eine große Faszination ausgeübt. Universalgelehrte wie Albertus Magnus (ca. 1200-1280), Thomas von Aquin (1225-1274), Voltaire (1694-1778), Rousseau (1712-1778) und Diderot (1713-1784) haben, wie die jüngere komparatistische Literaturwissenschaft feststellt, Ibn Tufails Werk gekannt und rezipiert. 17 Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) war, worauf seine Schrift Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763) hindeutet, Ibn Tufails Grundthese durch die lateinische Übersetzung des Werkes Philosophus autodidactus bekannt. Es ist deshalb recht wahrscheinlich, dass es Ibn Tufails Abhandlung war, die Lessing zu dem Gedanken inspirierte, der Mensch könne zur höchsten Erkenntnis vor allem durch seinen Intellekt und seine Intuition (d. h. ganz ungeachtet der Spezifika einer bestimmten Religion, sei es nun Judentum, Christentum oder Islam) gelangen. Für Lessing ergibt sich daraus der beispielhafte Schluss, dass die „beste geoffenbarte oder positive Religion“ diejenige ist, welche „die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.“18 Zur weiteren Illustration der weitreichenden Rezeptionsgeschichte von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzan sei hier nur kurz noch vermerkt, dass das Buch des arabischen Autors schon sehr früh ins Hebräische übersetzt wurde und im Jahre 1349 mit einem 16 Vgl. Edward Fitzgerald: Salaman and Absal: An Allegory, transl. from the Persian of Jami, London: Moring 1904. 17 Vgl. Samar Attar: The Vital Roots of European Enlightenment: Ibn Tufayl’s Influence on Modern Western Thought, Lanham: Lexington Books 2007, xii; Abdeljelil und Frysak (Hrsgg.): Hayy Ibn Yaqdhan (Anm. 4), S. 141. 18 Gotthold Ephraim Lessing: Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion, Paragraph 11; zitiert nach Otto F. Best: „Noch einmal: Vernunft und Offenbarung. Überlegungen zu Lessings ,Berührung‘ mit der Tradition des mystischen Rationalismus“. In: Lessing Yearbook 12 (1980), S. 123-156, insbesondere S. 135-137. 269 Kommentar des Moses ben Joschua von Narbonne (Ende des 13 Jh.s – 1370) erschien. Die erste lateinische Übersetzung stammt aus dem Jahre 1671. Ein Jahr später folgten eine holländische und kurz darauf zwei englische Übersetzungen. Die ersten beiden deutschen Übersetzungen wurden 1726 und 1783 publiziert, gefolgt von weiteren Übertragungen u. a. ins Spanische und Russische. Der englische Schriftsteller Daniel Defoe (ca. 1660–1671) wurde sehr wahrscheinlich für seinen berühmten Abenteuerroman Robinson Crusoe durch Ibn Tufails „Ur-Robinson“ inspiriert; 19 (Daniel Defoe wurde übrigens durch seinen Inselroman zu einem der Begründer des Roman-Genres in England). 20 Es ist in diesem Zusammenhang aber auch auf das Dschungel-Buch des in Indien geborenen englischen Schriftstellers Rudyard Kiplings (18651936) aus dem Jahr 1894 hinzuweisen, in dem von dem Findelkind Mogli erzählt wird, das ohne Kontakt zu Menschen bei Tieren im indischen Dschungel aufwächst. Ebenso ist auf die Verbindung von Ibn Tufails Roman zum Dschungel-Helden Tarzan des amerikanischen Autors Rice Burroughs (1875-1959) aus dem Jahre 1912 hinzuweisen.21 19 Dieser in der Literaturwissenschaft weitverbreitete Auffassung wird von Malti-Douglas mit Bezug auf eine 1980 in Bagdad auf Arabisch erschienenen Monographie widersprochen; vgl. Fedwa Malti-Douglas, “Ḥayy ibn Yaqẓān as Male Utopia“. In: Lawrence I. Conrad (ed.): The World of Ibn Tufayl: Interdisciplinary Perspectives on Hayy Ibn Yaqzan, Leiden: Brill 1996, S. 52-113, insbesondere S. 53-54. 20 Siehe vor allem Max Novak: “Defoe as an innovator of fictional form”. In: John Richetti (ed.): The Cambridge Companion to the EighteenthCentury Novel, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 41-71, insbesondere S. 41; Michael Seidel: “Robinson Crusoe: Varieties of Fictional Experience”. In: John Richetti (ed.): The Cambridge Companion to Daniel Defoe, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 182-199, insbesondere S. 186; und Jacqueline Dutton: “‘Non-western’ utopian traditions”. In: Gregory Claeys (ed.): The Cambridge Companion to Utopian Literature, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 223-258, insbesondere S. 236. 21 Zur Rezeptionsgeschichte von Ibn Tufails Werk, siehe Goichon: “Hayy b. Yaḳzān” (Anm. 13), S. 330-334, sowie vor allem S. Attars wichtige Studie The Vital Roots of European Enlightenment (Anm. 17). 270 8 Schlussbemerkung Auf die Kraft und Wirkung der arabischen Sprache in vorislamischer Zeit und ihre Rolle im Koran, der Offenbarungsschrift der Muslime, wurde eingangs hingewiesen. Ibn Tufails Buch Hayy ibn Yaqzan ist ein eindrucksvoller Bildungsroman, der an diese Sprachgewalt anknüpft und sich durch eine hohe sprachliche Meisterschaft und einen kunstvollen Umgang mit dem literarischen und religiösen Erbe der Araber sowie darüber hinaus des Mittelmeerraumes auszeichnet. Ibn Tufails Buch verdeutlicht deshalb die besonders enge Verquickung von Literatur und Religion im Islam in anschaulicher Weise. Darüber hinaus lässt sich Folgendes feststellen: Erstens, mit Ibn Tufails Abhandlung aus dem 12. Jahrhundert liegt uns ein philosophisch-allegorisches Werk vor, das sich in ausdrucksstarken sprachlichen Bildern mit dem Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt und zu seinem Schöpfer im Allgemeinen sowie mit der Erkenntnisfähigkeit des Menschen im Spannungsfeld von Glaube und Vernunft im Besonderen beschäftigt. Zweitens, ein wichtiges Ziel des Romans ist es, einen verstandesorientierten Weg des Menschen zur Erkenntnis aufzuzeigen. Dieser rationale Weg des Lernens versteht sich ausdrücklich als Gegenstück und Alternative zu einem ausschließlich erfahrungs- bzw. traditionsbetonten Lernprozess. Für unseren Autor, Ibn Tufail, wurde der Mensch, wie es im Koran explizit heißt, von Gott mit dem Verstand ausgestattet. 22 Der Mensch ist somit nicht nur imstande, sondern im koranischen Sinne geradezu verpflichtet, Lernmittel und Lernmethoden wie Deduktion, Logik und schlüssige Beweisführung sowie Analyse und Experiment zur eigenen Vervollkommnung aktiv zu nutzen. Diesen Weg des Lernens befürwortet Ibn Tufail sowohl für profane Dinge als auch in religiöser Hinsicht. Damit weist Ibn Tufail auf den Umstand hin, dass im Islam für einen intelligenten Menschen das Bemühen um ein vertieftes Gottesverständnis sowie um menschliche Perfektion im Diesseits vor allem durch die umfassende und gezielte Nutzung seines intellektuellen 22 So zum Beispiel im Koran 2:164, 3:190 und 22:46. 271 Potentials nicht nur möglich, sondern sogar eine religiöse Pflicht ist. Es ist besonders bemerkenswert, dass für Ibn Tufail hierfür weder Propheten oder Offenbarungsschriften noch Religionen im herkömmlichen Sinne nötig sind; denn nicht die Dogmen, Rituale und Formalismen einer bestimmten Religion stehen im Mittelpunkt des Lebens, sondern der Mensch selbst und seine direkte Beziehung zum Schöpfer. Hayy findet daher zu Gott, ohne Jude, Christ oder Muslim zu sein oder zu werden. Drittens, Ibn Tufail kritisiert mit diesem Buch in deutlicher Weise die islamische Gesellschaft seiner Zeit. Er wendet sich gegen ein Islam-Verständnis, das die Religion auf bestimmte Doktrinen und gottesdienstliche Handlungen reduziert, wie dies die einflussreiche islamische Orthodoxie seiner Zeit vehement verlangte. Ibn Tufail widerspricht in dieser Hinsicht deutlich den Vertretern des orthodoxen Islams, insbesondere al-Ghazali, dem bis heute äußerst einflussreichen Theologen und Mystiker des 12. Jahrhunderts. Al-Ghazali hatte sich in mehreren Werken gegen die Philosophie in der aristotelischen Tradition ausgesprochen, diese für unvereinbar mit dem orthodoxen islamischen Glauben erklärt und als eine Gefahr für die muslimische Frömmigkeit bezeichnet. Al-Ghazali sah allein in der Mystik den Weg zum Heil und zur Glückseligkeit, die für ihn jedoch nur im Jenseits möglich ist. Im Unterschied zu al-Ghazali wirbt Ibn Tufail in nahezu humanistischer Weise für die Möglichkeit einer individualisierten, von konfessionellen Reglementierungen freien und direkten Beziehung des Menschen zu Gott, welche einen Glückszustand bereits in diesem Leben ermöglicht. Viertens, Ibn Tufail entwickelt in seinem Buch eine Synthese aus rationalen und mystischen Grundsätzen. Diesen alternativen philosophischen Entwurf untermauert er mit zahlreichen theologischen und literarischen Bezügen zu Mythen der Schöpfungsgeschichte sowie zu biblischen und koranischen Gleichnissen. Besonders interessant ist dabei, dass Ibn Tufail mit seinem großartigen literarischen Werk Hayy ibn Yaqzan einen Erziehungsroman vorlegte, in dem ein menschlicher Erzieher fehlt. Ibn Tufail unterstreicht dadurch nicht nur die Autonomie des menschlichen Intellekts, sondern bekennt (so wie andere klassische muslimische Gelehrte vor und nach ihm auch), dass für 272 ihn der erste und oberste Lehrer und Erzieher des Menschen einzig und allein Gott ist. 273 Rolf Elberfeld Buddhistische Betrachtungen aus der Stille − Yoshida Kenkōs Tsurezuregusa 1. Chinesische Wurzeln der japanischen Literatur Außer China hat keine Kultur eine über mehr als drei Jahrtausende währende ununterbrochene literarische Tradition vorzuweisen, und die literarische Überlieferung dieses Landes übertrifft alle anderen an Umfang und Formenreichtum. Die Bedeutung dieser Tradition gründet sich nicht nur auf dem Faktum, daß eine große Zahl ihrer Werke zur Weltliteratur gehört, sondern auch darin – und vielleicht ist das heute wichtiger denn je –, daß sie das Erbe und damit die Basis der kulturellen Identität und der geistigen Orientierung eines Drittels der Menschheit bildet. 1 Mit diesen Sätzen leitet Helwig Schmidt-Glintzer, Sinologe und Direktor der Ernst-August Bibliothek in Wolfenbüttel, sein Standardwerk zur Geschichte der chinesischen Literatur ein. Leider ist von dieser gewaltigen Tradition in Europa weder viel bekannt noch übersetzt. Daher ist es umso mehr zu begrüßen, wenn in dieser Ringvorlesung zwar nicht die chinesische, aber dafür zumindest die japanische Literatur, die sich in direkter Abhängigkeit von China seit dem 7. Jahrhundert n. u. Z. entwickelt hat, einen Platz bekommen hat. Als die Japaner begannen, zwischen dem 6. und 7. Jahrhundert die chinesische Schrift zu adaptieren, wurde zugleich eine zu dem Zeitpunkt in China bereits alte, aber sehr besondere Tradition des Schreibens übernommen, die bis auf den heutigen Tag gepflegt wird. Schreiben gehört zu den grundlegenden Kulturtechniken der Menschheit. Eine besondere Schreibkultur hat sich in China seit mehr als 2000 Jahren entwickelt, die dort – und später auch in Japan – nicht nur auf das Innerste mit dem Zustandekommen der chinesischen Künste verbunden ist, sondern auch mit der Entfaltung einer Gelehrtenkultur. Aus dem Gebrauch des Pinsels für das Schreiben ist zudem eine Tradition der Malerei mit eigenem Ge1 Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck 21999, S. 12. 274 präge hervorgegangen. Beide Künste waren zudem eng verbunden mit der Entfaltung der Dichtung, wobei häufig Gedichte als Schreibkunstwerke und Bilder als Malkunstwerke in einer Bildrolle vereint wurden. Voraussetzung für diese Entwicklung war jedoch die Erfindung und Verfeinerung des Pinsels in China. Die Entwicklung der chinesischen Schrift [und wohl auch der chinesischen Literatur, R.E.] ist nicht vorstellbar ohne Pinsel, Tusche, Reibstein und schließlich auch nicht ohne das Papier. Nicht nur um die Einführung dieser Schreibutensilien haben sich zahlreiche Legenden gebildet, sondern auch um deren handwerkliche Vervollkommnung. […] Ebenso wie im Falle des Schreibpinsels wird auch die Einführung der Tusche erst einem berühmten Kalligraphen und Tuschehersteller […] zugeschrieben. […] Das Schreiben galt nicht nur als eine der wichtigsten Fähigkeiten des Literaturbeamten, sondern des Kaisers selbst. Daher war und ist bis heute die Fertigkeit im Umgang mit Pinsel, Tusche und Papier ein Kennzeichen des Gebildeten schlechthin. […] Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß die Schreibutensilien des Gelehrten nicht nur zu höchster Verfeinerung entwickelt wurden, sondern sich eine Kennerschaft und Liebhaberei um das Schreibgerät herausbildete, wie sie sich in diesem Maße in keiner anderen der uns bekannten Kulturen finden. […] Die Handschrift war es, anhand derer jeder Gebildete die Fertigkeit jedes anderen beurteilen und etwa erkennen konnte, wie jemand den Tuschefluß auf weichem Papier zu kontrollieren imstande war. Entsprechend haben sich ästhetische Beurteilungskriterien nicht etwa zuerst an der Dichtung, sondern an der Musik und dann an der Kalligraphie herausgebildet, die alsbald freilich auch auf Malerei und Dichtung angewendet wurden. Die Kalligraphie wurde auf diese Weise zu einem Medium der Verständigung und der Selbstdarstellung.2 Dass somit das Schreiben selbst als eine der höchsten Künste in Ostasien gilt, ist für die Entwicklung der ostasiatischen Literatur bis in ihre Gattungen hinein von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Da der Geste und dem leiblichen Vollzug des Schreibens auch beim Verfassen von Literatur so viel Beachtung geschenkt wird, bleibt sie der Literatur selbst in keiner Weise äußerlich, sondern ist ihr selbst eingeschrieben. Bei manchen Gattungen, wie den verschiedenen Formen des Essays, fließt das Schreiben mit dem Pinsel unmittelbar in die Inhalte ein. Hierbei ist zu be2 Ebd., S. 84f. 275 achten, dass der Essay in China und Japan nicht eine literarische Nebenform bildet, sondern zur Hauptform des literarischen Ausdrucks insgesamt zählt: Neben dem klassischen Gedicht gehört der klassische Essay (sanwen) zu den Meisterleistungen der chinesischen Literatur. Beide Gattungen ergänzen einander als die Ausdrucksformen eines Gebildeten wie Yin und Yang.3 Ohne an dieser Stelle auf den Formenreichtum der chinesischen Literatur eingehen zu können, sollen nur kurz einige Bezeichnungen für den Essay im Chinesischen angegeben werden, die dann auch im Japanischen übernommen wurden. 4 Die klassische Bezeichnung sanwen 散文, die im heutigen Sprachgebrauch auch als Übersetzung für das Wort „Essay“ verwendet wird, meinte in alter Zeit manchmal einfach Prosa oder Essay oder einen Stil des Schreibens. 5 Versucht man die Bedeutung festzulegen, so ist man konfrontiert mit den verschiedenen Ordnungen des Wissens in China und Europa, die an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden können. Drei weitere Bezeichnungen sind aber für den vorliegenden Zusammenhang von noch größerer Bedeutung. Im 11. Jahrhundert kommt erstmals eine Bezeichnung auf für eine bereits seit dem 4. Jahrhundert zu differenzierende Literaturgattung, die später ein Oberbegriff werden wird für bestimmte essayistische Schriften. Das Wort biji 筆記 bedeutet Pinselaufzeichnungen und umfasst historische Kurzberichte, Anekdoten, philosophisch und philologische Glossen, literarische Skizzen usw. 6 Eine weitere Bezeichnung geht auf den großen Naturwissenschaftler und Literaten der Song-Zeit Shen Gua 沈括 (1031-1095) 3 Wolfgang Kubin (Hrsg.): Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 4. Marion Eggert, Wolfgang Kubin, Rolf Trauzettel, Thomas Zimmer: Die klassische chinesische Prosa. Essay, Reisebericht, Skizze, Brief. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit. München: K. G. Saur 2004, S. 3. 4 The Chinese Essay. Übersetzt und herausgegeben von David Pollard. London: Hurst & Company 2000. 5 Vgl. hierzu: Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 4 (Anm. 3). Dort versucht Wolfgang Kubin in seiner Einleitung zum klassischen Essay ein wenig Licht in die Unterschiede der Bezeichnung zu bringen. 6 Vgl. Rolf Trauzettel: Die klassische Skizze (biji). In: Kubin (Hrsg): Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 4 (Anm. 3), S. 206. 276 zurück. Die zwei chinesischen Zeichen bitan 筆談bedeuten Pinselunterhaltungen. Shen Gua schreibt: Abgeschieden von der Außenwelt und mich der Freundesgespräche erinnernd‚ war mir, als unterhielte ich mich wieder mit ihnen […]. Weil meine Gesprächspartner nur der Pinsel und der Tuschstein waren, nannte ich dies Pinselunterhaltungen (bitan). 7 Die Bezeichnung suibi 随筆geht auf Hong Mai (1123-1202)8 zurück und bedeutet „dem Pinsel folgen“9. Die Bezeichnungen wurden alle auch in Japan rezipiert, wobei sich vor allem die letzte Bezeichnung in der japanischen Lesung zuihitsu ab dem 17. Jahrhundert durchsetzte. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert galt das Tsurezuregusa von Yoshida Kenkō als Musterbeispiel der literarischen Form des zuihitsu. Bevor die japanische Literatur ausführlicher zu Worte kommen soll, muss noch an einen geschichtlichen Prozess erinnert werden, der für die Literatur Chinas wie auch für die Literatur Japans von großer Bedeutung gewesen ist. Seit dem 1. Jahrhundert n. u. Z. wurde der Buddhismus über einen Jahrhunderte dauernden Prozess von Indien nach China übertragen. Dieser wanderte von dort aus nach Korea und Japan, wo er ab dem 7. Jahrhundert n. u. Z. zusammen mit anderen Gebieten der chinesischen Kultur eine neue Heimat fand. Während der Buddhismus in China ab dem 9. Jahrhundert zugunsten des Konfuzianismus zurückgedrängt wurde, entfaltet er in Japan seine Wirkung auch in der Literatur bis heute. 2. Zwei frühe Beispiele der zuihitsu-Literatur in Japan Zumindest zwei Werke der japanischen Literatur müssen vor den Ausführungen zu Yoshida Kenkō Erwähnung finden, die spätestens ab dem 17. Jahrhundert in Japan als Musterbeispiele für zui7 Ebd., S. 240. Vgl. Kubin (Hrsg.): Geschichte der chinesischen Literatur (Anm. 3), Bd. 9: Marc Herrmann, Weiping Huang, Henriette Pleiger, Thomas Zimmer: Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller, S. 96. 9 Linda H. Chance: Formless in Form. Kenkō, Tsurezuregusa, and the Rethoric of Japanese Fragmentary Prose. Stanford: Stanford University Press 1997, S. 47. 277 8 hitsu-Literatur gelten. Das erste Werk stammt von der japanischen Hofdame Sei Shōnagon (清少納言), die ungefähr von 966 bis in das Jahr 1025 in Kyōto lebte. Das Kopfkissenbuch (jap. 枕 草子, Makura no sōshi) von Sei Shōnagon ist eines der frühesten und zugleich bedeutendsten literarischen Essaywerke der japanischen Literatur. Es entstand um das Jahr 1000 n. u. Z. und gehört zur Heian-Periode, in der Kyōto die Hauptstadt Japans war und sich eine Kultur höchster ästhetischer Verfeinerung entwickelt hatte. Am Ende ihres Buches beschreibt sie, wann und wie die Aufzeichnungen zustanden kamen und in welcher Stimmungslage sie entstanden: In diesem Skizzenbuch habe ich während meiner Mußestunden im Palast, wenn ich gelangweilt in meinem Zimmer saß (tsurezure naru satoi), alles niedergeschrieben, was ich mit eigenen Augen gesehen und in meinem Herzen gedacht habe. […] Sehr oft schrieb ich alles einfach nieder, ohne genauer zu überlegen, folgte ich den Sachen, wie sie ohne besondere Absicht aufstiegen. So habe ich denn im großen und ganzen über all das berichtet, was mir in der Welt seltsam vorkam; ich habe auch auf die Schwächen der Menschen hingewiesen und von Gedichten, Bäumen, Gräsern, Vögeln und Insekten gesprochen.10 Das zweite hier zu erwähnende Werk stammt von dem buddhistischen Mönch Kamo no Chōmei (鴨長明, 1153/1155–1216) und trägt den Titel Hōjōki (jap. 方丈記), zu Deutsch Aufzeichnungen aus meiner Hütte. Während das Makura no sōshi – das Kopfkissenbuch – von Sei Shōnagon nicht in besonderer Weise von buddhistischen Gehalten bestimmt wird, ist im Hōjōki von Anfang an die grundsätzliche buddhistisch erfahrene Vergänglichkeit der Welt und das damit zusammenhängende Leiden das zentrale Thema: Unaufhörlich strömt der Fluß dahin, gleichwohl ist sein Wasser nie dasselbe. Schaumblasen tanzen an seichten Stellen, vergehen und bilden sich wieder – von großer Dauer sind sie allemal nicht. Gleichermaßen verhält es sich mit den Menschen und ihren Behausungen. […] Wer vermag zu erklären, wofür der Mensch sich so plagt, eine Behau10 Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon. Aus dem Japanischen übersetzt und herausgegeben von Mamoru Watanabe. Zürich: Manesse 1996, S. 297 f. 278 sung zu schaffen, wenn sie doch letztlich vergänglich ist, und wie diese ihm solch eine Beglückung sein kann? Dabei scheint es, als ob Herr und Haus darüber stritten, wer von beiden denn wohl zuerst vergehe – sie sind wahrlich keinen Deut verschieden vom morgendlichen Tau auf den Blüten der Ackerwinde. Der Tau mag herabfallen und die Blüten fortbestehen, jedoch nur, um in der Morgensonne zu welken. Oder der Tautropfen mag sich auf der vergehenden Blüte halten, gleichwohl wird er den Abend nicht erreichen.11 Diese Eingangssätze des Hōjōki sind in Japan über alle Maßen bekannt, da sie jeder Schüler in der Schule auswendig zu lernen hat. Kamo no Chōmei beschreibt in seinem Buch verschiedene Naturkatastrophen, wodurch deutlich wird, dass diese nicht erst seit jüngerer Zeit die japanische Kultur prägen und in Atem halten. 3. Yoshida Kenkōs Tsurezuregusa Yoshida Kenkō (吉田兼好), dessen Name als Beamter am kaiserlichen Hof in Kyōto Urabe-no Kaneyoshi 卜部 兼好 war, wurde um 1283 vermutlich in Kyōto geboren und starb um das Jahr 1350; er war damit Zeitgenosse von Dante. Um das Jahr 1313 soll er das Leben am kaiserlichen Hof aufgegeben haben, um buddhistischer Mönch zu werden. Sein Werk Tsurezuregusa 徒然草 ist vermutlich zwischen 1330 und 1332 verfasst worden. Dieses Werk ist ebenso berühmt wie die beiden zuvor genannten. Es legt vielleicht noch mehr als die beiden zuvor erwähnten eine Nähe und Verwandtschaft zur Kultur des Essays in Europa nahe. Liest man die Gedankensplitter und Skizzen, die Augenblickseinfälle, die Erinnerungen, Erfahrungen, Ideen, merkwürdigen Begebenheiten oder witzigen und humorvollen Erlebnisse, die Kenko unter Verzicht auf jede systematische Durcharbeitung in einem zumindest scheinbar zufälligen Nebeneinander und zumindest scheinbar spontan notiert hat, dann wird man nicht selten auf verblüffende Weise an Michel de Montaigne, an seine moralphilosophischen Überlegungen und Betrachtungen, eben an seine ‚Essais‘ erinnert. Und man ist erstaunt, wie nahe sich Kenko und Montaigne doch sind, obwohl Jahrhunderte und geistige Welten sie trennen. Der eine ist der hochgebildete, oft der Vergangenheit nachtrauernde Einsiedler, der die Gedankenwelt AsiKamo no Chōmei: Aufzeichnungen aus meiner Hütte. Aus dem Japanischen von Nicola Liscutin. Frankfurt/Main: Insel 1997, S. 7f. 279 11 ens verkörpert, der andere der Gelehrte, ebenso hochgebildet, aber in seinem Geist ein Produkt der mittelmeerischen Kultur.12 Bisher ist nur eine größere Studie in einer europäischen Sprache erschienen, die dieser Nähe und Verwandtschaft nachgegangen ist. 13 Es würde sich sicher lohnen, diesen Zusammenhang genauer zu betrachten, was an dieser Stelle jedoch nicht geschehen kann. Yoshida Kenkō steht mit seinem Werk explizit in der Tradition von Sei Shōnagon und Kamo no Chōmei. Dies wird an einer Stelle besonders deutlich, an der er über Malven-Blüten spricht und zwei Stellen in Erinnerung ruft, die bei den Genannten zu finden sind: Und in den Kopfkissenheften [von Sei Shōnagon] steht zu lesen: ‚Was Sehnsucht nach Vergangenem weckt – dahingewelkte Malven‘, ein Gedanke, der mich tief berührt. Auch Kamo no Chōmei schrieb in den Geschichten aus den vier Jahreszeiten: ‚Geblieben sind am Vorhang noch die Malven.‘ 14 Die Verbundenheit mit Sei Shōnagon und Kamo no Chōmei ist jedoch durchaus verschieden. Verbinden ihn aus seiner ersten Lebensphase mit Sei Shōnagon die Erfahrungen am kaiserlichen Hof in Kyōto, so teilt er mit Kamo no Chōmei aus einer anderen Lebensphase die Existenz als buddhistischer Mönch. In seinem Werk fließen somit die verfeinerte Ästhetik höfischen Lebens seit der Heian-Zeit und die buddhistische Erfahrung der Vergänglichkeit zusammen und bilden ein Neues, das letztlich auch wegweisend ist für die Entwicklung zen-buddhistischer Künste, die kurze Zeit nach Kenkōs Tod z. B. mit der Entwicklung des Nō-Theaters bei Zeami beginnt, der von 1363-1443 in Japan lebte. Das Werk erhielt seinen Titel Tsurezuregusa aus der ersten Wendung des Textes, die tsurezure naru mama ni lautet. Auch Kenkō: Draußen in der Stille. Klassische Erzählungen, Anekdoten und Aphorismen. Aus dem Japanischen von Jürgen Berndt. Berlin: edition q 1993, Nachwort des Übersetzers, S. 269. 13 Naoko Fuwa Thornton: The birth of the essay: a comparative study of Michel de Montaigne and Yoshida Kenkō. Indiana: Indiana University Press 1973. 14 Kenkō: Draußen in der Stille (Anm. 12), S. 166. 280 12 diese Passage ist jedem japanischen Schüler durch Auswendiglernen bekannt. Sie gehört zu den berühmtesten der japanischen Literaturgeschichte überhaupt. Auf Japanisch lautet sie wie folgt: つれづれなるまゝに、日くらし、硯にむかひて、心に移りゆ くよし なし事を、そこはかとなく書きつくれば、あやしうこそもの ぐるほしけ れ。 Eine deutsche Übersetzung lautet: Müßig, einsam und verlassen all seine Tage vor dem Tuschstein zu hocken und nichts Besseres zu wissen, als ganz nach Lust und Laune aufzuschreiben, was einem gerade durch den Kopf geht, das ist schon ein seltsames Gefühl.15 Von der Gestimmtheit des tsurezure war auch schon der Gebrauch des Pinsels bei Sei Shōnagon getragen, wie das weiter oben angeführte Zitat aus ihrem eigenen Nachwort belegt. Diese Gestimmtheit wird gewöhnlich mit „sich langweilen“ übersetzt, was aber nicht alle Bedeutungsebenen wiederzugeben vermag. Geht man von den beiden chinesischen Zeichen aus, mit denen die Wendung tsurezure wiedergegeben wird, so bedeutet das erste Zeichen „leer, vergebens, nur“ und das zweite Zeichen „so, so sein wie, ja, -artig“. Man könnte übersetzen: „einfach nur so, ohne jede Absicht, obwohl klar ist, dass es vergeblich ist“. Die Wendung umfasst in sich das Gefühl der sanft-traurigen Vergeblichkeit, die aber nicht zur Depression führt, sondern zur entspannten Absichtslosigkeit, in der die Vergeblichkeit selbst aufgehoben ist. Je klarer wird, dass alles auf der Welt vergänglich ist, umso mehr kann eine Haltung entstehen, die die Stärke dieser sanft-traurigen Vergeblichkeit und Vergänglichkeit in sich entfaltet. Schon mit dem ersten Wort des Textes kommt die buddhistische Einsicht in die Vergänglichkeit ins Spiel. Diese wird aber sogleich in einen ästhetischen Umgang mit der Vergänglichkeit transformiert, so dass das Schreiben selbst zur Einübung in die Vergänglichkeit des Lebens wird. Schreiben selbst wird zur buddhistischen Übung in der Form des „einfach nur so“ (tsurezure). Im Folgenden werde ich kleine Textstellen aus dem Tsurezuregusa vorstellen, die jeweils mit einem bestimmten Grundmo15 Ebd., S. 6. 281 tiv des Textes verbunden sind. Dabei habe ich mich entschieden, mehr Text von Kenko selbst vorzustellen und dafür meine Erläuterungen kürzer zu halten. Ich beginne mit dem Motiv der „Vergänglichkeit“. Vergänglichkeit Wie sich von Tag zu Tag die tiefen und die seichten Stellen im Bett des Asuka-Flusses' ändern, so ist in dieser Welt nichts von Bestand. Die Zeiten wandeln sich. Menschenwerk vergeht. Es lösen Freud und Leid einander ab. Wo einmal reges Treiben herrschte, gähnt heute menschenleere Öde. Ein Haus mag bleiben, doch es wechseln die Bewohner. Die Pfirsich und die Aprikosenbäume blühen dort im Garten noch wie einst, doch sie haben keine Sprache. Drum ist da niemand, der mir von dem, was ehemals gewesen, reden könnte. Um wieviel mehr erst wird mir die Vergänglichkeit bewußt, betrachte ich die Reste eines Bauwerks, in dem in nie geschauten fernen Tagen ein Mann von Würde lebte.16 Sobald ich still in Nachdenken versinke, fühle ich mich der Sehnsucht nach allem, was einst gewesen, hilflos ausgeliefert. Die anderen schlafen längst, doch ich vertreibe mir die lange Nacht damit zu ordnen, was sich um mich angesammelt. Wenn ich Papiere mit Geschreibsel, das nicht des Aufbewahrens lohnt, zerreiße und dazwischen Blätter finde, die vor langer Zeit ein nun schon toter Freund beschrieben, und Bilder, die er zum Spaß gemalt, glaube ich in jene Tage mich zurückversetzt. Auch mancher Brief von Freunden, die am Leben, rührt mich an - und liegt es noch so weit zurück, ich versuche dann mich zu erinnern, zu welcher Zeit in welchem Jahr es war, da ich ihn erhielt. Wie schmerzlich ist mir der Gedanke, daß all die Dinge, die jemand ständig um sich hatte, ihn unbekümmert überdauern, als wäre nichts geschehen.17 Alles vergeht. Das einzig Verlässliche ist die Vergänglichkeit selbst. Immer wieder ist dies ein Motiv in seinen Besinnungen auf die alte Zeit, die Dinge im Alltag, nahestehende Menschen, die Veränderungen in der Natur. Seine Gedanken dazu sind zwar von Melancholie und Sehnsucht getragen, aber der Autor versucht sich weder dagegen aufzulehnen noch nimmt er diese Tatsache einfach fatalistisch hin. Er schreibt sich selbst hinein in seine ei16 Ebd., S. 44. Ebd., S. 49. 282 17 gene Vergänglichkeit, so dass diese zu einem ästhetischen Grundmotiv seines Lebens und Schreibens werden kann. Die folgende Stelle bringt dies auf den Punkt: Weilten wir für alle Zeit auf Erden hier und vergingen nicht wie der Tau auf der Adashi-Heide und der Rauch auf dem Toribe-Berg, alles wäre ohne Reiz. Daß das Menschenleben voller Unbestand, gerade das macht es so wunderbar. Schaut euch die Geschöpfe an, keines lebt so lange wie der Mensch. Die Eintagsfliege stirbt, sobald der Abend dämmert. Die Sommerzikade weiß von keinem Frühling und von keinem Herbst. Allein ein ganzes Jahr, kostet man es aus, ist eine lange Zeit. Doch wer da meint, er möchte ewig leben, dem erscheinen selbst tausend Jahre noch flüchtig wie der Traum einer einzigen Nacht. 18 Erst wenn der Einzelne sich ganz verbunden hat mit seiner Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, kann die Kraft des Lebens sich so entfalten, dass sie nicht mehr gegen den eigenen Tod sich richtet, sondern diesen zu einem Quell des Lebens selbst macht. Vor allem die verdrängte Vergänglichkeit ist hinterlistig und lässt den Menschen im Innersten leiden und unbefriedigt sein Leben fristen. Schönheit des Unvollendeten Dass die Schönheit nicht mit Ewigkeit und symmetrischer Harmonie – wie dies lange Zeit in der europäischen Tradition der Fall war – verbunden wird, sondern mit der Vergänglichkeit und damit auch mit etwas Unvollendetem, ist ein besonderes Kennzeichen der Hauptströmung japanischer Ästhetik seit fast 1000 Jahren. Dieses Empfinden äußert sich in vielen kleinen Details, wo eine Asymmetrie, das Zerbrochene oder das Gealterte den eigentlichen ästhetischen Wert einer Sache ausmacht. So gehören zu den wertvollsten Teeschalen in Japan, die in manchen Fällen bereits über 300 Jahre alt sind, die liebevoll reparierten Bruchstellen in besonderer Weise hinzu. Man versucht diese nicht zu tuschieren, sondern sie gehören zum Leben der Teeschale selbst, die genau an der Bruchstelle ihre Vergänglichkeit zeigt und in sich aufnimmt. Man hört so manches Mal, es sähe häßlich aus, wenn in einer Bücherreihe äußerlich nicht jedes Buch dem anderen gleiche. Was der Pries18 Ebd., S. 14. 283 ter Kōyū dazu meinte, bewundere ich genauso, er sagte nämlich: ‚Vollständigkeit bei allem erstrebt nur der Gewöhnliche. Unvollendetes ist schön.‘ ‚Was immer es auch sei, es bis ins Letzte zu vollenden, das ist schlecht. Was nicht abgeschlossen ist, bewegt, weil es das Gefühl vermittelt, daß Raum für weiteres Wachsen noch vorhanden ist. Wird für den Herrscher ein Palast errichtet, läßt man an einer Stelle immer etwas unvollendet‘, so sagte jemand. Selbst in den Schriften weiser Männer längst vergangener Zeiten fehlt mit Absicht mancher Abschnitt; er wurde nie geschrieben.19 Wo die Vergänglichkeit zum Grundmotiv des Lebens wird, kann sich eine Ästhetik des Unvollendeten ausbilden. Man könnte sagten, es zählt die Andeutung immer mehr als die voll entfaltete Phantasie oder das voll entfaltete Gedicht oder Bild. Es sind die Andeutungen und das Unvollendete, die Platz lassen für neue Anschlüsse und Spielräume. Wohnen Eine weitere Besonderheit der japanischen Ästhetik ist, dass sie von Anfang an mit dem alltäglichen Leben verbunden war. Es sind häufig nicht die großen Kunstwerke, sondern die kleinen Dinge im Alltag, die den besonderen ästhetischen Reiz ausmachen. So hat sich bereits seit der Heian-Zeit ausgehend von den kaiserlichen Palästen eine Wohnkultur entwickelt, die von naturverbundener Feinheit und sinnlichen Resonanzen getragen wird. In den verfeinerten japanischen Häusern finden sich Orte für die Betrachtung des Mondes ebenso wie kleine Nischen, in denen Schreibkunstwerke und kleine Blumengestecke bewundert werden können. Ein kleiner Garten gehört ebenso dazu wie das Moos, das über Jahre hinweg auf Teilen des Daches gewachsen ist. Kenkō beschreibt die Wohnung eines Gebildeten wie folgt: An einem Ort, wo ein Mann von Bildung und Geschmack in aller Stille lebt, will mir sogar des Mondes Schimmer schöner noch als anderswo erscheinen. Nicht die Pracht der neuesten Mode rührt mich an. Genuß bereiten mir vielmehr Gehölze, die schon älter sind, ein Garten, dem nicht ständig Pflege angedeiht, ein Altan, offen, aber überdacht, und davor in einem wohlgewählten Abstand ein Zaun aus Bambusste- 19 Ebd., S. 102. 284 cken sowie im Hause ein paar kleine Dinge, die wie achtlos in den Räumen liegen als Zeichen der Beschaulichkeit. 20 Jahreszeiten Die japanische Kultur und Ästhetik ist von Anfang an mit der Wahrnehmung der jahreszeitlichen Veränderungen verbunden. In den klassischen Gedichten kann nie der Bezug zur gerade herrschenden Jahreszeit fehlen. Durch diesen Bezug sind die Gedichte immer eingebunden in den zeitlichen Verlauf des Jahres und sind somit Ausdruck einer bestimmten Jahreszeit. Jede Jahreszeit hat ihre besonderen Blumen, Düfte, Klänge, Lichterscheinungen, Geschmäcker, tastsinnliche Empfindungen, Wärme- und Kälteempfindungen. Indem die Dichtung und andere Künste die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen sinnlichen Ebenen richten, wird jede Jahreszeit zu einem bewegten und bewegenden sinnlichen Resonanzraum, in dem der Mensch sich selbst als ein Wesen der Natur erfährt. Auch die kleinste Bewegung in den jahreszeitlichen Wandlungen ist wert, beachtet und sinnlich aufgenommen zu werden. Noch heute wird während der Kirschblüte ab Mitte März an jedem Abend für mindestens drei Wochen in den Hauptnachrichten darüber berichtet, in welchem Teil des Landes sie gerade begonnen hat. Jeder Wandel der Natur im Wechsel der vier Jahreszeiten hat seinen eigenen Reiz. Am stimmungsvollsten sei der Herbst, heißt es; darin sind sich alle einig, wie es scheint. Trotzdem glaube ich, der Frühling bezaubert uns viel mehr. Der Vögel Sang verkündet uns sein Nahen, und wenn im milden Sonnenlicht die Gräser unten an den Zäunen sprießen, ist er dicht herangerückt; Nebeldünste wallen; und hat die Kirsche kaum begonnen, ihre Blüten zu entfalten, zerzausen Wind und Regen sie auch schon zu unserem Leid. Bis dann die Blätter grünen, stimmen uns die kahlen Bäume traurig. Allbekannt ist, daß die Mandarinenblüte Erinnerungen weckt, doch um wieviel mehr noch verführt der Pflaumenblüte Duft uns, Vergangenem zu gedenken. Es gibt so vieles, an dem wir nicht achtlos vorübergehen können, sei es des Goldröschens bescheidenes Blühen oder der Glyzinie zerbrechliche Pracht.21 20 21 Ebd., S. 19. Ebd., S. 32. 285 Mond Die Wahrnehmung des Mondes spielt in der japanischen Kultur eine besondere Rolle. Sein besonderes Licht wird seit alters geschätzt und in seiner Verschiedenheit wahrgenommen. Er kann klar, rund und hell am dunklen Nachthimmel stehen, er kann aber auch durch den nächtlichen Dunst schimmern und die Dinge in ein glänzendes Dunkel hüllen. Immer ist es ein Spiel von Licht und Dunkelheit, von Licht und Schatten. Das Mondlicht bietet von diesem Ineinanderspiel unendliche Schattierungen. Das Licht des Mondes ist subtil und bringt nie alles vollständig in den Blick. Es lässt vieles im Verborgenen, das nur zart im Schatten geahnt werden kann. 22 Bewundert man blühende Kirschen einzig in ihrer vollen Pracht, den Mond nur dann, wenn keine Wolke ihn verdeckt? […] Wieviel enthüllt unserm Auge doch ein Zweig, dessen Knospen sich eben erst öffnen, oder ein Garten, der von abgefallenen Blütenblättern übersät ist. […] Tiefer noch als das tausend Meilen strahlende Licht des klaren Vollmonds ergreift unser Herz der Mond, der, lang schon erwartet, kurz vor dem Morgengrauen endlich durch die Wolken bricht. Gibt es Stimmungsvolleres als Mondesleuchten, das in tiefer Waldeseinsamkeit grünlich zwischen den Zedernzweigen schimmert, oder den Mond, der sich plötzlich für eine kleine Weile hinter einer Wolkenbank verbirgt? 23 Briefkultur Die traditionelle Weise, in Japan einen Brief zu beginnen, ist der direkte Bezug auf die sinnlich wahrgenommenen jahreszeitlichen Erscheinungen. Ein Brief kann damit beginnen, dass die sommerliche Hitze erwähnt wird und das laute Zirpen der Zikaden. Es kann aber auch die erste Färbung des Laubes Erwähnung finden zusammen mit dem ersten Hauch von Kälte, der sich morgens in den Häusern ausbreitet. Diese Tradition ist in Japan so tief verwurzelt, dass auch in der elektronischen Kommunikation durch E-Mail häufig zunächst ein Bezug zur Jahreszeit und zur allgemeinen Befindlichkeit hergestellt wird. Mit diesem Bezug zur 22 Vgl. hierzu: Tanizaki Jun’ichiro: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik. Aus dem Japanischen von Eduard Klopfenstein, 3. Auflage. Zürich: Manesse 1988. 23 Kenkō: Draußen in der Stille (Anm. 12), S. 160. 286 konkreten jahreszeitlichen Befindlichkeit bekommt die nachfolgende Nachricht oder der Brief eine sinnliche Situation, aus der er geschrieben ist. Philosophisch gesehen zeigt sich hier ein tiefes Wissen um die jeweilige Situiertheit menschlicher Handlungen. Denn in all unserem Tun sind wir immer angebunden an die konkrete Stimmung und Situation. Wer dies nicht wahrnimmt und sich darauf bezieht, gilt als ungebildet. An einem Morgen, als wunderschöner Schnee gefallen war, schrieb ich jemandem, dem ich etwas mitzuteilen hatte, einen Brief, erwähnte aber nicht den Schnee. Die Antwort, die mir darauf wurde, fand ich köstlich: ‚Wie könnte ich zur Kenntnis nehmen, was mir ein derart grober Klotz zu sagen hat, denn anders kann ich den nicht nennen, der es versäumt, mich mit der Frage zu begrüßen: Sahst Du den Schnee am Morgen glitzern? Daß du so wenig Herz besitzt, enttäuscht mich sehr.‘ Der Verfasser dieses Briefes lebt nicht mehr, doch ich erinnere selbst noch diese Kleinigkeit.24 Abgeschiedenheit Kenkō ist Buddhist und steht damit in einer alten Tradition der Einsamkeitspflege. Sein Ideal vom Leben ist nicht, sich im Treiben in der Welt zu verlieren, sondern seinen Bezug zu sich selbst, den anderen Menschen und zur Natur zu vertiefen und in sinnliche Resonanzen zu bringen. Er hält nichts von großen Reden, sondern sucht das Gespräch mit Menschen, die längst verstorben sind, aber durch ihre Bücher ein reiches Leben in ihm entfalten. Aus der Ruhe und Abgeschiedenheit steigt so die Beziehung zu sich selbst, den anderen Menschen und der Natur immer wieder neu auf, ohne an besondere Erwartungen gebunden zu sein. Was geht in einem Menschen vor, der Mußestunden nicht erträgt? Höchstes Glück für mich ist, ganz allein zu sein und mein Herz an nichts zu hängen. Folgt man dem Treiben in der Welt, wird man versucht und allzuleicht verführt. Und pflegt man Umgang mit den Menschen, so redet man, wie es der andere gerne hört, und sei es auch das Gegenteil von dem, was man tatsächlich meint. Bald scherzt man miteinander, bald streitet man, mal ist man ärgerlich, mal freut man sich. […] Auch wenn ein Mensch den wahren Weg noch nicht gefunden hat, kann er sich des Lebens freuen, sofern er nur aus allen Bindungen sich 24 Ebd., S. 52. 287 löst, Abgeschiedenheit sich sucht und fern von allem Treiben seinem Herzen Ruhe gönnt. 25 Nichts spendet größeren Trost, als allein im Lampenschein vor den Büchern zu sitzen und mit Menschen längst entschwundener Zeiten Freundschaft zu schließen. 26 Wahre Bildung und Selbstkenntnis Einem alten Ideal in Ostasien zufolge, stellt der Wissende sein Wissen nicht prunkvoll zur Schau. Wissende sind vielmehr an ihrer Zurückhaltung zu erkennen, da sie immer auch zutiefst ihre eigene Unvollkommenheit gewahren. Denn kein Wissen kann vollkommen sein. So ist der Gestus des Wissens nie vorpreschend, sondern bedächtig und insistierend. Er ist verbunden mit Übungen z.B. der Schreibkunst, die den Schreibenden durch das Schreiben mit dem Wissen der Texte in Verbindung bringt. Es ist eine Form des inkorporierten Wissens, das sich in langer Übung in den Leib eingeschrieben hat. In diesem Übungsprozess lernt man nicht nur andere kennen, sondern auch sich selbst, was für ein nachhaltiges Wissen unabdingbar ist. Wahre Bildung zeichnet sich durch diese verschiedenen Momente aus und ist nicht auf die Schnelle zu haben. Bildung braucht Zeit, da sie auch in die Tiefenschichten der leiblichen Existenz hinein zu sickern hat. Man sollte nie so tun, als sei man tief in etwas eingedrungen. Ein Mann von wahrer Bildung spricht selbst von dem, was ihm vertraut ist, nicht mit Kennermiene. Nur wer die finsterste Provinz soeben erst verlassen hat, weiß auf jedes eine Antwort, als gäb‘ es nichts, wovon er keine Ahnung hätt‘. Mag manches an ihm auch Bewunderung verdienen, so macht die hohe Meinung, die er von sich selber hat, ihn nicht gerade angenehm. Vornehm ist indessen, stets mit viel Bedacht ausschließlich über das zu reden, was man gründlich kennt, und zwar auch dann nur, wurde man danach gefragt. 27 Für die Bildung eines Menschen ist zuerst vonnöten, daß er aus den alten Schriften der Chinesen sich zu eigen macht, was die Weisen lehrten. Das nächste wäre dann die Schönschrift, selbst wenn man sie nicht gleich als Kunst betreiben will, sollte man sie doch erlernen, weil das Üben mit den Zeichen einem auch die Texte näherbringt. 28 25 Ebd., S. 97. Ebd., S. 23. 27 Ebd., S. 99. 28 Ebd., S. 144. 288 26 Selbst Leute, die einem nicht gerad unklug dünken, sind mit einem Urteil über andere oft sehr schnell zur Hand, kennen sich selber aber wohl am wenigsten. Wer sich jedoch nicht selber kennt, kann auch andere nicht begreifen. Alles andere wäre wider die Vernunft. Nur wer sich selber kennt, verdient es, klug genannt zu werden. 29 In Resonanz mit den Dingen Eine besondere Form der Bildung ist der Umgang mit den Dingen des Alltags. Je mehr wir in sinnlicher Resonanz mit diesen stehen, umso mehr verbinden wir uns mit der jeweiligen Situation des eigenen Lebens. Erst im Umgang und in der Begegnung zeigt sich dann, was sich aus der Situation ergeben kann. Um diese besondere Weise der Handlung auszudrücken, kommt im ersten Satz des folgenden Zitats eine grammatische Form zum Einsatz, die eine bestimmte Weise des Handelns zum Ausdruck bringt. Gewöhnlich unterscheiden wir in der deutschen Sprache zwischen aktiven und passiven Handlungen: „Ich küsse“ oder „ich werde geküsst“. Im Japanischen wird – ähnlich wie im Altgriechischen – eine weitere Aktionsform unterschieden, die den Namen „Medium“ trägt. Nach den Erklärungen der japanischen Grammatik werden, vereinfacht gesagt, damit Handlungsformen zum Ausdruck gebracht, in denen eine Handlung oder ein Vollzug wie von selbst geschieht, ohne dass ein klar bestimmtes Subjekt diese Handlung willentlich ausgeführt hätte. Es handelt sich somit um Handlungen, in denen wir uns in höchster Aufmerksamkeit einlassen auf einen Vollzug, der aber nicht vom Einzelnen gesteuert wird, sondern der wie von selbst geschieht und sich von innen her entfaltet. Auf Deutsch könnte man sagen, nicht ich handele, sondern es handelt durch mich hindurch. Erst wenn ich so in die Situationen des Lebens hineinfinde, kann ich eingehen in die sinnlichen Resonanzen mit mir selbst, anderen Menschen und der Natur. Greifst du zum Pinsel, überkommt dich Lust zum Schreiben, nimmst du ein Instrument zur Hand,' möchtest du musizieren. Der Becher weckt Verlangen nach Wein, und einem Spielchen wärest du nicht abgeneigt, sobald du zwischen deinen Fingern Würfel spürst. Die Dinge also stacheln unsere Sinne an.30 29 30 Ebd., S. 155 f. Ebd., S. 185. 289 Erwartungslosigkeit Geht man auf die beschriebene Weise ein in die Vollzüge des eigenen Lebens, so treten die ichbezogenen Erwartungen immer mehr zurück. In aufmerksamer Erwartungslosigkeit geht man behutsam den Impulsen nach, die wichtig erscheinen, und hängt nicht an den Erwartungen und Planungen, die man sich zurechtgelegt hat. Dies ist sicher kein leichtes Leben, da es in jeder Tätigkeit eine sinnlich-resonierende Aufmerksamkeit erfordert, die sich mit den Erfordernissen der jeweiligen Situation verbindet. Wird das Kind krank, so müssen alle anderen Pläne zurückstehen, ist ein Mensch in Not, so sind die Erwartungen an ihn zu modifizieren. Es kann den Anschein haben, als ob hier Willkür herrschen würde, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Handlungen sind immer konkret und werden nicht von einer abstrakten Erwartung getragen. Alltäglich in konkreter sinnlicher Resonanz zu leben und aufmerksam die Vollzüge des Alltags zu gestalten kann nur das Ergebnis eines langen Übungsweges sein, der als Weg nie zu Ende ist. Hier zeigt sich Kenkōs Ideal des Lebens, das sich aus höfisch-ästhetischer und buddhistischer Lebenshaltung gebildet hat. Du hattest dir für heute etwas Bestimmtes vorgenommen, doch dann kommt Dringliches dazwischen, und du verbringst den ganzen Tag damit; ein Gast, den du erwartest, ist verhindert, es kommt statt dessen jemand, den du nicht gebeten hast; auf was du bautest, erwies sich als ein Fehlschlag, und was du nicht einmal zu hoffen wagtest, das gelingt. Was dir beschwerlich schien, machte dir dann keine Mühe; von dem du glaubtest, es sei leicht zu schaffen, wurde Anlaß dir zu manchem Kummer. Ein Tag verläuft stets anders als gedacht. Genauso ist es mit dem Jahr und mit dem Leben auch. Meint man jedoch, es komme immer anders als gedacht, so irrt man wiederum, was alles nur noch ungewisser macht. Das einzige Gewisse ist in der Tat das Ungewisse. 31 Zahllos sind die Dinge, die, wenn sie an etwas haften, das, woran sie haften, schwächen und zerstören: Am Körper sind’s die Läuse und im Haus die Mäuse; im Staate sind‘s die Räuber, beim kleinen Mann die Schätze, beim Edlen die Gerechtigkeit und beim Priester wohl die Lehre.32 31 Ebd., S. 215. Ebd., S. 117. 290 32 Leerwerden Buddhistisch gesehen ist alles und jedes in sich leer. Diese Leerheit wird jedoch überdeckt durch Begierden, Wünsche und Anhaftungen. Der buddhistische Übungsweg des Leerwerdens in der Version von Kenkō als buddhistischem Mönch ist ein Weg zurück zu den ursprünglich sinnlich-alltäglichen Motiven des Lebens. Kurz gesagt, ist der Alltag der Weg und die Übung. Erst in der Übung des Leerwerdens kann all das, was zuvor gesagt wurde, realisiert werden. Denn sobald egoistische Begierden, Wünsche und Anhaftungen sich in die Vollzüge des Alltags einmischen, entstehen Blockaden und Widersprüche, die die lebendig sinnlichen Resonanzen zerstören. In ein Haus, das einen Herrn hat, kehrt ein Mensch, der nicht dort hingehört, niemals nach Belieben ein. Doch eine unbewohnte Stätte betritt aufs Geratewohl ein jeder, der des Weges kommt. Auch Füchse und auch Eulen nisten sich dort ein, als wär‘ es ihr Revier, weil sie niemand stört. Und Geisterwesen, wie Baumgespenster und dergleichen mehr, treiben an dem Ort ihr Spiel. Und wie ist es mit dem Spiegel? Er wirft ein Bild von allem, was jemals vor ihm auftaucht, stets zurück, weil er selber keine Farben hat und keine Formen. Besäß‘ er Farben und auch Formen, würde er nicht spiegeln. Leere nimmt die Dinge auf. Und da uns nun, ohne daß wir darauf Einfluß hätten, allerlei Gedanken kommen, frag‘ ich mich, ob das wohl daran liegt, daß jenes, was wir unser Sinnen nennen, von keinem Herrn besetzt ist. Denn wäre es nicht herrenlos, stellte sich die Vielzahl von Gedanken sicher niemals ein. 33 In Kenkōs literarischem Lebensentwurf durchdringen sich ästhetische und religiöse Ebenen auf innigste Weise. Religion geht über in Ästhetik und Ästhetik in Religion. Es lässt sich hier kaum noch trennen, was gewöhnlich so verschieden zu sein scheint. Damit die buddhistische Lebensform – die in Indien weit davon entfernt war, sich mit dem Ästhetischen zu verbinden – in dieser Weise ausgelegt werden konnte, war ein langer Veränderungsprozess des Buddhismus über China, Korea und Japan nötig. Auch wenn diese Entwicklung historisch in hohem Maße voraussetzungsreich ist, so kann uns der Entwurf von Kenkō über die Grenzen der Kulturen und Religionen hinweg gerade in seiner ästhetischen 33 Ebd., S. 250. 291 Ausrichtung auch heute noch ansprechen. Dass dies geschehen kann, ist vielleicht ein zentraler Sinn von dem, was Goethe ‘Weltliteratur‘ genannt hat. 292 Autorinnen und Autoren Bausenhart, Guido – Prof. Dr. – Universität Hildesheim, Institut für Katholische Theologie von Bernstorff, Wiebke – Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für deutsche Sprache und Literatur Elberfeld, Rolf – Prof. Dr. – Universität Hildesheim, Institut für Philosophie Graf, Guido – Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft Gröschner, Annett – Dipl. Germanistin – Universität Hildesheim, Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft Günther, Sebastian – Prof. Dr. – Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Arabistik/Islamwissenschaft Kubik, Silke – Dr. – Universität Hildesheim, Institut für deutsche Sprache und Literatur Moennighoff, Burkhard – apl. Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für deutsche Sprache und Literatur Ortheil, Hanns-Josef – Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft Pieper, Irene – Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für deutsche Sprache und Literatur Schärf, Christian – apl. Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft Schreiner, Martin – Prof. Dr. – Universität Hildesheim, Institut für Evangelische Theologie Tholen, Toni – Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für deutsche Sprache und Literatur 293 Hildesheimer Universitätsschriften Herausgegeben von der Universitätsbibliothek Hildesheim Band 1 Das Dritte Reich im Gespräch: Zeitzeugen berichten, Studierende fragen. - Philipp Heine / Stefan Oyen / Manfred Overesch / Marcus Thom (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1997. - 108 S. ISBN 3-9805754-0-3 Preis: € 7 Band 2 Begriff und Wirklichkeit der kleinen Universität: Positionen und Reflexionen; ein Kolloquium des Instituts für Philosophie der Universität Hildesheim. - Tilman Borsche / Christian Strub / Hans-Friedrich Bartig, Johannes Köhler (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 194 S. ISBN 3-9805754-3-8 Preis: € 12 Band 3 Zeitenumbruch in Ostafrika: Sansibar, Kenia und Uganda (1894 1913); Erinnerungen des Kaufmanns R. F. Paul Huebner. Herward Sieberg (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 315 S. ISBN 3-9805754-1-1 Preis: € 15 Band 4 Arntz, Reiner: Das vielsprachige Europa: eine Herausforderung für Sprachpolitik und Sprachplanung Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 188 S. ISBN 3-9805754-4-6 Preis: € 12 Band 5 Jarman, Francis: The perception of Asia: Japan and the West Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 240 S. ISBN 3-9805754-5-4 Preis: € 13 Band 6 Eberwein, Anke: Konzertpädagogik: Konzeptionen von Konzerten für Kinder und Jugendliche Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 148 S. ISBN 3-9805754-6-2 Preis: € 10 Band 7 "Ich bin völlig Africaner und hier wie zu Hause ...": F. K. Hornemann (1772 - 1801); Begegnungen mit West- und Zentralafrika im Wandel der Zeit; Hildesheimer Symposium, 25. - 26.9.1998. - Herward Sieberg / Jos Schnurer (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1999. - 204 S. ISBN 3-9805754-7-0 Preis: € 14 Band 8 Raabe, Mechthild: Hans Egon Holthusen: Bibliographie 1931 - 1997 Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2000. - 225 S. (Veröffentlichungen aus dem Nachlass Holthusen; 1) ISBN 3-9805754-8-9 Preis: € 15 Band 9 Bildung als engagierte Aufklärung: Ernst Cloer zum 60. Geburtstag. - Dorle Klika / Hubertus Kunert / Volker Schubert (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2000. - 227 S. ISBN 3-9805754-9-7 Preis: € 15 Band 10 Arntz, Reiner / Wilmots, Jos: Kontrastsprache Niederländisch – ein neuer Weg zum Leseverstehen Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2002. - 171 S. ISBN 3-934105-01-7 Preis: € 15 Band 11 Friedrich Konrad Hornemann in Siwa: 200 Jahre Afrikaforschung. - Gerhard Meier-Hilbert / Jos Schnurer (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2002. - 212 S. ISBN 3-934105-02-5 Preis: € 13 Band 12 Schulen im Hildesheimer Land – ein historisches Portrait zur Eröffnung des Schulmuseums an der Universität Hildesheim. Rudolf W. Keck / Hartmut Schröder (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2003. - 102 S. ISBN 3-934105-03-3 Preis: € 8 Band 13 Begegnungen im Tschad – Gestern und Heute: Drittes Hildesheimer Hornemann-Symposium. - Gerhard Meier-Hilbert / Jos Schnurer (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2003. - 182 S. ISBN 3-934105-04-1 Preis: € 13 Band 14 Schul- und Hochschulmanagement: 100 aktuelle Begriffe; ein vergleichendes Wörterbuch in deutscher und russischer Sprache / Olga Graumann / Rudolf W. Keck / Michail Pewner / Anatoli Rakhkochkine / Alexander Schirin (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsverlag, 2004. - 246 S. ISBN 3-934105-07-6 Preis: € 14 Band 15 Interkulturalität in Wissenschaft und Praxis Jürgen Beneke, Francis Jarman (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2005. - 273 S. ISBN 3-934105-08-4 Preis: € 14 Band 16 Literarische Orte - Orte der Literatur Hans Herbert Wintgens, Gerard Oppermann (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2005. - 270 S. ISBN 3-934105-09-2 Preis: € 15 Band 17 1933: Verbrannte Bücher - Verbannte Autoren Hans Herbert Wintgens, Gerard Oppermann (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2006 - 274 S. ISBN-10 3-934105-12-2 ISBN-13 978-934105-12-6 Preis: € 15 Band 18 In der Werkstatt der Lektoren: 10 Gespräche Martin Bruch, Johannes Schneider (Hrsg.): Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil Hildesheim: Universitätsverlag, 2007. - 203 S. ISBN-10 3-934105-15-7 ISBN-13 978-934105-15-7 Preis: € 11 Band 19 Literarische Figuren: Spiegelungen des Lebens Hans-Herbert Wintgens, Gerard Oppermann (Hrsg.) Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil Hildesheim: Universitätsverlag, 2007. - 291 S. ISBN-10 3-934105-16-5 ISBN-13 978-934105-16-4 Preis: € 15 Band 20 Weltliteratur I: Von Homer bis Dante Hanns-Josef Ortheil, Paul Brodowsky, Thomas Klupp (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsverlag, 2008. - 279 S. ISBN-10 3-934105-27-0 ISBN-13 978-3-934105-27-0 Preis: € 15 Band 21 Weltliteratur II: Vom Mittelalter zur Aufklärung Hanns-Josef Ortheil, Paul Brodowsky, Thomas Klupp (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsverlag, 2009. - 293 S. ISBN-10 3-934105-51-3 ISBN-13 978-3-934105-51-5 Preis: € 15 Band 22 Weltliteratur III: Von Goethe bis Fontane Hanns-Josef Ortheil, Thomas Klupp, Alina Herbing (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsverlag, 2010. - 309 S. ISBN-10 3-934105-34-3 ISBN-13 978-3-934105-34-8 Preis: € 15,00 Band 23 Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik – Hilmar Hoffmanns "Kultur für alle" reloaded Wolfgang Schneider (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsverlag, 2010. - 282 S. ISBN-10 3-934105-35-1 ISBN-13 978-3-934105-35-5 Preis: € 15,00 Band 24 Weltliteratur IV: Das zwanzigste Jahrhundert Hanns-Josef Ortheil, Thomas Klupp, Alina Herbing (Hrsg.) Hildesheim: Universitätsverlag, 2011. - 304 S. ISBN-10 3-934105-37-8 ISBN-13 978-3-934105-37-9 Preis: € 15,00