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provided by University of Hildesheim
Toni Tholen
Burkhard Moennighoff
Wiebke von Bernstorff
(Hrsg.)
Literatur und Religion
Hildesheimer Universitätsschriften; 25
Impressum
Verlag
Vertrieb
Universitätsverlag Hildesheim
Universitätsverlag Hildesheim
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
verlag@uni-hildesheim.de
Druck
Druckhaus Lühmann
Marktstr. 2-3
31167 Bockenem
Gestaltung Verena Hirschberger
ISSN
1433-5999
ISBN-10 3-934105-39-4 (Print)
ISBN-13 978-3-934105-39-3 (Print)
ISBN
ISBN-A
978-3-934105-61-4 (Open Access)
10.978.3934105/614 (Open Access)
Hildesheim 2012
Inhalt
Vorwort ........................................................................................... 5
Martin Schreiner
Brot und Wein – Literarische Zugänge zum Abendmahl ............. 8
Silke Kubik
Religion für Aufgeklärte – Lessings Vorstellung einer
humanen Religion ......................................................................... 25
Wiebke von Bernstorff
Im Zeichen des Messianismus: jüdische Erzähltraditionen
bei Walter Benjamin und Anna Seghers ...................................... 47
Toni Tholen
‚Schwebe-Religion‘.
Von Bettina von Arnim bis Pina Bausch ..................................... 75
Burkhard Moennighoff
Die Rede des Satirikers und das Desaster der Natur.
Zur Apokalypse in der Literatur ................................................... 96
Guido Graf
Es gibt keinen Sieger außer Gott.
Goethe und der 11. September 2001 .........................................117
Irene Pieper
Die Dichterin und ihre Religion: Else Lasker-Schülers
poetisch-eigensinniger Umgang mit der jüdischen
und christlichen Überlieferung ..................................................134
Guido Bausenhart
Die sogenannte Heilige Familie ................................................ 155
Hanns-Josef Ortheil
Mönche, Heilige, Märtyrer.
Zur Literatur des frühen Christentums ...................................... 177
Annett Gröschner
Herrgottswinkel in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ..................................... 199
Christian Schärf
Marmorbilder und Madonnen.
Die erotische Religion der Romantik ........................................ 224
Sebastian Günther
„Der Lebende, Sohn des Wachen: Über die Geheimnisse der
orientalischen Weisheit“ − Literatur und Religion in einem
philosophisch-allegorischen Roman des klassischen
muslimischen Gelehrten Ibn Tufail ........................................... 250
Rolf Elberfeld
Buddhistische Betrachtungen aus der Stille −
Yoshida Kenkōs Tsurezuregusa ................................................ 274
Autorinnen und Autoren ............................................................ 293
Vorwort
Literatur und Religion – man ist geneigt zu fragen, warum ein
solches Thema Gegenstand einer Ringvorlesung sein sollte, wenn
man bedenkt, dass die Wirkungskraft von Religion und Glauben
in unserer Gesellschaft und Kultur unverkennbar nachlässt. Die
Gottesdienste bleiben leer, die Zahl derjenigen, die aus der Kirche
austreten, wird größer, Gotteshäuser werden geschlossen bzw.
umfunktioniert und Gemeinden werden zusammengelegt. Auch
das Wissen um die kulturelle Bedeutung religiös-christlicher
Symboliken, Narrationen, Bilder und Riten bröckelt. Vielfach
schon sind den Angehörigen der jüngeren Generationen die Traditionszusammenhänge und Grundquellen religiöser Bildung, Belehrung und Glaubenspraxis nicht mehr bekannt; und in der Folge
eben auch nicht deren Beziehungen und Wechselwirkungen mit
anderen Formen der Kultur, insbesondere nicht mit den Künsten.
Kurz: Die Gegenwart lässt sich als eine Zeit diagnostizieren, in
der religiöse Bilder, Geschichten, Deutungen und Glaubensangebote ihre Bindungskraft in rasanter Weise einbüßen.
Andererseits, so ließe sich einwenden, zeigt unsere Gegenwart auch, dass das Bedürfnis nach Sinn und Orientierung, nach
bekennender Praxis und schließlich nach Formen, in denen all
dies gefunden, erlebt und praktiziert werden kann, – dass all diese
im weitesten Sinne spirituellen Bedürfnisse im selben Ausmaß
wachsen, wie die Sinn- und Vertrauensressourcen in vielen anderen Bereichen heutigen Lebens schrumpfen.
Dementsprechend ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren ein Trend dahingehend zu beobachten, dass Traditionen, Epochen, philosophische und insbesondere
ästhetische Quellen und Konzepte wieder mehr auf ihre ethischen
und spirituellen Sinnpotenziale hin betrachtet werden. Dies geschieht in Fächern wie der Philosophie, der Soziologie und der
Erziehungswissenschaft, aber auch in der Literaturwissenschaft.
Und wenn man – gemeinschaftlich mit Kollegen benachbarter Fächer – die Augen für die reichhaltigen Verbindungen von Religiösem und Literarischem in den Bildern und Erzählungen aus Tradition und Gegenwart nur weit genug öffnet, wird man erkennen, in
5
welch intensivem Gespräch Literatur und Religion von allem Anfang an waren und es heute – noch, wieder – sind.
Diese zu beobachtenden Entwicklungen gaben Anlass genug, im Wintersemester 2011/12 eine Ringvorlesung zum Thema
„Literatur und Religion“ durchzuführen, und sie geben Anlass,
die Vorlesungen im vorliegenden Band der Lektüre zugänglich zu
machen. Bei der Konzeption des Programms waren vor allem
zwei Gesichtspunkte leitend: Zum einen sollten die Beiträge den
Austausch von Literatur und Religion, die wechselseitige Anregung und die Transformationsprozesse von einem kulturellen
Teilsystem zum anderen thematisieren, denn: Religiöses Wissen
wird in Texten weitergegeben, z.B. in Gebeten, Gesetzen, Lehrbüchern, Hymnen. Literarische Formen lassen ihrerseits religiöse
Traditionen fortleben. Und: Literatur erscheint bisweilen als Religion und Dichter treten immer einmal wieder als Priester auf;
schließlich werden religiöse Erzählungen in allen Epochen und
auch gegenwärtig literarisch adaptiert und aktualisiert. Zum anderen sollten die Vorlesungen die Interkulturalität des Themas und
die Vielfalt spiritueller Traditionen, welche sich in der Literatur,
aber auch als Literatur finden, exemplarisch wahrnehmbar machen.
Die Literatur hat sich kaum je an die Grenzziehungen orthodoxer Glaubenssysteme gehalten und von den unterschiedlichen
religiösen Quellen und Anregungen ausgehend transformiert sie
diese in eigene narrative Bildwelten, in ästhetische Konzepte,
aber auch in eigenwillige Lebens- und Schreibpraktiken. Und gerade dadurch ermöglicht die Literatur mit ihren besonderen ästhetischen Mitteln nicht selten einen anderen und sinnreichen Zugang zu religiösen Phänomenen und Praktiken. Solche literarischen Zugänge zum Feld des Religiösen hängen selbst aber auch
von der kulturellen Eigentümlichkeit und den Vollzugsformen der
jeweiligen religiösen Tradition ab. Deshalb war es für die Ringvorlesung von besonderer Bedeutung, die Fühler weit auszustrecken und die Themenpalette interkulturell anzulegen. Wir freuen
uns, dass es gelungen ist, Vorträge zu hören, die die christlichen
und jüdischen, aber auch arabische und buddhistische Traditionen
zum Thema gemacht haben. Wir freuen uns ebenfalls, Texte vorlegen zu können, die einerseits scheinbar abliegende, historisch
6
ferne religiöse Vorstellungen und Praktiken für die Gegenwart
neu erschließen und andererseits aktuelle Themen und Bezugnahmen in der Tiefe religiöser und literarischer Überlieferung
verorten. Allen Kolleginnen und Kollegen, die zum Gelingen der
Vorlesung beigetragen und uns ihren Text für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben, gilt unser herzlicher Dank.
Ebenso danken möchten wir Frauke Spangenberg, die bei der
Vorbereitung des vorliegenden Bandes wertvolle und unermüdliche Arbeit geleistet hat.
Hildesheim, im Mai 2012
Toni Tholen
Burkhard Moennighoff
Wiebke von Bernstorff
7
Martin Schreiner
Brot und Wein – Literarische Zugänge zum Abendmahl
Auch bedarf der Mensch, der gewöhnlich sein Leben in Zerstreuung
und Leichtsinn vor sich hin lebt und immer voraneilt, ohne zu wissen,
was ihn eigentlich treibt und was er eigentlich will, in seinem Lauf
von Zeit zu Zeit angehalten und zu sich selbst zurückgeführt zu werden; er bedarf eines Steins am Wege, auf den er sich hinsetze und in
sein vergangenes Leben zurücksehe. Und dazu kann ihm das heilige
Abendmahle dienen [...]. 1
Matthias Claudius macht uns mit diesen Worten auf die Selbstvergewisserung und persönliche Besinnung aufmerksam, zu der
das Abendmahlsgeschehen beitragen kann. Claudius' Worte laden ein, sich für eine kurze Zeit anhalten zu lassen und hinzusetzen. Als Steine am Weg mögen uns einige ausgewählte literarische Texte und ein Filmausschnitt zu unterschiedlichen Dimensionen des Abendmahls dienen.
Lassen Sie uns gemeinsam einen Einblick in diese „heilige,
große Handlung“ gewinnen, in dieses „sinnliche Symbol einer
außerordentlichen göttlichen Gunst und Gnade“ – wie es Johann
Wolfgang von Goethe im siebenten Buch des zweiten Teils seines großen Textes Dichtung und Wahrheit nennt – „in dem [...]
die irdischen Lippen ein göttliches Wesen verkörpert empfangen
und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen teilhaftig werden“. 2 Goethe schreibt im Kontext eines Versuchs „anschaulich zu machen, wie die großen Angelegenheiten der kirchlichen Religion mit Folge und Zusammenhang behandelt werden
müssen, wenn sie sich fruchtbar wie man von ihr erwartet, beweisen soll“ 3:
1
Matthias Claudius: „Das heilige Abendmahl“. In: ders.: Werke in einem
Band. Herausgegeben von Jost Perfahl. München: Winkler 1976, S. 607618, hier S. 607.
2
Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.
In: ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 10. Herausgegeben von Ernst
Beutler. Zürich: Artemis/ dtv 1977, S. 318.
3
Ebd. S. 317.
8
Die Sakramente sind das Höchste der Religion, das sinnliche Symbol
einer außerordentlichen göttlichen Gunst und Gnade. In dem Abendmahle sollen die irdischen Lippen ein göttliches Wesen verkörpert
empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen
teilhaftig werden. Dieser Sinn ist in allen christlichen Kirchen ebenderselbe, es werde nun das Sakrament mit mehr oder weniger Ergebung in das Geheimnis, mit mehr oder weniger Akkomodation an
das, was verständlich ist, genossen; immer bleibt es eine heilige,
grosse Handlung, welche sich in der Wirklichkeit an die Stelle des
Möglichen oder Unmöglichen, an die Stelle desjenigen setzt, was der
Mensch weder erlangen noch entbehren kann.4
Was geschieht beim Abendmahl, dieser „heiligen, großen Handlung“? Was ist das Sakrament des Altars? Kurz und bündig antwortet bekanntlich Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus
auf diese Frage: Es ist der wahre Leib und Blut unsers Herrn Jesus Christus, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und
zu trinken von Christus selbst eingesetzt. 5
An dieser Stelle sei kurz das christliche Abendmahlsverständnis zusammengefasst und auf verschiedene Dimensionen
des Abendmahlsgeschehens aufmerksam gemacht, die auch Gegenstand der nachfolgenden literarischen Texte sind:
1. „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1). Das Abendmahl ist
das Miteinander von Brot und Wein und Gottes Wort, begründet
auf der durch Christus gegebenen Abendmahlsvermahnung (Mk
14,22-24/Lk 22,19-20/Mt 26,26-28). Alle Christen sind aufgefordert, beim Abendmahl das Brot zu essen und aus dem Kelch zu
trinken zum Gedächtnis an Christi Tod und Auferstehung. Die
Einsetzungsworte bilden dabei die „Brücke“ zwischen Christi
Leib und Blut und der Vergebung der Schuld. Durch diese Worte
werden die Elemente Brot und Wein zum Sakrament des Altars,
durch diese Worte ist Christus im Abendmahl wirklich gegenwärtig, sie konstituieren das Abendmahl als geistliches Mahl mit
Jesus Christus. So heißt es im „Kleinen Katechismus“:
4
Ebd. S. 318.
Martin Luther: „Der Kleine Katechismus“. In: Luther Deutsch. Die Werke
Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Herausgegeben von
Kurt Aland. Bd. 6: Kirche und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1991, S. 154.
9
5
Wo steht das geschrieben? So schreiben die heiligen Evangelisten
Matthäus, Markus, Lukas und der Apostel Paulus: Unser Herr Jesus
Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte
und brach's und gab's seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; solches tut zu meinem Gedächtnis.
Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl, dankte
und gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus:
Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut, das für euch
vergossen wird zur Vergebung der Sünden; solches tut, so oft ihr's
trinket, zu meinem Gedächtnis.6
2. Das Abendmahl schenkt immer wieder neu die befreiende
Gabe der Sündenvergebung und die unzerstörbare Gemeinschaft
mit Gott, begründet auf der durch Christus gegebenen Abendmahlsverheißung. Die Worte „Für euch gegeben“ und „vergossen
zur Vergebung der Sünden“ erinnern an Tod und Auferstehung
Christi und vermitteln immer wieder ein Leben in neuer Gerechtigkeit.
3. Das Abendmahl bewirkt die immer wieder mögliche Erneuerung des Menschen durch die Vergebung der Sünden. Wie in
der Taufe verbindet sich im Abendmahl für alle Sinne wahrnehmbar unsere eigene Geschichte mit der Geschichte Gottes:
„Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“!
4. Der rechte Empfang des Abendmahls besteht in nichts
anderem als im Glauben an Christi Tod und Auferstehung und an
die Abendmahlsverheißung. Nur das gläubige Herz erfährt das
Geheimnis der wirklichen Gegenwart des für alle Menschen gestorbenen und auferstandenen Erlösers Jesus Christus und die
Gabe der Sündenvergebung.
Das Abendmahlsgeschehen umfasst verschiedene Dimensionen: Es geht um Transzendenzerfahrung und Geheimnis, um
Heilung und Heilkraft, um Vergebung und Erlösung, um Erinnerung, Vergegenwärtigung und Neubeginn, um Sinnlichkeit und
Leiblichkeit, kurz: es geht um die Verdichtung von Sein (Brot
und Wein) und Sinn (Christi Leib und Blut). In Vergangenheit
und Gegenwart gab und gibt der Ritus um Brot und Wein zahlreiche Anstöße, sich poetisch mit diesem im Rahmen der abend6
Ebd.
10
ländisch-christlichen Tradition zentralen semontologischen beziehungsweise ontosemiologischen Sakrament auseinanderzusetzen. Dabei sind es in erster Linie die zahlreichen Einzelparadoxien des Abendmahls, die zur literarischen Bearbeitung herausfordern. Mit dem Mannheimer Germanisten und Medienanalytiker Jochen Hörisch, der bereits 1992 eine vorzügliche Poesie des
Abendmahls geschrieben hat, seien insbesondere erwähnt:
in Brot und Wein ist Christus real präsent – aber nur für die, die an
ihn glauben;
das Abendmahl ist ein Gedächtnismahl – aber zugleich Feier der Präsenz Christi und ein eschatologisches Mahl;
die sakralen Elemente sind mehr als nur Zeichen – aber sie bedürfen,
um mehr als Zeichen zu sein, der Wandlungsworte;
die Kraft wandelnder Worte kommt der priesterlichen Epiklese zu –
aber sie ist bloßes Zitat der ursprünglichen Einsetzungsworte des
Herrn;
und schließlich – zentrale Paradoxie –: in den transsubstantiierten
Elementen wird die Gegenwart des Gottessohnes gefeiert, um dann –
verzehrt zu werden. Sein ist demnach sinnvoll nur auf der Folie seiner
vergangenen Erlösung und seiner erlösten Zukunft, ja: seines Verschwindens. 7
Gerade diese Paradoxien sind immer wieder Anlässe zu poetischen Darstellungen und Deutungen geworden: „Kann denn das
Brot so klein / für uns das Leben sein? / Kann denn ein Becher
Wein / für uns der Himmel sein?“ 8 Man könnte nun eine illustre
Reise durch die Jahrhunderte antreten. Es ist höchst reizvoll, beispielsweise eucharistische Motivik am Anfang des Tristan-Epos
Gottfried von Straßburgs, in den Abendmahlstexten des Novalis
(etwa in der fünften der Hymnen an die Nacht oder dem Abend7
Jochen Hörisch: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 17. Hörisch entfaltet in seinem Buch
von den widersprüchlichen Abendmahlsberichten im Neuen Testament
über die Reformation und das Barock, Goethe und Hölderlin bis zu Thomas
Manns Zauberberg und Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire die
Faszination der semontologischen Leistung des Abendmahls auf die
Dichtenden.
8
Wilhelm Willms: „Kann denn das Brot so klein“. In: ders.: Meine Schritte
kreisen um die Mitte: Neues Lied im alten Land. Kevelaer: Butzon &
Bercker 1984, o. S.
11
mahlsgedicht aus dem Zyklus der Geistlichen Lieder), in Hölderlins bedeutender Elegie Brot und Wein und in einer Vielzahl anderer Texte vergangener Jahrhunderte zu analysieren. Hier nur
kurz zwei Ausschnitte:
Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet,
Und vom donnernden Gott kommt die Freude des Weins.
Darum denken wir auch dabei der Himmlischen [...]. 9
Cornelius Hell schreibt zu Recht dazu:
Nach der traurigen Erinnerung an das ‚selige Griechenland‛, dessen
Götter in einer anderen Welt leben, und der unbeantworteten Frage
‚Wozu Dichter in dürftiger Zeit?‛ erscheinen in der achten Strophe in
Hölderlins Hymne Brot und Wein als Gabe der abwesenden Götter,
die wiederkehren werden. Sie verweisen gerade nicht auf die Präsenz,
sondern die Absenz Gottes! 10
Und bei Novalis heißt es zu Beginn der Hymne aus dem Zyklus
Geistliche Lieder:
Wenige wissen
Das Geheimnis der Liebe,
Fühlen Unersättlichkeit
Und ewigen Durst.
Des Abendmahls
Göttliche Bedeutung
Ist den irdischen Sinnen Rätsel [...]. 11
Nochmals Cornelius Hell:
Schon der Beginn der Hymne zeigt, wie auch hier das Abendmahl
pluralisiert und vor allem erotisiert wird. Hölderlin und Novalis ha-
9
Friedrich Hölderlin: Brot und Wein. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1:
Gedichte. Hyperion. Herausgegeben von Paul Stapf. Wiesbaden: Emil
Vollmer Verlag o.J., S. 276-280, hier S. 280.
10
Cornelius Hell: „Brot und Wein“. In: Die Bibel in der deutschsprachigen
Literatur des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Heinrich Schmidinger.
Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1990, S. 510-526, hier S. 510.
11
Novalis: Hymne. In: ders.: Monolog u.a. Herausgegeben von Ernesto
Grassi. Reinbek: Rowohlt 1963, S. 76-77, hier S. 76 (=Rowohlts Klassiker
der Literatur und Gesellschaft. Deutsche Literatur Band 11).
12
ben entscheidende Weichen dafür gestellt, dass ‚Brot und Wein‛ zu
einem Angelpunkt poetischer Weltdeutung geworden ist! 12
Bevor wir uns mit literarischen Darstellungen und Deutungen des
Abendmahls im 20. Jahrhundert beschäftigen werden, machen
wir Station bei Gottfried Keller, dem Zeitgenossen Nietzsches
und Anhänger der Feuerbachschen Philosophie. In seinem Roman Der grüne Heinrich „feiert er einen von Weltlichkeit strahlenden Gott, den er aggressiv dem Gott der reformierten Kirche
in der Schweiz gegenüberstellt, in der Keller aufgewachsen ist“ 13.
Auf eine höchst unbequeme und uneinsichtige Weise wird die
Titelfigur im Konfirmationsunterricht in die Geheimnisse von
Brot und Wein eingeführt:
Dort aber musste ich mich gewaltsam aus Schlaf und Traum reißen,
um in der düsteren Stube zwischen langen Reihen einer Schar anderer
schlaftrunkener Jünglinge das allerfabelhafteste Traumleben zu führen unter dem eintönigen Befehl eines weichlichen Schwarzrockes,
mit dem ich sonst auf der Welt nichts zu schaffen hatte.
Was unter fernen östlichen Palmen vor Jahrtausenden teils sich begeben, teils von heiligen Träumern geträumt und niedergeschrieben
worden war, ein Buch der Sage, zart und luftig und weise wie alle
Sage, das wurde hier als das höchste und ernsthafteste Lebenserfordernis, als die erste Bedingung, Bürger zu sein, Wort für Wort durchgesprochen und der Glaube daran auf das genaueste reguliert. Die
wunderbarsten Ausgeburten menschlicher Phantasie, bald heiter und
reizend, bald finster, brennend und blutig, aber immer durch den Duft
einer entlegenen Ferne gleichmäßig umschleiert, mußten als das
wirklichste und festeste Fundament unseres ganzen Daseins angesehen werden und wurden uns nun zum letzten Male und ohne allen
Spaß bestimmt erklärt und erläutert, zu dem Zwecke, im Sinne jener
Phantasien ein wenig Wein und ein wenig Brot am richtigsten genießen zu können [Herv., M.S.]. 14
12
Hell: „Brot und Wein“ (Anm. 10), S. 510.
Gerhard Kaiser: „Christentum und säkulare Literatur“. In: Stimmen der
Zeit 1/1998, S. 3-16, hier S. 4.
14
Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. In: ders.: Sämtliche
Werke, Bd. 2. Herausgegeben von Thomas Böning und Gerhard Kaiser.
Frankfurt/Main: DKV 1985, S. 368. Vgl. auch Gerhard Kaiser:
„Inkarnation und Altarsakrament. Ein nichtchristliches Gedicht über die
Messe und was es Christliches sagt. Zu Gottfried Kellers ,Der Narr des
13
13
Das Abendmahlsgeschehen – einzig ein leerer Wahn, ein Trugbild, eine Illusion – fernab jeder Wirklichkeit, mit dem schlechthinnigen Sinn, bürgerliches Sein zu begründen? Gewaltsamkeit
und genaueste Regulierung als Wahrheiten über das rituelle
Abendmahl? Wie ist das „wirklichste und festeste Fundament
unseres ganzen Daseins“ zusammenzubringen mit dem
„allerfabelhaftesten Traumleben“? In immer neuen Superlativen
erscheint in der Sicht des grünen Heinrich die angestrebte Deckung von Sein und Sinn im Sakrament des Abendmahls von
‚geradezu abenteuerlicher Unplausibilität‘. Neben der fundamentalen Frage nach der Wahrheit der biblischen Geschichten und
Botschaften überhaupt fokussiert der ausgewählte Textausschnitt
insbesondere auch die Problematik der gelingenden Einführung
in das Verstehen des rechten Genusses von „ein wenig Wein und
ein wenig Brot“. In einer „gewaltsamen“, „düsteren“, „schlaftrunkenen“, „träumerischen“, „eintönigen“, „weichlichen“ und
todernsten Atmosphäre stellt sich – damals wie heute – sicher
kein Verständnis für die Geheimnisse von Brot und Wein ein.
Der literarische Angriff im Grünen Heinrich auf Widersprüchlichkeiten des christlichen Liebes- und Vereinigungsmahls findet
viele moderne Entsprechungen. Wenn wir sie wahrnehmen und
uns nicht von ihrer Lektüre abschrecken lassen, so kann es auch
geschehen – wie der Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser zurecht schreibt –,
dass innerchristlich oder außerchristlich polemische Dichtungen
durch Isolieren, Herausleuchten, Verzerren, Konterkarieren von
Glaubens- und Verkündigungsgehalten des Christentums ein Stachel
im Fleisch der Kirche und Gemeinde werden, dass sie dem, der bereit
ist, sich treffen zu lassen, schockartig ein Licht aufstecken, gerade indem sie anderes radikal ausblenden 15.
Lassen Sie uns nun gemeinsam auf weitere Entdeckungsreisen
zur Erschließung der ontosemiologischen Leistung des Abendmahls gehen! In der Kürze der Zeit ist es mir leider nicht möglich, auf die einzelnen Texte sowie Autorinnen und Autoren inGrafen von Zimmern‘“. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 2/1997, S.
253-262.
15
Kaiser: „Christentum und säkulare Literatur“ (Anm. 13), S. 15.
14
tensiver einzugehen. Es kann sich nur um gleichsam ein AmuseGueule handeln, das zur Geschmacksanregung mit diesem spannenden Thema einladen soll.
Kein ‚schockartiges Licht aufstecken‘ möchte Conrad Ferdinand Meyer in seinem Gedicht Alle: 16
Es sprach der Geist: Sieh auf! Es war im Traume.
Ich hob den Blick. In lichtem Wolkenraume
Sah ich den Herrn das Brot den Zwölfen brechen
Und ahnungsvolle Liebesworte sprechen.
Weit über ihre Häupter lud die Erde
Er ein mit allumarmender Gebärde.
Es sprach der Geist: Sieh auf! Ein Linnen schweben
Sah ich und vielen schon das Mahl gegeben,
Da breiteten sich unter tausend Händen
Die Tische, doch verdämmerten die Enden
In grauen Nebel, drin auf bleichen Stufen
Kummergestalten saßen ungerufen.
Es sprach der Geist: Sieh auf! Die Luft umblaute
Ein unermesslich Mahl, soweit ich schaute,
Da sprangen reich die Brunnen auf des Lebens,
Da streckte keine Schale sich vergebens,
Da lag das ganze Volk auf vollen Garben,
Kein Platz war leer, und keiner durfte darben.
Georg Trakl verwendet in insgesamt 13 Gedichten das Motiv
‚Brot und Wein‘. In einem traditionell eucharistischen Zusammenhang steht dieses Motiv im Gedicht Die tote Kirche, das
stark vom Einfluss Rimbauds geprägt ist 17:
Auf dunklen Bänken sitzen sie gedrängt
Und heben die erloschnen Blicke auf
Zum Kreuz. Die Lichter schimmern wie verhängt,
Und trüb und wie verhängt das Wundenhaupt.
16
Conrad Ferdinand Meyer: Alle. In: ders.: Sämtliche Werke in vier
Bänden, Bd. 2: Gedichte. Huttens letzte Tage. Engelberg. Textrevision von
Friedrich Michael. Berlin: Th. Knaur Nachf. Verlag o.J. (ca. 1920) S. 153 f.
17
Georg Trakl: Die tote Kirche. In: ders.: Das dichterische Werk. Auf
Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walter Killy und Hans
Szklenar. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 71987, S. 150 f.
15
Der Weihrauch steigt aus güldenem Gefäß
Zur Höhe auf, hinsterbender Gesang
Verhaucht, und ungewiß und süß verdämmert
Wie heimgesucht der Raum. Der Priester schreitet
Vor den Altar; doch übt mit müdem Geist er
die frommen Bräuche – ein jämmerlicher Spieler,
Vor schlechten Betern mit erstarrten Herzen,
In seelenlosem Spiel mit Brot und Wein.
Die Glocke klingt! Die Lichter flackern trüber –
Und bleicher, wie verhängt das Wundenhaupt!
Die Orgel rauscht! In toten Herzen schauert
Erinnerung auf! Ein blutend Schmerzensantlitz
Hüllt sich in Dunkelheit und die Verzweiflung
Starrt ihm aus vielen Augen nach ins Leere.
Und eine, die wie aller Stimmen klang,
Schluchzt auf – indes das Grauen wuchs im Raum,
Das Todesgrauen wuchs: Erbarme dich unser –
Herr!
Nach Cornelius Hell manifestiert sich die zentrale Bedeutung von
„Brot und Wein“ bei Trakl am deutlichsten im Gedicht Menschheit 18 , „wo auf Bilder apokalyptischer Bedrohung unvermittelt
ein Gegenbild von Ruhe und Frieden folgt“19:
Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.
Hier wird direkt auf die biblische Abendmahlsszene rekurriert
und es fungiert ‚Brot und Wein‛ als Bild universaler Rettung und
Erlösung.
Symbol der Rettung und Erfüllung ist ‚Brot und Wein‛ auch in dem
bekannten Gedicht ‚Ein Winterabend‘, das die sakrale Sphäre in ein
18
Georg Trakl: Menschheit. In: ebd. S. 25.
Hell: „Brot und Wein“ (Anm. 10), S. 513.
16
19
Haus verlagert und den religiösen Terminus Gnade in einem Natur20
bild verankert.
In der ersten Fassung wird noch eine unmittelbare Verbindung zu
Gott hergestellt 21:
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Seine Wunde voller Gnaden
Pflegt der Liebe sanfte Kraft.
O! des Menschen bloße Pein.
Der mit Engeln stumm gerungen,
Langt von heiligem Schmerz bezwungen
Still nach Gottes Brot und Wein.
Und in der zweiten Fassung heißt es dann 22:
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
20
Ebd. Vgl. Gerhard Kaiser: „Georg Trakl: „Ein Winterabend“. In: ders.:
Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom
Barock bis zur Gegenwart“. Freiburg: Herder 1997, S. 132-141.
21
Georg Trakl: Im Winter. Ein Winterabend. 1. Fassung. In: ders.: Das
dichterische Werk (Anm. 17), S. 210.
22
Georg Trakl: Im Winter. Ein Winterabend. 1. Fassung. In: ders.: Das
dichterische Werk (Anm. 17), S. 210.
17
Etwa zeitgleich zu den Gedichten Trakls sind die beiden Gedichte Das Abendmahl und Abendmahl von Rainer Maria Rilke entstanden. Das Abendmahl23 beschließt den ersten Teil des Buchs
der Bilder und Abendmahl 24 findet sich in der Sammlung der
Neuen Gedichte.
Das Abendmahl
Sie sind versammelt, staunende Verstörte,
um ihn, der wie ein Weiser sich beschließt
und der sich fortnimmt denen er gehörte
und der an ihnen fremd vorüberfließt.
Die alte Einsamkeit kommt über ihn,
die ihn erzog zu seinem tiefen Handeln;
nun wird er wieder durch den Ölwald wandeln,
und die ihn lieben werden vor ihm fliehn.
Er hat sie zu dem letzten Tisch entboten
und (wie ein Schuß die Vögel aus den Schoten
scheucht) scheucht er ihre Hände aus den Broten
mit seinem Wort: sie fliegen zu ihm her;
sie flattern bange durch die Tafelrunde
und suchen einen Ausgang. Aber er
ist überall wie eine Dämmerstunde.
Abendmahl
Ewiges will zu uns. Wer hat die Wahl
und trennt die großen und geringen Kräfte?
Erkennst du durch das Dämmern der Geschäfte
im klaren Hinterraum das Abendmahl:
wie sie sichs halten und wie sie sichs reichen
und in der Handlung schlicht und schwer beruhn.
Aus ihren Händen heben sich die Zeichen;
sie wissen nicht, daß sie sie tun
23
Rainer Maria Rilke: Das Abendmahl. In: ders.: Sämtliche Werke in zwölf
Bänden. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth SieberRilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 1: Gedichte. Erster Teil Erste Hälfte.
Frankfurt/ Main: Insel 1955, S. 388.
24
Rainer Maria Rilke: Abendmahl. In: ebd. Bd. 2: Gedichte. Erster Teil.
Zweite Hälfte. S. 591 f.
18
und immer neu mit irgendwelchen Worten
einsetzen, was man trinkt und was man teilt.
Denn da ist keiner, der nicht allerorten
heimlich von hinnen geht, indem er weilt.
Und sitzt nicht immer einer unter ihnen,
der seine Eltern, die ihm ängstlich dienen,
wegschenkt an ihre abgetane Zeit?
(Sie zu verkaufen, ist ihm schon zu weit.)
Unverkennbar ist der Bezug auf den Symbolcharakter des
Abendmahls auch in dem konkrete Bezüge auf die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes enthaltenden Gedicht Tenebrae
von Paul Celan.25 Es lassen sich darin auch Intertextualitäten aufzeigen vor dem Hintergrund der Psalmen, der „Patmos-Hymne“
Hölderlins („Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott./Wo aber
Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.“) und der Todesstunde Jesu im Neuen Testament bzw. in der katholischen Karfreitagsliturgie. In Celans Gedicht wird die traditionelle Symbolik des
Abendmahls aufgehoben: Es geht um den realen Vollzug des Todes, in dem der eigene Leib dahingegeben und das eigene Blut
vergossen wird. Das Trinken seines Blutes schafft daher nicht
Teilhabe am Leben, sondern Teilhabe an seinem Tod.26
Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
25
Paul Celan: Tenebrae. In: ders.: Sprachgitter. Frankfurt/ Main: Fischer
Verlag 1959, S. 23 f.
26
Vgl. Hans-Georg Gadamer: „Sinn und Sinnverhüllung, dargestellt an
Paul Celans Gedicht ‚Tenebrae‘“. In: Zeitwende 1975, S. 321-329; Götz
Wienold: „Paul Celans Hölderlin-Widerruf“. In: Poetica 2/2968, S. 216228; Ursula Baltz-Otto: „Eucharistie im Gedicht. Religiöse Sprache in zwei
Gedichten von Paul Celan und Gottfried Benn“. In: dies.: Poesie wie Brot.
Religion und Literatur: Gegenseitige Herausforderung. München: Kaiser
1989, S. 85-111 sowie Peter Biehl: Symbole geben zu lernen II. NeukirchenVluyn 1993, S. 85 f.
19
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.
Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr
Wir sind nah.
Das Brot-und-Wein-Motiv lässt sich in der Literatur noch zahlreich und vielfältig entdecken. Gerne würde ich nun die entsprechenden Textstellen beispielsweise in der lesenswerten Erzählung Fettklößchen von Guy de Maupassant aus dem Jahre 1880,
in der von einem ‚Abendmahl‘ in der Postkutsche, gestiftet von
einer Prostituierten, berichtet wird, oder in dem grandiosen Roman Wein und Brot von Ignacio Silone aus dem Jahre 1936 untersuchen, in dem nach Heinrich Böll „der kirchlich etablierten
Sakramentalität eine andere, irdische, menschliche Sakramentalität entgegengesetzt wird“. Stichwort Böll: „In zahlreichen Varianten durchzieht sakramentale, zumal eucharistische Symbolik
das Werk Heinrich Bölls“ 27: von der Erzählung Das Brot der frühen Jahre über das Hörspiel Klopfzeichen bis zum Roman Gruppenbild mit Dame. Gerne würde ich unserem Leitmotiv beispielsweise in Gedichten von Gottfried Benn, Primo Levi, Rudolf
27
Hell: „Brot und Wein“ (Anm. 10), S. 518.
20
Alexander Schröder, Rose Ausländer, Christine Lavant, Ingeborg
Bachmann, Christine Busta, Kurt Marti, Edwin Wolfram Dahl,
Ulla Hahn, Hilde Domin und anderen nachspüren. Es lohnte sich
Hesses Demian, Thomas Manns Zauberberg, Günter Grass
Blechtrommel, Katz und Maus sowie Der Butt auf den Abendmahlsbezug hin zu analysieren. Nochmals Cornelius Hell:
Mit welch beiläufiger Selbstverständlichkeit ‚Brot und Wein‛ im kulturellen Gedächtnis präsent ist, zeigt auch die erste Szene von Max
Frischs Stück Biedermann und die Brandstifter, wo das einem Arbeitslosen angebotene Brot den Geiz des Herrn Biedermann hervorruft und ‚Brot und Wein‛ die bemühte, konventionelle Höflichkeit
konterkariert. ‚Brot und Wein ... Aber nur, wenn ich nicht störe, Herr
Biedermann, nur wenn ich nicht störe,‛ antwortet Schmitz ironisch. 28
Aus der Fülle der Literaturbelege zitiere ich nur kurz drei weitere
Beispiele:
Peter Handkes Texte von Langsame Heimkehr über Die
Lehre der Sainte-Victoire bis zu Mein Jahr in der Niemandsbucht
enthalten zahlreiche Elemente unseres Leitmotivs. So beispielsweise die Geschichte des Priesters in Mein Jahr in der Niemandsbucht:
In einer Herbstnacht des laufenden Jahres jetzt hatte sich ihm, der
nachhaltig sonst nur träumte in den Rauhnächten zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest, ein Traum eingeprägt, worin er kein
Priester gewesen war, sondern ein Niemand, eine Kreatur, nackt er
selbst. Er stand da in einem grellen künstlichen Licht allein vor dem
Altar seiner Pfarrkirche, und unversehens kam aus der Sakristei ein
jüngst, nach einem elendigen, mehrtagelangen Todeskampf verstorbener Dörfler gestürzt, in Überlebensgröße, und befahl ihn auf die
Knie, zum Empfang der Kommunionshostie. Es gehörte zu dem
Traum, dass er seit seiner Kindheit nicht mehr gekniet, geschweige
denn den ‘Leib des Herrn‘ zu sich genommen hatte, und schon darum
wurde ihm der Augenblick zu einem besonderen. Darüber hinaus war
die Stimme des Verreckten und, im Priestergewand, zum Spender des
Sakraments Gewordenen, auf eine Weise gebieterisch, wie er das bisher noch von keinem Erdenwesen gehört hatte. Was sie im Traum zu
ihm sagte, setzte sie zugleich fest, für alle Zeit: Um diese Speise führte kein Weg herum; sie zu sich zu nehmen, war die Notwendigkeit;
ohne sie bist du im Unheil! Und obwohl ihn bei jener Stimme zum
28
Ebd., S. 526.
21
ersten Mal seit überlangem der Schauder durchfahren hatte, war das
nicht bloß ein Schreckenstraum; er wachte davon nicht auf, sondern
schlief weiter, anfangs unter Zittern und Beben, dann friedlich, und
schließlich selig.29
Keinesfalls einen seligen Traum, sondern ein fragwürdiges „Rätsel zum Wegwerfen“ evoziert die Bezugnahme auf das Abendmahlsgeschehen in Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel:
Obwohl doch gerade erst einer erschienen war, der sich als Gottes
Sohn bezeichnet hatte, als Gottes Sohn, der Fleisch geworden sei, um
die Welt von ihren Sünden zu erlösen. War das vielleicht ein Dreigroschengeheimnis? Und er versprach das Heil allen, man brauchte bloß
seinen Nächsten zu lieben. War das ein Geheimnis für Habenichtse?
Und er hinterließ als Vermächtnis, dass jeder, der zur rechten Zeit die
richtigen Worte sprach, ein Stückchen Brot und einen Krug Wein in
das Fleisch und das Blut des Gottessohnes verwandeln und sich daran
nähren konnte. War das ein Rätsel zum Wegwerfen? 30
Ein Rätsel zum Wegwerfen? Dem würde beispielsweise Christian
Weber mit seinem Gedicht Abendmahl widersprechen:
Er wußte,
daß der Weg weit sein wird
und wir eine Mahlzeit brauchen,
um zusammenzubleiben
und uns zu stärken
und uns zu erinnern.
Er wußte,
daß unsere Träume
immer wieder zurückkehren müssen
auf den Tisch der Realitäten
Brot und Wein,
um erneut mit uns auszuschwärmen
ins gelobte Land
Erde. 31
Zum Abschluss sei eine Szene aus dem preisgekrönten Film
Babettes Fest von Gabriel Axel (1988) nach der Erzählung von
29
Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt/Main: Suhrkamp
1994, S. 613 f.
30
Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. München: Hanser 1989, S. 729.
31
Christian Weber: Unsere Zeit in Gottes Händen. Auf der Suche nach
einer bewohnbaren Zukunft. Stuttgart: Quell 1988, o.S.
22
2
Tania Blixen vorgestellt. Auch sie spiegelt das besondere Verständnis beziehungsweise Nichtverständnis für die eucharistische
Dimension von Brot und Wein wider. Hier sind die ‚Schwestern
und Brüder‘ einer ‚pietistischen Partei oder Sekte‘ in einem kleinen Fischerdorf an einem norwegischen Fjord, die sich zum Gedenken an den 100. Geburtstag ihres Gründers im Hause seiner
beiden Töchter Martine und Philippa versammelt haben und von
deren französischem Dienstmädchen Babette auf das Vorzüglichste bewirtet werden, verstockt und in sich gekrümmt. Babette
war 1871 aus den Wirren des Pariser Bürgerkrieges an die Küste
Jütlands in die Obhut der beiden Schwestern geflohen. Nach einem Lotteriegewinn von zehntausend Francs bittet die ehemalige
Köchin im berühmten ‚Cafe Anglais‘ die beiden Schwestern, für
die sie zwölf Jahre lang nur kärglichen Stockfisch und Brotsuppe
zubereiten durfte, einmal ein echtes französisches Diner ausrichten zu können. Martine und Philippa erfüllen ihren Herzenswunsch, haben aber schon bald angesichts der unbekannten Speisen und Getränke, die Babette für das Fest organisiert, das Gefühl, ihr Haus für einen Hexensabbat zur Verfügung zu stellen.
Voller Angst und Mißtrauen legen die zehn Gemeindemitglieder
das Gelübde ab, unter keinen Umständen über Speis und Trank
ein Wort verlauten lassen zu wollen:
Am Tag unseres Meisters wollen wir unsere Zungen reinmachen von
allem Geschmack und sie reinigen von aller Lust und allem Ekel der
Sinne, um sie zu bewahren und zu behüten für das höhere Geschäft
des Lob- und Dankgesanges.32
Zur Überraschung aller vervollkommnen die uralte Frau Löwenhjelm und ihr Neffe, General Löwenhjelm, die Tafelrunde zur
Zwölfergemeinschaft. Einzig der General kann die Künste Babettes würdigen. Er erinnert sich angesichts der kulinarischen Meisterleistungen, von denen freilich seine Tischnachbarn nichts wissen konnten beziehungsweise wollten, an die berühmte Köchin
im Cafe Anglais, von der ein Kollege ihm erzählte:
Diese Frau verwandelt ein Diner [...] in eine Art Liebesaffäre – eine
Liebesaffäre von der edlen romantischen Sorte, wo man nicht mehr
unterscheidet, was körperliche und was geistige Begierde und Sätti32
Tanja Blixen: Babettes Fest. Zürich: Manesse 51990, S. 44.
23
gung ist. Sie können mir glauben, ich habe schon um manche schöne
Frau ein Duell gehabt. Aber es gibt in ganz Paris keine Frau [...], für
die ich lieber mein Blut vergießen würde.33
Lassen Sie uns nun zum Abschluss gemeinsam betrachten, wie
diese „Liebesaffäre“ eindrucksvoll zum „Abendmahl“ wird und
welche wundersame Wirkung von diesem „unvergeßlichen Beispiel menschlicher Treue und Selbstaufopferung“ – so bezeichnet
Philippa im Nachhinein Babettes Einsatz allen Geldes für das
Festmahl – ausgeht. Auch hier erschließt sich der Sinn des Mahles im Vollzug. Indem das Mahl gefeiert wird, entfaltet sich seine
Wirklichkeit erschließende und verändernde Kraft! „Schmecket
und sehet“ das Versöhnungsmahl, das Liebesmahl, das Erinnerungsmahl, das Opfermahl! Zu Recht bemerkt allerdings Franz
Günther Weyrich:
Eine selbstverständliche Bemerkung zum Schluss: Natürlich, das nun
folgende Festmahl ist kein Gottesdienst, ist nicht Eucharistie, ist nicht
‚das letzte Abendmahl‛. Und dies soll auch nicht durch die Verwendung der einschlägigen theologischen Begriffe suggeriert werden. In
der Inszenierung dieses Essens im Film und in der narrativen Einbindung in die Geschichte kommt aber […] vieles in den Blick, was im
christlichen Glauben und in der theologischen Reflexion über das
Wesen des Abendmahls gesagt und gedacht werden kann – nicht im
Sinne eines ,Abbildes‘, wohl aber in einer spannungsreichen aber
vielleicht auch fruchtbaren Differenz. 34
33
Ebd., S. 62f. Vgl. u .a. Barbara Heller: „Wunderbare Wandlung. Babettes
Fest oder: Schmecket und sehet“. In: Zeitschrift für Gottesdienst und
Predigt 2/2000, S. 21 f. und Josef Lederle: „Augenschmaus. Drei Filme
,vom Essen, Trinken und Leben‘“. In: zur debatte 3/2002, S. 17.
34
Franz Günther Weyrich: „Tut dies zu meinem Gedächtnis ... Eucharistie
im Spielfilm“. In: Religionsunterricht heute 2/2005, S. 26-29, hier S. 29.
24
Silke Kubik
Religion für Aufgeklärte – Lessings Vorstellung einer
humanen Religion
Saladin: [...] Da du nun / So weise bist: so sage mir doch einmal – /
Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten
eingeleuchtet?
Nathan: Sultan, / Ich bin ein Jud’.
Saladin: Und ich ein Muselmann. / Der Christ ist zwischen uns. – Von
diesen drei / Religionen kann doch eine nur / Die wahre sein. 1
Mit dieser Frage Saladins nähert sich Lessings Drama Nathan der
Weise seinem inhaltlichen Höhepunkt: der Ringparabel. Saladins
Frage zielt auf das, was man als Absolutheitsanspruch von
Religion bezeichnet. Alle drei monotheistischen Weltreligionen –
Islam, Judentum und Christentum – beanspruchen für sich, den
einen und einzigen Weg zum Heil zu repräsentieren: Für das
Judentum ist das Volk Israel Gottes auserwähltes Volk – wer
nicht Teil dieses Volkes ist, kann auch nicht teilhaben an Gottes
Heilsgeschichte, welche explizit eine Beziehungsgeschichte mit
diesem Volk ist. Das Christentum sieht allein in Jesus Christus
den Zugang zum Heil – allein der Glaube an Jesus Christus als
Mittler zwischen Gott und den Menschen ermöglicht dem
Christen die Erlösung. Der Islam erkennt zwar Judentum,
Christentum und ihre Schriften als Vorläuferreligionen an, sieht
aber den Koran als abschließende Offenbarung Gottes an die
Menschen an und als endgültige und letztverbindliche Äußerung
Gottes.
Alle drei Weltreligionen beanspruchen somit für sich, dass
sie ein Alleinstellungsmerkmal besitzen, das den Menschen retten
und erlösen kann. Für die Anhänger der einzelnen Religionen
entscheidet sich etwas daran, welcher Religion man angehört,
denn davon hängt das Seelenheil ab.
1
Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: ders.: Werke, Bd. 2,
herausgegeben von Herbert G. Göpfert. München: Carl Hanser 1971, S.
205-347, hier S. 273f.
25
Saladins Frage nach der „wahre[n]“ Religion beinhaltet nicht nur
ein theologisches Problem, sondern zugleich ein erkenntnistheoretisches und ethisch-praktisches. In erkenntnistheoretischer
Perspektive stellt sich die Frage, welche denn nun die „wahre“
Religion sei (wenn alle drei dies für sich beanspruchen, es aber
nur eine sein kann), und in ethisch-praktischer Perspektive stellt
sich die Frage, wie Angehörige verschiedener Religionen
miteinander umgehen können.
Lessing hat versucht, in seinem Drama auf diese Fragen eine
Antwort zu finden und dabei einen sehr wirkmächtigen
poetischen Toleranztext geschrieben, der nicht nur in unserem
kulturellen Gedächtnis fest verankert ist, sondern der auch im
Anschluss an die Ereignisse des 11. Septembers 2001 wieder
Referenzpunkt aktueller Auseinandersetzungen mit dem Thema
Toleranz wurde. Es lohnt sich, sich mit diesem Drama
auseinanderzusetzen. Auch weil wir uns manchmal der
Grundlagen unseres europäischen Toleranzverständnisses nicht
bewusst sind. Soll Toleranz nicht zu einer leeren Formel
verkommen, müssen wir zu Bewohnern unserer eigenen
Geistesgeschichte werden.
So versucht dieser Vortrag systematische und historische
Perspektiven miteinander zu verbinden. Systematisch fragt dieser
Vortrag danach, welche Antworten Lessings Text auf die Frage
nach der Vereinbarkeit von Toleranz und Religion gibt und
welches Verständnis von Toleranz und Religion er dabei entwirft.
Historisch versucht dieser Vortrag, die Aussagen von Lessings
Drama im Kontext seiner Entstehungszeit zu rekonstruieren, und
bettet dabei Lessings Ideen in den Kontext der europäischen
Aufklärung und der damit verbundenen neuen Sichtweise auf
Religion ein.
1 Deutung der Ringparabel in Lessings Drama Nathan der
Weise
Lessing hat mit Bedacht den Schauplatz seines Dramas in das
Jerusalem des 12. Jahrhunderts – das Zeitalter der Kreuzzüge –
verlegt. Hier treffen Vertreter aller drei monotheistischen Weltreligionen aufeinander. Höhepunkt der Auseinandersetzung ist das
Gespräch zwischen Nathan und dem muslimischen Herrscher
26
Saladin, in dem Saladin Nathan bittet, ihm die „wahre“ Religion
zu nennen. Nathan weiß, dass er in der Falle sitzt: Denn wie er
sich auch äußert, wird er zwei der drei Weltreligionen abwerten
und ihre Anhänger vor den Kopf stoßen müssen. Wenn er sich
aber nicht positioniert, dann wirkt er unglaubwürdig, als würde
ihm die eigene Religion nichts gelten.
Nathan wählt als Lösung die Erzählung einer Geschichte,
die der Auslegung bedarf, und überlässt es somit Saladin selbst,
die Antwort auf die Frage zu entdecken. Bei der Geschichte
handelt es sich um die Ringparabel.
1.1 Der Urstoff der Ringparabel
Lessing verarbeitet in seinem Drama einen Stoff, der sich schon
in Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone findet und der in
einer langen – bis ins 11. Jahrhundert zurückgehenden – europäischen Überlieferungstradition steht. 2 Der Kern dieses Stoffes
sei hier kurz erzählt: In einer Familie gibt es einen kostbaren
Ring, der von Generation zu Generation an den vom Vater am
meisten geliebten Sohn vererbt wird und mit dem die Berechtigung, das väterliche Erbe anzutreten, verbunden ist. Nun
kommt der Ring an einen Vater mit drei Söhnen, die er alle gleich
liebt. Der Vater möchte keinen von ihnen benachteiligen. Er löst
das Problem, indem er zwei Duplikate anfertigen lässt und auf
seinem Sterbebett jedem seiner Söhne einen Ring übergibt. Die
Ringe sehen einander nun aber so ähnlich, dass nicht mehr
entscheidbar ist, welcher der drei Ringe das ursprüngliche
kostbare Original ist. 3
Es ist schnell erkennbar, dass die drei Ringe für die drei
monotheistischen Weltreligionen stehen und die Unentscheidbarkeit der Frage, welcher Sohn nun den richtigen Ring besitze,
die Offenheit in Dingen des religiösen Absolutheitsanspruchs
symbolisiert. Die Geschichte im Dekameron endet folgerichtig
mit dem Hinweis, „jedes der Völker glaubt seine Erbschaft, sein
wahres Gesetz und seine Gebote zu haben, damit es sie befolge.
2
Vgl. Monika Fick: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2010, S. 490.
3
Vgl. Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Düsseldorf, Zürich: Artemis
und Winkler 1999, S. 53.
27
Wer es aber wirklich hat, darüber ist, wie über die Ringe, die
Frage noch unentschieden.“4
Aus diesen Worten spricht ein klarer Erkenntnisskeptizismus: Es ist nicht erkennbar, welche der drei Religionen zu
Recht den Anspruch auf den einen richtigen Weg zum Heil
verkörpert. Aus der Perspektive der beschenkten Söhne – und
diese stehen hier für die menschliche Perspektive – kann nicht
mehr erkannt werden, welcher der drei Ringe der echte war: Wir
Menschen sind nicht in der Lage zu entscheiden, welche Religion
die Wahrheit verkörpert. Deshalb müssen und sollen wir uns in
Religionsdingen einer bewertenden Antwort enthalten: „die Frage
ist noch unentschieden [Herv., S.K.]“ – daraus spricht kein
Werterelativismus im Sinne einer Annahme, es gäbe keine
letztgültige, eindeutige Antwort auf die Wahrheitsfrage, sondern
die Erkenntnis, dass es intellektuell redlich ist, sich einer Antwort
auf diese Frage zu enthalten und zwar aus einem ganz einfachen
Grund: aufgrund unserer beschränkten menschlichen Perspektive,
die es uns eben nicht ermöglicht, die Wahrheit in ihrer
Vollkommenheit zu erkennen.
Darauf deutet auch das kleine Wörtchen „noch“ hin: „Die
Frage ist noch [Herv., S.K.] unentschieden“. Dieses kleine
Wörtchen „noch“ verweist auf eine zeitliche Perspektive – noch
ist sie unentschieden, d.h. sie könnte einmal zu einem späteren
Zeitpunkt entschieden sein. Man könnte diese Formulierung als
Ausdruck einer eschatologischen Erwartung verstehen: In dieser
Zeit wissen wir es nicht, aber es kommt eine Zeit, in der wir der
letzten Dinge – und dazu würde dann eben auch die Frage nach
dem Wahrheitsanspruch der verschiedenen Religionen gehören –
offenbar werden. So deutet diese Formulierung auf nichts anderes
hin als auf die begrenzten menschlichen Möglichkeiten in dieser
Zeit, die Wahrheit zu erkennen. Bei Gott ist diese Frage
entschieden, ein Wissen, das uns als Menschen grundsätzlich
nicht zugänglich ist.
Genau dieses gedankliche Moment der Geschichte scheint
Lessing gereizt zu haben. Es trifft sich mit seinen eigenen
4
Boccaccio: Dekameron (Anm. 3), S. 54.
28
Überlegungen zum Thema Wahrheit. Er formuliert es in dem
berühmt gewordenen Absatz der Duplik (einer Schrift, die im
Zusammenhang mit dem Fragmentenstreit entstand) so:
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu
seyn vermeynt, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat,
hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen.
Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der
Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer
wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge,
stolz – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner
Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit
dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und
spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und
sagte: Vater gieb! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein! 5
Hier findet sich ähnlich wie im Stoff der Ringparabel der Hinweis
auf die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens,
verbunden mit der Annahme, dass es grundsätzlich eine Wahrheit
gibt, die aber nur Gott zugänglich ist: „Die reine Wahrheit ist ja
doch nur für dich allein!“ Zugleich deutet sich hier schon ein
Moment an, das ganz wichtig für Lessings eigene Auseinandersetzung mit dem Thema ist, nämlich die Wendung des
erkenntniskritischen Ansatzes ins Ethische: „die aufrichtige
Mühe“, die der Mensch aufwendet um hinter die Wahrheit zu
kommen, „macht den Werth des Menschen aus.“ Denn während
der Besitz „ruhig, träge, stolz“ macht, scheint das Streben nach
Wahrheit den Menschen dazu anzustacheln, die besten Kräfte in
sich zu entwickeln. Vielleicht kann man sich das so vorstellen:
Bei seinem Streben nach Wahrheit lernt der Mensch zu arbeiten,
er lernt Geduld und Beharrungsvermögen, er lernt sich selbst zu
überwinden und seine unmittelbaren Bedürfnisse zurückzustellen
im Hinblick auf ein größeres Ziel, er entwickelt seine
Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talente – letztlich kultiviert er sich
selbst.
5
Gotthold Ephraim Lessing: Eine Duplik. In: ders.: Werke, Bd. 8,
herausgegeben von Herbert G. Göpfert. München: Carl Hanser 1979, S. 31101, hier S. 32f.
29
Die Wendung eines erkenntnistheoretischen Problems ins Ethische findet sich auch in Lessings Verarbeitung des Stoffs der
Ringparabel im Drama Nathan der Weise.
1.2 Lessings Veränderungen des Urstoffes
Lessing behält die Grundidee der Geschichte – ein Mann, drei
Söhne, ein Ring und zwei Kopien dieses Rings – bei, über weite
Strecken ähnelt die Erzählung sehr der Version bei Boccaccio. So
heißt es bei Lessing ganz ähnlich wie bei Boccaccio: „Kann selbst
der Vater seinen Musterring/ Nicht unterscheiden [...] der rechte
Ring war nicht/ Erweislich [...].“ 6
Lessing bleibt also der Grundaussage des Urstoffes, nämlich
der Aufforderung sich hinsichtlich der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten in diesen Dingen zu bescheiden, treu. Zusätzlich
erweitert und modifiziert er den Urstoff an zwei Stellen
entscheidend, nämlich bei der Beschreibung des Ringes und am
Ende der Parabel (hier fügt er noch eine Erzählsequenz hinzu),
und geht damit deutlich über die Gestaltung des Stoffes bei
Boccaccio hinaus und erweitert die Aussage wesentlich. Kommen
wir zum ersten:
1.3 Die Beschreibung des Rings
Lessing weitet die Bedeutung des Ringes in seiner Geschichte
deutlich aus. Während es in Boccaccios Version über den Ring
heißt: „ein […] wunderschöne[r] und kostbare[r] Ring“, dem die
Funktion, die Erbfolge zu regeln, zukommt, nämlich „daß
derjenige unter [seinen] Söhnen, der den Ring, als ihm vom Vater
übergeben, vorzeigen könnte, für seinen Erben gelten“ 7 kann,
findet sich bei Lessing folgende Beschreibung:
Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielt, / Und hatte
die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen,
wer / In dieser Zuversicht ihn trug.8
Hier hat der Ring nicht die Funktion, die Erbfolge zu regeln. Sein
Wert ist nicht funktional bestimmt, sondern er ist an sich wertvoll.
6
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 277.
Boccaccio: Dekameron (Anm. 3), S. 54.
8
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 276.
30
7
Diese Aufwertung des Ringes spiegelt sich in dem schönen Bild
des Opals, „der hundert schöne Farben spielt“, wider, aber seine
eigentliche Besonderheit und seine Kostbarkeit liegt in der
geheimen Kraft, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“,
begründet.
Diese Idee, dem Ring selbst eine besondere Eigenschaft inne
wohnen zu lassen, bildet die Grundlage für eine entscheidende
gedankliche Wende, die Lessing am Ende seiner Ringparabel
vollzieht und mit der er dem uralten Stoff von den drei Ringen
sein eigenes gedankliches Gepräge verleiht.
1.4 Das neue Ende: Richter und sein Rat
Lessing fügt der Erzählung von den drei Ringen noch eine weitere
Episode zu. Während das Original ein offenes Ende hat – sowohl
auf der Bild- wie auf der Auslegungsebene –, führt Lessing das
Problem und die Geschichte in seiner Variante zu einem Abschluss: Die drei Brüder ziehen nach dem Tod des Vaters vor
Gericht, um den Ringstreit klären zu lassen. Nachdem der Richter
sich nun zunächst weigert, den Brüdern eine Antwort zu geben,
weil er sich nicht in der Lage sieht, die Frage sachlich einer
Lösung zuführen zu können, kommt ihm die Idee, das Problem
mit Hilfe des Ringes selbst zu klären. Und an dieser Stelle spielt
nun die geheime Wunderkraft des Ringes eine wichtige Rolle.
Der Richter bemerkt nun: „Ich höre ja, der rechte Ring /
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; / Vor Gott und
Menschen angenehm. Das muss / Entscheiden!“9 Die Idee ist so
simpel wie schlagend – da der Ring rein äußerlich nicht von
seinen zwei Duplikaten zu unterscheiden ist, kann er nur an seiner
Wirkung erkannt werden.
Nun wäre es ja Lessings Grundidee nicht zuträglich, würde
sich nun einer der Brüder als der beliebteste herausstellen und
somit die Frage nach der rechten Religion beantworten.
Entsprechend nimmt die Erzählung der Ringparabel an dieser
Stelle noch einmal eine erstaunliche Wende, bevor sie dann zu
der für Lessing entscheidenden intellektuellen Pointe gelangt: Die
drei Brüder wissen nämlich nichts auf die Frage des Richters zu
9
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 279.
31
antworten, so dass der Richter für einen Moment den Gedanken
ins Spiel bringt, der richtige Ring könne eventuell sogar ganz
verloren sein. Dann aber formuliert er den für Lessings Ringparabel entscheidenden Gedanken:
Mein Rat ist aber der: ihr nehmt / Die Sache völlig wie sie liegt. Hat
von / Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: / So glaube jeder
sicher seinen Ring / Den echten. – Möglich; dass der Vater nun / Die
Tyrannei des Einen Rings nicht länger / In seinem Hause dulden
wollen! – Und gewiss; / Dass er euch alle drei geliebt, und gleich /
Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, / Um einen zu
begünstigen. – Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochenen / Von
Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette,
/ Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen! 10
Ich finde diese Textstelle besonders beeindruckend, weil es
Lessing hier gelingt, das Problem der konkurrierenden Wahrheitsansprüche in geradezu genialer Weise zu transformieren. Die
zentrale Wende des Problems gelingt dem Richter durch die Idee,
aus der Wirkung des Steins ein Streben um eben diese Wirkung
zu machen. Es heißt dort: „Es strebe von euch jeder um die Wette,
die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen.“ Das
bedeutet nichts anderes als, anstatt sich auf die Wirkung des
Steines zu verlassen, diese selbst durch das eigene Handeln
hervorzubringen. Aus einer Eigenschaft, in dessen Genuss der
Träger des Ringes qua Besitz gelangt, wird nun eine Eigenschaft,
die das Resultat des eigenen Handelns und Strebens ist. So wird
aus dem Sein ein Sollen. Die ursprünglich als Eigenschaft des
Steines beschriebene besondere Kraft „beliebt zu machen“ wird
zur Richtschnur für gutes Handeln. Und es entsteht ein Imperativ
guten Handelns: Handle so, als hättest du den Ring – und du wirst
dir seine Eigenschaften erwerben. Damit aber verlegt Lessing den
religiösen Eifer vom Gebiet der Erkenntnistheorie auf das Gebiet
der Ethik. 11 Im Grunde ist dies ein Angebot an alle religiösen
Fanatiker, die Energie, die sie darauf verwenden, die Richtigkeit
ihrer Religion – auch mit Mitteln der Gewalt – zu erweisen, in ein
anderes Feld, nämlich in das des richtigen Handelns, zu in10
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 280.
Vgl. auch Helmut Fuhrmann: „Lessings Nathan der Weise und das
Wahrheitsproblem“. In: Lessing Yearbook 15 (1983), S. 63-94, hier S. 69.
32
11
vestieren und dadurch die Überlegenheit ihrer Religion zu
bezeugen – dies wäre allerdings eine Überlegenheit, die grundsätzlich human sein muss, weil die Frage nach dem richtigen
Handeln die Frage nach dem Ergehen der anderen Mitmenschen
mit einschließt.
Verstärkt wird diese Tendenz der Humanisierung des religiösen Eifers in Lessings Text durch die inhaltliche Konkretisierung dessen, was Lessing unter gutem Handeln verstanden
wissen will. Er lässt den Richter sagen: „Es eifere jeder seiner
unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach!“ 12 Mit
„seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe“ ist in der
Geschichte die Liebe des Vaters gemeint, damit wird das Handeln
des Vaters, der keinen seiner Söhne abwerten wollte und alle drei
Söhne in ihrer Unterschiedlichkeit gleich geliebt hat, zum Urbild
einer toleranten Haltung, die Differenzen zulässt und aktiv bejaht.
Die Aufforderung des Richters, sich an dieser Haltung des Vaters
zu orientieren, lenkt den Blick weg von den Folgen meines
Handelns hin zu der Intention meines Tuns. Es geht also nicht um
einen äußerlichen Eifer, der möglichst viele gute Taten schafft,
sondern um eine neue Haltung meinen Mitmenschen gegenüber.
Man könnte das so beschreiben: Ging es zunächst um einen
Ring, der in den Augen der Mitwelt beliebt machte – also um die
Liebe, die der Träger des Ringes erfährt –, so geht es jetzt um die
Liebe, die der Träger des Ringes seiner Mitwelt entgegenbringt.
Damit aber geht es nicht mehr darum, wie mich die anderen
sehen, sondern wie ich die anderen sehe. Beliebtheit erscheint
dann vielmehr als ein Reflex auf die eigene liebevolle Haltung
gegenüber seinen Mitmenschen und Toleranz wird zum höchsten
Wert menschlichen Handelns.
Lessing erweitert in seiner Version der Ringparabel den
Toleranzgedanken. Während in der Ursprungsvariante Toleranz
nur eine Form der Duldung impliziert, d.h. ein Hinnehmen von
Unterschieden, ist sie bei Lessing mit einer Form der aktiven
Hinwendung zum Mitmenschen verbunden. Er verbindet seine
Einsicht in die Begrenztheit menschlichen Erkennens mit der
Aufforderung zur Liebe – einer „von Vorurteilen freien“, d.h.
12
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 280.
33
toleranten Liebe. Diese Form von Toleranz, wie sie Lessing hier
entwickelt, setzt allerdings ein neues Verständnis von Religion
voraus, wie es sich in der Epoche der Aufklärung neu entwickelte.
2 Darstellung des ideengeschichtlichen Kontextes des Dramas
2.1 Das Verständnis von Religion in der Epoche der Aufklärung
In der Epoche der Aufklärung entwickelten sich für die damalige
Zeit revolutionär neue Ansichten über Religion. 13 War bis dato
die Vernunft in den Dienst der Religion gestellt worden,
beanspruchte sie nun Autonomie in Religionsdingen. Die Vernunft hatte bisher im Dienst der Religion gestanden, insofern sie
die Inhalte der christlichen Offenbarung in ein systematisches
begriffliches Verständnis zu überführen half, wie dies in der
theologischen Dogmatik der Fall ist. Sie hatte aber keinerlei
legitimatorische Funktion gehabt, d.h. sie begründete oder
hinterfragte religiöse Wahrheit nicht.
Dieser Status änderte sich mit dem Einsetzen der
Aufklärung: Der Vernunft wurde von den Aufklärern die
Funktion einer Legitimationsinstanz zugeschrieben, und zwar auf
allen relevanten Gebieten des praktischen und theoretischen
Lebens – sei es in Bezug auf die Reichweite unserer Erkenntnisse,
die Ordnung unserer Gesellschaft, die Begründung unserer Moral,
oder eben auch auf dem Gebiet der Religion. Die philosophische
Strömung der Deisten, die besonders stark in England beheimatet
war, postulierte die Autonomie der Vernunft in Religionsdingen:
Sie forderte Gedankenfreiheit auf dem Gebiet der Religion, sie
forderte, die Annahmen der tradierten christlichen Religion durch
die Vernunft zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen.
Entsprechend dieser Überzeugung konstruierten die Deisten ein
neues religiöses System, das mit den Erkenntnissen der Vernunft
kompatibel war. Dieses System enthielt nur noch vernünftige
Elemente. Supranaturale Elemente des Christentums, wie
13
Es handelt sich bei den folgenden Ausführungen um eine stark
komprimierte Darstellung des geistesgeschichtlichen und werkgeschichtlichen Kontextes, in den das Drama Nathan der Weise einzuordnen
ist. Vgl. dazu ausführlicher Fick: Lessing Handbuch (Anm. 2), S. 408-420;
Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2008,
S. 701-744.
34
Wundererzählungen, die Annahme der Verbalinspiration, wurden
abgelehnt oder durch rationalistische Erklärungen ersetzt.
Die Deisten nannten diese durch die Vernunft bereinigte
Religion natürliche Religion. Damit wollten sie zum Ausdruck
bringen, dass es sich hierbei um eine Religion handelte, die dem
Menschen qua seiner vernünftigen Natur zugänglich war, d.h.
dass er aus eigener Kraft (nämlich Kraft dessen, was er selbst
denken konnte) zur Erkenntnis religiöser Wahrheiten gelangen
konnte. Er brauchte keine Offenbarung oder Vermittlung durch
eine Institution.
In ihrer Konsequenz führte deshalb die Überprüfung der
Religion durch die Deisten zu zwei wesentlichen Kritikpunkten:
Plötzlich wurde denkbar, dass die Bibel auch nur ein Text unter
anderen Texten sein könnte und man sie – genauso wie andere
Texte auch – einer kritischen Lektüre unterziehen durfte. In
diesem Zusammenhang entstand die Grundlage der heutigen
historisch-kritischen Methode im Umgang mit Bibeltexten, d.h.
der biblische Text wurde einer kritischen, philologischhistorischen Untersuchung unterzogen. Das Ergebnis dieser
Untersuchung war, dass die Bibel ein zusammenkompilierter Text
aus höchst unterschiedlichen Textteilen unterschiedlichster
Herkunft ist. Die Bibel war plötzlich kein von Gott direkt
gesendeter, heiliger Text mehr, sondern ein Produkt säkularer,
von Menschen gemachter Kanonisierungsprozesse. In zweiter
Konsequenz führte die Überprüfung der Religion durch die
Vernunft zu einer radikalen Kirchenkritik. Die Deisten sahen im
Agieren der Kirche das Bemühen, die Gläubigen unmündig zu
halten und durch die Betonung der supranaturalen Elemente
geradezu die Erkenntnis der natürlichen Religion verhindern zu
wollen.
Was hatten die Deisten entdeckt? Sie hatten entdeckt, dass
die bestehende Religion ein von Menschen gemachtes Phänomen
war: Die Texte waren von Menschen geschrieben, überarbeitet
und ausgewählt worden und ebenso Regeln, Riten und Normen
innerhalb der Institution. Im Grunde hatten die Deisten ihrer
Umwelt enthüllt, dass Religion ein kulturelles Phänomen war und
somit auch religiöse Aussagen nur von begrenzter Gültigkeit
waren. Damit aber haben sie den Weg geöffnet für die Suche nach
35
universell gültigen Werten – unabhängig von einer religiösen
Begründung.
Schauen wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal
Lessings Toleranzverständnis an: Lessing spricht von einer ganz
unspezifischen Liebe – das einzige, was er über sie aussagt, ist,
dass sie von Vorurteilen frei ist. Es handelt sich nicht um eine
spezifisch christliche Liebe – natürlich ist sie anschließbar an
christliche Konzepte, z. B. der Nächsten- oder Feindesliebe –, sie
ist aber auch an ähnliche Konzepte in anderen Religionen
anschließbar. Es handelt sich bei Lessings Konzept vielmehr um
eine allgemeine Menschenliebe, die jedem Menschen zukommt,
einfach nur qua seines Menschseins – und somit um einen
universellen Wert, der sich nicht von einer partikularen religiösen
Tradition her legitimiert. Diese Betonung einer allgemeinen
Menschennatur, aus der sich eine für alle Menschen gleiche
Würde (und damit verbunden gleiche Rechte) ableitet, ist ein ganz
zentraler Gedanke der Aufklärung. Somit ist Lessings
Toleranzkonzept deutlich der Aufklärung zuzuordnen.
Aber Lessing war kein Deist. Wie er zur Religion stand,
darum soll es im Folgenden gehen.
2.2 Lessings Haltung zur Religion
Lessings Position in diesem Kontext selbst ist schwer zu
bestimmen, zwar teilte er die rationale Kritik der Deisten an der
Bibel, andererseits schätzte er die bestehenden Offenbarungsreligionen und verteidigte ihren Wert. So heißt es in einer Notiz
aus dem Nachlass:
Ich habe gegen die christliche Religion nichts: ich bin vielmehr ihr
Freund, und werde ihr Zeitlebens hold und zugethan bleiben. Sie
entspricht der Absicht einer positiven Religion, so gut wie irgend eine
andere. Ich glaube sie und halte sie für wahr, so gut und so sehr man
nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten kann. 14
Aus diesem Zitat spricht eine Wertschätzung der bestehenden
christlichen Religion – den aggressiven und entlarvenden Ton der
14
Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Werke, Bd. 16, herausgegeben von
Karl Lachmann, 3., aufs neue durchgesehene u. vermehrte Auflage, besorgt
durch Franz Muncker, Stuttgart, Leipzig, Berlin: Göschen 1902, S. 536.
36
Deisten gegen die kirchliche Institution sucht man hier vergebens.
Und gleichzeitig finden sich hier deutlich unorthodoxe
Meinungen: Die christliche Religion wird als „so gut wie irgend
eine andere“ bezeichnet – es wird in ihr nicht der alleinige Weg
zum Heil gesehen und Lessing verweist auf den historischen
Charakter der Religion: „Ich halte sie für wahr, so gut und so sehr
man nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten
kann“. Damit aber schränkt er ihren Wahrheitsanspruch ein –
denn historische Aussagen sind kontingente Wahrheiten, sie
haben nicht denselben Status wie Vernunftaussagen. Sie können
keine Allgemeingültigkeit beanspruchen und sind nicht logisch
zwingend. Lessing zeigt in dieser Äußerung also einerseits eine
aufgeklärte Haltung gegenüber der Religion – in mancher Hinsicht ähnlich den Ansichten der Deisten –, zugleich bleibt offen,
wie sich diese Haltung mit seiner Wertschätzung des
Christentums als Offenbarungsreligion vermittelt. Besser verständlich wird diese Haltung, wenn man sich klar macht, dass
Lessing mehr am Diskurs – also an der intellektuellen Auseinandersetzung – als an der Entwicklung eines schlüssigen
Systems interessiert war. 15
Dies zeigt sich besonders im Fragmentenstreit, der
schließlich zur Entstehung des Nathan führte: 1774 entschied
Lessing sich in seiner Funktion als Bibliothekar der Wolfenbüttler
Herzoglichen Bibliothek die Fragmente eines Ungenannten zu
veröffentlichen, bei denen es sich um Auszüge aus einem Werk
des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus
handelte. Reimarus entwickelt in seiner Schrift eine radikale
Bibel- und Kirchenkritik auf der Grundlage seines deistischen
Denkens, die er aber zu Lebzeiten aus Angst vor Repressalien
nicht veröffentlichte. Nach seinem Tod veröffentlichte Lessing
den Text ohne Angabe des Verfassers. Er wollte damit die
intellektuelle Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen
Standpunkten anregen. In diesem Zusammenhang kam es zu
einem langwierigen Wortwechsel mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, einem eifrigen Vertreter der
lutherischen Orthodoxie, und Lessing wurde mit der Position der
15
Vgl. Nisbet: Lessing. Eine Biographie (Anm. 13), S. 739.
37
Deisten identifiziert, obwohl dies gar nicht seine Meinung war
und er einfach nur den intellektuellen Dialog anregen wollte.
1778 wurde Lessing von der Braunschweiger Regierung mit
einem Publikationsverbot belegt und er entschied sich, sein
Wirken wieder auf das Gebiet der Poesie zu verlegen: So entstand
sein Drama Nathan der Weise. In diesem Zusammenhang ist
besonders die Figur Nathan interessant, weil sie Toleranz und
Religiosität miteinander verbindet. Wie – das soll im Folgenden
untersucht werden.
3 Rekonstruktion von Nathans Einstellung zur Religion
In seinem Drama bringt Lessing Figuren verschiedenster
religiöser Herkunft miteinander ins Spiel. Dabei repräsentieren
die Figuren nicht nur die drei monotheistischen Weltreligionen
Islam, Judentum und Christentum, sondern auch verschiedene
Standpunkte hinsichtlich der Aufgeklärtheit und Toleranz ihres
eigenen religiösen Standpunktes.
Nathan der Weise ist von Anfang an im Drama als positive
Identifikationsfigur angelegt. Die Figur trägt einen großen Teil
des utopischen Potentials des Dramas mit seinem positiven Ende.
Durch die Begegnung mit Nathan und das Gespräch mit ihm
werden die anderen Figuren aufgeklärt – so erkennt Saladin durch
das Gespräch mit Nathan die Gleichwertigkeit der Religionen und
der Tempelherr erwirbt sich durch die Begegnung mit Nathan
eine tolerantere Haltung gegenüber den anderen Religionen.
Nathan selbst wird im Drama als Inbegriff eines weisen Umgangs
mit den Unterschieden zwischen den Religionen und als wahrer
Menschenfreund präsentiert.
Welche Ansichten über Religion sich aber in der Figur
artikulieren, ist nicht sofort erkennbar. Denn man fragt sich bei
der Lektüre: Ist er ein Vertreter der natürlichen Religion? Dies
wäre ein Standpunkt, der es ihm erlauben würde, alle Religionen
nebeneinander gelten zu lassen, und würde seinem toleranten
Umgang mit den Anhängern verschiedener Religionen ein
Fundament geben. Aber zugleich müsste er dann gegenüber den
positiven Offenbarungsreligionen kritisch eingestellt sein, was
nicht wirklich zu seinem respektvollen Umgang mit den Vertretern der verschiedenen Religionen passen würde. Also fragt
38
man sich weiter: Wie steht Nathan überhaupt zu den positiv
bestehenden Offenbarungsreligionen? Und welche Haltung
wendet er dabei auf sich selbst an: Glaubt er selbst an eine bestimmte Offenbarungsreligion? Ist er selbst religiös? Alles mündet in die Frage: Wie verbindet Nathan Toleranz und Religiosität?
Dies soll anhand der drei Aspekte: Nathans Haltung zum
Wunderglauben, seine Meinung zum Verhältnis von Geschichte
und Religion und der Annahme einer subjektiven Wahrheit von
Religion untersucht werden.
3.1 Nathans Haltung zum Wunderglauben
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist Nathans Verhalten
gegenüber seiner Adoptivtochter Recha. Besonders brisant ist
dies, weil Nathan Jude, aber seine Adoptivtochter christlich
getauft ist, da sie aus einem christlichen Elternhaus kommt. Es ist
also die Frage, in welchem Glauben Recha erzogen werden soll.
Wie geht Nathan nun mit dieser Frage um? Es entspricht
Nathans toleranter Haltung, dass er Recha nicht seine eigene
Religion aufdrängt. Da er sie aber auch nicht in ihrem Herkunftsglauben erziehen kann, stellt Nathan ihr die christliche
Gesellschafterin Daja zur Seite. Er selbst aber vermittelt Recha
einen Glauben auf der Grundlage der Vernunft.16 So heißt es über
Rechas religiöse Erziehung: Nathan habe sie „von Gott nicht
mehr nicht weniger / Gelehrt, als der Vernunft genügt.“17 Das hört
sich sehr nach einer religiösen Erziehung im Sinne einer
natürlichen Religion an, insofern nur das von Gott gelehrt wird,
was sich in rationale Begriffe fassen lässt.
Und tatsächlich ist Nathan darum bemüht, seiner Tochter
Recha einen aufgeklärten Weltzugang zu vermitteln und damit
zugleich einen Gegenpol zu dem Einfluss des schwärmerischen
Religionsverständnisses von Daja darzustellen. Besonders deutlich wird dies an Rechas und Nathans Auseinandersetzung über
die Deutung der Rettung Rechas durch den Tempelherrn.
Während Nathans Abwesenheit hatte es einen Brand in seinem
Haus gegeben und Recha war vom Tempelherrn vor den Flam16
17
Vgl. auch Nisbet: Lessing. Eine Biographie (Anm. 13), S. 792.
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 299.
39
men gerettet worden. Daja hatte im Anschluss an das Ereignis
Recha die Deutung nahegelegt, dass sie ein Engel aus den
Flammen gerettet hätte. So kommt es später zu folgendem Dialog
zwischen Recha und ihrem Vater:
Nathan: Doch hätt’ auch nur / Ein Mensch [...] dir diesen Dienst
erzeigt: er müsste / Für dich ein Engel sein. Er müsst’ und würde.
Recha: Nicht so ein Engel; nein! Ein wirklicher; / Es war gewiss ein
wirklicher! – Habt ihr, / Ihr selbst die Möglichkeit, dass Engel sind, /
Dass Gott zum Besten derer, die ihn lieben, / Auch Wunder könne tun,
mich nicht gelehrt? Ich lieb’ ihn ja.
Nathan: Und er liebt dich; und tut / Für dich, und deines gleichen,
stündlich Wunder; / Ja, hat sie schon von aller Ewigkeit / Für euch
getan.
Recha: Das hör’ ich gern.
Nathan: Wie? Weil / Es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge, / Wenn
dich ein eigentlicher Tempelherr / Gerettet hätte: sollt’ es darum
weniger / Ein Wunder sein? – Der Wunder höchstes ist, / Dass uns die
wahren, echten Wunder so / Alltäglich werden können [...]. 18
Es wird deutlich, dass Nathan einen aufgeklärten Standpunkt
hinsichtlich der supranaturalen Elemente innerhalb der Religion
vertritt: Er lehnt den Glauben an Wunder im Sinne übernatürlicher Kräfte, die in unsere Wirklichkeit hineinwirken, ab.
Deshalb versucht er Recha davon zu überzeugen, dass sie ein
wirklicher Mensch gerettet hat. Dennoch hat er den Ausdruck
„Wunder“ und „Engel“ nicht aus seinem Wortgebrauch verbannt
– Recha weist ihn darauf hin, dass er sie gelehrt habe, „dass Gott
auch Wunder könne tun“.
Wie ist dies nun zu verstehen – widerspricht Nathan sich
hier nicht selbst? Anscheinend benutzt Nathan selbst das Wort
„Wunder“, will es aber anders als Recha nicht als Bezeichnung
einer supranaturalen Wirklichkeit verstanden wissen.
Für Nathan verweist das Wort „Wunder“ auf eine ganz
andere Art der Wirklichkeit, nämlich auf die Dimension von
Wirklichkeit, die aufscheint, wenn Menschen sich entschließen,
gut zu handeln. Diesem Gut-Handeln eignet eine Dimension des
Wunderbaren, im Sinne eines Durchbrechens der normalen Abläufe unserer alltäglichen Welt.
18
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 213f.
40
Nathan führt als Beispiele für Wunder die Tat des Tempelherrn,
der Recha aus den Flammen rettet, und die Tat Saladins, der den
Tempelherrn zuvor begnadigt hatte, an. Am Beispiel der Tat
Saladins macht Nathan deutlich, warum gut handeln als Wunder
bezeichnet werden kann: „Denn wer hat schon gehört, dass
Saladin / Je eines Tempelherrn verschont?“19 Saladin verhält sich
anders, als er es sonst aufgrund seiner Herkunft, seiner Religion
und seiner Rolle als Herrscher tut – er durchbricht mit seiner Tat
seine üblichen Handlungsroutinen. Und damit verweist dieses
Beispiel auf eine allgemeine Di-mension menschlichen Handelns,
nämlich die Möglichkeit zur Freiheit.
Das Wunder, auf das Nathan hier anspielt, ist das Wunder
der freien Entscheidung für das Gute – der Mensch kann sich
entschließen, jenseits aller Bestimmtheiten durch Rollen und
soziale Zusammenhänge, allein aufgrund seiner freien Entscheidung, aus sich heraus, aus seiner Einsicht, aus seinem
Willen, aus seiner Erkenntnis dessen, was gut und richtig ist,
heraus zu handeln. In einem solchen Moment durchschlägt der
Mensch die Kausalketten sozialer Determination. Man kann hier
in Nathans Ansinnen, die gute Tat des Menschen als Wunder zu
bezeichnen, die Idee Kants, das Wesen und die Würde des
Menschen in seiner Fähigkeit zur Freiheit zu begründen, aufleuchten sehen.
Nathan erweist sich hier als Aufklärer durch und durch –
allerdings als ein Aufklärer, der die Rede in symbolischen Worten
schätzt. Denn Nathan lehnt das Wort „Wunder“ nicht ab,
vielmehr hält er an dem Begriff fest und nutzt seinen
symbolischen Mehrwert, um damit eine besondere Dimension
unseres menschlichen Seins zu beschreiben.
3.2 Die Verbindung von Religion und Geschichte
Noch an einer weiteren Stelle zeigt sich Nathans aufgeklärte
Haltung gegenüber der Religion: In der Szene, in der Nathan
Saladin die Ringparabel erzählt, kommt es zu folgendem
Wortwechsel:
19
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 214.
41
Saladin: Die Ringe! – Spiel nicht mit mir! Ich dächte, / dass die
Religionen, die ich dir / Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären.
Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank!
Nathan: Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht. - / Denn gründen alle
sich nicht auf Geschichte? / Geschrieben oder überliefert! 20
Saladin will sich zunächst nicht auf den Gedanken der Gleichheit
der drei monotheistischen Weltreligionen einlassen, wobei er
allerdings hier Gleichwertigkeit – wie es Nathan meint – mit
Gleichheit im Sinne von gleicher Gestalt seiend verwechselt.
Nathan führt ihn dann mit seiner Antwort wieder zurück auf die
Frage der Legitimation der drei Religionen. Dabei begründet er
nun die Gleichwertigkeit der Religionen, indem er darauf
verweist, dass sie alle historisch gewachsene Phänomene seien
(sie gründen sich alle auf Geschichte); sie legitimieren alle drei
ihren Wahrheitsanspruch auf dieselbe Weise, indem sie mit
Zeugnissen argumentieren, die alle historisch gewachsen sind –
nämlich tradierte Schriften.
In der Historizität der Religionen begründet liegt aber
zugleich die Relativität ihres Wahrheitsanspruches. Religion als
ein historisches Phänomen – insbesondere ihrer Schriften – zu
sehen, ist nun aber eine zentrale Einsicht der Deisten. Und so
könnte man sagen, dass Nathan hier einen Deisten par exellence
gibt. Wenn man sich aber anschaut, wie Nathan dann im
Gespräch mit Saladin fortfährt, zeigt sich, dass Lessing in der
Figur des Nathan eben gerade keinen Deisten einzeichnen wollte,
sondern eine Position erschaffen wollte, die im besten Sinne
Aufgeklärtheit mit der Wertschätzung von Religion und
Religiosität verbindet. Denn während die Deisten ihre Einsicht in
die Historizität der Schriften zu polemischen Angriffen gegenüber
der Kirche und somit zu Abwertung der positiven (historisch
gewachsenen) Religion nutzten, zeigt sich in Nathans nun
folgender Aussage – entnommen aus dem oben zitierten Disput
mit Saladin – eine ganze andere Haltung:
Nathan: Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am
wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? / Doch deren Blut wir sind?
Doch deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe / Gegeben?
20
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 278.
42
Die uns nie getäuscht, als wo / Getäuscht zu werden uns heilsamer
war? - / Wie kann ich meinen Vätern weniger, / Als du den deinen
glauben? 21
Für Nathan ist die Historizität von Religion kein Argument gegen
ihre subjektive Bedeutung, sondern nur ein Argument für die
Pluralität von religiösen Ansichten. Die subjektive Bedeutsamkeit
religiöser Einsicht speist sich geradezu daraus, dass sie ein
historisches Phänomen ist. Weil der Mensch selbst ein historisches Wesen ist, ein Individuum zwar, das aber Teil einer
Überlieferungsgeschichte ist, deshalb ist diese historische
Überlieferungsgeschichte für ihn nicht unbedeutend – nein im
Gegenteil – sie ist höchst bedeutend, denn sie bestimmt seine
Identität mit.
Es ist ein Trugspiel zu glauben, ich könne mich selbst
unabhängig von meinem eigenen historischen Gewordensein
wahrnehmen, und zu meiner eigenen Geschichte gehört auch,
dass ich Teil einer religiösen Überlieferungsgeschichte in einem
bestimmten Kulturraum bin. Deshalb antwortet Nathan durchaus
sehr ehrlich – als Saladin ihn um eine Antwort auf die Frage,
welches die wahre, richtige Religion sei, bittet – mit den Worten
„Ich bin ein Jud’“.
„Ich bin ein Jud’“ – das soll nichts anderes heißen als: Ich
bin Teil einer religiösen Überlieferungsgeschichte, in ihr erzogen
worden, in ihr groß geworden, in ihr beheimatet und dadurch ist
meine Position notwendigerweise eine relative und ich maße mir
nicht an, andere religiöse Positionen inhaltlich zu beurteilen.
3.3 Religion als subjektive Wahrheit
Das Bild, das Lessing von Nathan bisher in seinem Drama
entworfen hat, als das eines zugleich aufgeklärten und religiös
beheimateten Menschen, erweitert sich noch um eine neue
Sinnschicht, nimmt man eine Szene hinzu, in der der Leser relativ
gegen Ende des Dramas davon erfährt, dass Nathans Familie
Opfer eines christlichen Pogroms geworden ist. Nathan war,
bevor er Recha zu sich nahm, verheiratet und Vater von sieben
Söhnen. Nathans ganze Familie ist von Christen getötet worden.
21
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 278.
43
Er berichtet dem Klosterbruder, der ihm damals Recha brachte,
von diesem Ereignis, das sich nur kurz vor der Adoption Rechas
ereignete:
Nathan: Als / Ihr kamt, hatt’ ich drei Tag’ und Nächt’ in Asch’ / Und
Staub vor Gott gelegen, und geweint. – / Geweint? Beiher mit Gott
auch wohl gerechtet, / Gezürnt, getobt, mich und die Welt
verwünscht; [...] Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. / Sie
sprach mit sanfter Stimm’: „und doch ist Gott! Doch war auch Gottes
Ratschluss das! / Wohlan! Komm! Übe, was du längst begriffen hast; /
Was sicherlich zu üben schwerer nicht, / Als zu begreifen ist, wenn du
nur willst, / Steh auf! – Ich stand! Und rief zu Gott: ich will!/ Willst
du nur, dass ich will!“ 22
An dieser Textstelle scheiden sich nun die Geister – denn sie lässt
höchst unterschiedliche Deutungen zu – und dies spiegelt sich
auch in der Forschungsdiskussion wider. Unübersehbar ist die
Hiobparallele 23 – Nathan verliert alles, was ihm wert und teuer ist
– und er begehrt gegen Gott auf, rechtet mit Gott. Aber ist dies im
Sinne einer religiösen Erfahrung zu verstehen, in der der Mensch
auch in der extremsten Form des Leidens noch bezogen auf Gott
bleibt (so wie in der biblischen Hiobgeschichte) oder liest sich
diese Nathan-Stelle als moderne Kontrafaktur zur biblischen
Geschichte, in der ein Mensch sich emanzipiert und sich selbst
seiner Geschichte bemächtigt? 24 So ist unübersehbar, dass es die
Stimme der Vernunft ist, die hier dem Subjekt die entscheidenden
Erkenntnisse vermittelt: „Doch nun kam die Vernunft allmählig
wieder. / Sie sprach mit sanfter Stimm’: ‚und doch ist Gott! Doch
war auch Gottes Ratschluss das!‘“ Hier spricht nicht Gott direkt
zum Menschen, sondern es ist die menschliche Vernunft, die die
Einsicht in die religiösen Dinge gewinnt – wie es die Deisten für
die natürliche Religion proklamieren. Und dann erhebt sich das
„Ich“ und ruft „Ich will“ – auch hier wieder das Primat des
menschlichen Subjektes und seine Entscheidung vor der gött22
Lessing: Nathan (Anm. 1), S. 316.
Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum
späten Lessing. Tübingen: Max Niemeyer 1991, S. 68 ff.
24
Vgl. Günter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese,
Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama
der Aufklärung. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 228 ff.
44
23
lichen Fügung. Man kann diese Textstelle also als Ausdruck einer
Emanzipation lesen.
Man kann diese Textstelle aber auch anders lesen: als
Ausdruck einer Ergebenheit in den göttlichen Willen – denn der
Stimme der Vernunft und dem selbstbewussten Ich wird der
göttliche Ratschluss gegenüber gestellt und es geht de facto auf
der Inhaltsebene um ein Einwilligen in etwas, was längst
geschehen und unabänderlich ist, und sogar der eigene Willensakt
wird als vom göttlichen Willen abhängig gesehen: „Willst du nur,
dass ich will!“ In dieser Formulierung ist das göttliche Du ganz
klar dem menschlich Ich vorgeordnet.
Diese Textstelle lässt sich nicht vereindeutigen, in ihr
schwingen aufgeklärtes Selbstbewusstsein und die existentielle
Sprache einer religiösen Erfahrung zusammen. Die religiöse
Erfahrung selbst aber ist es, die sich einer vereindeutigenden
Sprache verweigert – und so drückt sich im Verzicht auf eine
vereindeutigende Sprechweise aus, was eine religiöse Erfahrung
ausmacht: Sie bedarf in ihrer intimen Subjektivität keiner
Kohärenz. Religion ist hier eine subjektive Wahrheit.
Interessant ist zu sehen, dass Lessing Nathans religiöse
Erfahrung in ihrem subjektiven Rahmen belässt. Wenn man die
Dialogsituationen betrachtet und vergleicht, in denen Lessing
seine Figur Nathan über Religion reden lässt, fällt auf, dass
Nathan von seiner religiösen Erfahrung nur in dem sehr
persönlichen Rahmen des vertraulichen Gesprächs mit dem
Klosterbruder berichtet. In der intellektuellen Auseinandersetzung
mit Saladin hat diese Erfahrung keinen Platz. So trennt Lessing in
seinem Drama sehr deutlich zwischen dem Bericht von einer
religiösen Erfahrung im persönlichen Gespräch und dem Ringen
um eine allgemeingültige Wahrheit im philosophischen Disput.
Man könnte diese Position wie folgt zusammenfassen:
Historisch gewachsene und existentiell erfahrene Einsichten
haben ihren Ort, aber es lassen sich aus ihnen eben keine
allgemeingültigen Ansprüche ableiten, sie reichen nicht aus, um
unserem Zusammenleben eine verbindliche Basis zu geben, dafür
bedarf es einer vernünftig begründbaren Ethik, die universell
gültig ist. Umgekehrt lässt sich aber auch feststellen, dass sich das
Leben nicht in allgemeingültigen Wahrheitsaussagen erschöpft –
45
die Kontingenz der eigenen Geschichte und die Subjektivität
existentieller Erfahrung ist ebenfalls Teil menschlichen Wissens
und Lebens. Genau weil dies so ist, bedarf es einer Theorie der
Toleranz, die die Grenzen persönlicher Überzeugungen schützt.
46
Wiebke von Bernstorff
Im Zeichen des Messianismus: jüdische Erzähltraditionen
bei Walter Benjamin und Anna Seghers
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff sich von etwas zu
entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund
steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da
sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln
verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen
kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den
Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel
wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. 1
Dieser Kommentar zu Paul Klees neuem Engel (Angelus Novus)
bildet die IX. These aus Walter Benjamins letztem überliefertem
Text Über den Begriff der Geschichte. Sie ist wohl einer der bekanntesten Texte des Autors, dessen postumer Nachruhm in den
1970er Jahren begann und bis heute in Wissenschaft, Kunst und
Literatur andauert. Kaum ein gewichtiges literarisches Projekt,
das ohne einen intertextuellen Verweis auf diesen vielleicht wichtigsten Denker und Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts auskommt. 2 Das Andauern hat seine Gründe nicht zuletzt auch darin,
dass man und frau mit den Texten Benjamins schlechterdings
nicht zu einem Ende kommen kann. Immer wieder ergeben sich
im Blick auf dieses zerschlagene Werk, der Sturm treibt auch uns
dabei immer weiter fort, neue Aspekte und bleiben Aporien und
1
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX. In: ders.,
Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977,
S. 255.
2
Vgl. in kritischer Perspektive Otto Karl Weckmeister: „Benjamins ‚Engel
der Geschichte‘ oder: Die Läuterung des Revolutionärs zum Historiker“.
In: global benjamin1, hrsg. v. K. Garber, L. Rehm, München 1999, S. 597624.
47
Widersprüche bestehen, die zum Nach-Denken auffordern, ohne
dass wir das Zerschlagene deswegen zu einem Ganzen wieder zusammenfügen könnten.
Unser gemeinsames Nach-Denken heute soll der Frage nach
den Einflüssen jüdischer Erzähltraditionen folgen. Das kann nicht
ohne eine Beschäftigung mit Benjamins Geschichtsphilosophie
geschehen, in der sein gesamtes Denken zu einer Synthese strebt
und in der der Einfluss jüdischer Denktraditionen sehr deutlich
wird.
Ebenfalls in den 1930er Jahren und damit im Angesicht mit
dem Nationalsozialismus, dessen Fratze das Gegenbild zum Engel
ist, beschäftigt sich Benjamin mit der Frage nach den Möglichkeiten des Erzählens. Geschichtsphilosophie und literaturkritische
Arbeiten zu Nikolai Lesskow (ein russischer Erzähler des 19.
Jahrhunderts), Franz Kafka, Anna Seghers und anderen gehen gedanklich jeweils auseinander hervor. Walter Benjamin und Anna
Seghers führten im Pariser Exil Gespräche über die „Situation des
Erzählers“ in dieser Zeit. Den Überlegungen zum Erzählen und
dem Einfluss jüdischer Traditionen auf diese Überlegungen der
beiden Autoren, besonders in der Form der von Martin Buber gesammelten, übersetzten und neu geschriebenen chassidischen Erzählungen aus dem Ostjudentum, wird der zweite Teil meines
Vortrags gewidmet sein. Der gedankliche Austausch der beiden
politischen Exilanten jüdischer Herkunft in Paris hinterlässt in
beider Werk Spuren, die es nachzuzeichnen gilt. In Seghers’ Erzählungen lassen sich von Beginn an der Einfluss jüdischer Erzähltraditionen und messianischer Denkmuster nachweisen, auch
wenn dieser Einfluss auf das Schreiben der kommunistischen Autorin und langjährigen Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes
der DDR erst in den letzten Jahren, nach dem Fall der Mauer und
dem damit einhergehenden Fall von lange gepflegten Denkverboten auf beiden Seiten ins Blickfeld der Forschung geraten konnte. 3 Benjamin und Seghers haben sich beide intensiv mit Kafka
und mit dessen Interesse am Chassidismus und haggadischen Er3
Vgl. auch Sigrid Bock: „Die Last der Widersprüche. Erzählen für eine
gerechte, friedliche, menschenwürdige Welt – trotz alledem“. In: Weimarer
Beiträge 36 (1990) 10, S. 1554-1571.
48
zählformen auseinandergesetzt. Ein Blick auf die Kafkarezeption
der beiden Autoren soll daher das Nach-Denken für heute vorläufig beenden.
1. Der Engel der Geschichte
Ich wage also einen erneuten Kommentar zur berühmten IX. und
weiteren Thesen aus dem letzten Text Benjamins, den so genannten „Geschichtsthesen“, die er 1940 im Pariser Exil in der Nationalbibliothek (denn dort war es geheizt) schrieb. Das unvollendet
gebliebene Passagenwerk4 ermöglichte ihm als Auftragswerk für
das Institut für Sozialforschung, respektive Horkheimer und
Adorno, die sich nach New York hatten retten können, in dieser
Zeit seinen sehr kargen Lebensunterhalt. Dreimal reiste er aus Paris nach Dänemark zu Brecht, der ihm dort Unterkunft und Verpflegung bereitstellte. Beide profitierten von ausgiebigen Gesprächen und eben solchen Schachpartien.
Die Auseinandersetzung mit Brecht und seinem Exilwerk
bildet sich nicht nur in den Essays zu Brecht ab, sondern schreibt
sich in Benjamins gesamtes Exilschaffen ein. Als Deutschland
1939 mit dem Überfall auf Polen den II. Weltkrieg entfachte,
wurde Benjamin wie alle anderen deutschen Exilanten als feindlicher Ausländer vorübergehend in einem Lager inhaftiert. 1939 bis
1940, als er bis zum Einmarsch der Deutschen wieder in Paris
war, schrieb er die „Geschichtsthesen“, die er Hannah Arendt
noch in Paris in einer Fassung übergab. Über Lourdes gelang
Benjamin 1940 die Flucht nach Marseille, das zwar zum unbesetzten Teil Frankreichs gehörte, unter der Führung der mit den
Deutschen kollaborierenden Vichy-Regierung aber keineswegs
ein sicherer Aufenthaltsort war. (Wer sich von der Situation der
Flüchtlinge in Marseille zu dieser Zeit ein Bild machen möchte,
der lese Seghers’ Roman Transit.) Von hier aus betrieb er wie die
tausend anderen deutschen Flüchtlinge, die dort strandeten, seine
Ausreise. Mit dem endlich erlangten Visum in die USA versuchte
er, weil zeitweilig von Marseille aus keine Schiffe mehr fuhren,
4
Walter Benjamin: Das Passagenwerk. In: ders.: Gesammelte Schriften,
Bd. VI, (im Folgenden abgekürzt als GS), hrsg. von Rolf Tiedemann.,
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982.
49
am 24. September 1940 mit Lisa Fittko, die etliche Flüchtlinge zu
Fuß nachts über die Pyrenäen in den spanischen Grenzort Portbou
geführt hat (so zum Beispiel auch Hannah Arendt und ihren Mann
ein Jahr später), auf diesem Weg nach Spanien zu kommen, um
später von Lissabon aus in die USA zu reisen. Als der Reisegruppe in Portbou die Einreise nach Spanien verweigert wird, da sie
kein französisches Ausreisevisum vorlegen können, bringt sich
Benjamin, den der stundenlange Fußmarsch an den Rand seiner
Kräfte gebracht hatte, in der folgenden Nacht (26. Sept. 1940)
wahrscheinlich mit einer Überdosis Morphium um. Am nächsten
Morgen kann der Rest der Reisegruppe unbehelligt weiter reisen.
In Portbou erinnert seit 1994 eine Installation Dani Karavans an
den Tod Benjamins.
Vor und hinter dem auf einem Felsen oberhalb des Meeres gelegenen
kleinen Friedhof des Ortes hat Karavan drei Eisenelemente platziert:
eine Treppe ins Nichts, eine Eisenplatte mit einem Würfel in der Mitte
oberhalb des Friedhofs und einen Eisenschacht über der Steilküste,
dessen inwendige Treppe direkt aufs Meer zuführt. Der Gang die bei
jedem Schritt nachhallende Treppe hinunter endet auf halber Strecke
vor einer Glasscheibe auf der ein Zitat aus den Anmerkungen zu den
„Geschichtsthesen“ eingeritzt ist: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der
Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. […] Dem Gedächtnis
der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht." (GS I, S.
1241)
Das Zitat macht die Intention Karavans hier nicht ein Benjamin
Memorial zu errichten, sondern stellvertretend an die vielen namenlosen Flüchtlinge, die im spanischen Bürgerkrieg an dieser
Stelle von Spanien nach Frankreich flüchteten und die, die im
zweiten Weltkrieg auf der Flucht vor den Deutschen hier vorbeikamen und die, die immer noch und immer wieder auf der Flucht
sind vor Armut und Verfolgung, zu erinnern.
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff sich von etwas zu
entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund
steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. 5
5
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255.
50
Den Angelus Novus von Paul Klee hatte Benjamin im Mai 1921
während eines Aufenthaltes bei seinem Freund Gerhard Scholem
in München gekauft.6 Scholem und Benjamin hatten sich 1915 in
Berlin kennen gelernt. 7 Beide hatten bei Ausbruch des 1. Weltkriegs von ihrer jugendlichen Begeisterung für den Kulturzionismus und die Jugendkulturbewegung Abstand genommen, als sich
deren Leitfiguren Martin Buber auf der Seite der Kulturzionisten
und Gustav Wyneken auf der Seite der Jugendkulturbewegung
euphorisch für den Krieg als erlösendes Erlebnis ausgesprochen
hatten. Der unbedingte Pazifismus und die Prägung durch die jugendkulturellen Strömungen der Vorkriegszeit verbanden beide
miteinander. Dazu kam ein ausgeprägtes Interesse an der jüdischen Tradition, die aus Scholem im Laufe der Zeit den ersten
und wichtigsten Erforscher der jüdischen Mystik im 20. Jahrhundert machte. Scholem verwahrte Klees Bild einige Monate für
Benjamin. Es wird von da an immer wieder Gesprächsgegenstand
zwischen beiden sein. Scholem in Walter Benjamin und sein Engel dazu:
Er kam mündlich und schriftlich öfters auf das Bild zu sprechen. Als
er es erwarb, hatten wir Gespräche über jüdische Angelologie, besonders talmudische und kabbalistische, da ich damals gerade an einer
Arbeit über die Lyrik der Kabbala schrieb, in der ich mich ausführlich
über die Hymnen der Engel in den Vorstellungen der jüdischen Mystiker geäußert habe. Meiner eigenen langen Anschauung des Bildes
entstammte auch das Gedicht „Gruß vom Angelus“, das ich Benjamin
zu seinem Geburtstag am 15. Juli 1921 widmete [...]. 8
Dieses Gedicht stellt Benjamin seiner IX. These als Motto voran:
Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb’ ich auch lebendige Zeit
6
Gershom Scholem: „Walter Benjamin und sein Engel“. In: ders.: Walter
Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, hg. v.
Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 35-72, hier S. 44-46.
7
Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer
Freundschaft. Frankfurt/Main 1975, S. 12/13.
8
Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft (Anm.
7), S. 46.
51
ich hätte wenig Glück.
Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus. 9
Versteht man These IX als Emblem, bildet Scholems Gedicht die
inscriptio, die Beschreibung des Bildes die pictura und die Ausdeutung im Anschluss an die Beschreibung die subscriptio. Die
Verbindungen und Widersprüche, die sich zwischen den drei Teilen des Emblems ergeben, sind eine eigene Untersuchung wert,
die hier zu weit führen würde. Die Koordinaten sind aber benannt,
zwischen denen das Denken Benjamins zu seiner ganz eigenen
Ausprägung gelang: die jüdische (mystische) Tradition (vermittelt
durch den Freund Scholem) und der marxistische Materialismus
(im Freundschaftsnetzwerk vertreten durch Adorno und Brecht).
Die „Geschichtsthesen“ sind der Versuch, beide Denkrichtungen
miteinander zu verbinden, um so zu einer Geschichtsphilosophie
zu gelangen, die adäquate Antwort auf die Fragen und Ereignisse
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein konnte.
Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der
Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor
uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig
Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er
möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in
seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht
mehr schließen kann. 10
Die IX. These fasst die vorangegangenen Thesen zur Geschichtsauffassung des Materialismus in einem dialektischen Bild zusammen. Benjamin konstruiert ein Bild von Geschichte, das den
Namenlosen, den Opfern und nicht den Siegern, gewidmet ist.
Das verbindet sein Denken mit dem des Marxismus. Ganz anders
als die sich auf Marx berufende vulgärmarxistische Annahme eines sinnvollen und gesetzmäßigen Gangs der Geschichte bis hin
zur zwangsläufig sich ergebenden Diktatur des Proletariats aber,
„sieht er [der Engel im Gegensatz zu uns] eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft.“ 11 Benjamin
9
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255.
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255.
11
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 255.
52
10
radikalisiert so die marxistische Perspektive auf die Namenlosen.
Der Gang der Geschichte ist für ihn immer der Gang der Sieger
über die Besiegten hinweg, nicht wie im Marxismus der Gang des
Proletariats auf seinen Sieg zu. Deswegen kehrt der Engel der
Zukunft den Rücken zu. Sein Blick fällt auf die Katastrophen der
Vergangenheit, das ist die Blickrichtung des jüdischen Eingedenkens seit der Vertreibung aus Jerusalem. Was die Zukunft bringen
wird, kann er so nicht sehen. Der Schock, von dem der Engel befallen ist, ist das Bild für die Möglichkeit einer messianischen
Stillstellung des Geschehens. Nicht im gesetzmäßigen Gang der
Geschichte, sondern in dieser Stillstellung kann Erlösung möglich
werden. So fasst Benjamin hier das Prinzip des Fortschritts, von
dem der marxistische Materialismus durchdrungen ist, ambivalent
als Sturm, der vom Paradies herweht, also von diesem heiligen
Ort ausgeht, aber von ihm weg weht und den Engel daran hindert,
sein gutes Werk zu tun. Der Bote Gottes kann das Zerschlagene
nicht zusammenfügen und die Toten nicht wecken, weil ihn der
Fortschritt davon abhält. Die Ambivalenz des Bildes entsteht
durch die Zusammenfügung von politischen und theologischen
Gehalten, die im Moment des Schocks, dem der Engel in Benjamins Bild permanent ausgesetzt ist, zusammenschießen. Programmatisch formuliert er in These XVII:
Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern
ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen
gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen
Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. [...] In dieser Struktur erkennt er [der historische Materialist] das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit.12
Die messianische Stillstellung des Geschehens wird durch die
Formulierung „anders gesagt“ als Synonym für die „revolutionäre“ Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit verstanden. Messianismus und Materialismus werden im Schock zusammen gefügt. Denkbewegung (von der These XVII hier
spricht) und Geschichtsbewegung (von der beide Thesen sprechen) werden parallel geführt und dialektisch im Bild des Still12
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 260.
53
stands bei gleichzeitiger unaufhaltsamer Bewegung gefasst. Fragen wir, woraus sich diese paradox scheinende Vorstellung speist,
so verweist uns die Formulierung „das Zeichen einer messianischen Stillstellung“ auf den Messianismus und die Studien Scholems zur Kabbala.
„Die Kabbala, wörtlich ‚Überlieferung‘, nämlich Überlieferung von den göttlichen Dingen, ist die jüdische Mystik“, formuliert Scholem in der Einleitung zu seinen Untersuchungen Zur
Kabbala und ihrer Symbolik. 13 Der Beginn der Kabbala als mystische Geheimlehre liegt im 12. Jahrhundert. Popularisiert wurde
sie 1492 mit der Vertreibung der Juden aus Spanien. Im Zuge der
Vertreibung nahm sie messianische Züge an. Der legendenumwobene Isaak ben Salomo Luria (1534-1572) entwickelte um 1570
in Kairo eine Neuinterpretation der Kabbala, die als so genannte
„Lurianische Kabbala“ auch unter anderem Martin Buber, Scholem und Benjamin bekannt gewesen ist und auf die alle drei immer wieder Bezug nehmen. Scholem als ihr erster Wissenschaftler, Buber als neuer Mystiker und Benjamin in der Aufnahme
grundlegender Ideen und Bildlichkeit in seine Geschichtsphilosophie. Während die mittelalterliche Kabbala Spekulationen über
die Maße Gottes, den Gottesnamen, Zahlenmystik zur Errechnung
des Zeitpunktes der Ankunft des Messias und Buchstabendeutungen enthielt, kombiniert die Lurianische Kabbala eine Ursprungserzählung mit dem Erlösungsgedanken. Der Ursprungsmythos
lautet zusammengefasst: Aus einem Akt göttlicher Selbstbeschränkung und Zurücknahme (Zimzum) geht die Gestalt eines
übernatürlichen Menschen hervor, von dessen Gesicht Licht in
die Schalen der Sefirot, der göttlichen Emanationen (Manifestationen), gelangt. Die Sefirot zerbrechen aber an der Stärke des
Lichtes (Schewirat ha-Kelim) und aus dieser kosmischen Katastrophe entsteht die materielle Welt, in die die göttlichen Lichtfunken versprengt werden. Der Prozess der Wiederherstellung der
ursprünglichen Einheit (Tikkun) verläuft über eine Bergung der
göttlichen Funken durch Läuterung ganz Israels und durch
Toraerfüllung und endet mit der Erlösung durch die Ankunft des
13
Gershom Scholem: „Zur Einleitung“. In: ders.: Zur Kabbala und ihrer
Symbolik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 7-10, Zitat S. 7.
54
Messias. 14 Der Messianismus neuzeitlicher Prägung findet einen
Anknüpfungspunkt in dieser einflussreichen Ausdeutung der
Kabbala. 15 So wird die Wiederherstellung zwar an das Verhalten
des Volkes Israel gebunden, findet aber erst mit dem unberechenbaren Kommen des Messias seine Vollendung.
In Benjamins „Geschichtsthesen“ finden sich Übernahmen
der Bildlichkeit aus der lurianischen Kabbala und dem Messianismus. Die Geschichte als Katastrophe, auf die der Engel der
Geschichte blickt, erinnert an die Aufgabe des Eingedenkens der
Katastrophen der jüdischen Geschichte zur Erinnerung an das
Wiederherzustellende, also die Zusammenfügung des Zerbrochenen im Tikkum. In der Bibel und im jüdischen Ritus ist dieses
Eingedenken unter anderem in der Abschiedsformel des Sederabends: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ verankert. Diese Formel
verweist auf die Möglichkeit der Ankunft des Messias, der sein
Volk zurück ins Gelobte Land führen und den Tempel in Jerusalem wieder aufbauen wird. In These II heißt es:
Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie
auf die Erlösung verwiesen wird. [...] Ist dem so, dann besteht eine
geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und
unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns
wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische
Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.16
Benjamin macht hier gleich zu Beginn seiner Thesen die zentrale
Idee des Judentums, wonach die Vergangenheit des Volkes, so
wie sie in der Tora (den 5 Büchern Mose) festgehalten ist, zugleich mit dem Galut (Exil) das Versprechen der zukünftigen
Wiederherstellung der Einheit mit Gott durch das Kommen des
Messias beinhaltet, zu einer allgemein gültigen Voraussetzung
aller Geschichte. Es folgen mehrere rhetorische Fragen und dann
14
Vgl. Gershom Scholem: „Kabbala und Mythos“. In: ders.: Zur Kabbala
und ihrer Symbolik (1973) S. 146-158. Vgl. Lemmata „Kabbala“ und
„Luria“. In: Neues Lexikon des Judentums, hrsg. von Julius H. Schoeps,
München 1991, S. 248/249/297.
15
Vgl. Gershom Scholem: „Zum Verständnis der messianischen Idee im
Judentum“. In: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums,
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 121-167.
16
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 252.
55
die Setzung: „Ist dem so, dann [...].“ Es ist ein Glaubenssatz, den
Benjamin hier formuliert und seiner Geschichtsphilosophie zugrunde legt. Auch in den textlichen Vorstadien zu den Geschichtsthesen finden sich sehr deutliche Hinweise darauf:
Die Thora und das Gebet unterweisen sie [die Juden] dagegen im Eingedenken. [...] Den Juden wurde darum aber die Zukunft doch nicht
zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die
kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.17
Eingedenken der Vergangenheit und Zukunft (Utopie) vereint im
Stillstand des Jetzt als Pforte, durch die der Messias treten könnte,
das ist Benjamins paradoxe Denkbewegung, die er ins Bild der
jüdischen Tradition fasst. Die Aufgabe des Historikers in der Gegenwart beschreibt er so: „Er [der Historiker] begründet so einen
Begriff der Gegenwart als ‚Jetztzeit‘, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.“ 18 Die Hebung und Wiederentdeckung der Splitter messianischer Zeit ist hier Aufgabe des historischen Materialisten, als den sich Benjamin verstand. Das Bild von
den eingesprengten Funken und die Idee einer Möglichkeit der
Erlösung durch die Arbeit des Eingedenkens, durch die Bergung
der göttlichen Funken, stammt aus der Lurianischen Kabbala.
2. Jüdische Erzähltraditionen: Haggada und Chassidismus
Benjamins Engel starrt mit offenem Mund auf die Trümmer, die
sich unablässig vor ihm und zugleich hinter ihm, nimmt man seine rückwärts gewandte nach vorne treibende Bewegung ernst,
auftürmen. Der Engel und Klees Bild sind sprachlos. Benjamin
bringt beides in und durch seinen Text zum Sprechen. Das Sprechen von der Möglichkeit der Ankunft des Messias, der die entstellte Welt, wenn er kommt, um nur ein weniges zurechtrücken
wird, wie Benjamin es in seinem Kafkaessay formuliert, 19 ist das
Offenhalten der Pforte, durch die der Messias wird eintreten können. Ähnlich verhält es sich mit dem Sederritual, an dem die Tür
17
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 261.
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX (Anm. 1), S. 261.
19
Walter Benjamin: „Franz Kafka“. In: ders.: Angelus Novus. Ausgewählte
Schriften 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 248-263, hier S. 263.
56
18
offen und ein Stuhl frei bleibt für den Propheten Elias, der dem
Erscheinen des Messias der Überlieferung nach vorangehen soll.
Das Lesen und Erzählen vom Exodus dient an diesem Abend dem
Eingedenken der Vergangenheit, das die Möglichkeit der Erlösung aufrechterhält. Von jeher haben daher auch Erzählungen eine bedeutende Rolle in der Schriftreligion des Judentums gespielt.
Die Haggada vereint erzählerische Kurztexte aller Art und ist neben der Halacha, die eine Sammlung aller Gesetze enthält, Teil
der Tora. Sagen, Legenden, Anekdoten, Märchen, Fabeln,
Gleichnisse, Wundergeschichten, Witze und auch die Rätsel der
Haggada sind Auslegungen der Schrift, die aber nicht wie in der
Halacha auf die Herleitung praktischer Normen zielen und autoritativen Charakter besitzen, sondern ohne System und Anspruch
auf Alleingültigkeit auf die hinter der Lehre stehenden Ideen zielen.20 Als solche sind die Texte der Haggada wichtiger Teil von
Predigten und mündlichen Unterweisungen, in denen die Lehre
lebendig wird. Das, was ich als jüdische Erzähltraditionen bezeichnet habe, fußt auf diesen Texten und der Bedeutung des
mündlichen Erzählens im jüdischen Ritus.21
Für Walter Benjamin, Anna Seghers und viele andere dieser
Generation ist eine ganz spezifische Ausprägung dieser Erzähltraditionen bedeutsam geworden, die sich mit dem Namen Martin
Buber (geb. 1878 in Wien – gest. 1965 in Jerusalem) untrennbar
verbunden hat.
Buber, den man auch als Antipoden Scholems bezeichnen
könnte, vertrat etwa seit der Jahrhundertwende die kulturzionistische Position in Abwendung von Herzls politischem Zionismus.22
1909/10 hielt er in Prag Drei Reden über das Judentum 23, in denen er seine Position, dass eine geistige Erneuerung des Judentums vor einer politischen Lösung der Palästinafrage erfolgen
müsse, entwickelte. Der Einfluss dieser Reden auf die zionistische
20
Vgl. Lemma „Haggada“. In: Neues Lexikon des Judentums (Anm. 14).
Vgl. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine,
Buber, Kafka, Benjamin. München: Carl Hanser Verlag 2007.
22
Zur Geschichte des Zionismus vgl. Hans-Jochen Gamm: „Zur
Entstehung des Zionismus“. In: Der Deutschunterricht 3 (1985), S. 7-17.
23
Martin Buber: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt/Main: Rütten &
Loening 1919.
57
21
Jugendbewegung war immens, auch Franz Kafka und Max Brod
zum Beispiel setzen sich intensiv mit Bubers dort formulierter
Position auseinander. Bis heute immer wieder neu aufgelegt werden seine chassidischen Erzählungen, mit deren Übersetzung aus
dem Jiddischen und Hebräischen er um die Jahrhundertwende begann.
Der Chassidismus entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts
in Südostpolen und verbreitete sich von da aus in die Ukraine,
nach Galizien, Zentralpolen, Weißrussland und Ungarn. Als Begründer dieser Bewegung gilt Israel ben Elieser Baal Schem Tow
(Meister des guten Namens, gest. 1760), der die Lurianische Kabbala erneuerte und für das Volk zugänglich machte. Er lehrte,
dass jeder einzelne die in der Materie versprengten Lichtfunken
erlösen kann. Wenn alle Funken erlöst sein werden, wird der
Messias erscheinen. In Abweichung von der Kabbala geschieht
die Erlösung der Funken im Chassidismus aber durch Freude und
Begeisterung, nicht durch Fasten, Trauer und fortwährendes Studium. Angetrieben von der Suche nach dem wahren Kern einer
jüdischen Identität entdeckte Buber für sich und andere Westjuden diese Traditionen des Ostjudentums neu. 24 Es ging ihm nicht
um eine philologische Sicherung der Quellen, wie Gerhard Scholem noch in den 1960er Jahren, als Bubers Ruhm auf dem Höhepunkt war und das, was gemeinhin als Judentum galt, fast ausschließlich durch die Schriften Bubers definiert war, immer wieder ins Bewusstsein zu bringen versuchte. 25 Vielmehr sah er sich
selbst am Beginn seiner Beschäftigung mit den Chassidim als ein
direkter Nachfolger und Erneuerer dieser Tradition. Die Lehren
24
Der Name Ostjuden selbst stammt erst aus dieser Zeit. Er wurde von
Nathan Birnbaum, der auch den Begriff Zionismus prägte, erstmals
gebraucht. Birnbaum diente der in seinem Volk, seiner Tradition und in
seiner angestammten Zukunftshoffnung verwurzelte Ostjude ebenfalls als
Gegenbild zum assimilierten, innerlich unsicheren Westjuden. Vgl. Ludger
Heid: „Das Ostjudenbild in Deutschland“. In: Neues Lexikon des
Judentums (Anm. 14), S. 350-352, hier S. 350. Vgl. auch Martin Buber:
Die jüdische Mystik. In: ders., Werke. Schriften zum Chassidismus, Bd. 3.
München: Kösel-Verlag 1963, S. 15.
25
Vgl. Klaus Samuel Davidowicz: Gershom Scholem und Martin Buber.
Die Geschichte eines Missverständnisses. Neukirchen: Neukirchener
Verlag 1995.
58
des Zaddik (des Gerechten) wurden im Chassidismus durch Erzählungen weitergegeben, die neben den Lehrsprüchen auch legendenhaft vom Leben des Meisters handelten.
Buber stellte sich durch seine Übersetzungen und Neufassungen in diese Traditionslinie und sah sich selbst als neuen
Zaddik.26 Zwar distanzierte er sich später von diesen Bekenntnissen, es blieb aber immer ein ethisches Interesse, kein wissenschaftliches, das er dem Chassidismus als der „Ethos gewordene[n] Kabbala“27 entgegenbrachte.28
Bubers Nacherzählungen beginnen meist mit „Es wird erzählt“, „Es wird weiter erzählt“, „Es heißt“, „Der Baalschem fragte einst seinen Schüler“, „Der Baalschem sprach“, „Ein Schüler
fragte den Baalschem“ und ähnlichen Topoi. Die mündliche
Überlieferung der Legenden und Sinnsprüche war fester Bestandteil der Lehre, die damit – was Buber immer wieder betonte – anderen mystischen und volkstümlichen Textformen gleicht. Die
sehr kurzen Erzählungen erklären wenig, die Botschaft ist selten
eindeutig, meist aber offen versteckt. Die Erzählung „Der Geschichtenerzähler“ beginnt zum Beispiel:
Als Rabbi Jaakob Jossef noch Raw in Szarygrod und dem chassidischen Weg sehr abhold war, kam einst in seine Stadt an einem Sommermorgen, um die Zeit, da man das Vieh auf die Weide trieb, ein
Mann, den niemand kannte, und stellte sich mit seinem Wagen auf
den Marktplatz. Den ersten, den er eine Kuh führen sah, rief er an und
begann, ihm eine Geschichte zu erzählen, und sie gefiel ihrem Hörer
so gut, dass er sich nicht losmachen konnte. Ein zweiter griff im Vorbeigehen ein paar Worte auf, wollte weiter und vermochte es nicht,
blieb stehen und lauschte. Bald war eine Schar um den Erzähler versammelt, und die wuchs noch stetig. 29
26
Vgl. Martin Buber: Mein Weg zum Chassidismus. Frankfurt/Main:
Rütten & Loening 1918, S. 19.
27
Martin Buber: Die jüdische Mystik (Anm. 24), S. 15.
28
Für einen genauen philologischen Vergleich einiger Quellen mit den
Überarbeitungen Bubers siehe: Davidowicz: Gershom Scholem und Martin
Buber (Anm. 25), S. 119-128.
29
Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Mit einer Einführung des
Verfassers, Zürich: Manesse 2003, S. 138/139.
59
So ergeht es auch dem Bethausdiener, der als er eine Stunde zu
spät zum Bethaus kommt, um dieses zu öffnen, heftig vom Rabbi
gescholten wird. Als der Diener den Grund seines Fernbleibens
verrät, lässt der Rabbi den Mann, der der Baalschem ist, zu sich
kommen und beschimpft ihn, was ihm einfalle, die Menschen
vom Beten abzuhalten, er werde ihn zur Strafe verprügeln lassen.
Der Baalschem aber schaut dem Rabbi in die Augen, was diesen
verstummen lässt, und beginnt dann eine Geschichte zu erzählen:
„Ich bin einmal mit drei Pferden über Land gefahren“, erzählte der
Baalschem, „einem Roten, einem Scheck und einem Schimmel. Und
alle drei haben sie nicht wiehern können. Da ist mir ein Bauer entgegengekommen, der hat mir zugerufen: „Halt die Zügel locker!“ So habe ich die Zügel gelockert. Und da haben sie alle drei zu wiehern angefangen.“
Der Raw schwieg betroffen. „Drei“, wiederholte der Baalschem, „Roter, Scheck, Schimmel, wiehern nicht, Bauer weiß Bescheid, Zügel lockern, wiehern auf!“ Der Raw schwieg gesenkten Hauptes. „Bauer
gibt guten Rat“, sagte der Baalschem, „versteht ihr?“ „Ich verstehe,
Rabbi“, antwortete der Raw und brach in Tränen aus. Er weinte und
weinte und merkte, er hatte bis heute nicht verstanden, was das heißt:
ein Mensch kann nicht weinen. „Man muß dich erheben“, sagte der
Baalschem. Der Raw sah zu ihm auf und sah ihn nicht mehr. 30
Exemplarisch kann man an dieser Erzählung beobachten, welche
herausragende Bedeutung das Geschichtenerzählen für die Chassidim hatte. Wenn in aller Materie die göttlichen Funken eingefangen sind, dann ist jede bewusst und freudig ausgeführte Arbeit
ein Gottesdienst. Um zu solcher Bewusstheit zu gelangen, nutzt
der Zaddik nicht das erzwungene Torastudium und das pflichtbewusste Gebet. Zahlreich sind die Geschichten über Rabbi, die vor
lauter Studium der heiligen Schriften das Leben und damit ja die
Materie, in der die Funken gefangen sind, aus den Augen verlieren. Stattdessen dienen Erzählungen und Gleichnisse, die den Alltag der Menschen begleiten, und so mitten im Leben Rat geben
und Gutes tun, dazu, die göttlichen Funken zu erlösen. Die Erzählung selbst ist der Gottesdienst. Und zwar hier in vierfacher Weise: die Erzählungen des Baalschem an die Dorfbewohner und seine Erzählung plus deren Wiederholung gegenüber dem Rabbi.
30
Buber: Die Erzählungen der Chassidim (Anm. 29), S. 140.
60
Das Wiehern der Pferde aus der Geschichte (metadiegetische Erzählebene) ist der dritte Verweis auf das Erzählen. Die Pferde
ziehen den Wagen und tun so ja eigentlich alles, was Kutschpferde tun sollen. Dass aber das Wiehern zu ihrem ureigensten Ausdruck gehört und, wenn es fehlt, etwas nicht in Ordnung ist, das
ist die Setzung des Geschichtenerzählers, der vom Geschichten
erzählen erzählt. Wir können hier eine Parallele ziehen zum
stummen aber offenen Mund des Engels. Der Rabbi, der sich ganz
vom normalen Menschenleben entfernt hat, braucht eine sehr
deutliche Belehrung. Nicht nur erzählt ihm der Baalschem ein
Gleichnis, das an Einfachheit kaum zu übertreffen ist. Noch dieses einfache Gleichnis braucht eine bestätigende Kurzfassung,
damit der Rabbi von seinem selbstgefälligen und selbstsicheren
Podest herabsteigen oder besser herabfallen kann:
„Drei“, wiederholte der Baalschem, „Roter, Scheck, Schimmel, wiehern nicht, Bauer weiß Bescheid, Zügel lockern, wiehern auf!“ Der
Raw schwieg gesenkten Hauptes. „Bauer gibt guten Rat“, sagte der
Baalschem, „versteht ihr?“31
Sogar die Deutung wird für den Rabbi noch mitgeliefert.
Durch dieses insistierende Erzählen wird ein quasitherapeutischer Prozess eingeleitet, durch den der Rabbi zurückfindet zur eigenen Menschlichkeit, für die die Fähigkeit zu weinen metonymisch steht. Zum Schluss der kurzen und einfach erscheinenden Erzählung von den Erzählungen des Baalschem werden wir noch mit offenen Fragen und einem wunderbaren Element konfrontiert. Was bedeutet der letzte Satz des Baalschem:
„Man muß dich erheben?“ Hier könnte eine neue Erzählung anknüpfen. Hinzu kommt, dass in dem Moment, in dem der Rabbi
bereit ist, zu erkennen, dass er ‚seinen Meister’ gefunden hat, der
Baalschem geradezu geisterhaft verschwindet. Diese Art provozierenden Wunderglaubens ist essentielles Element des Chassidismus. Auf ihm gründete die Gegnerschaft der jüdischen Orthodoxie und der jüdischen Aufklärung gleichermaßen, was wiederum für Buber und andere junge Kulturzionisten eine Erneuerung
des Judentums aus dieser häretischen Tradition besonders attraktiv erscheinen ließ.
31
Buber: Die Erzählungen der Chassidim (Anm. 29), S. 140.
61
Auch wenn Benjamin und Scholem der Art und Weise, wie Buber
sich als Fortsetzer der Chassidim inszenierte und wie er mit den
Quellen umging, sehr kritisch gegenüber standen, haben sie diese
gelesen und gemeinsam diskutiert. Die Kenntnis der chassidischen Erzählungen hat Einfluss genommen auf Benjamins Konzeption vom Erzählen: die Mündlichkeit, das Rat geben, das in
Gemeinschaft sprechen, sind Elemente, die in Benjamins literaturkritischen Texten immer wieder auftauchen. Das Nachdenken
über die Möglichkeiten literarischen Erzählens bildete neben der
Geschichtsphilosophie einen zweiten Schwerpunkt seines Arbeitens am Ende der 1920er und in den 1930er Jahren.
3. Erzählen bei Benjamin und Seghers
Im Pariser Exil führte Benjamin Gespräche mit Anna Seghers
über den Zustand des Erzählens angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen. 1937 rezensierte er Anna Seghers’ Roman
Die Rettung (1937). 32 Dort nennt er sie eine „Chronistin der deutschen Arbeitslosen“. Damit betont er die Nähe ihres Erzählens zu
alten epischen Formen. Er schreibt: „Die Stimme der Erzählerin
hat nicht abgedankt. Viele Geschichten sind in das Buch eingesprengt, welche darin auf den Hörer warten.“ 33 Anders als im
Roman, den er, in Anlehnung an Georg Lukács, als den Ausdruck
des Individuums in seiner Einsamkeit und Ratlosigkeit versteht,
sieht er in diesem Erzählerischen und der episodischen Struktur
ein auf Hilfe zielendes Schreiben. Besonders hebt er die Umkehrung bzw. Stillstellung des Zeitlaufs hervor.
Der Text beginnt mit der Rettung von 7 Bergleuten aus einem verschütteten Stollen. Nach der Rettung wird die Grube geschlossen, weil sie nicht mehr rentabel sein soll. Die restlichen
500 Seiten passiert nichts. Die Männer sind arbeitslos, die Familien hungern, die Gespräche drehen sich um die letzten Reste trügerischer Hoffnungen, ein Mädchen stirbt unbemerkt und allein
an einer Abtreibung, langsam sickern nationalsozialistische Paro32
Walter Benjamin: „Eine Chronik der Deutschen Arbeitslosen. Zu Anna
Seghers’ Roman „Die Rettung““. In: ders.: GS III, S. 530-538, folgendes
Zitat S. 533.
33
Benjamin: „Eine Chronik der Deutschen Arbeitslosen.“ (Anm. 32), S.
533.
62
len in das Arbeiterdorf ein. Das einzige Ereignis findet am Anfang statt, danach gibt es nur noch endloses Warten und die damit
verbundenen Gespräche. Solch ein Handlungsaufbau widerspricht
jeder herkömmlichen Romandramaturgie. Deswegen betont Benjamin den mündlichen auf ein Kollektiv zielenden Charakter des
Erzählens und stellt ihn dem bürgerlichen Roman gegenüber.
Seghers’ Darstellung ist ihm Chronik, der die zeitliche Perspektive und damit ein Einverständnis mit dem Gang der Geschichte
fehlt. Es ist ein Innehalten angesichts der Herrschaft des Nationalsozialismus, das einzelne Trümmer beschreibt, ohne aus den einzelnen Bruchstücken ein sinnvolles Ganzes zu konstruieren, das
zur Rechtfertigung missbraucht werden könnte. In Benjamins Rezension wird die Nähe seiner Geschichtsphilosophie zu den literarischen Texten von Seghers, wie er sie las, sehr deutlich.
Anna Seghers war zu diesem Zeitpunkt bereits eine recht
anerkannte Schriftstellerin. Direkt nach dem Reichstagsbrand war
sie als Mitglied der KPD einen Tag lang verhaftet worden, woraufhin sie und ihr Mann Laszlo Radvanyi 34, der die marxistische
Arbeiterschule (MASCH) in Berlin leitete, sofort über die
Schweiz nach Paris flohen. Nachdem sie in einem Pariser Vorort
ein Haus für die Familie gefunden hatten, konnten die beiden
kleinen Kinder von Seghers’ Eltern zur Grenze gebracht werden.
Ausreisen durften die Eltern nicht mehr. Im Pariser Exil war sie
rastlos tätig. Sie gründete zum Beispiel mit anderen AutorInnen
den Schutzverband Deutscher Schriftsteller und übernahm den
Vorsitz. In dieser Funktion lud sie unter anderem Benjamin ein,
der dort seinen Vortrag Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hielt. Seghers, die 1928 den KleistPreis für ihre Erzählungen Der Aufstand der Fischer von Santa
Barbara (1928) und Grubetsch (1927) bekommen hatte, war in
34
Ihr Mann hatte dem Budapester Sonntagskreis um Georg Lukács und
Karl Mannheim angehört, dessen Mitglieder 1919 nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik Béla Kuns durch rumänische und
polnische Truppen unter der Führung von Nikolaus von Horthy ins Exil
gehen mussten. Auch in diesem Kreis waren messianistische und
chiliastische Vorstellungen über die Verwirklichung des Reiches Gottes auf
Erden durch sozialistische Reformmodelle diskutiert worden.
63
Paris eine treibende Kraft in den Aktivitäten der Exilanten zur
Formierung einer Volksfront.
Netty Reiling, wie sie eigentlich hieß, kam aus gutbürgerlichem jüdischem Mainzer Elternhaus. Während sie 1924 an ihrer
Doktorarbeit in der Kunstgeschichte zum Thema Jude und Judentum im Werk Rembrandts 35 schrieb, veröffentlichte sie zugleich
ihre erste Erzählung unter Pseudonym: Die Toten von der Insel
Djal. Eine Sage aus dem Holländischen, nacherzählt von Antje
Seghers. Die vorgebliche Nacherzählung dieser Sage, eine von
Seghers immer wieder zweideutig benutzte Gattungsbezeichnung
(Sagen = Erzählen und Sage = Heldensage), ist wie Bernhard
Greiner formulierte, „[...] Grundtext im Sinne eines Ursprungstextes. Sie lässt die Autorschaft ‚Anna Seghers’ aus einem Text
entstehen.“36 Die fiktionale Autorin Antje Seghers stellt sich, was
erst am Ende der Erzählung deutlich wird, in ein Verwandtschaftsverhältnis mit der Hauptperson, einem Priester auf einer
kleinen Insel, dessen „Wollust“ es ist, möglichst alle ertrunkenen
Schiffsleute, deren Schiffe zahlreich an den Klippen der Insel zerschellen, zu bergen und sie zu begraben. Eines Abends nun:
[...] saß der Pfarrer eine aufgeschlagene Bibel vor sich, in seiner
Kammer. „Und es ging ein Brief an die Gemeinde von Laodicea...“,
sagte er zum dritten Mal laut vor sich hin und schlug auf den Tisch;
denn aus irgendeinem Grund schien ihm diese Stelle besonders wohlklingend und eine Zierde des Neuen Testamentes zu sein, wenngleich
das Alte den Dursaiten seines Herzens besser anstand. 37
35
Netty Reiling (Anna Seghers): Jude und Judentum im Werk Rembrandts.
Leipzig 1981. Reiling erwähnt sowohl die Bedeutung der Lurianischen
Kabbala für einige Amsterdamer Juden, als auch die Bewegung des
falschen Messias Sabbatai Zewi und sie zeigt, dass sich in Rembrandts
Spätwerk Judendarstellungen finden, deren Modelle eine neue Gruppe von
Einwanderern sind: die durch die Pogrome in Polen 1640 in den Westen
vertriebenen Ostjuden, die zerlumpt, verarmt und gerade mit dem Leben
davon gekommen in Amsterdam eintreffen.
36
Bernhard Greiner: „‚Sujet Barre’ und Sprache des Begehrens: Die
Autorschaft ‚Anna Seghers’“. In: Literatur der DDR in neuer Sicht.
Frankfurt/Main: Peter Lang 1986, S. 46-79, hier S. 48.
37
Anna Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen.
Berlin und Weimar: Aufbau 1987, S. 16/17.
64
Es tritt jemand geräuschlos in seine Kammer ein und bittet den
Pfarrer, ihn zu dem Grab seines Vetters, eines kürzlich hier gestrandeten Kapitäns, zu führen. Als der Gast die Bibel auf dem
Tisch erblickt, schaut er hinein.
„Ich kann nicht begreifen“, sagte er höhnisch, wie ein vernünftiger
Mensch an solchem Gefallen finden kann. Wenn man sich hierauf verlassen würde, könnte man glauben, dass die Menschen auf der Welt
sind, um innen und außen die wunderbarsten Sachen zu erleben, die
aber alle erst ein Vorspiel zu dem Großartigen sind, was am Schluß
kommt. Und wie ist’s in der Wirklichkeit? Sie fahren ein bißchen auf
dem Wasser herum, krepieren irgendwo und liegen den Rest der
Ewigkeit mit hohlem Magen in der schmutzigen Erde.
Der Pfarrer wurde nicht wild, sondern bekam ein Lächeln in die Augenwinkel. Ich finde, daß es ein prächtiges Buch ist. Ich weiß es von
A bis Z auswendig und hätte ich noch mal zu leben, würde ich’s
nochmals auswendig lernen. Es ist darin von allen die Rede, von
Dummen und Klugen, Starken und Schwachen, Harten und Weichen,
Seeleuten und geistlichen Herren. Und was die wunderbaren Sachen
anbelangt, so erlebt jeder genau so viel, als er vertragen kann. 38
Nach diesem Gespräch, in dem Seghers’ eigene Haltung zur Bibel
in der Rede des Pfarrers zu Wort kommt, gehen beide auf den
Friedhof, wo sich herausstellt, was der Pfarrer und mit ihm die
Lesenden längst ahnen, dass es sich um den toten Kapitän selbst
handelt, dem es zu langweilig geworden ist und der den Pfarrer an
seiner Statt in das eigene Grab legen will. Das bringt den Pfarrer
nur zum Lachen. Er zeigt dem Toten einen Grabstein mit der Aufschrift:
Hier ruht
JAN SEGHERS
gestorben auf der Insel Djal
im Jahre des Herrn 1625
im kalomistischen Glauben
in dem er lebte und geboren wurde
zu Altmark
1548. 39
38
Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen (Anm.
37), S. 19/20.
39
Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen (Anm.
37), S. 24. „Kalomistisch“ erklärt Helen Fehervary in The mythic
65
Daraufhin befördert der Pfarrer den toten Kapitän wieder zurück
in dessen Grab:
Was aber mich anbelangt, so begnügte ich mich nicht damit, eine
Hand herauszustrecken, einen Grabstein umzuwerfen oder einen Pfarrer zu erschrecken, sondern ich setzte Gott mit so wilden und zornigen
Gebeten so lange zu, bis er mich auf die Fürbitte seiner sieben Engel
noch einmal in meiner alten Gestalt ins Leben lassen musste. Ihr
müsst nämlich wissen, Kapitän --- ich selber bin ein Toter! 40
In dieser ersten Erzählung der jungen Netty Reiling konstituiert
sich die Autorschaft ‚Anna Seghers’ als ein Nacherzählen, ein
wiederholtes Erzählen der Vergangenheit. Man könnte es ein
haggadisches Erzählen nennen, ein erneutes, leicht verschobenes
Erzählen biblischer Texte, das Fragen stellt und zum Nachdenken
auffordert. Der totlebendige Pastor Jan Seghers ist eine Gegenfigur zum Hiob. Sein Ringen mit Gott ist auf das Leben gerichtet,
nicht auf das Jenseits. Die Phantastik der Erzählung betont die
noch einzulösenden Möglichkeiten der Autorschaft ‚Anna Seghers’.
In Seghers’ frühen Texten aus den 1920er und 30er Jahren
finden sich immer wieder Heldenfiguren, die anders als das phantastische Autorspiegelbild Jan Seghers scheitern. Im Erzählen von
diesem Scheitern wird auf die noch ausstehende Möglichkeit der
Erlösung hingewiesen. Sichtbar wird diese messianische Aufgabe
der Heldenfiguren in den Fünkchen, die in ihren Augen glimmen
und die sie weiter geben. Diese Fünkchen sind eines der wichtigsten literarischen Symbole in Seghers’ Texten. Sie tauchen bis in
die letzten Erzählungen von 1980 (3 Jahre vor ihrem Tod) immer
wieder auf. Ihre erzählerische Geschichtskonstruktion verwendet
eine Bildlichkeit, die ähnlich zeitlich paradox gebaut ist, wie wir
sie in Benjamins „Geschichtsthesen“ beobachten konnten:
Als der Waisenjunge Andreas, für den die Teilnahme am
Aufstand der Fischer von Santa Barbara sein erstes hoffnungsvol-
Dimension. Ann Arbor Michigan 2001 als eine Zusammensetzung aus
ungarisch kaland=Abenteuer und misztikus=mystisch, ebd. S. 77.
40
Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Sagen von Unirdischen (Anm.
37), S. 24/25.
66
les Erlebnis war, auf der Flucht von Soldaten erschossen wird,
heißt es zum Beispiel:
Andreas hörte noch mal „Halt!“, er rannte noch schneller, er hörte
auch einen Knall, das war wie ein Händeklatschen: weiter – er rannte
– , Andreas war schon umgefallen, hatte sich schon überkugelt, war in
den Steinen hängengeblieben, das Gesicht unkenntlich zerschlagen –
aber etwas in ihm rannte noch immer weiter, rannte und rannte und
zerstob schließlich nach allen Richtungen in die Luft in unbeschreiblicher Freude und Leichtigkeit. 41
Die Dichotomien von Stillstand (Halt!) und Weiterbewegung
(Rennen) werden im literarischen Bild zusammengefasst. Umgefallen, überkugelt, hängengeblieben, unkenntlich und zerschlagen:
dieser Reihung gewaltsamer Auslöschung setzt Seghers ein dreimaliges Rennen und Zerstieben entgegen, das an die Zerstörung
der Sefirot und die Versprengung der göttlichen Funken in der
Lurianischen Kabbala erinnert. Seghers säkularisiert und literarisiert den Messianismus, indem sie dessen Denkbewegungen konsequent für die Befreiung der von Menschen unterdrückten Menschen einsetzt. In der Öffentlichkeit, „auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, [...] in der Welt
des Sichtbaren“ 42 soll Erlösung stattfinden.
Darin unterscheidet sich die jüdische Messias- und Endzeitvorstellung grundsätzlich von der christlichen, die die Erlösung
im Bereich des Geistigen und Unsichtbaren ansiedelt, wie Scholem ausführt. Das erzählerische Eingedenken und die Bindung der
Erlösung an die Welt des Sichtbaren begünstigen die verschiedenen Säkularisierungen jüdischen Messianismus’, wie wir ihn in
den 1920er bis 1940er Jahren bei Benjamin, Ernst Bloch, Martin
Buber und in literarischer Form auch bei Seghers finden.
In der letzten Berliner Wohnung von Anna Seghers, die heute Gedenkstätte ist und besichtigt werden kann, findet sich in der
umfangreichen Bibliothek Bubers erste Übertragung chassidischer Texte: Die Geschichten des Rabbi Nachmann von 1906, die
41
Anna Seghers: Aufstand der Fischer von Santa Barbara. In: dies.:
Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 7-96, Zitat S.
94.
42
Vgl. Scholem: „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“
(Anm. 15), S. 121-167, hier S. 121.
67
Drei Reden über das Judentum (1920) und Die Legende des
Baalschem, die sie ihrem Verlobten 1922 mit einer Widmung
schenkte. Außerdem besaß Seghers mehrere Haggada Ausgaben
und eine Bibelsammlung. 43 Seghers hatte sich nur die ihr wichtigsten Bücher von ihren Eltern nach Paris schicken lassen. Diese
Bücher wurden nach dem Krieg noch unversehrt wieder gefunden, so dass die heute noch vorhandene Bibliothek ein gutes Bild
zeichnet, von dem, was Seghers in dieser Zeit wichtig war. Später
hat Seghers nie dezidiert auf ihre jüdische Herkunft aufmerksam
gemacht, so dass der Hinweis auf jüdische Erzähltraditionen in
ihrem Werk noch bis vor zwei Jahrzehnten einhellig als absurd
gegolten hätte. Zu bedenken ist, dass die Bezeichnung und Kategorisierung als Juden von den Nationalsozialisten für die Vertreibung und Ermordung von Menschen funktionalisiert wurde. Eine
Anerkennung dieser Bezeichnung hieße, sich mit den Kriterien
der Nationalsozialisten einverstanden erklären. Das kam für Seghers wie auch für die große Mehrzahl der als Juden und Kommunisten vertriebenen Deutschen nicht in Frage. Gombrich formulierte diesen Umstand noch 1996 als Antwort auf eine Anfrage bei
einem Festival österreichisch-jüdischer Kultur in London einen
Vortrag zu halten: „[…] aber, um es klar heraus zu sagen, ich bin
der Meinung, dass der Begriff der jüdischen Kultur von Hitler
und seinen Vor- und Nachläufern erfunden wurde.“ 44 Hinzu kam
nach dem Krieg für die überlebenden Juden in den kommunistischen Staaten der lebensbedrohliche Antisemitismus des Stalinismus. Die jüdische Erfahrung bleibt aber eines der unterschwellig in Seghers’ Texten ständig präsenten Themen. 45
43
Vgl. Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 19001947. Berlin: Aufbau-Verlag 2000, S. 100/101.
44
Ernst H. Gombrich: Jüdische Identität und Jüdisches Schicksal. Eine
Diskussionsbemerkung. Wien: Passagen-Verlag 1997, S. 33. Hinzu kam
bei Seghers der massive Antisemitismus des Stalinismus, der ihr Überleben
im sozialistischen Teil Deutschlands in den 1950er und 1960er Jahren
unterschwellig aber massiv gefährdete. Ihr Name wurde zum Beispiel beim
Slansky-Schauprozess in Prag im Zusammenhang mit der ‚Verschwörung
des jüdischen Finanzkapitals’ genannt, der mit dem Todesurteil für den
Angeklagten endete.
45
Darauf wurde besonders auf der Tagung der Anna-Seghers-Gesellschaft
1996 unter dem Titel: Aspekte jüdischer Erfahrung im 20. Jahrhundert
68
Auch Seghers war mit den Kindern 1940 aus Paris geflohen und
in Marseille gestrandet. 1941 gelang es ihr, mexikanische Visa
und Plätze für die ganze Familie auf dem letzten Schiff, das Marseille Richtung ‚Neue Welt’ verließ, zu bekommen. Im mexikanischen Exil erfuhr Seghers’ Leben und Schreiben eine Wende.
Seghers’ Vater war 1938 nach dem Novemberpogrom an Herzversagen gestorben. Ihre Mutter wurde, sie besaß 1942 zwar ein
Visum nach Mexico aber nicht die benötigte Kaution von 450
Dollar, in ein polnisches Konzentrationslager deportiert. Vermutlich ist sie auf dem Weg dorthin gestorben. Sicherheit über den
Tod der Mutter erlangte Seghers erst nach 1945, seit 1942 hatte
sie aber keine Nachrichten mehr, so dass sie das Schlimmste befürchtete. 1943 wurde Seghers von einem Auto angefahren und
lag mit schwersten Kopfverletzungen monatelang im Koma. Die
Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen hatte Seghers vor ihrem Unfall begonnen. Ihre Vollendung ist ein Weg zurück ins
Leben durch das Eingedenken. Dieser Text ist zugleich der einzige, in dem Seghers unverstellt von sich selbst in der Ich-Form
spricht. Der Ausflug der toten Mädchen lässt die alte Mainzer
Heimat, die Schulfreundinnen, die Lehrerinnen und die Eltern
wieder lebendig werden. In der Hoffnung, dass mindestens einige
von Ihnen diese „schönste Erzählung“ des 20. Jahrhunderts, wie
Böll sie einmal genannt hat, kennen, will ich nur einen Aspekt
dieses Textes hervorheben. Am Ende des Schulausflugs der
Mainzer Mädchenklasse den Rhein hinunter erteilt die jüdische
Lehrerin, die im gleichen Transport wie Seghers’ Mutter ermordet
wurde, Netty den Auftrag, die Erlebnisse des Tages aufzuschreiben. Die Erzählerin resümiert:
Nie hat uns jemand, als noch Zeit dazu war, an diese gemeinsame
Fahrt erinnert. Wie viele Aufsätze auch noch geschrieben wurden über
die Heimat und die Geschichte der Heimat und die Liebe zur Heimat,
nie wurde erwähnt, dass vornehmlich unser Schwarm aneinandergelehnter Mädchen, stromaufwärts im schrägen Nachmittagslicht, zur
Heimat gehörte. 46
hingewiesen. Vgl. Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-SeghersGesellschaft 6 (1997).
46
Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. In: dies.: Erzählungen.
Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 97-130, Zitat, S. 123.
69
Als Netty durch das völlig zerstörte und zugleich nicht zerstörte
Mainz, die Bilder von Vergangenheit des Schulausflugs und Gegenwärtigkeit des Krieges 1943 verschwimmen surrealistisch ineinander, vom Ausflug nach Hause zurückkehrt, sieht sie ihre
Mutter bereits wie immer auf dem Balkon nach ihr Ausschau halten.
Ich stutzte vor dem ersten Treppenabsatz. Ich war plötzlich viel zu
müde, rasch hochzusteigen, wie ich noch eben gewollt hatte. [...] Ich
zwang mich zu meiner Mutter hinauf, die Treppe vor Dunst unübersehbar, erschien mir unerreichbar hoch, unbezwingbar steil, als steige
sie eine Bergwand hinauf. Vielleicht war meine Mutter schon in den
Flur gegangen und wartete an der Treppentür. Doch mir versagten die
Beine. Ich hatte nur als kleines Kind eine ähnliche Bangnis gespürt,
ein Verhängnis könnte mich am Wiedersehen hindern. [...] Die Stufen
waren verschwommen von Dunst, das Treppenhaus weitete sich überall in einer unbezwingbaren Tiefe wie ein Abgrund. Dann ballten sich
in Fensternischen Wolken zusammen, die ziemlich schnell den Abgrund ausfüllten. Ich dachte noch schwach: wie schade, ich hätte mich
gar zu gern von der Mutter umarmen lassen. Wenn ich zu müd bin,
um hinaufzusteigen, wo nehme ich da die Kräfte her, um mein höher
gelegenes Ursprungsdorf zu erreichen, in dem man mich zur Nacht
erwartet. 47
In surrealistischer Überblendung von mexikanischer Gegenwart
und imaginierter Vergangenheit muss die Erzählerin erkennen,
dass Mutter, Vater, Freundinnen und Heimat unwiederbringlich
verloren sind. Vor Erschöpfung in der mexikanischen Mittagshitze in einem Häuserschatten zusammengesunken spürt sie „jetzt
einen unermesslichen Strom von Zeit, unbezwingbar wie die
Luft.“ 48 Diesem Strom von Zeit scheinbar wehrlos ausgeliefert,
erinnert sie sich an den Auftrag der Lehrerin, „den Schulausflug
sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch
heute Abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen.“49
Um dem Zeit-Sturm, der aus dem Paradiese herweht und
uns von ihm wegtreibt, etwas entgegenzusetzen, erinnert sich
47
Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen (Anm. 46), S. 97-130, Zitat S.
128/129.
48
Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen (Anm. 46), S. 130.
49
Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen (Anm. 46), S. 130.
70
Seghers an die Aufgabe des Eingedenkens. Der Mund des Engels
soll zum Sprechen gebracht werden. Das Erzählen wird zur Auftragsarbeit der jüdischen Lehrerin. Diesem Auftrag fühlt sich
Seghers von jetzt an verpflichtet. Die zunehmende Bedeutung der
Frauenfiguren im Werk nach 1945 fußt auf dieser Selbstverpflichtung auch gegenüber ermordeter Mutter und Lehrerin. Bedenkt
man, dass die Zugehörigkeit zum Judentum matrilinear vererbt
wird, wird deutlich, dass das Gedenken von Mutter und Lehrerin
nicht nur, aber in besonderer Weise, den jüdischen Opfern des
Nationalsozialismus gilt.50
4. Nachdenken über Franz Kafka
Inmitten des Kalten Krieges hat Seghers, indem sie für eine Rehabilitation des im Ostblock verfemten Autors Kafka eintrat, sehr
deutlich auf ihre eigene künstlerische Prägung durch die literarische Moderne der 1910er und 1920er Jahre und versteckter auf
die durch jüdische Erzähltraditionen hingewiesen. In ihrer Erzählung Die Reisebegegnung von 1973, die sie im Untertitel: „Eine
kleine Literaturgeschichte“ nannte, lässt sie E.T.A. Hoffmann,
Nikolai Gogol und Franz Kafka in einem Prager Café aufeinander
treffen. Mit dem Eintreten für drei Autoren, die nicht zum Kanon
des Sozialistischen Realismus gehörten und als dekadent und
bourgeois galten, initiierte sie die Romantikrezeption in der DDRLiteratur der 1970er Jahre, die als erstes deutliches Aufbegehren
gegen die doktrinäre Kulturpolitik in die DDR-Literaturgeschichte eingegangen ist. Auch in dieser Erzählung verwebt
Seghers verschiedene Zeitebenen miteinander: die unterschiedlichen Lebenszeiten der drei Autoren, die Jetztzeit des phantastischen Treffens, also des Erzählten, und die des Erzählens. Das
Thema des gemeinsamen Gesprächs ist das Verhältnis von Phantasie und Wirklichkeit in der Literatur. Entgegen der Doktrin des
sozialistischen Realismus, die für Seghers nie bindend war, bestehen ihre drei Autorfiguren, auf der Zugehörigkeit von Träumen
und Phantasie zur Wirklichkeit und damit auch zur Literatur.
Ihren Kafka lässt sie ausdrücklich von seinen Erfahrungen mit
50
Vgl. u.a. Ernst H. Gombrich: Jüdische Identität und Jüdisches Schicksal
(Anm. 44), S. 46.
71
dem jiddischen Theater, seinem jiddischen Freund Jizhak Löwy
und dessen Erzählungen chassidischer Legenden sprechen. Eine
dieser chassidischen Legenden erzählt Kafka Hoffmann und Gogol. Sie handelt von einem Vater, der seinen tödlich erkrankten
Sohn auf dessen Willen zu einem Zaddik bringen will. Zweimal
versucht er es, zweimal überredet ihn ein Fremder, nicht an solche
Wundergeschichten zu glauben und wieder umzukehren. Nachdem der Sohn gestorben ist, trifft der Vater den Fremden ein drittes Mal. Als dieser vom Tod des Sohnes erfährt, gibt er sich als
Teufel zu erkennen. Seine Freude über den Tod ist groß, denn wären der Zaddik und der Sohn zusammen gekommen, wäre die
Welt erlöst worden. Dass Seghers hier auf eine chassidische Erzählung zurückgreift, die das Misslingen von Heilung und Erlösung in den Mittelpunkt stellt, was innerhalb des Buberschen
Korpus sehr selten vorkommt, richtet den Blick wiederum auf das
Zerschlagene, auf das Misslungene des geschichtlichen Prozesses
und betont die Notwendigkeit des Eingedenkens.
Um seine Auffassung vom Verhältnis von Phantasie und
Wirklichkeit zu erklären, erzählt Kafka Hoffmann und Gogol seine Geschichte vom Kübelreiter, die Seghers fast vollständig als
Zitat in ihren eigenen Text einbaut.51 Sie handelt von einem Ich,
das im Kriegswinter 1917 kein Geld für Kohlen hat und sich im
Fieberwahn auf den leeren Kohlenkübel setzt, und mit diesem
hinunter zum Kohlenhändler reitet, um sich eine Schaufel Kohlen
zu erbitten, die ihn vor dem Erfrierungstod retten sollen. Das Anliegen verhallt, weil der Kübel zu leicht ist und so Reiter und
Pferd von der Frau des Kohlenhändlers mit der Schürze einfach
hinweg gewedelt werden können, wie eine lästige Fliege.
Benjamins Kafkaessay, den er im Pariser Exil schrieb und
den er nachweislich sowohl mit Brecht als auch mit Scholem,
nicht nachgewiesen aber wahrscheinlich auch mit Seghers diskutierte, besteht aus drei Abschnitten. Jeder dieser Abschnitte wird
durch eine kurze Erzählung eingeleitet. Der dritte Abschnitt beginnt mit einer chassidischen Legende, auf die die Geschichte
51
Vgl. für eine genaue Untersuchung der Auslassungen: Sigrid Bock:
„Anna Seghers liest Kafka“. In: Weimarer Beiträge 30 (1984) 6, S. 900915.
72
vom Kübelreiter folgt. Benjamin zitiert daraus den Ritt hinunter
zum Kohlenhändler. Einen extra Hinweis ist ihm der Wind wert,
der den „Regionen der Eisgebirge“, in denen der Kübelreiter sich
am Ende verliert, günstig ist und der aus den „untersten Regionen
des Todes“52 bläst. Das Bild vom Wind und vom Reiter variiert
Benjamin fortlaufend, um der Texte Kafkas habhaft zu werden,
ohne sie in eine der damals schon etablierten Schablonen der
Kafkarezeption einzuordnen. Die von ihm vorangestellte chassidische Legende erzählt von einem armen, völlig abgerissenen
Mann, der in einer Kneipe auf der Ofenbank sitzend als letzter der
Anwesenden auf die Frage nach dem, was er sich wünsche, seine
eigene Herkunft und damit seinen Weg vom König, der von Feinden verjagt wird und am Ende der Flucht völlig mittellos in dieser
Gaststätte ankommt, erzählt. „Verständnislos sahen die anderen
einander an. – „Und was hättest du von diesem Wunsch?“ fragte
einer. – „Ein Hemd“ war die Antwort.“ 53 Dieses eine Hemd hatte
er seiner Erzählung hinzuphantasiert, das war es, was er vergessen hatte und sich jetzt wünschte. Benjamin kommentiert: „Denn
es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht.“54 Der Sturm
des Vergessens, der das Bild vom Engel vorwegnimmt, ist es,
dem die Figuren Kafkas sich in Benjamins Interpretation meist
erfolglos, aber immer mit all ihrer letzten Kraft entgegenstellen,
sei es in Der Prozess oder in Das Schloss oder eben in Der Kübelreiter.
So tut das auch der König in der von Benjamin vorangestellten chassidischen Legende durch seine Erzählung: „So reitet auf
der Ofenbank der Bettler seiner Vergangenheit entgegen, um in
der Gestalt des fliehenden Königs seiner selbst habhaft zu werden.“55
Das Erzählen ist ein Ritt der Vergangenheit entgegen. Der
Sturm des Vergessens stellt sich diesem Ritt entgegen. Die rückwärtsgewandte Stillstellung des Geschehens durch die sich gegenseitig aufhebenden Kräfte erinnert an die Möglichkeit einer
52
Walter Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa. In: Gesammelte Schriften,
Bd. 2, S. 436.
53
Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa (Anm. 52), S. 433.
54
Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa (Anm. 52), S. 436.
55
Benjamin: Franz Kafka/Sancho Pansa (Anm. 52), S. 436.
73
Erlösung. Benjamin zitiert den von Max Brod tradierten Ausspruch Kafkas auf die Frage nach der Möglichkeit von Hoffnung:
„Er lächelte: ‚Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung –
nur nicht für uns.’“56
Dass aber trotzdem erzählt wird, immer wieder und immer
wieder neu, hält die Pforte offen, durch die der Messias wird eintreten können, erinnert an die Möglichkeit von Erlösung, sei es
messianischer oder menschlicher Art. Erzählen in „finsteren Zeiten“57, wie es Hannah Arendt genannt hat, verbindet die hier betrachteten Texte und AutorInnen. Das Bild vom Engel der Geschichte steht für diese die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts
prägende Konstellation.
Es drängt sich vielleicht die Frage auf: aber kann man das
nicht überall finden in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts?
Sind das nicht so allgemein verbreitete Topoi und Erzähltraditionen, dass es sich erübrigt, sie als jüdische zu bezeichnen? Wenn
Sie diese Gedanken während der Vorlesung beschlichen haben
sollten, dann bleibt mir nur übrig, mich zu freuen. Nicht die Klassifizierung im Sinne einer Diskriminierung des Jüdischen vom
Deutschen war mein Ziel, sondern einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sehr jüdische Traditionen essentieller Teil der deutschen Kultur und Literatur sind. Auch diese Konstruktion diente
dem Gedächtnis der Namenlosen.
56
Benjamin: „Franz Kafka“ (Anm. 19), S. 253.
Hannah Arendt: „Walter Benjamin“. In: dies.: Benjamin, Brecht. Zwei
Essays. München: Piper (1971), S. 28.
74
57
Toni Tholen
‚Schwebe-Religion‘.
Von Bettina von Arnim bis Pina Bausch
Freitag, 4. November 2011. Als ich heute Morgen nach dem
Frühstück aus dem Fenster schaue, blicke ich weit hinaus auf die
in den wundervollsten gelben, roten und bräunlichen Farben
leuchtenden Bäume. Die goldene Herbstsonne, die uns schon eine
ganze Weile mit ihrem warmen Licht verwöhnt, lässt die nähere
und weitere Umgebung unseres Hauses in einer Schönheit erscheinen, die mich tief berührt. Es ist zugleich der Morgen, an
dem ich mir vorgenommen habe, die Gedanken, die ich mir bereits seit Wochen über meine Vorlesung zur Schwebe-Religion
mache, zu verschriftlichen. Etwas unruhig und ungeduldig durch
mein Arbeitszimmer gehend, steht mir plötzlich vor Augen, über
was ich eigentlich schreiben wollte, als ich mehr kühn als wohl
überlegt vor einiger Zeit schon den Titel der Vorlesung für die
Programmplanung formuliert hatte. Jetzt glaube ich zu wissen,
welche Verbindung zwischen der Romantikerin Bettina von
Arnim und Pina Bausch besteht. Jetzt fasse ich Mut, diesen großen Bogen vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart zu schlagen.
Und jetzt steht mir mit einem Mal klarer vor Augen, in welcher
Weise die Schwebe-Religion, die Bettina von Arnim auf den Begriff gebracht hat, ganz bestimmte Verbindungslinien zieht zu
zwei Autoren im 20. Jahrhundert, über die zu schreiben ich mir
zuvor ebenfalls schon vorgenommen hatte: Rainer Maria Rilke
und Robert Musil; beides Autoren, die mich schon seit Jahren begleiten und als deren philologischer Begleiter ich mich selbst irgendwann auserkoren habe, wahrscheinlich weil ich zu realisieren
begann, dass ich sie brauche. Diese philologische Anhänglichkeit
an bestimmte Autorinnen (auch Bettina gehört dazu) und Autoren
setzte in den 1990er Jahren ein, in einer Zeit des Taumels, der
Auflösung der Identitäten, des Karnevals und der Orientierungslosigkeit. Die Welt zog sich damals zurück in die schmucken Verließe des Ästhetizismus. Der globale Kapitalismus begann zu wüten, gleichzeitig wurde die Welt mit einer medialen Revolution
überzogen, und der Literatur traute man zunehmend weniger zu.
75
Sie begann, ein mehr oder weniger komfortables Nischendasein
zu fristen, und nicht wenige der mit ihr hauptamtlich beschäftigten Literaturwissenschaftler schienen sich damit begnügen zu
wollen, denn auch sie schotteten sich mit ihren ästhetizistischen
Theorien der Referenzlosigkeit oder der Selbstreferenzialität der
Literatur in jenen berühmten akademischen Elfenbeinturm ab, aus
dem einige von ihnen nun allmählich wieder entfliehen wollen.
Nur wie? Mit welchen Theorien, mit welchen Methoden, mit welcher Sprache und Begrifflichkeit? Auf welchen intellektuellen
und ästhetischen Wegen?
Ich blicke wieder auf die bunten Bäume. Und ich denke mir:
Sei’s drum. Dieses Problem muss ich hier und heute nicht lösen.
Ich habe stattdessen eine andere Gewissheit. Und ich weiß jetzt,
worum es in der Vorlesung im Wesentlichen gehen soll: Um etwas Schlichtes und Einfaches – um das Ergriffen-Werden. Ich
meine nämlich, dass das Ergriffen-Werden etwas ist, das gleichermaßen in der Religion und in der Literatur geschieht, vorsichtiger gesagt: geschehen kann. Nun bin ich kein Theologe und
möchte in Bezug auf die Religion nur aus der Erfahrung eines in
Kindheit und Jugend intensiv sozialisierten Katholiken sprechen.
Aber als jemand, der sich seit längerem schon professionell mit
Literatur und Ästhetik beschäftigt, möchte ich behaupten, dass es
für die Literatur und überhaupt für alle Künste maßgeblich ist,
dass die ästhetische Erfahrung von Kunstwerken auch ein Ergriffen-Werden, ein Berührt-Werden ist. Man muss, um die Bedeutung der affektiven Dimension ästhetischer Erfahrung zu betonen,
als Literaturwissenschaftler nicht wieder an methodische Positionen der 1950er Jahre anknüpfen, um in einem Aspekt Emil
Staiger, dem berüchtigten Vertreter der sog. Werkimmanenz,
doch auch Recht zu geben, wenn er nämlich in seinem berühmten
Buch Die Kunst der Interpretation schreibt: „Zuerst verstehen wir
eigentlich nicht. Wir sind nur berührt; aber diese Berührung entscheidet darüber, was uns der Dichter in Zukunft bedeuten soll.“1
Wie gesagt, man muss die Implikationen der werkimmanenten
Methode – ihren offenkundigen Elitarismus, den engen Kanon,
1
Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation [1955]. München: dtv
1971, S. 9.
76
die hermeneutischen Prämissen – nicht wiederbeleben, um
gleichwohl dem zitierten Gedanken Staigers sechzig Jahre später
noch oder vielleicht wieder etwas abgewinnen zu können. Ob wir
nicht auch schon verstehen, wenn wir berührt werden, soll dahin
gestellt sein. Dass allerdings das Berührt-Werden etwas elementar
Wichtiges bei der Rezeption von Literatur und Kunst ist, ähnlich
wie in der Religion, steht für mich außer Zweifel. Die genannten
Künstlerinnen und Künstler: Bettina von Arnim, Rilke, Musil und
Pina Bausch (sowie Wim Wenders, auf dessen Film Pina ich gegen Ende der Vorlesung eingehen werde) haben das Ergriffenund Berührtwerden in ihren Werken zwar in unterschiedlicher
Weise thematisiert, aber eines ist ihnen gemeinsam: Sie tun es, so
mein Leitgedanke, in Form einer Poetik des Schwebens, die ihre
Ursprünge in der Romantik hat. Kennzeichen dieser Poetik des
Schwebens ist, dass sie bestimmte Vorstellungen von Geist, Freiheit, Tätigkeit, Liebe und Schönheit miteinander verwebt. Diese
Vorstellungen bilden in der Poetik des Schwebens gewissermaßen
ein begriffliches Netz, in dem jedes Zeichen immer wieder mit
allen anderen verwoben wird und an die Stelle des anderen Zeichens rücken kann. Dieses Netz ist ein lebendiges Ganzes, und als
solches ist es in der Schwebe. Und weil es in der Schwebe ist,
nimmt es keine festen Formen an. Das lebendige Ganze wird
nicht ‚Gestalt’, wie es der Klassiker Schiller vom Kunstwerk fordert, sondern es ist Moment, Bewegung, Hingabe, fortgesetzte
Tätigkeit und damit so etwas wie formlose Form.
Diese macht aber den Kern romantischer Poesie und Poetik
von Beginn an aus. Wenn Friedrich Schlegel im Jahre 1798 in
seinem berühmten Athenäums-Fragment 116 die romantische Poesie als progressive Universalpoesie bestimmt, tut er dies unter
Zuhilfenahme der Schwebe-Metapher. Dort heißt es: „Und doch
kann auch sie [die progressive Universalpoesie] am meisten zwischen dem Dargestellten und Darstellenden, frei von allem realen
und idealen Interesse, auf den Flügeln der poetischen Reflexion in
der Mitte schweben.“ 2 Und wenige Zeilen später heißt es: „Die
2
Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment 116. In: ders.: Kritische
Schriften und Fragmente [1798-1801], Studienausgabe, Bd. 2, herausgegeben von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn-München-WienZürich: Schöningh 1988, S. 114f. Das folgende Zitat findet sich ebd.
77
romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“
Nach Schlegel ist die romantische Poesie erstens frei, zweitens ist
ihr Medium das geistig-luftige Element, in dem sie schwebt, und
drittens hat sie ihr Wesen im Werden, in der unaufhörlichen Progression und nicht in der vollendeten Form. In diesen drei Aggregatzuständen ist die Poesie der romantischen Erfahrung des Religiösen nahe. Denn auch der Charakter des Religiösen ist fließend,
progressiv. Es ist nicht ganz richtig, wenn Rüdiger Safranski in
seinem Romantik-Buch als göttlich „die Erfahrung des Ewigen im
Endlichen“3 bezeichnet. Genauer wäre es, die von der Romantik
formulierte immanente Transzendenz als Erfahrung des Unendlichen im Endlichen zu fassen. Folgen wir den Reden des frühromantischen Dichters und Theologen Schleiermacher Über die Religion, so ist das Religiöse der „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ 4. Seine Erscheinungsweise ist das Ereignis. Und das Religiöse ereignet sich dort, wo es nicht unter Regeln steht, keine Institution bildet, sondern frei und schöpferisch ist: in der lebendigen Mitteilung, in der Sehnsucht, im Unendlichkeitssinn, in der
Ironie und in der offen-schwebenden literarischen Form wie zum
Beispiel im romantischen Fragment.
Bettina von Arnim ist es vorbehalten gewesen, für all diese
freie und schöpferische, stets im Werden und in der Bewegung
befindliche Tätigkeit, eine Tätigkeit, die sich wesentlich an ein
Du richtet und deshalb Mitteilung und Teilnahme ist, eine bezwingende Losung zu finden: Schwebe-Religion. Bezeugt wird
ihre Urheberschaft im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm,
wo ein eigenes Lemma ‚Schwebereligion’ aufgeführt wird und
wo es, allerdings eher abschätzig, heißt: „dieses evangelium soll
eine neue religion verkünden, ‚eine schwebereligion’, wie die stifterin (Bettina) es selber nennt, womit sie wohl, ohne es zu wollen,
die eigene unklarheit über das neue christenthum andeutet.“ 5 Es
3
Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt/Main:
Hanser 2009, S. 143.
4
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern [1799]. Stuttgart: Reclam 1985, S. 36.
5
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 15. München: dtv
1991, Sp. 2380f.
78
ging Bettina um alles andere als darum, die geeignete Begrifflichkeit für ein neues Christentum zu finden. In ihrem GünderodeBuch nennt sie das, worum es ihr geht, beim Namen: Sie will eine
„große Sprache“ 6 sprechen, wie ‚unklar‘ diese auch immer sein
mag. Und Bettina tut dies nicht monologisch, sondern dialogisch,
in Gestalt eines Briefgesprächs. Nachdem sie mit ihrem Buch
Goethes Briefwechsel mit einem Kinde im Jahre 1835 erstmals als
Autorin ans Licht der Öffentlichkeit getreten war, begann sie kurz
darauf an einem zweiten Buch zu arbeiten, das die Jugendfreundschaft zu Caroline von Günderrode zum Gegenstand hatte. Es
ging Bettina auch darum, „sich von der psychischen Last der Erinnerung an Günderrodes Selbstmord [im Jahre 1806], den sie
trotz aller Liebe und Unterstützung für die Freundin nicht hatte
verhindern können, schreibend zu befreien“ 7. Dazu bearbeitete sie
vor allem ihren Jugendbriefwechsel. Im Jahre 1840 erschien der
Roman schließlich mit dem Titel Die Günderode. Er umfasst 23
Briefe ‚Günderodes’ und 37 Briefe ‚Bettines’. Die Forschung
geht davon aus, dass fast alle Briefe interpoliert wurden. Die
Günderode ist gewiss ihr poetisch und philosophisch komplexestes Werk. Es bewegt sich auf der Höhe des poetologischen, ästhetischen und philosophischen Diskurses der Zeit und wendet sich
dabei kritisch gegen das als destruktiv empfundene, starre philosophische Systemdenken etwa Kants oder auch Fichtes.8
Wie oben schon angedeutet: Bettina von Arnim möchte eine
„große Sprache“ finden, und diese große Sprache will sie mit der
Anderen, der Freundin, zusammen entwickeln. In diesem Sinne
wendet sie sich an die Günderrode mit den Worten: „Wir müssen
uns miteinander abschließen; in der Natur, da müssen wir Hand in
Hand gehen und miteinander sprechen nicht von Dingen, sondern
eine große Sprache.“ (G, 176) Am Ende desselben Briefes schlägt
sie der Freundin emphatisch vor, eine Religion für die Menschheit
zu stiften: „ein Sein mit Gott“ (G, 178). Und den Brief abschlie6
Bettina von Arnim: Die Günderode [1840]. Mit einem Essay von Christa
Wolf. Frankfurt/Main: Insel 1983, S. 176. Fortan werden Zitate im Text
nachgewiesen mit der Sigle G und Angabe der Seitenzahl.
7
Konstanze Bäumer, Hartwig Schultz: Bettina von Arnim. StuttgartWeimar: Metzler 1995, S 32.
8
Vgl. ebd., S. 34.
79
ßend heißt es in appellativem Duktus: „Ein bisschen Spazierenreiten in den Himmel“ (ebd.). Das ist die ultimative Formel für das
Feuer, das Bettina in sich entfacht fühlt und das sie dazu treibt,
die Freundin für ihr Vorhaben zu gewinnen, freilich auch, um diese von ihren dunklen Momenten und ihrem zerstörerischen Vorsatz, sich selbst im künstlerischen Werk auszulöschen, abzubringen. Von ihrer Menschheits-Vision und intensiven HemsterhuisLektüren besetzt, ergibt sich Bettina ein neuer Zusammenhang
von Religion und Literatur, und sie schreit es förmlich der Freundin schon im nächsten Brief entgegen: „Gott ist Poet“ (G, 179).
Und weiter:
[...] das eine habe ich behalten, daß Gott die Poesie ist, daß der
Mensch nach seinem Ebenbild geschaffen ist, daß er also geborner
Dichter ist; daß aber alle berufen sind und wenige auserwählt, das
muß ich leider an mir selber erfahren; aber doch bin ich Dichter,
obschon ich keinen Reim machen kann; ich fühl’s, wenn ich gehe in
der freien Luft, Wald oder an den Bergen hinauf, da liegt ein Rhythmus in meiner Seele, nach dem muß ich denken [...]. (G, 180)
Die Bilder und Gedanken, die ‚große Sprache’, die beginnt, sich
in der Ansprache der Freundin zu formen, versetzt Bettina von
Arnim in einen rauschhaften Zustand; dementsprechend kann sie
ihren Brief nur schließen durch die Ankündigung eines nächsten
am darauffolgenden Tag schon: „Ach Gott, ich schlaf gar nicht
mehr, gute Nacht; alleweil fällt mir ein, unsre Religion muß die
Schwebe-Religion heißen, das sag ich Dir morgen“ (G, 182).
Ja, im Rausch einer Idee fallen einem auch die Zauberworte
zu, mit Hilfe derer plötzlich die Welt aus den Angeln gehoben
werden kann. Der Günderode-Roman ist unter dem transzendentalen Signifikanten ‚Schwebe-Religion’ auch ein einzigartiger
kreativer Schreib- und Überarbeitungsprozess. Die göttliche
Schöpfung transformiert sich via den Lehrsatz der Ebenbildlichkeit in den sprudelnden Sprach- und Schreibfluss der romantischen Autorin. Und das, was sie schreibt, hat kein System und
keine klare Form, weswegen sie von der Freundin bisweilen (vgl.
G, 207-209) und nicht nur von ihr gescholten wird. Dafür hat es
Rhythmus. Um Bettinas Sprache zu verstehen, muss man dem
‚Rhythmus ihrer Seele’ lauschen, und das ist einer, der einen in
die Schwebe versetzt, und zwar, weil die ‚große Sprache’ ‚nicht
80
von Dingen’ handelt, also nicht vergegenständlicht, nicht bezeichnet, nicht referenzialisiert, sondern die Subjektivität in Bewegung bringt. Ihr Schreiben ist lebendige Form und dieser lebendigen Form prägt sie ihre eigene Art da zu sein ein. 9
Um dieser eigenwilligen Weise, da zu sein, dieser unvergleichlichen romantischen Subjektivität noch mehr auf die Spur
zu kommen, müssen wir die Schwebe-Religion ein wenig weiter
ausbuchstabieren. Sie enthüllt sich bei aufmerksamer Lektüre des
Günderode-Romans als ein Gewebe von Bildern und Gedanken,
aber auch von starken Affekten, die insbesondere in der Hinwendung an die dritte göttliche Person: den Hl. Geist, entstehen. Auch
wenn die Schwebe-Religion alles andere als eine neue institutionalisierte Christenheit begründen soll, so verbindet Bettina von
Arnim gleichwohl mit ihr bestimmte Grundsätze bzw. Lebenseinstellungen. So soll man vom Begehren nach Reichtum und der
mit ihm verbundenen Macht ablassen, um zur Weisheit zu gelangen:
Zum Beispiel: man kann nicht von der Luft leben! – Ei, das könnt
doch sehr möglich sein, und es ist eine sehr dumme Behauptung, die
der Teufel gemacht hat, um den Menschen an die Sklavenkette zu legen des Erwerbs, daß man nicht von der Luft leben könne, daß er nur
recht viel habe. Wer viel hat, der kann vor lauter Arbeit nicht zur
Hochzeit kommen; und von der Luft lebt man doch allein, denn alles,
was uns nährt, ist durch die Luft genährt, und auch unsere erste Bedingung zum Leben ist Atemholen. (G, 190)
Bettina von Arnim verbindet die Aufforderung, von der Luft zu
leben, mit einem Leben im Geist, und dieses Leben mit geistiger
Nahrung muss selbstbestimmt, autonom sein: „sein eigner Herr
bleiben, das muß ein Gesetz unserer schwebenden Religion sein“
(G, 191). Und gerade im Element der Luft verbindet sich Gott als
Geist, als Lebensgeist mit den nach Weisheit hungrigen Menschen, deren Daseinsbedingung einzig und allein die Freiheit ist
und – die Kreativität.
9
Vgl. dazu auch Toni Tholen: „Bettina von Arnim“. In: ders.: Erfahrung
und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion.
Heidelberg: C. Winter 1999, S. 226-235, hier S. 232.
81
Bettina strebt Unsterblichkeit als „innerste[n] Kern“ (G, 200) der
Schwebe-Religion an. Diese ist freilich nur im Zusammenhang
mit dem ästhetischen Imperativ der Romantik schon seit ihren
Anfängen um 1800 zu verstehen. Wenn Friedrich Schlegel die
Ironie – für ihn die paradigmatische Gestalt frühromantischer
Subjektivität – als Bewusstsein der ewigen Agilität bestimmt,
dann findet diese Bestimmung bei der jüngeren Geistesverwandten noch vierzig Jahre später Resonanz. Schwebe-Religion ist für
Bettina nicht primär ein kontemplativer Zustand, vielmehr realisiert sie sich in der Bewegung, „in der lebendigen Mitwirkung aller Kräfte“ (G, 201), auf dass „alles tätig und rasch sei in uns“
(ebd.). Sie steht unter dem ästhetischen Imperativ, „immer Neues
[zu] schaffen“ (ebd.) und in dieser Dynamik entpuppt sie ihre
Aufwärtsbewegung, welche schon in dem Bild des ‚Spazierenreitens in den Himmel’ enthalten ist. Das Gipfelstürmerische dieses
an die Genieästhetik des Sturm und Drang erinnernden Transzendierens, welches sich anschickt, den produktiv-tätigen Menschen
den Göttern auf Augenhöhe begegnen zu lassen, fasst Bettina in
folgendem Wortlaut zusammen: „Ach, das ist’s – dann steigt man
allein auf die Berggipfel und atmet die Lüfte ein im Nachtwind, in
denen der Genius uns anhaucht vor Lust und Dank, daß er ohne
Sünde, ohne Verleugnung wiedergeboren ward in uns [...].“
(G, 202) Auf dieser Höhe erst – und für die interessiert sich auf
andere Weise auch die korrespondierende Freundin, welche Bettina antwortet, sie hänge sich an die „Gipfel der Lebenshöhen wie
das junge Gefieder“ (G, 187) – wird die Begegnung mit Gott
möglich. Er begegnet der Schreibenden als Geliebter in der dritten
göttlichen Person, dem Hl. Geist. Der Hl. Geist aber ist kein Du.
Gott begegnet hier nicht als Gegenüber, er wird nicht in der
2. Person angesprochen. Das bedeutet, dass die Liebe, die nun den
inneren Kern der Schwebe-Religion ausmacht, hier nicht im Sinne mittelalterlicher unio mystica zu verstehen ist. Es findet keine
Vereinigung der Erleuchteten mit Gott bzw. Jesus statt, sondern
der Hl. Geist ist bei Bettina das Medium oder auch das Kraftzentrum, innerhalb dessen die Vereinigung von Kunst und Leben,
Schönheit und Liebe, Freundschaft und Sehnsucht statthat. Bettina schreibt sich, an die Freundin gewendet, wie im Rausch in dieses Kraftzentrum hinein:
82
[...] und Du lasest mir vor am Morgen, was Du am Abend gedichtet
hattest; da sah ich mich immer nach dem um, der Dir’s wohl vorbuchstabiert hätt, der Klang, der riß mich hin, ich ahnte, es war der Geist,
der auch mir begegnet draus, wenn ich auf der Höhe steh, und er
braust von ferne daher, beugt die Wipfel auf und nieder und kommt
näher und näher und fährt grad auf mich zu – umschlingt mich! wer
soll’s sein? – wer kann’s wehren? – ich fühl seine Weisheit, seine
Liebe ist Rhythmus. – Was ist Rhythmus? – Widerhall der Gefühle am
großen Himmelsbogen, daß es schallt! – zurück! macht sich uns hörbar, was wir fühlten, daß es zärtlich anschlägt ans Ohr der Seele bis
tief ins Herz, das ist Rhythmus, das ist der Heilige Geist [...].
(G, 203f.)
Versuchen wir, das Zitierte ein wenig zu verstehen: Wer oder was
ist der Hl. Geist? Er ist Rhythmus. Was ist Rhythmus? Seine Liebe ist Rhythmus. Und dieser ist der „Widerhall der Gefühle am
großen Himmelsbogen“, mit anderen Worten: Erweiterung der
Seele, Resonanz auf die Liebe der Liebenden im Weltseelenraum.
Der Rhythmus als Liebe ist aber auch die synästhetische Gemeinschaft oder die gemeinschaftliche Synästhesie („macht sich uns
hörbar, was wir fühlten, daß es zärtlich anschlägt ans Ohr der
Seele“) der Freundinnen, deren Symexistenz sich hier synästhetisch offenbart.
Die von Bettina von Arnim ins Zentrum ihrer SchwebeReligion gestellte Verbindung von Liebe und ästhetischem Erleben, das zugleich schöne Tätigkeit und Hingabe ist, hat so manchen Schriftsteller auch im 20. Jahrhundert bewegt. Man hat sich
meines Wissens aber bisher weder in der Literaturwissenschaft
noch in der philosophischen Ästhetik darum bemüht, eine moderne Poetik des Schwebens von Bettina von Arnims Werk ausgehen
zu lassen. Der Tübinger Philosoph Walter Schulz schreibt 1985
ein gewichtiges Buch zum Thema mit dem Titel Metaphysik des
Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik, in dem
er dem Zustand der Ungesichertheit des Subjekts in Philosophie
und Kunst nachgeht und dabei auf die Romantiker Novalis und
Friedrich Schlegel und in der Folge auf kanonische Autoren des
20. Jahrhunderts wie Rilke, Kafka, Joyce, Musil und Beckett ein-
83
geht. 10 Diese Untersuchungen finden ohne Erwähnung Bettina
von Arnims, geschweige denn einer anderen Autorin statt. Seit
einigen Jahren aber wissen wir durch die Arbeiten Christa Bürgers, besonders aus ihrem Buch Das Denken des Lebens, in dem
sie den Lebens- und Schreibbewegungen von Autorinnen aus vier
Jahrhunderten nachspürt, dass das Schweben eine in Texten von
Frauen wiederkehrende und deren Ästhetik prägende Figur ist.11
Es gibt indessen einen Autor, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bettinas Schwebe-Religion explizit aufgenommen und
sie in seinem Sinne poetologisch weitergedacht hat: Rainer Maria
Rilke. Rilke hat das Potenzial des Gedankens erkannt und Bettina
von Arnim in seinem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) dafür ein Denkmal gesetzt. Was Rilke daran
neben der Person Bettina von Arnims im Umkreis der Romantiker
und Goethes fasziniert, hat mit seiner eigenen Poetik zu tun. Diese geht nämlich auf die intensive Beschäftigung mit der Literatur
von Frauen zurück, so etwa mit Texten von Sappho, Gaspara
Stampa oder eben von Bettina von Arnim selbst. In seinem umfangreichen Briefwechsel mit Frauen entwickelt er überdies seine
Gedanken zur Liebe zwischen den Geschlechtern. Und schließlich
führt ihn beides dazu, in seinen Texten und Briefen von männlicher Seite aus eine Entwicklung zu fordern, welche darin besteht,
„unseren [männlichen] Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns
zu nehmen“ 12. In einem Brief an Annette Kolb vom 23. Januar
1912 wird Rilke sehr deutlich, wenn er im Verhältnis zur Frau
von „der absoluten Liebesunzulänglichkeit des Mannes“ spricht
und anschließend seiner Erwartung Ausdruck verleiht, dass „der
Mann […], der dabei ist, vorläufig ‚in die Brüche zu gehen’, nach
dieser ihm gewiß sehr gesunden Pause, für ein paar Jahrtausende
zunächst, die Entwicklung zum ‚Liebenden’ auf sich nimmt, eine
10
Vgl. Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur
Geschichte der Ästhetik. Pfullingen: Neske 1985.
11
Vgl. Christa Bürger: Das Denken des Lebens. Frankfurt/Main: Suhrkamp
2001.
12
Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
[1910]. In: ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden, Bd. 11, herausgegeben
vom Rilke-Archiv. Frankfurt/Main: Insel 1975, S. 834. Fortan werden
Zitate im Text nachgewiesen mit der Sigle A und Angabe der Seitenzahl.
84
lange, eine schwere, ihm völlig neue Entwicklung.“13 Rilke selbst
ist der von ihm diagnostizierten männlichen Liebesunzulänglichkeit ein Leben lang nicht entkommen. Dafür hat er die Arbeit der
Liebe zur Triebkraft seines Schreibens gemacht. Die Liebe als
poetologische Energie entwickelt er in den Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge, und zwar ganz ähnlich wie Bettina von
Arnim, im Rahmen einer gemeinsamen Lektüre. Malte und seine
Tante Abelone lesen gemeinsam Bettines Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Malte berichtet von dieser gemeinsamen Lektüre im Rückblick und hält fest, dass Bettinas Briefe zu
den wenigen Büchern gehören, von denen er sich nicht trennt.
Den Grund dafür erhellt folgendes Bekenntnis des jungen Literaten:
Nein, Bettine ist wirklicher in mir geworden, Abelone, die ich gekannt
habe, war wie eine Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine
aufgegangen wie in ihrem eigenen, unwillkürlichen Wesen. Denn diese wunderliche Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt. Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so ausgebreitet, als wär sie nach ihrem Tod. […] Eben warst du noch, Bettine;
ich seh dich ein. Ist nicht die Erde noch warm von dir, und die Vögel
lassen noch Raum für deine Stimme. Der Tau ist ein anderer, aber die
Sterne sind noch die Sterne deiner Nächte. Oder ist nicht die Welt
überhaupt von dir? denn wie oft hast du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und hast sie lodern sehen und aufbrennen und hast sie heimlich durch eine andere ersetzt, wenn alle schliefen. Du fühltest dich so
recht im Einklang mit Gott, wenn du jeden Morgen eine neue Erde
von ihm verlangtest, damit doch alle drankämen, die er gemacht hatte.
Es kam dir armsälig vor, sie zu schonen und auszubessern, du verbrauchtest sie und hieltest die Hände hin um immer noch Welt. Denn
deine Liebe war allem gewachsen. (A, 897f.)
Bettine ist in ihren Briefen für Malte eine Liebende, die schreibend Raum gibt für die Liebe zur Welt. Sie ist als Liebende
Schreibende zugleich Schöpferin einer Welt, die in „Einklang mit
Gott“ steht, insofern sie jeden Morgen eine neue wird. Malte beklagt im Anschluss, dass der größte Dichter, Goethe, in seinen
Antworten dafür gesorgt hat, dass Bettinas poetische Schwebe13
Rainer Maria Rilke: „Brief an Annette Kolb vom 23.1.1912“. In: ders.:
Mitten im Lesen schreib ich Dir. Ausgewählte Briefe, herausgegeben von
Rätus Luck. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 142f.
85
Religion der Liebe keine Anerkennung bei den Zeitgenossen
fand. Rilke holt dies nach, wenn er Malte sagen lässt, dass Goethes Nicht-Anerkennung von Bettinas elementarem Liebes-Geist
die „Grenze seiner Größe“ (A, 898) war: „Diese Liebende ward
ihm [Goethe] auferlegt, und er hat sie nicht bestanden.“ (Ebd.)
Betrachten wir nicht in erster Linie die Kritik am Weimarer Dichterfürsten, welche freilich immer auch als aemulatio gedeutet
werden kann, sondern die Leistung Bettina von Arnims in Maltes
Perspektive, so bezieht sich das Interesse und die Wertschätzung
nicht auf eine Liebe, die sich in der Hingabe an ein Du bzw. in
der wechselseitigen Zuneigung zweier Liebender erfüllt, sondern
auf eine intransitive Liebe. Die Liebe, die hier in der Gestalt Bettina von Arnims gepriesen wird, ist ohne Gegenüber: „Solche
Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in
sich; sie erhört sich selbst.“ (Ebd.) An späterer Stelle des Romans
heißt es, dass Malte sich mit Abelone in der Sehnsucht einig
wusste, der „Liebe alles Transitive zu nehmen“ (A, 937), d.h.
eben, Liebe nicht mehr in der Reziprozität von Lieben und Geliebtwerden zu verstehen, kein Objekt von Liebe mehr zu denken,
geschweige denn, selbst eins sein zu wollen. Positiv formuliert:
Die intransitive Liebe ist eine kontinuierliche Aktivität des Liebens, die sich keinen bestimmten Menschen sucht. Stattdessen
nimmt in Rilkes Roman die leer bleibende Stelle des Geliebten in
gewisser Weise Gott ein. Der göttliche Geliebte erscheint aber
nicht im personalen Bezug als ein Du, sondern ist „nur eine Richtung der Liebe“ (A, 937). Tante Abelone nachdenkend, die den
Bezug zu Gott nicht hergestellt hatte, fragt sich Malte: „Wußte sie
[Abelone] nicht, daß keine Gegenliebe von ihm [Gott] zu fürchten
war? Kannte sie nicht die Zurückhaltung dieses überlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns, Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder wollte sie Christus vermeiden?“ (A, 937) Gott steht hier wie schon bei Bettina von Arnim selbst für eine Liebe, die nichts mit mystischer unio zu tun
hat, sondern Gott in der dritten Person aufsucht. Wenn Gott uns
unser ganzes Herz leisten lässt, heißt das für den Sterblichen,
„den unendlichen Weg“ (ebd.) einzuschlagen und in der Sehnsucht zu bleiben. Malte bricht am Ende des Romans nicht, wie es
die explizit erwähnte biblische Erzählung vom verlorenen Sohn
86
suggeriert, nach Hause auf, sondern zu Gott. Aber nicht, um in
seine Nähe zu kommen, sondern um ihn in seinem unermesslichen Abstand zu erfahren. Denn nur in diesem Abstand, in der
unendlich entfernten Liebe hält seine Liebes- und Dichterkraft
sich in der schöpferischen Schwebe, die von Bettina im Projekt
der Schwebe-Religion begehrte ‚große Sprache’ zu sprechen und
zu schreiben. In diesem Zusammenhang lässt sich folgende Passage aus dem Malte-Roman auch als poetologische Konfession
Rilkes selbst lesen:
[…] die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit […]
Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und unbeirrbar gewordenes
Wesen versprach ihm, daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe. Aber während er sich
sehnte, endlich meisterhaft geliebt zu werden, begriff sein an Fernen
gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand. Nächte kamen, da er
meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den Raum; Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu tauchen,
um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens. Er war wie
einer, der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in
ihr zu dichten. (A, 943)
Eine „herrliche Sprache“ hören und darin dichten wollen – das ist
die Resonanz eines Dichters auf die ‚große Sprache’ Bettinas und
zugleich ist es etwas Anderes. Bettina will sie sprechen und Rilke
will in ihr dichten. Er will es allein, einsam, im entfernten Gespräch mit Gott, das der Möglichkeitsraum einer Ausweitung seiner dichterischen Sprache ins ‚Große’ ist. Bettina will die große
Sprache mit ihrer Freundin Günderrode gemeinsam sprechen.
Und damit ist sie auch emphatische Hinwendung an die Andere:
Gespräch zwischen Freundinnen.
Die dialogische Dimension von Bettinas Schwebe-Religion
findet sich stärker als bei Rilke in Robert Musils Poetik des ‚anderen Zustands’. Musil entwirft in seinem Romanfragment Der
Mann ohne Eigenschaften, mit dem er in den 1920er Jahren begann und an dem er bis zu seinem Tod 1941 arbeitete, die Utopie
einer anderen geistig-sinnlichen Gegenwelt zur im Roman scharfsinnig diagnostizierten modernen Welt, die durch einen ziellosen
Rationalismus und eine fessellose politische und soziale Technokratie zerfasert wird. Die Utopie des ‚anderen Zustands’ situiert
87
sich nicht im gesellschaftlichen Leben, sondern in der abgeschiedenen Lebensweise der beiden Geschwister Ulrich und Agathe,
die sich anlässlich des Todes ihres Vaters wiedersehen und beschließen, nach dem Begräbnis zusammen zu leben. In ihrer Abgeschiedenheit kommen Sie sich über ihre geistigen Erkundungen
und Gespräche nah und kreisen um den Gedanken der Möglichkeit eines anderen Lebens. Sie versuchen, an Konzepte und Formen anzuschließen, die Ulrich, der männliche Protagonist, zuvor
schon aufgeschrieben hatte. So z.B. an den Gedanken des Essayismus. Ulrich bezeichnet den Essayismus als eine Lebensform, in
der man denkt, schreibt und lebt ohne den Anspruch auf Geschlossenheit, Ganzheit und Passung in Bezug auf institutionalisierte – wissenschaftliche, literarische oder auch moralische –
Regelsysteme zu haben. Die von ihm und seinem Autor Musil gesuchte freie und offene Existenzform findet er in einer SchreibTradition, die in einem Zwischenraum von Literatur, Wissenschaft und Religion angesiedelt ist: „Es hat nicht wenige solcher
Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, aber es würde keinen Zweck haben, sie zu nennen; ihr Reich
liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit
und ohne Religion […].“ 14 In der Ringvorlesung des letzten Jahres über Musil hatte ich darauf hingewiesen, dass Musil den Essayismus seines großen Schreibexperiments, das er selbst als Beitrag zur ‚geistigen Bewältigung der Welt’ versteht, auch als eine
Form der Religiosität nach dem von Nietzsche proklamierten
‚Tod Gottes’ konzipiert hat. Und in der Tat ist Musils Schreiben
nicht im Zusammenhang mit einer Wiederherstellung von göttlicher Transzendenz und heilsgeschichtlicher Orientierung in einer
weitestgehend säkularisierten Gesellschaft zu sehen. Was für Musil nach dem ‚Tode Gottes’ aber weiterlebt, ist der Glaube an die
beseeligende Kraft des Hl. Geistes, die im Mann ohne Eigenschaften, in gleichsam immanenter Wirkung, die ‚Heiligen Ge14
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: ders.: Gesammelte
Werke in neuen Bänden, Bde. 1-5, Bd. 1, herausgegeben von Adol Frisé.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 254. Fortan werden Zitate im Text
nachgewiesen mit dem Kürzel MoE sowie der Angabe des Bandes und der
Seitenzahl.
88
spräche‘ zwischen Bruder und Schwester durchströmt. Die Gespräche selbst sind es, in denen sich – momenthaft freilich nur –
etwas einstellt, das Ulrich und Agathe in ein sinnlich-spirituelles
Schweben versetzt. In ihrer Ernsthaftigkeit auf der Suche nach
einem Anderen und in der Intensität der gegenseitigen Zuwendung der Geschwister sind die Gespräche momentane Zwischenräume liebender Begegnung. In einer oft zitierten Passage heißt
es, einen, wenn nicht den zentralen Gedanken des ‚anderen Zustands‘ auf den Punkt bringend: „Man muß sich also selbst den
Reim darauf bilden, daß Gespräche in der Liebe fast eine größere
Rolle spielen als alles andere. Sie ist das gesprächigste aller Gefühle und besteht zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit.“
(MoE, 4, 1219)
Wichtig ist aber auch, den anderen Zustand nicht im Sinne
eines ethischen Programms zu verstehen, also in keinem Fall als
Orientierung von konkreten Handlungen, sondern eher als ein
Gebiet, in dem nichts von Menschenhand Gemachtes geschieht,
in dem gleichwohl etwas geschehen kann, etwas, das sich ereignet, plötzlich, ungeplant und ungedacht, etwas, das die Gesprächserotik der Geschwister übersteigt und zugleich beseelt,
aber auch etwas, das nur zwischen ihnen stattfinden kann, zwischen denen also, die sich einander zuwenden.
In Musils Nachlass findet sich ein Kapitel mit dem Titel
„Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse“. Der Anfang lautet: „Bald nach diesem Besuch [von Agathes Ehemann Lindner]
wiederholte sich das ‚Unmögliche’, das Agathe und Ulrich beinahe schon körperlich umschwebte, und es geschah, ohne daß irgenderlei geschah“ (MoE, 4, 1081). Beiden Geschwistern ist es,
als schwebten sie schwerelos und leicht durch den Raum, als träfen sie sich in einem gemeinsamen Zustand, der die „Gebärden
des Fleisches“ (ebd., 1083) hinter sich gelassen hat. Der Schwebezustand, in dem sie sich augenblickhaft befinden, stellt sich im
Zeichen des Mondes ein. Ulrich sagt „sinnlos, wie man in die
Luft spricht: Du bist der Mond“ (ebd., 1084). Agathe versteht es.
Die Wirklichkeit der beiden Geschwister ist eine gesteigerte, wie
sie – den Worten des Erzählers folgend – mit der „abenteuerlich
veränderten in Mondnächten“ verwandt ist:
89
Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr, sondern
jedes ist die unvergleichliche Geburt des Geistes aus dem Dunkel, die
der Mensch in einem neuen Gedanken erfährt. So hat jeder Vorgang in
Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die Natur des
Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Geben ein
Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung
der Nacht. […] Und das Flüstern mit den Gefährten ist voll einer ganz
unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist,
sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich
alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird. (Ebd.,
1084f.)
Musil schließt in solchen Passagen seines Romans an Bettina von
Arnims Schwebe-Religion an. Auch im anderen Zustand ereignet
sich eine „Geburt des Geistes“, ähnlich der, die Bettina im Sinn
hat. Bei ihr wie bei Musil verbinden sich in dieser Geburt Liebesund Schönheitssinn, Freiheit und Freigiebigkeit ohne Herrschaftsund Besitzansprüche, Hingabe und Mitteilung, und nicht zuletzt
Berührung in einer unvergleichlichen, ‚großen Sprache’, die die
Welt, solange sie spricht, in einen Weltinnenraum verwandelt.
Das Ausschreiten der Zwischenräumlichkeit an der Grenze
von Literatur und Religion hat seit der Romantik eine spirituelle
Ästhetik des Schwebens hervorgebracht, die sich nicht nur in der
Literatur tradiert, sondern Ausdruck auch in anderen Künsten gefunden hat. Geht man in der Gegenwart nach ihr auf die Suche, so
findet sie sich kaum irgendwo so vollständig und ästhetisch faszinierend wieder wie in Pina Bauschs Tanztheater.
Pina Bausch, 1940 in Solingen geboren, starb am 30. Juni
2009 in Wuppertal. Schon zu Lebzeiten war die Tänzerin und
Choreographin eine Legende. Die Entwicklung ihres Tanztheaters
seit den 1970er Jahren in Wuppertal ließ sie zu einer der bedeutendsten Choreographinnen der Gegenwart werden. Der Filmemacher Wim Wenders hatte noch kurz vor ihrem überraschenden
Tod mit ihr vereinbart, einen Dokumentarfilm über die Entwicklung des Tanztheaters Pina Bausch zu drehen. Drehbeginn sollte
im September 2009 sein. Zwischenzeitlich starb Pina Bausch.
Wenders entschloss sich, an der Realisierung des Projekts festzu90
halten, umso mehr, als er durch die neue Raumerfahrung in der
3D-Technik die Möglichkeit gekommen sah, dem Zuschauer das
Gefühl zu vermitteln, unmittelbar zwischen den Tänzern zu sein.
Wenders Dokumentarfilm Pina kam im Februar 2011 in die Kinos.15 Er rückt vier Stücke ins Zentrum: Le sacre du printemps,
Café Müller, Kontakthof und Vollmond. Vor allem lässt er aber
auch Mitglieder des Ensembles zu Wort kommen. In ihren kurzen
Statements, Erinnerungen und Widmungen bringen sie zum Ausdruck, was ihnen die oftmals langjährige Arbeit im Tanztheater
Wuppertal bedeutet hat. Und deutlich wird, dass Pina Bausch für
sie nicht nur künstlerische Leiterin war, sondern eine Menschenbildnerin von großer Tiefe, Empfindlichkeit, Wahrhaftigkeit und
Zuwendung. Pina hat sie als Künstler und als Menschen geformt
und dabei das Kunststück vollbracht, sie nicht zu beherrschen,
sondern sie sich in ihrer Freiheit und Eigenheit entwickeln zu lassen. Dabei richteten sich, wie eine Tänzerin des Ensembles im
Film sagt, ihre Augen auf alles Schöne, was sie machten, um noch
etwas Schöneres daraus zu machen.
Wim Wenders porträtiert Pina in einer Passage seines Films,
in einigen unvergesslichen Momentaufnahmen bei der Arbeit, in
den Pausen, mit ihren Tänzern, in ihren Bewegungen, Gesten und
Blicken. In der Trauerrede auf die Verstorbene, die Wenders 2009
in Wuppertal hielt, versucht er die Wirkung, die ihre Anwesenheit
und ihre Blicke auf alle entfaltete, in Worten einzuholen:
Wir alle kannten Pina, und sie fehlt jedem (und jeder) von uns auf seine (oder ihre) Weise, ganz eigentümlich, ganz persönlich, ganz
schmerzhaft. Nur etwas von Pina haben wir alle geteilt, auch wenn wir
das (noch) nicht wußten – den Blick. Wenn Ihnen Pina jemals gegenübersaß oder –stand und in die Augen schaute, oder wenn Sie Pina je
bei der Arbeit beobachtet haben, wie sie z.B. auf einer Probe ihren
Tänzern zugeschaut hat, dann wissen Sie, was ich meine mit diesem
‚Blick‘, und wenn Sie ihn sich jetzt gegenwärtig machen, dann sehen
Sie Pina auch gleich wieder vor sich [...]. 16
Wenders zeigt sie in seinem Film genau so, wie er sie hier beschreibt: Porträtbilder von ungewöhnlicher Schönheit und Ein15
Der Film ist noch im selben Jahr als DVD erschienen.
Wim Wenders: „Trauerrede in Wuppertal 2009“. In: Sinn und Form 61
(2009). H. 6, S. 858-861, hier S. 858.
91
16
prägsamkeit: das Gesicht, die Bewegungen und die Blicke Pina
Bauschs.
Ich meine, dass einige Szenen aus Wenders‘ Dokumentation
besonders deutlich machen können, dass Pina Bausch mit ihren
vielfältigen ästhetischen Mitteln, mit ihren Ideen, mit ihrer Person
und ganz entscheidend mit ihrem Ensemble anknüpft an die von
Bettina von Arnim begründete und von anderen Autoren aufgenommene und fortgeschriebene spirituelle Ästhetik des Schwebens. Auch Pina Bausch verwebt in ihrem Tanztheater Geist,
Sinnlichkeit, Freiheit, Tätigkeit, Liebe und Schönheit so ineinander, dass der Eindruck einer lebendigen Form entsteht, einer
Form, die nicht ‚Gestalt’ (Schiller) ist, sondern Bewegung und
darüber hinaus von dem durchdrungen ist, was Bettina den
‚Rhythmus der Seele’ nennt.
In Pina Bauschs Arbeiten wird deutlich, dass der Rhythmus
der Seele alle inneren und äußeren Orte des Lebens und der Welt
durchdringt, den Schmerz und die Freude, die Einsamkeit und die
Gemeinschaft ebenso wie das Abgestorbene und Lebendige, die
städtischen Verkehrs- und Betonlandschaften einerseits und die
Natur in ihrer elementaren Schönheit andererseits. Ich beziehe
mich, um das Angedeutete etwas anschaulicher zu machen, abschließend auf vier Szenen aus Wenders Film und versuche dabei,
die zuvor entfalteten Gedanken zur ‚Schwebe-Religion‘ in das
Tanztheater Pinas einzuschreiben:
1. Szene:
Eine Tänzerin unter der Wuppertaler Schwebebahn, umgeben von
städtischem Verkehr inmitten einer Betonwüste, wie sie der Städtebau der 1970er Jahre hervorgebracht hat.
Der inspirierende, teilnehmende Geist Pinas (sie ist u.a. in den
zwischendurch eingeblendeten Erinnerungen der Tänzerin an sie
sehr präsent) und die Resonanzbewegung der Tänzerin unter der
Schwebebahn verwandeln im Zusammenspiel mit dem Rhythmus
der Musik die Versteinerung der urbanen Betonwelt in Bewegung
und Schönheit zurück. Ein technisches Wunderwerk, Wahrzeichen der rheinisch-bergischen Industriestadt, tritt hier in eine
überraschende und transformierende Beziehung zum lebendigen
menschlichen Körper. Die Schwebebahn wird zum allegorischen
92
Zeichen für die Wiederkehr des Lebens im abgestorbenen Körper
der modernen Großstadt.
2. Szene:
Ein Tänzer schreitet behutsam durch bläuliches Flimmern, derweil ihm auf Kopf, Schultern und Arme Äste gelegt werden, die er
gleichsam an seinem Körper trägt. Seine langsam fortschreitende,
vorsichtige Bewegung durch das Flimmerlicht lässt den Eindruck
eines Schwebens und einer Schwerelosigkeit aufkommen. Der
Körper des Tänzers verwächst mit den Ästen zum Baum.
Ein Gedanke Bettinas wie auch anderer Romantiker ist die Wiederauferstehung der Natur im Menschen. Der Tänzer als behutsamer Träger von Zweigen im schimmernden Unendlichkeitsund Sehnsuchtsblau bildet eine zärtliche Einheit mit der Natur.
Seine Sorge um das Gleichgewicht von Mensch und Natur und
ineins damit sein Baumsein selbst verwirklichen eine augenblickhafte Versöhnung: das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ 17
wird für Momente wahr.
3. Szene:
Eine Tänzerin tanzt in freier Natur über eine Reihe von Stühlen,
indem sie in deren Kippbewegung hineingeht und sich im kurzen
Moment des Kippens in einem Schwebezustand befindet. Die Szene geht in eine andere über, in der tanzende Frauen und Männer
im Licht des Vollmondes aneinander hochsteigen, miteinander in
purer Lebens- und Liebesenergie herumtollen und sich mit den
Elementen der Natur, vor allem mit dem Wasser, ekstatisch vereinigen.
Pina, so heißt es im Film, hat am Ende alles hinter sich gelassen
und war frei. Die Tänzerin widmet ihr die Leichtigkeit, das Gefühl kein Gewicht zu haben, indem sie über die Stühle gleitet, ihr
jeweiliges Kippen in die Vorwärtsbewegung integrierend, ohne
wie die Stühle selbst umzufallen.
Die Vollmond-Szene erinnert daran, dass Pina die Elemente
der Natur wichtig waren: Wasser, Stein, Licht und andere. Im
17
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.
Philosophische Fragmente [1944]. Frankfurt/Main: Fischer 1988, S. 47.
93
Licht des Vollmondes feiert sich das Leben selbst, ekstatisch,
gleichsam im ‚anderen Zustand‘. Im Mann ohne Eigenschaften
heißt es ja, den anderen Zustand beschreibend: „So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die
Natur des Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung.
Jedes Geben ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht.“ (MoE, 4, 1084) Eine der Tänzerinnen ruft nachterregt aus: „Ich bin jung, meine Ohren hören
Verheißungen, mein Geist ist machtvoll, meine Augen sehen
Träume, meine Gedanken fliegen hoch und mein Körper ist
stark.“ 18
4. Szene:
Die Schlussszene des Films zeigt das Sterben und Abschiednehmen. Eine Tänzerin wird mit Erde überschüttet, ein Tänzer trägt
den toten Körper, allerdings steht der Tod auch im Zeichen des
Lebens (ein Baum symbolisiert dies), der Überlebenden, des Ensembles, welches Pina und ihre Kunst weiterleben lässt – und
zwar im Humor eines wahrhaft theatralen kollektiven Schlussauftritts.
Die Erde hat Pina zurück. Was aber bleibt, ist die Flamme, die eine „radikale Forscherin“, die tief in die „Seelen“ geschaut hat,
weiterreicht. Eine Forscherin, die eine entscheidende Frage gestellt hat: Wonach sehnen wir uns, woher kommt unsere Sehnsucht? – Indem sie diese und andere wesentliche Fragen an die
Künste und die KünstlerInnen gestellt und versucht hat, sie wie
auch immer vorläufig in ihrem Tanztheater zu beantworten, hat
sie eine ‚große Sprache‘ (im Sinne Bettina von Arnims) gesprochen. Die Größe der Sprache macht einen bisweilen sprachlos,
und es ist vielleicht deshalb konsequent und legitim, ganz am Ende noch einmal die Sprache eines Anderen zu leihen. Was Malte
bzw. Rilke über Bettina von Arnim schreibt, trifft auch auf Pina
Bausch zu: Sie hat mit ihrem Tanztheater „Raum gegeben, geräumigste Gestalt. Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so aus18
Dieses und weitere, nicht eigens nachgewiesene Zitate stammen aus
Wenders Film.
94
gebreitet, als wär sie nach ihrem Tod.“ (A, 897) Eben war sie
noch, ist die Erde nicht noch warm von ihr und die Vögel lassen
noch Raum für ihre Stimme? Der Tau ist ein anderer, aber die
Sterne sind noch die Sterne ihrer Nächte. (Vgl. ebd.) Und was sie
ihren Tänzerinnen und vielleicht auch uns mit auf den Weg gibt,
ist die überlebenswichtige Losung: „Tanzt, tanzt, sonst sind wir
verloren.“
95
Burkhard Moennighoff
Die Rede des Satirikers und das Desaster der Natur.
Zur Apokalypse in der Literatur
I
Literatur und Religion sind zwei große Ausdrucksformen der
Menschheit. Ihnen zur Seite möchte man nach Maßgabe von
Rang und Geltung nur die anderen Künste, den Mythos und die
Wissenschaften stellen, vielleicht auch die Technik. Literatur und
Religion sind vielfältig aufeinander bezogen und miteinander
verknüpft. Religion äußert sich, sofern es sich um eine Schriftreligion handelt, in literarischer Form, nämlich in Stiftungsurkunden und heiligen Texten. Und Literatur schöpft aus den Stoffen,
Motiven und Themen, die die Religion bereitstellt. Die Bibel,
über die wir in unserem Kulturkreis unweigerlich und immer
wieder zu sprechen kommen müssen, ist ein Glaubensbuch, aber
sie ist dies nicht allein. Sie ist auch ein großer bunter Vorrat an
Geschichten, Imaginationen, Bildern und Redeformen: eine
Schatzkammer mit anregender Kraft für die Phantasie, ein Wörtermuseum der Sprachgemeinschaft, ein verbindendes Band unserer Kultur. So groß ist ihre sprachschöpferische und ihre gedankenbildende Energie, dass unsere Einbildungskraft selbst in säkularen Zeiten von der Bibel mitgeprägt ist. So ist unsere Vorstellung vom Paradies eine biblische. Und nicht allein Motive, auch
Figuren und Stoffe sind uns aus der Bibel vertraut. Der irrsinnige
Belsazar, die bildschöne Esther, der klagereiche Hiob, der mörderische Bruderzwist zwischen Kain und Abel, die verwickelten
Geschichten des Moses und des Joseph, die Gleichnisse Jesus −
die meisten kennen diese Gestalten und Erzählungen oder haben
wenigstens eine Ahnung davon. Und selbst derjenige, der nicht
bibelfest ist, benutzt doch hin und wieder biblische Wendungen.
Wir sprechen von einem Menetekel, wenn uns ein unheildrohendes Zeichen begegnet, oder von einem Schibboleth, wenn wir an
ein Losungswort denken. Wir sagen "Wer Wind sät, wird Sturm
ernten" oder "Hochmut kommt vor dem Fall". Dem einen stehen
die Haare zu Berge, während er sieht, dass Perlen vor die Säue
geworfen werden, dem anderen fällt es dabei wie Schuppen von
96
den Augen. All diese Formulierungen legen Zeugnis ab von der
großen Wirkungskraft, die von der Bibel ausgeht, denn in ihr sind
sie vorgeprägt. Natürlich hat auch die außerbiblische geistliche
Literatur anregend gewirkt: Kirchenlieder, der Katechismus, Gebetbücher, und selbst die Kirchenblättchen, die in der Vergangenheit im Kindergottesdienst ausgegeben wurden. Gleichwohl ist es
die Bibel vor allem, die über Generationen hinweg ihre Hörer und
Leser mit Geschichten, Formeln und Wörtern versorgt hat und
sich damit in deren und unsere Hirne eingeprägt hat.
Die Dichter, die ja auch Leser sind, wissen darum. Matthias
Claudius schreibt an einer Stelle des Wandsbecker Boten in seiner
für ihn charakteristischen naiven Art:
Ich habe von Jugend auf gern' in der Bibel gelesen, für mein Leben
gern. 's stehn solch schöne Gleichniss' und Rätsel drin, und 's Herz
wird einem darnach so recht frisch und mutig. Am liebsten aber les'
ich im Sankt Johannes. 1
Und Herder, der große Anreger der deutschen Literaturrevolution
um 1770, weiß von sich zu sagen, dass die Bibel die Quelle war,
"in die meine Einbildungskraft in zarter Kindheit getaucht wurde". 2 Das sind nur zwei Stimmen, die allerdings einer kulturspezifischen Allgemeinerfahrung Ausdruck verleihen. Die Bibel hat
einen prominenten Platz im kulturellen Gedächtnis, sie bestimmt
unsere Wörterwelt mit und sie bereichert die Geschichten, die
sich die Menschen seit alters her erzählen. Das hat Wirkungen auf
die Literatur. Das Durchsetztsein unseres Denkens mit Wissen
aus der Bibel ermöglicht es den Autoren nicht nur, in ihren Dichtungen auf Elemente der Bibel zurückzugreifen. Sie können sogar
darauf setzen, dass das Bibel-Wissen, das sie in ihre Dichtungen
sinnbildend einbauen, vom Leser auch erkannt wird. Der nämlich
teilt ja sein Wissen mit dem Autor. Dies ist sicherlich ein optimistischer Befund, was unsere unmittelbare Gegenwart angeht. Der
einst gewaltige Bildungsstrom, der sich aus der Bibel speist, hat
1
Matthias Claudius: Der Wandsbecker Bote. Frankfurt am Main: Insel
1975, S. 40.
2
Vgl. Johann Gottfried Herder: Über Thomas Abbts Schriften. In: Werke.
Hg. von Gunter E. Grimm. Bd. 2. Frankfurt am Main: Klassiker Verlag
1993, S. 600.
97
sich heutigentags in einen kleinen Bachlauf verwandelt. Frühere
Leserschaften waren allerdings durchaus vertraut mit der Bibel,
und das durch alle Bildungsschichten hindurch.3 Als nachgeborene Leser älterer Literatur müssen wir uns mit den Bildungsvoraussetzungen der jeweiligen Zeiten vertraut machen, wenn wir
jene nicht missverstehen wollen. Heinrich von Kleists Dichtungen
sind ohne Kenntnis der biblischen Erzählung vom Sündenfall
nicht vollständig zu erfassen, auch weite Teile der Liebeslyrik
nicht ohne Kenntnis des Hohelieds. Wie die Bibel in die Literatur
hineinwirkt und wie sie dadurch die Bedeutung eines literarischen
Textes steuert, das möchte ich an einem prominenten Beispiel
demonstrieren. Ich wähle dazu die Offenbarung des Johannes und
einen literarischen Text aus der Literatur des 20. Jahrhunderts und
einen aus der Literatur des 21., die auf je unterschiedliche Weise
auf die Offenbarung Bezug nehmen.
II
Vorstellungen vom Weltuntergang existieren in vielen Zeiten und
in unterschiedlichen Kulturkreisen. In der abendländischen Antike sind apokalyptische Elemente bei Hesiod und Plutarch nachweisbar. Im ersten Buch von Ovids Metamorphosen wird vom
Ende der Welt erzählt. Die nordische Mythologie spricht vom
Ragnarök. Die Eingangssequenz der Edda erzählt den Kampf der
Götter mit feindlichen Kräften und die anschließende Vernichtung der Erde. Der Dresdner Kodex, eine Handschrift aus der
Hochkultur der Maya, enthält einen Kalenderteil, der den Weltuntergang sogar datiert, nämlich auf die Wintersonnenwende 2012.
All diese Beispiele integrieren das Weltende in das Konzept eines
Geschichtsverlaufs, das das Ende als einmalig und unausweichlich ansieht. Es gibt aber auch Vorstellungen vom Zusammenbruch, die ihn als wiederkehrend in einem kosmischen Kreislauf
ansehen.
Im einfachen Mythos spiegeln sich lokal geprägte Vorstellungen. Im vulkanischen Kaukasus gibt es Erzählungen von ei3
In einer Szene in Georg Büchners Woyzeck blättert Marie in der Bibel, um
Trost zu suchen. Ein aufschlussreicher literarischer Niederschlag der Bibelkenntnis im lesekundigen, einfachen Volk.
98
nem gefesselten Untier im Erdinnern, das loskommt und daraufhin das Weltende herbeiführt. Bei den Eskimovölkern gibt es Erzählungen, die das Weltende als ein Umkippen des Kajaks beschreiben, bei dem die Menschen und die Unterirdischen den
Platz tauschen. 4
Auch die Welt des Films findet Gefallen an apokalyptischen
Erzählungen. Die Katastrophe wird von außen verursacht, etwa
durch einen Kometen, der auf die Erde zusteuert und sie zerstört
(z.B. in Mimi Leders Deep Impact oder Lars von Triers Melancholia). Oder das Weltende vollzieht sich als Naturkatastrophe
(als Klimakatastrophe z.B. in Roland Emmerichs The Day after
Tomorrow oder als virale Pandemie in Steven Soderberghs Contagion). Oder die Katastrophe wird durch einen Erzschurken geplant. Jeder James-Bond-Liebhaber kennt den Bösewicht Blofeld,
das Phantom, Leiter und "Nummer 1" der Terrororganisation
SPECTRE, gegen den der Filmheld in Gestalt von Sean Connery
antritt, um ihn am Feuerball zu hindern − so nennt Blofeld seine
Weltvernichtung.
Unter allen Darstellungen des Weltuntergangs ist die für unsere westliche Welt bedeutendste, nämlich vorstellungs- und traditionsbildende, diejenige, die uns durch die Bibel mitgeteilt wird.
Ich meine nicht die alttestamentarische Apokalypse im Buch Daniel, auch nicht die kleine Apokalypse in den synoptischen Evangelien (Mt 24-25; Mk 13; Lk 21,5-36), sondern die Johannesapokalypse. Sie bildet das einzige apokalyptische Buch im Neuen
Testament. 5
Die Johannesapokalypse hat eine doppelte Struktur. Sie wird
als Brief eingeleitet. Und tatsächlich spricht vieles dafür, sie als
ein Sendschreiben aufzufassen, gerichtet an sieben christliche
Gemeinden in Kleinasien, die unter Römerherrschaft stehen und
zu immensen Opfern gezwungen sind. Das Schreiben ist im
1. Jahrhundert entstanden, vermutlich um 95. Wir wissen nicht
viel über seinen Verfasser. Aber nur wenig spricht dafür und fast
alles dagegen, ihn mit dem Apostel Johannes zu identifizieren.
4
Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6. Tübingen: Mohr.
3. Auflage 1986, Sp. 1630.
5
Vgl. ebd., Bd. 3, Sp. 822-836.
99
Als Brief verfolgt die Johannesapokalypse einen praktischen
Zweck. Sie ist Mahnung und Ermutigung. Sie soll die Gemeinschaft der christlichen Gemeinden stärken, ihren Glauben fördern,
ihre spirituellen Gewissheiten bestätigen und mit all dem wohl
auch die Widerstandskraft gegen die Römerherrschaft befeuern.
Die Johannesapokalypse ist aber nicht nur Brief, sondern
auch visionäre Schau, sprachlich ambitionierte Prophetie, bilderreiche Weissagung eines Sehers, der sich in seiner Rede als vielseitig begabter Rhetoriker ausweist. Die Darstellung der Endzeit
entwickelt sich in Themenkreisen. Zunächst ist von einer Buchrolle mit sieben Siegeln die Rede, die Gott in Händen hält. Nur
ein Lamm ist befugt, diese Siegel zu öffnen. Durch das Brechen
der Siegel werden Gestalten erweckt, die gemäß der Tradition als
apokalyptische Reiter bezeichnet werden. Sie bringen Hunger und
Tod und initiieren die Katastrophe für die Menschen. Dann folgt
die Naturkatastrophe, wenn es heißt:
VND ich sahe / das es das sechste Siegel auffthet / vnd sihe / da ward
ein grosses Erdbeben / vnd die Sonne ward schwartz wie ein harin
Sack / vnd der Mond ward wie Blut / vnd die Sterne des Himels fielen
auff die Erden / Gleich wie ein Feigenbawm seine feigen abwirfft /
wenn er von grossem wind bewegt wird. Vnd der Himel entweich /
wie ein eingewickelt Buch / vnd alle Berge vnd Jnsulen wurden bewegt aus jren Ortern / 6
Der zweite Themenkreis handelt von den sieben Posaunen. Sie
bringen Hagel, Feuer, Blutregen. Die Lebewesen im Meer sterben, Schiffe sinken, der Himmel verfinstert sich. Heuschrecken
bedrohen und quälen die Menschen fünf Monate lang. Himmlische Reiter verheeren Land und Menschen. Über sie heißt es:
Vnd also sahe ich die Ross im gesichte / vnd die drauff sassen / das sie
hatten fewrige vnd gele vnd schwefeliche Pantzer / Vnd die Heupte
der rosse / wie die heupt der Lewen / vnd aus jrem Munde gieng fewr
vnd rauch vnd schwefel.7
6
Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther.
Studienausgabe. Herausgegeben von Hans-Gert Roloff. Bd. 1. Stuttgart:
Reclam 1989, S. 694.
7
Ebd., S. 703.
100
Der dritte Themenkreis handelt von den sieben Schalen, die mit
dem Zorn Gottes angefüllt sind und über die Menschheit ausgeschüttet werden. Die Menschen bekommen daraufhin Geschwüre.
Wasser verwandelt sich in Blut. Große Hitze kommt über das
Land. Flüsse trocknen aus. Ein Erdbeben nie gekannten Ausmaßes erschüttert die Welt.
Schließlich geht die große Stadt Babylon unter. Sie wird als
ein allegorisches Weib dargestellt, das reich gekleidet und wohl
ausgestattet auf einem scharlachroten Tier mit sieben Häuptern
und zehn Hörnern sitzt. Babylon ist der Inbegriff der Sündhaftigkeit, was neben dem sexuellen Fehlverhalten der Stadtbürger
auch das ökonomische Fehlverhalten der Handelsleute einschließt. Sündhaft ist Babylon, weil all seine Bürger ihre Existenz
nicht im Einklang mit der göttlichen Schickung führen. Ein starker Engel wirft einen großen Mühlstein ins Meer und entfesselt
einen Sturm, durch den Babylons Zerstörung ihren Lauf nimmt.
Der apokalyptischen Prophetie liegt in allen ihren Nuancen
eine simple Gedankenstruktur zugrunde. Nicht die ganze Welt
wird zerstört, nicht die ganze Menschheit vernichtet. Die Voraussage über das für notwendig gehaltene Eintreten des Untergangs
betrifft nur diejenigen, die nicht Gottes Gesetz gehorchen. All
diejenigen, die sich als Knecht Gottes verstehen, werden von der
Vernichtung ausgenommen. Der visionäre Sprecher lässt Gott
über die, die ihm gefallen, in trostreichen Worten sprechen:
Diese sinds / die komen sind aus grossem trübsal / vnd haben jre Kleider gewasschen / vnd haben jre kleider helle gemacht im blut des
Lambs / Darumb sind sie fur dem stuel Gottes / vnd dienen jm tag vnd
nacht in seinem Tempel. Vnd der auff dem stuel sitzt / wird vber jnen
wonen / Sie wird nicht mehr hungern und dürsten / es wird auch nicht
auff sie fallen die Sonne / oder jrgent eine hitze / Denn das Lamb mitten im stuel wird sie weiden / vnd leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen / vnd Gott wird abwasschen alle threnen vin jren augen. 8
Am Ende der apokalyptischen Schau steht zunächst das tausendjährige Reich. Während dieses Reich besteht, ist Gottes Widersacher, der Satan weggesperrt, und die Gottgefälligen regieren es
gemeinsam mit Christus. Nach der Zeit des Reichs kommt es zu
8
Ebd., S. 697.
101
einem letzten Kampf zwischen den antagonistischen Kräften des
Guten und Bösen. Ein letztes Gericht wird abgehalten. Im Anschluss daran tut sich die utopische Vision eines neuen Jerusalems auf, eines religiös gedachten Endreichs, in dem Gott bei den
gläubigen Menschen ist und eine Welt der Eintracht im Glauben
herrscht. In der Apokalypse drückt sich ein teleologisches Geschichtsmodell aus. Dieses Geschichtsmodell ist eine der wirkungsreichsten (und wohl auch fragwürdigsten) Erbschaften des
Christentums, die auf das Abendland übergegangen sind. Jedenfalls bilden seither Untergang und Utopie, Katastrophe und Erlösung, Vernichtung und Neuanfang in vielen Gedankengebäuden
eine feste Größe. Das Modell versteht sich als Heilsgeschichte
oder als Fortschrittsglaube. In dem einen oder anderen Sinn findet
es sich in der Hegelschen Geschichtsphilosophie, im Marxismus,
in ökonomischen Theorien des Neoliberalismus, im amerikanischen Neokonservatismus sowie in noch kürzlich hochgelobten
akademischen Zeitgeisttheorien wie z.B. Francis Fukuyamas Das
Ende der Geschichte. 9
Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist mindestens dreierlei
an der Johannesapokalypse bedenkenswert. Da ist erstens der rhetorische Zuschnitt der Schrift: ihr Gerichtetsein an einen klar benennbaren Adressaten, ihr gewaltiges Schwelgen in Untergangsphantasien sowie ihre Bilder der Zerstörung und die alles verbindende Redeform der prophetischen Schau. Da ist zweitens das
zweiwertige Grundmuster, das für Abtönungen, Nuancen und
Zwischenpositionen keinen Platz hat, das nur die Pole schwarz −
weiß, gut − böse, Licht − Finsternis, gläubig − ungläubig und
Friedensreich − Katastrophenwelt kennt. Und da ist drittens der
Gedanke, dass die Apokalypse für einen kleinen Kreis von Auserwählten kein Unheil, sondern Rettung bringt. Aus all diesen
Aspekten hat die Literatur geschöpft.
III
Der Untergang ist mannigfach zum Thema der Literatur gemacht
worden. Jean Paul mit seiner Rede des toten Christus vom Welt9
Vgl. dazu John Gray: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die
Krise stürzt. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 2010.
102
gebäude herab, daß kein Gott sei (1796), das Märchen, das die
Großmutter in Georg Büchners Woyzeck (Erstdruck 1878) erzählt,
Alfred Kubins phantastischer Roman Die andere Seite (1909),
Jakob von Hoddis' groteskes Gedicht Weltende (1911), Karl
Kraus' monumentales Drama Die letzten Tage der Menschheit
(1918/19 und 1922), Alfred Döblins visionärer Roman Berge,
Meere und Giganten (1924), Christa Wolfs Roman Störfall
(1987), der die Atomkatastrophe von Tschernobyl thematisiert,
und Tim Staffels Roman Terrordrom (1998) über die in Anarchie
verfallende Stadt Berlin sind nur einige Beispiele.
Eine Reihe von literarischen Thematisierungen des Untergangs nimmt Bezug auf die Johannesapokalypse. Diese ist literarisch produktiv wegen ihrer Redeform. Prophetie setzt eine besondere Begabung voraus. Denn sie ist zukunftsgewisse Weissagung. Sie verkündet ein künftiges Geschehen mit einer Gewissheit, zu der der Mensch eigentlich nicht fähig ist. Der nämlich
kann nur in Wahrscheinlichkeiten denken, wenn es um Prognosen
geht. Außerdem setzt Prophetie auf ein höchstes Maß an Informiertheit. Wer prophezeit, hat seine Gewissheiten aus Visionen
empfangen oder durch Stimmen, die er gehört hat. Die Offenbarungen, die dem Propheten zuteilwerden, sind von höherer Ordnung. Sowenig Zweifel an diesen höheren und darum unumstößlichen Wahrheiten überhaupt möglich sind, so sehr ist die Rede
des Propheten überzeugend. Denn sie ist die Kundgabe dieser unbezweifelbaren Wahrheit.
Alles das hebt den Propheten hervor. Er hat eine privilegierte Rolle inne. Das Wissen um das zukünftige Geschehen erlaubt
ihm einen bestimmten Blick auf die Gegenwart. Im Gegensatz
zum Normalsterblichen, der über die Zukunft nur mutmaßen
kann, kann der Prophet sie genauestens und sicher erkennen. In
diesem Sinn ist die Redeform der Prophezeiung wie geschaffen
für die Belange des Satirikers.
Der Satiriker kritisiert die Welt. Sie ist in seiner Sicht aus
den Fugen geraten. Normen werden in ihr außer Kraft gesetzt
oder missachtet. Das ruft den Satiriker auf den Plan. Niemals kritisiert der Satiriker den Bruch von Rechtsnormen, sondern immer
Brüche von sozialen Normen, also solchen des Verhaltens oder
Umgangs miteinander. Er ist an den Zuständen der Welt interes103
siert, aber nicht an einzelnen Personen. Anders als der Polemiker,
der vor seinem Publikum wirkliche Personen mit ihrem Namen
nennt und sie mit seinen Mitteln der Vernichtungsrede zu zerstören sucht, richtet sich der Satiriker gegen die Verkehrtheit der Zustände, die er durchschaut. Sowohl der Polemiker als auch der Satiriker äußern sich im Modus der Aggression, aber der Satiriker
ist ungleich harmloser als der Polemiker, denn er sucht nicht
durch Vernichtung zu verändern, sondern durch Aufzeigen und
Beschreibung eines Übelstands.
Satire ist Kritik, aber Kritik nicht Satire. Damit aus kritischer Rede Satire wird, muss etwas hinzukommen. Sie muss sich
ästhetischer Mittel bedienen. Besonders häufig verbindet sich die
Satire mit dem Witz. Sie bedient sich der Register des Komischen, macht von beißenden Wortspielen und spöttischen Übertreibungen Gebrauch, auch von überrumpelnden Pointen, grellen
Kontrasten, geistreichen Anspielungen und ironischen Wendungen. Oder die Satire bedient sich einer bestimmten Rollenrede.
Der Satiriker kann mit der Maske des Naiven sprechen, der gerade aufgrund seiner Arglosigkeit die Missstände in der Welt erkennen kann. So geschieht es streckenweise in Grimmelshausens
großem barocken Schelmenroman Simplicius Simplicissimus
(1669). Oder der Satiriker spricht mit der Maske des Außenseiters, der aufgrund seines Andersseins sensibel auf die gewöhnliche Verkommenheit zu reagieren vermag. In Voltaires L'ingénu
(1767) ist es ein junger Wilder aus Nordamerika, der die zweifelhafte europäische Zivilisation satirisch karikiert. In dem antiken
Roman Der goldene Esel des Apuleius zeichnet ein Mensch in
Tiergestalt die Welt satirisch, in François Rabelais RenaissanceRoman Gargantua und Pantagruel (1532-1564) sind es Riesen,
die das tun. Eine andere Maske, deren sich der Satiriker bedienen
kann, ist die des Propheten.
Einer der sprachgewaltigsten und produktivsten Satiriker
des 20. Jahrhunderts ist Karl Kraus. Der österreichische Autor hat
vor allem in seiner monumentalen Zeitschrift Die Fackel über
mehr als drei Jahrzehnte seine satirische Begabung gezeigt, außerdem in einer Vielzahl von Essaysammlungen und in einigen
Dramen. Die Satire kennt zwei Grundformen, die scherzhafte und
die strafende Satire. Jene verbindet sich vor allem mit dem Na104
men Horaz, diese mit dem Namen Juvenal. Die scherzhafte Satire
verwundert sich über die kleinen Fehler des Menschen, quittiert
dessen Torheiten mit Schmunzeln und übt augenzwinkernde Kritik an dem lächerlichen Vermögen des Menschen, seinem eigenen
Glück im Wege zu stehen. Die strafende Satire hingegen zielt auf
die willentliche Schändlichkeit des Menschen. Der Übelstand,
den sie auf das Korn nimmt, ist bewusst herbeigeführt worden.
Dem Affront der strafenden Satire entspricht deshalb nicht das
Kopfschütteln des heiteren Über-den-Dingen-Stehens, sondern
die bis zum Pathos gesteigerte Verachtung. Nicht die Sprache des
Scherzes regiert sie, sondern die der argwöhnischen Wut und die
des unerbittlichen Hasses. Karl Kraus ist ein strafender Satiriker.
Die Haltung, mit der er sich zu Wort meldet, ist nicht die des
Humors, sondern die des Spottes. In seinen satirischen Visionen
zeichnet er die Hölle und die Apokalypse. Die Titel einiger seiner
Werke lassen das erkennen: Untergang der Welt durch schwarze
Magie, Weltgericht, Die letzten Tage der Menschheit. Kraus malt
die Welt in den grellen Farben des Untergangs. Die Endzeit, die
er heraufkommen sieht, wird ins Abgründige gesteigert nur zu
dem einen Zweck, Tendenzen der Gegenwart überdeutlich erkennbar zu machen.
Im Jahr 1908 stand die Fackel im zehnten Jahr ihres Erscheinens. Im Oktober-Heft erschien ein kurzer und konziser Artikel mit dem Titel Apokalypse. Es handelt sich um einen Text,
der das Selbstverständnis des Satirikers Kraus zum Ausdruck
bringt. Er steht in der Tradition der satirischen Programmschrift,
auch satirische Apologie genannt. Nicht nur der Titel dieses Textes bezieht sich auf die Offenbarung des Johannes, auch viele Anspielungen und Zitate im Text stellen diesen Bezug her. Und auch
der Titelzusatz, den Kraus seiner kleinen Schrift beifügt (Offener
Brief an das Publikum), weist eine strukturelle Ähnlichkeit mit
der der biblischen Vorlage auf, die ja auch einen deutlichen
Adressatenbezug hat.
Das Jahr 1908 fällt in eine Zeit der rasanten technischen
Entwicklung. Damit einher gehen erhebliche politische Verwerfungen. 1900 findet die erste Zeppelinfahrt statt und die erste
Dampfmaschine mit 100000 PS wird entwickelt. 1901 erreichen
Berson und Süring im offenen Freiballon 10800m Höhe. Die Te105
legraphie wird optimiert und bald auch militärisch genutzt. 1903
erreicht eine elektrische Schnellbahn auf der Versuchsstrecke bei
Zossen die Spitzengeschwindigkeit von 210km/h. Die Schwebebahn in Wuppertal wird eröffnet. 1905 wird das autogene
Schweißen erfunden, auch die Gasturbine und die Luftdruckbremse und die Osramlampe. Der Motorflug kommt in Gang. Seit
1900 hatte ein ungestümes Wettrüsten der großen europäischen
Mächte eingesetzt; insbesondere die Marinebegeisterung Wilhelms II. hat England misstrauisch gemacht. Die weltpolitische
Lage wurde durch die imperialistische Konkurrenz der europäischen Nationen bestimmt. Die Marokko-Krise von 1905/06 weitete die Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland aus. Die
Annexion von Bosnien und der Herzegowina durch ÖsterreichUngarn 1908 führte zu wochenlanger akuter Kriegsgefahr nicht
nur auf dem Balkan, sondern in ganz Europa.
In dieser Situation schreibt Kraus seine satirische Apologie.
Sie enthält in nuce eine Reihe der wichtigen Themen, deren sich
Kraus in seinem satirischen Gesamtwerk angenommen hat. Die
Welt erlebt eine Kulturkrise und der Satiriker nennt das in vielen
Einzelheiten beim Namen. Die Welt, von der er glauben machen
will, dass sie dem Untergang geweiht ist, ist von Menschen bevölkert, die sich Ziele setzen, die sie überfordern. Insbesondere
der technische Fortschritt ist es, dem die Menschen nicht gewachsen sind. Der Schnelligkeit der Entwicklung können die Herzen
nicht folgen. Die Entfaltung der Produktivkräfte ist eigentlich ein
Versagen. Für Kraus beruhen diese Entwicklungen auf Dummheit. Diese müssen wir uns als eine Fehleinschätzung der Menschen ihrer selbst verstehen. Er schreibt:
Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschifffahrt. [...Die Wurzel des Weltuntergangs sieht Kraus] in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit. [...] Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns
von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf
schmalspurigen Gehirnbahnen. [...] Die Tragik der gefallenen
Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt
106
als eine Jungfer fürs Bordell [...], ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. 10
Die Menschen haben sich einiges einfallen lassen, das ihr inneres
Gleichgewicht herrichten soll. Zum Beispiel die Religion und den
Trost, den sie bietet. Für Kraus versperrt sie allerdings nicht den
Weg, den die Menschheit zum Galgen geht. Auch die Politik kann
nichts ausrichten; sie macht nur lebensüberdrüssig. Und die Humanität kürzt die Galgenfrist nur ab. Selbst der Sport trägt zur allgemeinen Verdummung bei.
Das alles sind für Kraus Symptome des Untergangs, aber
nicht seine Gründe. Die sieht er in einem anderen Punkt. "Der
wahre Weltuntergang", schreibt Kraus "ist die Vernichtung des
Geistes." 11 Dieser Formulierung wohnt eine Diagnose inne: Die
Krise, deren Zeitgenosse Kraus ist, ist eine Krise der Vernunft.
Sie besteht darin, dass die Menschheit nicht genügend zur gedanklichen Differenzierung fähig ist, denn es fehlt ihr an Vorstellungskraft. Das schließt die mangelnde Fähigkeit zur sprachlichen
Differenzierung ein, denn die Menschheit denkt in Phrasen und
Allgemeinplätzen (die so verbreitet sind, dass Kraus einmal dem
Staat zu dessen Gunsten vorgeschlagen hat, eine Phrasensteuer zu
erheben, um so aus dem Elend Kapital zu schlagen 12). Das alles
wird mit einem hohen Maß an Überheblichkeit und Anmaßung
gesagt. Kraus geht sogar soweit, das Publikum seiner Fackel in
den Objektbereich seiner satirischen Rede einzuschließen. Er
misstraut dem Publikum, denn es zeigt sich weitgehend nur am
Skandal interessiert, nicht aber an der Information. Wenn es nach
Wahrheit verlangt, will es doch nichts anderes als Opfer sehen. Es
zeigt sich von der Sensation und dem journalistischen Stil der
Pressewelt beeindruckt und merkt gar nicht, dass es dadurch das
eigene Urteilsvermögen verliert. Deshalb schreibt Kraus: "Ich sage, daß der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken
sich lohnt, die Dummheit des Publikums ist." 13
10
Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Hrsg. von
Christian Wagenknecht. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1989, S. 9-10.
11
Ebd., S. 14.
12
Ebd., S. 427.
13
Ebd., S. 18.
107
Der Satiriker, der so spricht, spricht eine Rollenrede. Kraus, der
als Privatperson von seinen Zeitgenossen als umgänglich, freundlich und zugewandt beschrieben wird, 14 spricht als satirischer Autor mit größtmöglicher Distanz zur Welt und zu den Menschen.
Er spricht als Prophet, der das kommende Unglück erkennt und
als Richter, der mit unerbittlicher Strenge sein vernichtendes Urteil über die Menschheit ausspricht. Mit dem Pathos seiner Rede
gleicht er dem Heros, mit dessen Taten seine Rede die Außergewöhnlichkeit und Überhöhung teilt. In seiner Einsamkeit gleicht
er dem asketischen Einsiedler, in seinem Zynismus aber dem
Menschenfeind. Er ist von der Gattung Mensch enttäuscht und
wünscht, keine Gemeinschaft mit ihr zu haben. Das alles ist natürlich der Rhetorik, also der Wortkunst und der Wirkungsabsicht
seiner Rede geschuldet; das ist aber auch auf die Anforderungen
abgestimmt, denen das Maskenspiel des Satirikers folgt. Der Satiriker kritisiert und will ernst genommen werden. Er zeigt auf, was
sonst niemand wahrnimmt. Er registriert das kosmische Ausmaß
der kommenden Katastrophe, das von anderen nicht zur Kenntnis
genommen wird. Darum schlüpft er in eine archetypische Rolle,
in der Hoffnung, dass seine prophetische Rede ihm Glaubwürdigkeit verleiht und Zustimmung einbringt. Zur Steigerung und Beglaubigung seiner Schmährede bedient er sich der Anspielungen
auf die Offenbarung des Johannes. Von der grassierenden Phantasielosigkeit seiner Zeitgenossen spricht Kraus wie folgt:
Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere
ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der
Erde zu nehmen, und daß sie sich einander erwürgten.15
Das ist biblische Rede ohne religiösen Gehalt. Ein heilsgeschichtliches Geschichtsmodell, wie es in der Offenbarung des Johannes
enthalten ist, ist bei Kraus nicht zu erkennen. Gleichwohl gilt:
Alle Satire, also auch die strafende Satire ist nicht nur Negation
und Ablehnung. In der Kritik drückt sich ein Bewusstsein für das
14
Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 244-250.
15
Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie (Anm. 10), S. 12.
108
Positive aus. So auch bei Kraus, wenn auch nur ansatzweise und
undeutlich. Eine Zentralvokabel für Kraus ist "Natur". Sie steht
für eine nicht von den Erscheinungen der Moderne beschädigte
Welt. Die Menschen sind dumm; sie reden in Phrasen; ihnen fehlt
die Phantasie; ihre Herzen sind ausgehöhlt. Die kommende Zerstörung und die künftige Katastrophe reagieren darauf. Zerstörung
und Katastrophe sind nicht die unmittelbare Folge der Krise der
Vernunft, also deren Hervorbringung, sondern eine Gegenkraft,
also Antwort auf die Krise der Vernunft. Zerstörung und Katastrophe sind insofern schöpferisch, als sich in ihnen der Geltungsanspruch der Natur ausdrückt.
Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben
kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der
Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen
möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler.16
Kraus übernimmt aus der biblischen Darstellung der Apokalypse
den Wortschatz des Untergangs und ebenso die Polarität von Untergang und Erneuerung, wenn auch nicht in solch forcierter
Form, wie es in der Offenbarung des Johannes der Fall ist. Der
Untergang ist bei Kraus auch keine Etappe in einem nach vorn
gerichteten Geschichtsprozess, sondern der Besinnungsmoment in
einem Wiederherstellungsprozess, in dessen Verlauf ein Verlorenes wieder an Gestalt gewinnt.
IV
Kraus liefert ein literarisches Beispiel für apokalyptische Rede.
Andere Autoren stellen die Fiktion ihrer literarischen Texte in den
Horizont der Apokalypse. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die
Welt eines Romans eine Welt des Untergangs ist.
Im Jahr 2004 erschien auf dem deutschen Buchmarkt der
sogleich äußerst erfolgreiche Roman eines meereskundlich versierten Autors, Frank Schätzings Der Schwarm. Das Buch ist vielfach aufgelegt worden, auch als Hörbuch. Im Internet wird es von
16
Ebd., S. 10.
109
allerlei Begleitmaterial flankiert. Die Filmrechte sind inzwischen
verkauft. Das Buch ist sicherlich kein großes Buch, denn es fehlt
ihm einer von zwei Reizen. Das Buch drängt zwar bei der Lektüre
trotz seiner ehrfurchtsgebietenden Länge zur Vorwärtsbewegung
− man will wissen, wie die erzählte Geschichte voranschreitet und
wie sie schließlich endet −, aber es fehlt ihm das Verharrungsmoment; an keiner Stelle will man bei der Lektüre innehalten und
einzelne Sätze oder Formulierungen wieder und wieder lesen.
Dennoch ist das Buch gut als Lehrstück geeignet: Es lässt uns
über den Umgang mit apokalyptischem Denken reflektieren.
Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, die von einem Prolog und einem Epilog gerahmt werden. Vor allem im ersten Teil
wird eine pandämonische Welt zur Darstellung gebracht. In den
Meeren des gesamten Globus ereignen sich gleichzeitig außergewöhnliche, zunächst unerklärliche und vor allem verheerende Katastrophen. Am Meeresboden vor Norwegen wird eine bislang
unbekannte Art von Borstenwürmern entdeckt. Ihre Exemplare
haben eine abnorme Gestalt. Diese Würmer bewirken mit ihren
Kauwerkzeugen am Kontinentalschelf vor der skandinavischen
Nordseeküste eine große Instabilität des Meeresbodens. Unterwasserplattformen der großen Ölgesellschaften werden dadurch
betriebsunfähig und stürzen in sich zusammen.
An der Ostküste der USA werden Schiffe mit Touristen, die
zu Whale Whatching Touren aufgebrochen sind, von Walen attackiert. Wie es zunächst erscheint und sich später bestätigt, geschieht dies in organisierter Form. Formationen von Walen greifen Schiffe und Menschen an, zerstören die einen und bringen die
anderen zu Tode. Es stellt sich heraus, dass die Tiere über einen
Willen und die Fähigkeit zum planenden Handeln verfügen.
An der chilenischen Küste verschwinden zur selben Zeit unter mysteriösen Umständen Fischer und ihre Boote. In Südamerika und Australien kommt es zu Qualleninvasionen in bislang unbekannten Ausmaßen. Dabei handelt es sich um hochgiftige Quallen, die den sommerlichen Badebetrieb an den Stränden und
überhaupt jeglichen Tourismus vor Ort sofort zum Erliegen bringen. Vor Costa Rica verbreitet sich eine Quallenart namens Portugiesische Galeere. Eine solche Qualle ist nicht denen ähnlich,
die wir von der Nord- und Ostsee her kennen. Sie tritt in Kolonien
110
aus vielen Einzeltieren auf; gemeinsam bilden sie ein gasgefülltes
Segel, mit dem sich die Windkraft zur Fortbewegung nutzen lässt.
Jede Zelle dieses Verbundes birgt eine Kapsel mit einem zusammengerollten Schlauch. Bei Berührung entfaltet der sich blitzschnell und schießt harpunenartig Giftnesseln auf sein Opfer, das
nur selten dem Tod entkommt. Vor Australien taucht die sogenannte Seewespe auf. Das Gift eines einzigen Tieres reicht aus,
um 250 Menschen zu töten.17
In Frankreich sorgen sonderbare Hummer für Verunsicherung. Sie sind toxisch. Manche von ihnen gelangen durch die
Handelskette sogar in Sterne-Restaurants, wo sie für tödliche
Vorkommnisse sorgen. Ähnlich toxisch sind massenweise auftretende Krebse, die zunächst New York, dann die ganze amerikanische Ostküste in den Ausnahmezustand versetzen. Massenerkrankungen sind die Folge. Die großen Städte, darunter Washington
müssen aufgegeben werden. Planktonschwärme führen auf allen
Weltmeeren zu Schiffskollisionen, denn sie setzen die Ortungssysteme und Echolotanlagen außer Kraft. Die Veränderungen in
den Meeren gehen soweit, dass die großen Meeresströme Irritationen erfahren. Niemand kann sich erklären, wie es dazu kommt.
Sogar der Golfstrom verliert an Kraft. Eine neue Eiszeit wird als
Folge befürchtet.
Während all dies die Menschheit in Schrecken versetzt und
das Chaos überall ausbricht, bewirken die Aktivitäten der Borstenwürmer in der Nordsee ein gewaltiges Seebeben. Der Kontinentalschelf bricht zusammen, ungeheure unterseeische Erdabrutsche brechen sich Bahn, wodurch übergroße Methangasblasen frei
gesetzt werden, die ihren Weg nach oben suchen und schließlich
die Atmosphäre verpesten. Die großen interkontinentalen Datenkabel werden bei diesen Ereignissen zerstört; die weltweiten
Kommunikationsnetze brechen zusammen.
Das Seebeben löst einen Tsunami in Nordeuropa aus. Die
Darstellung dieser verheerenden Überschwemmung gehört zum
Eindrucksvollsten, was der Roman zu bieten hat. Bis ins kleinste
Detail wird beschrieben: Wie zuerst das Wasser plötzlich zurück17
Frank Schätzing: Der Schwarm. Frankfurt/Main: Fischer. 4. Auflage
2005, S. 199-201.
111
geht; wie es dann mit gewaltigem Donner und in Küstennähe als
tosende senkrechte Wellenwand wiederkehrt. Alle Anrainerstaaten der Nordsee sind betroffen. Bohrinseln kippen, Schiffe werden durch die Luft gewirbelt, Frachter zerschlagen. Schiffe, die
auf See der Welle standgehalten haben, werden in den nachfolgenden Wellentälern verschluckt. 18 Küstenlandschaften werden
überschwemmt, Dämme bersten, Hafenbefestigungen zerbrechen,
die Fjorde in Norwegen werden zu Todesfallen.
Auf andere Art zerstörerisch als die heranrollenden Flutwellen wirken sich die abfließenden Wassermassen aus. Ihr Sog zieht
alles mit sich, Schlamm und Trümmer, Bäume, Äste, Hauswände,
Fahrzeuge. Wer von solchem Wasser erfasst wird, gerät in einen
aussichtslosen Überlebenskampf. Was zurückbleibt, ist ein unwirtliches Land mit zusammengebrochener Infrastruktur: Unkontrollierbare Feuer wüten, die Stromversorgung ist unterbrochen
genauso wie die Kühlwasserzufuhr der küstennahen Atomkraftwerke, die medizinische Versorgung kann nicht mehr gewährleistet werden. 19
An hervorgehobener Stelle, nämlich vor dem ersten Romanteil, stehen zwei Motti. Eines davon zitiert aus der biblischen
Apokalypse:
Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu
Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im
Meer starben. Der dritte goss seine Schale über die Flüsse und Quellen. Da wurde alles zu Blut. Und ich hörte den Engel, der die Macht
über das Wasser hat, sagen: Gerecht bist du ... 20
Das große Zerstörungswerk, das der erste Teil des Romans eindringlich beschreibt, steht kraft dieses Mottos im Bannstrahl des
biblischen Untergangsmythos. Dadurch wird zweierlei erreicht.
Erstens wird die Geschichte der Katastrophe, die der Roman erzählt, im Spiegel einer anderen Geschichte, eben der biblischen
Apokalypse mitgeteilt. Und zweitens wird die erzählte Geschichte
einem bestimmten Verstehen, eben einem religiösen zugeführt.
18
Vgl. ebd., S. 425. An dieser Stelle fällt das Wort Apokalypse.
Vgl. ebd., S. 481.
20
Ebd., S. 25.
112
19
Die Überlagerung einer Geschichte mit einer anderen, strukturell
ähnlichen Geschichte dient der Intensivierung. Autoren machen
das, um ihren literarischen Stoffen Gewicht zu verleihen. In diesem Sinn erinnern Andreas Gryphius' Trauerspiel Carolus
Stuardus (1657) ebenso wie Goethes Werther (1774) in Einzelheiten an die Passion Christi. In diesem Sinn ist Franz Biberkopf, der
Held in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) als HiobGestalt konzipiert und Adrian Leverkühn, die Zentralfigur in
Thomas Mann Doktor Faustus (1947) als moderner Faust. Die
Überlagerung und Doppelung der erzählten Geschichte dient aber
auch der Relativierung des Unmittelbaren. Die erzählte Geschichte wird in Bezug zu einer anderen Geschichte gestellt. Ein Vergleich wird provoziert. Die in der Fiktion des Romans Der
Schwarm dargestellte Katastrophe wird im Licht der anderen Erzählung begreiflich gemacht. Der aufmerksame Leser, dem dieses
Detail nicht entgeht, rezipiert die Geschichte im Licht eines ihm
bekannten Musters. Das kleine Element, das das Motto darstellt,
ist deshalb von großer Bedeutung für die Wahrnehmung des Textes. 21
Die Johannes-Apokalypse handelt von Strafe und Vergeltung. Das sündhafte Leben der Menschen, ihre moralische und
religiöse Verfehlung bewirkt die Reaktion Gottes und letztlich
den Untergang. Das Muster von menschlicher Verfehlung und
göttlicher Strafe wird durch das Motto auf Schätzings Roman
übertragen. Hier ist es allerdings nicht die moralische Verfehlung,
die zur Katastrophe führt, sondern die ökologische Verfehlung. In
diesem Sinn ist von der umweltzerstörenden Emission von Treibgasen die Rede, 22 auch von der Überdüngung der Meere, 23 der
Überfischung, der Vergiftung der Meere und der Klimaerwärmung. 24 Und es ist auch keine göttliche Strafe, von der der Roman handelt. Die Ursache der Katastrophe ist anderer Natur als
die in der biblischen Apokalypse. Weite Strecken des Romans
gelten der Erkundung dieser Ursache. Und diese Ursachenfor21
Das wird flankiert durch einige Verweise auf die Apokalypse
laufenden Text; vgl. ebd. S. 234, S. 425 , S. 487, S. 569 und S. 805.
22
Vgl. ebd., S. 226.
23
Vgl. ebd., S. 204.
24
Vgl. ebd., S. 234.
im
113
schung führt weit weg von dem Muster, das durch den Bibelbezug vorgegeben wird.
International renommierte Wissenschaftler, Politiker und
Militärs finden sich zu einem Team zusammen oder werden einberufen, um die Katastrophe zu verstehen. Das Ganze geschieht
mit dem Ziel, die bedrohte Menschheit zu retten. Einige Erklärungen werden vermutungsweise geäußert, um sogleich verworfen zu werden. Weder kann das verheerende Geschehen auf terroristische Aktivitäten zurückgeführt werden noch auf Mutationen
in der Tierwelt. Nach vielen Beobachtungen, Untersuchungen und
Erkundungen, die von vielen Schritten der Hypothesen- und Theoriebildung begleitet werden, erkennt man in dem katastrophalen
Geschehen das Wirken einer anderen als der menschlichen Intelligenz. Es handelt sich um eine unterseeische Intelligenz, die
überaus flexibel, anpassungsfähig und darum überlebensfähig und
sogar zur kollektiven Erinnerung fähig ist. Es ist eine Form von
kollektiver Intelligenz, die in Gestalt von Zellschwärmen agiert.
Mit großer Effizienz geht diese Lebensform daran, seinen Lebensraum, den der Mensch zu zerstören droht, zu behaupten. Dem
Menschen gelingt es zwar, diese Lebensform zu erkennen, aber es
gelingt ihm nicht, sie zu vernichten oder in ihrem Wirken einzuschränken. Am Ende zieht sich das mysteriöse Wesen in die Tiefen des Meeres zurück, ohne dass in Erfahrung gebracht werden
kann, ob es und gegebenenfalls wann es wieder gegen den Menschen opponiert. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, bleibt prinzipiell bestehen. Eine Errettung der Menschheit ist nicht mit Sicherheit gelungen. In diesem Punkt verlässt der Roman die anfangs
eingeräumte apokalyptische Dimension. Der Anfang des Romans
beschreibt ein katastrophales Geschehen. Es wird zunächst in den
Begriffen des apokalyptischen Untergangs mitgeteilt. Am Ende
aber stellt sich das Geschehen nicht als eine Geschichte des Untergangs, sondern als eine Geschichte der Veränderung dar. Eine
neue Lebensform hat sich entwickelt. Sie ist dem Menschen vermutlich evolutionär überlegen. Und der Mensch hat das zur
Kenntnis zu nehmen.
Frank Schätzings Roman Der Schwarm ist ein zivilisationskritischer Abenteuerroman. Von dem Potenzial der Literatur, mit
viel Erfindungsgabe alles Mögliche zur Darstellung zu bringen,
114
macht er reichlichen Gebrauch. Eines scheint mir dabei wichtig
zu sein. Wenig ist schwieriger als nicht pessimistisch zu sein. Wir
meinen leichtfertig, dass früher alles besser, heute aber alles
schlechter sei und die Zukunft noch miserabler werde. Kleine bis
große Katastrophen verleiten rasch dazu, den universalen Untergang kommen zu sehen. Ein solch apokalyptisches Denken kann
seine Ursache darin haben, dass der Mensch mit dem Verstehen
der Gegenwart, zumal mit dem Verstehen von schrecklichen
Ereignissen überfordert ist. Er flüchtet sich in den Mythos, der
ihm vertraut ist. Der Roman zeigt aber auch, dass man Ereignisse
und Vorkommnisse schlichtweg als Veränderungen ansehen
kann. Diese können schmerzlich sein, müssen aber darum nicht
von vornherein als Vorboten eines kommenden Untergangs gesehen werden. Schon eine vorsokratische Weisheit sagt, dass die
Welt ständig im Fluss ist. Sie ist heute anders als gestern und wird
vermutlich morgen anders sein als heute. Das Klima ändert sich,
wie es das schon immer getan hat, und ebenso die Gesellschaft.
Staaten zerfallen, Staaten entstehen. Nicht der Untergang, sondern
die Veränderung ist der Normalfall. Man kann diese Sichtweise
mit John Gray als realistisch bezeichnen. 25 Schätzings Roman
illustriert diese Lehre.
Das sind nur zwei Beispiele für die literarische Anverwandlung der biblischen Apokalypse. Dem ließen sich viele weitere
literarische Adaptionen des biblischen Mythos hinzufügen. Ein
großer Formenreichtum im Umgang mit der Vorlage würde sich
dadurch auftun. In jedem Fall würde sich folgende unspektakuläre
Einsicht bestätigen: Die Bibel ist ein wichtiger Baustein im Fundament der abendländischen Kultur. Wer diese verstehen will,
muss jene in seine Überlegungen einbeziehen.
Weiterführende Literatur
John Gray: Politik der Apokalypse. Wie die Religion die Welt in
die Krise stürzt. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 2010. Der aus
dem Geist eines Anti-Idealismus geschriebene politische Essay
25
Gray: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt
(Anm. 9), S. 296-316.
115
eines Ideengeschichtlers beschreibt das Nachwirken religiöser,
insbesondere apokalyptischer Anschauungen in Ideologien der
Vergangenheit und Gegenwart.
Dietrich Hardt (Hg.): Finale! Das kleine Buch vom Weltuntergang. München: Beck 1999. Die bunte Anthologie versammelt
Texte und Textausschnitte, die den Untergang thematisieren. Von
Platon bis Prince.
Gerhard Henschel: Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes. Frankfurt am Main: Eichborn 2010. Darstellung zentraler
Topoi der Rede vom Untergang.
Immanuel Kant: Das Ende aller Dinge. In: Ders.: Werke in zehn
Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band 9.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 173-190.
Nach Kant entspringt die Rede davon, dass es ein absolutes Ende
der Erscheinungen in Raum und Zeit gibt, einem Wunderglaube.
Der menschliche Erkenntnisapparat ist überhaupt nicht in der Lage, Derartiges zu denken.
François Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16.
bis zum 21. Jahrhundert. Stuttgart: Reclam 2010. Eine materialreiche historische Darstellung des Denkens in Kategorien von Untergang und Apokalypse.
116
Guido Graf
Es gibt keinen Sieger außer Gott.
Goethe und der 11. September 2001
Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass im Leben
der Menschen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens, also der
heutigen Staaten, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina,
Kroatien, Makedonien, Kosovo, vor etwa 1990 Religion keine
große Rolle gespielt hat. Die Region hat sich dann − Sie wissen
das − wieder ethnisiert, nationalisiert und damit auch rereligionisiert.
In der Bibliothek des Goethe-Instituts von Sarajevo stehen
heute, neben diversen Ausgaben der Werke von Johann Wolfgang
Goethe sowie des Goethe-Handbuchs und ein paar anderer Titel
der Sekundärliteratur auch zwei Bücher, die zwar einen jeweils
anderen Titel tragen, sonst aber identisch sind. Beide Bücher gehören zum Präsenzbestand, können also nicht ausgeliehen und nur
in der Bibliothek eingesehen werden. Das eine ist 2008 in einem
Verlag in Sarajevo erschienen und trägt den Titel Goethe I Islam
und stammt von Katharina Mommsen. Es ist die bosnische Übersetzung des anderen Buches, der deutschen Ausgabe der berühmten Goethe-Forscherin Katharina Mommsen: Goethe und der
Islam. 1 In den Bibliotheken der Goethe-Institute von Belgrad und
Zagreb sucht man das Buch vergeblich. Warum dem abzuhelfen
ein Beitrag wäre, der durch Krieg und Nationalismus erpressten
kulturellen und religiösen Identität etwas von der früher größeren
Offenheit und etwas an Bereitschaft zur Verständigung entgegen
zu setzen: das versuche ich im Folgenden zu erklären.
Zunächst noch ein weiteres Beispiel für die mögliche Rolle
der Literatur als säkularer Friedensstifterin: Seit ein paar Jahren
gibt es das Netzwerk TRADUKI: ein europäisches Netzwerk für
Literatur und Bücher, an dem Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Kosovo, Kroatien, Mazedonien,
Montenegro, Österreich, Rumänien, die Schweiz, Serbien und
1
Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. Frankfurt/Main: Suhrkamp
2001.
117
Slowenien beteiligt sind. Getragen wird es vom Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik
Deutschland, der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, vom
Goethe-Institut und einigen anderen mehr. Mit einem Übersetzungsprogramm für Belletristik, aktuelles Sachbuch sowie Kinder- und Jugendbuch des 20. und 21. Jahrhunderts wird der Austausch zwischen den Beteiligten gefördert werden. Besondere
Aufmerksamkeit gilt den Übersetzern, deren Wirken als wichtige
Kulturmittler dem Projekt den Namen gegeben hat. Begegnungen
zwischen Autoren, Übersetzern, Verlegern, Bibliothekaren, Kritikern und Wissenschaftlern sollen den europäischen und interregionalen Informationsaustausch fördern und die Kooperation stärken. Wenn also etwa ein Werk wie Zwischen Naturalismus und
Religion von Jürgen Habermas ins Bosnische übersetzt wird oder
eine Konferenz wie „Gefährliche Erinnerungen und Versöhnung“
ausgerichtet wird, bei der zahlreiche Referenten über die Rolle
der Religion in postkonfliktären Gesellschaften sprechen, leistet
das ganz unmittelbar einen Beitrag zur Verständigung, wie ihn
nur die Literatur vermag. Im Rahmen der diesjährigen Veranstaltung wurde auch die kroatische Übersetzung des von Johann Baptist Metz herausgegebenen Buches Landschaft aus Schreien. Zur
Dramatik der Theodizeefrage vorgestellt. Im Angesichts des
Leids Unschuldiger nach Gott zu fragen, gehört in das Zentrum
der Gottrede in monotheistischen Religionen wie Christentum
oder Islam.
„Gott“, heißt es ziemlich zu Anfang von Thomas Lehrs Roman September. Fata Morgana, „Gott schläft niemals.“ 2 Diesen
Satz hören wir von Muna, einer der vier Hauptfiguren in diesem
Buch, das eigentlich nur aus Stimmen besteht. Alles, was wir lesen, ist stimmhaft, will laut gelesen werden und kommt ohne jeden Punkt und Komma aus. Das ganze dicke Buch lang, wohlgemerkt. Vier Stimmen sind es, vier schlaflose Stimmen, die sich
ganz und gar verlassen fühlen, denen alles genommen wird, die
Hoffnung, der Atem, den es braucht zum Leben, die Zeit, in der
2
Thomas Lehr: September. Fata Morgana. München/Wien: Hanser 2010,
S. 35.
118
man Atem schöpft, markiert durch Punkt oder Komma. Erst ganz
am Ende des Romans steht ein Punkt. Dann ist es vorbei. Für
Muna, für ihren Vater, den irakischen Arzt Tarik, für Martin, den
deutschen Germanisten und Goetheforscher, und für Martins
Tochter Sabrina, die bei ihm in den USA lebt. Gott schläft niemals und lässt geschehen, was uns tausendfach bekannt vorkommt, aus der Nachrichtenperspektive, aus der sicheren Distanz,
mit der Fernbedienung in der Hand. Martin, der Goetheexperte,
verliert seine Tochter Sabrina. Sie kommt am 11. September 2001
im World Trade Center in New York ums Leben. Drei Jahre später, der sogenannte Krieg gegen den Terror ist, wie wir wissen,
noch lange nicht vorbei und wir empfangen täglich Nachrichten
von Anschlägen aus Bagdad und anderen Städten im Irak und
manchmal scheint es, als wäre das mittlerweile nur noch ab einer
bestimmten größeren Anzahl von Toten die Nachricht überhaupt
wert, − drei Jahre später also verliert auch der Arzt Tarik seine
Tochter. Muna stirbt 2004 bei einem Bombenattentat. Gott schläft
niemals. Er hat alle Hände voll zu tun. „Er wird deinen Fuß nicht
gleiten lassen“, heißt es in der Bibel, in Psalm 121, „und der dich
behütet schläft nicht.“ Und auch im Koran steht, dass Gott je weder Schlummer noch Schlaf ergreift.
Diese vier Stimmen montiert Thomas Lehr keineswegs als
parallele Tonspuren, sondern erzählt wie über Kreuz. Es gibt Anschlüsse und Brüche, es gibt Überschneidungen, Korrespondenzen. Unmerklich dringen wir ein in eine Spiegelwelt, die nicht nur
die Facetten christlich und islamisch geprägter Kulturen enthält,
verschränkt und überblendet, sondern auch ein komplexes intertextuelles Spiel mit Goethes spätem dichterischen Großwerk, dem
West-östlichen Divan in Szene setzt. Martin etwa, der Goetheforscher, sucht nach seiner Hafis-Ausgabe, nach der einzigen, „die
halbwegs erfolgreich versucht die arabischen Metren ins Deutsche zu übertragen“, in der ein handgeschriebenes Etikett klebt:
„geklaut von Papa“.3 Er findet das Buch im einstigen Mädchenzimmer seiner nun toten Tochter. Hafis ist für ihn, wie Hafis es
auch für Goethe war, ein Bruder. „Ich brauche jemanden der mir
das alles zu verstehen hilft“. Hafis als Spiegel erklärt ihm nichts.
3
Lehr: September (Anm. 2), S. 19.
119
Was er liest bei Hafis, ist für Martin ein „Ornament aus Zeit, aus
Licht“: „Auf einem Himmelsblatt aus Wein / schwebt still von
Ost nach West der Traum. / Der Flug, der Stahl, das Öl, der Tod. /
Ein Finger schreibt es an die Wand: / Aus Blut wird Glas, aus
Glas wird Sand.“ 4 Und natürlich ist der Dichter Hafis, den auch
Goethe immer wieder liest und den er dann zu einer zentralen Referenz und geradezu Figur im Divan macht, eine Erfindung, ein
Wunschsubjekt, eine Strahlkraft, der sich Goethe anvertraut, der
er − ganz seiner selbst bewusst und reflektierend - auch durchaus
kritisch begegnet − aber eben so, wie man auch sein Spiegelbild
kritisch mustert, wie man sich als einen anderen imaginiert und
sich so eine Aura leiht, um etwa der eigenen Arbeit einen Ansporn zu geben, eine neue Legitimation.
Hafis, der persische Dichter des 14. Jahrhunderts, begegnete
Goethe im Mai 1814, in Gestalt einer zweibändigen Sammlung
der Gedichte in der Übersetzung Josef von Hammers, die Goethe
als Geschenk seines Verlegers Cotta erhielt. Sofort war Hafis für
Goethe eine „mächtige Erscheinung“, gegen die er sich wenn
nicht zur Wehr, so doch in irgendeiner Weise verarbeitend verhalten musste: „Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bei mir
Ähnliches verwahrt und gehegt worden, tat sich hervor, und dies
mit um so mehr Heftigkeit“, schreibt Goethe in den Tag- und Jahresheften, „als ich höchst nötig fühlte mich aus der wirklichen
Welt, die sich selbst offenbar und im Stillen bedroht, in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen Teil zu nehmen meiner
Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war.“ 5
Damit umschreibt Goethe exakt die Lage, in der sich
Thomas Lehrs Protagonist Martin in September. Fata Morgana
befindet. Dieser Andere als Spiegelfigur, ob Hafis für Goethe
oder in Thomas Lehrs Roman Tarik für Martin, darf zugleich
Dinge sagen, die anders nicht möglich wären. Er gewährt im
Spiegel eine mögliche andere Welt und für die Dauer dieses fragilen Spiegelstadiums auch die Vorstellung eines besseren oder
überhaupt eines Verstehens. Denn in der imaginierten anderen
4
Lehr: September (Anm. 2), S. 20 f.
Johann Wolfgang Goethe: Tag- und Jahreshefte. In: ders., Sämtliche
Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I, Bd. 17. Frankfurt/Main:
Deutscher Klassiker Verlag 1996, S. 260.
120
5
Identität löst sich die Ähnlichkeit zugunsten einer idealen, zumindest projektierten Einheit auf − bei Goethe; bei Thomas Lehr
bleibt von dieser für Goethe das gesamte Leben prägenden Möglichkeit nur noch eine Ahnung und verwandelt sich angesichts der
realen Schrecken von der schönen Utopie in eine Dystopie, in der
Hafis Stimme zerrinnt wie Blut und Glas und Sand. Aber nein,
das Bild stimmt nicht. Die Stimme zerrinnt nicht. Etwas zerbirst.
Das Bild vermutlich, das Bild von Hafis, der spricht und ausspricht, was Versöhnen meint, Verstehen, was fromm ist in einem
Sinn von Selbstbesinnung, Vertrautheit meint mit dem Wort Gottes, das allein imstande ist, dem Zweifel die Zuversicht an die
Seite zu stellen. Nichts, scheint es, bleibt von dieser Zuversicht.
„Goethes Hauptwerke I“ − Martin versucht zu lesen, versucht,
sich zu konzentrieren. Doch CNN kommt dazwischen:
ich lese täglich die Zeitungen ich lese eine Stunde am Morgen ich sehe jeden Tag eine Stunde Fernsehnachrichten ich treibe mit aufgeschlitztem Kopf auf den vollen Kanälen ich treibe in den so genannten
Ereignissen (die die Kinder anderer Menschen an anderen Orten töten)
ich sah Blackhawks über dem Hindukusch. 6
Martin bereitet sich − eigentlich − vor auf eine Vorlesung über
Goethe und die Frauen, über Goethe und Marianne Willemer, die
Suleika aus dem Divan, die junge Frau, die seine Tochter hätte
sein können, die verheiratet war wie er auch, als sie sich in
Rheingegenden kennen − und eigentlich auch lieben lernten, die
er dann aber nur als Korrespondentin und auch − das ist das eigentlich Erstaunliche − als Mit-Dichterin zu seiner Geliebten
machte, so wie sie ihn zu ihrem Geliebten erklärte. Hafis ist ihr
Mittler, die Brücke, auf der sie sich begegnen, in orientalischer
Verkleidung, die doch weit entfernt davon ist, eine Maske zu sein.
Vor ein paar Jahren machte sich Thomas Lehr auf eine Reise nach Syrien und Jordanien, um für seinen Roman zu recherchieren. Er fuhr los mit der Erwartung, überall auf Misstrauen zu
stoßen. Täglich mehrmals einen Mokka im Café trinken, einen
Sesamkringel am Bäckerkarren kaufen, der freundliche Pförtner
am Eingang zur Moschee, der ihn auffordert, ruhig alles zu fotografieren. Wie viele von uns war Thomas Lehr bei der Arbeit, als
6
Lehr: September (Anm. 2), S. 199.
121
die Nachrichten kamen von den Anschlägen in New York und
Washington am 11. September 2001. Vom Nachmittag an verbrachte Lehr vor dem Fernseher und ließ sich von dem Strudel
der Bilder treiben. CNN gab den Takt vor. So groß die Betroffenheit aber auch war: Lehr begann sofort, alles Mögliche mit dem
Videorecorder aufzuzeichnen. Er wollte verstehen:
Das Blau am Morgen es ist fast ein Jahr her es ist wieder September
das Ende eines Sommers das wolkenlose Blau schneidet durch die
Vorhänge nein dringt durch einen senkrechten Spalt dazwischen es ist
natürlich nicht das Blau sondern nur die Helligkeit das weiße Licht
das meine geschlossenen Lider trifft die unerträgliche Energie und
Brillanz des späten Sommertages immer wieder kommt es mir so vor
als erwachte ich taub (betäubt) als wäre es möglich dass mich das
Licht die Helligkeit das gnadenlos unempfindliche Blau vor allen profanen Geräuschen einholt und mir eine örtliche Betäubung (Betäubung
des Ortes) verpasst es scheint mir als erwachte ich auf einer ungeheuren Fläche dem Blue Screen mit im HEITEREN HIMMEL ich kann
das deutsche Wort nur noch als Drohung denken als blankes zerstörerisches Potenzial aus einem solchen Himmel kann man nur fallen 7
Ohne zu wissen, was kommt: ins Blaue hinein. Der klare blaue
Himmel an diesem Morgen des 11. September 2001 in Manhattan. Immer wieder taucht in Berichten und Reflexionen über
die Katastrophe dieser blaue Himmel auf. Blau ist für Goethe die
Farbe verlorener Nähe. Blau, im Diwan, ist die Farbe der Vergangenheit:
Es klingt so prächtig, wenn der Dichter / der Sonne bald, dem Kaiser
sich vergleicht; / Doch er verbirgt die traurigen Gesichter, / Wenn er
in düstern Nächten schleicht. // Von Wolken streifenhaft befangen, /
Versank zu Nacht des Himmels reinstes Blau; / Vermagert bleich sind
meine Wangen / und meine Herzenstränen grau. 8
Blau ist die Farbe der Trauer und des Schmerzes, der Andacht
und der Entsagung, Blau ist die Farbe der Flucht:
7
Lehr: September (Anm. 2), S. 158.
Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. In: ders.: Werke.
Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II. München: C.H. Beck
1988, S. 81 f.
122
8
Und immer ging es weiter, Und immer ward es breiter, Und unser
ganzes Ziehen, Es schien ein ewig Fliehen, Blau, hinter Wüst und
Heere, Der Streif erlogner Meere. 9
Drei Jahre lang hat Thomas Lehr dieses Blau für seinen Roman
erforscht. Seinen Protagonisten Martin, den Goetheforscher, der
so recht gar nicht mehr zu Goethe zu kommen scheint, lässt er
Gleiches tun. Je mehr er liest und sieht, um so mehr verkehren
sich die Fragen „wie konnte das passieren“ und „weshalb hassen
sie uns so“ in böse Märchen. Er beginnt zu verstehen und gleichzeitig wird die Möglichkeit des Verstehens durchkreuzt vom
Schmerz und von der Wut auf die Mörder seiner Tochter. Er liest,
was Mohammed Atta und die anderen zur Begründung ihrer Taten vorab geschrieben haben und inmitten dieser Sätze, die ihm
größtenteils vorkommen, als ginge es um ein Spiel, um einen islamistisch verkleideten Ego-Shooter, in dem man Allahs Highscore schlagen muss und Gott doch der beste Spieler bleibt, mitten darin trifft ihn dann doch dieser eine Satz: „denn wir haben
unser Leben verschwendet und nun ist Gelegenheit gekommen
uns Gott hinzugeben und ihm zu gehorchen“10. Entsagung. Was
für ein Gedanke! Entsagung und Zuversicht − Gottvertrauen wäre
noch ein anderer Ausdruck − als zentrale Bausteine islamischen
Glaubens, wie sie Goethe für sich geheiligt und zu seiner ganz
persönlichen Religion erhoben hat, werden auch von den Mördern
in Anspruch genommen. Unter all den Zeitungsausschnitten und
Videobändern wird Martin müde. Die Sehnsucht nach Schlaf ist
von der Erschöpfung nicht mehr zu unterscheiden:
was bleibt übrig was bleibt uns übrig … als Trauer und Scham und
gezielte Verbrecherjagd und Einsicht in die eigene Schuld was bleibt
übrig ich träume ich alpträumte der alte Goethe sei gekommen und
wollte Sabrina heiraten. 11
Alles geschieht mit Verzögerung. Nicht allein der Verlust der
Tochter, die Katastrophe selbst wirkt immer noch nach und ihre
mediale Inszenierung mindestens ebenso. Das Bild der Wirklich9
Goethe: West-östlicher Divan (Anm. 8), S. 42 f.
Lehr: September (Anm. 2), S. 206.
11
Lehr: September (Anm. 2), S. 209.
10
123
keit hat sich aufgelöst.12 Die Derealisierung fordert die Sehnsucht
nach Überwindung heraus, den Wunsch nach Halt in einem anderen Raum, ein Versprechen für eine „wirklichere Wirklichkeit“.
Im Kern ist es eben dieser Impuls, der auch Thomas Lehr angetrieben hat, seinen Roman zu schreiben: die überlebensgroß
inszenierte mediale Oberfläche einer vorgeblich religiös inspirierten Terroraktion zu durchdringen und mit literarischen Mitteln
eine neue Tiefendimension zu erzeugen, eine Transzendierung
des aktuellen historischen Objekts. Zur Hilfestellung hat Lehr dazu Vorlagen aus der Literatur herangezogen wie Homers Ilias,
aber auch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht und natürlich
ganz besonders den West-Östlichen Divan von Goethe. Dort treten Goethe und Hafis in einen − dichterischen − Dialog miteinander. Sie wurden zu dem deutschen Goetheforscher Martin in New
York und dem irakischen Arzt Tarik. Aus den Schwestern
Scheherezade und Dinharazade aus Tausendundeiner Nacht wurden die Töchter Sabrina und Muna, und von Homer hat Lehr gelernt, dass man einen kriegerischen Konflikt am besten aus zwei
Perspektiven erzählen sollte. Diese vier Stimmen treten in einen
imaginären Dialog miteinander. Der Dialog ist für Lehr das mindeste, was uns von Kriegen abhält. Am Ende des Romans kommt
heraus, dass dieser Dialog ausschließlich im Kopf von Martin,
dem trauernden Vater, stattfindet. Sich imaginär in diese anderen
Stimmen und ihre andere Kultur hineinzudenken, ist Martins
Form der Trauerarbeit:
auf einem Holzstuhl vor dem steinernen Tisch das Glas gefüllt mit
dem flüssigen Rubin Herzblut des Engels der uns einmal die Augen
öffnen wird am Ende des Schlafes Leben ich brauche jemanden der
mir das alles zu verstehen hilft.13
Auch Goethe ist mitten im Krieg, als er am West-östlichen Divan
arbeitet. 1815 schlägt Napoleon Bonaparte seine letzten Schlachten und Goethe, geschmückt mit dem Orden der Ehrenlegion, tritt
ein bei der Familie Willemer in der Gerbermühle bei Oberrad am
Main. Vom 12. August bis zum 15. September bleibt er da. Mari12
Vgl. Klaus Theweleit: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der
Realität und ein Kriegsmodell. Frankfurt/Main: Stroemfeld 2002.
13
Lehr: September (Anm. 2), S. 20.
124
anne Willemer ist verheiratet. Doch die Ehrfurcht ihres Gatten,
des Bankiers Johann Jakob Willemer, gegenüber Goethe ist groß.
Er, der weitaus Ältere, hat auch gegenüber seiner jungen klugen
Frau ein großes Herz. Es ist eine Herzensliebe, ohne je auch eine
körperliche zu werden. Noch ist Goethe verheiratet mit Christiane
und das Sakrament der Ehe ist ihm durchaus heilig. Das ist nicht
nur dahingesagt als Floskel: Goethe glaubte an solche Bindungen
und ihren Sinn, dessen Dimension über Maße hinausgeht, die
vom Verlangen des Hier und Jetzt nicht überblickt werden können. Goethe ist ein Mann von über sechzig Jahren und damit für
die damalige Zeit ein alter Mann. Er geht schon leicht nach vorn
gebeugt, hat kaum mehr Zähne im Mund und beginnt, sich gemeinsam mit Marianne zu verkleiden. Er bekommt einen Turban
aus indischem Musselin, Körbe mit exotischen Früchten stehen
da, die Verse von Hafis liegen parat, er liest aus dem Divan vor.
Es beginnt ein lyrischer Dialog zwischen dem alten Dichter und
Geheimrat und dem Schauspielerinnenkind, der einstigen Adoptivtochter und dann Ehefrau Willemers, mit Marianne, die zu
Suleika wird. So betrachtet scheint es pittoresk. Doch es geschieht
noch etwas anderes. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit
dem Koran, mit dem Orient und mit der Dichtung von Hafis geht
zu diesem Zeitpunkt für Goethe schon weit zurück.
Das gilt insbesondere für Goethes Beschäftigung mit Mohammed. 1741, also acht Jahre vor Goethes Geburt wurde die
Vers-Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète von Voltaire aufgeführt. Mahomet wird hier als eine Art Mischung aus
Chomeini und Saddam Hussein dargestellt. Tatsächlich war das
Stück aber nur Camouflage einer Polemik des ohnehin religionskritischen Voltaires gegen die katholische Kirche. Goethe hat das
Stück früh gelesen, war ganz und gar nicht damit einverstanden,
hat es übersetzt und dann in stark bearbeiteter Fassung selbst in
Weimar auf die Bühne gebracht. Von manchen Kommentatoren
in der arabischen Welt wird das Goethe noch heute zum Vorwurf 14 gemacht.
Vgl. Katharina Mommsen: Ǧūtih wa-'l-ʿālam al-ʿarabī. Al-Kuwait 1995.
(Arabische Ausgabe von Katharina Mommsen: Goethe und die arabische
Welt. Frankfurt/Main: Insel 1988).
125
14
Schon früh hat Goethe den Koran gelesen. Als er im Winter
1770/71 in Straßburg war, hat ihn Herder dazu angestoßen. Was
uns Unkundigen heute überraschend vorkommen mag, war damals für einen jungen Intellektuellen en vogue: Religiosität musste, um eine Perspektive, einen unmittelbaren Bezug zum praktischen Handeln bieten zu können, von Toleranz sprechen. Toleranz war, wie Goethe sich später in Dichtung und Wahrheit erinnert, die „Losung der Zeit“. 15 Einige Jahre zuvor schon, 1755,
kam dann das große Erdbeben von Lissabon. Berichte von unermesslichem Leid erreichten bald auch die Deutschen und Goethe
zeigte sich zutiefst erschüttert. Das Erdbeben bedeutete − vermutlich nicht nur − für ihn die ganz persönliche Theodizee. Was ist
das für ein Gott, der das zulässt? „Gott, der Schöpfer und Erhalter
des Himmels und der Erden“, heißt es in Dichtung und Wahrheit,
„hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs als väterlich bewiesen.“ 16
Terroranschläge sind etwas anderes als Erdbeben, doch für die
Gottfrage entscheidend ist das Leid. Der existenzielle Zweifel
kann rigide Entscheidungen provozieren, er kann aber auch − in
den selteneren Fällen wie bei Goethe eine differenzierende Aufklärung bewirken. Goethes sehr individueller und von aller
Rechtgläubigkeit und liturgischer Fasson freier Glaube an einen
allgegenwärtigen Gott − das, was man später seinen Pantheismus
genannt hat − findet hier − in der Vorstellung eines alle bekannten
Maße sprengenden Leids − seinen Ursprung. Für den sechsjährigen Goethe war die Vorstellung von einem Gott in Menschengestalt verloren: „Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen
nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf“, in der
Natur. Der Junge schuf sich seine eigenen Rituale, baute aus verschiedensten Fundstücken der Natur einen kleinen Altar in Pyramidenform, entzündete mit einer Lupe Räucherkerzen: „Alles gelang nach Wunsch und die Andacht war vollkommen.“ 17
15
Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Werke.
Hamburger Ausgabe, Bd. 9: Autobiographische Schriften I. München: C.H.
Beck 1988, S. 512.
16
Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 15), S. 43.
17
Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 15), S. 45.
126
Im Koran dann fand Goethe nicht nur Toleranz, sondern vor allem einen Rahmen, der seinem persönlichen Glaubensentwurf
Raum zur Entfaltung bot. Glaube war für Goethe „ein heiliges
Gefäß, in welches ein jeder sein Gefühl, seinen Verstand, seine
Einbildungskraft, so gut als er vermöge, zu opfern bereit stehe.“ 18
Die Lehre von der Einheit Gottes, die Überzeugung, dass Gott
sich in der Natur offenbart, dass es Menschen gibt, die den Auftrag haben, diese Offenbarung zu vermitteln − man könnte sie
auch Dichter nennen −, die Ablehnung von „Wundern“ und die
Überzeugung, dass der Glaube sich in mitfühlenden und wohltätigen Handlungen beweisen muss: diese Grundlehren des Islam
lernte Goethe in intensivem Studium des Korans kennen und sie
hatten großen Einfluss auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit
und haben vor allem die späten Werke wie etwa den Westöstlichen Divan geprägt. Noch 1820 zeigt ein Brief an den Freund
Zelter, wie der Islam für Goethe zu einer selbstverständlichen Referenz geworden ist:
Indessen sammeln sich wieder neue Gedichte zum Divan. Diese Mohammedanische Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer Poesie
wie sie meinen Jahren ziemt. Unbedingtes Ergeben in den Willen Gottes, heiterer Überblick des immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, Neigung zwischen zwei Welten schwebend,
alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend.19
Was hier schon resümierend im Rückblick formuliert ist, erweist
sich aber als entscheidendes Bindeglied, das die geistige Konstitution und seine poetische Durchdringung und Verwandlung zusammenhält: Religion, Mythologie und Sitte − also der Gebrauch
der ersteren beiden − geben der Dichtung Raum, um alles Reale
symbolisch auflösen zu können.
Schon die Diskussion mit Herder über die Verwandtschaft
von Dichter und Prophet hat Goethe elektrisiert. Dem Hymnus
Mahomets Gesang des jungen Goethe, ursprünglich Plan einer
18
Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Werke.
Hamburger Ausgabe, Bd. 9: Autobiographische Schriften II. München:
C.H. Beck 1988, S. 23.
19
Johann Wolfgang Goethe: Briefe 1805-1821. In: ders.: Briefe.
Hamburger Ausgabe, Bd. 3. München: C.H. Beck 1988, S. 477.
127
eigenen Mahomet-Tragödie, die Voltaire etwas entgegensetzen
sollte, wird diese Verwandtschaft zum Gegenstand. Herder behauptete gar eine ursprüngliche Identität von Dichtkunst und
Sprache der „Mohammedaner“, die im Glauben noch bewahrt sei.
In den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, in
denen Goethe ausführlich Entstehung und Gehalt seines dichterischen Werks erläutert, bringt Goethe das auf die Formel, „beide“
− also der Prophet und der Dichter − „sind von Einem Gott ergriffen und befeuert.“20
In gewisser Weise schreibt Goethe in „Mahomets Gesang“
auch das Gegenprogramm zu Mohammed Atta, dem Anführer der
Attentäter des 11. September 2001. Fatema, die Lieblingstochter
des Propheten Mohammed (oder Mahomet, wie er in deutscher
Literatur zur damaligen Zeit häufig geschrieben wurde), und ihr
Mann Ali, ein Vetter Mohammeds besingen den Propheten:
„Kommt ihr alle! / Und nun schwillt er herrlicher; / Ein ganz Geschlechte / Trägt den Fürsten hoch empor; / Triumphiert durch
Königreiche; / Gibt Provinzen seinen Namen; Städte werden unter
seinem Fuß! // Doch ihn halten keine Städte, / Nicht der Türme
Flammengipfel, / Marmorhäuser, Monumente / Seiner Güte, seiner Macht.“ 21 Mit „der Türmen Flammengipfel“ sind hier zweifellos Leuchttürme gemeint, aber im Arabischen stehen diese
Leuchttürme auch als Metapher für den Propheten selbst. Zugleich ist bei diesem Bild nur schwer nicht an das andere Bild der
brennenden Türme des World Trade Center in Manhattan zu denken. Nur macht es einen Unterschied, ob man bereit ist, ein Bild
als Metapher zu verstehen oder eben nicht.
Man könnte an solchen Assoziationen kritisieren, dass Goethes Koran-Rezeption und der West-östliche Divan sowie dessen
gemeinsame Inszenierung mit Marianne Willemer geradezu
schulmäßig Edward Saids einstige These vom Orientalismus
illustriert. Das westliche Orientbild sei nichts als ein kulturelles
20
Johann Wolfgang Goethe: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen
Divan. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II.
München: C.H. Beck 1988, S. 143.
21
Johann Wolfgang Goethe: „Mahomets Gesang“. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1: Gedichte und Epen I. München: C.H. Beck 1988, S.
44.
128
Konstrukt, das letztlich eine Zuschreibung im psychoanalytischen
Sinne darstellt. Kulturelle und religiöse Verhältnisse werden interpretiert und damit umgeschrieben, also sozusagen mit Inschriften wie Besitzmarkierungen versehen, um Selbstbilder und
Selbstinszenierungen zu legitimieren und zu entlasten, also ein
konstitutives und damit in der Regel nur für eine Seite produktives Missverstehen. Goethe macht allerdings auch keinen Hehl daraus, wie wir gesehen haben. Ihm geht es um sein dichterisches
Selbstverständnis, das er aber auch deutlich zu differenzieren versteht. Eben anders als etwa Voltaire es vor ihm getan hat und viele andere nach ihm, behält sich Goethe das Recht auf Irrtum vor.
Mit seinem Roman September spiegelt Thomas Lehr dieses
Verhältnis mit einem historischen Grundvergleich: Er vergleicht
die frühere Beherrschung der arabischen Welt durch die europäischen Kolonialmächte und die jüngste Okkupation durch die
USA. Etwa im Irak mit der Szenerie zu Goethes Zeiten, als die
vermeintlich fortschrittliche Macht Napoleons ganz Europa überrollte. Lehr lässt seine Figuren darüber reflektieren − es gibt einen
Satz im Roman, in dem es heißt: „Goethe war Araber“. 22 Goethe
hatte ein bestimmtes Bild von Napoleon, das nicht unbedingt richtig war oder sagen wir: nicht frei von Zügen der bloßen Bewunderung der Macht und der vermeintlichen historischer Größe. Und
mit der oben beschriebenen Verkleidungsszenerie zwischen Goethe und Marianne Willemer mit Musselinkränzchen und Bajaderen-Lied durchbricht Lehr auch den Orientkitsch, in den der alte Goethe bisweilen geraten ist. In der Hauptsache aber beschäftigt sich Goethe jedoch mit der Sprache des Koran. Er dringt in
die Dichtung ein, um sie für seine eigene sichtbar und spiegelbar,
um sie für sich − das genau ist sein Ausdruck − „produktiv“ zu
machen. Goethe konnte nicht einfach Hafis lesen und absorbieren,
wie es ein Leser oder Wissenschaftler getan hätte, sondern er
musste selbst in der vorgefundenen Manier dichten. Damit hat er
einen Dialog in der Lyrik begonnen. Er zitiert im Divan sowohl
Hafis als auch die Gedichte, von denen wir heute wissen, dass sie
von Marianne von Willemer stammen, ohne das kenntlich zu machen. Er fängt also an, ein Werk dialogisch aufzubauen. Eben die22
Lehr: September (Anm. 2), S. 413.
129
ses dialogische Prinzip war für Thomas Lehr der Ausgangspunkt
seines eigenen Buches, um dafür den Dialog als Strukturprinzip
zu etablieren und die Funktionsweise kultureller Metamorphosen
zu erforschen. Die Opposition dazu heute heißt etwa Deutschland
schafft sich ab, Sarrazins selbstgewisse Gemengelage aus Statistik, Ressentiment und Paranoia, die Islam und Islamismus verwechselt, Koranverse mit konkreter Politik mancher Staaten in
Nahost durcheinander bringt und schließlich auch noch Goethe
den Tort antut, ein abgebrochenes und damit falsches Zitat aus
dem West-östlichen Divan zu missbrauchen, indem er dem Bundespräsidenten empfiehlt, er hätte den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan über die „dumpfe Beschränktheit des Islam“ belehren sollen. Christian Wulff, so insinuierte Sarrazin, kenne ja
sicher nicht den Divan und damit nicht den dort wiedergegebenen
islamischen Allmachtsanspruch: „Gottes ist der Orient / Gottes ist
der Okzident / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden
seiner Hände.“ 23 Diese überreligiös auf Versöhnlichkeit gestimmte Variation eines Koranverses so misszuverstehen, ist haarsträubend. Dass Toleranz gelehrt wird im Koran, passt nicht in Sarrazins Bild vom Dschihad-Islam. Gegenüber dieser dumpfen Instrumentalisierung Goethes passt das Orientalismus-Verdikt vermutlich besser.
Von dem frühen Mahomet-Gedicht ging es Goethe vor allem darum, im Koran eine Bestätigung seiner Religiosität zu finden.24 Entscheidend war für ihn die Weltzugewandtheit des Islam
im Zeichen des einen Gottes und die Ergebenheit ins Schicksal.
Was die Menschen für Zufall halten, sei, so Goethe 1807 einmal,
in Wahrheit „Gott“:
Was die Menschen bei ihren Unternehmungen nicht in Anschlag bringen und nicht bringen können, und was da, wo ihre Größe am herrlichsten erscheinen sollte, am auffallendsten waltet − der Zufall nachher von ihnen genannt −, das ist eben Gott, der hier unmittelbar mit
23
Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. In: ders.: Werke.
Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II. München: C.H. Beck
1988, S. 10.
24
Vgl. Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. Frankfurt
a.M./Leipzig: Insel 2001, S. 60 f.
130
seiner Allmacht eintritt und sich durch das Geringfügigste verherrlicht. 25
Das Geringfügigste: das ist das Kleine, das Detail, das Nichtige,
ein jämmerliches Leid, eine scheinbar unbedeutende Erscheinung
in der Natur. Diese Haltung Goethes erklärt auch, worüber sich
Zeitgenossen oft gewundert, ihn darum aber auch durchaus beneidet haben: seine schier unerschütterliche Fähigkeit, auch mit
schweren Schicksalsschlägen fast gleichmütig umzugehen, Trost
abzulehnen, nicht aus Härte, sondern vielmehr aus Zuversicht.
Goethe glaubte an Vorherbestimmung. Vor allem als alter Mann
hat sich Goethe in diesem Zusammenhang immer wieder auf den
Islam berufen. 1792 etwa geriet Goethe einmal während des damaligen Feldzugs in Frankreich, an dem er im Auftrag des Herzogs teilnahm, mehrmals in große Gefahr. Eine ganze Weile nach
der Arbeit am West-östlichen Divan schrieb Goethe darüber in
Campagne in Frankreich, einem Spätwerk, das ansonsten ja einen
durchaus pessimistischen Blick auf die jüngere Vergangenheit
wirft:
Mir stellte sich, sobald die Gefahr groß ward, der blindeste Fatalismus
zur Hand, und ich habe es bemerkt, dass Menschen, die ein durchaus
gefährliches Metier treiben, sich durch denselben Glauben gestählt
und gestärkt fühlen. Die Mahomedanische Religion gibt hievon den
besten Beweis.26
Ein Jahr vor dem Aufenthalt bei den Willemers war Goethe auch
schon in der Gegend. Davon gibt es den Bericht Sankt-RochusFest zu Bingen, entstanden 1816. Die Details müssen an dieser
Stelle gar nicht ausgeführt werden. Interessant zunächst soll nur
die Selbstcharakterisierung der Darstellung sein. In einem Brief
vom September 1816 bezeichnet Goethe seine Lobrede − eine
fingierte Predigt in dem Bericht − auf den heiligen Rochus als
„eine heitere im Innern fromme Darstellung“. In gleicher Weise
wird Hafis im West-östlichen Divan beschrieben: „trotz Vernei25
Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe. Leipzig: Insel
1921, S. 308.
26
Johann Wolfgang Goethe: Campagne in Frankreich. In: ders.: Werke.
Hamburger Ausgabe, Bd. 10: Autobiographische Schriften II. München:
C.H. Beck 1988, S. 266.
131
nung, Hindrung, Raubens / Mit dem heitren Bild des Glaubens“.27
Das hat etwas von einer Selbstinitiation. Der Rochus-Aufsatz ist
entstanden kurz nachdem Goethes Frau Christiane am 6. Juni
1816 starb. Mit Trost versorgte Goethe sich selbst: in vermehrter,
intensivierter Arbeit. Ein paar Wochen später schreibt er an Wilhelm von Humboldt:
Ich musste mir in diesen Tagen eine wundersame Unterhaltung aufdringen, indem ich den alten Papierkram der Vergangenheit durchsichtete, wo so vieles Angefangene und Verlassene, so viele Vorsätze
und Untreuen keine Entschuldigung zulassen, sondern bloß vergönnen
im echten orientalischen Sinne an Gottes Barmherzigkeit Anspruch zu
machen.
Der Versuch, tief in die islamische Geisteswelt vorzudringen, in
die Lektüre des Korans und orientalischer Dichtung, die Aneignung religiöser Haltungen − all das hatte für Goethe immer mindestens zwei wichtige Aspekte: die Einheit eigener Religiosität
und poetischer Sendung sowie die Suche nach einem Mittel existenzieller Krisenbewältigung, ein inneres Gleichgewicht zu wahren, das auch durch Schicksalsschläge nicht zu erschüttern ist.
Goethes Lob des Islam gipfelt in Aussagen, die Eckermann von
einem Gespräch am 11. April 1827 aufgezeichnet hat. Goethe erzählt, wie sehr ihn die islamische Überzeugung beeindruckt habe,
dass dem Menschen nichts widerfahren könne, was ihm Gott
nicht vorbestimmt hätte. Zu Eckermann sagt Goethe:
Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre Wahres oder Falsches,
Nützliches oder Schädliches sein mag; aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns Allen, auch ohne dass es uns gelehrt
worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird
mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht, und wie sollte er
ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: kein Sperling fällt
vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselben Quelle
hervorgegangen, und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im
Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen
kann. Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mo27
Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. In: ders.: Werke.
Hamburger Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Epen II. München: C.H. Beck
1988, S. 21.
132
hammedaner mit der Lehre: dass nichts existiere, wovon sich nicht das
Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem
sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen,
woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen
muss. Nun aber nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil
behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das
eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er
treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn,
wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewissheit
hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet.28
Der Goetheforscher Martin in Thomas Lehrs Roman September.
Fata Morgana ist ein trauernder Vater. In seiner Trauer zeigt er
auch, wie es nun weitergehen könnte. Etwa mit Friedrich Rückert,
der bald nach Goethes Tod erst seine dreijährige Tochter und
dann seinen fünfjährigen Sohn verliert. Mehr als vierhundert Gedichte schreibt Rückert nach dem Tod von Ernst und Luise und
wird nicht mehr froh. Doch er bleibt zugleich ungemein produktiv
und stellt dann noch die erste und bis heute beste vollständige
Übersetzung von Hafis Werken her. Eben das Buch, das Sabrina,
Martins Tochter, ihm einst stibitzte. „Die Geschichte ist der Irrgarten der Gewalt“: so zitiert Martin Goethe und diesen Satz hat
Thomas Lehr auch seinem Roman als Motto vorangestellt. „Goethe war Araber“, sagt Martin, „ein großer Dichter in seiner eigenen Tradition und Sprache der aber den Eintritt des Orients in die
Moderne als unvermeidlich erachtet“, also, wenn man so will,
gottgewollt. Denn Gott − das war es, was Goethe im Islam gesucht und gefunden hat − habe den Lauf der Dinge vorherbestimmt und wir können nichts daran ändern. „In diesem Fall also“, schließt Martin daraus, „ist Gott der Mörder meiner Tochter.“ 29 Wie soll das einer verstehen?
28
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. In: Johann Wolfgang
Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Zürich:
Artemis 1948, S. 246.
29
Lehr: September (Anm. 2), S. 299.
133
Irene Pieper
Die Dichterin und ihre Religion: Else Lasker-Schülers
poetisch-eigensinniger Umgang mit der jüdischen und
christlichen Überlieferung
1. Wo ist Jerusalem? Dichtung und Exil
Vorweg geschickt sei eines: es ist möglich, Texte von LaskerSchüler zu lesen, die in der Wahl der Bilder, in der Skizzierung
oder Ausmalung der Figuren, in der Gestaltung des Raumes nicht
oder jedenfalls nicht explizit auf jüdische, christliche, religiöse
Überlieferungen verweisen. Wer allerdings einen auch nur halbwegs langen Atem bei der Lektüre dieser ebenso bemerkenswerten wie eigenwilligen Schöpfungen entwickelt, sich in die Prosa
einliest, die Dramen zur Hand nimmt, bei den Gedichten verweilt,
zum Beispiel einen ganzen Band zur Kenntnis nimmt, stößt ungemein häufig auf lebendige und vielgestaltige Bezüge zu Traditionen des Judentums einschließlich der Kabbala, auf Anverwandlungen christlicher Ikonographie, auf orientalische Figurationen,
in denen auch der Islam eine Rolle spielt. Poetisch-eigensinnig
habe ich den Umgang der Dichterin mit diesen Überlieferungsbeständen genannt, sehr frei schreibt Lasker-Schüler, die ja durchaus auch als Bohemienne tituliert wird, ihrer Dichtung nahezu
einverleibend allerhand Tradiertes ein, und mir dürfte in all den
Verrückungen und Variationen manches entgehen. Die jüdische
Herkunft der Dichterin ist unübersehbar, gewiss, Orthodoxie ist
ihr jedoch fremd, weshalb im Poetischen mitunter verwirrender
Wildwuchs zu herrschen scheint. War Abigail nicht eine Frau?
Und warum jetzt Abigail Jussuf?
Des öfteren geht es ohne eine gewisse Bibelkenntnis nicht.
Wenn diese dann flexibel angewandt wird, fällt der Eintritt in den
Imaginationsraum, der auch einer zwischen Orient und Okzident,
zwischen Zeit und Ewigkeit ist, leichter. Beispielhaft verweise ich
nur auf den kleinen Zyklus der Hebräischen Balladen, die derjenigen Leserin, die Joseph, Jakob, Esau, David und Jonathan, Kain
und Abel, Sulamith nicht kennt, womöglich wenig Freude machen mögen. Ganz selbstverständlich geht die Dichterin mit die134
sen Überlieferungen um. Seminare zu Bibel und Literatur finden
hier wunderbares Material. Wem die Selbstverständlichkeit der
Einordnung fehlt, dem hilft die kritische Gesamtausgabe, die zwischen 1996 und 2009 endlich erschienen ist und nicht nur das
wachsende und angemessene Interesse der Forschung am vielfältigen Werk dokumentiert, sondern mit den einschlägigen Bezügen
aufhilft.
Sprechend gewissermaßen auf einen Blick ist die Konkordanz, die dem Gedichtband beigegeben ist. 1 Hier haben sich die
Herausgeber dem Bereich des Zählens zugewandt und die 50 häufigsten Substantive ermittelt: „Gott“ findet sich da auf Platz 3
(nach Herz und Nacht), was ich, offen gestanden, denn doch nicht
vermutet hätte.
Zum Anfang möchte ich Ihnen das Gedicht „Im Anfang“2
vorstellen, das in Lasker-Schülers erstem Gedichtband Styx 1901
erschien und sich später in den Hebräischen Balladen, aber auch
in dem bemerkenswerten Drama „IchundIch“ wiederfindet, das
erst 1940/41 entsteht:
Im Anfang
(Weltscherzo.)
Hing an einer goldenen Lenzwolke,
Als die Welt noch Kind war,
Und Gott noch junger Vater war.
Schaukelte, hei!
Auf dem Ätherei,
Und meine Wollhärchen flitterten ringelrei.
Neckte den wackelnden Mondgrosspapa,
Naschte Goldstaub der Sonnenmama,
In den Himmel sperrte ich Satan ein
Und Gott in die rauchende Hölle ein.
Die drohten mit ihrem grössten Finger
Und haben „klummbumm! klummbumm!“ gemacht
Und es sausten die Peitschenwinde!
1
Lasker-Schüler, Else: Gedichte. In: dies., Werke und Briefe. Kritische
Ausgabe. Im Auftrag des Franz-Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen
Universität Jerusalem herausgegeben von Norbert Oellers. Bd. 1, bearbeitet
von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag.
2
Lasker-Schüler, Gedichte (wie Anm. 1), S. 71.
135
Doch Gott hat nachher zwei Donner gelacht
Mit dem Teufel über meine Todsünde
Würde 10 000 Erdglück geben,
Noch einmal so gottgeboren zu leben,
So gottgeborgen, so offenbar
Ja! Ja!
Als ich noch Gottes Schlingel war!
Der Anfang der Welt: ein biblisch gut belegtes Thema; hier wird
es – launig, ein wenig tänzelnd, ganz im Sinne des Scherzo – in
die Himmelsneckerei eines Gottesschlingels überführt: gottgeboren und gottgeborgen war dessen Anfang in der noch kindlichen
Welt, Todsünde steht gegen Kinderstreich: Goldstaub naschen,
den Mondgrosspapa necken, das steigert sich dann: Satan einsperren und zwar im Himmel, Gott einsperren – genau verkehrt herum
– in der Hölle. Der Rahmen der Neckerei bleibt aber erhalten.
Es lässt sich nun mit dem Finger drohen, ein zweifaches Klummbumm machen und auch Winde können sausen. Über das Ganze
kann denn Gott auch „zwei Donner lachen“. Ganz typisch für die
Dichtung Else Lasker-Schülers ist hier die Verbindung des ganz
Kleinen mit dem ganz Großen: das Kind mit den Wollhärchen arbeitet sich hoch von der Neckerei zum Türhüter von Himmel und
Hölle, und Gott und Satan drohen zunächst mit dem (wenn auch
größten) Finger, ehe der quasi kosmische Donner Gottes nicht
tobt und schreckt, sondern lacht.
Das Ich, das sich hier artikuliert, ist nun allerdings in einem
anderen Jetzt angekommen. Nicht länger ist es „Gottes Schlingel“. Die Sehnsucht nach dem Anfang spricht deutlich aus den
letzten Versen. Im Zeichen dieser Sehnsucht kann die Währung
Erdglück offenbar aufs Spiel gesetzt werden: „Würde 10 000
Erdglück geben, / Noch einmal so gottgeboren zu leben,“.
In diesem Gedicht leuchtet also eine unüberwindbare Grenze auf: zwischen einem urzeitlich-unbestimmten Früher („Im Anfang“) und dem Zeitpunkt des Aussprechens, des Erzählens auch.
Der Irrealis – würde geben – markiert die Unmöglichkeit.
Der Verlust der Gottgeborgenheit, sehnsuchtsvoll vermisst,
spricht auch aus den folgenden Versen des Gedichts „An Gott“:3
3
Lasker-Schüler, Gedichte (wie Anm. 1), S. 113.
136
Gott wo bist du?
Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen
Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen
Wenn goldverklärt in deinem Reich
Aus tausendseligem Licht
Alle die guten und die bösen Brunnen – rauschen – rauschen.
Hier klingt auch ein Moment der Vereinigung an: nah am Herzen
lauschen. Das Licht, goldverklärt, tausendselig, ist geeignet,
Grenzen zu verwischen. Ob gut, ob böse ist im aufhebenden Rauschen der Brunnen egal – und tausendselig ist allemal selig. Der
unio-Gedanke, Kernbestand jüdischer wie christlicher Mystik, ist
hier implizit. Und es ist von imminent-wichtiger Bedeutung, dass
er dichterisch artikuliert wird, denn es ist die Dichtung, die hier
Weltenbrücken bauen kann, mindestens aber den Raum der Sehnsucht offen und bewusst hält.
In einem bemerkenswerten Essay mit dem Titel „Das Gebet“ (1932) findet sich die bereits angesprochene Entgrenzungssehnsucht wieder. Sie ist auch eine, die das „Weltticktack“, wie
Lasker-Schüler es nennt, unterbricht. In diesem Essay parallelisiert die Dichterin Gebet und Dichtung: Der Dichter „im Zustand
des Dichtens“ ist zu der Aufhebung zeitlicher Grenzen fähig und
so gilt auch: „Die Dichtung bettet sich neben Gott.“4 Sie hat sogar verkündenden Charakter, denn der Dichter ist, wie es anschließend heißt, der jüngere Bruder des Propheten. Leicht ist
dieser Weg der Verkündigung wie Entgrenzung nicht:
Der Dichter weiß wohl, es dauert ein Leben der Vertiefung und vorangegangener Vertiefung Leben, bis er zwischen den Weiten der
Welt nur ein noch „leuchtendes Liebeswort“ findet, das seine Seele
vorübergehend schon auf Erden vom Star erlöst. 5
Im Finden des leuchtenden Liebesworts liegt also der Schlüssel,
und Lasker-Schüler schlägt nun die Brücke zu „jedem Menschenherz“, denn auch das Glück der Liebe kann jene Auflösung der
Grenze und Aufhebung der Zeit punktuell erfahrbar machen. 6
4
Lasker-Schüler, Das Gebet, in: Werke und Briefe. Bd. 4.1, S. 211.
Lasker-Schüler, Das Gebet (wie Anm. 4), S. 212.
6
Lasker-Schüler, Das Gebet (wie Anm. 4), S. 212.
5
137
Freilich lebt der Mensch – und auch der Dichter – in der Geschichte.
Für Lasker-Schüler ist nun eine poetische Stilisierung dieser
Grenze charakteristisch, in die sie sich selbst einbezieht. Eine der
berühmten Spielfiguren, die sie auf sich selbst, die Dichterin,
verweisen lässt, ist der Prinz von Theben oder Prinz Jussuf. In
seinem Namen unterschreibt sie schon die Briefe an Franc Marc,
ihn skizziert sie oder malt ihn aus. Jussuf verweist auf Joseph,
und Joseph als derjenige Sohn des Erzvaters Jakob, der nach
Ägypten verkauft wurde, steht auch „sinnbildlich für das Leben
des Juden in der (europäischen) Diaspora fern vom Land Palästina.“ 7 Die Selbstfiguration weist mithin auf das Exil der Dichterin
hin, das, nach dem oben Ausgeführten, ein mehrfaches ist: das
Exil des Menschen fern der Gottgeborgenheit des Paradieses, das
jüdische Exil, ein Exil, mit dem der Dichter allerdings schöpferisch umgehen kann und muss.
Nun habe ich diesen ersten Teil mit der Frage überschrieben: „Wo ist Jerusalem?“ und vom bisher Gesagten aus lässt sich
bereits erahnen, dass mit dieser Frage die Chiffre Jerusalem im
Sinne desjenigen Ortes angesprochen ist, an dem alle Grenzen
und Beschränkungen von Zeit und Welt aufgehoben sind, Horizont einer Sehnsucht, wie sie sich in dem Ruf „Nächstes Jahr in
Jerusalem“ verdichtet, der im Judentum traditionell am Ende des
Seder-Abends, Teil des Pessach-Festes, gesprochen wird. Das gelobte Land, besonders aber seine Heilige Stadt, ist Ziel und Ausdruck einer Hoffnung auf Gottgeborgenheit. Zu dieser gibt es Anlass, denn Gott hat, der jüdischen Überlieferung zufolge, das jüdische Volk aus der Knechtschaft in Ägypten befreit. Josef ist dann
nicht mehr länger im Exil, er ist vielmehr angekommen. Prinz
Jussuf von Theben allerdings bleibt der Umherziehende, als den
ihn Lasker-Schüler ausdrucksstark in einer Kohle- und FarbstiftZeichnung mit dem Untertitel „Jussuf reitet auf dem Kamel durch
die Wüste“ gefasst hat. 8
7
Lasker-Schüler, Die Gedichte (wie Anm. 1), Bd. 1.2, Erläuterungen, S.
159.
8
Die charaktervollen Zeichnungen Lasker-Schülers sind unter anderem auf
den Internetseiten des Exil-Zentrums (Zentrum der verfolgten Künste)
zugänglich:
138
Die wohl deutlichste Artikulation der Bedeutung Jerusalems wie
Palästinas findet sich in Lasker-Schülers Prosatext „Das Hebräerland“, einem Reisebuch, das auf ihre erste Palästinareise 1934 zurückgeht und 1937 erschien. 9 Als Jüdin war die 1869 geborene
Else Lasker-Schüler angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung 1933 zunächst in die Schweiz geflüchtet. Von ihrer ersten
Palästinareise kehrt sie auch noch einmal in die Schweiz zurück,
ehe sie 1937 erneut nach Jerusalem reist. Die Wiedereinreise in
die Schweiz wird ihr 1939 verweigert. Sie bleibt bis zu ihrem Tod
1945 in Jerusalem.
Jetzt trifft das Jerusalem-außer-aller-Zeit auf einen durchaus
irdischen Lebensort. Auch in dieser Spannung wird es Gegenstand der dichterischen Refiguration. Das Hebräerland bietet keine Dokumentation, sondern eine imaginative Anverwandlung.
Der folgende Ausschnitt kann das verdeutlichen:
Ganz Palästina ist eine Offenbarung! […] Man muss gerne vom Bibelland erzählen; wir kennen es ja alle schon von der kleinen Schulbibel her. Nicht wissenschaftlich, nicht ökonomisch; Palästina ist das
Land des Gottesbuchs; Jerusalem – Gottes verschleierte Braut. Ich
kam von der Wüste aus, reiste zur heiligen Hochzeit, eingeladen zur
Feier, die immer Jerusalem umgibt. Immer ist Hochzeit unter dem
Baldachin seines Himmels. Gott hat Jerusalem lieb. Er hat es in Sein
Herz geschlossen. […] Ich muss sagen, ich habe nie ein überlautes
Wort, nie einen schrillen Ton in Jerusalem vernommen, weder in seinen Straßen, noch in seinen Häusern und Palästen. Man hört darum
deutlicher Gott atmen. Ueberwältigt von Seiner Nähe, beginnt der
Mensch zu beben. 10
Im gleichen Band findet sich allerdings auch der berühmt gewordene Satz: „Nur Ewigkeit ist kein Exil“, ein Satz, der im späten
Drama IchundIch wieder aufgenommen wird. 11 Eine letzte
http://www.exil-zentrum.de/index.php?option=com_content&task=view&id=34&Itemid=9
Letzter Zugriff: 9.3.2012.
9
Lasker-Schüler, Else: Das Hebräerland. In: Prosa. Werke und Briefe Bd.
5, S. 239-245.
10
Lasker-Schüler, Das Hebräerland (Anm. 9), S. 11-12.
11
Lasker-Schüler, Else: IchundIch. In: Dramen. Werke und Briefe Bd. 2, S.
209.
139
Grenze bleibt folglich erhalten. Nie wird das irdische Jerusalem
dem himmlischen gleichkommen.
2. Dichtung, Existenz und Geschichte: Welttheater auf der
Herzensbühne
Der folgende Teil des Beitrags widmet sich einem Drama LaskerSchülers, das unvollendet geblieben und im Jerusalemer Exil entstanden ist: IchundIch. Eine theatralische Tragödie. 12 Der Titel
ist treffend und irreführend zugleich: Ja, es geht um die Existenz,
sehr deutlich wird diese aber in ein Weltgeschehen hineingenommen. Gegenläufig wird der Versuch einer Dichterin vorgeführt, das Weltgeschehen in die Existenz hineinzunehmen. Im
Vorspiel der theatralischen Tragödie erläutert die Dichterin ihrem
Begleiter, sie schreibe mit einer Geierfeder: „mit meinem Blut auf
rostiges Papyrosleder. Lieber würde ich mein Manuscript auf
mein vergilbtes Herzblatt schreiben“. 13 Die Bühne bezeichnet sie
anschließend als „Herzensbühne“, vor der Platz zu nehmen sei.
Die sogenannte Heilige Stadt ist hier als Kulisse gedacht,
das Stück spielt vor dem Davidsturm der Zitadelle, ein spektakulärer Anblick. Endzeitliches kommt als Apokalyptisches zum
Tragen, Harmonisch-Harmonisierendes fehlt ganz. In seltener
Radikalität bricht hier Geschichte in die Dichtung ein. Das Stück
bietet die wohl schärfste und expliziteste Auseinandersetzung der
Dichterin mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutsch12
Verwiesen sei auf meine ausführliche Untersuchung des Dramas im Kontext der Welttheatermetaphorik, auf die ich im Folgenden zurückgreife:
Pieper, Irene: Modernes Welttheater. Untersuchungen zum Welttheatermotiv zwischen Katastrophen-erfahrung und Welt-Anschauungssuche bei Walter Benjamin, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal und Else LaskerSchüler (Schriften zur Literaturwissenschaft Bd. 13). Berlin: Duncker &
Humblot, 2000 (Heidelberger Universitätsdissertation 1998). Außerdem
Pieper, Irene: „Und thront der Ewige noch auf seinem Thron?“: Else Lasker-Schülers „theatralische Tragödie“ IchundIch. In: Theodramatik und
Theatralität. Ein Dialog mit dem Theaterverständnis von Hans Urs von
Balthasar, herausgegeben von Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Klaus Lubber
(Schriften zur Literaturwissenschaft, im Auftrag der Görres-Gesellschaft
hg. von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl). Berlin: Duncker & Humblot, 2000, S. 211-226.
13
Lasker-Schüler: IchundIch (Anm. 11), S. 185.
140
land. Poesie als Raum des Gegen- oder Überzeitlichen in dem
Sinne, wie es eben ausgeführt wurde, das gerade funktioniert nun
nicht mehr. Vielmehr werden hier in sehr bemerkenswerter, mich
bis heute irritierender Form letzte Fragen gestellt: „Und tront der
Ewige noch auf seinem Thron?“ – „Ich weiß nichts sicheres davon.“ 14
Hier fragt Faust nach der göttlichen Weltregierung und Mephisto antwortet unsicher. Der unreine Reim Thron/davon ist auffällig. Dergleichen Phänomene finden sich im Drama gehäuft, sie
werden offenbar gezielt eingesetzt und weisen darauf hin, wie
sehr die Welt „aus den Fugen“ geraten ist. Das Angebot der Dichterin sehen das Publikum und die Kritik, im Spiel im Spiel präsent, kritisch: „Verse, ich bitte Sie“ heißt es und „Ich hätte längst
gebracht den Fakt.“15
Durch den spezifischen Einsatz poetischer Verfahren, insbesondere durch metadramatische Elemente, werden immer wieder
Fragezeichen hinter vermeintliche Aussagen gesetzt. Den großen
Rahmen bildet dabei die Theatermetaphorik. Das vielzitierte „All
the world is a stage / and men and women merely players“ Shakespeares bildet eine wichtige Folie. Welt wird in IchundIch im
mehrdimensionalen Modell des Welttheaters zur Anschauung gebracht. Es gibt Bühne, Regie, Schauspieler und Publikum. Die
Dichterin kommt als dramatische Person vor, die einerseits das
Geschehen mitbestimmt und beobachtet, andererseits aber keine
Distanz halten kann. Auf der „Herzensbühne“ nämlich hat die
theatralische Tragödie ihren Ort. Das unvollendete Drama führt
die unterschiedlichen Instanzen hier in einem alles andere als
wohlgeordnetem Miteinander zu harmonischem Ziele vor. Besonders deutlich wird dies vor der Folie traditioneller Ausprägungen des Welttheaters.
Ein Mysterienspiel des Spaniers Calderón El gran teatro del
mundo, in deutscher Sprache Das Große Welttheater, muss hier
allererst genannt werden. Im vorliegenden Zusammenhang ist besonders bemerkenswert, dass dieses Spiel durch Hugo von
14
Lasker-Schüler: IchundIch (Anm. 11), S. 190. Das Typoskript, das Basis
der kritischen Ausgabe ist, entspricht vielfach nicht der orthographischen
Norm. Hier werden also auch die „Fehler“ übernommen.
15
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 189.
141
Hofmannsthal zwischen 1919 und 1922 eine Neubearbeitung erfahren hat: Das Große Salzburger Welttheater. Hofmannsthal präsentiert in diesem Stück Welt mithilfe der bei Calderon vorgefundenen barocken Ständeordnung: König, Reicher, Bauer und Bettler haben sich auf der Bühne zu bewähren, auch die Allegorie der
Weisheit, sie alle werden abberufen und durch den göttlichen
Meister gerichtet. Allein der Bettler und die Weisheit finden endlich Eintritt in die göttliche Harmonie. Dieses Stück wird 1933 in
Berlin durch Max Reinhardt inszeniert, die Vorstellung als Gesamtkunstwerk ist viel beachtet, ihre Generalprobe fällt in die
Nacht des Reichstagsbrands. Max Reinhardt verleiht der Angelegenheit zusätzliche politische Brisanz, indem er das Revolutionsthema mit einer Pantomime aufnimmt, bei Hofmannsthal ist es
nicht expliziter, negativer Horizont. Reinhardt emigriert acht Tage später. Die Monumentalität der Anlage findet sich nun auch in
Lasker-Schülers Drama. Auf den Spielort wurde schon hingewiesen, über die Bühne gehen auch Lavamassen, in denen Nazischergen untergehen. Es wird ein Bild vom Reichstagsbrand gezeigt, Anspielungen auf Konzentrationslager finden sich, ein
Flammenballett tritt auf.
Zur Orientierung sei das Drama im Folgenden inhaltlich
umrissen: 16 Wie bereits angesprochen ist dem Stück ein Vorspiel
vorangestellt, das hinter dem Vorhang stattfindet: die Dichterin,
die autobiographische Züge Lasker-Schülers trägt, zugleich „Gottes Dichterin“ ist, wie es heißt, ist mit dem Begleiter auf dem
Weg zum Theater. Im Gespräch artikuliert sie ihr durchaus elitäres Selbstbewusstsein als Poetin. Die Welt sei für sie ein „Erdenschrank“: „Für eines Dichters unbegrenzten Traum, / Hat wahrlich eure Welt gezimmerte nicht Raum.“ 17 Vielmehr sei sie, die
Dichterin, im Dauerexil – ein, nach dem oben Ausgeführten, bekannter Gedanke. Sie fordert dazu auf, vor der Herzensbühne dem
Höllenspiel zu lauschen.
Es folgen fünf Akte, die wiederum als „uneigentlich“ gekennzeichnet sind, denn sie stellen eine Probe in einem Jerusale16
Ich übernehme hier (mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Duncker und Humblot) weitgehend die Skizze aus meinem in Anm. 12
genannten Aufsatz (S. 213/214).
17
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 185-186.
142
mer Theater dar. Die Regieanweisung zu Beginn des ersten Aktes
macht dies deutlich:
1. Aufzug
In der Nähe des Davidsturms von alteingesessenen Palästinensern benamten: Höllengrund. In der steinern abgebröckelten alten Königsloge
sitzen auf Prunksesseln: unheimlich bewegungslos, bunt und golden
angemalt wie die Figuren eines Panoptikums: die Könige: Saul, David
und Salomo. In Der Direktorenloge: Direktor Max Reinhard aus Hollywood nach Jerusalem zur Inszenierung gebeten.
Ihm gegenüber: The Three american. Komiker: brother: Ritz
Der Theaterarzt: setzt sich gerade noch frühzeitig auf seinen Platz.
Die Kritik armverschränkt. Sie begrüssen sich, vor dem Spiel.
Die Spielenden:
Der Teufel
Doktor Faust.
Frau Marte Schwertlein.
Stimmen aus dem Publikum: (Adon Redakteur Swet) etc.
Jungfrauen
Die Dichterin der Tragödie
Die Nacis und ihre Anführer
Der Baal.18
Angekündigt wird – in einem weiteren Vorspiel – eine Mordgeschichte: die Dichterin habe sich in zwei Teile Ich und Ich geteilt.
Sie, die zentrale dramatische Person und Urheberin der Tragödie,
kündigt die Sensation an, dass Mephisto vor Gott kapituliert habe.
Innerhalb der Tragödie agieren Faust und Mephisto als Hauptfiguren. Ihre Gespräche kreisen um die Ferne Gottes, den Charakter
der Welt und deren Beherrschung. Im Verlauf des Stückes werden
sie als zwei Teile einer Person deutlich. Die Ankunft der dämonisierten Nazis, die sich von Mephisto Petroleum liefern lassen wollen, unterbricht ihre Unterhaltung. Hitler erscheint als der „wahre
Satan“ und „Gott der Deutschen“, doch Mephistos Macht und
Wille in der Hölle reichen so weit, dass er den Untergang der Nazis in Lavamassen herbei führen kann. Der zentrale vierte Akt
setzt eine Terrasse in der Hölle ins Bild. Faust und Mephisto spielen im Morgenrot Schach. Der Probe wohnen Max Reinhardt und
natürlich auch die Dichterin bei:
18
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 187.
143
Von Ferne dumpfes, unaufhörliches Marschieren, das sich später ungeheuerlich verstärkt.
Mephisto (hebt zerstreut den Kopf – lehnt sich weit in seinen kostbaren Sessel zurück.)
Faust: Du bist nicht bei der Sache heute, Satanas, der Wein der gestrige vom neuen Fass benebelt was.
Mephisto: Die Beeren atmeten beim Wachstum giftiges Gas statt Sonne. Doch in der Hölle – lebts sich auch in eingequalmter Tonne.
Faust: (er lauscht) Kommt dieser dumpfe Schall vom Dach?
Mephisto: Er lässt schon wieder nach – Soldaten sinds vom Fach und
– Krach; Bleisoldaten, Barbaren, versklavte Belgier, Niederländer,
Polen, Franzosen geraubter Staaten auf den Sohlen.
Faust: (Vergessend wo er sich befindet) Der Teufel soll den Störenfried aus Braunau endlich holen!!
- Verzeiht, Satanas, Ihr könnt ihn doch holen?
Mephisto: (lächelnd) Bin im Begriff!! Halbwegs erreichten sie den
Höllenstaat in zwei und einen halben Tag allready, hier unten geht die
Sache schief. 19
Der Dialog zwischen den beiden setzt sich fort und wird mehrfach
von Eingriffen Max Reinhardts und der Dichterin in die Probe unterbrochen. Das parodistische Element, das der theatralischen
Tragödie ein Fragezeichen zufügt, tritt deutlich hervor. So fordert
die Dichterin den Mephisto Darsteller auf: „Wacholderkarl, pardon, sprich in at home das ‚M’ wie ‚N’, dass es sich sachgemäßer
reimt auf Napoléon.“ 20 Mephistos Ankündigung, wonach die
Sache „hier unten schief geht“, liest sich dann als Klammerbemerkung:
(Mephisto erhebt sich majestätisch. Den Schöpfer nachahmend schlägt
er ein Rad durch die weiten heissen Lüfte der Hölle. Es zischt und
brodelt. Der Boden im Park beginnt zu qualmen, sich zu erweichen
zur Lavamasse. Es versinken die durch das Tor einmarschierenden
Nacisoldaten mit ihrem Anführern bis zu den Köpfen.) (Sie schreien!!)
Die Köpfe der Versinkenden: Heil Hitler!!
Göhring, der durch das Tor tritt, wird rettungslos von der Flut ergriffen.) Teufelswerk!!21
19
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 208.
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 209.
21
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 214.
144
20
Der Gottes Schlingel aus „Im Anfang“ oder „Weltscherzo“ wird
hier wieder sichtbar: der Rad schlagende Mephisto wird kurze
Zeit später das Gedicht zitieren und Mephisto als Gottes Teufelchen statt Schlingelchen vorstellen. Nach diesem apokalyptischen
Szenario in grotesker Übersteigerung, die gerade im Gegenüber
von Rad-Schlagen und Untergehen deutlich wird, vollzieht sich
die versöhnende Verbindung von Faust und Mephisto und deren
Himmelfahrt. Bei all dem sollte noch der Gedanke gegenwärtig
bleiben, dass die „Dichterin“ vor dem eigentlichen Drama die
Bühne zu ihrer Herzensbühne erklärt hat.
Mit dem letzten Akt, nach der Probe des eigentlichen Stücks
im Garten eines Jerusalemer Augenarztes situiert, rückt die Dichterin wieder ins Zentrum. Im Gespräch zwischen ihr, dem Kritiker
Adon Swet und dem alter ego der „Dichterin“, der Vogelscheuche, wird vor allem die existentielle Verbindung der Dichterin mit
der deutschen und jüdischen Traditionslinie, der sie entstammt,
deutlich. Der Kritik Swets an ihrem Stück, das doch offenbar das
Weltenrätsel nicht gelöst habe, hat sie nichts entgegenzusetzen:
Doch nun verehrte Dichterin, glaubt Ihr in Eurem großem / Reim das
Rätsel dieser Welt gelöst?
Die Dichterin: Nein! Wie meine Hälfte ähnlich schon erwähnte / ungeschminkt zur (sic) im zweiten Teil, Die Wahrheit gänzlich zu / beweisen, bin ich bereit auf höheren Geleisen.“
Mr. Swet: Nie wird auf dieser Welt, das Weltenrätsel ganz gelöst
Im Kreis der Freunde nicht, im Wandel IchundIch, im Tale / Zwischen
Höhen, Und nicht im Arm der Liebsten tanzumdrehen!
Die Dichterin: Da sichs in dieser Welt nicht lösen lässt, Mr. Swet. 22
Es folgen noch ein paar Wortwechsel, dann entspannen sich „die
Nerven“ der Dichterin, sie wird sehr müde und stirbt. Dieses
Sterben kommt einem Verschwinden gleich:
Die Vogelscheuche: Sie ist so klein – sie ginge in das neuaufgeworfene Maulwurfloch hinein –
Mr. Swet: Wir decken sie mit feinen Zittergräsern zu –
(…)
Die körperlose Stimme Davids: Sie malte einen goldenen Spann / wie
eins mein Absalom sich übers dunkle Haar. – (Stern)
Mr. Swet: Sie stirbt …
22
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 232/233.
145
Die Vogelscheuche: Und ohn Geistlichkeit, Raf, Scheik, Pastor –
Mr. Swet: Tor ---23
Das Nachspiel wird eingeleitet als „Moral des Höllenspieles theatralischer Geschichte“ und erzählt die Vision einer Erlösung:
Faust, Mephisto und die Dichterin treten in die himmlische Harmonie bei Gott ein. Da kann das Teufelchen wieder Allotria treiben, es wendet sich artig an Gott, streichelt sein „sorgenvoll’ Gesicht und gibt ihm die „ungegorene Atmosphäre zurück, die er
zuvor gestohlen hatte und die so viel Unglück gebracht hatte. Als
dies erfolgt ist, können Gott und Teufelchen ins Spiel zurückkehren:
- Drauf sprangen beid’ zur Himmelsleiter,
- Spielten mit den grossen Engeln: Reiter.
Am Sabbat-Tag „brummt“ das Teufelchen nun Psalmen. 24
Zum Schluss verlässt die Dichterin diese fantastisch-verspielte
Erzählung, die massiv kontrastiert mit dem Untergangsszenario
des vierten Aktes und dabei Bilder aufruft, die aus dem Frühwerk
Lasker-Schülers bekannt sind, aufs Neue:
Das Stück ist aus –
Ich weiss nicht weiter ….
Doch man hört vom Erdensterne nah – fragen: „Glaubst du an Gott?
Vorhang fällt! Die Dichterin singt leise hinter dem Vorhang:
Die Dichterin: Ich freu mich so, ich freu mich so: Gott ist ‚da’!! 25
3. Weltherrschaft: zwischen himmlischer Gottesnähe und
höllischer Thronfolge26
„Und tront der Ewige noch auf seinem Thron?“ – „Ich weiss
nichts sicheres davon“ – Die schon zitierte Frage nach der Herrschaft im Welttheater steht innerhalb des Dramas früh im Raum
und spielt bis zuletzt eine bedeutende Rolle.
23
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 233/234.
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 235.
25
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 235.
26
Der folgende Passus (Teil 3 bis 5) ist dem in Anm. 12 zitierten Aufsatz
entnommen und wird hier (mit freundlicher Genehmigung des Verlages) in
leicht überarbeiteter Form wiedergegeben (S. 219-225).
146
24
Charakteristisch für Lasker-Schülers Schaffen ist, wie oben bereits ausgeführt und eben auch in IchundIch auffindbar, ihre kreative Anverwandlung der religiösen Überlieferung. Mit der eigenen, jüdischen Religion geht die Dichterin in unorthodoxer, ausgesprochen eigenwilliger Weise um. In ihrem Spätwerk, mithin
auch im Nachlassdrama IchundIch, wird dabei eine wachsende
Bedeutung der religiösen Tradition deutlich. Mit Vehemenz
spricht der Text indes gegen jedwede Lehrhaftigkeit. Zuweilen
gemahnen Mephistos Erwiderungen auf Fausts allzu schlichte Erklärungen an Hiobs Reaktionen auf die Beruhigungsversuche der
Freunde, die mit starren Lehrgebäuden argumentieren, während er
auf seiner unerklärlichen Leidenserfahrung insistiert.
Zum spezifischen Umgang Lasker-Schülers mit der religiösen Überlieferung gehört es, dass die Frage nach Gott in den dichterischen Imaginationsprozess einbezogen wird und den Verfahren von Parodie und Groteske unterliegt. Sie steht im Zusammenhang poetologischer Überlegungen (die Dichterin ist „Gottes
Dichterin“), aber auch des Dramas der Ich-Spaltung sowie der
sensationellen Kapitulation des Bösen: Versöhnung soll gemäß
dem Willen Gottes erfolgen, und Mephisto kapituliert vor Gott.
Auch besteht eine deutliche Verbindung mit der nationalsozialistischen Gegenwart, zumal der Untergang der Nationalsozialisten
in Lavamassen an Vorstellungen des Jüngsten Gerichts erinnert
und das Geschehen strukturell mit dem weitgehend von der religiösen Thematik bestimmten Gespräch zwischen Faust und Mephisto verwoben ist.
Das Hauptcharakteristikum des Gottesverhältnisses liegt in
einer eigenartigen Spannung zwischen der Glaubensgewissheit
einerseits und der – zweifelbegründenden – Erfahrung der Ferne
Gottes andererseits. Der mit anthropomorphen Zügen gezeichnete
Schöpfergott steht dem Fernen Gott, dem Deus Absconditus gegenüber. In einem Züricher Vortrag kurz vor ihrer endgültigen
Emigration nach Jerusalem im Alter von über siebzig Jahren formuliert Lasker-Schüler die Spannung besonders ausdrucksstark:
Allerinnigste Nähe doch und fernste Ferne trennt den Menschen vom
höchsten Vater und vereint ihn zugleich mit Ihm. Der unbegrenzte,
grenzenlose Raum der Ewigkeit nicht messbar mit üblichem Maße.
Schauerliche Fernen und klaffende Weiten trennen uns vom Ewigen
147
und doch baut er auf dem Hügel deiner gefalteten Hände oft spielend
mit Bauklötzen seines Jugendbaukastens, wie der kleinste Knabe,
strahlend dir: Jerusalem. 27
Gott, kindlicher Spielgefährte und „höchster Vater“, erscheint als
Erbauer Jerusalems, jenem Zentrum des biblischen Landes, das
Spielort des Dramas ist und Ort der Heilshoffnungen des jüdischen Volkes, „mein HerzensLande“ – so fern von dieser Welt“,
heißt es in den Tagebuchzeilen aus Zürich. Diese Vorstellung erscheint indes keinesfalls weltflüchtig-naiv, ist sie doch gezeichnet
von einem ausgeprägten Bewusstsein der Diskrepanz von historischem Ort und Gottesschöpfung.
Es ist die biblisch inspirierte Imagination der Gottesstadt,
Residenz des Königs und Psalmendichters David, der Sehnsucht
wie Vision der Gottesnähe gelten. In IchundIch kontrastiert sie
hart mit einem Leben in der Hölle oder auch einem höllischen
Dasein, das auf der Bühne des Welttheaters vorgeführt wird. Das
sehnsuchtsvoll im Exil erwartete Jerusalem wird verwoben mit
dem freundlich-väterlichen Schöpfer, der als eine Seite Gottes in
IchundIch präsent ist und der im Nachspiel wieder „klummbumm,
klummbumm“ macht und sich necken lässt (Weltscherzo).
Der Entfaltungs- und Wirkungsraum dieses Schöpfergottes
liegt indes außerhalb der Historie: in paradiesischer Zeit, als „die
Welt noch Kind war“ 28 - ein Vers aus eben jenem Gedicht, der
auch im Drama dieses Geschehen rahmt - und am letzten Ende,
nämlich in der Erlösungswelt nach dem Endgericht. Darauf verweist die Erzählung des Allotria-Treibens im Nachspiel.
Die historische Wirklichkeit hingegen zeichnet sich durch
die Abwesenheit ordnender Gewalten aus. So haben die Könige
der hebräischen Bibel ausgedient und sitzen „unheimlich bewegungslos“ in abgebröckelten Logen (wie oben zitiert). Und weder
der Regisseur Max Reinhardt noch die „Dichterin“ füllen spielkontrollierende Positionen aus. Selbständig ändern die Schauspieler vielmehr zwischenzeitlich auch den Text, und die erste Beset-
27
Else Lasker-Schüler, Zürcher Vortrag, ELS-Archiv, 2:35.
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 217.
148
28
zung des Mephisto weigert sich, „den Goethe, ohne Steigerung zu
mimen.“ 29
Kabbalistisch inspiriert ist wohl die Vorstellung, die historische Welt sei bloße „Weltenillusion“. Ihr werden die Imaginationen der „Gottes Dichterin“ als höchste Realität entgegengestellt:
„Und nur mein Vers war keine Illussion!“ insistiert die Dichterin. 30
Aber auch die Dichtung bietet keine tragfähige Zuflucht an.
Verzweifelten Trost, geradezu klamaukig vorgebracht, scheint
allein die Transzendierung dieser Wirklichkeit in die mehrfache
Fiktion einer Gottesnähe zu spenden. Die Himmelfahrt MephistoFausts, parodistische Inszenierung, führt aus dem Bühnenraum
hinaus, das Nachspiel findet nach der Probe, mithin außerhalb des
eigentlichen Dramas statt. Die Vision Gottes, von der der
Schlussgesang der „Dichterin“ hinter dem Vorhang künden mag
„Ich freu mich so, ich freu mich so, Gott ist da!!“, ist folglich jenseits des Stücks wie des Bühnenlebens der „Dichterin“ verortet. 31
Er zeigt wohl einen letzten sehnsuchtsvollen Versuch an, die Gottesgewissheit als bergende, und das heißt hier als phantasievollverspielte, in den Raum der Dichtung hineinzuholen. Es ist die
historische Wirklichkeit, die den imaginativen Raum einer gottgeborgenen Spielwelt aufbricht.
4. Geschichte zwischen Urzeit und Endzeit
Die Gottesnähe in „junger Morgenfrüh des ersten Schöpfungstags“32 weist in einen urzeitlichen Weltenanfang. Von dort reicht
der Bogen über die Schreckensgeschichte der nationalsozialistischen Gegenwart einschließlich der Gas-Anspielungen Mephistos, die das Volk der „Dichterin“ massiv bedroht und sie ins Exil
gezwungen hat, bis zum endzeitlichen Untergangsszenario. Die
Entgrenzung der Zeit, die der Erzählungsraum der weiten Bühne
birgt, wird immer wieder an der Historie aufgebrochen. Diese
wird nicht dokumentiert, vielmehr erscheint die historische Wirklichkeit poetisch fiktionalisiert: Goebbels wird als „Pipifax der
29
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 193.
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 186.
31
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 235.
32
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 212.
30
149
Kleine“ 33 tituliert. Und im zweiten Akt enthalten die Verhandlungen der Nationalsozialisten mit dem Höllenfürsten um Petroleum
Anspielungen auf den Kriegsverlauf, auf wirtschaftliche Interessen, auf die Judenvernichtung und das Exil. Als Inkarnationen des
Bösen sind die Nationalsozialisten mit diabolischen Zügen,
Goebbels gar mit einem Pferdefuß ausgestattet.
Daneben karikiert Lasker-Schüler die Tendenz, den Führer
zu sakralisieren. Goebbels gilt sein Herrscher etwa als „Germanias Gott“: Adolf Hitler ist Heiland. Während des anzüglichen
Gartengesprächs zwischen Goebbels und Frau Marthe, die ebenfalls zum Personal des Dramas zählt, erscheint Hitler als groteske
Kultfigur dort, wo Martes Schwerhörigkeit aus dem „Wotan“ einen „Truthahn“ macht, 34 und auf Mephistos „Frau Kuppelfei noch
ist nicht Mai!“ festhält: „Die Ariergottheit legte doch ein Ei!“35
Die Apotheose der Macht des Bösen steht folglich nicht für sich,
sondern wird in das assoziative Spiel des Reims hineingezogen.
Das komische Klangspiel wird indes akustisch überboten
durch die Allgegenwart des Lärms, den die Nationalsozialisten
verbreiten. So wird der Gesang am Ende des Gelages, das dem
Untergang der Heere vorausgeht, „von den verwilderten heiseren
Stimmen der Nacis brutal begleitet.“ 36 Das theologische Gespräch
zwischen Faust und Mephisto wird von den Schreien der in Lavamassen versinkenden Soldaten unterlegt, Mephistos Erzählung
aus der „Edenwelt“ mit dem „dröhnenden Schreiten des Naciheeres“ 37 synchronisiert. Vor der monumentalen Kulisse der Jerusalemer Zitadelle erstehen Massenszenen, wie sie aus dem Theater
Max Reinhardts und Erwin Piscators bekannt sind, und die absolute Kulturlosigkeit der Nationalsozialisten wird sicht- und hörbar.
Stets bleibt die poetisch-figurierte Geschichte mit Anspielungen an die Weltenalter, Schöpfung, Fall und Erlösung durchwirkt. In die absolute Gegenwart des Dramas spielen folglich Ur-,
Endzeit und Historie hinein. Damit mischen sich auch die Erinne33
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 201.
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 204.
35
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 220.
36
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 202.
37
Lasker-Schüler, IchundIch (Anm. 11), S. 218.
150
34
rungsräume, die poetisch evoziert werden. Der verflüssigte und
wieder erstarrende Stein der apokalyptischen Lavamassen, nun
nicht konzentriert wie in der steinernen Figur des Götzen Baals,
sondern sintflutartig, versinnbildlicht gleichsam den Prozess der
Auflösung der Ewigkeit, die die Gegenwart verschlingt. Letztlich
führt die Bewegung aus der Historie heraus: der Tod der „Dichterin“ und das „himmlische“ Nachspiel können auch anzeigen, dass
in der Geschichte kein Bleiben ist.
Die gottferne Welt, die die Dichterin immer wieder thematisiert hat, erhält in diesem Drama eine konkrete historische Dimension. Den Charakter faktischer Berichterstattung hat IchundIch freilich an keiner Stelle. Gerade dieser Anspruch eines fiktiven Publikums oder auch des Kritikers Swet, den Sie oben gehört
haben, wird bewusst unterlaufen. Ihre Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Geschichte hat Lasker-Schüler hier verwirklicht: Sie liegt nicht in einer distanziert-dokumentierenden Darstellung, sondern in einer Annäherung, die den Versuch der Aneignung der – eigenen – Geschichte als utopisch ausweist. Der
imaginativ-poetische Raum muss unter dem Gewicht dieser Last
zerbrechen. Dies wiederum poetisch zu artikulieren und damit die
Grenzen ästhetischen Wirklichkeitsausdrucks zu markieren,
macht die besondere Bedeutung des Dramas aus.
5. Ver-spielt: Vom Unmöglichen des Gesamtkunstwerks
Leise singend beendet die „Dichterin“ hinter dem Vorhang das
Drama, entzieht sich selbst wie die Vision, von der sie kündet, der
Schau-Stellung. Der Erprobungsraum des Welttheaters ist verlassen, die Spaltung des Ich, im Titel formuliert, ist utopisch aufgehoben und die Herzensbühne im Tod der „Dichterin“ aufgelöst.
Vor den Augen der bewegungslosen biblischen Könige ist ein
Untergangsszenario entworfen worden, dessen Gewaltsamkeit
von tragikomischem Dialog Fausts und Mephistos, Martes’ und
Goebbels’ unterlegt ist und durchbrochen wird. Nie erfasst das
sintflutartige Geschehen die ganze Bühne. Immer bleibt Raum für
den verspielenden Vers, für die selbstreflexive Dimension von
Theater und Poesie angesichts der umfassenden Zertrümmerung.
Durch die Montage verschiedenster Theatertraditionen, Tragödie,
Mysterienspiel, Moritat, Kabarett und Allegorie zeigt Lasker151
Schüler jene Tendenz des Abbruchs an, die Walter Benjamin als
charakteristisch für das neuzeitlich-moderne Trauerspiel herausgearbeitet hat. Sie unterläuft damit dasjenige Potenzial des Welttheaters, das Hugo von Hofmannstahl zur Aufnahme des Stoffes
bewogen hat: das Ganze der Welt im Medium des Gesamtkunstwerks zu konstituieren, mithin einen Raum außerhalb der bedrohlichen, fragmentierten Wirklichkeitserfahrung zu schaffen, der
diese heilsam zu transzendieren vermag. Das Festspiel in Salzburg stiftet mittels kultureller Erinnerung eine Art Heimat. Jerusalem ist hochbesetzter symbolischer Ort, Ort der eschatologischen
Ambivalenz des Schon Jetzt und Noch Nicht. In IchundIch gilt
die Stadt jedoch nicht als harmonisches Zentrum des Bibelsterns,
sondern ist Schauplatz des Höllenspiels und letzter Entäußerungsraum der Herzensbühne, deren labiler Boden unter dem Gewicht
der Geschichte bricht.
An diesem Ort lässt Lasker-Schüler ihre Schauspieler traditionelle Stoffe wie ihre eigene Lyrik zitierend und variierend aufrufen. Wenn sie dabei an eine quasi kanonische Überlieferung der
deutschen Literatur anknüpft, so jedoch nicht, um sich angesichts
von Verlusterfahrungen einer bestehenden Bindung zu vergewissern. Vielmehr werden die Stoffe assoziativ versammelt, parodierend und grotesk verbunden und nicht zu einem Ganzen zusammengefügt. Seltsam gleichrangig werden biblische Stoffe, Goethe-Verse und Allusionen an das Kasperletheater mit zeitgeschichtlichen Elementen kombiniert. Das Auflesen der oft deformierten Stoffe zeugt dabei von dem Versuch, die eigene Geschichte, die im Zeichen von Verlusten und Zerstörungen steht, in
den Bühnenraum hineinzuholen. Wenn in IchundIch das Scheitern dieses Versuchs vorgeführt wird, kann jedoch von einer Trivialisierung der katastrophalen Geschichtserfahrung nicht die Rede sein. Die wechselseitige Destabilisierung von kulturellem und
kommunikativem Gedächtnis, die Erinnerung quasi der eigenen
Generation führt vielmehr die umfassende Haltlosigkeit, die Konsequenz dieser Erfahrung ist, in äußerst bedrängender Weise vor.
Monumental in der Anlage, spricht IchundIch Auge und
Ohren an, vereinigt eine Vielzahl von Kunstformen, nimmt Poesie, Musik, Tanz und Film ins Welttheater auf. Doch lädt die
„Plurimedialität“ (Manfred Pfister) nicht zum gleichsam rausch152
haften Erleben einer Festspielgemeinde ein. Immer wieder zerbersten die zahlreichen sinnfälligen Einzelheiten in der Kollision
miteinander, immer wieder wird die ausgefeilte Anlage auf die
Probe gestellt, wird das Große, gar Ehrwürdige im parodierenden
Zitat eingeholt. In diesen negativen Zerschlagungsbewegungen,
die an Karl Kraus erinnern, wird indes eine konkrete Haltung
sichtbar: wider die abstrakte theologische Weltdeutung, die dem
gelehrten Diskurs folgen mag, der subjektiven Erfahrung insbesondere unter dem Eindruck der Historie aber nicht standhält,
wider auch die Vorstellung, die (Theater-)Kunst könne und solle
Fakten abbildhaft dokumentieren, um der Wirklichkeit zu entsprechen. Die souveräne welt-anschauende Zuschauerposition
fehlt, die Herzensbühne zeigt die Sicht der Welt wie die Existenz
als aufs Spiel gesetzt. Mensch, Welt und Dichtung bleiben miteinander verschränkt, werden eingebunden in den entgrenzenden
Zusammenhang von Urzeit und Endzeit, aber weder in den Raum
der dichterischen Imaginationswelten oder bergenden Gottesnähe
entlassen, noch auf den geschichtlichen Augenblick reduziert. Die
Menschheitsthemen von der Gerechtigkeit Gottes in der Welt,
vom versöhnten Dasein in Glaube und Liebe werden angesichts
der für die Poetin stets beschränkenden Existenz auf dem Erdenstern, vor allem aber angesichts der nationalsozialistischen
Bedrohung und der Gefährdung jeglicher Zuflucht der Jüdin wie
ihres Volkes zur Anzweiflung der Möglichkeiten von Dichtung
überhaupt. Wenn die Herzensbühne unter diesem Gewicht aufgegeben werden muss, scheitert der Erprobungsraum des Welttheaters. Die Vision des frei-imaginierenden Ortes, der auch Ort der
Nähe Gottes ist, weist aus dem Drama hinaus. Wenn er gleichwohl vor der Grenze des Schweigens in den Bereich der Poesie
zurückweist, so ist diese eine gezeichnete.
Am Schluss meines Beitrags soll das Gedicht „Mein blaues
Klavier“ stehen, 38 das dem letzten Gedichtband Lasker-Schülers
den Titel gibt. Er erscheint 1943 in Jerusalem, und gerade dieses
Gedicht kündet noch einmal von der poetischen Sehnsucht nach
Gottgeborgenheit:
38
Lasker-Schüler, Gedichte (Anm. 1), S. 284-285.
153
Mein blaues Klavier
Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.
Es spielten Sternenhände vier
– Die Mondfrau sang im Boote –
Nun tanzen Ratten im Geklirr.
Zerbrochen ist die Klaviatür …
Ich beweine die blaue Tote.
Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich ass vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür –
Auch wider dem Verbote.
154
Guido Bausenhart
Die sogenannte Heilige Familie
Der bescheidene Beitrag zum Gesamtkunstwerk dieser Ringvorlesung „Literatur und Religion“, gerät er in die Nähe von Glühwein,
Spekulatius, Lebkuchen und brennender Kerze, wird schnurstracks zu einer Weihnachtsvorlesung. 1 So komme ich also zu
dieser Weihnachtsvorlesung wie die Jungfrau zum Kind; und ich
werde auf diese berühmte Jungfrau natürlich noch zurückkommen. Ich werde das ja müssen, wenn ich mein Thema nicht völlig
verfehlen will: Die Heilige Familie, die sogenannte Heilige Familie.
Religion und Literatur
„Religion und Literatur zusammenzubringen, das ist mein
Hauptmotiv.“ Der das sagt, ist Ehrendoktor dieser Universität:
Martin Walser. Wo er das gesagt hat? Vor sechs Wochen – am 9.
November 2011 in Harvard. Es war sein Schlusswort: „Religion
und Literatur zusammenzubringen, das ist mein Hauptmotiv.“ –
Schlusswort eines Abends im gläsernen Penthouse der John F.
Kennedy School of Government, Harvards Schmiede der politischen Elite des Landes. „Religion und Literatur zusammenzubringen, das ist mein Hauptmotiv.“ Und Walser fügt hinzu: „Komisch, dass es unter Intellektuellen nicht mehr stattfindet.“ 2
Martin Walsers jüngster Roman Muttersohn 3 greift ausdrücklich das Motiv der berühmten Jungfrau auf. Als der Spiegel
(Nr. 30/2011) sein Buch angepriesen hatte mit der Notiz, der Romanheld behaupte, er sei ohne Vater zur Welt gekommen, sieht
1
Das Datum der Vorlesung – 21. Dezember 2011 – führte dazu, den
Vortrag zugleich als „Weihnachtsvorlesung“ anzukündigen.
2
Vgl. Jordan Mejias: „Der Meister des Selbstgesprächs“. In: FAZ
11.11.2011. Die Rede: Martin Walser: „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“. In: FAZ 10.11.2011, S. 33. Ausführlicher jetzt: Martin Walser:
Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
2012.
3
Martin Walser: Muttersohn. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
2011.
155
sich Walser zu einer Klarstellung genötigt: „Auf 500 Seiten
kommt das nicht vor! Dieser Percy – Anton Parcival, genannt:
Percy Schlugen ist die zentrale Romanfigur – dieser Percy ‚behauptet‘ nichts, sondern teilt mit, was ihm seine Mutter gesagt
hat, und er erwartet nicht, dass ihm das jemand glaube!“ 4 Eine
wichtige Richtigstellung durch den Autor, die man, wenn man
sich für die Lektüre mehr Zeit nimmt als der Spiegel-Redakteur,
dann auch bestätigt findet.
„Messias vom Bodensee“ 5 , „Das Evangelium des Martin
Walser“ 6 (FAZ), „Jesus am Bodensee“ 7 (FAS), „Großer Gott,
Walser!“ 8 (Die Zeit) – das sind nur wenige Titel von Besprechungen des Romans – wobei allerdings beim letzten wichtig ist, das
Komma mitzuhören: ‚Großer Gott – Komma – Walser – Ausrufezeichen‘.
Der Roman spielt bzw. sein Held Percy bewegt sich in der
Region zwischen Bodensee und Schwäbischer Alb, im typischen
literarischen Walser-Land. Percy hat Krankenpfleger gelernt; besonders macht ihn die Art, wie er Menschen begegnet: voller
Aufmerksamkeit, mit unbeirrbarem Wohlwollen, und er hat Zeit.
Patienten heilt er weniger durch Medikamente als durch seine unerschöpfliche Zuwendung.
Der Roman setzt damit ein, dass Percy ans Psychiatrische
Landeskrankenhaus Scherblingen zurückkehrt; es ist – wie im
schwäbischen ‚Oberland‘ nicht selten – der gleichnamigen Abtei
angegliedert. „Patres, Patienten und Angestellte sind dort nicht
unbedingt voneinander zu scheiden; schließlich neigt die Medizin
ebenso zum Wahn wie der Glaube.“ 9
4
Martin Walser: „Das kommt nicht vor!“ (Leserbrief). In: Der Spiegel Nr.
32/2011.
5
Stefan Meetschen: „Messias vom Bodensee“. In: Die Tagespost
23.07.2011, S. 12.
6
Vgl. Felicitas von Lovenberg: „Produziert ihr Kälte, ich produzier‘
Wärme“. In: FAZ 09.07.2011 Z. 5.
7
Volker Weidermann: „Die letzte Wende. Jesus am Bodensee: Martin
Walsers neuer Roman erzählt von einem heiligen Muttersohn“. In:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 03.07.2011, S. 21.
8
Adam Soboczynski: „Großer Gott, Walser!“ In: Die Zeit. 14.07.2011, Nr.
29.
9
von Lovenberg: „Produziert ihr Kälte, ich produziere Wärme“ (Anm. 6).
156
Percy ist ausgesprochen begabt zum Glauben: „Ich bin ein Echo
und weiß nicht, von was.“ 10 Ohne dieses ‚und weiß nicht, von
was‘ könnte man den johanneischen Christus hören: Wer mich
hört und sieht, der hört und sieht den Vater.
Glaube ist nicht verfügbar, er ist, wie Percys Mentor, Professor Feinlein, im Roman Muttersohn betont, kein fester ‚Besitz‘. Man kann den
Glauben nicht anschalten wie das Licht. Glauben, so Walser, ist eine
Bewegung, ein Prozess, ‚der andauernd glücken muss, aber auch
missglücken kann‘. Zu seinem Glücken, seinem Gelingen, kann im
Roman Muttersohn die ‚offizielle Kirche‘, die Walser primär als gesellschaftliche Macht ansieht, offenbar nichts beitragen. 11
Aber auch der Theologie kann unser Ehrendoktor bekanntlich
nicht viel abgewinnen: Gott werde „in den Laboratorien der
Theologie zerbröselt“, so schon vor dreißig Jahren in seiner Rede
zur Entgegennahme des Büchner-Preises. 12
Etwa in der Mitte des Romans ist der Muttersohn in eine
Talkshow eingeladen. Percy bringt Susi, die Moderatorin, zur
Verzweiflung. Sie wird ihn schließlich an ihren Kollegen abgeben. Hier die kurze Szene – noch mit Susi:
Susi: Und Sie wissen, warum wir Sie in unserer Talkshow haben wollten?
Percy: Ich ahne es.
Susi: Und was ahnen Sie?
Percy: Weil ich manchmal, wenn ich irgendwo spreche, erwähne, dass
Mutter Fini mir gesagt habe, zu meiner Zeugung sei kein Mann nötig
gewesen.
Susi: Richtig. Jetzt die Frage, die mich plagt, seit ich weiß, dass ich
mit Ihnen sprechen darf, soll, muss: Glauben Sie das, was Ihnen Ihre
Mutter gesagt hat?
Percy: Ich glaube, dass Mutter Fini es glaubt.
Susi: Und Sie?
Percy: Wenn ich das nicht glauben würde, hätte ich es nicht da und
dort erwähnt.
Susi: Sollen wir Ihnen das glauben?
10
Vgl. ebd.
Elisabeth Hurth: „Muttersohn“. In: Kirche In 11/2011, S. 42.
12
Martin Walser: „Woran Gott stirbt“. Rede vor der Darmstädter
Akademie bei Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises. In: Süddeutsche
Zeitung 24./25.10.1981, S. 81.
157
11
Percy: Du nicht. (Das Publikum lacht.) Kein Mensch außer mir muss
das glauben. Aber jeder und jede tut so, als sei, was mir Mutter Fini
gesagt hat, ganz und gar unmöglich. Einfach unglaubhaft. Ich erlebe,
wie in jedem und jeder ein Widerlegungseifer wach wird. Warum ertragen sie nicht einfach, dass das meine Sache ist. Meine und Mutter
Finis Sache. Dürfen wir etwas nicht glauben, weil andere nicht daran
glauben wollen oder können: Glauben, das ist eine Fähigkeit. Eine
Begabung. Bei Musik weiß jeder: Manche sind musikalisch, andere
nicht. So mit der Glaubenskraft. Manche können nur glauben, was sie
auch wissen können. Offenbar gibt es Menschen, die können nur mit
Gleichungen leben, die aufgehen. Glauben, das ist eine Gleichung, die
nie aufgeht.13
„Percy ist sicher der hellste Charakter, die hellste Figur, die bisher
leichteste Figur. ‚Ich baue Leichtigkeit an wie andere Mais und
dünge sie mit Himmelslicht-‚ Eine Figur, die so spricht, hatte ich
bisher nicht.“ – so sein Autor Walser; 14 oder darf man sagen: sein
Vater? ‘Es ist ein Anliegen dieses Buches geworden,‘ sagt Walser
in einem dpa-Interview, ‚dass es das Glauben können in der
Wichtigkeit erzählt, die in der Wirklichkeit vorhanden ist. Die
meisten Leute glauben, sie seien vom Wissen abhängig, aber in
Wirklichkeit sind sie vom Glauben abhängig‘. „Insofern hat das
Buch ein bisschen den Ehrgeiz, Religiöses und Literarisches wieder als eine Fähigkeit und Ausdrucksart des Menschen zu zeigen.“ Und in einer Lesung aus dem Muttersohn im Bibliothekssaal des Klosters Bad Schussenried, in angemessenem Ambiente:
„Percy wäre es recht, wenn die beiden Wörter Literatur und Religion wieder eins wären.“ 15
Religion – noch ein letztes Zitat aus seiner Harvard-Rede,
weil es mir als Überleitung dient –
Ich meine, Religion sei eine Ausdrucksart wie andere, wie Literatur,
Musik, Malerei. Ich lese Religion als Literatur. Dass Texte, die für uns
‚nur‘ noch zur Religion gehören, Dichtung sind, um es im Betriebs-
13
Walser: Muttersohn (Anm. 3), S. 172 f.
Martin Walser: „Die Genesis ist schöner als der Urknall.“ In: Die
Tagespost 12.07.2011.
15
Jürgen Kanold: „Unsterbliche Hosenträger“. In: Schwäbisches Tagblatt
13.07.2011.
158
14
deutsch zu sagen: große Dichtung, das kann man doch noch sagen:
Die Psalmen, Das Buch Hiob, Das Weihnachtsevangelium. 16
Von Mutter Fini zu Mutter Mirjam
Vom Roman Der Muttersohn also zum Weihnachtsevangelium,
von Mutter Fini – Josefine – zum Original: zu Maria oder Mirjam
von Nazareth.
Die Evangelien sind keine Biographien Jesu, und doch sind
ihre Berichte chronologisch angeordnet – zuerst wird geboren und
dann gestorben – nicht wie bei modernen Romanen mit ihren unangekündigten Rückblenden, mit denen der brave Leser verunsichert wird, zeitweise die Orientierung verliert, bis er die Methode
durchschaut hat und sich schlau vorkommen darf.
Noch kann man im Zusammenhang mit Weihnachten in unserem Kulturkreis eine gewisse Vertrautheit mit den Kindheitsgeschichten Jesu im Matthäus- und Lukas-Evangelium unterstellen.
Ich erinnere nur: Gabriel, der Engel, verkündet der überraschten
Mirjam in Nazareth, sie werde ein Kind empfangen, einen Sohn,
und der solle Jesus heißen (Lk 1,26-38). Joseph, ihr Verlobter,
bemerkt die Schwangerschaft und will Mirjam möglichst ohne
Aufsehen aus der Verlobung entlassen, woran ihn wieder ein Engel hindert, der ihm mitteilt, das Kind sei „vom Heiligen Geist“;
was sich Joseph darunter vorstellte, ist nicht überliefert, jedenfalls
nimmt er Mirjam zu sich und bekennt sich zu dem Kind. (Mt
1,18-25) Beide Evangelien berichten von der Geburt Jesu in Betlehem: Lk lässt die Hirten zum Stall finden (2,1-20), Mt die
Sterndeuter aus dem Osten (2,1-12). Allein das MatthäusEvangelium weiß dann von der Flucht nach Ägypten, dem betlehemitischen Kindermord und der Rückkehr der Heiligen Familie nach Nazareth nach dem Tod des Herodes (2,13-23).
Bis auf die Geschichte des zwölfjährigen Jesus, der nach
seiner Bar Mitsva-Feier in Jerusalem bleibt und seine Eltern in
helle Aufregung versetzt hatte (Lk 2,41-52), wissen die Evangelien vom jungen Jesus nichts zu erzählen. Das macht ‚hoch die Tür
und die Tor weit‘ für die Phantasie. Es entsteht z.B. das soge16
Walser: „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ (Anm. 2).
159
nannte Kindheitsevangelium 17, das die Kirche gut getan hat, es
nicht in den Kanon der neutestamentlichen Schriften aufzunehmen. Man stelle sich vor, wir bekämen im Gottesdienst von den
Lausbubenstreichen des jungen Jesus vorgelesen.
Die Heimat Jesu
Nazareth 18 war in den Zeiten Jesu ein Dorf, in dem Schafe und
Ziegen, Esel und Kamele zum alltäglichen Bild gehörten. Die
Familien wohnten in strohgedeckten Häusern aus Feldsteinen und
Lehm, manche in ausgebauten Höhlen. Sie lebten von der Landwirtschaft als Kleinbauern, vor allem für den eigenen Bedarf, Aug
in Aug mit möglichen Missernten und in deren Folge von ruinöser
Verschuldung bedroht. Manche betrieben zusätzlich ein Handwerk und fluchten über die hohe Steuerlast durch die römischen
Besatzer. Nur die Hälfte überlebt die Kindheit; auch dann wird
man selten älter als 40 Jahre.
Galiläa 19 meint den überschaubaren Landstrich südlich des
Litani-Flusses im heutigen Libanon bis zur Jesreel-Ebene. Lange
waren hier Juden in der Minderheit gewesen, woran der Name
Galiläa erinnert: Er geht auf die hebräische Bezeichnung „galil
hagoijim“ zurück, „Region der Heiden“. Ab etwa 100 v. Chr.
zogen fromme Familien aus Judäa nach Norden und ließen sich in
Galiläa nieder. Zur Zeit der Geburt Jesu lebten dort knapp
200.000 Menschen. Die fruchtbare Hügellandschaft Galiläas war
ein Kontrast zur kargen, felsigen Gegend um Jerusalem. Im Herzen Galiläas speist das Wasser des Jordan den See Genezareth,
das ‚Galiläische Meer‘, 21 Kilometer lang und 12 Kilometer breit.
17
Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord. Frankfurt/Main-Leipzig:
Insel 1999, S. 1294-1304.
18
Vgl. zum Folgenden: GEOEPOCHE Nr. 45: Das Heilige Land; Der
Spiegel Geschichte Nr. 6/2011: Jesus von Nazareth und die Entstehung
einer Weltreligion.
19
Vgl. Welt und Umwelt der Bibel Nr. 24 (2002): Jesus der Galiläer; Welt
und Umwelt der Bibel Nr. 42 (2006): Auf den Spuren Jesu. Teil 1: Von
Galiläa nach Judäa; Willibald Bösen: Galiläa. Lebensraum und
Wirkungsfeld Jesu (Akzente). Freiburg-Basel-Wien: Herder 1998.
160
An seinen Ufern wird Jesus von Nazareth seine Predigttätigkeit
beginnen.
Die Jungfrau kommt zum Kind
Theologen haben beim Thema ‚Heilige Familie’ zwei offene Baustellen:
- die Frage nach der jungfräulichen Empfängnis Mirjams
von Nazareth;
- dann die Frage nach möglichen Geschwistern Jesu.
Wie heiratet man in der Zeit von Josef und Mirjam in Palästina?20
Die Heirat findet in zwei Stufen statt. Sie beginnt mit der Verlobung, in der im Beisein von Zeugen der Heiratswille offiziell erklärt wird; auch der Brautpreis ist fällig. Die Verlobung bedeutete
eine rechtlich verbindliche Verbindung; mit ihr beginnt der Übergang des Mädchens – gewöhnlich im Alter von 13-14 Jahren –
aus der Macht ihres Vaters in die Hand des Ehemannes. Der erwirbt gesetzlich festgeschriebene Rechte über sie, sodass die Verlobung der jungen Frau in vielfacher Hinsicht den Status einer
verheirateten Frau verlieh, auch wenn sie noch etwa ein Jahr im
Haus ihres Vaters verbleibt. Wieder gelöst werden konnte die
Verlobung nur durch eine Scheidung, die vom Mann initiiert werden muss. Wenn das Mädchen in der Verlobungszeit seine ehelichen Rechte verletzt, gilt dies als Ehebruch.
Der Verlobung folgte die eigentliche Heirat: Das Mädchen
wird ins Haus ihres Mannes aufgenommen, der von da an für ihren Unterhalt sorgt. Gewöhnlich wird vorausgesetzt, dass das
Mädchen zum Zeitpunkt ihrer Verlobung und – zumindest in Galiläa – auch zum Zeitpunkt ihrer vollständigen Eheschließung
Jungfrau ist.
Nun weiß aber das Matthäusevangelium Folgendes: „Maria
[…] war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen
waren,“ – gemeint ist wohl die Aufnahme Marias ins Haus des
Josef, also die definitive Heirat – „zeigte sich, dass sie ein Kind
erwartete“ – und das Evangelium fährt fort: „durch das Wirken
des Heiligen Geistes.“ (Mt 1,18)
20
Vgl. Jane Schaberg: „Die Stammütter und die Mutter Jesu“. In:
Concilium 25 (1989) S. 528-533, hier S. 529 f.
161
Was soll der arme Josef jetzt tun? Wenn er weiß, dass er selbst
nicht der Vater ist, kann er nur zwei Erklärungen sehen: Vergewaltigung oder Ehebruch; hier: Verlobungsbruch. Für die dritte
Variante: „durch das Wirken des Heiligen Geistes“ wird Josef
erst der Engel im Traum die Augen öffnen. Das kann er ja nicht
wissen, darauf kann man ja auch nicht kommen. Das jüdische Gesetz regelt solche Vorkommnisse im Buch Deuteronomium:
Wenn ein Mann eine Frau geheiratet und mit ihr Verkehr gehabt hat,
sie aber später nicht mehr liebt und ihr Anrüchiges vorwirft, sie in
Verruf bringt und behauptet: Diese Frau habe ich geheiratet, aber als
ich mich ihr näherte, entdeckte ich, dass sie nicht mehr unberührt
war!, … Wenn der Vorwurf zutrifft, wenn sich keine Beweisstücke für
die Unberührtheit des Mädchens beibringen lassen, soll man das Mädchen hinausführen und vor die Tür ihres Vaterhauses bringen. Dann
sollen die Männer ihrer Stadt sie steinigen und sie soll sterben; denn
sie hat eine Schandtat in Israel begangen, indem sie in ihrem Vaterhaus Unzucht trieb. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.
(Dtn 22,13-21)
Steinigung also bei Ehebruch – so lautet das Gesetz. Zur Zeit von
Josef und Mirjam wird diese Strafe aber in der Regel nicht mehr
vollzogen – auch wenn das Johannes-Evangelium eine Szene
schildert, da die Pharisäer und Schriftgelehrten (also die Theologen!) eine Frau zu Jesus bringen, die beim Ehebruch ertappt worden war, und er ihnen buchstäblich die Steine aus der Hand
nimmt mit der knappen Sentenz: „Wer von euch ohne Sünde ist,
werfe als erster einen Stein auf sie.“ (Joh 8,1-11; 7) Auch für den
Fall einer Vergewaltigung kennt das Gesetz eine Regel:
Wenn ein unberührtes Mädchen mit einem Mann verlobt ist und ein
anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann
sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen und
sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe
geschrieen hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.
Wenn der Mann dem verlobten Mädchen aber auf freiem Feld begegnet, sie fest hält und sich mit ihr hinlegt, dann soll nur der Mann sterben, der bei ihr gelegen hat, dem Mädchen aber sollst du nichts tun.
Bei dem Mädchen handelt es sich nicht um ein Verbrechen, auf das
der Tod steht; denn dieser Fall ist so zu beurteilen, wie wenn ein
Mann einen andern überfällt und ihn tötet. Auf freiem Feld ist er ihr
162
begegnet, das verlobte Mädchen mag um Hilfe geschrieen haben, aber
es ist kein Helfer da gewesen. (Dtn 22,23-27)
Was tut Josef? Er hat zu wählen zwischen dem gesetzlich vorgeschriebenen Ehebruchsprozess und der Ausstellung eines Scheidebriefes. Im Fall von Ehebruch ist die Scheidung Pflicht. „Josef,
ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen.“ (Mt 1,19) Er muss
Mirjam geliebt haben. Er zielt zwar auf eine Scheidung, will ihr
aber ein demütigendes, entwürdigendes öffentliches Verhör ersparen – und sich selbst vermutlich auch. Eine Scheidung muss
zwar auch vor zwei Zeugen erfolgen, erregt aber nicht solches
Aufsehen in der Öffentlichkeit Nazareths.
Als frommer Jude kann Josef keine Ehe mit einer Ehebrecherin eingehen – und dann nimmt er seine Frau doch zu sich.
Das muss bei seinen Nachbarn, denen der Engel nicht im Traum
erschienen war, den Verdacht auf eine Vergewaltigung aufkommen lassen, die ohnmächtig, hilflos, unschuldig erlitten zu haben
eine Eheschließung nicht verbietet. Dass Josef seine Meinung ändert, verdankt er dem Engel und seiner Botschaft: „Josef, Sohn
Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.“
(Mt 1,20)
Josef übernimmt die Verantwortung für Mirjam und das
Kind; er wird ihm den Namen Jesus geben (Mt 1,21.25). Er adoptiert das Kind. Das alte Rechtsprinzip: ‚mater certa, pater incertus
– sicher ist, wer die Mutter, nicht aber, wer der Vater ist’ – das ist
ja heute noch so – führt dann dazu, dass der Vater in der Adoption
sich zu dem Kind als seinem Kind bekennt.
Rainer Maria Rilke spricht in seinem Gedicht Argwohn Jo21
sefs die inneren Spannungen an:
Und der Engel sprach und gab sich Müh
an dem Mann, der seine Fäuste ballte:
Aber siehst du nicht an jeder Falte,
daß sie kühl ist wie die Gottesfrüh?
21
Rainer Maria Rilke: Werke. Herausgegeben von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Bd. 2: Gedichte 1910 bis 1926, Bd 2. Frankfurt/MainLeipzig: Insel 1996, S. 26 f.
163
Doch der andre sah ihn finster an,
murmelnd nur: Was hat sie so verwandelt?
Doch da schrie der Engel: Zimmermann,
merkst du’s noch nicht, dass der Herrgott handelt?
Weil du Bretter machst, in deinem Stolze,
willst du wirklich den zur Rede stelln,
der bescheiden aus dem gleichen Holze
Blätter treiben macht und Knospen schwelln?“
Er begriff. Und wie er jetzt die Blicke,
recht erschrocken, zu dem Engel hob,
war der fort. Da schob er seine dicke
Mütze langsam ab. Dann sang er lob.
Die beiden Geburtsgeschichten des Matthäus und Lukas – die
beiden anderen Evangelien nehmen davon ja keine Notiz – sind in
den Einzelheiten sehr unterschiedlich, einig aber darin, dass das
Kind vom Heiligen Geist stammt. Schaut man genauer hin, ist
aber das Interesse der beiden Evangelisten ein ziemlich unterschiedliches:
- Matthäus ist am Titel ‚Immanuel’ und natürlich seinem Inhalt gelegen: Der ‚Gott ist mit uns’ – so heißt das übersetzt – wird
geboren, und das Evangelium endet mit der Zusage des Auferstandenen: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende
der Welt.“ (Mt 28,20) So schließt sich der Kreis einer großen literarischen Komposition und theologischen Konzeption. Den ‚Immanuel’-Titel findet Matthäus in einer Prophetie des Jesaja gegenüber dem außenpolitisch schwer angeschlagenen König Ahas
734 v.Chr.: „Hört her, ihr vom Haus David! […] Der Herr wird
euch ein Zeichen geben: Seht die junge Frau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben.“ (Jes 7,13.14) Der Prophet
gibt dem unter Druck geratenen König ein Zeichen, das ihm
Hoffnung machen soll: Eine junge Frau wird ein Kind bekommen; noch bevor es so alt sein wird, dass es Gut und Böse unterscheiden kann, wird die außenpolitische Gefahr vorbei sein, weil
Gott sich als ‚Immanuel‘ erweisen wird. Nun wird aus der „jungen Frau“ (hebr. alma) nach der hebräischen Bibel in der griechi164
schen Übersetzung eine ‚parthénos’, was auch die Bedeutung
‚Jungfrau’ zulässt: „Seht, die Jungfrau wird empfangen […].“
- Lukas dagegen will mit dem Wirken des Heiligen Geistes
den ‚Sohn Gottes’-Titel begründen; der Engel verkündet Maria:
„Heiliger Geist wird über dich kommen […]. Darum wird, was
aus dir geboren wird, heilig genannt werden, Sohn Gottes“ (Lk
1,35).
Die offene Baustelle – hier haften nicht Eltern für ihre Kinder, sondern Bischöfe und Theologen für die Gläubigen – betrifft
nicht die Frage, ob die ‚Sohn Gottes-Qualität’ des Jesus von Nazareth im Wirken des Heiligen Geistes begründet liegt; das ist ohne Frage so. Die offene Baustelle betrifft die Frage: Kann Jesus
von Nazareth ‚Sohn Gottes’ genannt werden und sein nur um den
Preis, dass er von einer Jungfrau empfangen und geboren werde?
Nein.
Die spätere theologische Reflexion auf das Unbegreifliche,
das christlicher Glaube von diesem Jesus von Nazareth bekennt:
er sei Gott und Mensch, bekräftigt diese Position:
Das Konzil von Chalkedon – in der heutigen Türkei nahe Istanbul – hält 451 unmissverständlich fest: Jesus sei wahrer
Mensch, in allem uns gleich außer der Sünde. Das widerspruchsfrei zusammen zu denken mit der Aussage, an der Empfängnis
Mariens sei kein Mann beteiligt gewesen, wird nicht einfach sein
– zumal die Entdeckung der weiblichen Eizelle noch keine zwei
Jahrhunderte zurückliegt, ein Wissen darum den Evangelisten
man also nicht unterstellen darf. Das sollte man ihnen fairerweise
als mildernde Umstände gelten lassen.
So geraten manche Kirchenväter – damit sind die bedeutenden Theologen der ersten sieben Jahrhunderte der Kirche gemeint
– in abenteuerliche Verirrungen und lassen den göttlichen Logos
an die Stelle des männlichen Spermas treten. Dann ist aber auch
alles falsch geworden. Der Heilige Geist als Geschlechtspartner
Marias – das ist absurd.22
22
Zu nennen wäre hier z.B. Maximos Homologetes (580-662). Vgl.
Opusculum 4: PG 91,57D-60A; Ambigua 2: PG 91, 1037A.
165
Ein Stammbaum mit Auffälligkeiten
Auch der Stammbaum, die Genealogie, die Matthäus seinem
Evangelium voranstellt, gehört hierher – ein Stammbaum, der von
Abraham bis Joseph die Abstammung mehr konstruiert als rekonstruiert. (Mt 1,1-16) Was besonders auffällt, sind vier Frauen, die
aus dem Rahmen der männlichen Geschlechterfolge fallen und
auch sonst recht auffällig sind: Tamar, Rahab, Rut und Batseba.
Das Besondere dieser Frauen an dieser Stelle hat natürlich
einen Hintersinn – aber welchen? Wie meist gehen die wie meist
gut begründeten Meinungen der Bibelwissenschaftler auseinander.
Ich stelle die Damen kurz vor:
- Tamar verführt ihren Schwiegervater Juda, wird Stammmutter der Judalinie, die nach Rut 4,12 ff. zu David und nach Mt
1,3 dann zu Jesus führt;
- Rahab, die Mutter des Boas, ist eine stadtbekannte Prostituierte in Jericho; sie rettet die beiden Kundschafter Josuas, die
bei ihr eingekehrt sind, indem sie die Häscher des Königs von Jericho täuscht (Jos 2), die dann mit ihrer Familie bei der Eroberung
der Stadt verschont wird (Jos 6,17.22-25). Ihre Tat wird als Tat
des Glaubens (Hebr 11,31) und als rechtschaffenes Werk (Jak
2,25) gerühmt;
- Rut, die den Obed zur Welt bringt, den Vater Jesses, ist eine Moabiterin, eine Volksfremde;
- und Batseba lässt sich von David auf hinterhältige Weise
(2Sam 11) zum Ehebruch verleiten und wird zur Mutter Salomos.
Diese Geschlechterreihe endet mit Joseph.
Gibt es einen gemeinsamen Nenner gerade dieser vier Frauen,
von dem her sich ja dann auch eine Analogie zur Geburt Jesu ablesen lassen müsste?
Offensichtlich handelt es sich bei allen vier Frauen um
Nichtjüdinnen; sie sind in den göttlichen Heilsplan eingebunden,
der in der Geburt Jesu gipfelt. Sie verleihen dem Stammbaum
„einen universalistischen Unterton“ 23, was gut mit der Tendenz
23
Vgl. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. (Mt 1-7) (EvangelischKatholischer Kommentar zum Neuen Testament I/1). Zürich-EinsiedelnKöln: Benziger/Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1985, S. 94.
166
des Matthäus-Evangeliums harmoniert – jedoch trifft dieses gemeinsame Merkmal der vier Stammmütter auf Mirjam von Nazareth gerade zu: Sie ist Jüdin.
Offensichtlich bezeugen die vier Frauen, dass Gott auf
krummen Linien gerade zu schreiben vermag: „Eine göttliche irregularity ist gemeinsamer Nenner zwischen den vier Frauen.
Gottes Heilshandeln geht manchmal unerwartete Wege. Von dieser Interpretation her ließe sich eine Beziehung zur Jungfrau Maria herstellen, bei der die Irregularität gipfelte.“ 24 – Lassen sich
die ‚krummen Linien‘, lässt sich die ‚Irregularität‘ genauer bestimmen? Jane Schaberg schlägt vor:
Die Erwähnung der vier Frauen geschieht mit der Absicht, den Leser
des Matthäusevangeliums eine weitere Geschichte einer Frau erwarten
zu lassen, die auf irgendeine Weise nicht in ihre soziale Umgebung
passt; der Unrecht getan und Schaden zugefügt wird; die an einem sexuellen Akt beteiligt ist, der sie in große Gefahr bringt; und deren Geschichte einen Ausgang nimmt, durch den das soziale Gefüge wiederhergestellt und die Geburt eines legitimen oder legitimierten Kindes
gesichert wird. 25
Schwestern und Brüder Jesu?
Die andere Baustelle: Hatte Jesus Geschwister?
Paulus schreibt von „Brüdern des Herrn“ in herausgehobener
Stellung in der Gemeinde (1Kor 9,5), besonders von „Jakobus,
dem Bruder des Herrn“ (Gal 1,19). Brüder Jesu – im Unterschied
zu den Jüngern – finden auch anderswo Erwähnung.26 In Mk 6,3
und Mt 13,55-56 liest man von „Jakobus, Joses (oder Josef),
Judas und Simon“, ebenso von „Schwestern“: „Ist das nicht der
Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus,
Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter
uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab.“ (Mk
6,3) Es haben sich drei Varianten entwickelt, diese ‚Brüder und
Schwestern’ zu verstehen:
- Man kann sie als leibliche Geschwister Jesu ansehen; die
neutestamentlichen Texte reden ganz unbefangen von ihnen. Ter24
Ebd., S. 93.
Schaberg: „Die Stammütter und die Mutter Jesu“ (Anm. 20), S. 529.
26
Apg 1,14, Joh 2,12 und 7,3, Mt 12,46, Lk 8,19 und Mk 3,31.
25
167
tullian zu Beginn des 3. Jahrhunderts war auch dieser Meinung
gewesen.
- Nach traditioneller katholischer Auffassung handelt es sich
um Vettern und Basen, Kinder einer Schwester Mariens, die denselben Namen trug (Joh 19,25). Man sagt, das hebräische Wort
„Bruder“ könne auch Verwandte entfernterer Grade bezeichnen
(Gen 13,8); das ist im Hebräischen richtig, im Griechischen kann
man aber durchaus Geschwister von Verwandten sprachlich unterscheiden. Weiter sagt man, Jesus habe am Kreuz seine Mutter
dem Jünger Johannes anvertraut (Joh 19,26-27) – hätte es Geschwister gegeben, wären die verpflichtet gewesen, für die Mutter
zu sorgen. Das wiederum setzt aber voraus, dass Jesus am Kreuz
nichts Besseres zu tun gehabt hätte als die Altersversorgung seiner Mutter zu regeln…
- Die ostkirchliche Tradition sieht in den „Brüdern und
Schwestern“ Halb- oder Stiefbrüder und -schwestern Jesu aus einer ersten Ehe Josefs. Diese Vorstellung schöpft aus dem sogenannten Proto-Evangelium des Jakobus, entstanden gegen Ende
des 2. Jahrhunderts n.Chr. Darin gibt der Verfasser an, er sei Jakobus (Kap. 25), der „Halbbruder“ Jesu aus der ersten Ehe Josephs. Auch diese Baustelle mag offen bleiben, zumal die Haftungsfragen ja geklärt sind.
Joseph von Nazareth
Auffällig ist, dass Jesus von den Leuten in Nazaret als ‚Sohn Marias und Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon
und von Schwestern‘ bezeichnet wird. Nicht nach dem Vater,
sondern nach der Mutter wird ein Sohn nur benannt, wenn er entweder illegitimer Herkunft ist, einen nichtjüdischen Vater hat
oder wenn die Mutter Witwe ist. Spätestens vom öffentlichen
Auftreten Jesu an tritt Joseph in den Evangelien nicht mehr in Erscheinung. Die nächstliegende Erklärung ist sein früher Tod.
Wann, wissen wir nicht.
Diese Frage ist nicht allein der Neugier geschuldet. 27 Denn
es fällt ja auf, dass Jesus in seinen Gebeten Gott ‚Vater’ nennt,
27
Vgl. Arno Schilson: „… den Jesus Vater nannte. Über Josef von
Nazareth“. In: Christ in der Gegenwart 1/1981, S. 5 f.; Peter Hirschberg:
168
sogar “Abba“, eine eher intime Anrede, ähnlich dem deutschen
‚Papa‘. Vielleicht erlebte Jesus eine sehr positive Vaterbeziehung,
und dies hat sein Gottesbild geprägt. Dann war zuerst Josef der,
den Jesus ‚Vater, Abba’ nannte. Vielleicht war es aber auch genau
umgekehrt. Ist Josef früh gestorben, hat vielleicht gerade die Gottesbeziehung ihm geholfen, über den Verlust des Vaters hinwegzukommen. Man wüsste es gerne.
Noch etwas zum Zimmermann: Josef braucht man sich nicht
arm vorzustellen – zwei Indizien gibt es dafür und ein überraschendes Bild.
- Das erste Indiz liegt in Bethlehem: Muss er wirklich in
Steuerangelegenheiten dorthin, dann hat er dort Grundbesitz, auf
den es das römische ‚Finanzamt‘ abgesehen hat.
1960 fand ein Archäologe in einer Höhle am Toten Meer Gegenstände
von Juden, die sich nach der Bar-Kochba-Revolte im Jahre 132 vor
den Römern versteckten. Auch Dinge einer Frau namens Babata:
Hausschlüssel, Schmuck und Papiere. Darunter war die beglaubigte
Kopie einer römischen Zensusurkunde – mit Fachwörtern, die in Lukas’ Weihnachtsgeschichte stehen. Das Papier zählt Babatas Grundbesitz auf und legt die Steuer fest. Das geschah auf dem Amt, in dessen
Bezirk der Besitz lag; für Babata und ihren Mann Judanes zwei Tagesreisen von zu Hause entfernt.28
Demnach hätte Joseph also über Pachteinnahmen verfügt.
- Ein zweites Indiz: Nazareth lag nahe Sepphoris, das gerade
nach einer Zerstörung zur Landeshauptstadt aufgebaut wurde –
genug Arbeit für Zimmerleute wie Joseph.
Die Zerstörung geht auf einen Aufstand eines gewissen Judas zurück, der vom römischen Feldherrn Varus brutal niedergeschlagen wurde, den man auch – weniger erfolgreich – aus dem
Teutoburger Wald kennt. Genug Arbeit für einen tékton, so die
griechische Bezeichnung (Mt 13,55): Handwerker für Statik,
Holz- und Steinbearbeitung. Und das überraschende Bild: 29 Die
Jesus von Nazareth. Eine historische Spurensuche. Darmstadt: WBG 2004,
bes. S. 30 ff.
28
Detlev Ahlers: „Ein Ehemann am Rande: Joseph. Vom Tölpel zum
Schutzpatron der Arbeiter“. In: Südwest-Presse 22.12.2007.
29
Vgl. Bernhard Bruns: „Josef und die eine Taube.“ In: Anzeiger für die
Seelsorge 8/1993, S. 371.
169
Hildesheimer Bernwardstür zeigt u.a. auch die Szene, in der Joseph und Mirjam Jesus in den Tempel bringen.
Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte,
gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe
das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde. Dann kam für sie
der Tag der vom Gesetz des Mose vorgeschriebenen Reinigung. Sie
brachten das Kind nach Jerusalem hinauf, um es dem Herrn zu weihen, gemäß dem Gesetz des Herrn, in dem es heißt: Jede männliche
Erstgeburt soll dem Herrn geweiht sein. Auch wollten sie ihr Opfer
darbringen, wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben. (Lk 2,21-24)
Nun trägt aber Joseph in der Darstellung der Bernwardstür unübersehbar nur eine Taube in der Hand, und die andere hat auch
nicht etwa Maria. War da dem größten Sohn Hildesheims ein
Fehler unterlaufen?
Bischof Bernward kannte sein Altes Testament, das Buch
Levitikus. Im 12. Kapitel heißt es dort in den Bestimmungen über
die Reinigung der Wöchnerin:
Der Herr sprach zu Mose: Sag zu den Israeliten: Wenn eine Frau niederkommt und einen Knaben gebiert, ist sie sieben Tage unrein, wie
sie in der Zeit ihrer Regel unrein ist. Am achten Tag soll man die
Vorhaut des Kindes beschneiden und dreiunddreißig Tage soll die
Frau wegen ihrer Reinigungsblutung zu Hause bleiben. […] Wenn sie
ein Mädchen gebiert, ist sie zwei Wochen unrein wie während ihrer
Regel. Sechsundsechzig Tage soll sie wegen ihrer Reinigungsblutung
zu Hause bleiben. Wenn die Zeit ihrer Reinigung vorüber ist, soll sie,
für einen Sohn ebenso wie für eine Tochter, ein einjähriges Schaf als
Brandopfer und eine junge Taube oder eine Turteltaube als Sündopfer
zum Priester an den Eingang des Offenbarungszeltes bringen. […]
Das ist das Gesetz für eine Frau, die einen Knaben oder ein Mädchen
gebiert. Wenn sie die Mittel für ein Schaf nicht aufbringen kann, soll
sie zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben nehmen […]. (Lev
12,1-8)
Die Heilige Familie wird älter: Der erwachsene Jesus und seine
Familie ist ein schwieriges Thema, denn es passt wieder nicht in
die angebliche Idylle. Mit dem öffentlichen Auftreten in Galiläa
verlässt Jesus seine Familie. Und es kommt zum Bruch.
Markus berichtet:
170
Jesus ging in ein Haus, und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten. Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn
mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen (Mk
3,20-21).
Wenig weiter heißt es: „Da kamen seine Mutter und seine Brüder;
sie blieben vor dem Haus stehen und ließen ihn herausrufen.“
(Mk 3,31) Was wollten sie von Jesus? „Wollten sie den durchgedrehten religiösen Neurotiker zurückholen und ihn ein für alle
Mal im heimatlichen Nazareth dingfest machen? Der vorher gefallene Satz, dass ‚er von Sinnen sei‘, lässt dies vermuten. Jesus
wehrt sich gegen dieses familiäre Anspruchs- und Besitzdenken
aufs schärfste.“30 Er sieht sich bei seinen Zuhörerinnen und Zuhörern um und stellt provozierend fest: „Das hier sind meine Mutter
und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen
Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“
(Mk 3,34-35)
Martin Scorseses The Last Temptation of Christ entfaltet
diese Szene breiter: Maria bittet Jesus, mit ihr zu kommen. Da
fragt er sie, wer sie sei. Seine Mutter reagiert wie jede Mutter in
auch nur halb so drastischen Situationen: schockiert und verständnislos: „Deine Mutter.“ Darauf erwidert Jesus: „Ich habe
keine Mutter. Ich habe keine Familie, aber ich habe einen Vater
im Himmel.“ Da bricht Maria zusammen – im Film.
Solche befremdlichen Szenen 31 haben eine hohe historische
Wahrscheinlichkeit – soweit eben Historiker überhaupt etwas
wissen können –, weil gerade die Familie Jesu nach Ostern in der
jungen Christengemeinschaft eine angesehene Rolle spielte, die
leicht hätte verhindern können, dass solche unappetitlichen Geschichten überliefert und aufgeschrieben würden.
Kleists „Weihnachtsgeschichte“
Ich kehre von den biblischen Texten zurück zur Literatur, doch
nicht wieder zu Martin Walser. Ich nütze eine der allerletzten Gelegenheiten, in diesem Jubiläumsjahr des 200. Todestages Hein30
31
Hirschberg: Jesus von Nazareth (Anm. 27), S. 33.
Vgl. auch Joh 7,5; Lk 14,26.
171
rich von Kleist öffentliche Reverenz zu erweisen. „Die Wahrheit
ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war“, schrieb er an seine
Lieblingsschwester Ulrike. 32 Er sei ein „nichtsnütziges Glied der
menschlichen Gesellschaft“.33 Was immer er anpackte, misslang
grandios. Kleist studiert ab 1799 in Frankfurt an der Oder – drei
Semester querbeet. Doch die Wissenschaft ist ihm suspekt. Später
sagt er, Kant sei schuld. Nach dessen Philosophie könne man
nicht entscheiden, „ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft
Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint“34. Durs Grünbein:
Heinrich von Kleist ist der unerreichte Meister der doppelten Böden
und der wechselnden Identitäten. Weil er die Katastrophen kannte,
träumte er Idyllen […].
Einigen gilt er bis heute als pathologischer Fall. Andere sehen in ihm
den Seismographen, der die historischen Umwälzungen im Europa
seiner Zeit, und es waren gewaltige, mit feiner Nadel verzeichnete.
Die Nadel war sein hochempfindsames Herz, nicht mehr nur das bewährte Leitorgan der Romantiker, sondern bei ihm auch Organ für die
Abgründe der Politik, das Wüten der Bürgerkriege, den Verlust des
Vertrauens in historische Sinngebungen, Gottes entsetzliche Ferne und
die Krisen der Philosophie. Kein anderer hat zu seiner Zeit so offene
Worte gewagt. Er war, so weit man sehen kann, der unruhigste Dichter in einer unruhigen Epoche.35
Jetzt zu Kleists Beitrag zu dieser Weihnachtsvorlesung; der liegt
in seiner Erzählung: Die Marquise von O… 36
32
Vgl. Gerhard Stadelmaier: „Kleists Tod“. In: FAZ 19.11.2011, S. 1.
Vgl. Adam Soboczynski: „Schöne Abgründe. Vor 200 Jahren hat sich
Heinrich von Kleist erschossen. Warum er heute noch fasziniert.“ In: Die
Zeit 05.01.2012, S. 37.
34
Vgl. Gerlinde Buch: „Auf Kleists Spuren.“ In: Schwäbisches Tagblatt
09.07.2011.
35
Durs Grünbein: „Der Schrecken im Bade. Heinrich von Kleist ist der
unerreichte Meister der doppelten Böden und der wechselnden Identitäten.
Weil er die Katastrophen kannte, träumte er Idyllen.“ In: Die Zeit
17.11.2011, S. 62 f; hier S. 62.
36
Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… In: ders.: Sämtliche Werke
und Briefe, Bd. 2. Herausgegeben von Helmut Sembdner. München: dtv
1994, S. 104-143. – Die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf
diese Ausgabe.
Vgl. Jochen Schmidt: „Die Marquise von O…“. In: Walter Hinderer
(Hrsg.): Interpretationen: Kleists Erzählungen. Stuttgart: Reclam 2007, S.
172
33
In M …, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O …, eine Dame von vortrefflichem Ruf, und
Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen
bekanntmachen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich
melden solle und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre,
ihn zu heiraten. (104)
Die ersten Sätze reizen die Neugier: „die sexuelle Neugier, wie es
zu dieser unwissentlichen Schwangerschaft kam; die kriminalistische Neugier: wer war der Täter; und schließlich die psychologische Neugier: wie und unter welchen Voraussetzungen wird die
Marquise den Mann, der sie vergewaltigt hat, dennoch heiraten
können?“37 Erst zum Ende der Geschichte wird Kleist wieder in
die Gegenwart der Zeitungsannonce zurückfinden.
Es herrscht Krieg. Russische Truppen stürmen die Festung
der norditalienischen Stadt. Julietta, die Tochter des Kommandanten, fällt feindlichen Scharfschützen in die Hände.
Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben, unter den
schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem
Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der
ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte;
bot dann der Dame unter einer verbindlichen französischen Anrede
den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos
war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel
des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er,
da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen
Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie
sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück. (105 f.)
Man hat vom „berühmtesten Gedankenstrich der deutschen Literatur“ 38 gesprochen: „Hier – traf er [...] Anstalten“. Der Gedankenstrich zeigt in der Darstellung des Geschehens eine Lücke an,
67-84; Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein
Versuch. Frankfurt/Main: Fischer, S. 195-202.
37
Schmidt: „Die Marquise von O…“ (Anm. 36), S. 67.
38
Koschorke: Die Heilige Familie (Anm. 36), S. 197.
173
die der Leser in seiner Vorstellung ausfüllen muss. Die gesamte
Handlung wird jetzt aus diesem Gedankenstrich entwickelt: Die
Zitadelle fällt, der Kommandant mit seiner Familie muss sich ergeben. Noch bevor Julietta sich bei ihrem Retter, Graf F…, bedanken kann, erreicht sie die Nachricht, dass er bei einem Gefecht
in der Nähe von P… gefallen sei. „Julietta! Diese Kugel rächt
dich!“, soll er zuletzt gerufen haben. Doch Graf F… überlebt und
meldet sich bei Juliettas Familie und hält sogleich um ihre Hand
an. Bei Tisch erzählt er von seinen Fieberträumen im Lazarett:
wie die Marquise
beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette gesessen hätte;
wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer
mit der Vorstellung eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern gesehen; daß ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er diesen Schwan einst mit Kot beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Flut wieder
emporgekommen sei; daß sie immer auf feurigen Fluten umhergeschwommen wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, daß er aber nicht imstande gewesen wäre, sie
an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloß am Rudern
und In-die-Brust-sich-werfen; versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, daß er sie außerordentlich liebe: sah wieder auf seinen Teller
nieder, und schwieg. (116)
Der Heiratsantrag kommt für alle anderen doch etwas zu unvermittelt, und Graf F… reist nach Neapel weiter. Unterdessen zeigt
Julietta alle Symptome einer Schwangerschaft und ist sich doch
keiner Schuld bewusst – sie zeigt alle Symptome der Jungfrau,
die zu einem Kind kommt:
Nichts weiter, meine Mutter, versetzte die Marquise und legte ihre
Hand auf die Brust. Nichts, Julietta? fuhr die Mutter fort. Besinne
dich. Ein Fehltritt, so unsäglich er mich schmerzen würde, er ließe
sich, und ich müßte ihn zuletzt verzeihn; doch wenn du, um einem
mütterlichen Verweis auszuweichen, ein Märchen von der Umwälzung der Weltordnung ersinnen, und gotteslästerliche Schwüre häufen
könntest, um es meinem dir nur allzugerngläubigen Herzen aufzubürden: so wäre das schändlich; ich würde dir niemals wieder gut werden.
(122)
174
Auch eine hinzugezogene Hebamme bestätigt den Befund:
Die Marquise, der das Tageslicht von neuem schwinden wollte, zog
die Geburtshelferin vor sich nieder, und legte ihr Haupt heftig zitternd
an ihre Brust. Sie fragte, mit gebrochener Stimme, wie denn die Natur
auf ihren Wegen walte? Und ob die Möglichkeit einer unwissentlichen
Empfängnis sei? - Die Hebamme lächelte, machte ihr das Tuch los,
und sagte, das würde ja doch der Frau Marquise Fall nicht sein. Nein,
nein, antwortete die Marquise, sie habe wissentlich empfangen, sie
wolle nur im allgemeinen wissen, ob diese Erscheinung im Reiche der
Natur sei? Die Hebamme versetzte, daß dies, außer der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestoßen wäre. (124)
Während die Marquise von O… sich ihren Zustand nicht erklären
kann, erhält sie die schriftliche Aufforderung ihres Vaters, wegen
ihrer Sittenlosigkeit das Haus zu verlassen. Das tut sie dann auch
– und setzt von ihrem Landsitz aus diese Zeitungsanzeige auf.
Der große Unbekannte bringt seinerseits eine Annonce in die Zeitung:
Wenn die Frau Marquise von O… sich, am 3ten… 11 Uhr morgens im
Hause des Herrn von G, ihres Vaters, einfinden will: so wird sich derjenige, den sie sucht, ihr daselbst zu Füßen werfen. 39
Wer dann erscheint, ist Graf F… Die Überraschung ist groß –
mehr im Hause der Familie als beim Leser. Nachdem er die Marquise von O… gerettet hatte und sie in Ohnmacht gefallen war,
hatte er sie missbraucht – während des berühmten Gedankenstrichs.
[…] und da der Graf, in einer glücklichen Stunde seine Frau einst
fragte, warum sie, an jenem fürchterlichen Dritten, da sie auf jeden
Lasterhaften gefaßt schien, vor ihm, gleich einem Teufel, geflohen
wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde ihr
damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei
seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre. (143)
Natürlich schreibt Heinrich von Kleist keine Weihnachtserzählung; aber er kennt die biblischen Kindheitsgeschichten Jesu natürlich, und die sakralen Anspielungen sind nicht zu überlesen:40
Der Titelheldin Julietta erscheint ein Engel, sie fällt in Ohnmacht
39
40
Heinrich Kleist: Die Marquise von O… (Anm. 36), S. 131.
Vgl. Koschorke: Die Heilige Familie (Anm. 36), S. 199 f.
175
und erwacht als künftige Mutter; Graf F… als der Engel, der dann
tot geglaubt wie aus dem Grabe erstanden bei der Familie erscheint; die Marquise selbst, der Schwan, dem keine Besudelung
etwas anhaben kann, in ständigen Metaphern der Reinheit gezeichnet; auch das erwartete Kind:
Nur der Gedanke war ihr unerträglich“, heißt es von der Marquise,
„dass dem jungen Wesen, das sie in der größten Unschuld und Reinheit empfangen hatte, und dessen Ursprung, eben weil er geheimnisvoller war, auch göttlicher zu sein schien, als der anderer Menschen,
ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben sollte. 41
Die sogenannte Heilige Familie – sie ist keine Idylle langweiliger
Harmonie. Unregelmäßigkeiten sind die Regel, wie im sogenannten ‚richtigen Leben‘…
41
Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… (Anm. 36), S. 126 f.
176
Hanns-Josef Ortheil
Mönche, Heilige, Märtyrer.
Zur Literatur des frühen Christentums
1
Diese Vorlesung fokussiert auf die Spätantike, eine der wichtigsten europäischen Umbruchzeiten, in der sich die geistigen Konturen des frühen Mittelalters bereits abzeichnen. Dem spannungsvollen und für die abendländische Kulturgeschichte eminent
wichtigen Zeitraum haben sich in letzter Zeit einige besonders interessante religions- und kulturgeschichtliche Forschungen gewidmet. 1 Sie alle beschäftigt die Frage danach, wie das heidnischantike Denken vom christlichen Glauben überformt und umgestaltet wurde. Dabei wurden Inhalte und Strukturen dieses Denkens von den christlichen Theologen teilweise übernommen und
in andere Denkzusammenhänge überführt. Die Texte, die dabei
im Glaubensraum des frühen Christentums entstanden, gehören
noch immer zu den Gründungsurkunden unserer heutigen Welterfahrung und zeigen besonders deutlich, wie sich der christliche
Glaube in all seinen Figuren und Potenzen allmählich von der antiken Philosophie absetzt.
Ich möchte einige dieser Transformationen sichtbar machen
und damit auch den Blick für das Spezifische des frühen Christentums schärfen, sodass die Unterschiede zum antiken, griechischrömischen Denken, aber auch die zu unseren gegenwärtigen Vorstellungen von einer säkularisierten, aufgeklärten Welt deutlicher
werden. Ich werde dabei so vorgehen, dass ich einige der zentralen Figuren und Themen des frühen Christentums anhand von
grundlegenden Texten porträtiere. Dabei handelt es sich vor allem
um den Mönch, den Heiligen und den Märtyrer (und zwar genau
in dieser Reihenfolge, die so etwas wie eine Steigerung von Le1
Guy G. Stroumsa: Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen
der Spätantike. Aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann. Berlin:
Verlag der Weltreligionen 2011; Paul Veyne: Als unsere Welt christlich
wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht. Aus dem Französischen von
Matthias Grässlin. München: C.H. Beck 2008.
177
bensentwürfen meint). Ich werde darüber hinaus aber auch noch
andere „Neuerfindungen“ des frühen Christentums, die unsere
abendländische Phantasie durch Jahrhunderte sehr beschäftigt haben, ins Spiel bringen, so etwa die Figuren des Pilgers und des
Hymnikers.
Die alten Texte, die ich vorstellen werde, sind insgesamt
Prototypen einer neuen, christlichen Literatur und sollen deshalb
auch daraufhin befragt werden, wie sie christliche Lebensentwürfe gestalten, welche Leitbilder sie entwerfen und wie diese Lebensentwürfe und Leitbilder nach besonderen Formen der literarischen Gestaltung verlangen.
2
Wenn ich von Transformationen gesprochen habe, so sind damit
Umbruchprozesse gemeint, die auch den Zeitgenossen selbst bereits in ihrer großen Bedeutung deutlich geworden sind. Das wird
am Auftauchen völlig neuer Begrifflichkeiten deutlich, mit deren
Hilfe man versucht, die Umbruchzeiten zu benennen. So erscheint
plötzlich der Begriff „modernus“ (modo=jetzt, hodiernus=heutig)
zum ersten Mal; um 495/496 n. Chr. ist er eine Begriffsprägung
für das „Jetzt“ der Gegenwart und damit für die christliche „Jetztzeit“, die in einem epochalen Sinn als ganz und gar neue Zeiterfahrung verstanden wird.
Mit „Moderne“ ist dabei nicht das gemeint, was wir heute
damit verbinden, „Moderne“ ist vielmehr ein Gegenbegriff zu
„Antike“, sodass es zur Bildung eines Begriffspaars kommt, das
dann in den folgenden Jahrhunderten in der abendländischen Kulturgeschichte immer wieder eingesetzt und strategisch so ausgebaut und entwickelt wird, dass es zu immer neuen „Modernen“
kommt.
Antiquus-modernus, antik-modern – so lautet das folgenreiche Begriffspaar, das immer aufs Neue Debatten darüber auslösen
wird, wie sich die jeweilige Jetztzeit von ihren Vorläuferzeiten
abhebt und neu definiert. In diesem Sinne können wir sagen: Unsere große „Moderne“ ist seit den ersten durch das Christentum
geprägten Jahrhunderten die Geschichte unserer Jetztzeiterfahrungen, deren jeweilige Gegenwart wir in immer neuen Fixierungen von kleinen Modernen umkreisen. Mit der allmählichen Etab178
lierung des Christentums im Mittelmeerraum und im Abendland
beginnen wir, „modern“ zu denken, indem wir uns immer wieder
neu und immer wieder definitorisch auf „Gegenwart“ und „Jetztzeit“ beziehen. Was aber verbirgt sich hinter diesem sich plötzlich
so stark artikulierenden Zeitbewusstsein?
3
Skizzieren wir zunächst die antike Zeiterfahrung, die sich eng an
eine zyklische Vorstellung von Lebens- und Naturprozessen anlehnt. Das bedeutet nicht, dass ihr der Begriff des Neuen unbekannt ist. Als „neu“ verstehen sich zum Beispiel jene römischen
Autoren, die ihre griechischen Vorbilder nicht nur zu „imitieren“,
sondern, gleichsam mit ihnen wetteifernd, noch zu übertrumpfen
versuchen. Auch die zyklische Zeiterfahrung schließt den Gegensatz von „Altem“ und „Neuem“ also nicht aus, sie versteht diesen
Gegensatz aber in einem eher schlichten Sinn: Die „Neuen“ sind
zeitlich weiter als die „Alten“, irgendwann aber werden auch diese „Neuen“ wieder die „Alten“ sein, und das alles ad infinitum.
„Geschichte“ ist hier noch nicht an den Gedanken der „Entwicklung“ oder des „Fortschritts“ gebunden, sie ist vielmehr „Kreislauf“ in dem Sinn, wie sie der Philosoph Karl Löwith beschrieben
hat:
[Die Griechen] waren von der sichtbaren Ordnung und Schönheit des
natürlichen Kosmos ergriffen, und das kosmische Gesetz des Werdens
und Vergehens war auch das Vorbild ihres Geschichtsverständnisses.
Nach griechischer Weltanschauung bewegt sich alles in einer ewigen
Wiederkehr des Gleichen, wobei der Hervorgang in seinen Anfang zurückkehrt. Diese Anschauung enthält ein natürliches Verständnis des
Universums, das die Erkenntnis zeitlicher Veränderungen mit der von
periodischer Regelmäßigkeit, Beständigkeit und Unveränderlichkeit
vereinigt. Das Unveränderliche, wie es vor allem an der geordneten
Bewegung der Himmelskörper erscheint, war für sie von größerem Interesse und tieferer Bedeutung als alle progressive und radikale Veränderung. 2
Wir haben es bei der antiken Zeiterfahrung daher mit einem einfachen, an der menschlichen Welterfahrung ausgerichteten Mo2
Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart: Metzler
1983, S. 14.
179
dell von Zeit zu tun: Das Leben besteht aus einzelnen Ereignissen, die sich zu Perioden verdichten können. Die Perioden selbst
aber unterliegen dem natürlichen Schema von Geburt, Jugend und
Alterung. Mit anderen Worten: Die antiken Zeit-Vorstellungen
orientieren sich nicht an einem übergeordneten Konzept oder einer Idee von Steuerung oder Sinnzuweisung, sondern am Maß der
menschlichen und kosmischen Zeiterscheinungen und damit letztlich am Zyklus der Jahreszeiten, die periodisch auftreten, in einer
ununterbrochenen Wiederkehr.
4
Die christliche Zeiterfahrung dagegen macht das Erdendasein im
Bild der Pilgerschaft zu einem lediglich vorläufigen Existieren,
das sich auf die zukünftige und endgültige Offenbarung des Heils
vorbereitet. Die Geschichte ist in diesem Verständnis weder eine
Summe beliebiger Ereignisse noch eine Folge kurzfristiger Phasen, die in Analogie zum menschlichen Alterungsprozess gedeutet
und erfahren werden. Erst recht aber fügt sie sich nicht mehr in
die Vorstellungen von einem zyklischen Werden und Vergehen
ein, das keine fundamentalen Einschnitte oder Akzentuierungen
kennt. Im christlichen Verständnis übernimmt die Ankunft Christi
als Ankunft des Erlösers vielmehr eine zentrale Funktion; sie
scheidet das geschichtliche Geschehen in einen Zeitraum vor
Christi und einen nach Christi Geburt. Dieser Ankunft geht nach
theologischer Deutung der Sündenfall des Menschen voraus. Der
Erlöser aber bindet die Schöpfung wieder an Gott und gibt dem
Menschen und seiner Geschichte damit ein Ziel, das ihm in Gestalt des Jüngsten Gerichts dauernd vor Augen stehen soll.
Die irdische Geschichte wird in diesem Vermittlungsprozess
zwischen Gott und Mensch zu einer Übergangszeit und damit zur
Zeit einer Bewährung, in der sich der Mensch auf seine endgültige Erlösung vorbereitet und für das Jenseits bereithält. Die einzelnen Etappen der Geschichte unterliegen dadurch der Gesamtperspektive der Erlösung, sie sind jetzt Punkte einer linearen Verbindung zwischen den Polen Schöpfung – Ankunft des Erlösers –
Jüngstes Gericht.
Augustinus formt den durch diese Auslegung der geschichtlichen Zeit radikalisierten Gegensatz von diesseitigem und jensei180
tigem Geschehen in De civitate Dei 3 weiter aus. Im Gegensatz zu
den antiken Lehren von der Kreisbewegung der irdischen Dinge
orientiert sich sein christliches Denken an der Gestalt des Kreuzes. Als einmaliges, weltgeschichtliches Ereignis von geradezu
allmächtiger Präsenz durchschlägt die Ankunft Christi die scheinbar unveränderliche zyklische Bewegung und hinterlässt einen
Bruch, von dem aus sich die Erfahrung alles Irdischen neu ordnet.
Nur die Gottlosen verstehen das Leben nach diesem Bruch
noch als ziellosen Verlauf eines Auf und Ab der Dinge, denn anders als in der Natur, wo sich in der Tat alles im Kreis bewegt, ist
das Erleben des Menschen durch die überirdische Zukunft geprägt, auf die es sich hinbewegt. In diesem Sinn konzipiert Augustinus den Gegensatz von civitas Dei und civitas terrena. Ist die
civitas Dei eine Gemeinschaft derer, die sich von ihrem Stammvater Abel her als Gemeinschaft der Gottesfürchtigen auf dem
Weg der Pilgerschaft verstehen, so ist die civitas terrena, die sich
von Kain herleiten lässt, die Gemeinschaft derer, die mit dem
Blick auf bloße Zeitlichkeit auch der Sterblichkeit unterworfen
sind.
Im Unterschied zu den antiken Zeit-Vorstellungen sind die
christlichen daher an ein fundamental anderes Zeitverständnis gebunden. Sie orientieren sich am Konzept des Unterwegs-Seins auf
ein Ziel zu, von dem aus das irdische Dasein erst seine eigentliche
Bedeutung erhält. Das diesseitige, irdische Leben unterliegt
dadurch immer der eigentlichen Sinnzuweisung durch das jenseitige, oder, anders gesagt: Das Leben existiert in zwei parallel verlaufenden Zeitintensitäten, einem irdischen Leben und einem jenseitigen, und zwar so, dass das jenseitige das eigentliche Leben
ist, das dem irdischen erst sein Maß, seine Struktur und seinen
Sinn zuweist. Das irdische Leben erhält dadurch eine Ausrichtung
auf Ziele hin, es erhält gleichsam einen linearen und einen vertikalen (spirituellen, zum Himmel hin ausschlagenden) Vektor.
Von dem Moment an, in dem das einzelne Subjekt sich dieser
Ausrichtung unterstellt und sich in sie einfügt, wird sein Leben
von einer völlig neuen Ordnung gefasst und gerahmt.
3
Augustinus: De civitate Dei. Herausgegeben von Christoph Horn. Berlin:
Akademie Verlag 1997.
181
In der Figur des Pilgers wird diese neue, doppelte Orientierung
gut sichtbar. Der Pilger nämlich lässt sein gewohntes Zuhause
hinter sich und begibt sich für einen bestimmten Zeitraum auf den
Weg. Dabei wird er zum peregrinus, zum Fremden, der sich ein
Ziel suchen und sich in einer Folge von Stationen linear darauf zu
bewegen muss. Diese lineare Orientierung verläuft aber parallel
zu einer vertikalen, denn im Grunde sieht der Pilger den Weg
rechts und links von seiner Route nicht, sondern versteht seinen
Weg in einem ganz anderen als dem konkreten Sinn. Zu pilgern
bedeutet dann erheblich mehr, als mit forschender Neugierde in
der Fremde unterwegs zu sein. Wer pilgert, reist vielmehr in spirituellem Auftrag auf ein bestimmtes Ziel (Jerusalem, später Rom,
noch später dann Santiago de Compostela) zu. Die einzelnen Orte
auf diesem Weg waren bedeutende Stationen, an denen man betend und meditierend zur Ruhe kam und sich spirituell auf das
Ziel vorbereitete.
Eine solche Bewegung von Station zu Station mit dem Blick
auf ein großes Ziel führte, literarisch gesehen, zu einer völlig neuen Form von Aufzeichnungen. Darin reagieren die Reisenden
nicht mehr – wie in der klassischen Reisebeschreibung – auf die
pure Attraktion der Fremde, sondern beschreiben, wie und
wodurch sie die Fremde als einen christlichen, spirituellen Raum
erkannt und wie sie sich in ihm bewegt haben.4
In den Vordergrund der Pilgerberichte rückt daher die Praxis
des Pilgerns, konzentriert auf das Beten, Bekennen, Bereuen.
Dadurch wird die Selbstbefragung zu einem zentralen Thema. Zur
Orientierungshilfe dieser gleichsam vortherapeutischen Technik
wurden das Leben Jesu und das Leben der Apostel und Heiligen,
deren Lebensbeispiele und Schriften den Pilgererfahrungen vorausgingen. Das Pilgern festzuhalten, bedeutete in diesem Sinne:
die eigene spirituelle Erfahrung in Verbindung zu den Erfahrungen dieser Vorbilder zu bringen.
So entstand ein vergleichendes und auf kanonische Vorläufertexte Bezug nehmendes Schreiben, das schließlich zu einer
4
Besonders eindrucksvoll ist der frühe Reisebericht der Pilgerin Egeria aus
dem 4. Jahrhundert (Aetheria: Itinerarium=Reisebericht. Übersetzt und
eingeleitet von Georg Röwekamp. Freiburg: Herder 1995).
182
Verinnerlichung des Reisens und zu seiner auch biografischen
Dokumentation führte.
5
Der Pilger macht sich auf den Weg, um ein ganz und gar anderer
zu werden. Diesem Anderswerden geht ein Bruch voraus, denn
der Übergang zum Anderssein vollzieht sich eben nicht durch
allmähliche Veränderung, sondern durch einen radikalen Schnitt.
Das hat Konsequenzen für die biografische Erfahrung des Einzelnen. Zwischen den verschiedenen Lebenskonzeptionen der heidnisch-antiken und der christlichen Ausrichtung gibt es nämlich,
was das biografische Erleben betrifft, keinerlei Übergänge. Der
christliche Glaube bricht vielmehr mit den heidnisch-antiken Vorstellungen auf radikale, unbedingte Art. Wie ein Blitz und wie eine Offenbarung fährt die neue Glaubenslehre in die frühere Ausrichtung der Subjekte, die den Eintritt des Glaubensmomentes in
ihr Leben als eine Überwältigung erfahren, die alle früheren Lebens- und Denkmuster aufhebt und hinter sich lässt. So durchzieht
die Biografien ein Moment des „Davor“ und „Danach“, der den
unvermittelbaren Gegensatz von nicht-christlichem und christlichem Leben als Drama markiert.
Einen solchen dramatisch aufgeladenen Moment erzählt ein
Text, der dann gleichsam das Urmodell für die christliche Offenbarungs-Erfahrung bildet; ich meine die Confessiones des Augustinus. Wahrscheinlich um 397 geschrieben, gruppieren sich
diese Bekenntnisse um das Erweckungserlebnis der „Bekehrung“:
Und da, plötzlich, höre ich die Stimme aus dem Nachbarhaus, wie die
eines Kindes, ich weiß nicht, ob eines Jungen oder eines Mädchens,
die im Singsang ausruft und oft wiederholt: ‚Nimm und lies, nimm
und lies!’ Sofort änderte sich mein Gesicht, und ich überlegte gespannt, ob es etwa ein Kinderspiel gebe, bei dem sie einen solchen
Vers trällern; aber ich konnte mich nicht erinnern, das irgendwo gehört zu haben. Ich...stand auf, denn ich konnte das nur so deuten, Gott
befehle mir, ein Buch aufzuschlagen und die Stelle zu lesen, auf die
als erstes mein Blick fallen werde...Deswegen eilte ich erregt zu dem
Platz zurück, wo Alypius saß, denn dort hatte ich das Buch mit den
Paulusbriefen hingelegt, als ich aufstand. Ich riß es an mich, schlug es
auf und las still für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel:
‚Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und im
183
Bett, nicht in Streit und Neid, sondern zieht den Herrn Jesus Christus
an und sorgt euch nicht um das Fleisch und seine Begierden’.
Weiter wollte ich nicht lesen; es war nicht nötig. Denn sofort, als ich
den Satz zu Ende gelesen hatte, strömte das Licht der Gewissheit in
mein Herz; jegliche Finsternis des Zweifels war verschwunden. 5
Was Augustinus hier vorführt, ist das für die christliche Welterfahrung konstitutiv werdende Moment des Bruchs mit dem alten
und irdischen Leben insgesamt. Dieser Bruch ist ein schmerzhafter, und er zieht den ganzen Körper in Mitleidenschaft. Die bösen
Geister der bloß irdischen Gewissheiten müssen ausgetrieben und
verbannt werden, der Leib krümmt sich darüber in Schmerzen,
dargestellt ist ein psychotischer Schub, der den „schwachen Körper“ in einen Körper der jenseitigen und anderen Welt verwandeln wird. Diese jenseitige Welt spricht aus einer nicht einsehbaren Ferne, und sie erfüllt den Einzelnen mit dem, wie es heißt,
„Licht der Gewissheit“. Dieses Licht ist, wie die Stelle weiter vorführt, Gabe und Gnade, denn es wird einem Zweifler ohne dessen
eigentliches Zutun zuteil. Mit dieser Gewissheit ist zugleich aber
auch das Überdenken, Überprüfen, Raisonnieren verschwunden.
Der gesamte Skeptizismus des antiken Philosophierens löst sich
sofort auf und hat gegenüber der Offenbarung einer „Gewissheit“
keinerlei Raum. Anders gesagt: An die Stelle einer Kultur der
zweifelnden Überprüfung und der stets latenten Verneinung von
Gewissheiten tritt eine Kultur der unbedingten Bejahung, die sich
in geradezu hymnischer Zuwendung zum Jenseitigen artikuliert.
6
Das hymnische Moment wird für die frühchristliche Literatur
dann charakteristisch. Hymnisch sprechen meint: Von der absoluten Gewissheit her sprechen und diese Gewissheit im Gestus eines elementaren Freudenerlebnisses deklamieren. Der berühmte
Text des „Te Deum laudamus“, den – einer sehr hellsichtigen Legende zufolge – ausgerechnet Augustinus während seiner Taufe
angestimmt haben soll, ist für dieses deklamatorische Moment
frühchristlichen Jubels ein gutes Beispiel. Intern handelt dieser
5
Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt, mit Anmerkungen
versehen und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch.
Stuttgart: Reclam 2003, S. 220f.
184
Jubel von der Befreiung von der antiken Skepsis, extern artikuliert er sich als ein Verströmen, das gleichsam in freien Schwingungen den himmlischen Horizont unaufhörlich mit seinem irdischen Abglanz verbindet:
Dich, Gott, loben wir,
dich, Herr, preisen wir.
Dir, dem ewigen Vater, huldigt das Erdenrund.
Dir rufen die Engel alle,
dir Himmel und Mächte insgesamt,
die Kerubim dir und die Serafim,
mit niemals endender Stimme zu:
Heilig, heilig, heilig
der Herr, der Gott der Scharen!
Voll sind Himmel und Erde
von deiner hohen Herrlichkeit.6
Das geradezu Ekstatisch-Schöne einer solchen Strophe hat keine
antike Entsprechung, weder im antiken Götter- noch im Herrscherlob. Literarisch neu ist vor allem das Moment des Stillstands
und der Wiederholung, das zudem noch lauter Worte auf den Plan
ruft, die wie kleine Planeten um Absolutes kreisen: „ewig“, „niemals endend“, „heilig“, „voll von“ – die hymnische Bejahung
lässt das Beschreiben, Besprechen und Zerteilen hinter sich und
schwingt unaufhörlich zwischen immer denselben Polen von
Himmel und Erde, Gott und Mensch – als handle es sich längst
um einen inneren Magnetismus, der die diskursive Sprache gar
nicht mehr kennt.
Eine solche Sprache erscheint, einmal schlicht gesagt, als
eine Sprache des Glücks. Vergleichbares hat es in der Geschichte
noch nicht gegeben, denn die Sprache des Glücks erfasst nichts
Konkretes mehr, sondern genügt sich in der wiederholten Bestätigung des Glückszustandes. „Glückssprache“ behauptet in diesem
Sinne nichts, sie kennt kein Gegenüber und keinerlei Differenzen,
sie pulsiert vielmehr. Hymnisches Sprechen ist pulsierendes Sprechen, das die Gewissheit der Offenbarung von Sekunde zu Sekunde erneuert und nichts sonst will oder tut (hier gründet die
eminente Nähe von Glücks- und Liebessprache, über die der fran6
Adolf Adam: Te Deum laudamus. Große Gebete der Kirche.
Lateinisch/Deutsch. Freiburg: Herder 2001, S.17.
185
zösische Philosoph Bruno Latour gerade ein interessantes Buch
geschrieben hat. Es hat nicht zufällig den Titel Jubilieren und den
Untertitel Über religiöse Rede. 7
Der Immaterialität dieses Sprechens entspricht die Immaterialität der Wesen, die primär über diese besondere Sprache verfügen. Gemeint sind die Engel, die – den Schriften des bis heute
geheimnisvollen Dionysius Areopagita8 aus dem 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. zufolge – jene Wesen sind, die die Lobgesänge
und Hymnen als ihre eigentliche Sprache betrachten und anstimmen. Hymnisch ist das Singen und Sprechen der Engel als eine
Sprache, die am nächsten zu Gott ist. Sie enthält sich des irdischen Vokabulars und ist pures Preisen, sie wird in Gottes nächster Umgebung gesungen und angestimmt, und sie ist, metaphorisch gesprochen, nichts als ein „Rauschen vieler Wasser“. Dieses
Rauschen ist Zeichen der „höchsten Erleuchtung“ und deshalb an
erster Stelle die Sprache der bereits Erleuchteten, also der himmlischen Geister, der Engel:
Deshalb hat auch die Offenbarung der Schrift uns Menschen der Erde
die Lobgesänge überliefert, darin sich die Erhabenheit ihrer höchsten
Erleuchtungen heilig kundgibt; denn ähnlich dem Rauschen vieler
Wasser – um in der Sprache der Sinne zu reden – lassen die einen
Glieder dieser Hierarchie den lauten Ruf erschallen: ‚Hochgelobt sei
die Herrlichkeit des Herrn an ihrem Orte.’
Die anderen antworten, indem sie jenen viel gerühmten Gottespreis in
tiefster Ehrfurcht laut und voll ertönen lassen: ‚Heilig, heilig, heilig ist
der Herr der Heerscharen, die ganze Erde ist angefüllt mit seiner Herrlichkeit.’9
7
Von hier aus aber noch einmal zurück zu Augustinus. Die Confessiones übersetzen die Großerfahrung einer strikten Trennung
von antiker und moderner (christlicher Welt) in eine biografische
Erfahrung und begründen damit zugleich auch das Genre der Autobiografie. Autobiografisch zu denken und zu erzählen, war der
7
Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede. Berlin: Suhrkamp 2011.
Beate Regina Suchla: Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung.
Freiburg: Herder 2008.
9
Dionysius Areopagita: Die Engel-Hierarchie. Übersetzt von Walther
Tritsch. Amerang: Crotona Verlag 2010, S. 59.
186
8
Antike noch fremd. In der christlichen Lebenskonzeption erhält
das historisch neue Modell des autobiografischen Sprechens jedoch eine zentrale Aufgabe: Die Subjekte erzählen sich ihr Leben
als eine fortschreitende Offenbarung, indem sie beginnen, Stationen der Offenbarung zu unterscheiden, ihre Dramen immer wieder zu vergegenwärtigen und sich im Blick auf den einen inneren,
psychischen Fortschritt der Offenbarung zu begreifen. Sich dem
autobiografischen Blick zu unterziehen, bedeutet von daher: Das
eigene Leben nicht als klein, peripher oder kontingent zu verstehen, sondern es als den Versuch einer Komposition zu begreifen.
Wenn das geschieht, stellen sich die neuen Fragen: Woraus besteht diese Komposition? Aus welchen Elementen und Aktionen?
Und wie wird aus der Einsicht in solche Elemente und Akte dann
das Kontinuum einer Erzählung?
Die gesamte Grundtechnik der modernen TagebuchLiteratur ist in diesen Fragen bereits angelegt und vorbereitet; in
christlichem Sinn erscheint sie zunächst als „Suche nach dem
richtigen Weg“. Erste Tagebuch-Konzepte findet man denn auch
nicht in der Antike, sondern im christlichen Raum dort, wo ein
einzelner Gläubiger beginnt, seinen Lebenswandel zu protokollieren und die Zeit im Blick auf das christliche Heilsprogramm einer
Kontrolle zu unterwerfen: War der Tag auch „erfüllt“? Was habe
ich an ihm getan? Was versäumt? Solche Fragen ziehen Rituale
der Meditation und der Selbstbesinnung nach sich und führen zu
Gebeten (dem Morgengebet, den Tischgebeten, dem Abendgebet,
dem Nachtgebet), die den Tag gliedern, bis hin zu Ritualen der
Beichte und Buße.
Protokollierende Sichtung des Lebens betrachtet das Leben
also gleichsam vom Jenseits und vom Himmel aus und gibt dem
Zeitverlauf des biografischen Erlebens dann auch eine neue
Struktur. Nicht die irdische Zeitrechung ist zentral und vor allem
bindend, sondern die christliche, die sich einen eigenen Kalender
und ein eigenes Jahresleben – das christliche Jahr – gibt.
Der christliche Kalender ist mit seinen Hochfesten zunächst
um die Dreiheit von Weihnachten, Ostern und Pfingsten gruppiert. Das Kirchenjahr ordnet die Zeit neu, indem es die Wochen
und Monate von diesen Festen her zählt und gestaltet. Dabei erhält jeder einzelne Tag eine spezifische Bedeutung, indem er im
187
christlichen Heiligenkalender als Tag eines oder mehrerer Heiliger vermerkt ist. Der christliche Kalender ist also Nachvollzug
des Lebenswegs Christi („imitatio“) und Nachvollzug des Lebens
der Märtyrer und Heiligen (und damit der Gründerväter der Kirche auf dem ganzen Erdkreis).
Wollte man diesem doppelten Nachvollzug heutzutage noch
folgen, so müsste man Tag für Tag den „Immerwährenden Heiligenkalender“10 bemühen. Ein Blick in diesen Kalender würde uns
an jedem Tag mit dem Leben eines Heiligen konfrontieren, dessen „Vergegenwärtigung“ (in Gebet oder Gottesdienst) auf das
Leben Jesu verweisen würde. Stellt der Gläubige diesen Bezug
von Präsenz und Tradition her, so öffnet er sein eigenes Leben
(„imitatio“) hin auf die Zukunft.
Der christliche Kalender nimmt sich in dieser Art des gesamten biografischen Zeitverlaufs bis in jedes Tagesdetail an: Der
einzelne Tag erscheint nicht mehr isoliert, er ist vielmehr Gedenkund Erinnerungstag und damit auch ein Tag, der nun entworfen,
gestaltet und begangen werden muss. Die Momente der Abwendung vom irdischen Leben und der Zuwendung zu einem Dasein
der „erfüllten Zeit“ mit der Perspektive einer „imitatio Christi“
führen dann geradezu zwangsläufig zu einem Lebensprogramm,
das sich in der Abgeschiedenheit eines Raums im Rahmen besonderer, dafür vorgesehener Zeitphasen ausschließlich auf diese
„imitatio“ konzentriert. Klöster und ihre Bewohner, die Mönche,
sind dann Teil eines solchen Radikalprogramms. In der sogenannten Benediktsregel, die der heilige Benedikt im 6. Jahrhundert
nach Christus geschrieben hat, liegt uns der erstaunliche und wiederum absolut neuartige Text vor, der ein solches Lebensprogramm entwirft.
8
Die Benediktsregel beginnt mit den Worten und der Anrede eines
erfahrenen Meisters, der einen Novizen auffordert, sein Leben an
den Idealen der christlichen Lehre auszurichten:
10
Albert Christian Sellner: Immerwährender Heiligenkalender. Frankfurt/Main: Eichborn 1993.
188
1 Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat!
2 So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du
durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast.
3 An dich also richte ich jetzt mein Wort, wer immer du bist, wenn du
nur dem Eigenwillen widersagst, für Christus, den Herrn und wahren
König, kämpfen willst und den starken und glänzenden Schild des
Gehorsams ergreifst.11
Dieser Beginn des Prologs erneuert die augustinische Bekehrungsszene und macht sie zugleich zu einem Programm. Der bereits ältere Meister spricht den jüngeren Novizen an, indem er
nicht an sein verständiges Ohr, sondern an das „Ohr seines Herzens“ appelliert. Indem der Novize diesen Appell annimmt, vollzieht er den Akt der Besinnung und Verinnerlichung und entwirft
in der nun empfangsbereiten und erleuchteten Kathedrale des Inneren (des „Herzens“) das einzige Bild und die einzige Figur, die
in diesem Innern leuchten soll, das Bild des Herrn und wahren
Königs Jesus Christus.
Die Aufgabe des Eigenwillens ist damit eine Abkehr von
den Bildern der Vielzahl und eine Rückkehr zu dem einen, nie aus
dem Auge zu verlierenden, alle anderen Regungen dominierenden
Bild Gottes, es ist die Vorstufe zum Gebet. Als ganzes ist die angemahnte Stufenfolge der „Verinnerlichung“ kein Akt bloßer
Meditation oder Selbstbesinnung, sondern ein Akt der radikalen
Überführung des eigenen Lebens in den Dienst für Christus. Die
Betonung der „Tat“ und des Tätig-Werdens ist von großer Bedeutung, indem sie den endgültigen Bruch mit den Tätigkeiten des
vergangenen, als „ungehorsam“ (oder falsch) deklarierten Lebens
markiert: Sie ist endgültige Tat und hat damit nicht mehr einen
beiläufigen oder beliebigen Charakter.
Der Meister der Benediktsregel spricht dabei im Charakter
und im Ton von Unterweisungen, aber er gruppiert sie nicht mehr
– wie es in der Antike in solchen Fällen noch geschah – in lockerer, unverbindlicher, improvisierter Form, sondern als einen sorgfältig komponierten, alle Einzelheiten des Lebens in den Blick
11
Die Benediktsregel. Lateinisch/Deutsch. Herausgegeben von P. Ulrich
Faust. Stuttgart: Reclam 2009, S. 7.
189
nehmenden Plan oder als ein Gesamtprojekt, das eine lückenlose,
alle Lebensdetails miteinander kombinierende und auf die christliche Lehre hin ausrichtende Lebensführung anstrebt.
Insgesamt besteht die Benediktsregel dann aus über siebzig
Kapiteln, deren Themen die gesamte Praxis des Mönchslebens
umfassen und gleichzeitig theoretisch legitimieren. Das reicht
vom Gottesdienst in der Nacht über Fragen danach, wie und wo
die Mönche schlafen sollen, wie mit kranken Brüdern umzugehen
ist und was und wo gelesen werden soll, bis hin zu Regeln zur
Aufnahme von Gästen, zur täglichen Handarbeit oder zur Bemessung der Speisen und Getränke.
Es sind Konzepte von Totalität und Universalität, die dieser
Lebensführung zugrunde gelegt werden. Jede Stunde des Tages
und der Nacht gerät dadurch in den Blick. So geht es um die richtige Haltung beim Psalmensingen ebenso wie um die Arbeit in
den klösterlichen Gärten und Anlagen oder die Arbeiten in der
Küche, ja selbst Themen wie Kleidung und Schuhwerk werden
behandelt. Der innere Weg, der sich dann aus der Befolgung der
Regeln ergeben soll, ist ein Weg der stufenweise erfolgenden Erleuchtung, der schrittweisen Ausblendung alles für diesen Weg
Unwesentlichen und der immer reineren Konzentration auf den
letztlich einzigen, wahren Inhalt des mönchischen Lebens: die
Nachfolge des Lebens Christi.
Das noch heute Verblüffende an diesem einzigartigen und
sehr folgenreichen Dokument ist die Lückenlosigkeit der Empfehlungen, die sich sowohl auf Raum und Zeit erstrecken. In diesem
Sinn ist der Klosterraum ein geschlossener, von außen her unzugänglicher Raum, dessen Teilräume unterschiedlichen zeitlichen
Aktivitäts- oder Besinnungsphasen gewidmet sind. Über die zentrale Empfehlung an die Mönche - „ora et labora!“ - sind diese
Phasen lückenlos und dicht miteinander verknüpft. Die Arbeitsphasen am klösterlichen Raum und Bestand gehen unmittelbar in
die Phasen des Gebets und der Meditation über, und diese verwandeln sich unverzüglich wieder in Arbeitsphasen. Der Kirchenund der Klosterraum erscheinen so wie Refugien unterschiedlicher, aber ausschließlich christlicher, bekennender und dieses Bekenntnis umsetzender Aktivität. Im Hintergrund dieses lückenlosen Programms spürt man daher förmlich eine Art Horror vacui,
190
als dürfte es um keinen Preis auch nur einen Moment geben, der
einen Ausstieg oder eine vorübergehende Suspendierung von diesem Programm erlaubte.
Der Mönch ist (übrigens ebenso wie der Pilger) eine Figur
ohne Auszeit, er trägt sein Gewand von der Frühe bis in die
Nacht, und er bleibt in jeder dieser Stunden dem Totalprogramm
einer Lebensführung unterworfen, die den Einzelnen auf jedem
seiner Schritte begleitet und nicht einmal ein Stolpern erlaubt
oder vorsieht.
9
Will man sich eine Steigerungsform dieser totalen Inanspruchnahme des Subjekts für den Glauben, wie sie für das junge und
frühe Christentum sehr charakteristisch ist, vorstellen, so rückt die
Figur des Heiligen in den Blick und damit wiederum eine neue
literarische Gattung dieser Frühzeit: die Heiligenvita. Um ihre Eigentümlichkeiten zu verdeutlichen, möchte ich auf die Vita sancti
Martini (Das Leben des heiligen Martin) eingehen, die in der
Spätantike dann gleichsam zum Prototyp der Heiligenviten des
Mittelalters wurde. Geschrieben hat diese Schrift ein gewisser
Sulpicius Severus, der ein Nachkomme eines aquitanischen
Adelsgeschlechts war und wahrscheinlich in der Mitte des 4.
Jahrhunderts nach Christus zur Welt kam und etwa um 420 nach
Christus starb.
Severus’ Biographie ist eine typische dieser frühchristlichen
Zeit insofern, als sie in ihrem Verlauf wie eine Parallelaktion zur
Biografie des heiligen Augustinus erscheint. Denn auch Severus
wächst zunächst in den Traditionen der griechisch-römischen Antike auf, erhält Rhetorik-Unterricht und wird ein angesehener
Anwalt. Der berühmte Bruch in seinem Leben ereignet sich mit
dem Tod seiner Frau. Denn nach diesem Tod zieht er sich, übrigens zusammen mit seiner Schwiegermutter, auf ein Landgut zurück, wo er sich, getragen von einem asketischen Lebenswandel,
an die Ausarbeitung seiner Schriften macht. Etwa in diesen Jahren
muss er auch die Bekanntschaft des heiligen Martin von Tours
gemacht haben, dessen tief christliches Lebensprogramm ihn derart beeindruckte, dass er immer wieder über diesen Heiligen
schrieb.
191
Was nun ist aber das literarisch so Besondere an seiner Heiligenvita? Zunächst fallen die Widmung und die kurze Einleitung auf,
in der sich Severus Gedanken über sein eigenes Schreibprojekt
macht. Was, fragt er sich bei dieser Gelegenheit, unterscheidet
denn die christliche Schriftstellerei eigentlich von der antiken,
griechisch-römischen?
1 (1) Gar viele Sterbliche versprachen sich in eitler Hingabe an weltliches Streben und weltlichen Ruhm ein, wie sie meinten, fortdauerndes
Andenken an ihren Namen davon, wenn sie das Leben berühmter
Männer mit ihrer Feder verherrlichten. (2) Dies brachte freilich durchaus nicht auf Dauer, aber immerhin ein wenig die Erfüllung der Hoffnung, die sie hegten, weil sie ihr Andenken, wenn auch vergeblich,
verlängerten und die Leser durch die Beispiele großer Männer, die sie
ihnen vorsetzten, in nicht geringem Maße zum Nacheifern anstachelten. Doch für jenes selige und ewige Leben hatte dieses ihr Bestreben
keinerlei Bedeutung. (3) Was nämlich nützte ihnen der mit der Welt
vergehende Ruhm ihrer Schriften, oder welchen Vorteil zog die
Nachwelt daraus, wenn sie von den Kämpfen des Hektor oder der Philosophie des Sokrates las? Zeugt doch sie nachzuahmen nicht nur von
Torheit, sondern sie nicht heftigst zu bekämpfen sogar von Wahnsinn,
da sie das menschliche Leben allein nach den gegenwärtigen Taten
bewerteten, ihre Hoffnungen in Fabeleien setzten und ihre Seele dem
Grab weihten. (4) Sie meinten ja, sich allein dem Gedächtnis der
Menschen dauerhaft einprägen zu müssen, wo es doch Aufgabe des
Menschen ist, eher ewiges Leben als ewiges Andenken zu erstreben,
nicht durch Schreiben oder Kämpfen und Philosophieren, sondern
durch ein frommes, gottgefälliges und gottesfürchtiges Leben. (5)
Dieser Irrtum der Menschen freilich wirkte durch die literarische
Überlieferung so stark, dass er durchaus viele Anhänger fand – sei es
der eitlen Philosophie, sei es jenes törichten Heldentums. (6) Deshalb
scheint es mir ein lohnendes Unterfangen zu sein und der Mühe wert,
das Leben des hochheiligen Mannes aufzuzeichnen, das anderen bald
zum Vorbild dienen wird. Dadurch werden die Leser gewiss zur wahren Weisheit, zum himmlischen Kriegsdienst und zur gotterfüllten
Tugend angespornt werden. Wir rechnen uns dabei auch einen eigenen
Vorteil aus, insofern wir nicht eitles Andenken von den Menschen,
sondern ewigen Lohn von Gott erwarten, weil wir uns – auch wenn
wir selbst nicht so gelebt haben, dass wir andern ein Vorbild sein kön-
192
nen – dennoch bemüht haben, dass der, den es nachzuahmen gilt, nicht
unbekannt bleibe. 12
Die griechisch-römische Schriftstellerei ist also, wie es heißt, bloßes Schreiben, das nicht besser ist als bloßes Kämpfen oder bloßes Philosophieren. In der christlichen Welt wird aus diesem bloßen Schreiben ein Dienst an der wahren Weisheit und damit ein
Kriegsdienst in himmlischem Sinn. Ein solcher Kriegsdienst
strebt nicht nach Ruhm (eitles Andenken schaffen und eitles Andenken ernten), sondern ersehnt die Belohnung von Gott. Seine
eigentliche Konsequenz ist daher sogar die Tilgung des Autorennamens: nicht ein namentlich benannter Sprecher soll aus dem
Geschriebenen heraus reden, sondern die Sache selbst soll sprechen.
Die Vita präsentiert das Leben des heiligen Martin von
Tours dann in 27 Kapiteln in biografischer Folge: Mit nur wenigen Zeilen werden Herkunft und Kindheit beschrieben, dann aber
steuert die Schrift sofort auf ihr eigentliches Thema zu. Dieses
Thema ist die heilige Existenz, die gegenüber der Existenz der
Mönche insofern eine Steigerungsstufe ist, als sie höchstens als
ein Wunder begriffen werden kann:
So suchte er denn als Zehnjähriger gegen den Willen seiner Eltern in
einer Kirche Zuflucht und verlangte, als Katechumene aufgenommen
zu werden. (4) Alsbald wandte er sich auf wunderbare Weise ganz
dem Dienst an Gott zu: Im Alter von zwölf Jahren brannte er darauf,
Einsiedler zu werden, und hätte seinen Wunsch auch in die Tat umgesetzt, wenn nicht sein zartes Alter ihn daran gehindert hätte. Aber sein
Sinn kreiste ständig um Eremitentum und Kirche, und er bereitete sich
geistig schon im Knabenalter auf das vor, was er später gottergeben
erfüllte.13
Voller Wunder ist bereits das Leben des jungen Martin, indem es
das Leben Jesu nicht nachahmt, sondern ihm gleicht. Wie Jesus
nämlich zieht er sich in den Tempel oder die Kirche zurück und
wie Jesus sucht er die Trennung von den Vielen und ein Leben,
12
Sulpicius Severus: Vita sancti Martini. Das Leben des heiligen Martin.
Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von
Gerlinde Huber-Rebenich. Stuttgart: Reclam 2010, S.9 f.
13
Severus: Vita sancti Martini (Anm. 12), S.13.
193
das sich ganz auf die Lehre konzentriert. Wie eine solche Haltung
entsteht – darüber wird nicht einmal nachgedacht. Die unbedingte
Haltung ist vielmehr von vornherein voraussetzungslos da. Der
kindliche Martin lebt bereits ganz aus der Gewissheit des Glaubens, und eine solche Gewissheit braucht nicht weiter befragt
oder gedeutet zu werden.
Als heilsgewisse Existenz ist das Leben des Heiligen dann
nichts anderes als ununterbrochene Wunderwirkung. Schon sein
bloßes Erscheinen macht Wunder möglich, und zwar genau an
Orten und gegenüber Personen, an denen und denen gegenüber
die Wunderwirkung am unwahrscheinlichsten ist. So während einer Reise durch die unwegsamen und gefährlichen Alpen:
Als erstes fiel er in den Alpen auf abgelegenen Wegen unter die Räuber. Als einer [schon] die Axt erhoben und zum Hieb gegen sein
Haupt ausgeholt hatte, da hielt ein anderer, bevor er zuschlagen konnte, seine Rechte zurück. Martin aber wurden die Hände hinter dem
Rücken gebunden, und man übergab ihn [wieder] einem [anderen],
der ihn bewachen und ausrauben sollte. Als der ihn an einen noch entlegeneren Ort geführt hatte, begann er ihn auszuforschen, wer er denn
sei. Martin antwortete, er sei ein Christ. (5) [Der Räuber] fragte ihn
auch, ob er sich fürchte. Da aber erklärte er seelenruhig, dass er niemals so furchtlos gewesen sei, weil er wisse, dass die Barmherzigkeit
des Herrn sich besonders in bedrohlichen Situationen als hilfreich erweisen werde. Er bedauere vielmehr jenen, da er – wegen seines Räuberhandwerks – der Barmherzigkeit Jesu nicht würdig sei. (6) Und er
begann eine Erörterung über das Evangelium und predigte dem Räuber das Wort Gottes. Um es kurz zu machen: Der Räuber nahm den
Glauben an, geleitete Martin zurück auf seinen Weg und bat ihn, beim
Herrn für ihn Fürbitte einzulegen. Und derselbe [Mann] führte augenscheinlich in der Folge ein so gottgefälliges Leben, dass man das, war
wir oben berichtet haben, von ihm selbst gehört haben soll. 14
Ähnlich wie hier gestaltet sich das Heiligenleben dann als ein
immer weiter in die Lebensprozesse eingreifendes Wunderwirken: Martin kann Tote zum Leben erwecken, Lahme gehend machen, Besessene durch Dämonenaustreibung heilen, ja selbst den
Teufel zum Kampf herausfordern. Sogar die Engel stehen ihm zu
Gebot und greifen helfend in seine Auftritte ein, wenn er ihr Erscheinen beschwört. So bringen seine Wundertaten die Wunderta14
Severus: Vita sancti Martini (Anm. 12), S. 22 f.
194
ten Jesu nicht nur in Erinnerung, sondern zur Beglaubigung. Was
Martin an Wunderbarem tut, ist das, was Jesus an Wunderbarem
getan hat.
Der Heilige ist in diesem Sinne die Erneuerung der Präsenz
des Gottessohnes in einer sein Leben biografisch kopierenden
Form. So erstaunt es nicht, dass der Autor Sulpicius Severus seine
Schrift mit einem Höhepunkt beschließt, an dem er von nichts anderem erzählt als von seiner eigenen Begegnung mit dem Heiligen. In dieser Begegnung aber erlebt er den heiligen Martin nicht
nur bei der gestischen Durchführung des Abendmahls und der ihr
folgenden Fußwaschung als ein distanzierter Beobachter, sondern
als seinen Meister und sich selbst als seinen Jünger.
Die Schrift endet dann in der uns bereits bekannten Ekstatik
des Hymnus, als Lob des Heiligen, das, wie wir von der Lektüre
des „Te Deum laudamus“ her wissen, Glücks- und Liebessprache
ist. Ihr literarisch-formales Moment ist der Jubel, und ihr literarisch-inhaltliches die ewige Gleichförmigkeit des Glücks, das alle
anderen psychischen Regungen hinter sich lässt. So ist das Psychogramm des Heiligen von überwältigender Reinheit und von
geradezu bestürzender Unveränderlichkeit. Heilige sind, könnte
man sagen, Heilige erscheinen, könnte man fortfahren und schließen: Heilige haben keine Vita:
Niemand sah ihn jemals erzürnt, niemand aufgebracht, niemand betrübt, niemand lachend; er war sich immer gleich. Himmlische Freude
spiegelte sich in gewisser Weise in seinen Zügen, und er schien außerhalb der menschlichen Natur zu stehen. Niemals führte er etwas
anderes im Mund als Christus, (2) niemals trug er etwas anderes im
Herzen als Frömmigkeit, Frieden und Barmherzigkeit. 15
10
Der Pilger, der sich auf den Weg macht und damit den radikalen
Bruch mit seinem bisherigen Leben vollzieht, der Rhetor und antike Philosoph, der plötzlich die Stimme Gottes hört und von diesem Moment an bekehrt ist und das Gotteslob anstimmt, der
Mönch, der alle Stunden des Tages, gebunden an ein ausgeklügeltes Programm von Ritualen, dem Gottesdienst widmet, und der
Heilige, der Jesu Leben nicht mehr nur nachahmt und ihm folgt,
15
Severus: Vita sancti Martini (Anm. 12), S. 71.
195
sondern dieses wundertätige Leben selbst wieder in Szene setzt –
all diese Figuren sind hochdramatische Erscheinungen, die das
Ungeheuerliche der neuen Glaubensbotschaft als „frohe Botschaft“ und als Botschaft einer unmittelbaren, durch die Reflexion
nicht zu erreichenden Gewissheit verkörpern. Kann man sich über
diese Dramenfigurationen des Unbedingten hinaus aber etwa
noch eine letzte Steigerung vorstellen?
Im frühen dritten Jahrhundert nach Christus schreibt der
Kirchenlehrer Origenes wahrscheinlich in Palästina an einem
Text, den man vom Genre her als eine Art Werbungstext bezeichnen könnte. In der Antike gehen solche Texte unter anderem auf
Aristoteles zurück, der sich in einem solchen Werbungsschreiben
dafür einsetzte, Philosophie zu betreiben und sich den philosophischen Schulen anzuschließen. Die Werbungsschrift des Origenes
hat den Titel Aufforderung zum Märtyrertum, und sie visiert
gleichsam das Äußerste einer vorstellbaren Nachahmung Christi,
das Martyrium, an, durch das man dem Tod Christi am Kreuz
folgt.
Ein solcher Schritt führt in letzter Konsequenz über das Leben der Heiligen hinaus. Setzen die Heiligen Jesu Leben neu in
Erscheinung, so gehen die Märtyrer in einer nochmals gesteigerten „imitatio“ mit ihm in den Tod. Oder, in der Sprache des Origenes: Die Märtyrer trinken mit Jesus den „Kelch des Heils“ bis
zur Neige.
Was aber das Martyrium bedeutet und welchen Freimut es Gott gegenüber verleiht, kann man durch folgende Überlegung begreifen. Da
der Heilige einen gewissen Ehrgeiz besitzt und die ihm von Gott erwiesenen Wohltaten vergelten will, denkt er darüber nach, was er
wohl dem Herrn zum Dank für alles, was er von ihm empfangen hat,
erweisen könne, und findet, dass ein Mensch mit guten Vorsätzen Gott
nichts anderes erweisen kann, das seine Wohltaten gewissermaßen
aufwiegt, als den Märtyrertod. Im 115. Psalm steht zunächst die Frage: ‚Was soll ich dem Herrn zum Dank geben für alle Wohltaten, die
er mir erwiesen hat?’ Die Antwort aber, die derjenige auf seine Frage
erhält, was er dem Herrn als Gegengabe für alle von ihm empfangenen
Wohltaten geben solle, wird so ausgedrückt: ‚Den Kelch des Heils
werde ich nehmen und den Namen des Herrn anrufen.’ Als Kelch des
Heils wird üblicherweise das Martyrium bezeichnet, wie wir es im
Evangelium gefunden haben. Denn dort wird berichtet, dass der Herr
196
zu denen, die nach größerer Ehre strebten und zur Rechten und zur
Linken Jesu in seinem Reich sitzen wollten, sprach: ‚Könnt ihr den
Kelch trinken, den ich trinke?’ Mit dem Ausdruck ‚Kelch’ meinte er
das Martyrium. Das verdeutlicht folgende Stelle: ‚Vater, wenn es
möglich ist, nimm diesen Kelch von mir, doch nicht, was ich will, soll
geschehen, sondern was du willst.’ Außerdem erfahren wir, dass der,
der jenen Kelch trinkt, den Jesus getrunken hat, neben dem König der
Könige thronen und zusammen mit ihm herrschen und richten wird.
Das also bedeutet der Kelch des Heiles: Wer ihn ergreift, wird den
Namen des Herrn anrufen, ‚jeder aber, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.’ 16
Mit der Konzeption des Märtyrertums als ultimativer Form der
Frömmigkeit kommen die christlichen Heilsvorstellungen in aller
Konsequenz zu ihrem Abschluss. Dem Lehrer im Sterben zu folgen, stellt den äußersten körperlichen Beleg des Glaubens dar,
den das Christentum bei der Gestaltung seiner prototypischen Figuren und Konzepte ins Spiel bringt.
Dieser Figuration gegenüber erscheint das Pilgern zwar als
mühsame und oft steinige Wanderschaft, letztlich aber doch als
gering. Ihr gegenüber sind die asketischen Bemühungen der
Mönche zwar vorbildliche Ausrichtungen auf das Leben Christi,
folgen diesem Leben aber eben nicht bis zum Äußersten. Und ihr
gegenüber verwirklicht der Heilige mit dem Einsatz seines Lebens zwar die Präsenz von Jesu Leben in dauerndem Kontakt mit
den himmlischen und oft wunderbaren Mächten, aber eben noch
nicht in der Gewissheit, nach dem Tod den höchsten aller Plätze
im himmlischen Jenseits einzunehmen. Deshalb heißt es bei Origenes, schon mit dem Blick auf die himmlischen Sitz- und
Throngelegenheiten an der Seite Gottes im Jenseits: „Die Märtyrer werden höher erhoben werden, als sie erhöht worden wären,
wenn sie zwar gerecht, nicht aber Märtyrer gewesen wären.“ 17
Ein so unbedingter Rigorismus lässt einen am Ende kurz
verstummen und nach einem Ausweg für unser heutzutage märtyrerfreies Dasein suchen. Was sollen wir tun? ließe sich fragen.
Mit dem Pilgern anfangen, würden die alten, großen Kirchenleh16
Origenes: Aufforderung zum Martyrium. Eingeleitet und übersetzt von
Maria-Barbara von Stritzky. Berlin-New York: De Gruyter 2010, S. 69 ff.
17
Origenes: Aufforderung zum Martyrium (Anm. 16), S.109.
197
rer der Frühzeit raten. Das ist, meine ich, schon unter gesundheitsdiätetischen Gesichtspunkten und damit selbst in einer durch
und durch säkularisierten Welt kein schlechter Rat. Die nächsten
Pilgerwege verlaufen zum Glück mitten durch Hildesheim. 18
18
http://www.hildesheim.de/staticsite/staticsite.php?menuid=1630&topmenu=4.
198
Annett Gröschner
Herrgottswinkel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Den Alten war der Herrgottswinkel die Stätte frommer Andacht. Die
Bilder der Heiligen umgaben das Kreuz: der Rosenkranz hing ihm zu
Füßen. Immergrüner Efeu, das Bild fester Beständigkeit, schmückte
es 1,
heißt es in dem Buch Christliche Heimgestaltung, erschienen als
16. Band der Religiösen Schriftenreihe der Buchgemeinde 1940.
Bis in die fünfziger Jahre gab es reichlich Nachauflagen des Buches. Die Fotos zeigen schmucke, saubere Wohnungen, als hätte
der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden oder sei − Dank des Glaubens − gänzlich an ihren Bewohnern vorbeigegangen.
Landläufig ist ein Herrgottswinkel eine christliche Zimmerecke in der Wohnstube. Er besteht aus einem Kruzifix und Heiligenbildern. Durch Ikonen, die Bibel, das Gesangbuch und frische
Blumen kann er leicht zu einem Hausaltar erweitert werden.
Vor einem Herrgottswinkel kann man andächtig knien zum Gebet,
und wohltuend ist es, unter dem Kreuz niederzusitzen zu stiller Ruhe,
zu besinnlichem Lesen oder häuslicher Arbeit,2
heißt es in der Christlichen Heimgestaltung weiter. Diese Art seelischer Mitte 3, in der Fastenzeit vor allem dazu da, das Leiden
Christi in den Mittelpunkt des häuslichen Lebens zu stellen, ist
selbst im katholischen Hildesheim fast ausgestorben. Im 20. Jahrhundert haben erst das Radio und dann der Fernsehapparat diesen
Platz übernommen. Als das noch Kästen waren, bildeten die Geräte oft den Sockel für den privaten Hausaltar mit Bildern und
Objekten, der sich bei laufendem Gerät zu dem vermischte, was
im Zusammenhang mit der Arbeit Die Welt im Wohnzimmer des
Künstlers Timm Ulrichs aus dem Jahr 2008 über Hausaltäre auf
1
Clara Wirtz: Christliche Heimgestaltung. Bonn: Verlag der Buchgemeinde 1940, S.126.
2
Clara Wirtz: Christliche Heimgestaltung (Anm. 1), S.126.
3
Clara Wirtz: Christliche Heimgestaltung (Anm. 1), S.126.
199
laufenden Fernsehern „Terror der Dreifaltigkeit, nämlich Kitsch,
Kirche und Katastrophe“ 4 genannt wurde.
In nahezu jeder Wohnung gibt es jenen besonderen Ort, an
dem, auch jenseits von Glauben oder Religiosität, persönliche
Gegenstände ausgestellt werden. Vor zwei Jahren fragten wir in
dem Projektsemester mit dem Titel Glauben machen nach diesen
persönlichen Hausaltären in Hildesheim. Wir fanden Setzkastenaltäre, Startrek-Altäre, Fußballaltäre, Buddhistische Ecken, italienische Familien- und ukrainische Essensaltäre, Kreuze am Straßenrand für Verunfallte, heilige Porzellansammlungen und bei
einer Blinden einen Riech-Altar aus Parfümflakons. Selbst der
Professor für Katholische Religion besaß einen Altar, der nicht
Gott, Jesus oder Maria, sondern dem Schriftsteller Walter Kempowski gewidmet war. Nur in einem Seniorenheim fanden wir
schließlich eine heilige Ecke für die verstorbenen Bewohner. Wir
fuhren nach Hannover in eine Kaserne und fragten die Stabsgefreiten und –offiziere, was sie mit in den Auslandseinsatz nehmen. Wir bekamen neben Plüschhirschen, Holzkreuzen und
Christophorusplaketten auch Vodoopuppen zu sehen, die bei jedem neuen Einsatz nach Afghanistan vorgeschickt werden, um
den Feind in Schach zu halten. 5
Wir fanden eine Sehnsucht nach Spiritualität, Transzendenz,
Schutz und Trost. Manchmal auch Vergewisserung. Wie aber ist
es, übertragen auf die deutsche Gegenwartsliteratur, mit den
Herrgottswinkeln?
Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf einzelne Beispiele
der jüngeren und jüngsten Literatur und frage nur nach christlichen Zeugnissen und das mehr assoziativ als wissenschaftlich begründet, mehr als Schriftstellerin, denn als Germanistin.
Das Thema Religion und Literatur hat in den letzten Jahren
nicht zuletzt durch die Diskussionen über Islam und Islamismus
nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 und den angeblichen Clash of Civilisations eine Konjunktur erfahren. In der
schöngeistigen Literatur der siebziger und achtziger Jahre gibt es
Timm Ulrichs: Die Welt im Wohnzimmer: Das Fernsehgerät als Sockel
und Hausaltar, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2009, S. 13.
5
Nachzulesen im Buch von Stephanie Drees, Annett Gröschner (Hrsg.):
Hildesheimer Herrgottswinkel. Hildesheim: Edition Pächterhaus 2011.
200
4
kaum Herrgottswinkel, Kirche und Religion spielen selten eine
Rolle. Kann man also im Blick auf die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller unserer Zeit von einer Renaissance
des Religiösen sprechen? Spiegelt sich in Lyrik, Prosa und Drama
ein neuer, ein anderer Umgang mit dem Phänomen Religion? 6,
fragte der Religionspädagoge Georg Langenhorst anlässlich der
Konferenz Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer
Liason, die 2007 an der Theologischen Fakultät der Universität
Basel stattfand. Eine breite Tendenz zur Renaissance, so konstatiert er, ließe sich nicht finden, überhaupt könne von einer Wiedergeburt im eigentlichen Sinne keine Rede sein, eher eine postmoderne Fortentwicklung. „Gleichwohl lässt sich der erstaunliche
Befund verifizieren: Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller
gehen im 21. Jahrhundert unbefangen, neugierig, kreativ mit religiösen Fragestellungen um.“ 7
Etwas kritischer sah das im Februar 2011 eine Konferenz an
der Christian-Albrechts-Universität Kiel, die nach der Gegenwart
des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und
Literaturkritik fragte. Sie ging von der Beobachtung aus, dass die
deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in den letzten Jahren bevorzugt solche Autoren (Arnold Stadler 1999, Martin
Mosebach 2007, Josef Winkler 2008, Walter Kappacher 2009)
auszeichnete, deren Alleinstellungsmerkmal „entweder in einem
an ältere Konventionen angelegten Schreibstil oder im ostentativen Festhalten an herkömmlichen Wertvorstellungen (speziell in
puncto Religiösität) liegt“. 8
Das entscheidende Novum dieser Situation ist darin zu vermuten, dass es – trotz oberflächlicher Affinitäten – nicht mehr um
ein (im Sinne von Leslie A. Fiedlers postmoderner ‚Moderne’Kritik) souveränes ‚Spiel’ mit überkommenen Formen gerade ihrer Überkommenheit wegen geht. Vielmehr handelt es sich dem
6
Albrecht Grözinger, Andreas Mauz, Adrian Portmann (Hrsg.): Religion
und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liason. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S. 53.
7
Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6),
S. 54.
8
http://www.konservativismus.eu/pagecontents-zansehen-617-46-0S29uemVwdAdec2.htm, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012.
201
Anschein nach um einen nicht-ironisch intendierten, daher auch
nicht-eklektischen Versuch, den Anschluss an einen vergangenen
Standard wiederherzustellen und dessen Regeln in die Gegenwart
herüberzuretten. 9 Auch im Sinne einer Rückkehr zum Elitegedanken.
Um den vorkonzilianischen Katholizismus eines Martin
Mosebach soll es hier nicht gehen, auch nicht um die Erweckungs- und Erlösungsphantasien in den letzten Büchern Martin
Walsers, wie Mein Jenseits (2010) oder zuletzt Muttersohn
(2011), in der der angeblich vaterlos (Jesus!) gezeugte und als
Krankenpfleger in einer psychiatrischen Klinik arbeitende Hauptheld Percy Anton Schlugen die Patienten durch seinen Messianismus in Verzückung bringt.
In meinem Vortrag geht es anhand ausgewählter Beispiele
um Gegenwartsliteratur, in der das Religiöse nicht Programm
oder Thema ist. Es geht um säkulare, nichtmessianistische Werke,
in deren Ecken sich aber Herrgottswinkel befinden, die nicht zu
übersehen, aber auch nicht Mittelpunkt des Raumes sind. Für den
schon zitierten Georg Langenhorst gestaltet vor allem die Gattung
der von autobiographischer Erfahrung geprägten, dennoch fiktiv
ausgestalteten Romanliteratur religiöse Fragen auf vielfältigste
Weise. „Im Rückblick auf das eigene Heranwachsen wird der
jetzt 40- bis 60jährigen Schriftstellergeneration deutlich, dass und
wie Religion eine prägende Wirkung ausgeübt hat.“ 10 Anders als
bei vorherigen AutorInnengenerationen ginge es nicht mehr in
erster Linie um eine Abrechnung mit den negativen, weil einschränkenden Wirkungen der Unterdrückung durch religiöse Erziehung. Es ginge viel mehr um eine
ausgewogene Darstellung, um offene, positive wie negative Wirkung
beschreibende Deutung von Religion und der sie vertretenden Institu-
9
http://www.konservativismus.eu/pagecontents-ansehen-617-46-0S29uemVwdAdec2.htm, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012.
10
Georg Langenhorst: „Konfession und Gottesrede im Werk Ralf
Rothmanns”. In: Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6), S. 56.
202
tionen für den Prozess der eigenen und damit indirekt der gesellschaftlichen Selbstwerdung. 11
Als Beispiele für diese literarische Strömung zitiert Langenhorst
Autoren wie Ulla Hahn, Petra Morsbach und Paul Ingendaay.
Die schöne Maria und die Madonna von Smolensk
Als Beispiel könnte hier − und um in Hildesheim zu bleiben −
Hanns-Josef Ortheils Lebensroman: Die Erfindung des Lebens
stehen. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in der
Nachkriegszeit neben einer stummen Mutter aufwachsend, selbst
stumm bleibt und erst durch die beharrliche Unterstützung des
Vaters und durch die Entdeckung seiner Begabung für die Musik
eine Sprache findet. Auf dem Weg dahin, im doppelten Sinne,
meint es doch den Lebensweg als auch den Weg vom Haus in die
Schule durch Köln, kommt er auch an einem Herrgottswinkel
vorbei.
Eine andere Station, die ich regelmäßig aufsuchte, war die Nische
mit der schönen Maria in der kleinen Kirche. Dort zündete ich eine
Kerze an, kniete mich vor das Altarbild und erzählte der schönen
Maria und meinen gestorbenen Brüdern, was mir durch den Kopf
ging. Dass die schöne Maria und meine Brüder mich den ganzen Tag
über begleiteten, das spürte ich, nicht genau aber war herauszubekommen, ob sie auch meine Gedanken kannten. War das denn möglich, dass sie vom Himmel aus meine Gedanken lasen und alles mitbekamen, was ich überlegte? Da ich in dieser Hinsicht nicht sicher
war, fasste ich meine Überlegungen in der dämmrigen Nische in
Kurzform zusammen. So kam zumindest für die Dauer meiner Gebete etwas Ordnung in meine Gedanken, auch wenn diese Ordnung,
kaum dass ich die kleine Kirche verlassen hatte, sofort wieder durcheinandergeriet. Das jedoch konnte ich außer Acht lassen, denn ich
dachte wahrhaftig, dass es die Aufgabe der schönen Maria und meiner gestorbenen Brüder sei, sich um meine in der Kirche geordneten
Gedanken zu kümmern, ich selbst konnte doch keine Antworten auf
meine vielen Fragen wissen, und am wenigsten wusste ich, wie die
vielen Probleme, die sich jetzt in der Schule auftaten, zu lösen wären.
Ich schlug denn auch gar nicht erst solche Lösungen vor, sondern be11
Georg Langenhorst: “Konfession und Gottesrede im Werk Ralf
Rothmanns”. In: Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6), S. 56.
203
endete die Erzählungen von meinen Sorgen und Nöten einfach mit
zwei Gebeten. Das Vater unser im Himmel und das Gegrüßet seist
du, Maria..., mit diesen beiden Gebeten kam man in jeder Notlage
aus.12
Ein ähnlicher selbstverständlicher, aber zumindest im folgenden
Werk manchmal etwas überspannt daherkommender Umgang mit
dem Glauben findet sich in den Romanen und Erzählungen des 15
Jahre jüngeren Wetterauer Autors Andreas Maier. Dabei verstärkt
sich die Auseinandersetzung mit Religion und Glauben von Buch
zu Buch mehr, so als gehörte zum Älterwerden auch ein dringlicher werdender Gottesbeweis. In der Wochenzeitung DIE ZEIT
legte Maier Zeugnis darüber ab: „Irgendwann habe ich damit angefangen, mir die Verwendung des Wortes Gott zu gönnen. Wenn
man sich dieses Wort verbietet, hat man extreme Schwierigkeiten,
bestimmte Dinge zu sagen.“ 13 In seinem Roman Sanssouci von
2008, der im eher atheistischen Potsdam spielt, wird Gott vor allem in einer Lichtgestalt, der eines orthodoxen, sehr heiligen und
moralisch unanfechtbaren Mönchs namens Alexej reichlich gehuldigt. Im scharfen Gegensatz dazu ist das verschlungene Labyrinth unter dem Park von Sanssouci um so dunkler und rätselhafter.
Für Alexej lag das Wesen des orthodoxen Christentums
nicht zuletzt in einem Sich-Versenken. Das Licht, die Dunkelheit,
der Glanz und der Gesang. Der sich immer wiederholte, waren
Mittel dazu. Tolstoi schimpfte in seinem Roman Auferstehung
sehr über dieses Mittel und hielt es für das Gegenteil dessen, was
Jesus als das klare Wort Gottes verkörpere. Aber Tolstoj war
Aufklärer, er war ein Utopist.14
Kinder von Vegetarierinnen heißen hier Jesus und in einem
Kellerloch wird einer leichtbekleideten Zwillingsschwester gehuldigt, die der Heiligen Madonna von Smolensk ähnlich sieht,
werden Sätze gesagt, wie: „Weißt du, daß die ganze Welt voller
Engel ist? Sie sind überall, fliegen um uns herum, und sie sind
12
Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens. München: Luchterhand
Literaturverlag 2009, 119f.
13
Andreas Maier: „Ich gönne mir das Wort Gott”. Gespräch. In:
ZEITLITERATUR (2005) März, S. 33.
14
Andreas Maier: Sanssouci. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 85.
204
schön, die Engel. Die Engel bringen das Licht.“ 15 Oder Fragen
gestellt, wie die, ob die Seelen im Himmel transparent sind.
In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen 2006 hat Andreas
Maier das Matthäusevangelium als seine höchste literarische Referenz bezeichnet:
Ich bin nur ein Mensch auf der Suche nach Worten, die längst schon
gefunden sind, die im Matthäusevangelium schon alle dastehen, in
perfekten logischen Sequenzen, schärfer als Wittgenstein es je gekonnt hätte, eine erschöpfende Analyse dessen, warum wir falsch sind
und warum wir dadurch schuldig werden vor allem und vor jedem,
nämlich bloß kraft unseres wahrheitsfernen Tuns. Und mit dem seltsamen Satz: Das größte philosophische Werk des Abendlandes. Das
uns nichts sagt als bloß: Seid nicht. Das uns sagt: Wenn ihr aufhört, zu
sein, dann seid ihr.16
Manchmal scheint es, als wolle Maier die Säkularisierung als
sprachbildende Kraft auf etwas kauzige Art wieder rückgängig
machen, den heiligen Texten die Aura des unbefragt ewig Gültigen, des Unterwerfung Fordernden wieder zurückgeben und wenn
nicht er, dann doch wenigstens seine Figur Alexej. Ironisch, gar
postmodern, ist da nichts gemeint.
Diese affirmative, aber gleichzeitig unideologische Haltung
in Fragen der Kirche und Religion gibt es selten in der Gegenwartsliteratur. Nicht wenige aus der älteren und mittleren Generation deutscher Schriftsteller haben Kirche und Religion als beengend, moralisierend und furchteinflößend erlebt. Zuletzt haben
auch die Missbrauchsszenarien der Katholischen Kirche in artifizieller Weise Eingang in die schöngeistige Literatur gefunden.
Als Beispiel sei hier Albert Ostermeier genannt, der im Sommer
2011 seinen Roman Schwarze Sonne, scheine, veröffentlichte, in
dem es weniger um den körperlichen als um den seelischen Missbrauch geht, eine Geschichte der Erweckung eines Künstlertums
aus dem Geist des Missbrauchs, könnte man sagen. Und man
könnte auch sagen, das Ganze kommt etwas überspannt daher.
Ich blickte auf das Chorgestühl der Mönche, links und rechts des Altars. Darüber thronten die Emporen, auf denen wir während der Messe
15
16
Maier: Sanssouci (Anm. 14) Zit. n. Klappentext.
Andreas Maier: Ich. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 75.
205
saßen, über den Köpfen der Mönche, die Blicke gesenkt auf ihre
Häupter und glaubensvertieften oder schlafenden Gesichter. Blickte
herab auf die Lehrer, zu denen ich sonst aufblickte. Mir kam vor, es
gäbe kein Oben und kein Unten, kein Links und kein Rechts, sondern
eine Art Gemeinschaft, eine gemeinsame Augenhöhe. Keine Furcht,
keine Angst, Fehler, Schwächen. Intrigen, Verzweiflung, Verrat, aber
auch Versöhnung, Verbundenheit, Vertrauen auf einen Zusammenhalt, der stärker war als das Trennende. (...) Wie befreiend musste es
sein, sich zu trennen. (...) Jede Trennung war für mich etwas Undenkbares, ein Denkverbot. 17
Ijoma Mangold schrieb in der ZEIT über den Roman:
Schwarze Sonne, scheine, erzählt nicht von der Macht über die Körper, sondern von der Macht über die Seelen. Und dringt damit tiefer
ein ins katholische Mysterium. Die Macht über die Körper, der sexuelle Missbrauch, hat nichts Katholisches, sondern ist Pathologie, die
lediglich eine katholische Struktur nutzt, die ihrem Treiben günstig ist.
Die Macht über die Seelen aber − das ist der Glutkern der 2000jährigen Geschichte der römischen Kirche, ihr Anspruch, allein selig
machend zu sein.18
Das aus der katholischen Badewanne geschüttete Kind
Sprachmächtig ist auch die Prosa von Karl-Heinz Ott, aber niemals metaphernselig.
Ott setzte sich in seinem ersten Roman Ins Offene nicht ohne Groll mit seiner, bis weit in die sechziger Jahr noch sehr bigotten katholischen oberschwäbischen Heimat auseinander. Ins Offene macht einem bewusst, wie stark sich die bundesrepublikanische Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren veränderte und vor
allem in ländlichen katholischen Gegenden die religiösen Fesseln
ablegte, sich säkularisierte. Plötzlich schickten sich auch Sachen,
für die Mitte des 20. Jahrhunderts das Fegefeuer noch zu kalt gewesen wäre. In Ins Offene fährt der Erzähler zu seiner Mutter, die
im Sterben liegt. Er ist lange nicht dagewesen, zu unangenehm
waren die Erinnerungen eines Vaterlosen. Nicht einmal bei der
Beerdigung der Mutter kann der Pfarrer erwähnen, dass sie ein
17
Albert Ostermaier: Schwarze Sonne scheine. Berlin: Suhrkamp 2011,
S. 75.
18
http://www.zeit.de/2011/23/L-B-Ostermaier, zuletzt aufgerufen am 8.1.
2012.
206
Kind geboren hat, zu groß ist die Schande, auch wenn das Kind
schon 40 ist. Heimat ist eng. Und engherzig.
Zur Heimat gehörten das ganze Jahr über: die Glockenseile in der Kapelle, am einen Strang der Mesner, am andern einer von uns Ministranten, das knirschende Kirchenportal, die zitternden Hände des Pfarrers, die Hostien mit der Kreuzkerbung, der Weihrauchduft, die wehende Wäsche im Garten, die schmalen Beete usw. Heimat war: Der
Adventskalender, der heilige Nikolaus und Knecht Ruprecht, die
Krippe mit dem Jesuskind, den Eseln und den Schafen, der Christbaum. 19
Der „eingeschnürte Gesichtskreis ums Dorf herum“ 20, nennt Ott
das. Hier wird nichts als die Bibel gelesen, der Kirchenkalender
mit den Heiligenlegenden, fromme Heftchen mit Fürbitten und
Sinnsprüchen sowie das Gemeindeblatt. Da bleibt nur die Phantasie in einem Landstrich, der, so Ott, „von einem düsteren Ort
überwacht wird“ 21, einem Ort, aus dem der Erzähler floh, als es
ihm möglich war und, wie so oft, durch die Kunst.
Wie früher beim Ministrieren kommen mir groteske Situationen in
den Sinn: Alle fangen plötzlich an zu stolpern, der Pfarrer verspricht
sich ständig, die Liturgie endet in schallendem Gelächter. Ich muss
mich zwingen, nicht zu grinsen. Während tiefernster Momente scheint
die Seele dafür zu sorgen, nicht in zuviel Würde zu ertrinken. 22
In seinem 2008 erschienenen Roman Ob wir wollen oder nicht
spinnt Ott die Geschichte weiter. Hier ist es eine Ich-Figur, die
wegen angeblich versuchten Totschlags in Untersuchungshaft
sitzt und in einer 200 Seiten langen Suada seine Unschuld erklärt.
Der Mann um die Fünfzig war einmal aufgebrochen, die ganze
Welt zu verändern, schließlich aber als Aussteiger in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen am Rand eines inzwischen durch
den Bau einer Autobahn von der Welt abgeschnittenen Dorfes
hängengeblieben, wo von den großen Veränderungen nur noch
ellenlange Monologe übrigblieben, die im Gefängnis zu Selbstgesprächen werden. Mit dem Helden wohnt ein ehemaliger Pfarrer,
19
Karl-Heinz Ott: Ins Offene. Wien: Residenz 1998, S. 64.
Ott: Ins Offene (Anm. 19), S.64.
21
Ott: Ins Offene (Anm. 19), S.74.
22
Ott: Ins Offene (Anm. 19), S.125.
20
207
der vor Jahren vom Vorwurf des Kindesmissbrauchs freigesprochen wurde und nun jeden Tag dieselbe Arie aus Haydns Schöpfung hört und theologische Probleme wälzt, die niemanden interessieren, und dabei heilige Wutausbrüche bekommt,
vor allem bei Themen, die im Grunde überhaupt nichts Persönliches
an sich hatten, sondern – ganz im Gegenteil – mit diesen biblischen
Übersetzungsfragen und dem ganzen weltanschaulichen Wirrwarr zusammenhingen. 23
Das Buch beschreibt den Niedergang einer Existenz:
Hätte ich nicht schon als Kind in der Werkstatt daheim an Traktoren
herumgeschraubt, könnte ich heutzutage nicht einmal Autos zerlegen,
mit diesen drei, vier Semestern Seminare sprengen, Häuser besetzen
und Kapital-Kurse absitzen, Kurse, bei denen ich immer sofort müde
wurde, deshalb aber umso emsiger den Übereifrigen mimte und, wie
alle anderen auch, in so gut wie jedem Satz die Worte Profit, System,
Dialektik und Mehrwert unterbrachte, vor allem die Dialektik, immerzu mit Blick auf jenes Reich der Freiheit, von dem die Beflisseneren
unter uns natürlich wussten, dass es im dritten Band auf Seite achthundertachtundzwanzig auftaucht, dick angestrichen, vor allem der
Satz, dass es dort anfängt, wo das Arbeiten aufhört, weshalb ich, genaugenommen, seit sieben Jahren zu denen gehöre, die bereits im Paradies leben. Weil der Weg von den Kapital-Kursen zu der Aussteigerkommune auf einmal nicht kurz genug sein konnte und von da an bald
alle halbe Jahre neue Glaubensbekenntnisse die Runde machten, suchten ein paar von uns schließlich das Heil in ständig wechselnden
Weltbildern, bis Tina eines Tages nach Poona pilgerte, Anja ins Religiöse abdriftete, Andi die Kneipe seiner Alten in der Pfalz übernahm
und Kai im Sessel vor laufender Kamera tot aufgefunden wurde. 24
Karl-Heinz Otts Werk beschreibt eine Befreiung aus zwei als Fesseln gesehenen Weltanschauungen, der katholisch-bigotten der
oberschwäbischen Heimat und der katholischen Internate und die
Gegenbewegung der siebziger Jahre, die das Kind mit dem Bade
ausschüttete.
Ganz anders die Herrgottswinkel im metaphorischen Sinne
im Werk der fast gleichaltrigen Sibylle Lewitscharoff, einer be23
Karl-Heinz Ott: Ob wir wollen oder nicht. Hamburg: Hoffmann und
Campe 2008, S. 16.
24
Ott: Ob wir wollen oder nicht, (Anm. 23), S. 195.
208
kennenden katholisch-schwäbischen Religionswissenschaftlerin
und einer der momentan wichtigsten Autorinnen des deutschen
Literaturbetriebs. Auf die Frage, wie sie die Liason beschreiben
würde, die Literatur und Religion in ihrem Schreiben eingehe,
antwortete sie: „Eine lockere, zuweilen unseriöse Verbindung“.25
Das Religiöse sei seit ihrer Kindheit präsent und nie verdrängt,
müsse also nicht in die Erinnerung gerufen werden. Religiöse
Anklänge in ihrem Werk sind vielschichtig und weitgehend intellektuell geprägt. Sie kommen ohne Weihrauch und Myrrhe aus.
Mit dem naiven Kinderglauben gibt sich die Autorin nicht ab.
Schon in ihrem Roman Consummatus sind die religiösen Erfahrungswelten nicht im Kind, sondern in der erwachsenen Hauptfigur angesiedelt. Der 55jährige Ralph Zimmermann hat eine Reise
ins Totenreich gemacht und berichtet darüber. Er will mit dem
Wodka aufhören, weil Jesus ihn fortan wärmen wird. Die Sprache
des Helden ist von religiösen Begriffen und Zitaten geprägt, es
gibt theologische Volten, Darstellungen von Gotteserfahrungen
und Jenseitsreiseberichte. Um die Kirche geht es dabei in keiner
Silbe, der Glaube des Ralph Zimmermann ist anarchisch. 26
Anders im neuen Roman der Autorin, Blumenberg. Dem
Philosophen, der dem Roman den Titel gab, erscheint eines Tages
ein Löwe im Arbeitszimmer, der nur für seine Augen sichtbar ist
und Blumenberg wie auch dem Leser in seinem unsicheren Wirklichkeitsstatus Rätsel aufgibt.
Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um
sie in das Aufnahmegerät zu stecken, da blickte er von seinem
Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, Gelb, Atmend; unzweifelhaft ein
Löwe. Der Löwe sah zu ihm her, ruhig sah er zu ihm her aus dem Liegen, denn der Löwe lag auf dem Bucharateppich, in geringem Abstand
zur Wand. Es musste ein älterer Löwe sein, vielleicht nicht mehr ganz
bei Kräften, aber mit der einzigartigen Kraft begabt. Da zu sein. Das
erkannte Blumenberg zumindest auf den zweiten Blick, während er
noch um Beherrschung rang. 27
25
Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 6),
S. 181.
26
Sibylle Lewitscharoff: Consummatius. München: DVA 2006.
27
Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, Berlin: Suhrkamp Verlag 2011, S. 9.
209
„Ist eine religiöse Lesart auf den Roman anwendbar?“, fragte die
Literaturkritikerin Sigrid Löffler die Autorin bei einer Lesung im
November 2011 im Literaturforum im Brechthaus. „Nicht ausschließlich“ 28 , antwortete Lewitscharoff. Sie legt Wert darauf,
dass in die Konzeption des Löwen nicht nur dessen lange Geschichte als christliches Symbol, sondern auch seine vorbiblische
Bedeutung als Herrschaftsbegleiter eingegangen sei, wie am Anfang des Romans erwähnt:
Agaues falscher Löwe. Die Fabel vom Hoftag des Löwen. Der Löwe
des Psalmisten, brüllend. Der aus dem Lande Kanaan für immer verschwundene Löwe. Das Symboltier des Evangelisten Markus. Maria
Aegyptiaca und ihr Begleitlöwe. Das fromme Tier des Hieronymus im
Gehäus. Wer war der Löwe? Sein Gedächtnis sollte die Bibel im
Schnelldurchlauf durchforsten? 29
Auch das abschließende Tableau des Romans, in dem alle Protagonisten sich nochmals in einer Höhle versammeln, bevor sämtliche Seinsgewissheiten sich langsam auflösen, will Lewitscharoff
nicht durchweg als religiös aufgeladene Szene verstanden wissen.
Sie gehe vielmehr auf Blumenbergs letztes Werk über die Höhle
zurück. Außerdem ginge es um einen Philosophen. Löffler fragte
weiter, ob Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die Lewitscharoffs Werk zuteil werden, auch zu tun hätten mit einer zeitgenössischen Haltung, die die Restitution eines konservativen Wertesystems und insbesondere die Wiederbelebung der Institution
Kirche anstrebe? Lewitscharoff meinte, sie lehne den „Feuilletonkatholizismus“ als zu naiv ab, obwohl sie schon sagen müsse,
dass sie ein „Kind der Zeit“ sei, das auf einer Welle mitschwimme. 30 Und wie heißt es am Anfang des Romans: „Blumenberg
bekam Lust zu sagen: Ich bin katholisch, du kannst mich ruhig
fressen, aber er behielt die Frivolität lieber für sich.“ 31
28
Zit. n. Lenard Petersen: „Rückkehr zum Katholizismus mit Skepsis”.
Übung zur Kritik anlässlich der Lesung von Sibylle Lewitscharoff im
Literaturforum im Brechthaus am 2.11.2011, Moderation Sigrid Löffler,
o. S. unveröffentlicht.
29
Lewitscharoff: Blumenberg (Anm. 27), S. 12.
30
Zit. n. Lenard Petersen: „Rückkehr zum Katholizismus mit Skepsis”
(Anm. 28), unveröffentlicht.
31
Lewitscharoff: Blumenberg, (Anm. 27), S. 10.
210
My Religions 32
Braucht es für diesen Vortrag ein eigenes Bekenntnis? Um es mit
dem großen Filmemacher Luis Bunuel zu sagen: „Gott sei Dank
bin ich Atheist.“ 33 Atheistin in meinem Fall. Und mehr als jegliche Spielart des Monotheismus interessierten mich die griechischen Götter. Doch wie bei allem Verschwiegenen oder Verbotenen in dem Land, wo ich ursprünglich herkomme, verspürte ich
einen Reiz, mit Sechzehn in die christliche Buchhandlung zu gehen und eine Bibel zu kaufen und sie dann auch zu lesen, um die
unausgegorenen Früchte der Lektüre bei erstbester Gelegenheit
dem Staatsbürgerkundelehrer unter die Nase zu reiben. Aber eigentlich ging es darum, die abendländischen Traditionen zu verstehen, was nicht gelang, wenn man nur die Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik kannte. Die Bibel las ich, um Gedichte zu verstehen, wie jenes von Heiner Müller, eine Vorarbeit
für das Stück Der Auftrag, nach einer Erzählung von Anna Seghers:
Motiv bei A.S.
Debuisson auf Jamaika
Zwischen schwarzen Brüsten
In Paris Robespierre
Mit zerbrochenem Kinn.
Oder Jeanne D'Arc als der Engel ausblieb
Immer bleiben die Engel aus am Ende
FLEISCHBERG DANTON KANN DER STRASSE KEIN FLEISCH
GEBEN
SEHT SEHT DOCH DAS FLEISCH AUF DER STRASSE
JAGD AUF DAS ROTWILD IN DEN GELBEN SCHUHN.
Christus. Der Teufel zeigt ihm die Reiche der Welt
WIRF DAS KREUZ AB UND ALLES IST DEIN.
32
Nach Losing My Religions der Band REM, allerdings nur assoziativ, da
es eigentlich ein Südstaatenausdruck ist, der am besten mit „Die Nase voll
haben“ übersetzt wird.
33
Zitiert nach dem gleichnamigen Buchtitel: Gott sei Dank bin ich Atheist.
Gott als Thema in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Klaus
Vellguth. Lahr: Verlag Ernst Kaufmann 2001.
211
In der Zeit des Verrats
Sind die Landschaften schön.34
In den achtziger Jahren war die evangelische Kirche ein Schutzraum für Menschen, die sich mit ihrem Denken und Handeln jenseits des sozialistischen Kanons bewegten. Dass ich die besten
Punkkonzerte, die gottlosesten Texte, die deutlichsten Bekenntnisse zur Homosexualität und zum Feminismus und die mutigsten
Absagen an Ideologie und Religion in welcher Form auch immer
in Ostberliner evangelischen Kirchen gehört habe, will bis heute
im Westen kaum jemand glauben. Mit der Wiedervereinigung
war diese Epoche des Protestantismus, nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Geschichte, vorbei. Die Kirche kehrte zur vermeintlichen Normalität zurück, und die Freiheit lag auf der Straße. Eine Freiheit, die vielen Angst machte und sie zur Freiheit der
Beschränkung zurückkehren ließ.
Das fiel mir wieder ein, als ich nach einem Beispiel für einen Herrgottswinkel in der Literatur ostdeutscher Prägung suchte.
In Christa Wolfs letztem großen Roman Stadt der Engel.
The Overcoat of Dr. Freud von 2010 finden wir eine Protagonistin, die ihr Leben aus verschiedensten inhaltlichen und erzähltechnischen Perspektiven Revue passieren lässt. Anlass ist eine
Reise nach Los Angeles, wo sie ein Stipendium des Getty-Centers
bekommen hat, dort aber gefiltert durch ein Faxgerät, erfahren
muss, wie durch einen kleinen schmalen Hefter, der ihre kurzzeitige informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit in jungen Jahren
dokumentiert, einen Fakt, den sie vergessen hatte in den Jahrzehnten danach, wo sie selbst rund um die Uhr von der Staatssicherheit überwacht worden war, ihr Leben aus den Fugen gerät
und sie in eine Lebenskrise stürzt, aus der sie sich nur schreibend
befreien kann. Sie konsultiert einen chinesischen Arzt wegen ihrer körperlichen Schmerzen, sucht im Werk einer buddhistischen
Nonne nach Gelassenheit und befragt Dr. Freud nach den Ursachen von Verdrängung. Sie sucht nach den Zufällen und Wendepunkten in ihrem Leben und lässt dabei die Geschichte ihres Lebens in der DDR und danach Revue passieren.
34
Heiner Müller: Motiv bei A.S. In: ders.: Werke 1. Die Gedichte, herausgegeben von Frank Hörnigk, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 45.
212
WAS WÄRE DENN DAS RICHTIGE LEBEN IM RICHTIGEN
GEWESEN. WENN ES UNS BEI KRIEGSENDE GEGLÜCKT
WÄRE, MIT UNSEREM FLÜCHTLINGSTRECK NOCH ÜBER
DIE ELBE ZU KOMMEN, DER WIR DOCH MIT DER LETZTEN
KRAFT DER ZUGPFERDE ZUSTREBTEN, WÄRE ICH UNTER
DEN ANDEREN, RICHTIGEN VERHÄLTNISSEN EIN ANDERER
MENSCH GEWORDEN. KLÜGER, BESSER, OHNE SCHULD?
ABER WARUM KANN ICH IMMER NOCH NICHT WÜNSCHEN,
MEIN LEBEN ZU TAUSCHEN GEGEN DAS LEICHTERE,
BESSERE? 35
In der höchsten Not erscheint ihr ein Engel in Gestalt der Reinigungskraft Angelina.
Dieser Engel ist ganz nüchtern erzählt, ohne jeglichen
Kitsch, der den Engeln in der Literatur, selbst bei denen in Peter
Handkes Himmel über Berlin an den Flügeln haftet. Aber Angelina hat keine sichtbaren Flügel. Sie setzt sich ungefragt mit ins
Auto nach einem Gospelgottesdienst, an dem die Ich-Erzählerin
teilnimmt und der in Nichts dem freudlosen Konfirmandenunterricht ihrer Kindheit glich.
Nicht der Hauch eines Flügelschlags wurde uns damals zuteil, Angelina, während ich heute ein leises beständiges Fächeln verspürte. Mit
wem sprach ich da? Angelina, der Engel war es, die schwarze Frau
aus dem MS Victoria, die saß ganz selbstverständlich neben mir auf
dem Rücksitz von Thereses Auto, entspannt, falls das ein passender
Ausdruck für einen Engel sein sollte, lächelnd. Einmal müsse man
sich doch schließlich erholen, oder? Ich wollte ihr keine direkten Fragen zumuten, nach der Vorstellung, die ich mir als Kind von meinem
Schutzengel gemacht hatte, musste der sowieso Gedanken lesen können. Nicht immer, sagte Angelina, oft sei sie einfach zu müde dazu,
von der vielen Arbeit. 36
Also ein Engel mit protestantischem Ethos, für den sich zu rechtfertigen die Protagonistin nicht bereit ist.
Und natürlich glaubte und glaube ich, eine unerschütterliche Anhängerin der Aufklärung, nicht an derartige Vorkommnisse, das sollte ein
für allemal klar sein. 37
35
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin:
Suhrkamp 2010, S. 71.
36
Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 326.
37
Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 333.
213
Über den Seiten liegt ein Aber. Angelina begleitet die Protagonistin am Ende schließlich in die Wüste. Death Valley: „Dort lagen
sie alle, meine Toten und quälten sich aus ihren Gräbern, während
ich über sie hinflog? Sieh nur hin, sagte Angelina.“ 38
Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-kommen des Menschen? So
hatte Christa Wolf sich schon 1968 im Vorspruch ihrer Erzählung
Nachdenken über Christa T.39 mit Johannes R. Becher gefragt.
Als Christa Wolf am 1. April 1998 eine Aufführung der
Missa in tempore belli von Joseph Haydn in der Kirche St. Laurenzen, St. Gallen einleitete, aufgezeichnet für die Sternstunde
Religion des Schweizer Fernsehens, bekannte sie: „Ich bin nicht
gläubig, im Sinne einer Religion.“ 40
Am 1. Dezember 2011 starb Christa Wolf im Alter von 82
Jahren. Als sie am 13. Dezember 2011 in Berlin auf dem
Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt wurde, sprach die evangelische Pfarrerin Ruth Misselwitz die letzten Worte am Grab.
Nicht mit dem üblichen Bestattungswort „Erde zur Erde, Asche
zur Asche, Staub zum Staube. / Ihr Leib vergeht, Gottes Treue
bleibt“41, sondern sie schaffte es, ganz ohne Gott den Sarg der Toten in die Erde zu geleiten:
Sie hat uns geprägt, dieses Land und diese Zeit. / Sie hat die Erde und
das Leben geliebt. / Ich habe Christa erlebt als eine Frau mit spiritueller Kraft, / die sich gelöst hat von religiösen und ideologischen Dogmen. / Sie hat es sich dabei nicht leicht gemacht.
Sie hat im Leben und Schreiben ihre und unsere Erfahrungswelten
transzendiert, / und so die Quellen des Lebens gesucht. / Und ich bin
sicher, dass sie mit diesen verbunden ist. 42
Für Ruth Misselwitz, zu DDR-Zeiten eine der mutigsten Theologinnen, hat das 2002 erschienene Buch Leibhaftig von Christa
Wolf eine besondere Bedeutung. In ihr verbindet die Schriftstelle38
Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 413.
Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Berlin und Weimar 1968, S.6.
40
http://www.videoportal.sf.tv/video?id=a95f773e-dbe6-4f52-bf5d783c657bb6b0, zuletzt aufgerufen am 10.1. 2012.
41
http://www.elk-wue.de/glauben/kirchlichefeiern/bestattung/bestattungsagende/, zuletzt aufgerufen am 10.1. 2012.
42
Ruth Misselwitz: Worte am Grab Christa Wolfs, Berlin-Dorotheenstädtischer Friedhof, 13. Dezember 2011, unveröffentlicht.
214
39
rin die Schilderung einer fast tödlichen Krankheit mit der Endphase der DDR. In dem halbbewussten Zustand der kranken Erzählerin vermischen sich zeitliche und räumliche Ebenen, macht
sie unter der Anästhesie der wiederholten Operationen fantastische Wanderungen in die Kellergewölbe Berlins, eindeutig ein
Hadesmotiv. „Ich habe ihr gesagt, dass sie mir da wie eine Mystikerin erscheint und sie hat dem nicht widersprochen.“ 43 Mystik
definiert die Pfarrerin Misselwitz im Sinne der feministischen
Theologin Dorothee Sölle, in deren Buch Mystik und Religion es
heißt:
In einem Bild gesprochen stelle ich mir die Weltreligionen in einem
Kreis vor, der sein Zentrum im Geheimnis der Welt, in der Gottheit
hat. Die Anhänger der verschiedensten Religionen werden angezogen
von diesem X im Herzen der Welt, dem sie Namen wie Allah, die
Urmutter, der Ewige, Nirwana, das Unerforschliche geben. Aber nicht
die Namensgebung und die Traditionsbildung sind das entscheidende,
sondern wie weit die PilgerInnen auf dem Weg von der Peripherie des
Kreises in das Zentrum gelangen. Und wir nähern uns dem Zentrum
des Kreises so an, daß die Abstände zwischen den unterschiedlichen
Ausgangspunkten der Peripherie immer kleiner werden, je näher wir
dem Zentrum kommen. So werden auch die Unterschiede zwischen
den einzelnen religiösen Zugängen immer unwichtiger. Im Herzen
Gottes sind sie verschwunden. Je konfessionell orthodoxer wir auf bestimmten Positionen beharren, desto ferner sind wir von den anderen,
die nicht zur religiösen Sprachgemeinschaft gehören – wie auch vom
Zentrum. 44
Fundamentalismus ist nach dieser Lehre das Gegenteil von Mystik.
Ich habe Christa Wolf eine Star Trek-Kassette mit ins Grab gegeben.
THE NEXT GENERATION. In Stadt der Engel schrieb sie von ihrer
sich zur Sucht entwickelnden Leidenschaft, sich die Abenteuer der
Crew um Captain Picard anzusehen.
Abend für Abend, erinnere ich mich, saß ich vor dem Fernseher, wenn
die Star Trek-Serie lief und erlaubte mir die Ausrede, ich müsse mein
Amerikanisch vervollkommnen, wußte aber insgeheim, es war mein
43
Ruth Misselwitz in einer Mail an die Autorin vom 13.1. 2012.
Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. Hamburg: Hoffmann und
Campe 1997, S. 76.
215
44
Bedürfnis nach Märchen, nach glücklichen Ausgängen, das mich fesselte.45
Ich erinnerte mich an eine meiner Lieblingsgeschichte Tina oder
Über die Unsterblichkeit von Arno Schmidt, dem erklärten Atheisten, der für seinen Roman Seelandschaft mit Pocahontas 1956
wegen Gotteslästerung und Pornographie angeklagt wurde (heute
sucht man die inkriminierte Stelle, die „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gesund empfindender Menschen in geschlechtlicher
Hinsicht zu verletzen“46 vergeblich, weil man nicht weiß, was da
so gotteslästerlich und pornographisch gewesen sein soll). In Tina
oder Über die Unsterblichkeit gelangt man über eine Litfaßsäule
ins Elysium. „Alles, was keinen Namen hat, wird glücklich“, sagt
der Mann mit dem Lodenmantel und fragt den Erzähler mit dem
Namen Schmidt: „Wäre es Ihnen nicht interessant, dieses ‚Fortleben nach dem Tode’ mal in natura zu sehen?“ 47 Und ab gehts
durch die Litfaßsäule ins Elysium. Wie wir von dem Mann im
Lodenmantel wissen, ist
jeder so lange zum Leben hier unten verdammt, wie sein Name noch
akustisch oder optisch auf Erden oben erscheint. Oder, planer gesprochen: bis er weder genannt wird, noch irgendwo mehr gedruckt oder
geschrieben vorkommt – dann ist jede Möglichkeit einer Rekonstruktion verschwunden.48
Dass Christa Wolf also voraussichtlich noch einige Dekaden da
unten im Elysium verbringen wird (zum Glück ohne ihre realsozialistischen Antipoden, die keiner mehr liest), sollte sie sich die
Zeit mit STAR TREK vertreiben können.
Es gibt noch einen zweiten ostdeutschen Autor dem man auf
den ersten Blick ein herrgottswinkelloses Werk unterstellen
möchte − Clemens Meyer, Jahrgang 1977.
In seinen Büchern, vor allem in Als wir träumten von 2006,
hat er die Verwerfungen der Nachwendezeit an seinen gewaltbe45
Wolf: Stadt der Engel (Anm. 35), S. 43.
http://www.asml.de/index.php/arno-schmidt-seelandschaft-mitpocahontas/ zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012.
47
Arno Schmidt: “Tina oder Über die Unsterblichkeit”. In: ders.: Aus dem
Leben eines Fauns. Kurzromane, Leipzig: Reclam 1981, S. 275.
48
http://www.schauerfeld.de/?p=710, zuletzt aufgerufen am 8.1. 2012.
216
46
reiten jungen Männern beschrieben, denen Gott zwar am Arsch
vorbeigeht, wo aber dann doch hinter jeder schmuddeligen Ecke
der Erlöser lauert oder doch wenigstens insgeheim erwartet wird.
In seinem zuletzt erschienenen Buch Gewalten schreibt er:
Einmal sind wir am Ostersonntag, morgens, es schneite, aus der Bar
getaumelt und zur Nikolaikirche gezogen, die nicht weit weg ist. Hier
pilgern die ewigen 89er hin und beten zur friedlichen Revolution, eine
weiße Säule steht auf dem Kirchenvorplatz, aus der wachsen oben
grüne Palmblätter aus Gips, das hat auch irgendwie mit 89 zu tun laut
Inschrift, der Erlöser (alles hat ein Ende, nur der Durst ist frei) kam in
einem Trabbi in die Stadt und nicht in einem Mercedes oder Audi, die
Proleten haben ihn mit Grünzeug beschmissen, das er sammelte und
all die Vegetarier weitergab, die sich leckere Salate damit anrichteten.
Palmsonntag, ich habe eine Tätowierung, eine Kette mit einem Kreuz
auf meiner Brust, die habe ich mal Theologiestudenten gezeigt, auf einer Theologenparty war das, 2004, ich habe mir das Hemd vom Leib
gerissen, weil die mir kein Bier mehr verkaufen wollten und ich sie
mit meinem tätowierten Kreuz bekehren wollte zum Bierverkauf von
jetzt an bis in alle Ewigkeit, die Ewigkeit habe ich nie begriffen im religiösen Sinn, wäre es nicht furchtbar, Milliarden Jahre Bier zu trinken
in der Gartenkantine Eden und kein Ende in Sicht, und der Kater nach
fünf Millionen Jahren endlich ausgestanden, und die nächste Runde
wartet schon...und wir stehen also vor der Kirche im Schnee und
schlagen mit den Fäusten gegen die Tür: „Lasst uns rein, wir suchen
die Erlösung!“49
Die Erlösung findet Clemens Meyer nicht, sondern sich am
nächsten Morgen fixiert an einer Liege, weil er bei dem nächtlichen Trip zu den Kirchen Widerstand gegen einen Polizisten geleistet hat, den er für einen Fußball-Fan von Lok Leipzig hielt.
Denn der Gott von Clemens Meyer ist der Fußball-Gott von
Chemie Leipzig. Der Fußball-Gott ist, und das meine ich ganz
ernst, nicht zu unterschätzen. Am 23. Dezember 2011 stand ich
abends zwischen 18 000 Fußball-Fans der Zweitligamannschaft
Union Berlin, die in ihrem geliebten Stadion an der Alten Försterei im Berliner Osten mit Kerze und Gesangbuch in der Hand auf
den fußballlosen grünen Rasen starrten und aus vollem Halse
Weihnachtslieder sangen, auch die christlichen wie Es ist ein Ros
49
Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch: Frankfurt/Main: S. Fischer, S.
19f.
217
entsprungen. Ein Pfarrer mit Fanschal las die Weihnachtsgeschichte vor, was meinen Begleiter, einen habilitierten Kulturwissenschaftler und Religionsphilosophen, nach zweieinhalb Stunden
zu der Bemerkung veranlasste, so einen langen Gottesdienst
kriegten nichtmal mehr die Katholiken hin.
Wenn Schriftsteller pilgern
2005 wurde der Dramatiker Lucas Bärfuss mit seinem Stück Der
Bus (Zeug einer Heiligen), das, mit der Logik des Alptraums einer
vermeintlichen Pilgerreise, einer Art Passion nach Tschenstochau
beschreibt, die die schlimmstmögliche Wendung nimmt. Bärfuss
fragt nach den ethischen Implikationen unseres Handelns im postindustriellen Zeitalter, in der immer mehr Geheimnisse der Natur
entschlüsselt werden, die Ethik aber nicht Schritt hält.
Pilgerreisen sind im Trend, seitdem Hape Kerkeling, 2001
auf dem Jakobsweg wanderte und mit seinem 2006 erschienenen
Bericht Ich bin dann mal weg 100 Wochen auf der Bestsellerliste
Sachbuch stand. Mit vier Millionen verkauften Exemplaren ist es
das finanziell erfolgreichste deutschsprachige Sachbuch überhaupt. Seitdem haben Tausende Pilger den Pfad nach Santiago de
Compostella weiter breitgetreten. Und mit ihm wuchs auch das
künstlerische Interesse. Ein Beispiel der jüngsten Zeit ist der hintergründige Film Lourdes über ein Wunder der Spontanheilung,
der viel über die wirtschaftlich lukrative Gotteswunderindustrie
erzählte. Bei unserem Herrgottswinkelprojekt erfuhren wir z.B.,
dass es ökumenische Soldaten-Bahnreisen der Bundeswehr nach
Lourdes gibt.
Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic hat sich
2011 aufgemacht, eine Pilgerreise schreibend zu begleiten.
In einem nicht mehr ganz neuen Reisebus, der mich und die anderen
Pilger von Wien nach Medjugorje bringen wird, wo täglich die Muttergottes erscheint, an die ich leider nicht glaube. Eigentlich wollte ich
nach Lourdes fahren, aber da dauern sowohl Fahrt als auch Aufenthalt
noch länger, und man muss es ja nicht übertreiben.50
50
Thomas Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn. München: Carl
Hanser Verlag 2011, S. 7.
218
Und auch wenn das Buch in Kapitel eingeteilt ist, wie ein Roman,
und auch einer ähnlichen Klimax folgt, ist es doch ein authentischer Reisebericht, mit dem Ich-Erzähler Thomas, der begleitet
wird von einem Fotografen, der den mitreisenden Gläubigen wie
ein Abgesandter des Teufels vorkommt. Thomas sagt: „Ich bin
nicht gläubig, bin es nie gewesen“ 51 , aber der Ursprung seiner
ganz persönlichen Erzählung kam durch die Jesusgeschichte der
Großmutter:
Sie erzählte mir jeden Tag diese Geschichte von einem bemerkenswerten Mann, und sie erzählte sie mit einer Wärme und Gewichtigkeit, die ich heute noch nachempfinden kann, wenn ich daran denke.
Ich erinnere mich nicht, sie oft von Gott sprechen gehört zu haben,
doch die Jesusgeschichte hörte ich regelmäßig, bis meine Großmutter
starb. Danach las ich von Gott und Jesus nur noch in Zeitschriften und
Büchern. 52
Die Reise macht er, weil ihn der Trost, den Menschen aus dem
Glauben ziehen, fasziniert und wo ließe sich das besser erleben,
als auf einer Reise zu einem Wunder. Er findet es natürlich nicht,
stattdessen jede Menge Souvenirläden und seltsame Leute in
Trance, Geschäftemacher und fastende Fundamentalistinnen.
Ein Bus reiht sich an den nächsten, es geht zu wie bei einem
Lady-Gaga-Konzert in London, nur dass die Leute in den Bussen
wesentlich älter sind. „Vor zehn Jahren wars“, sagt der Reiseleiter. Ins Mikrophon.
Zwei Verlobte sind zusammen mit mir heruntergefahren, in drei Wochen hättens heiraten sollen. Und die haben hier ihre Berufung gespürt. Sie ist jetzt Schwester in einem Kloster in der Nähe, und er hat
Kroatisch gelernt und ist Pfarrer in einer Gemeinde in Split.“ „Jöö.“ 53
Autoren der jüngsten Generation
Auch in den Werken ganz junger Autorinnen und Autoren lassen
sich Herrgottswinkel finden. Auf Radio Eins führt der Lesebühnenautor Ahne sonntags zur besten Kirchgangszeit mehr oder weniger tiefgründige Gespräche mit Gott, wobei Gott von ihm selbst
51
Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn (Anm. 50), S.9.
Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn (Anm. 50), S.15.
53
Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn (Anm. 50), S. 62.
52
219
mit betont tiefer Stimme gesprochen, sich mit ihm unterhält. Der
junge Autor und Journalist Juri Sternburg, schickt in seinem,
kürzlich im Maxim-Gorki-Theater aufgeführten Stück Der Penner ist jetzt schon wieder woanders Gott auf einen Höllentrip
durch die Berliner U-Bahn, wo er kurz vor dem Bahnhof Friedrichstraße von einem Jugendlichen getötet wird, nachdem er die
Zukunft Afrikas und Europas sowie die Lottozahlen verraten hat.
Die Reise, die Sabrina Janesch, eine Absolventin des Studienganges Kreatives Schreiben der Uni Hildesheim, in ihrem Roman
Katzenberge macht, führt sie nach Polen, besser gesagt nach
Schlesien, wo ihre polnischen Großeltern während der großen
Völkerwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem nun zur
Sowjetunion gehörenden Galizien ins westliche Schlesien sich
neu anzusiedeln gezwungen waren. Sabrina Janesch erzählt diesen Strang der Erinnerung mit dem Großvater als personalem Erzähler, eingeführt mit dem Satz: „Großvater sagte...“ 54 Auch hier
gibt es Herrgottswinkel. Sie sind in den von den Deutschen verlassenen Häusern, auf ihren Friedhöfen und in Gestalt eines
Biests, das − wie vom Teufel geschickt −, das Leben noch unbehauster macht.
In dem Moment brach der Vollmond durch die Wolken, und die Augen der zusammengekauerten Kreatur glühten auf. Janeczko machte
den Satz zur Wand und schrie aus voller Kehle: Jesus Christus! Da sei
das Ding verschwunden. 55
Ganz anders geht der 1982 geborene Autor Sebastian Polmans,
ebenfalls Absolvent des Studienganges Kreatives Schreiben und
Kulturjournalismus der Universität Hildesheim, mit dem Glauben
um. Seine Hauptfigur, nur der Junge genannt, begreift, dass er anders ist. Er streift im Grenzland zwischen Deutschland und den
Niederlanden hart am Dorfrand entlang und will fort. Im Ort
gehen die Menschen in die Kirche und zum Schützenfest. Von
den Dingen, die um sie herum passieren, nehmen sie kaum Notiz.
Vor allem die Mutter scheint in einem Glauben gefangen: Die
Mutter, die sich in der Zeit der Schützenfeste die meiste Zeit
im Kloster Maria in Het Zande der sogenannten Rosa Schwestern
54
Sabrina Janesch: Katzenberge. Berlin: Aufbau Verlag 2010, S. 22.
Janesch: Katzenberge, (Anm. 54), S. 146.
220
55
aufhält, liest ihm zum Aufwachen christliche Kalendersätze vor,
die sich ihm einprägen und seine Tage begleiten.
Der Herr lässt deinen Fuß nicht wanken; er, der dich behütet, schläft
nicht oder Deine Augen Herr sahen, wie ich entstand, in deinem Buch
war schon alles verzeichnet. 56
Den Jungen aber treibt ein verängstigtes Staunen über die Welt
jenseits der Enge des Dorfes, das ihn ganz anders einschnürt als
den Helden in Karl-Heinz Otts Roman Ins Offene. Die Sprache
kommt fast gänzlich ohne zeitgenössisches Vokabular aus, sie
ist von großer poetischer Dichte. Fast archaisch mutet das an. Das
Dorf, in dem er lebt, scheint in einer Zeitkapsel zu verharren, einzig die Asylanten in den Containern am Rande des Waldes kratzen an den ehernen Gesetzen.
Der „Riss zwischen Ich und Welt“ 57 werde thematisiert,
schrieb der Kritiker Helmut Böttiger in der Süddeutschen Zeitung.
Der Junge lag unter der Decke, als die Mutter in sein Zimmer kam,
sich über ihn beugte und ihm mit dem Daumen ein Kreuz auf die
Stirn malte, wie seine Großmutter es zuvor schon einmal getan hatte,
als gelte es, dieses unsichtbare Mal immer wieder nachzuzeichnen.
Seine Haut hatte sie kaum berührt. Obwohl er fast erstickte, bemühte
er sich, langsam zu atmen, er wusste, dass sie noch in der Tür
stand. 58
Und jeden Sonntag steht der Kirchgang an, zu dem der Junge die
Kinderbibel mitzunehmen genötigt wird. Stattdessen reißt er aus
dem Atlas die Japan-Seite, auf der er seinen Reiseweg markiert
hat. Er faltet die Papiere und steckt sie in die Brusttasche seiner
Jacke, deren Reißverschluss er bis zum Hals zieht. Dann gehen
sie zur Messe.
Im Inneren der Kirche herrschte Stille, ein schwerer Deckel ruhte auf
diesem Ort und nur durch die Gitter, die an manchen Stellen im
56
Sebastian Polmans: Der Junge. Berlin: Suhrkamp Verlag 2011, S. 31.
http://www.perlentaucher.de/buch/37124.html, zuletzt aufgerufen am
8.1.2012.
58
Sebastian Polmans: Der Junge (Anm. 56), S. 136.
221
57
Boden eingelassen waren, schien frische Luft einzuströmen, aus
Luftmaschinen, deren leises Surren ständig zu hören war. 59
Der Junge will augenblicklich weggehen und wird das wohl eines Tages auch tun. „Irgendwas stimmt nicht mit dir“ 60, sagt die
Mutter. Aber wahrscheinlich stimmt mit keinem Kind etwas, das
anfängt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Der Ausgangspunkt allen Schreibens.
Glauben mögen
Heiligabend 2011, gegen 17.25 Uhr, hatten meine Schwester und
ich eine Erscheinung. Am Nachthimmel über Magdeburg bewegte
sich etwas von Nordwesten nach Südosten, das aussah wie der
Stern von Bethlehem in den Auslagen der Geschäfte für den
christlichen Grundbedarf oder in den Weihnachtskrippen evangelischer Kindergärten. Ein sternähnlicher Gegenstand mit einem
dreigliedrigen Schweif, der aber nicht wie eine Sternschnuppe geradewegs nach unten fallen wollte, sondern viel langsamer und
waagerechter als eine Sternschnuppe und zu leise, um ein Sportflugzeug mit goldenem Werbebanner zu sein, hinter den Erlen am
Ufer der Alten Elbe verschwand. Ein wunderschönes Bild.
Dass sich der Stern von Bethlehem schließlich als Schrott
aus der Oberstufe einer zwei Tage zuvor gezündeten russischen
Sojus-Rakete herausstellte, passte natürlich zu uns ungetauften
ostsozialisierten Töchtern eines Ingenieurs und einer chemischtechnischen Assistentin. Der Stern von Bethlehem hätte uns aber
schon aus ästhetischen und ganz besonders aus spirituellen Gründen besser gefallen. Hätten wir nicht gerne wie die große Mystikerin und Begine Mechthild von Magdeburg Gott zugerufen:
„Herr, Dein Wunder hat mich verwundet! Deine Gnade hat mich
erdrückt!“ 61 Nix da. Es bleibt bei aller Renaissance der Religiösität für mich bei dem, was die Dichterin Inge Müller so formu-
59
Sebastian Polmans: Der Junge (Anm. 56), S. 136.
Sebastian Polmans: Der Junge (Anm. 56), S.150.
61
Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, zitiert nach
http://mechthild-von-magdeburg.de/textauszuege.htm, zuletzt aufgerufen
am 8.1. 2012.
222
60
lierte: „Nicht Tränen nicht alle Wetter / Waschen die Larven uns
ab / Kein Feuer kein Gott wir selber / Legen uns ins Grab“.62
Dank an Hans-Martin Buttler für theologische und an Richard Kämmerlings für literarische Hinweise sowie an Ruth Misselwitz für die
Genehmigung des Abdrucks ihrer Abschiedsrede für Christa Wolf.
62
Inge Müller: Wenn ich schon sterben muss. Gedichte. Darmstadt und
Neuwied: Luchterhand 1986, S. 94.
223
Christian Schärf
Marmorbilder und Madonnen. Die erotische Religion der
Romantik
I
Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land
war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große
weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte. 1
So lautet der berühmte Anfang eines Essays von Novalis aus dem
Jahre 1799 mit dem Titel Die Christenheit oder Europa. Friedrich
von Hardenberg, wie Novalis ursprünglich hieß, bevor er sich den
Sehernamen Novalis, Der Neuland Rodende gab, Hardenberg also
breitet in diesem Aufsatz die rückwärtsgewandte Utopie eines
christlichen Universums aus. Ein Universum, das es so nie gegeben hat und das gleichwohl den imaginären Kern der Epoche um
1800 in sich trägt. In zwei Motiven vor allem setzt Novalis in
Szene, was man landläufig den Geist der Romantik nennt: Die
Sehnsucht nach einem idealen Mittelalter einerseits und die Neubestimmung der Religion als Grundlage und Ausgangspunkt aller
Kultur andererseits. Der Niedergang der Religion, den der Dichter
mit dem Zerfall des katholischen Mittelalters gleichsetzt, habe eine fürchterliche Entzauberung der Welt bewirkt und „machte die
unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen
Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne
Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey.“ 2
1
Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg.
von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München, Wien 1978. Band
2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl,
S. 732.
2
Ebd., S. 741.
224
Die sich selbst mahlende Mühle darf als eines der prägenden und
einprägsamsten Bilder für die Zurückgeworfenheit des aufgeklärten und spirituell ausgenüchterten Menschen aus der Frühzeit der
Entfremdungstheoretiker gelten. Es war die personale und ideelle
Konstellation, die wir frühe Romantik nennen, in der das Maß der
Fremdheit des Menschen inmitten seiner vernunftbestimmt selbstgeschaffenen Welt erstmals von seinen spirituellen Wurzeln her
ermittelt und artikuliert worden ist. Unter dem Einfluss der Transzendentalphilosophie greift in die Progressionsbewegungen der
Aufklärung ein Moment der Retardierung ein. Die Vernunft fragt
nach den Wurzeln ihrer selbst zuerkannten Autonomie und kann
sie nicht finden. Den Verlust geistiger Substanzgründe im Zerfall
des religiösen Glaubens empfand die Generation der um 1770
Geborenen als grandioses Niedergangsszenario der europäischen
Kultur. Ihnen wurde klar, dass spätestens mit der Französischen
Revolution ein Punkt erreicht worden war, an dem man nicht nur
nach einer politischen, sondern zuvörderst nach einer spirituellen
Erneuerung Mitteleuropas Ausschau zu halten hatte. Es galt, zur
Religion zurückzufinden, nicht indem man sich ohne Umstand in
den Schoß der katholischen Kirche begab – das sollten die Protagonisten der romantischen Bewegung erst später tun, nachdem
ihre poetischen Träume verflogen waren −, sondern indem man
die Einsicht in die Praxis umsetzte, es müsse eine neue Religion
geschaffen werden. Das ideale Zeitalter des Glaubens, das Novalis entwirft, ist im Ursprung noch keineswegs eine Restaurationsbewegung, die manifeste Mittelaltersehnsucht erzeugt hätte.
Im Gegenteil − wie allen Romantikern der ersten Stunde schwebte Novalis eine Neuerschaffung des religiösen Lebens vor, sein
Plan bestand buchstäblich in der Zeugung einer Religion:
„Wahrhafte Anarchie“, schreibt er in Die Christenheit oder Europa, „ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung
alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor.“ 3
Gern übersieht man bei der Betrachtung dieser historischen
Episode, die sich in wenigen Jahren vor und nach 1800 ereignet
hat, das erstaunliche Novum, welches sie enthält. Zum ersten Mal
3
Ebd., S. 743.
225
gehen Intellektuelle und Dichter daran, Religion zu erschaffen.
Man darf das durchaus als einen der unerhörtesten Pläne betrachten, der bis dahin auf dem Gebiet der Literatur entworfen worden
ist, vielleicht als den verwegensten überhaupt. Die von alters her
zementierte Rangfolge in den eingeübten Produktionsverhältnissen wurde kurzerhand umgekehrt: Wo über Jahrtausende hin Religion die Geschichten, Bilder und Motive bereitstellte, deren sich
die Dichter und Künstler bedienten, sehen sich nun diese dazu
aufgefordert, aus dem Formen- und Bilderreservoir der Poesie –
eine neue Religion zu erschaffen!
Vor allem wenn man den überfrommen Katholizismus der
Spätromantiker zum Maßstab nimmt, wird man so schnell nicht
darauf kommen, welche Aufbruchstimmung die Romantiker in
ihrer absoluten Frühzeit befeuerte. Der Ausgangspunkt war für
die nach dem Basler Frieden im Windschatten der Zeitgeschichte
dichtenden und denkenden Intellektuellen klar: nach dem Paukenschlag der Französischen Revolution und nach dem zivilisatorischen Schock der terreur sollte, ja musste die universale Ordnung
neu durchdacht und konzipiert werden. Fichtes Philosophie, die in
Jena nicht nur die Studenten in ihren Bann zog, sorgte für eine
unvergleichliche Euphorie; die Wissenschaftslehre und ihr radikaler Idealismus beschworen das Heraufziehen eines neuen Zeitalters aus der Dynamik des transzendentalen Denkens.
Friedrich Schlegel und Novalis stürzten sich geradezu auf
die Fichtesche Lehre; jahrelang betrieben sie autodidaktisch ihre
Fichte-Studien, und verfielen dabei in eine fieberhafte Überbietungssucht, die sie hypertichtisieren nannten, um schließlich zu
einer metapoetischen Synthese zu gelangen: es bedurfte eines
nicht philosophisch, sondern poetisch gestifteten Prinzips, das die
isolierten Ich-Monaden zu einem wahren und funktionierenden
Kosmos neuen Glaubens verknüpfte. Denken allein konnte das
nicht schaffen. Das universale Credo des Neuanfangs musste aus
dem schöpferischen Prozess gewonnen werden, es war in den
Augen der werdenden Romantiker poietischer Natur. So hell und
so hoch haben die Flammen einer neu anbrechenden Zeit wohl
niemals zuvor gelodert. Warum also nicht gleich mit allem neu
anfangen, warum nicht mit der Keimzelle, aus der alle Kultur sich
entfaltet hat, mit der Religion?
226
Beim Jenaer Romantikertreffen im November 1799 war man gespannt auf Hardenbergs Essay, den der charismatisch-ätherische
Apostel einer neuen Poesie erst ganz kurz vorher geschrieben hatte. Die Zuhörerinnen und Zuhörer berieten anschließend, ob der
Text in die Zeitschrift Athenäum, dem ein Jahr zuvor gegründeten
Zentralorgan der frühromantischen Bewegung, aufgenommen
werden sollte. Die Meinungen dazu waren durchaus kontrovers,
und da man sich nicht entscheiden konnte, fragte man Goethe um
Rat, der regelmäßig in Jena spazieren ging, dem man im Paradies
auflauerte und den Text vorlegte. Goethe riet von einer Veröffentlichung des Essays im Athenäum erwartungsgemäß ab. Er hielt
das für substanzloses Spintisieren und ahnte noch nicht im Geringsten, was aus dieser Keimzelle noch werden würde. Er galt in
jeder Hinsicht als letzte Instanz und man richtete sich nach seinem Urteil; auch Novalis gab sich einverstanden und folgte dem
Schiedsspruch des Olympiers; später sollte er mit seiner vernichtenden Wilhelm-Meister-Kritik an Goethe Rache nehmen, woran
man einerseits sehen mag, dass auch Novalis kein Heiliger war,
und andererseits hinzufügen muss, dass Goethe diese Kritik gar
nicht wahrnahm.
Unterdessen ging das Romantikertreffen im Hause von August Wilhelm Schlegel und seiner Frau Caroline weiter. Noch viele andere Texte wurden mit Spannung erwartet, Schriften, die von
den Teilnehmenden als im höchsten Maße innovativ begriffen
wurden und die später zu den Gründungsdokumenten der Romantik zählen sollten. Dazu gehörten die Romane Lucinde von Friedrich Schlegel und Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig
Tieck ebenso wie die Reden des in Jena abwesenden Friedrich
Schleiermacher Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren
Verächtern, ein Buch, das schon Anfang des Jahres 1799 erschienen war und das wiederum Novalis als zentrale Inspirationsquelle
für seinen Aufsatz diente.
All die Romane, Essays und Reden, die in Jena kursierten,
verbindet die Frage nach der Religion. Den dort Versammelten
war klar, dass dieser Frage, auf welcher Ebene auch immer sie
gestellt und behandelt würde, das allergrößte Gewicht zukäme.
Der Untergang der alten Zeit, irreversibel vollzogen im Geiste
der Aufklärung, führte an den Beginn eines neuen Zeitalters her227
an, das von Grund auf gestaltet werden musste. Und dieser Grund
bestand in einer eindeutigen Dimension. Allein die Religion, dessen waren sich die Romantiker sicher, schafft Kultur, − ja Religion muss als das Zentralelement jeglicher menschlichen Entwicklung betrachtet werden, kollektiv wie individuell. In seiner
Sammlung Ideen fasst Friedrich Schlegel diese Perspektive prägnant zusammen:
Die Religion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der
Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und
Höchste, das schlechthin Ursprüngliche.4
Bleibt nur die Frage: was ist Religion, wo fängt sie an, was ist ihr
Inhalt, und vor allem – kann man sie tatsächlich neu erfinden?
Am 15. November 1799, auf dem Höhepunkt des Romantikertreffens, schreibt Dorothea Veit an den in Berlin weilenden Schleiermacher:
Das Christenthum ist hier à l’ordre du jour; die Herren sind etwas toll.
Tieck treibt die Religion wie Schiller das Schicksal; Hardenberg
glaubt, Tieck ist ganz und gar seiner Meinung; ich will aber wetten
was einer will, sie verstehen sich selbst und einander nicht. 5
Wie der Dichtertraum einer Glaubensstiftung Wirklichkeit werden sollte, ist in praktisch allen Romantiker-Texten der Zeit um
1800 das hervorstechende Thema. Im Zuge des Entwurfs einer
Religion kommt es überhaupt erst zu einer radikalen Abstraktion
des Begriffs von Religion. Nicht mehr der konkret ausgeübte, in
den Lebenswelten längst vorhandene und immerfort praktizierte
Glaube war hier von Belang, sondern zunächst Religion überhaupt als Inbegriff der auf dramatische Art und Weise verloren
gegangenen Einheit und Substanz der Kultur. Der Ausgangspunkt
der Romantiker in den Jahren des Athenäums ist eine religionsphilosophische Kulturkritik, die noch alle Blickpunkte von Kul4
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in
sechs Bänden, hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Bd. 2 1798-1801.
Paderborn 1988, S. 224.
5
Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul
Kluckhohn und Richard Samuel. 4 Bände und ein Begleitband. Stuttgart
1960ff. Band IV: Tagebücher, Briefwechsel und zeitgenössische Zeugnisse.
Hg. von Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1975, S. 647.
228
turkritik mit einschließt, übrigens auch den der Glaubenssatire,
für die beim Romantikertreffen der junge Philosoph Schelling zuständig war. Mit seinem Gedicht Franz Widerborsts epikureisch
Glaubensbekenntnis haut der als Wunderkind eingeladene Gast
die ganze spekulative Romantikerclique kurzerhand in die Pfanne
und landet weithin Beifall in der Runde. Überhaupt wurde viel
gelacht, nicht nur über Schelling. Wenn der Name Schiller fiel,
sei man, so die Gastgeberin in einem vertraulichen Brief, regelmäßig vor Lachen von den Stühlen gefallen.
Eine fidele Truppe also, die zudem gut vernetzt war. Aus
Berlin kamen in hoher Frequenz die neuesten Ideen in Fragen der
Religionsphilosophie per Brief ins Romantikerhaus. Der in der
preußischen Hauptstadt unabkömmliche Theologe Friedrich
Schleiermacher gründet seine Idee von Religion auf Anschauung
und Gefühl und wendet sich bewusst gegen alle Dogmatik und
traditionelle theologische Systematik. In seiner zweiten Rede über
die Religion schreibt Schleiermacher über das Wesen der Religion:
Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und
zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es
andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie
sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. 6
Schleiermacher entfaltet seinen Religionsentwurf aus einem pantheistischen Impuls und konfrontiert diese Anschauung mit dem
Dogma der göttlichen Transzendenz, ohne diese explizit zu leugnen. Immer wieder erinnert er gerade auch seine theologischen
Kollegen daran, dass jede Anschauung mit einem Gefühl verbunden sein muss und dass die daraus erfolgende Andacht den eigentlichen Ursprung des religiösen Verhaltens darstellt. Schleiermachers Reden über die Religion waren von durchschlagender Wirkung auf den gesamten romantischen Debattenzirkel.
6
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern. Stuttgart 1969, S. 35.
229
Friedrich Schlegel spricht zur selben Zeit gar von einer Neuen
Mythologie und überdehnt den für Christen im Pantheismus
schon hinreichend strapazierten Religionsbegriff ins Mystische
und Magische:
Es fehlt, behaupte ich, unserer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die
Mythologie für die Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, lässt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber ich setze hinzu,
wir sind nahe daran, eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, dass
wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.7
Schlegel träumt im Zuge seiner Mythologie-Stiftung auch davon,
eine neue Bibel zu schreiben und kündigt seinem Freund Hardenberg gegenüber im Dezember 1798 die Durchführung eines entsprechenden Projekts an:
Mein biblisches Projekt aber ist kein literarisches, sondern ein biblisches, ein durchaus religiöses. Ich denke eine neue Religion zu stiften
oder vielmehr sie verkündigen helfen: denn kommen und siegen wird
sie auch ohne mich. 8
Dem biblischen Schaffensplan, den Schlegel ankündigt, korrespondiert das enzyklopädische Projekt des Novalis, in dessen Horizont eine Reihe von sieben zu schreibenden Romanen ihren
Platz hätte finden sollen, ein alternatives Bibelprojekt mithin, in
dem alle Aspekte des Lebens ihre semantische Kodierung im universalen Geist erfahren sollten. Sein früher Tod verhinderte die
Umsetzung, die wohl auch sonst schwierig geworden wäre. Doch
mit dem Allgemeinen Brouillon, der großen Notizensammlung zur
Enzyklopädie, ist ein wunderbares und unerschöpfliches Zeugnis
dieses großen Projekts erhalten geblieben. Am 7. November 1798
schreibt Novalis an Friedrich Schlegel:
Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaften überhaupt – und ihres Körpers, des Buchs –
ebenfalls auf die Idee der Bibel gerathen – der Bibel – als das Ideal
jedweden Buchs. Die Theorie der Bibel, entwickelt, giebt die Theorie
7
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente (Anm. 4), Bd. 2, S.
201.
8
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Bd. 24,
Paderborn 1969, S. 205.
230
der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey überhaupt – die zugleich
die symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt. 9
Diese Briefstelle ist deshalb besonders aufschlussreich, weil darin
auf engstem Raum die Verbindung zwischen Bibelprojekt,
Schriftstellerei und der „Constructionslehre des schaffenden Geistes“, also der Theorie der kreativen Produktivität hergestellt wird.
Von dieser Disposition ausgehend, glaubten die Dichter und Philosophen von Jena tatsächlich, eigenmächtig und im schaffenden
Vollzug ihrer Geisteskräfte das Fundament eines neuen Glaubens
legen zu können. Die Idee des Buches spielt darin eine zentrale
Rolle. Das Buch wird zum Körper der imaginativen Zeichen; mit
und in diesem Körper treten die geistigen Entwürfe in den Zustand ihrer realen Inkarnation. Das Buch erscheint damit als
Heilsweg zur Romantisierung der Welt.
Man konnte schon vermuten, dass zur Zeugung einer Religion ein gerüttelt Maß an Größenwahn und noch mehr Vertrauen
in die eigene Schaffenskraft gehören. So verwundert es nicht,
dass von den Romantikern gerade die Kunst verherrlicht wurde
und auch sie zum Inbegriff der Religion erklärt werden musste.
Ludwig Tieck entwarf schon um 1796 mit seinem Freund Heinrich Wackenroder die erste Version einer Kunstreligion, eine emphatisch auf die Künstlerbiografien der Renaissance zurückweisende Genielehre, in der Kunst selbst zu einer Religion erklärt
wird und die Künstler zu Propheten und Priestern des schöpferischen Ingeniums stilisiert werden.
In diesen Varianten haben die Romantiker Religion als kulturpoetische Universalie in den poetisch-philosophischen Diskurs
der Moderne eingeführt. Höchstwahrscheinlich liegt in der Bestimmung und Darlegung der Religion als Urphänomen der Kultur sogar die bleibende Bedeutung der Frühromantik. Das Thema
ist gerade heute wieder auf der Tagesordnung. Ist es möglich,
Kulturen ohne die Einbeziehung ihrer religiösen Grundlagen zu
verstehen? Und inwieweit wären vollkommen säkulare Gesellschaften dazu in der Lage, kulturelle Identitäten aufzubauen und
aufrechtzuerhalten? Ist Kultur ohne Religion etwas anderes als
9
Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe (Anm. 1) Bd. 1, S. 672f.
231
eine Industrie? Und wie viel Opium braucht das Volk eigentlich,
um die Totalökonomisierung des Lebens auszuhalten? Es ist der
Geist einer tiefen religiösen Sehnsucht, aus dem alles hervorgeht,
was wir an der Kunst der Romantik bewundern, nicht zuletzt auch
die Malerei Friedrichs oder die Musik Schuberts. Die romantische
Idee der Religion wird weder einer philosophischen Spekulation
untergeordnet, noch wird sie zu einem wissenschaftlichen Forschungsobjekt erklärt. Vielmehr sieht es so aus, als bildeten Religion und Poesie eine schaffende Einheit, als erwüchse aus der Poesie die neue Religion und als stifte das religiöse Gefühl allererst
den Geist, der sich als poetischer Geist verstehen und demgemäß
handeln könnte. Was aber verbindet Religion und Poesie ursächlich, was ist es, das sie in eine so enge Beziehung zueinander versetzt und solche Wechselwirkungen hervorruft?
„Nur derjenige kann ein Künstler sein, welcher eine eigne
Religion, eine originelle Ansicht des Unendlichen hat“, formuliert
Friedrich Schlegel und schreibt wiederum in den Ideen ein paar
Zeilen weiter: „Den Geist des sittlichen Menschen muß Religion
überall umfließen, wie sein Element, und dieses lichte Chaos von
göttlichen Gedanken und Gefühlen nennen wir Enthusiasmus.“ 10
II
Die Erwartungen waren groß, als Novalis seinen Essay Die Christenheit oder Europa im Gepäck am 12. November 1799 in Jena
eintraf. Beinahe noch größer aber waren sie im Hinblick auf
Schlegels Lucinde; in diesem ganz neuartig konzipierten Roman
ging es weniger um das glaubensfeste Mittelalter als vielmehr um
das Evangelium einer neuen Erotik, und damit eben auch um Religion. Dieser für Mitteleuropa ganz ungebräuchliche Religionsbegriff jedoch beschwor einen Skandal herauf. Friedrich Schlegel
verkündete nicht nur ein spirituell überhöhtes Verständnis von
Liebe, er war auch schon dazu übergegangen, seine Fiktion im
Leben zu manifestieren.
Nach Jena reiste er mit seiner Geliebten Dorothea Veit an,
einer Bankiersgattin aus Berlin, die von Schlegels Esprit derart
hingerissen war, dass sie ihm spontan und entgegen allen Konventionen auf seinen ungewissen Feldzügen durch das Reich der
10
F. Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente (Anm. 4) Bd. 2, S. 223f.
232
Ideen folgte und dafür, einschließlich ihres guten Rufs, alle Sicherheiten ihrer bürgerlichen Existenz aufgab. Schlegel wiederum
war von seiner neuen Liebe so begeistert, dass er Dorothea ein
literarisches Denkmal setzen und die in seinen Augen gleichberechtigte Liebe zwischen Mann und Frau als ultimatives Medium
für den Transfer der Poesie in die Lebenspraxis feiern wollte.
Entsprechend war man sich unter den sympoetisierenden Freunden nicht sicher, welche Ebene man als die eigentlich poetische
ansehen sollte, die gelebte Liebe des provokanten Paares oder den
Roman, den Schlegel daraus machte. Es versteht sich, dass der
Reiz dieser Annäherung von Dichtung und Leben für enormen
Zündstoff sorgte. Doch Schlegel begnügte sich nicht mit der bloßen Herausforderung des Zeitgeistes. Er überdehnte die Provokation noch dadurch, dass er die Beziehung zwischen ihm und
Dorothea als urreligiöse Erfahrung und die in der Lucinde beschriebene Liebesemphase als Leitmotiv in der Partitur seiner
künftigen Bibel proklamierte.
Gefühl und Andacht, die Schleiermacher als wesenhaft religiös bezeichnete, werden von Schlegel ohne Umschweife auf die
Liebe ausgedehnt. Für den rastlosen Apostel einer Neuen Mythologie sind Gefühl und Andacht Kerngebiete erotischer Theologie.
Es gibt nichts oder fast nichts Pornographisches in diesem Roman, und wer meint, in der Zügellosigkeit und Schamlosigkeit der
Darstellung habe sein provokatorisches Potenzial bestanden, irrt.
Das für die Zeitgenossen Ungeheuerliche an Schlegels Roman ist
vielmehr die Identifizierung von Liebe und Religion − oder anders gesagt der Entwurf eines erotischen Glaubensbekenntnisses
im Roman – einer literarischen Form, die maßgebliche Kunstrichter der Epoche durchaus noch dem halbwegs Trivialen zuordneten.
Was der Zeitgeschmack am Roman bedenklich fand, wird
von Schlegel, man möchte sagen: selbstverständlich, bis zum Äußersten getrieben. Wenn man dem Roman gegenüber dem Drama
und der Lyrik Formlosigkeit vorwarf, so war es die Lucinde, die
diesem Vorwurf völlig neues Anschauungsmaterial geben konnte.
Wer eine geordnet erzählte Geschichte erwartet, wird jedenfalls
enttäuscht. Der Roman besteht aus lauter auf den ersten Blick heterogenen Versatzstücken, ein Begriff der Ganzheit ist allenfalls
233
assoziativ aus der Differenz der Teile abzuleiten. Der Roman enthält intime Briefe zwischen Julius und Lucinde, die scherzhafte
Charakterisierung eines Kleinkinds, eine Fantasie über die
schönste Situation − zu der wir gleich noch kommen wollen −
Miniaturen, Reflexionen, Fragmente und im Kern einen knappen
Bildungsroman, der um den erotischen Werdegang des Protagonisten kreist und den vielsagenden Titel Lehrjahre der Männlichkeit trägt. Diese Lehrjahre laufen auf die Begegnung des erotisch
ebenso bemühten wie glücklosen Julius mit der Idealfrau Lucinde
zu. Als das eigentlich Beeindruckende und sie von allen Frauen
aus Julius reichem Erfahrungsschatz grundlegend Unterscheidende erscheint Lucindes Unabhängigkeit:
Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich für
sie, alles andre nicht; und sie wusste was Wert hat. Auch sie hatte mit
kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande zerrissen
und lebte völlig frei und unabhängig. 11
Diese Unabhängigkeit wird vor allem in der Kunst geübt. Kunst
als ewig schaffende Praxis des Menschen stellt für den jungen
Schlegel den Königsweg zur Vereinigung des Männlichen und
des Weiblichen zur ganzen Menschheit dar. In seiner erotischen
Theologie übernimmt die Kunst die Aufgabe der täglich neu zu
feiernden Liturgie. Julius, der zuvor in seiner Schaffenskraft gehemmte Maler, gelangt zur Vollendung seines Könnens durch den
offenen Sinn seiner Geliebten, der selbst wiederum vor allem auf
die Kunst gerichtet ist. Das Vordringen in diese Dimension bedeutet für Julius die Vollendung seines Daseins:
Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr gelang, was
er zuvor durch ein Streben und Arbeiten erringen konnte; so ward ihm
auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne dass er eigentlich wahrnahm,
wie es geschah. Es ward Licht in seinem Innern, er sah und übersah
alle Massen seines Lebens und den Gliederbau des Ganzen klar und
richtig, weil er in der Mitte stand. Er fühlte, dass er diese Einheit nie
verlieren könne, das Rätsel seines Daseins war gelöst, er hatte das
Wort gefunden, und alles schien ihm dazu vorherbestimmt und von
den frühesten Zeiten darauf angelegt, dass er es in der Liebe finden
11
Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Frankfurt/Main 1985, S. 91.
234
sollte, zu der er sich aus jugendlichem Unverstand ganz ungeschickt
geglaubt hatte.12
Was sich aber in der Kunst ausdrückt und schließlich das Leben
selbst zu einem Kunstwerk werden lässt, findet in der Religion
der Liebe seine eigentliche Erfüllung. In der Dithyrambischen
Fantasie über die schönste Situation kommt es bereits im ersten
Drittel des Romans zu einer grundlegenden Darstellung dieses
Konzepts. Zunächst fasst Schlegel die innige Einheit des Paares
im Begriff der Ehe:
Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beide sind
sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist
Ehe, ewige Einheit und Verbindung unserer Geister, nicht bloß für das
was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die eine wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein
und Werden. 13
Diese Vereinigungsvision wird so lange konkretisiert, bis sie den
Rang eines religiösen Gefühls erreicht:
Wir beide werden noch einst in einem Geiste anschauen, dass wir Blüten einer Pflanze oder Blätter Einer Blume sind, und mit Lächeln werden wir dann wissen, dass was wir jetzt nur Hoffnung nennen, eigentlich Erinnerung war. [...] So schlingt die Religion der Liebe unsre
Liebe immer inniger und stärker zusammen, wie das Kind die Lust der
zärtlichen Eltern dem Echo gleich verdoppelt.14
Von der Liebe zwischen Julius und Lucinde ausgehend, kann man
die Religion der Liebe als Inbegriff der romantischen Glaubenswelt verstehen und Friedrich Schlegel als ihren tief beseelten Propheten bezeichnen. In diesem ‚Machwerk’, wie es seine Kritiker
über die Epochen hinweg immer wieder brandmarkten, hat der
Autor ein vielgestaltiges Bekenntnis zur Gleichberechtigung von
Mann und Frau auf der Ebene der Liebesbeziehung vorgenommen, das in besonderem Maße Aufsehen erregte – bei manchen
bis in die Gegenwart. Als der Feminismus der ersten Stunde diesen emanzipatorischen Vorstoß des ideenreichen Jungautors als
ausgemachte Männerfantasie geißelte und die madonnenhafte Lu12
Ebd., S. 98.
Ebd., S. 21.
14
Ebd., S. 22.
13
235
cinde als poetisch verfeinertes Lustobjekt inkriminierte, hatten die
streitbaren Jüngerinnen von Simone de Beauvoir wohl nicht ganz
Unrecht. Mit Gleichheit von Mann und Frau in einem rechtlichpolitischen Sinne hatte Schlegels Liebesreligion wenig zu tun.
Und das aus einem leicht einzusehenden Grund: bei Lucinde handelte es sich ja um eine spirituell-erotische Projektion, in der die
Frau vor allem die Rolle einer Anbetungsgestalt des Mannes inne
hat. Lucinde ist daher nichts anderes als eine Madonna der subjektiven Freiheit, die dem Mann zu schöpferischer Vollendung
und zur psychosexuellen Erfüllung verhilft.
Dem gesellschaftlichen Gleichstellungsauftrag ging eine
erotische Fantasie voraus, die als Literatur ihren Niederschlag
fand, aber auch als solche bereits die Grenzen des guten Geschmacks der Epoche zu sprengen vermochte. Die schönste Situation, von der Schlegel in seiner dithyrambischen Fantasie
spricht, besteht in der spielerischen Umkehrung der Rollen von
Mann und Frau beim Liebesspiel:
Wie könnte uns die Entfernung entfernen, da uns die Gegenwart selbst
gleichsam zu gegenwärtig ist. Wir müssen ihre verzehrende Glut in
Scherzen lindern und kühlen und so ist uns die witzigste unter den Gestalten und Situationen der Freude auch die schönste. Eine unter allen
ist die witzigste und die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen
und mit kindlicher Lust wetteifern, wer den anderen täuschender
nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser
gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. [...] Ich sehe
hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.15
Die Aushebelung der Rollenkonventionen durch Ironie, Scherz
und multiple Deutung brachte das Fass, in dem sich die fragwürdige Essenz der zeitgenössischen Liebespraxis sammelte, zum
Überlaufen. Die Anmaßung, Gleichberechtigung müsse so weit
gehen, dass man die Rollen der Geschlechter bei der Fortpflanzung einfach umdrehte, kam in den Augen der Bürger einer Revolution gleich, deren geopolitische Ausdehnung kaum auf den Venusberg beschränkt bleiben konnte. Musste man darin nicht eine
manifeste Gefahr für das gesellschaftliche Gefüge erkennen,
15
Ebd., S. 23.
236
wenn die Maßgaben von Subordination und Dominanz und ihre
eindeutige Zuordnung zu den Geschlechtern so sorglos und frivol
außer Kraft gesetzt werden?
Jedenfalls kann man daran sehen, dass Friedrich Schlegel
der Glaube an die Liebe Flügel verliehen hat, Instrumente aus
leicht schmelzendem Wachs allerdings, die nur sehr kurze Zeit
ihre Dienste erfüllten. Wir sehen jedoch in dieser kurzen Phase
die erotische Religion der Romantik gleichsam in statu nascendi
oder wenigstens in dem Kleinkindalter, das Schlegel bei der Charakterisierung der kleinen Wilhelmine als eine Allegorie auf die
unergründliche Leichtfertigkeit des Seins beschreibt. Es ist noch
ein Rest von Rokoko darin, die Schlegelschen Erotikvisionen sind
durchaus noch in den verspielten Mustern der Epoche verhaftet.
Weitaus deutlicher aber kündigt sich das bürgerliche Zeitalter in
diesem artifiziell gebauten Roman an, die Hochschätzung der Ehe
als seelischer Bund der unverbrüchlich Liebenden ebenso wie die
Libertinage einer aufziehenden Décadence, wie sie dann am Ende
des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Großstädten gelebt
werden sollte und in der die Musen den Status von lebenden Madonnen erhielten.
III
Während Schlegel noch als intellektueller Prophet einer neuen
Religion zu bezeichnen wäre, darf man in seinem Freund Novalis
bereits das Erscheinen eines reinpoetischen Messias sehen. Manches spricht dafür, dass sich der Salinenassessor aus Weißenfels
durchaus selbst als einen solchen verstanden hat. Aus seinem
Roman Heinrich von Ofterdingen, den er ein Jahr nach der Lucinde fertig stellte und dessen vorauseilende Fama beim Romantikertreffen schon in aller Munde war, sind Scherz und Ironie gründlich verbannt. Jetzt erhält die Religion der Liebe ihr eigentliches
Evangelium; Novalis, der Neuland Rodende, verkündet die Frohe
Botschaft der Blauen Blume. Doch die hat eine fatale Eigenschaft: Man muss sie, die dem Erwählten im Traum erscheint, im
Leben finden und erst die ausdauernde Suche danach macht aus
dem begabten Jüngling zuletzt einen Dichter.
Die Ein-Mann-Expedition nach der Blauen Blume erkundet
die Traumpfade zur Romantisierung der Welt. Ziel des jungen
237
Mannes, der ein Dichter werden will, ist es, den Traum in die
Wirklichkeit zu transferieren, ja letztlich beide Sphären zur Identität zu bringen. Romantischer Dichter zu werden bedeutet, durch
den Bildungsroman der Liebe hindurchzugehen, um in einem
Reich der freien Imagination anzugelangen.
Novalis schließt Motive des Erotischen mit der gerade erst
von Goethe geschaffenen Gattung des Bildungsromans zusammen
und wirkt darin auf die ihm nachfolgende Generation von Poeten
und Poetendarstellern in höchstem Maße stilbildend. Doch das
wäre nur eine Formalie, gäbe es nicht unter dieser Oberfläche eine
die Zeiten und Räume überbrückende Allegorie von allergrößter
Brisanz, ein Metaphernfeld, auf dem Sexualität ihre die Epochen
überspannende Symbolik und Sakralität gespeichert hat.
Die Blaue Blume, die dem werdenden Dichter im Sinn liegt,
weist eine nicht geringe Analogie zum Heiligen Gral auf, den
weiland die Ritter der Tafelrunde unter Aufwendungen aller Mühen gesucht haben. Mit dem Heinrich von Ofterdingen werden die
romantischen Dichter zu rastlosen Rittern in heiliger Mission. Die
Symbolik des Romans, der das Gründungsdokument der romantischen Religion darstellt, verschmilzt Erotik mit Sakralität, um aus
deren Identität eine neue Mythologie zu destillieren. Und wie
einst der heilige Gral eine implizite sexuelle Semantik mit den
höchsten christlichen Werten einer herrschenden Klasse zusammenschloss, so geht es bei den Suchenden der Blauen Blume ausschließlich um die Liebe und damit um die Einschwörung auf einen neuen Glauben für eine ihrer eigenen Identität noch nicht
ganz sichere Schicht − das Bürgertum. Mit Novalis und seiner
ebenso einfachen wie weihevollen Sprache tritt die erotische Religion ins Stadium ihrer neuchristlichen Sakralisierung. Jetzt werden aus den Rokoko-Libertins à la Schlegel fromme Pilger im
Zeichen der erotischen Heilsgewissheit. Selbstverständlich verschwindet damit sofort die sexuelle Freizügigkeit, die noch in der
Lucinde die Zeitgenossen aufwühlte. Heinrich von Ofterdingen ist
etwa so weit von jeder praktischen Erotik entfernt wie der Minnesang von Henry Miller. Jedoch, nicht Schlegels Lucinde wurde
zum Kultbuch der Heidelberger Romantiker, sondern der Roman
der Blauen Blume. Nicht die gegen die Gesellschaft behauptete
Freiheit des Skandalpaares Friedrich und Dorothea wurde zur Le238
gende, die sich ins Imaginäre der nachfolgenden Poeten einprägte,
sondern das junge Hinscheiden des Erzdichters Novalis, der
nichts wollte, als seiner noch jünger verstorbenen Verlobten Sophie von Kühn ins Grab zu folgen und der damit unsterblich wurde.
Mit der Überformung irdischen Verlangens durch poetische
Transzendenz wurde Novalis zum Vorreiter der Avantgarden bis
hin zum Surrealismus. Dass es sich dabei um eine Heilserwartung
handelte, die im Gegensatz zu Schlegels universalistischer Erotikreligion die christliche Transzendenz in den Diskurs zurück
brachte, war für den weiteren Verlauf der Romantik von durchschlagender Wirkung. Die äußerste Verdichtung von imaginativer
Realitätsüberwindung, Heilserwartung und erotischer Liebe findet
sich in Novalis’ Hymnen an die Nacht, Katechismus und Gebetsbuch aller Jünger des romantischen Glaubens bis heute. Ich zitiere
die dritte Hymne vollständig, um Ihnen das gegenwärtig werden
zu lassen:
Einst da ich bittre Thränen vergoß, da in Schmerz aufgelöst meine
Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engen, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg – einsam – wie
noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben – kraftlos,
nur ein Gedanken des Elends noch. – Wie ich da nach Hülfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht, und am fliehenden, verlöschenden Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: – da kam
aus blauen Fernen – von den Höhen meiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer – und mit einemmale riß das Band der Geburt – des
Lichtes Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer
mit ihr – zusammen floß die Wehmut in eine neue, unergründliche
Welt – du Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kamst über
mich – die Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend schwebte
mein entbundener, neugeborener Geist. Zur Staubwolke wurde der
Hügel – durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In
Ihren Augen ruhte die Ewigkeit – ich fasste ihre Hände, und die Thränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band. Jahrtausende zogen
abwärts in die Ferne, wie Ungewitter. An ihrem Hals weint ich dem
neuen Leben entzückende Thränen. – Es war der erste, einzige Traum
– und erst seitdem fühl ich ewigen, unwandelbaren Glauben an den
Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte. 16
16
Novalis: Werke, Briefe und Tagebücher (Anm. 1), Bd. 1, S. 153/155.
239
IV
Mit Novalis tritt die erotische Religion der Romantik in den Verklärungshorizont einer poetischen Mystik ein. Die lässt sich naturgemäß nicht aufs symbolische Medium der Sprachkunst einschränken. Die neu entfaltete Gedankenwelt wirkte auf die Protagonisten des romantischen Aufbruchs wie ein Rauschmittel und
strahlte mächtig in die Lebenswelten aus. Die große Liebe war zu
einer Frage der spirituell überhöhten Sinnlichkeit, zur Allegorie
auf die ewige Identität des Männlichen und des Weiblichen und
zur Mystik einer poetischen Transzendenz geworden. Wie also
hätte man akzeptieren können, dass angesichts solcher Intensitäten das tatsächliche Liebesleben im prosaischen Einerlei eines alltagstauglichen Pragmatismus stecken bleibt?
Man wollte, was man symbolisch beschwor und mystisch
verklärte, durchaus schon zu Lebzeiten erleben. Friedrich Schlegel zelebrierte die freie Partnerschaft mit Dorothea Veit als wechselseitige Erfüllung aller Sehnsüchte; Caroline Schlegel, die Ehefrau des Professors August Wilhelm Schlegel und Gastgeberin
des Romantikertreffens, lief mit fliegenden Fahnen zu dem groß
auftrumpfenden Jungphilosophen Schelling über, Novalis richtete
sein ganzes Trachten auf die Wiedervereinigung mit seiner Braut
Sophie in der nächsten Welt und Clemens Brentano wurde fast
wahnsinnig vor Verlangen nach Sophie Mereau.
In Brentanos werbenden Briefen an die als Schönheit geltende und mit ihrer Lyrik Aufsehen erregende Sophie Mereau
kommt die emotionale Aufladung besonders deutlich zum Ausdruck, mit der die romantische Generation die Liebe auch im Leben betrieb:
Du wirst in Deinen lieben Armen mir einen Raum vergönnen, den
auszufüllen mir endlich eine Gestalt gibt, ein Bett gibst Du dem flüssigen Element, die Untiefe machst du tief, das Stürmende rasch, das
träge, schmerzvolle Drängende zur freien freudigen Bewegung – Du
bringst das Leben mir,
schreibt Clemens Brentano, als es Sophie endlich möglich
scheint, mit ihm zusammen zu kommen. Und weiter: „O Sophie,
240
führe mich ins Leben, führe mich in die Ordnung, gib mir ein
Haus, ein Weib, ein Kind, einen Gott.“ 17
Die Ehe zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau
wurde bei aller Leidenschaft und Hingabe nicht glücklich.
Brentano lebte weiter seinen romantischen Dichtertraum, war viel
auf Reisen. Er suchte weiter rastlos nach der Blauen Blume, und
seine Frau schrieb ihm: „Ich bitte Dich lieber Fremdling, komme
doch endlich einmal nach Hause. Du bist stets nicht bei Dir – versuche es nur und komm zu Dir selbst.“ 18
Im Verlauf von drei Jahren gebar Sophie drei Kinder – alle
tot. Bei der letzten Geburt verstarb sie selbst, mit 35 Jahren.
Nach ihrem Tod fand Brentano wieder zu dem schwärmenden
Ton zurück, den er bei seiner Werbung unablässig angestimmt
hatte, nun aber in Moll und im Finalzustand untröstlicher Verzweiflung:
Alles, Alles ist hin, ich bin versteint, ich hatte alles in Sophie wiedergefunden, waß ich in ihr liebte, in ihr verlor, was ich war, ach ich war
unaussprechlich glücklich ... Ich habe alles verloren, alle Geschichte
meines Lebens, alles waß mich liebte, trieb und erhielt, ich habe keinen Wunsch als zu sterben. 19
Es war die hohe Zeit eines sozialpsychologischen Wandels, in
dem das Bürgertum seine eigene Form der leidenschaftlichen
Liebe einübte und ihr höchst eigenes emotionales Universum
entwarf. Das ging nicht ohne Verluste ab. Dass Frauen plötzlich
ihr erotisches Verlangen äußerten, stellte die Männer nicht selten
vor unlösbare Aufgaben. So konnte es dazu kommen, dass die
erotische Leidenschaft, durch die eine Frau ihre innere Selbständigkeit überhaupt erst wahrzunehmen vermochte, von der Außenwelt nicht wahrgenommen wurde oder, wie im Fall des Stiftsfräuleins Karoline von Günderrode, in unerträgliches Unglück
führte. Ihre Liebe zu dem Heidelberger Orientalisten Friedrich
17
Dagmar von Gersdorff (Hg.): Lebe der Liebe und liebe das Leben. Der
Briefwechsel von Clemens Brentano und Sophie Mereau. Frankfurt/M.
1981, S. 48.
18
Ebd., S. 58.
19
Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jürgen
Behrens. Bd. 31: Briefe III, Stuttgart 1991, S. 593.
241
Creuzer wurde von diesem zwar erwidert, jedoch ohne dass sich
jemals eine Möglichkeit andeutete, ihr eine Form im Leben zu
geben. Als Autorin, die unter männlichem Pseudonym veröffentlichte, und mit Vorliebe heroische Stoffe für ihre Dramen wählte,
stellte sich die Günderrode in ihren Briefen als durchaus gleichberechtigte Partnerin gegenüber Creuzer dar und zog dieses Selbstbewusstsein ausschließlich aus ihrem Schreiben. Aber in ihrer
Autonomie konnte sie weder beim Geliebten noch in den Augen
der Zeitgenossen als Frau wahrgenommen werden. Ihre Briefe
dokumentieren die wachsende Entfremdung zwischen ihr und der
Außenwelt. 20 Im Sommer 1806 ging sie bei Winkel im Rheingau,
wo sie sich im Sommerhaus der Brentanos aufgehalten hat, in den
Rhein und nahm sich das Leben.
Ich weise auf Fälle wie den Brentanos oder der Günderrode
hin, weil ein Blick auf die soziale Wirklichkeit zur Betrachtung
der erotischen Religion der Romantik dazugehört. Man sollte
auch die glücklicheren Beziehungen nicht verschweigen, die es
gegeben hat, etwa die Ehe zwischen Bettine von Brentano und
Achim von Arnim. Insgesamt gilt jedoch, dass ein ideeller Überschuss von tatsächlich religiöser Gefühlsdimension einerseits dazu führte, dass man die Zweierbeziehungen zum Mittelpunkt des
Universums erklärte und großen Erwartungen aussetzte, die sich
nicht immer erfüllen ließen. Andererseits trug der damit verbundene psychische Aufbruch dazu bei, den Frauen aus den Bildungsschichten ein neues, starkes Selbstbewusstsein zu verleihen,
durch das sie zumindest auf der Ebene der Emotion eine gewisse
Selbständigkeit erlangen und in manchen Fällen auch nach außen
vertreten konnten. Vielfach traten die Frauen als bedeutende
Briefschreiberinnen in Erscheinung; über ihren Briefverkehr lief
die interne Kommunikation der romantischen Gesellschaften und
in ihren Salons trafen sich die führenden Köpfe der Zeit. Dennoch
muss man festhalten, dass in diesem psychisch und spirituell hoch
aufgeladenen Milieu relativ stereotype Rollenbilder Geltung beanspruchten, die für die Zeit als charakteristisch gelten können
20
Vgl.: Ich sende Dir ein zärtliches Band. Die Briefe der Karoline von
Günderrode. Hg. von Birgit Weißenborn. Frankfurt/M. 1992.
242
und aus denen die tatsächliche Spannbreite des damals vorherrschenden erotischen Imaginären abzulesen ist.
Der Historiker Richard von Dülmen weist in seiner Kulturgeschichte der deutschen Romantik darauf hin, dass im zeitgenössischen Imaginären drei Typen von Frauen in den Vordergrund
traten, die zwar nichts mehr mit dem traditionellen Rollenbild der
Frau im 18. Jahrhundert, aber eigentlich auch kaum etwas mit
dem Sozialtypus der emanzipierten Frau zu tun hatten.21 Da wäre
zunächst der schon angesprochene, neu entworfene Typ der Madonna zu nennen:
Dieses Frauenbild bewahrte letztlich die extravagante Stellung der
Männer, es korrespondierte mit der neuen Verehrung und Bewunderung durch das Genie, das die Welt erfindet. 22
Das aussagekräftigste Beispiel ist hier sicherlich Dorothea Veit,
die von Friedrich Schlegel zur Madonna stilisiert wurde und in
dieser Gestalt Eingang in seine Romanfiktion fand. Die Madonna
vertritt die Funktion einer relativ eigenständigen Muse, die das
Genie zur Vollendung seiner Kunstfertigkeit inspiriert. Das einzige Selbständigkeitsattribut, das ihr zugestanden wird, liegt in der
Tatsache, dass sie selbst auch künstlerisch tätig sein kann und
dass sie auf dieser Ebene wie in der sexuellen Praxis ein Wörtchen mitzureden hat. Daneben findet man die Projektionsfigur des
’luciferischen Weibes’, der selbstbewussten Frau, die ihr Leben selbst
bestimmte und durch ihre Auftritte gleiche Rechte wie die Männer beanspruchte. Sie liebte und haßte man zugleich.23
Herausragendes Beispiel für diese Gestalt war Caroline BöhmerSchlegel-Schelling, in deren Namen die Kette ihrer Ehemänner
wie ein Trophäenschweif mitschwingt und die von Friedrich
Schiller einmal explizit als „Mamsell Luzifer“ tituliert worden ist.
Carolines Leben gilt als die für die Epoche einzigartige Biografie
einer Frau, die für die männliche Zeitgenossenschaft nicht zu fas21
Vgl. Richard von Dülmen: Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der
deutschen Romantik. 1795-1820. Band 1: Lebenswelten. Köln/Weimar
2002, S. 257.
22
Ebd., S. 257.
23
Ebd., S. 257.
243
sen war und deren Selbständigkeit und intellektuelle Brillanz sich
immer wieder von neuem zeigte. Doch auch das luciferische
Weib ist eine Projektion männlicher Faszinationsschübe, in der
das tatsächliche innere und äußere Leben der so Bezeichneten nur
am Rande zur Sprache kommt.
Schließlich ist als dritter Typus die Kindfrau anzuführen.
Die Romantiker sind fasziniert von sehr jungen Frauen, die als
rein und naturhaft gelten, und deren Begeisterungsfähigkeit den
rauschbereiten Männern in nicht wenigen Fällen den Verstand
raubte. Man denke an Bettina von Brentano, die als ewige Kindfrau unentwegt den alten Goethe so hartnäckig umschwärmte,
dass er irgendwann nicht mehr konnte und zur Kur nach Karlsbad floh – nur um dort um die Hand einer Siebzehnjährigen anzuhalten. Bei der Frage, was Goethe durch die Ablehnung seines
Antrags erspart geblieben ist, mag man an die sechszehnjährige
Auguste Bußmann denken, die der unglückliche Clemens Brentano 1807, kurze Zeit nach dem Tod seiner Frau Sophie kennenlernte und die dem armen Poeten vollständig den Kopf verdrehte.
In einer Art spontanem Durchbrennen, das manche auch als Entführungsaktion betrachten, brachte sie den vom Schmerz halb gelähmten Witwer dazu, ihr ins hessische Fritzlar vor den Traualtar
zu folgen und kurzerhand den Bund der Ehe mit ihr einzugehen.
Was daraus hervorging, muss man wohl als Katastrophe bezeichnen. Auguste legte es vor allem darauf an zu provozieren und zu
schockieren, ihr Leben bestand aus einer nicht abreißenden Kette
von Happenings, die nicht selten in handgreiflichen Auseinandersetzungen mit dem überforderten Ehemann gipfelten. Die Biographen berichten:
Sie spielte nachts Klavier, las unentwegt ‚obscöne’ Bücher, trat verschwenderisch auf, ging allein auf Bälle und kokettierte mit Männern,
trug zu unpassenden Gelegenheiten Männerkleidung, verzichtete auf
ein Halstuch, wollte auf einem Esel reiten und badete mit Vorliebe bei
Mondschein.24
Die romantische Ehe als Albtraum; auch diese Religion hielt eine
Hölle bereit. Der Scheidungsprozess zog sich vier Jahre lang hin,
und man kann Clemens Brentano fast verstehen, dass er zuletzt,
24
Ebd., S. 273.
244
tief im Glauben verwurzelt, am Bett einer Ekstatikerin in Dülmen
saß und auf die Wiederkehr ihrer Stigmata wartete. Jedenfalls
sandte Brentano seiner Auguste noch ein paar deftige Verse hinterher, in denen nichts mehr von erotischer Religiosität zu spüren
ist:
Wohlan! So bin ich deiner los/Du freches liederliches Weib/Fluch
über deinen sündenvollen Schoß/Fluch über deinen feilen geilen Leib
[...] Fluch über jede tote Stunde/Die ich an deinem lügenvollen Munde/In ekelhafter Küsse Rausch vollbracht.25
Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Die romantische Religion der
Liebe hatte im irdischen Vollzug durchaus ihre Unvollkommenheiten. Jedenfalls kann man sehen, wie sich die drei herausragenden Frauenbilder der sehnsuchtsvollen Romantiker gelegentlich
überschnitten und aus der kindhaften Verführung kurzzeitig die
freigeistige Madonna und schließlich ganz schnell das Fräulein
Luzifer werden konnte. Übrigens, Auguste Bußmann, die in
Frankfurt ein zweites Mal heiratete und vier Kinder bekam – es
heißt, nicht alle seien von ihrem Gatten gewesen − , ertränkte sich
im Jahre 1832 einundvierzigjährig im Main.
V
Wir sind also auf den Nachtseiten der deutschen Romantik angekommen, genauer gesagt, die Versuche unserer Protagonisten, die
Religion der Liebe ins Leben zu übertragen, haben eine Reihe
tragischer Einzelschicksale produziert. Was als Aufbruch zu neuen spirituellen Ufern begann, endete als Suche nach den alten
Bildern der Demut und des Trostes. Das Madonnenbild kehrt
auch in der Spätromantik wieder, nur eben nicht mehr im Licht
der sinnenfrohen Lebenskünstlerin Lucinde, sondern im Zeichen
des Kreuzes und an den rettenden Ufern der Frömmigkeit.
In Joseph von Eichendorffs Novelle Das Marmorbild, die
erstmals im Frauentaschenbuch auf das Jahr 1819 erschien, also
zu Beginn der großen Restaurationsepoche, die mit den Karlsbader Beschlüssen in Deutschland eingeleitet worden ist, finden wir
ein Lehrbeispiel für die Errettung eines jungen Dichters aus den
Abgründen der erotischen Leidenschaften durch den christlichen
25
Ebd., S. 273f.
245
Glauben. Der junge Edelmann Florio reitet an der Seite des Sängers Fortunato in die Stadt Lucca ein und zeigt sich voller Erwartung auf das lustige Leben in der Stadt und die zahlreichen Freuden, die sie bereitzuhalten scheint. Doch Fortunato warnt ihn eindringlich:
Habt Ihr wohl jemals, sagte er zerstreut aber sehr ernsthaft, von dem
wunderbaren Spielmann gehört, der durch seine Töne die Jugend in
einen Zauberberg hinein verlockt, aus dem keiner wieder zurückgekehrt ist? Hütet Euch! 26
Nachdem der weiterhin arglose Florio bei einem Fest ein tanzendes junges Mädchen erblickte, von dem er fortan träumt, gerät er,
von zunehmender und schließlich unstillbarer Sehnsucht geleitet
und mit Fortunatos Gitarre unter dem Arm, bei einer spontanen
nächtlichen Exkursion an einen von hohen Bäumen umstandenen
Weiher:
Der Mond, der eben über die Wipfel trat, beleuchtete scharf ein marmornes Venusbild, das dort dicht am Ufer auf einem Steine stand, als
wäre die Göttin so eben erst aus den Wellen aufgetaucht und betrachte
sie nun, selber verzaubert, das Bild der eigenen Schönheit, das der
trunkene Wasserspiegel zwischen den leise aus dem Grunde aufblühenden Sternen widerstrahlte. 27
Floria stand wie angewurzelt da, denn
ihm kam jenes Bild wie eine lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume, aus der Frühlingsdämmerung und
träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. 28
Die bei dem jungen Adligen dergestalt angeregte Fantasie treibt
weiter Blüten, bis er sich auf einem prachtvollen Schloss wiederfindet, in dem ihm die Hausherrin als lebendige Verkörperung jenes Marmorbilds erscheint und dem jungen Mann ihre Aufmerksamkeit widmet. Zwischendurch lernen die beiden Fahrenden
26
Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild, in: ders.: Werke in 5 Bänden,
hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz.
Band 2: Ahnung und Gegenwart; Erzählungen I. Hg. von Wolfgang
Frühwald und Brigitte Schillbach, Frankfurt/Main 1985, S. 385-428, hier
S. 386.
27
Ebd., S. 397.
28
Ebd., S. 397.
246
auch den Ritter Donati kennen, der in einem merkwürdigen verwirrten und gehetzten Geisteszustand erscheint und undurchsichtige Verbindungen zu dem Schloss der schönen Gräfin unterhält.
Florio verfällt den Verführungskünsten der Schönen immer mehr,
hört zudem öfter seinen Namen in den Gesprächen der Gesellschaft im Schloss und in dessen Umgebung nennen und glaubt
schon daran, muss geradezu daran glauben, dass man in dieser
illustren Gesellschaft nichts anderes zu tun habe, als über sein
Schicksal zu befinden. Florio holt sich sogar bei dem bleichen,
abgezehrten Donati Rat, der ihm mit seinen sprunghaften Reaktionen und seinen Panikattacken keine rechte Hilfe ist. Als Florio
schließlich in einer gewittrigen Nacht allein mit der Gräfin ist und
allerlei Gesichte hat, erlebt er einen seelischen Zusammenbruch,
bei dem er gerade noch aus dem Zauberschloss heraus kommt und
sich danach tagelang in seinem Zimmer einschließt. Zuletzt trifft
er wieder auf Fortunato, der mit zwei Männern zu einer Reise
durch Italien aufbricht. Florio, noch halb benommen von seinen
Erlebnissen, schließt sich ihnen an. Beim Anblick der alten Ruine
über der Stadt beginnt Fortunato ein Lied zu singen, in dem das
Schloß als Residenz der heidnischen Göttin Diana vorkommt. Darauf entspinnt sich ein kurzer Dialog:
Jene Ruine, sagte endlich Pietro, wäre also ein ehemaliger Tempel der
Venus, wenn ich Euch sonst recht verstanden? Allerdings, erwiderte
Fortunato, so viel man an der Anordnung des Ganzen und den noch
übrig gebliebenen Verzierungen abnehmen kann. Auch sagt man, der
Geist der schönen Heidengöttin habe keine Ruhe gefunden. Aus der
erschrecklichen Stille des Grabes heißt sie das Andenken an die irdische Lust jeden Frühling immer wieder in die grüne Einsamkeit ihres
verfallenen Hauses heraussteigen und durch teufelisches Blendwerk
die alte Verführung üben an jungen sorglosen Gemütern, die dann
vom Leben abgeschieden, und doch auch noch nicht aufgenommen in
den Frieden der Toten, zwischen wilder Lust und schrecklicher Reue,
an Leib und Seele verloren, umherirren, und in der entsetzlichsten
Täuschung sich selber verzehren.29
Offenbar handelte es sich also bei dem Ritter Donati um einen jener armen Untoten, dessen Nachfolge Florio um ein Haar angetreten hätte. Nun aber sieht er sich gerettet, das junge Mädchen,
29
Ebd., S. 425f.
247
das er anfangs so anziehend fand, gesellt sich frisch, fromm und
erfurchtsvoll zu ihm und begleitet die ganze Gesellschaft in Richtung Mailand. Die Erlösung von der Verführungsmacht des Marmorbilds aber kam durch eine anderes Frauenbild, das Fortunato
am seines Lieds hervorhebt:
Denn über Land und Wogen
Erscheint, so still und mild,
Hoch auf dem Regenbogen
Ein andres Frauenbild.
Ein Kindlein in den Armen
Die Wunderbare hält
Und himmlisches Erbarmen
Durchdringt die ganze Welt.
Da in den lichten Räumen
Erwacht das Menschenkind
Und schüttelt böse Träume
Von seinem Haupt geschwind.
Und, wie die Lerche singend,
Aus schwülen Zaubers Kluft
Erhebt die Seele ringend
Sich in die Morgenluft. 30
In Eichendorffs Erzählung werden die beiden Frauenbilder in finaler Opposition gegeneinander gestellt: auf der einen Seite das
verführerische Marmorbild, das noch immer jeden Frühling die
jungen Leute in den Untergang führt und auf der anderen Seite
die Madonna mit dem Kind, die für die Erlösung von dem Fluch
der Verbannung in die Rastlosigkeit der Triebe, für seelenvolle
Liebe, Treue und heiteres Leben steht.
Die Blaue Blume und die Sixtinische Madonna werden endlich doch eins. Die Reste der neuen Mythologie, die Friedrich
Schlegel stiften wollte, fallen auf die Ikonografie des Christentums zurück; aus der Religion einer spiritualisierten Erotik wird
die Rückkehr in den Schoß der katholischen Kirche, die den heidnischen Eros ebenso aus ihren Gebeten verbannt hat wie die venerischen Marmorbilder aus ihren Kreuzgängen.
30
Ebd., S. 425.
248
Aber der unermüdlich singende und dichtende Romantiker hat
endlich seine Ruhe gefunden. Eichendorffs Traumbilder sind Synthesen und als solche Endstufen jener großen Imagination, die bei
Novalis und Schlegel ihren Ausgang genommen hat.
Zum ersten Mal seit die heidnischen Götter vom christlichen
Gott verdrängt worden waren, hat man versucht, Erotik und Religion zusammenzudenken. Dieses für die Epoche um 1800 auf den
ersten Blick aberwitzige Projekt ist allerdings nur vordergründig
gescheitert. Der romantische Durchgriff hatte die Welt des erotischen Imaginären verändert. Die Liebesreligion der Romantik ist
zu einem prägenden Element im Bewusstsein des modernen Menschen geworden. Marmorbild und Madonna stehen sich nicht
mehr als Antagonisten gegenüber, und die Blaue Blume blüht
immer noch in irgendeinem Winkel der Welt. Man muss an sie
glauben, dann lässt sie sich finden.
249
Sebastian Günther
„Der Lebende, Sohn des Wachen: Über die Geheimnisse
der orientalischen Weisheit“ – Literatur und Religion in
einem philosophisch-allegorischen Roman des klassischen muslimischen Gelehrten Ibn Tufail
Dieser Beitrag wird die Aufmerksamkeit geographisch auf die
arabisch-islamische Welt sowie chronologisch auf die Zeit
zwischen dem 6. und dem 13. nachchristlichen Jahrhundert
richten. Nach einigen einführenden Bemerkungen zur literarischen und religiösen Situation im alten Arabien sowie in der
Frühzeit des Islams gilt unser Hauptaugenmerk dann einem philosophisch-allegorischen Roman mit dem gleichermaßen originellen wie programmatischen Titel Der Lebende, Sohn des Wachen.
Dieses Werk erzählt von einem Gottessucher, der allein und ohne
Kontakt zur menschlichen Zivilisation aufwächst und einzig
durch den Gebrauch seines Verstandes zu Gott findet. Es wurde
im 12. nachchristlichen Jahrhundert von dem bedeutenden
arabischen Universalgelehrten, Philosophen und Schriftsteller Ibn
Tufail (1110-1185) aus dem islamischen Spanien verfasst. Doch
bevor wir auf dieses Werk und seinen Autor näher eingehen, ist es
angebracht, den historischen und kulturellen Kontext für das recht
spezifische Verhältnis von „Literatur und Religion“ im Islam kurz
zu umreißen.
1. Die Macht der arabischen Sprache
Das Arabien der vorislamischen Zeit wird von Muslimen vor allem durch den Begriff Dschahiliyya (Deutsch: Zeit der „Unwissenheit“ im Hinblick auf den Einen und Einzigen Gott, Allah)
charakterisiert. Dieses Arabien vor dem Aufkommen des Islams
im 7. Jahrhundert war gekennzeichnet durch besonders harte
Lebensbedingungen, wie sie das nomadische Leben in der Wüste
und die immer wieder aufflammenden Fehden unter den
arabischen Stämmen mit sich brachten.
Gleichermaßen war dieses alte Arabien geprägt durch eine
religiöse Vielfalt. Zu nennen sind hier die Verehrer verschiedener
250
altarabischer Gottheiten und die Anhänger von Sternen- und
Ahnenkulten ebenso wie die Christen und Juden (in Teilen der
Arabischen Halbinsel) sowie die Hanifen, d. h. die arabischen
Anhänger einer Art semitischen Ur-Monotheismus.
In kultureller Hinsicht ist für das alte Arabien vor allem die
hochpoetische literarische Tradition der Araber kennzeichnend,
die sich sprachlich durch intellektuell anspruchsvolle
Ausdruckformen und eine komplexe Metaphorik auszeichnete.
Neben Orakel- und Weisheitssprüchen sowie kurzen Prosatexten
über „die Schlachtentage der Araber“ (Arabisch: ayyam al-‘arab)
beeindrucken vor allem die großartigen Liebesoden sowie
formvollendete Lob- und Schmähgedichte durch ihre kunstvolle
Komposition und sprachliche Meisterschaft. Bemerkenswert sind
für diese altarabische Poesie und Prosa einerseits das nahezu
vollkommene Fehlen religiöser Konnotationen und andererseits
die starke Präsenz des Menschen als Individuum, sein Drang nach
Freiheit und Gerechtigkeit sowie sein enges Verhältnis zur Natur.
Zu Recht gehören deshalb die Sieben Goldenen Oden, d. h. die
Sammlung der sieben berühmtesten Gedichte aus vorislamischer
Zeit, heute zur Weltliteratur. Diese Goldenen Oden besingen die
Faszination des diesseitigen Lebens. Sie preisen die Schönheit der
Geliebten oder klagen über ihren schmerzvollen Verlust. Sie
sprechen vom Stolz der Araber auf ihre Reittiere und rühmen die
Schönheit der Wüstenlandschaft. Doch sie berichten auch von
legendären Ereignissen im Leben der arabischen Stämme, um
schließlich einen Stammesfürsten oder den Mäzen des Dichters zu
lobreisen.
2. Der Koran: Impuls und neuer Maßstab für Religion und
Literatur
Die sprachliche Kunstfertigkeit der Araber im Ausdruck komplexer Ideen führte die im 7. Jahrhundert dem Propheten
Muhammad (ca. 570-632) geoffenbarte Heilige Schrift der
Muslime, der Koran, nicht nur fort. Mehr noch, der überwiegend
in gereimter Prosa gehaltene und von besonders ausdrucksstarken
sprachlichen Bildern gekennzeichnete koranische Text eröffnete
ganz neue sprachliche Dimensionen. Doch auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht setzte die koranische Aufforderung an
251
die Araber und die gesamte Menschheit, mit frevlerischen Lebensweisen und falschen Göttern zu brechen und sich bedingungslos Gott, Allah, hinzugeben, ganz neue Maßstäbe.
Die von Muhammad über einen Zeitraum von 22 Jahren in
einzelnen Teilen erfolgte Verkündigung des Korans (das
arabische Wort Koran bzw. Qur’an bedeutet „Lesung“ bzw.
„Verlesen“ oder auch „Rezitation“ der Heiligen Schrift) bewirkte
somit geradezu einen Evolutionssprung des Arabischen im Hinblick auf die Ausdrucksformen für religiös-spirituelle Ideen. Doch
diese neue semantische, stilistische und ästhetische Qualität des
sprachlichen Ausdrucks im Koran sollte darüber hinaus auch die
gesamte schöngeistige wie auch die wissenschaftliche Literatur in
arabischer Sprache in ganz nachhaltiger Weise prägen – eine
Entwicklung übrigens, die bis in unsere Tage anhält und die auch
in der zeitgenössischen arabischen Kultur und Literatur nichts von
ihrer ursprünglichen Kraft und Nachhaltigkeit verloren hat.
3. Wissenssuche als religiöser und gesellschaftlicher Auftrag
im Islam
Die Eroberungen großer Territorien durch die Araber unter dem
Banner des Islams führte zur Entstehung eines Weltreiches, das in
seiner Blüte im 9. bis 13. Jahrhundert vom islamischen Spanien
bis an die Grenzen Chinas reichte und das vor allem zwei Faktoren zusammenhielt: der Islam als neue Religion und Lebensweise
vor allem der Eliten der zahlreichen Völker, die in diesem Weltreich lebten, sowie die Verwendung der arabischen Sprache in allen Bereichen des politischen, administrativen, wissenschaftlichen
und kulturellen Lebens. Zusätzliche neue intellektuelle Impulse
verlieh der arabisch-islamischen Kultur im 9. und 10. Jahrhundert
vor allem die große Übersetzungsbewegung, als deren Resultat
wichtige Bereiche des griechisch-hellenistischen sowie des iranischen und indischen intellektuellen Erbes in arabischer Sprache
verfügbar wurden. Durch diese Übersetzungen ins Arabische, die
vor allem syrische Christen anfertigten, wurden die Muslime mit
den Kernbereichen des antiken Wissens nicht nur vertraut, sondern sie wurden vor allem in die Lage versetzt, diese zur Entwicklung eigener, komplexer Gedankenmodelle in den verschiedenen
Wissensbereichen – sowohl in religiösen als auch in profanen
252
Disziplinen – kreativ zu nutzen. In diesem dynamischen Prozess
zeichnete sich insbesondere die arabisch-islamische Philosophie
durch Brillanz im abstrakten Denken und Kreativität bei der Entwicklung ihrer Gedankenmodelle aus. Vor allem diese philosophischen Aktivitäten waren es, die auf mannigfaltige Weise den
mittelalterlichen islamischen Wissenschaftsbetrieb befruchteten.
Sie inspirierten die akademischen Diskussionen der Gelehrten
(die sich ja alle – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft oder
religiösen Zugehörigkeit – des Arabischen, der Wissenschaftssprache des Islams im Mittelalter, bedienten) und ermutigten sie
zu originellen Interpretationen älterer sowie zur Entwicklung
innovativer, neuer Gedankenmodelle in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, einschließlich der islamischen Theologie.
4. Der Autor: Ibn Tufail
Einer der bedeutendsten arabisch-islamischen Philosophen war
der aus al-Andalus, dem islamischen Spanien, stammende und
auch im christlichen Europa des Mittelalters gut bekannte Denker
des 12. Jahrhunderts, Abu Bakr Muhammad ibn ‘Abd al-Malik
ibn Muhammad Ibn Tufail.
Nur wenig ist über das Leben Ibn Tufails bekannt. Geboren
wurde er um das Jahr 1110 in der Nähe der heutigen Stadt Guadix
im Nordosten Granadas, d. h. einer Provinz, welche in jener Zeit
von der muslimischen Berberdynastie der Almoraviden (10461147) beherrscht wurde. Ibn Tufail studierte wahrscheinlich in
Sevilla und Cordoba, zwei intellektuellen Hochburgen auf der
Iberischen Halbinsel, und erwarb hier Kenntnisse in Medizin, Mathematik, Astronomie, Physik und anderen Naturwissenschaften,
aber auch in der Poesie. Nach Abschluss seiner Studien ließ er
sich zunächst als Arzt in Granada nieder. Unter den der
Almoraviden-Dynastie nachfolgenden Herrschern auf der
Iberischen Halbinsel und im Maghreb, den Almohaden (11471269), war es dann der almohadische Sultan Abu Ya‘qub Yusuf
(reg. 1163–1184), ein an griechischer Philosophie besonders
interessierter Herrscher, der Ibn Tufail schließlich als Leibarzt
und Berater an seinen Hof im marokkanischen Marrakesch berief.
Hier gehörte Ibn Tufail zu einer Gruppe von Intellektuellen, die
253
das kulturelle und geistige Leben des Almohaden-Reiches
mitbestimmten. Ibn Tufail starb im Jahre 1185 in Marokko.1
5. Hayy ibn Yaqzan: ein Name als Programm
Ibn Tufail verfasste mehrere wissenschaftliche Werke, die allerdings allesamt verloren gegangen sind. Erhalten ist lediglich ein
zwischen 1177 und 1182 entstandener philosophisch-allegorischer Roman mit dem Titel Hayy ibn Yaqzan: Fi asrar al-hikma
al-maschriqiyya, eines der bemerkenswertesten Bücher des Mittelalters überhaupt. Der Titel des Romans steht dabei programmatisch für das Gesamtwerk. Der Haupttitel nämlich, Hayy ibn
Yaqzan, d. h. der Name des Protagonisten dieses Romans,
bedeutet übersetzt Der Lebende, Sohn des Wachen. Das arabische
Wort hayy hat zunächst die Bedeutung „Lebender“ oder
„Lebendiger“ im Sinne eines Individuums. Als Kollektivum
bezeichnet der Begriff im klassischen Arabischen dann aber auch
den „Kernverband“ und damit den „Lebensquell“ eines Stammes
oder Klans. Er bedeutet „Leben“ im besten Wortsinne und darf
gleichsam als ein Synonym für „die Menschen“ bzw. „die
Menschheit“ generell gelten. Im religionsphilosophischen Sinne
bezieht sich der Name Hayy, „Lebender“, auf eine Vorstellung,
die sich sowohl im Koran als auch (in Anlehnung an griechisches
Gedankengut) in der arabisch-islamischen Philosophie findet.
Diese Vorstellung beinhaltet zum einen, dass das menschliche
Leben ein Ausdruck von „Perfektion“ im Hinblick auf Gott ist,
der sein Wesen in der Schöpfung geoffenbart hat.2 Das Ideal des
1
Zum Leben und Werk von Ibn Tufail, vgl. L. Goodman: “Ibn Tufayl”. In:
Sayyid Hussain Nasr and Oliver Leaman (eds.): History of Islamic Philosophy, London: Routledge 1996, S. 313-329; und J.P. Montada: “Philosophy
in Andalusia: Ibn Bājja and Ibn Tufayl”. In: Peter Adamson and Richard C.
Taylor (eds.): The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, Cambridge University Press 2005, S. 155-179.
2
Der Name al-Hayy, also „der (ewig) Lebende“ bzw. „der Lebendige“, ist
ein koranischer Beiname Gottes (Koran 2:255, 3:2, 20:111, 25:58, 40:65)
und einer der sogenannten „neunundneunzig schönen Namen“ Gottes, welche sein Wesen zu beschreiben versuchen. Das menschliche Leben als von
Gott geschaffen ist nach dem Koran heilig (Koran 17:33), auch wenn das
Leben im Diesseits für die Gottesfürchtigen lediglich eine Station auf dem
Weg zum „wahren“ ewigen Leben im Jenseits ist (z. B. Koran 6:32). Die
254
„vollständigen“, ja „perfekten“ Menschen tritt jedoch erst dann
zutage, wenn die betreffende Person ihr „Handeln“ eng mit dem
Gott-gegebenen, menschlichen „Verstand“ verknüpft. Dieser
engen Verbindung von Intellekt, Erkenntnis und vernunftbetontem Handeln als Wesensmerkmale des perfekten Menschen
wird von den arabisch-islamischen Philosophen, aber auch im
engeren religiösen Kontext eine besondere Bedeutung beigemessen, wie das gleich näher zu besprechende Werk von Ibn
Tufail eindrucksvoll verdeutlicht. Die islamischen Philosophen
waren bei der zentralen Konzeption vom Intellekt bzw. seiner
erkenntnisbringenden Funktion vor allem von den antiken
griechischen Philosophen (insbesondere Platon, Aristoteles,
Plotin, Porphyrios, Galen und Ptolemäus) beeinflusst. Daneben
wurden aber auch altiranisch-gnostische Vorstellungen rezipiert.
Der Beiname Ibn Yaqzan, „der Sohn des Wachen“,
wiederum deutet an, dass es sich bei diesem Geschöpf um einen
„Spross“ bzw. ein „Produkt“ der reinen Intelligenz handelt, d. h.
jener Existenzform, welche weder Schlaf noch Unaufmerksamkeit kennt. Der Ausdruck „Sohn des Wachen“ spielt dabei auf
die neuplatonische Emanationslehre vom „ausfließenden Intellekt“ an, wie sie auch al-Farabi (ca. 870-950), Ibn Sina (latiniIdee, dass Gott der zentrale Fokus allen Lebens ist, kommt im Koran am
deutlichsten im sogenannten Thronvers, einem der berühmtesten und von
Muslimen am häufigsten zitierten Verse, zum Ausdruck. Hier heißt es: „Allah [ist einer allein]. Es gibt keinen Gott außer ihm. [Er ist] der Lebendige
und Beständige. Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf. Ihm gehört
[alles], was im Himmel und auf Erden ist. Wer [unter den himmlischen
Wesen] könnte – außer mit seiner Erlaubnis – [am Jüngsten Tag] bei ihm
Fürsprache einlegen? Er weiß, was vor und was hinter ihnen liegt. Sie aber
wissen nichts davon – außer was er will. Sein Thron reicht weit über Himmel und Erde. Und es fällt ihm nicht schwer, sie [vor Schaden] zu bewahren. Er ist der Erhabene und Gewaltige.“ (Koran 2:255; Übersetzung nach
Rudi Paret (Übers.): Der Koran: Übersetzung, Stuttgart: Kohlhammer
4
1985.). Diese koranische Aussage impliziert die Vorstellung von Gott als
dem „Fürsorglichen Schöpfer“, auf den – anders als bei Aristoteles ersten
„unbewegten“ Beweger – die Schöpfung nicht nur zurückgeht, sondern der
diese auch beschützt und für diese sorgt (vgl. auch Ian Richard Netton:
“Life”. In: Jane Dammen McAuliffe (ed.): Encyclopaedia of the Qur’ān, 6
Bde., Leiden: Brill 1999-2006, Bd. 3 (2003), S. 182-185, hier S. 183.)
255
siert: Avicenna, 980-1037) und andere islamische Philosophen
vertraten sowie weiterentwickelten und wonach die mit dem Verstand erkennbaren Strukturen und Formen auf das „Ausfließen“
aus einer metaphysischen Quelle zurückgehen bzw. als
„Emanationen“ des Schöpfergottes verstanden werden. Der Name
Ibn Yaqzan, „der Sohn des Wachen“, kann somit auch als eine
Personifizierung des „aktiven Intellekts“ verstanden werden.
Für den Nebentitel des Werkes sind zwei Lesungen möglich,
die beide sinnstiftend sind. Die eine Lesung lautet: Fi asrar alhikma al-maschriqiyya, was so viel heißt wie: Über die
Geheimnisse der östlichen Weisheit. Folgt man dieser Lesung,
würde sich Ibn Tufail ausdrücklich in die lange Tradition zum
Verständnis der Erkenntnislehren des Orients einordnen, die wir
„im Westen“ gelegentlich mit dem Ausdruck ex oriente lux, „aus
dem Osten kommt das Licht“, verbinden. Die andere Lesung, Fi
asrar al-hikma al-muschriqiyya – also mit nur einem anderen
Vokal, muschriqiyya anstatt maschriqiyya – ließe die Übersetzung: Über die Geheimisse der „erleuchtenden Weisheit“
oder auch „der illuminierenden Philosophie“ zu. 3 Diese Über3
Aristoteles (384–322 v. Chr.) verwendet in seinem Werk De Anima III.5
die Lichtmetapher für den „aktiven Intellekt“; Licht verwandele „potentielle“ Farben in „reale“, sichtbare Farben, so wie der aktive Intellekt die Vernunftanlagen (d. h. den „passiven Intellekt“) aktiviere und verwirkliche.
Licht als Metapher spielt aber schon im Alten Testament ein zentrale Rolle,
wo es u. a. heißt: „Da sprach Gott: ,Es werde Licht!‘, und es ward Licht.
Und Gott sah, dass das Licht gut war …“ (Genesis 1:2-4). Im Neuen Testament ist Jesus das „Licht der Welt“, der denen, die ihm nachfolgen, das
„Licht des Lebens“ verheißt (Johannes 8:12). Im Koran (Sure 24, „Das
Licht“, Vers 40) wiederum heißt es, „Wem Gott kein Licht gibt, für den
gibt es kein Licht.“ Es sind im Islam dann vor allem die islamischen Mystiker, die die Lichtmetapher immer wieder aufgreifen. Der einflussreiche
Theologe und Mystiker Abu Hamid al-Ghazali (1058-1111) zum Beispiel
spricht in mehreren seiner Werke vom Gotteslicht, durch welches die Ratio
zu überwinden und zur Erkenntnis zu gelangen sei (siehe insbesondere Abū
Ḥāmid al-Ghazālī: Die Nische der Lichter (Miškāt al-anwār), aus dem Arabischen übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Indices herausgegeben von Abd Elsamad Abd Elhamid Elschazli, Hamburg: Meiner
1987). Der muslimische Philosoph und Wissenschaftler Schihab ad-Din
Suhrawardi (1154-1191) schließlich knüpfte an antike Vorbilder und muslimische Vorgänger an, als er die vor allem im iranischen Kulturraum be256
setzungsvariante stellt eine Verbindung zur Lichtmetapher her,
auf die im Roman mehrfach Bezug genommen wird und die nicht
nur für Aristoteles (384-322 v. Chr.), sondern auch für bestimmte
islamische Philosophen und Theologen bedeutsam war. Im Sinne
von „erhellender Weisheit“ bzw. „illuminierender Philosophie“
wäre das geistige Wachsen und die Möglichkeit zur Gottessicht
durch „rationale Kontemplation“, wie sie Ibn Tufails Romanheld
erfährt, explizit bereits im Titel des Buches zum Ausdruck
gebracht.
6. Das Werk: Inhalt und Struktur
Der Protagonist in Ibn Tufails Roman mit Namen Hayy ibn
Yaqzan ist ein Mensch, der allein und ohne Kontakt zur
menschlichen Zivilisation auf einer einsamen Insel lebt. Er verkörpert eine Art „Ur-Robinson“, d. h. eine Figur, die völlig auf
sich selbst gestellt ist und fernab von allen anderen Menschen
lebt. Doch diese Feststellung bedeutet nicht, dass Ibn Tufails
Buch lediglich eine „Robinsonade“ im islamischen Gewand wäre,
die von den phantastischen Abenteuern auf einer tropischen Insel
erzählt. Im Gegenteil: Ibn Tufails Held, Hayy ibn Yaqzan, ist ein
nach Erkenntnis strebender Mensch, der ohne göttliche
Offenbarung und ohne Prophetie und ausnahmslos durch seine
genauen Beobachtungen, nämlich der gezielten Erforschung der
Natur, sowie sein Vermögen zur intellektuellen Abstraktion – in
einem stufenförmigen Erkenntnisprozess – im Alter von fünfzig
Jahren schließlich zu Gott findet. Besonders bemerkenswert ist
dabei, dass diese intellektuelle Abstraktion Hayys nicht von einer
menschlichen Sprache getragen wird, da Hayy „keine Sprache
kannte, weder um zu verstehen noch um zu sprechen“ (S. 77), und
diese erst im fortgeschrittenen Alter erlernte. 4
deutsame „Philosophie der Illumination“ (Hikmat al-ischraq) begründete,
wonach der Prozess des menschlichen Denkens der Hilfe des göttliches
Lichtes bedarf bzw. erst durch dieses initiiert wird.
4
Ich zitierte hier und im Folgenden die Übersetzung von Jameleddine Ben
Abdeljelil und Viktoria Frysak (Hrsgg.): Hayy Ibn Yaqdhan: Ein muslimischer Inselroman von Ibn Tufail, Wien: Viktoria 2007. Seitenzahlen im
Text ohne weitere Angabe des zitierten Werkes beziehen sich auf diese
Ausgabe. Eine weitere Übersetzung liegt vor in der Publikation, Abu Bakr
257
Doch zunächst einmal soll im Folgenden der Handlungsverlauf
dieses Meisterwerkes der arabischen Literatur chronologisch
betrachtet werden. 5
6.1 Vorwort
Im Vorwort zum Roman setzt Ibn Tufail den wissenschaftlichen
Rahmen für seine Erzählung. Der Autor nennt hier mehrere
muslimische Gelehrte, deren religiös-philosophisches Weltbild er
rezipierte und nun zum Teil kritisch hinterfragt. Er erwähnt die
auch in Europa bekannten Philosophen al-Farabi, Ibn Sina und
Ibn Badschdscha (andere Schreibweise Ibn Bajja, latinisiert:
Avempace, 1095-1138) sowie den wohl wichtigsten islamischen
Theologen und Mystiker, Abu Hamid al-Ghazali (1058-1111).
Obgleich die Gedankenmodelle dieser Gelehrten sich wesentlich
unterscheiden, sind ihnen allen – und mithin auch Ibn Tufail –
zwei wichtige Charakteristika zu Eigen. Zum einen befassen sich
alle diese Gelehrten mit grundsätzlichen philosophischen
Konzeptionen zur Welterkenntnis, welche letztlich auf die
Schriften von Platon und Aristoteles gestützt sind. Zum anderen
spielt in ihren Überlegungen zur menschlichen Erkenntnisfähigkeit und zum Erkenntniserwerb das generelle Verhältnis von
Philosophie und Religion eine zentrale Rolle.
Nach dem theoretischen Vorwort informiert Ibn Tufail seine
Leser über die ersten spannenden Details zu den ungewöhnlichen
Umständen der Geburt seiner Romanfigur, Hayy ibn Yaqzan,
sowie darüber, wie dieser auf eine einsame Insel mit mildem
Ibn Tufail: Der Philosoph als Autodidakt: Ḥayy ibn Yaqẓān, übersetzt, mit
einer Einleitung und Anmerkungen von Patric O. Schaerer, Hamburg: Meiner 2009. Für den arabischen Originaltext, siehe Ibn Ṭufayl, Muḥammad
ibn ‘Abd al-Malik: Risālat Ḥayy ibn Yaqẓān: roman philosophique d’Ibn
Tufayl, Texte Arabe et Traduction Français: Léon Gauthier, Beirut: Imprimerie Catholique 1936 [Nachdr. in Publications of the Institute for the History of Arabic-Islamic Sciences, ed. F. Sezgin, Frankfurt/Main 1999.]
5
Detailliertere Studien zu Inhalt und Aufbau von Ibn Tufails Werk wurden
u. a. vorgelegt von George Hourani: “The Principal Subject of Ibn Tufayl’s
Hayy Ibn Yaqzan”. In: Journal of Near Eastern Studies 15 (1956), S. 4046; und Sami Hawi: “Ibn Tufayl’s Hayy Ibn Yaqzan, Its Structure, Literary
Aspects and Methods”. In: Islamic Culture 47 (1973), S. 191-211.
258
Klima in der Nähe des Äquators, irgendwo im Indischen Ozean,
gelangte. Unsere Aufmerksamkeit ist schnell gefesselt, da zwei
unterschiedliche Versionen zu Hayys Geburt berichtet werden.
Nach der ersten Version, so heißt es, habe die Schwester eines
tyrannischen Königs aus der ihr verbotenen Liebesverbindung mit
Yaqzan, einem Manne aus dem Nachbarkönigreich, einen Sohn
geboren. Aus Furcht vor dem Zorn ihres hartherzigen Bruders und
Königs stellte die Prinzessin das Schicksal des Neugeborenen
Gott anheim und setzte den Säugling in einem gut verschlossenen
Kästchen im Meer aus. Das Kästchen mit dem Säugling wurde
schließlich an die besagte einsame Insel gespült, ein literarisches
Motiv, das offensichtlich auf die biblisch-koranische Geschichte
des kleinen Moses anspielt.6
Die zweite Version darüber, wie Hayy ins Leben trat, ist
noch phantastischer. Danach wurde Hayy auf der besagten Insel
ohne menschliches Zutun geboren. In dieser Variante der Erzählung heißt es, dass Lehm zu gären begann und sich Wärme mit
Kälte und Feuchtigkeit mit Trockenheit verbanden. Diese Vorgänge in der Natur verursachten eine Blasenbildung des Lehms,
dessen Aufschäumen wiederum Raum gab für die Seele, die „von
Gott, dem Mächtigen und Großen, ununterbrochen und reichlich
hervorgeht“ (S. 15). Aus dieser Verbindung von gärendem Lehm
und gottgesandter Seele entstand das menschliche Wesen Hayy in
einer Art mystischer Spontangenese bzw. Selbstgeburt. Er ist aus
Lehm geformt wie schon der biblische Adam, der erste Mensch,
der ohne Eltern und Vergangenheit ins Leben trat. Aus dem Lehm
wiederum bildete sich ein Blutklumpen. Der Blutklumpen bildete
einen Embryo, der zu einem Menschen heranwächst, wie dies
6
Exodus 2:1-10. Siehe auch Koran 20:37-39: „Wir haben uns doch auch
[schon] ein anderes Mal um dich (d. h. Moses) verdient gemacht. [Damals]
als wir deiner Mutter jene Weisung eingaben: ‚Wirf ihn in den Kasten, und
dann wirf diesen ins Meer! Dann soll ihn das Meer an Land schwemmen,
worauf ihn einer, der mir und ihm feind ist, [an sich] nehmen wird.‘ Und
ich habe dich meine Liebe spüren lassen, und du solltest unter meiner Aufsicht aufgezogen werden“ (Übersetzung Paret (Übers.): Der Koran (Anm.
1)). Siehe dazu auch Gürbüz Deniz: “Hayy Ibn Yaqzan and its Qur’anic
References”. In: Journal of Islamic Research 1.2 (2008), S. 33-50, insbesondere S. 38-39 (“Allusion to the Story of Moses”).
259
auch die islamische Überlieferung für das entstehende Leben
feststellt.7
6.2 Hauptteil
Diese zwei unterschiedlichen Versionen zu Hayys Geburt finden
eine gemeinsame Fortsetzung im Hauptteil des Romans. Hier
heißt es nämlich, dass Hayys Leben in Etappen von jeweils sieben
Jahren erfolgte:8
Erste Lebensphase: Über den ersten Lebensabschnitt des
Hayy, d. h. von seiner Geburt bis zum siebten Lebensjahr, erfährt
der Leser, dass eine Gazelle den Säugling findet, das Kind säugt,
umsorgt und fortan als ihr Junges aufzieht.9 Durch das Leben mit
der Gazelle und den anderen Tieren der Insel lernt Hayy grundsätzliche Emotionen kennen wie Zuneigung und Vertrautheit,
aber auch Bedrücktheit (etwa über ausbleibende Jagderfolge) und
Scham und Kummer (darüber, dass er, anders als die Tiere, nackt
und schutzlos ist). Er versteht es nun auch, die für das Überleben
wichtigen Dinge zu meistern: d. h. zum Beispiel, sich selbst
Nahrung zu suchen und sich zu verteidigen. Im Alter von sieben
Jahren schließlich wird ihm bewusst, dass er kein Tier bzw.
zumindest anders als die Tiere ist.
7
„Wir haben doch den Menschen [ursprünglich] aus einer Portion Lehm
geschaffen. Hierauf machten wir ihn zu einem Tropfen [Sperma] in einem
festen Behälter. Hierauf schufen wir den Tropfen zu einem Embryo, diesen
zu einem Fötus und diesen zu Knochen. Und wir bekleideten die Knochen
mit Fleisch. Hierauf ließen wir ihn als neues Geschöpf entstehen. So ist Allah voller Segen. Er kann am schönsten erschaffen“ (Koran 23:12-14;
Übersetzung Paret (Übers.): Der Koran (Anm. 1).
8
Die Zahl sieben besitzt hier natürlich Symbolkraft. Man denke an den
Mythos der Schöpfung in sieben Tagen. Im Islam findet sich die Zahl im
Koran in der Vorstellung von sieben Himmelssphären, dann aber ebenso in
der religiösen Literatur in den Beschreibungen von sieben Paradiesgärten
und sieben Sphären der Hölle wieder. Für den islamischen Kult ist wiederum das siebenmalige Umkreisen der Kaaba, des Heiligtums in Mekka, zu
nennen.
9
Die schöne und sanftmütige Gazelle ist hier als ein Sinnbild für die Mutter zu verstehen; sie ist aber auch schon seit der vorislamischen Zeit eine
Metapher für „die Geliebte“ und das Weibliche im besten Wortsinne.
260
Zweite Lebensphase: Es beginnt der zweite Lebensabschnitt, der
zweimal sieben Jahre umfasst und bis zum 21. Lebensjahr reicht.
Hayy begreift nun, dass er, im Gegensatz zu den Tieren, nackt
und unbewaffnet ist. Aufgrund dieser Einsicht bekleidet er sich
mit Blättern und Federn und lernt, die Vorzüge des menschlichen
Körpers und des aufrechten Gangs zu nutzen. Auch übt sich Hayy
jetzt darin, zweckrational zu handeln. Durch Beobachtungen, Experimente und Analogieschlüsse kann er sein Wissen entscheidend mehren. Er entdeckt zum Beispiel, dass er manches in der
Natur Gefundenes bearbeiten kann. Auch lernt er, das Feuer zu
beherrschen und wie man eine schützende Behausung baut.
Als die Gazelle stirbt, ist er voller Schmerz und Trauer. Er
beschließt deshalb, die Gazelle zu sezieren, um herauszufinden,
warum sich das Tier nicht mehr bewegt. Bei dieser Untersuchung
findet er das Herz, in dem er den Sitz des Lebens vermutet. Als
Hayy beim Öffnen des Herzens die eine Herzkammer gefüllt mit
geronnenem Blut und die andere leer vorfindet, kommt er zu dem
Schluss, dass das, was seiner Mutter, der Gazelle, Lebenskraft
verlieh, in dieser leeren Herzkammer gewohnt haben muss. Dass
diese Herzkammer nun leer war, erklärt ihm den Tod, denn Hayy
erkennt, dass der tote Körper nur mehr eine Hülle ist, die ohne
den Hauch, der ihn zuvor belebt hatte, wertlos ist. Die Liebe zu
seiner Mutter konzentriert sich deshalb nun nicht mehr auf den
leblosen Körper der Gazelle, sondern nur auf die aus dem Herzen
„verschwundene Sache“ (S. 27), d. h. die den Tod überdauernde
Seele. Hayy begreift damit die Endlichkeit aller materiellen
Existenz und die Ewigkeit der Seele, die nach dem Tod fortlebt.
Es ist dieser Gedanke, der Hayy den Schmerz über die
verstorbene Gazelle erträglich macht und sie begraben lässt. Von
einem Raben, der einen anderen Raben im Kampf getötet und
dann verscharrt hatte, lernt Hayy, was mit einem toten Körper zu
tun ist.10
10
Ibn Tufail nimmt mit diesem literarischen Bild direkten Bezug auf den
Ur-Mythos von Kain und Abel, den feindlichen Brüdern. Denn in der islamischen Überlieferung, Koran 5:31, zu diesem ersten Bruderpaar der
Menschheit lernt auch Kain von einem Raben, den er beim Verscharren
eines toten Körpers beobachtet, dass er von seinem toten Bruder Abschied
nehmen und ihn begraben muss. Vgl. auch Sebastian Günther: „Kain und
261
Dritte Lebensphase: Im dritten Lebensabschnitt bis zum 28. Lebensjahr macht sich Hayy mit den Gesetzen der Kausalität vertraut. Er erkennt, dass jeder Umstand und jede Begebenheit eine
Ursache und eine Wirkung hat. Durch die Beobachtung des
Himmels und die Einsicht, dass sich die Himmelskörper regulär
in bestimmten Bahnen bewegen, gelangt Hayy schließlich zu philosophischen Betrachtungen: Die Himmelskörper hält er für eine
Lichtmaterie. Er schließt daraus, dass sie von etwas noch Lichtvollerem erschaffen sein müssen, und dass diese Lichtquelle womöglich die Ursache aller Dinge ist. Hayy beginnt von nun an, die
Individuen nach Arten, die materiellen Gegenstände nach Formen
und die Wirkungen nach Ursachen zu unterscheiden.
Vierte Lebensphase: Im vierten Lebensabschnitt bis zum 35.
Lebensjahr entwickelt Hayy seine erkenntnistheoretischen Fähigkeiten. Er beobachtet nun ganz gezielt den Kosmos und die Gestirne und befasst sich mit Fragen nach der Beschaffenheit und
Endlichkeit des Alls. Über die Betrachtungen zur Kosmologie
und Astronomie gelangt er zu grundsätzlichen Fragen der Metaphysik. Letztere wiederum führen ihn zu der Einsicht, dass das
Universum einen allmächtigen Urheber und Schöpfer haben müsse.
Fünfte Lebensphase: Der fünfte Lebensabschnitt bis zum 50.
Lebensjahr beschreibt schließlich Hayys religiöses Erwachen.
Dieser Prozess ist wiederum in drei Stufen gegliedert: Die erste
Stufe betrifft materielle Dinge und die Sicherung des nackten
Überlebens. Die zweite Stufe bezieht sich auf die Erkenntnis, dass
es außerhalb der unmittelbaren Umwelt andere wahrnehmbare
Formen gibt und dass das Geschehen des Diesseits mit einer anderen Welt verbunden ist. Das Ergebnis dieses Lernprozesses ist,
dass es eine höhere Wesenheit geben müsse, die dies alles erschaffen hat und bewegt. Diese Einsicht führt Hayy schließlich zu
einer Art kontextuellem bzw. sozialem Verhalten, welches auch
die Gottesverehrung einschließt. Die dritte Stufe schließlich bedeutet eine meditative Annäherung und mystische Versenkung in
Abel, ,die Feindlichen Brüder‘: Archetyp und literarisches Motiv in der
arabisch-islamischen Kultur“. In: Reinhard Gregor Kratz und Annette Zgoll
(Hrsgg.): Arbeit am Mythos: Leistung und Grenze des Mythos in Antike und
Gegenwart, Tübingen: Mohr Siebeck (im Druck).
262
die Dispositionen des Schöpfers. Hier gelingt es Hayy, der alle
meditativen Stufen durchlaufen hat, körperliche Eigenschaften
und weltliche Handlungen abzustreifen und sich ausschließlich
Gott zu widmen. Die Gottesschau vermittelt sich ihm als die
höchste Stufe der Erkenntnis. Er begreift, dass diese höchste Stufe
Wissen enthält, welches die Attribute des Schöpfers betrifft.
Sechste Lebensphase: Als Höhepunkt dieses Entwicklungszyklus, d. h. als Hayy 50 Jahre alt ist, geschieht es, dass der Protagonist mit dem Namen „Lebender, Sohn des Wachen“ schließlich schaut, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und
in keines Menschen Herz (d. h. Verstand bzw. Sinn) gekommen
ist.“ 11 Mit diesen Worten im arabischen Text wird ein Ausspruch
des Propheten Muhammad zitiert, der in der islamischen Tradition mehrfach belegt ist und als kanonisch gilt.12
11
Vgl. die Übersetzung von Abdeljeli und Frysak (Hrsgg.): Hayy Ibn
Yaqdhan (Anm. 4), S. 77 (hier leicht angepasst). Zur spannenden Frage des
Übergangs vom Naturalismus (als dem „Beginn allen Philosophierens“) hin
zum Subjektivismus im Kontext von Lernen und Erkenntnis, siehe Sami
Hawi: Islamic Naturalism and Mysticism: A Philosophical Study of Ibn
Tufayl’s Hayy Yaqzan, Leiden: Brill 1974, insbesondere S.87-139; Sami S.
Hawi: “Beyond Naturalism: A Brief Study of Ibn Tufayl’s Hayy Ibn
Yaqzan”. In: Journal of the Pakistan Historical Society 22 (1974), S. 24967.
12
„[Der Prophetengefährte] Abu Huraira (603-681) berichtete, dass der Gesandte Gottes gesagt habe: „Gott sprach: Ich habe für Meine rechtschaffenen Diener das vorbereitet, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat
und in keines Menschen Herz einging. Leset nach, wenn ihr wollt: ,Und
niemand weiß, was für [beseligende] Freuden im Verborgenen für sie vorgesehen... .‘ (Koran 32:17). [Herv., S.G.]“ Im Original:
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Vgl. die berühmte Traditionssammlung des Gelehrten al-Buḫārī (810-870),
Abū ‘Abdallāh Muḥammad ibn Ismā‘īl: al-Ğāmiʿ al-musnad al-ṣaḥīḥ almuḫtaṣar min umūr rasūl Allāh wa-sunanihi wa-ayyāmihi („Die authentische, mit Gewährsleuteketten versehene Kurzfassung des Kompendiums zu
den Angelegenheiten des Gesandten Gottes, seinen Gewohnheiten und sei263
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der von Ibn Tufail
zitierte Ausspruch des Propheten Muhammads identisch ist mit
einem Passus im ersten Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde
in Korinth (1. Korinther 2:9). In diesem Brief überbringt Paulus
den Korinthern Kunde von Gottes geheimnisvoller Wahrheit und
Weisheit. Hierbei handelt es sich, wie es in der Bibel heißt, „jedoch nicht [um] Weisheit dieses Zeitalters, auch nicht der Fürsten
dieses Zeitalters ...“ bzw. dieser Welt (1. Korinther 2:6). Ganz in
diesem biblischen (und islamisch-prophetischen) Sinne sind es für
Ibn Tufail Einsichten in jenen, den normalen Menschen bislang
verborgenen Plan Gottes, welchen Gott fasste, schon lange bevor
Er die Welt erschuf und mit dem Er uns an Seiner „Herrlichkeit“
Anteil haben lässt. Von dieser Gotteserfahrung überwältigt will
sich Hayy fortan nur noch der Kontemplation Gottes widmen und
diesen Zustand der Glückseligkeit nicht mehr verlassen. Hayy gelangt so zu einem abstrakt-mystischen Gottesverständnis. Es ist
ein Verständnis von Gott, das weder an eine bestimmte Religion
noch an irgendwelche gottesdienstliche Handlungen gebunden ist.
ner Zeit“), hrsg. von Muḥammad Zuhair ibn Nāṣir al-Nāṣir, 9 Bde., Medina: Tauq al-Najāh 1422 H/2001 (hadith-Zählung nach der Ausgabe von
Fu’ād ‘Abd al-Bāqī), Bd. 9, S. 144 (hadith Nr. 4779); der Ausspruch ist
ebenfalls belegt in den Texten Nr. 3224, 4780, und 7498. Die Stelle im
Neuen Testament lautet: „(1) Und ich (Paulus) [kam] zu euch, Brüder, …
(5) damit euer Glaube nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes
Kraft beruhe. … (6) Wir reden aber Weisheit unter den Vollkommenen,
jedoch nicht Weisheit dieses Zeitalters, auch nicht der Fürsten dieses Zeitalters, die zunichte werden, (7) sondern wir reden Gottes Weisheit in einem
Geheimnis, die verborgene, die Gott vorherbestimmt hat, vor den Zeitaltern, zu unserer Herrlichkeit. (8) Keiner von den Fürsten dieses Zeitalters
hat sie erkannt – denn wenn sie erkannt hätten, so würden sie wohl den
Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben –, (9) sondern wie geschrieben steht: ,Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines
Menschen Herz gekommen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.‘
(10) Uns aber hat Gott es offenbart durch den Geist, denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes. [Herv., S.G.]“ (1. Korinther 2:1-10;
zitiert nach der Elberfelder Bibel). Vgl. auch Ulrich Rudolph: Islamische
Philosophie: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: Beck 2004,
S. 67.
264
6.3 Epilog
An dieser Stelle der Vervollkommnung von Hayys Erkenntnisprozess und dem Erreichen eines Zustandes der vollkommenen
Glückseligkeit der Hauptfigur des Romans meint der Leser, das
Ende des Werkes erreicht zu haben. Doch Ibn Tufail lässt der
Erzählung einen Epilog folgen. Darin berichtet er, dass Hayy nun
Kontakt zu anderen Menschen und zur Zivilisation erhält. Von
einer benachbarten Insel nämlich war ein Mann mit Namen Absal
auf die einsame Insel gekommen, weil er sich mit seinem Freund
namens Salaman in wichtigen religiösen Fragen uneins war. In
dieser Abgeschiedenheit und Ruhe hoffte Absal zu einem
umfassenden Gottesverständnis zu gelangen. Er glaubte, dass in
der Religion ein tieferer Sinn zu finden sein müsse als der, den er
durch die formalisierte Praxis des Glaubens auf seiner
Heimatinsel bislang erfahren hatte. Sein Gefährte Salaman
hingegen gab sich mit den offenkundigen Inhalten und
Konventionen der Religion zufrieden.
Als Absal auf Hayy trifft, lehrt er Hayy die menschliche
Sprache. Diese Fähigkeit zur menschlichen Kommunikation
ermöglicht es den beiden schließlich, sich über philosophische
Fragen auszutauschen. Hayy stellt dabei bald fest, dass er mit
Absal in den wesentlichen Fragen, die ihn schon seit langem
beschäftigen, übereinstimmt. Diese betreffen vor allem den
Glauben an die Existenz eines allmächtigen Schöpfers sowie das
intellektuelle Vermögen des Menschen, den Aufbau der Welt und
die Struktur des Universums zu erkennen bzw. den Platz und die
Bestimmung des Menschen in diesem System zu verstehen. Doch
während Hayy zur „reinen Wahrheit“ durch eine Art innerer
Reflexion gelangte, die verbunden war mit einem guten Maß an
Objektivität in der Beurteilung der Eigenschaften, Dispositionen
und Kräfte der ihn umgebenden Welt bzw. seinem eigenen
Wirken in diesem Kontext, waren die Menschen der Nachbarinsel
durch einen Propheten sowie die von diesem Propheten überbrachte Offenbarung – mit all ihren Belehrungen, Bildern und
Symbolen – zu ganz ähnlichen Erkenntnissen gelangt.
Absal und Hayy reisen schließlich gemeinsam zu der
bewohnten Nachbarinsel, auf der Salaman inzwischen als König
regiert. Hayy versucht nun, Salaman und die Inselbewohner zu
265
„unterrichten und ihnen die Geheimnisse der Weisheit zu
offenbaren“ (S. 96), indem er den Menschen unermüdlich die von
ihm erreichte umfassende Welt- und Gottes-Erkenntnis vermittelt.
Doch trotz der Freude der Menschen an dem Guten dieser
Botschaft und ihrer Sehnsucht nach der Wahrheit schrecken sie
Hayys klare Formen der Einsicht in Gott ab. Sie sind weder
empfänglich für die Metaphorik von Hayys Erklärungen zur
Religion noch in der Lage, ihren tieferen Sinn zu verstehen.
Schnell wenden sie sich von Hayy ab, um sich wieder dem buchstabengetreuen, rein exoterischen Verständnis ihrer religiösen
Lehren und überkommenen Gewohnheiten zu widmen. Hayy
muss erkennen, dass sich die Menschen, von wenigen Ausnahmen
abgesehen, lieber den Kleinigkeiten des Alltages, dem Streben
nach materiellem Reichtum und Sinnesfreuden im diesseitigen
Leben sowie ihrem sektiererischen Gottesbild widmen als einem
rational vertieftem Gottesverständnis. Er verliert die Hoffnung,
die Menschen zu bessern und beschließt deshalb, mit Absal auf
die einsame Insel zurückzukehren, so dass sie den Rest ihres
Lebens in Zurückgezogenheit und mystischer Gottesbetrachtung
verbringen können. Der Roman schließt mit dem Satz: „Und diese
beiden verehrten Gott auf dieser Insel bis zu ihrem Tod“ (S. 101).
6.4 Schlusswort
Im Schlussteil des Romans wendet sich der Autor Ibn Tufail noch
einmal direkt an den Leser. Er vermerkt hier ausdrücklich,
ähnlich dem Apostel Paulus im ersten Korintherbrief, dass seine
Erzählung ein „geheimes“ Wissen enthält, das allerdings nur die
Menschen begreifen, die über ein wirkliches Gottesverständnis
verfügen. Mit seinem Buch habe er erstmals „den Schleier“
zerrissen, der dieses Wissen bislang verbarg. Als Grund für diese
Entscheidung nennt Ibn Tufail, dass bestimmte ungesunde
Meinungen in der Gesellschaft überhandgenommen hätten, so
dass zahlreiche schwache Menschen die Autorität des Propheten
zurückwiesen und stattdessen Dummköpfen und Narren folgten.
Es sei deshalb besser, so Ibn Tufail, vor den Augen dieser
Menschen zumindest „einen Schimmer des Geheimnisses der
Geheimnisse aufleuchten zu lassen, um sie auf die Seite der
Wahrheit zu ziehen und sie vom anderen Weg abzubringen“.
266
Doch Ibn Tufail vermerkt auch, dass er mit seiner Abhandlung in
den Lesern den „Wunsch entzünden“ möchte, sich selbst auf eine
intellektuelle Reise zu den Höhen zu begeben, welche es
ermöglicht, „das Geheimnis“ zu durchdringen und zur „Klarheit
des Wissens um Gott“ zu gelangen (S. 102-103).
7. Vorläufer und Rezipienten
7.1 Vorbild: Ibn Sina
Die Idee einer Intellekt-betonten, autodidaktischen Bildung
einerseits, welche im Falle von Ibn Tufails Hayy Ibn Yaqzan zu
einer rationalen Gottesschau führt, sowie deren literarische
Präsentation in Form eines philosophisch-allegorischen Romans
anderseits, ist nicht gänzlich neu in der arabisch-islamischen
Literatur- und Ideengeschichte.
Unter den Vorgängern und geistigen Lehrmeistern Ibn
Tufails ist es im 11. Jahrhundert vor allem der Mediziner,
Philosoph und Universalgelehrte Ibn Sina, der eine kurze, aber
höchst originelle arabische Epistel mit dem Titel Hayy ibn Yaqzan
verfasste, von der unser Autor Ibn Tufail den Titel seines Buches
übernahm. Allerdings anders als bei Avicennas abstraktmystischen Handlungsträgern steht bei Ibn Tufail der
Entwicklungs- und Erkenntnisprozess eines Menschen im
Vordergrund. 13 Bei Ibn Tufail handelt es sich um ein
13
Im gleichnamigen allegorischen Werk von Ibn Sina, das wahrscheinlich
im Jahre 1023 entstand, als dieser in Gefangenschaft war, trifft die menschliche Seele auf ihrer Suche nach Wissen auf einen Weisen mit dem Namen
Hayy. Dabei unterweist der Weise Hayy die Seele unter anderem darin, auf
welche Weise sie, die ja der immateriellen Welt entstammt, sich vor ihren
gefährlichen irdischen Gefährten sowie den sinnlichen Freuden, der Gewalt
und den trügerischen Vorstellungen schützen kann, um ihr inneres Gleichgewicht zu bewahren. Auf Bitten der Seele instruiert der Weise Hayy die
Seele dann auch in der metaphysischen Geographie der Welt. Mit Hilfe von
Rationalität und Logik überwindet die Seele schließlich aus eigener Anstrengung die irdische Dunkelheit und findet zum Licht, das die Quelle allen Lebens und aller Existenz ist, so wie der Weise Hayy ihr dies vorher
bedeutet hatte. Wie sich schon durch diese Kurzbeschreibung zeigt, unterscheiden sich Ibn Sinas und Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzan-Erzählungen signifikant in Inhalt und Handlungsverlauf. Beide Werke verbindet aber dennoch ganz offensichtlich (a) der in ihnen auf besonders deutliche und poeti267
menschliches Wesen, mit dessen Wesenszügen und Streben nach
Wissen sich die Leser seines Werkes durchaus identifizieren
können.14
7.2 Muslimische Rezipienten
Mit Blick auf die arabischen Rezipienten von Ibn Tufails Werk ist
vor allem Ibn Ruschd (latinisiert: Averroes, 1126-1198), der
bekannte spanisch-arabische Philosoph des 12. Jahrhunderts und
Vertreter eines rationalen Religionsverständnisses, zu nennen. Ibn
Ruschd schrieb einen Kommentar zu Ibn Tufails Hayy ibn
Yaqzan. 15 Im iranischen Raum wiederum wurde Ibn Tufails
literarische Vorlage im 15. Jahrhundert von dem großen
persischen Dichter und Mystiker Nur ad-Din Dschami (14411492) in einem mystischen Gedicht mit dem Titel Salaman und
Absal mit neuem Leben erfüllt. In diesem Gedicht setzte sich
sche Weise zum Ausdruck gebrachte, unbändige Drang des Menschen nach
Erkenntnis sowie (b) die Betonung des autodidaktischen Moments im Bildungs- und Entwicklungsprozess der Roman-Protagonisten. Zu Ibn Sinas
Hayy ibn Yaqzan-Erzählung, vgl. u. a. A.-M. Goichon: “Ḥayy b. Yaḳzān”.
In: Bernard Lewis et al. (eds.): Encyclopeadia of Islam, Second Edition,
Bd. 3, Leiden: Brill 1971, S. 330-334, hier S. 330-333.
14
Zu Ibn Tufails Rezeption von Ibn Sinas Gedankengut (insbesondere aus
dessen Werk „Die Heilung“, Asch-Schifa‘), siehe Dimitri Gutas: “Ibn
Ṭufayl on Ibn Sīnā’s Eastern Philosophy”. In: Oriens 34 (1994), S. 222242; Sami S. Hawi: “Ibn Tufayl’s Appraisal of His Predecessors and Their
Influence on His Thought”. In: International Journal of Middle East Studies 7 (1976), S. 89-121. Die Frage, ob Ibn Tufails Werk als ein allegorisches Werk zu bezeichnen ist oder nicht, äußert sich Christoph Bürgel eher
skeptisch (vgl. Christoph Bürgel: “‘Symbols and Hints.’ Some Considerations concerning the Meaning of Ibn Ṭufayl’s Ḥayy ibn Yaqẓān”. In: Lawrence I. Conrad (ed.): The World of Ibn Tufayl: Interdisciplinary Perspectives on Hayy Ibn Yaqzan, Leiden: Brill 1996, S. 114-132, insbesondere S.
132), während L. Conrad durchaus allegorische Züge erkennt (vgl. Lawrence I. Conrad: “Through the Thin Veil: On the Question of Communication and the Socialization of Knowledge in Ḥayy ibn Yaqẓān”. In: ders.
(ed.): The World of Ibn Tufayl: Interdisciplinary Perspectives on Hayy Ibn
Yaqzan, Leiden: Brill 1996, S. 238-266).
15
Vgl. R. Arnaldez: “Ibn Rushd”. In: Bernard Lewis et al. (eds.): Encyclopeadia of Islam, Second Edition, Bd. 3, Leiden: Brill 1971, S. 909-920,
hier S. 909.
268
Dschami mit der Rolle des Menschen in der Welt und mit dem
Mysterium des Glaubens als solchem auseinander.16
7.3 Europäische Übersetzungen und Rezeptionen
Ibn Tufails Roman hat auch auf die jüdischen und christlichen
Gelehrten Europas eine große Faszination ausgeübt. Universalgelehrte wie Albertus Magnus (ca. 1200-1280), Thomas von
Aquin (1225-1274), Voltaire (1694-1778), Rousseau (1712-1778)
und Diderot (1713-1784) haben, wie die jüngere komparatistische Literaturwissenschaft feststellt, Ibn Tufails Werk
gekannt und rezipiert. 17 Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781)
war, worauf seine Schrift Ueber die Entstehung der geoffenbarten
Religion (1763) hindeutet, Ibn Tufails Grundthese durch die
lateinische Übersetzung des Werkes Philosophus autodidactus
bekannt. Es ist deshalb recht wahrscheinlich, dass es Ibn Tufails
Abhandlung war, die Lessing zu dem Gedanken inspirierte, der
Mensch könne zur höchsten Erkenntnis vor allem durch seinen
Intellekt und seine Intuition (d. h. ganz ungeachtet der Spezifika
einer bestimmten Religion, sei es nun Judentum, Christentum
oder Islam) gelangen. Für Lessing ergibt sich daraus der
beispielhafte Schluss, dass die „beste geoffenbarte oder positive
Religion“ diejenige ist, welche „die guten Wirkungen der
natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.“18
Zur weiteren Illustration der weitreichenden Rezeptionsgeschichte von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzan sei hier nur kurz
noch vermerkt, dass das Buch des arabischen Autors schon sehr
früh ins Hebräische übersetzt wurde und im Jahre 1349 mit einem
16
Vgl. Edward Fitzgerald: Salaman and Absal: An Allegory, transl. from
the Persian of Jami, London: Moring 1904.
17
Vgl. Samar Attar: The Vital Roots of European Enlightenment: Ibn Tufayl’s Influence on Modern Western Thought, Lanham: Lexington Books
2007, xii; Abdeljelil und Frysak (Hrsgg.): Hayy Ibn Yaqdhan (Anm. 4), S.
141.
18
Gotthold Ephraim Lessing: Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion, Paragraph 11; zitiert nach Otto F. Best: „Noch einmal: Vernunft und
Offenbarung. Überlegungen zu Lessings ,Berührung‘ mit der Tradition des
mystischen Rationalismus“. In: Lessing Yearbook 12 (1980), S. 123-156,
insbesondere S. 135-137.
269
Kommentar des Moses ben Joschua von Narbonne (Ende des
13 Jh.s – 1370) erschien. Die erste lateinische Übersetzung
stammt aus dem Jahre 1671. Ein Jahr später folgten eine
holländische und kurz darauf zwei englische Übersetzungen. Die
ersten beiden deutschen Übersetzungen wurden 1726 und 1783
publiziert, gefolgt von weiteren Übertragungen u. a. ins Spanische
und Russische.
Der englische Schriftsteller Daniel Defoe (ca. 1660–1671)
wurde sehr wahrscheinlich für seinen berühmten Abenteuerroman
Robinson Crusoe durch Ibn Tufails „Ur-Robinson“ inspiriert; 19
(Daniel Defoe wurde übrigens durch seinen Inselroman zu einem
der Begründer des Roman-Genres in England). 20 Es ist in diesem
Zusammenhang aber auch auf das Dschungel-Buch des in Indien
geborenen englischen Schriftstellers Rudyard Kiplings (18651936) aus dem Jahr 1894 hinzuweisen, in dem von dem
Findelkind Mogli erzählt wird, das ohne Kontakt zu Menschen
bei Tieren im indischen Dschungel aufwächst. Ebenso ist auf die
Verbindung von Ibn Tufails Roman zum Dschungel-Helden
Tarzan des amerikanischen Autors Rice Burroughs (1875-1959)
aus dem Jahre 1912 hinzuweisen.21
19
Dieser in der Literaturwissenschaft weitverbreitete Auffassung wird von
Malti-Douglas mit Bezug auf eine 1980 in Bagdad auf Arabisch erschienenen Monographie widersprochen; vgl. Fedwa Malti-Douglas, “Ḥayy ibn
Yaqẓān as Male Utopia“. In: Lawrence I. Conrad (ed.): The World of Ibn
Tufayl: Interdisciplinary Perspectives on Hayy Ibn Yaqzan, Leiden: Brill
1996, S. 52-113, insbesondere S. 53-54.
20
Siehe vor allem Max Novak: “Defoe as an innovator of fictional form”.
In: John Richetti (ed.): The Cambridge Companion to the EighteenthCentury Novel, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 41-71,
insbesondere S. 41; Michael Seidel: “Robinson Crusoe: Varieties of Fictional Experience”. In: John Richetti (ed.): The Cambridge Companion to
Daniel Defoe, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 182-199,
insbesondere S. 186; und Jacqueline Dutton: “‘Non-western’ utopian traditions”. In: Gregory Claeys (ed.): The Cambridge Companion to Utopian
Literature, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 223-258,
insbesondere S. 236.
21
Zur Rezeptionsgeschichte von Ibn Tufails Werk, siehe Goichon: “Hayy
b. Yaḳzān” (Anm. 13), S. 330-334, sowie vor allem S. Attars wichtige Studie The Vital Roots of European Enlightenment (Anm. 17).
270
8 Schlussbemerkung
Auf die Kraft und Wirkung der arabischen Sprache in
vorislamischer Zeit und ihre Rolle im Koran, der Offenbarungsschrift der Muslime, wurde eingangs hingewiesen. Ibn Tufails
Buch Hayy ibn Yaqzan ist ein eindrucksvoller Bildungsroman, der
an diese Sprachgewalt anknüpft und sich durch eine hohe sprachliche Meisterschaft und einen kunstvollen Umgang mit dem literarischen und religiösen Erbe der Araber sowie darüber hinaus
des Mittelmeerraumes auszeichnet. Ibn Tufails Buch verdeutlicht
deshalb die besonders enge Verquickung von Literatur und
Religion im Islam in anschaulicher Weise. Darüber hinaus lässt
sich Folgendes feststellen:
Erstens, mit Ibn Tufails Abhandlung aus dem 12. Jahrhundert liegt uns ein philosophisch-allegorisches Werk vor, das
sich in ausdrucksstarken sprachlichen Bildern mit dem Verhältnis
des Menschen zu seiner Umwelt und zu seinem Schöpfer im
Allgemeinen sowie mit der Erkenntnisfähigkeit des Menschen im
Spannungsfeld von Glaube und Vernunft im Besonderen
beschäftigt.
Zweitens, ein wichtiges Ziel des Romans ist es, einen
verstandesorientierten Weg des Menschen zur Erkenntnis aufzuzeigen. Dieser rationale Weg des Lernens versteht sich
ausdrücklich als Gegenstück und Alternative zu einem
ausschließlich erfahrungs- bzw. traditionsbetonten Lernprozess.
Für unseren Autor, Ibn Tufail, wurde der Mensch, wie es im
Koran explizit heißt, von Gott mit dem Verstand ausgestattet. 22
Der Mensch ist somit nicht nur imstande, sondern im koranischen
Sinne geradezu verpflichtet, Lernmittel und Lernmethoden wie
Deduktion, Logik und schlüssige Beweisführung sowie Analyse
und Experiment zur eigenen Vervollkommnung aktiv zu nutzen.
Diesen Weg des Lernens befürwortet Ibn Tufail sowohl für
profane Dinge als auch in religiöser Hinsicht. Damit weist Ibn
Tufail auf den Umstand hin, dass im Islam für einen intelligenten
Menschen das Bemühen um ein vertieftes Gottesverständnis
sowie um menschliche Perfektion im Diesseits vor allem durch
die umfassende und gezielte Nutzung seines intellektuellen
22
So zum Beispiel im Koran 2:164, 3:190 und 22:46.
271
Potentials nicht nur möglich, sondern sogar eine religiöse Pflicht
ist. Es ist besonders bemerkenswert, dass für Ibn Tufail hierfür
weder Propheten oder Offenbarungsschriften noch Religionen im
herkömmlichen Sinne nötig sind; denn nicht die Dogmen, Rituale
und Formalismen einer bestimmten Religion stehen im Mittelpunkt des Lebens, sondern der Mensch selbst und seine direkte
Beziehung zum Schöpfer. Hayy findet daher zu Gott, ohne Jude,
Christ oder Muslim zu sein oder zu werden.
Drittens, Ibn Tufail kritisiert mit diesem Buch in deutlicher
Weise die islamische Gesellschaft seiner Zeit. Er wendet sich
gegen ein Islam-Verständnis, das die Religion auf bestimmte
Doktrinen und gottesdienstliche Handlungen reduziert, wie dies
die einflussreiche islamische Orthodoxie seiner Zeit vehement
verlangte. Ibn Tufail widerspricht in dieser Hinsicht deutlich den
Vertretern des orthodoxen Islams, insbesondere al-Ghazali, dem
bis heute äußerst einflussreichen Theologen und Mystiker des 12.
Jahrhunderts. Al-Ghazali hatte sich in mehreren Werken gegen
die Philosophie in der aristotelischen Tradition ausgesprochen,
diese für unvereinbar mit dem orthodoxen islamischen Glauben
erklärt und als eine Gefahr für die muslimische Frömmigkeit
bezeichnet. Al-Ghazali sah allein in der Mystik den Weg zum
Heil und zur Glückseligkeit, die für ihn jedoch nur im Jenseits
möglich ist. Im Unterschied zu al-Ghazali wirbt Ibn Tufail in
nahezu humanistischer Weise für die Möglichkeit einer
individualisierten, von konfessionellen Reglementierungen freien
und direkten Beziehung des Menschen zu Gott, welche einen
Glückszustand bereits in diesem Leben ermöglicht.
Viertens, Ibn Tufail entwickelt in seinem Buch eine
Synthese aus rationalen und mystischen Grundsätzen. Diesen
alternativen philosophischen Entwurf untermauert er mit zahlreichen theologischen und literarischen Bezügen zu Mythen der
Schöpfungsgeschichte sowie zu biblischen und koranischen
Gleichnissen. Besonders interessant ist dabei, dass Ibn Tufail mit
seinem großartigen literarischen Werk Hayy ibn Yaqzan einen
Erziehungsroman vorlegte, in dem ein menschlicher Erzieher
fehlt. Ibn Tufail unterstreicht dadurch nicht nur die Autonomie
des menschlichen Intellekts, sondern bekennt (so wie andere
klassische muslimische Gelehrte vor und nach ihm auch), dass für
272
ihn der erste und oberste Lehrer und Erzieher des Menschen
einzig und allein Gott ist.
273
Rolf Elberfeld
Buddhistische Betrachtungen aus der Stille −
Yoshida Kenkōs Tsurezuregusa
1. Chinesische Wurzeln der japanischen Literatur
Außer China hat keine Kultur eine über mehr als drei Jahrtausende
währende ununterbrochene literarische Tradition vorzuweisen, und die
literarische Überlieferung dieses Landes übertrifft alle anderen an
Umfang und Formenreichtum. Die Bedeutung dieser Tradition gründet sich nicht nur auf dem Faktum, daß eine große Zahl ihrer Werke
zur Weltliteratur gehört, sondern auch darin – und vielleicht ist das
heute wichtiger denn je –, daß sie das Erbe und damit die Basis der
kulturellen Identität und der geistigen Orientierung eines Drittels der
Menschheit bildet. 1
Mit diesen Sätzen leitet Helwig Schmidt-Glintzer, Sinologe und
Direktor der Ernst-August Bibliothek in Wolfenbüttel, sein Standardwerk zur Geschichte der chinesischen Literatur ein. Leider
ist von dieser gewaltigen Tradition in Europa weder viel bekannt
noch übersetzt. Daher ist es umso mehr zu begrüßen, wenn in dieser Ringvorlesung zwar nicht die chinesische, aber dafür zumindest die japanische Literatur, die sich in direkter Abhängigkeit
von China seit dem 7. Jahrhundert n. u. Z. entwickelt hat, einen
Platz bekommen hat. Als die Japaner begannen, zwischen dem
6. und 7. Jahrhundert die chinesische Schrift zu adaptieren, wurde
zugleich eine zu dem Zeitpunkt in China bereits alte, aber sehr
besondere Tradition des Schreibens übernommen, die bis auf den
heutigen Tag gepflegt wird.
Schreiben gehört zu den grundlegenden Kulturtechniken der
Menschheit. Eine besondere Schreibkultur hat sich in China seit
mehr als 2000 Jahren entwickelt, die dort – und später auch in Japan – nicht nur auf das Innerste mit dem Zustandekommen der
chinesischen Künste verbunden ist, sondern auch mit der Entfaltung einer Gelehrtenkultur. Aus dem Gebrauch des Pinsels für das
Schreiben ist zudem eine Tradition der Malerei mit eigenem Ge1
Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck 21999, S. 12.
274
präge hervorgegangen. Beide Künste waren zudem eng verbunden mit der Entfaltung der Dichtung, wobei häufig Gedichte als
Schreibkunstwerke und Bilder als Malkunstwerke in einer Bildrolle vereint wurden. Voraussetzung für diese Entwicklung war
jedoch die Erfindung und Verfeinerung des Pinsels in China.
Die Entwicklung der chinesischen Schrift [und wohl auch der chinesischen Literatur, R.E.] ist nicht vorstellbar ohne Pinsel, Tusche, Reibstein und schließlich auch nicht ohne das Papier. Nicht nur um die
Einführung dieser Schreibutensilien haben sich zahlreiche Legenden
gebildet, sondern auch um deren handwerkliche Vervollkommnung.
[…] Ebenso wie im Falle des Schreibpinsels wird auch die Einführung
der Tusche erst einem berühmten Kalligraphen und Tuschehersteller
[…] zugeschrieben. […] Das Schreiben galt nicht nur als eine der
wichtigsten Fähigkeiten des Literaturbeamten, sondern des Kaisers
selbst. Daher war und ist bis heute die Fertigkeit im Umgang mit Pinsel, Tusche und Papier ein Kennzeichen des Gebildeten schlechthin.
[…] Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß die Schreibutensilien des Gelehrten nicht nur zu höchster Verfeinerung entwickelt wurden, sondern sich eine Kennerschaft und Liebhaberei um das
Schreibgerät herausbildete, wie sie sich in diesem Maße in keiner anderen der uns bekannten Kulturen finden. […] Die Handschrift war es,
anhand derer jeder Gebildete die Fertigkeit jedes anderen beurteilen
und etwa erkennen konnte, wie jemand den Tuschefluß auf weichem
Papier zu kontrollieren imstande war. Entsprechend haben sich ästhetische Beurteilungskriterien nicht etwa zuerst an der Dichtung, sondern an der Musik und dann an der Kalligraphie herausgebildet, die
alsbald freilich auch auf Malerei und Dichtung angewendet wurden.
Die Kalligraphie wurde auf diese Weise zu einem Medium der Verständigung und der Selbstdarstellung.2
Dass somit das Schreiben selbst als eine der höchsten Künste in
Ostasien gilt, ist für die Entwicklung der ostasiatischen Literatur
bis in ihre Gattungen hinein von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Da der Geste und dem leiblichen Vollzug des Schreibens
auch beim Verfassen von Literatur so viel Beachtung geschenkt
wird, bleibt sie der Literatur selbst in keiner Weise äußerlich,
sondern ist ihr selbst eingeschrieben. Bei manchen Gattungen,
wie den verschiedenen Formen des Essays, fließt das Schreiben
mit dem Pinsel unmittelbar in die Inhalte ein. Hierbei ist zu be2
Ebd., S. 84f.
275
achten, dass der Essay in China und Japan nicht eine literarische
Nebenform bildet, sondern zur Hauptform des literarischen Ausdrucks insgesamt zählt:
Neben dem klassischen Gedicht gehört der klassische Essay (sanwen)
zu den Meisterleistungen der chinesischen Literatur. Beide Gattungen
ergänzen einander als die Ausdrucksformen eines Gebildeten wie Yin
und Yang.3
Ohne an dieser Stelle auf den Formenreichtum der chinesischen
Literatur eingehen zu können, sollen nur kurz einige Bezeichnungen für den Essay im Chinesischen angegeben werden, die dann
auch im Japanischen übernommen wurden. 4 Die klassische Bezeichnung sanwen 散文, die im heutigen Sprachgebrauch auch als
Übersetzung für das Wort „Essay“ verwendet wird, meinte in alter Zeit manchmal einfach Prosa oder Essay oder einen Stil des
Schreibens. 5 Versucht man die Bedeutung festzulegen, so ist man
konfrontiert mit den verschiedenen Ordnungen des Wissens in
China und Europa, die an dieser Stelle nicht weiter thematisiert
werden können. Drei weitere Bezeichnungen sind aber für den
vorliegenden Zusammenhang von noch größerer Bedeutung. Im
11. Jahrhundert kommt erstmals eine Bezeichnung auf für eine
bereits seit dem 4. Jahrhundert zu differenzierende Literaturgattung, die später ein Oberbegriff werden wird für bestimmte essayistische Schriften. Das Wort biji 筆記 bedeutet Pinselaufzeichnungen und umfasst historische Kurzberichte, Anekdoten, philosophisch und philologische Glossen, literarische Skizzen usw. 6
Eine weitere Bezeichnung geht auf den großen Naturwissenschaftler und Literaten der Song-Zeit Shen Gua 沈括 (1031-1095)
3
Wolfgang Kubin (Hrsg.): Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 4.
Marion Eggert, Wolfgang Kubin, Rolf Trauzettel, Thomas Zimmer: Die
klassische chinesische Prosa. Essay, Reisebericht, Skizze, Brief. Vom
Mittelalter bis zur Neuzeit. München: K. G. Saur 2004, S. 3.
4
The Chinese Essay. Übersetzt und herausgegeben von David Pollard.
London: Hurst & Company 2000.
5
Vgl. hierzu: Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 4 (Anm. 3). Dort
versucht Wolfgang Kubin in seiner Einleitung zum klassischen Essay ein
wenig Licht in die Unterschiede der Bezeichnung zu bringen.
6
Vgl. Rolf Trauzettel: Die klassische Skizze (biji). In: Kubin (Hrsg):
Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 4 (Anm. 3), S. 206.
276
zurück. Die zwei chinesischen Zeichen bitan 筆談bedeuten Pinselunterhaltungen. Shen Gua schreibt:
Abgeschieden von der Außenwelt und mich der Freundesgespräche
erinnernd‚ war mir, als unterhielte ich mich wieder mit ihnen […].
Weil meine Gesprächspartner nur der Pinsel und der Tuschstein waren,
nannte ich dies Pinselunterhaltungen (bitan). 7
Die Bezeichnung suibi 随筆geht auf Hong Mai (1123-1202)8 zurück und bedeutet „dem Pinsel folgen“9. Die Bezeichnungen wurden alle auch in Japan rezipiert, wobei sich vor allem die letzte
Bezeichnung in der japanischen Lesung zuihitsu ab dem 17. Jahrhundert durchsetzte. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert galt das
Tsurezuregusa von Yoshida Kenkō als Musterbeispiel der literarischen Form des zuihitsu.
Bevor die japanische Literatur ausführlicher zu Worte
kommen soll, muss noch an einen geschichtlichen Prozess erinnert werden, der für die Literatur Chinas wie auch für die Literatur Japans von großer Bedeutung gewesen ist. Seit dem 1. Jahrhundert n. u. Z. wurde der Buddhismus über einen Jahrhunderte
dauernden Prozess von Indien nach China übertragen. Dieser
wanderte von dort aus nach Korea und Japan, wo er ab dem
7. Jahrhundert n. u. Z. zusammen mit anderen Gebieten der chinesischen Kultur eine neue Heimat fand. Während der Buddhismus
in China ab dem 9. Jahrhundert zugunsten des Konfuzianismus
zurückgedrängt wurde, entfaltet er in Japan seine Wirkung auch
in der Literatur bis heute.
2. Zwei frühe Beispiele der zuihitsu-Literatur in Japan
Zumindest zwei Werke der japanischen Literatur müssen vor den
Ausführungen zu Yoshida Kenkō Erwähnung finden, die spätestens ab dem 17. Jahrhundert in Japan als Musterbeispiele für zui7
Ebd., S. 240.
Vgl. Kubin (Hrsg.): Geschichte der chinesischen Literatur (Anm. 3), Bd.
9: Marc Herrmann, Weiping Huang, Henriette Pleiger, Thomas Zimmer:
Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller, S. 96.
9
Linda H. Chance: Formless in Form. Kenkō, Tsurezuregusa, and the Rethoric of Japanese Fragmentary Prose. Stanford: Stanford University Press
1997, S. 47.
277
8
hitsu-Literatur gelten. Das erste Werk stammt von der japanischen Hofdame Sei Shōnagon (清少納言), die ungefähr von 966
bis in das Jahr 1025 in Kyōto lebte. Das Kopfkissenbuch (jap. 枕
草子, Makura no sōshi) von Sei Shōnagon ist eines der frühesten
und zugleich bedeutendsten literarischen Essaywerke der japanischen Literatur. Es entstand um das Jahr 1000 n. u. Z. und gehört
zur Heian-Periode, in der Kyōto die Hauptstadt Japans war und
sich eine Kultur höchster ästhetischer Verfeinerung entwickelt
hatte. Am Ende ihres Buches beschreibt sie, wann und wie die
Aufzeichnungen zustanden kamen und in welcher Stimmungslage
sie entstanden:
In diesem Skizzenbuch habe ich während meiner Mußestunden im Palast, wenn ich gelangweilt in meinem Zimmer saß (tsurezure naru satoi), alles niedergeschrieben, was ich mit eigenen Augen gesehen und
in meinem Herzen gedacht habe. […] Sehr oft schrieb ich alles einfach nieder, ohne genauer zu überlegen, folgte ich den Sachen, wie sie
ohne besondere Absicht aufstiegen. So habe ich denn im großen und
ganzen über all das berichtet, was mir in der Welt seltsam vorkam; ich
habe auch auf die Schwächen der Menschen hingewiesen und von
Gedichten, Bäumen, Gräsern, Vögeln und Insekten gesprochen.10
Das zweite hier zu erwähnende Werk stammt von dem buddhistischen Mönch Kamo no Chōmei (鴨長明, 1153/1155–1216) und
trägt den Titel Hōjōki (jap. 方丈記), zu Deutsch Aufzeichnungen
aus meiner Hütte. Während das Makura no sōshi – das Kopfkissenbuch – von Sei Shōnagon nicht in besonderer Weise von buddhistischen Gehalten bestimmt wird, ist im Hōjōki von Anfang an
die grundsätzliche buddhistisch erfahrene Vergänglichkeit der
Welt und das damit zusammenhängende Leiden das zentrale
Thema:
Unaufhörlich strömt der Fluß dahin, gleichwohl ist sein Wasser nie
dasselbe. Schaumblasen tanzen an seichten Stellen, vergehen und bilden sich wieder – von großer Dauer sind sie allemal nicht. Gleichermaßen verhält es sich mit den Menschen und ihren Behausungen. […]
Wer vermag zu erklären, wofür der Mensch sich so plagt, eine Behau10
Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon. Aus dem Japanischen
übersetzt und herausgegeben von Mamoru Watanabe. Zürich: Manesse
1996, S. 297 f.
278
sung zu schaffen, wenn sie doch letztlich vergänglich ist, und wie diese ihm solch eine Beglückung sein kann? Dabei scheint es, als ob Herr
und Haus darüber stritten, wer von beiden denn wohl zuerst vergehe –
sie sind wahrlich keinen Deut verschieden vom morgendlichen Tau
auf den Blüten der Ackerwinde. Der Tau mag herabfallen und die Blüten fortbestehen, jedoch nur, um in der Morgensonne zu welken. Oder
der Tautropfen mag sich auf der vergehenden Blüte halten, gleichwohl
wird er den Abend nicht erreichen.11
Diese Eingangssätze des Hōjōki sind in Japan über alle Maßen
bekannt, da sie jeder Schüler in der Schule auswendig zu lernen
hat. Kamo no Chōmei beschreibt in seinem Buch verschiedene
Naturkatastrophen, wodurch deutlich wird, dass diese nicht erst
seit jüngerer Zeit die japanische Kultur prägen und in Atem halten.
3. Yoshida Kenkōs Tsurezuregusa
Yoshida Kenkō (吉田兼好), dessen Name als Beamter am kaiserlichen Hof in Kyōto Urabe-no Kaneyoshi 卜部 兼好 war, wurde
um 1283 vermutlich in Kyōto geboren und starb um das Jahr
1350; er war damit Zeitgenosse von Dante. Um das Jahr 1313 soll
er das Leben am kaiserlichen Hof aufgegeben haben, um buddhistischer Mönch zu werden. Sein Werk Tsurezuregusa 徒然草 ist
vermutlich zwischen 1330 und 1332 verfasst worden. Dieses
Werk ist ebenso berühmt wie die beiden zuvor genannten. Es legt
vielleicht noch mehr als die beiden zuvor erwähnten eine Nähe
und Verwandtschaft zur Kultur des Essays in Europa nahe.
Liest man die Gedankensplitter und Skizzen, die Augenblickseinfälle,
die Erinnerungen, Erfahrungen, Ideen, merkwürdigen Begebenheiten
oder witzigen und humorvollen Erlebnisse, die Kenko unter Verzicht
auf jede systematische Durcharbeitung in einem zumindest scheinbar
zufälligen Nebeneinander und zumindest scheinbar spontan notiert hat,
dann wird man nicht selten auf verblüffende Weise an Michel de
Montaigne, an seine moralphilosophischen Überlegungen und Betrachtungen, eben an seine ‚Essais‘ erinnert. Und man ist erstaunt, wie
nahe sich Kenko und Montaigne doch sind, obwohl Jahrhunderte und
geistige Welten sie trennen. Der eine ist der hochgebildete, oft der
Vergangenheit nachtrauernde Einsiedler, der die Gedankenwelt AsiKamo no Chōmei: Aufzeichnungen aus meiner Hütte. Aus dem
Japanischen von Nicola Liscutin. Frankfurt/Main: Insel 1997, S. 7f.
279
11
ens verkörpert, der andere der Gelehrte, ebenso hochgebildet, aber in
seinem Geist ein Produkt der mittelmeerischen Kultur.12
Bisher ist nur eine größere Studie in einer europäischen Sprache
erschienen, die dieser Nähe und Verwandtschaft nachgegangen
ist. 13 Es würde sich sicher lohnen, diesen Zusammenhang genauer zu betrachten, was an dieser Stelle jedoch nicht geschehen
kann.
Yoshida Kenkō steht mit seinem Werk explizit in der Tradition von Sei Shōnagon und Kamo no Chōmei. Dies wird an einer
Stelle besonders deutlich, an der er über Malven-Blüten spricht
und zwei Stellen in Erinnerung ruft, die bei den Genannten zu
finden sind:
Und in den Kopfkissenheften [von Sei Shōnagon] steht zu lesen: ‚Was
Sehnsucht nach Vergangenem weckt – dahingewelkte Malven‘, ein
Gedanke, der mich tief berührt. Auch Kamo no Chōmei schrieb in den
Geschichten aus den vier Jahreszeiten: ‚Geblieben sind am Vorhang
noch die Malven.‘ 14
Die Verbundenheit mit Sei Shōnagon und Kamo no Chōmei ist
jedoch durchaus verschieden. Verbinden ihn aus seiner ersten Lebensphase mit Sei Shōnagon die Erfahrungen am kaiserlichen Hof
in Kyōto, so teilt er mit Kamo no Chōmei aus einer anderen Lebensphase die Existenz als buddhistischer Mönch. In seinem
Werk fließen somit die verfeinerte Ästhetik höfischen Lebens seit
der Heian-Zeit und die buddhistische Erfahrung der Vergänglichkeit zusammen und bilden ein Neues, das letztlich auch wegweisend ist für die Entwicklung zen-buddhistischer Künste, die kurze
Zeit nach Kenkōs Tod z. B. mit der Entwicklung des Nō-Theaters
bei Zeami beginnt, der von 1363-1443 in Japan lebte.
Das Werk erhielt seinen Titel Tsurezuregusa aus der ersten
Wendung des Textes, die tsurezure naru mama ni lautet. Auch
Kenkō: Draußen in der Stille. Klassische Erzählungen, Anekdoten und
Aphorismen. Aus dem Japanischen von Jürgen Berndt. Berlin: edition q
1993, Nachwort des Übersetzers, S. 269.
13
Naoko Fuwa Thornton: The birth of the essay: a comparative study of
Michel de Montaigne and Yoshida Kenkō. Indiana: Indiana University
Press 1973.
14
Kenkō: Draußen in der Stille (Anm. 12), S. 166.
280
12
diese Passage ist jedem japanischen Schüler durch Auswendiglernen bekannt. Sie gehört zu den berühmtesten der japanischen Literaturgeschichte überhaupt. Auf Japanisch lautet sie wie folgt:
つれづれなるまゝに、日くらし、硯にむかひて、心に移りゆ
くよし なし事を、そこはかとなく書きつくれば、あやしうこそもの
ぐるほしけ れ。
Eine deutsche Übersetzung lautet:
Müßig, einsam und verlassen all seine Tage vor dem Tuschstein zu
hocken und nichts Besseres zu wissen, als ganz nach Lust und Laune
aufzuschreiben, was einem gerade durch den Kopf geht, das ist schon
ein seltsames Gefühl.15
Von der Gestimmtheit des tsurezure war auch schon der Gebrauch des Pinsels bei Sei Shōnagon getragen, wie das weiter
oben angeführte Zitat aus ihrem eigenen Nachwort belegt. Diese
Gestimmtheit wird gewöhnlich mit „sich langweilen“ übersetzt,
was aber nicht alle Bedeutungsebenen wiederzugeben vermag.
Geht man von den beiden chinesischen Zeichen aus, mit denen
die Wendung tsurezure wiedergegeben wird, so bedeutet das erste
Zeichen „leer, vergebens, nur“ und das zweite Zeichen „so, so
sein wie, ja, -artig“. Man könnte übersetzen: „einfach nur so, ohne
jede Absicht, obwohl klar ist, dass es vergeblich ist“. Die Wendung umfasst in sich das Gefühl der sanft-traurigen Vergeblichkeit, die aber nicht zur Depression führt, sondern zur entspannten
Absichtslosigkeit, in der die Vergeblichkeit selbst aufgehoben ist.
Je klarer wird, dass alles auf der Welt vergänglich ist, umso mehr
kann eine Haltung entstehen, die die Stärke dieser sanft-traurigen
Vergeblichkeit und Vergänglichkeit in sich entfaltet.
Schon mit dem ersten Wort des Textes kommt die buddhistische Einsicht in die Vergänglichkeit ins Spiel. Diese wird aber
sogleich in einen ästhetischen Umgang mit der Vergänglichkeit
transformiert, so dass das Schreiben selbst zur Einübung in die
Vergänglichkeit des Lebens wird. Schreiben selbst wird zur buddhistischen Übung in der Form des „einfach nur so“ (tsurezure).
Im Folgenden werde ich kleine Textstellen aus dem Tsurezuregusa vorstellen, die jeweils mit einem bestimmten Grundmo15
Ebd., S. 6.
281
tiv des Textes verbunden sind. Dabei habe ich mich entschieden,
mehr Text von Kenko selbst vorzustellen und dafür meine Erläuterungen kürzer zu halten. Ich beginne mit dem Motiv der „Vergänglichkeit“.
Vergänglichkeit
Wie sich von Tag zu Tag die tiefen und die seichten Stellen im Bett
des Asuka-Flusses' ändern, so ist in dieser Welt nichts von Bestand.
Die Zeiten wandeln sich. Menschenwerk vergeht. Es lösen Freud und
Leid einander ab. Wo einmal reges Treiben herrschte, gähnt heute
menschenleere Öde. Ein Haus mag bleiben, doch es wechseln die Bewohner. Die Pfirsich und die Aprikosenbäume blühen dort im Garten
noch wie einst, doch sie haben keine Sprache. Drum ist da niemand,
der mir von dem, was ehemals gewesen, reden könnte. Um wieviel
mehr erst wird mir die Vergänglichkeit bewußt, betrachte ich die Reste eines Bauwerks, in dem in nie geschauten fernen Tagen ein Mann
von Würde lebte.16
Sobald ich still in Nachdenken versinke, fühle ich mich der Sehnsucht
nach allem, was einst gewesen, hilflos ausgeliefert. Die anderen schlafen längst, doch ich vertreibe mir die lange Nacht damit zu ordnen,
was sich um mich angesammelt. Wenn ich Papiere mit Geschreibsel,
das nicht des Aufbewahrens lohnt, zerreiße und dazwischen Blätter
finde, die vor langer Zeit ein nun schon toter Freund beschrieben, und
Bilder, die er zum Spaß gemalt, glaube ich in jene Tage mich zurückversetzt. Auch mancher Brief von Freunden, die am Leben, rührt mich
an - und liegt es noch so weit zurück, ich versuche dann mich zu erinnern, zu welcher Zeit in welchem Jahr es war, da ich ihn erhielt. Wie
schmerzlich ist mir der Gedanke, daß all die Dinge, die jemand ständig um sich hatte, ihn unbekümmert überdauern, als wäre nichts geschehen.17
Alles vergeht. Das einzig Verlässliche ist die Vergänglichkeit
selbst. Immer wieder ist dies ein Motiv in seinen Besinnungen auf
die alte Zeit, die Dinge im Alltag, nahestehende Menschen, die
Veränderungen in der Natur. Seine Gedanken dazu sind zwar von
Melancholie und Sehnsucht getragen, aber der Autor versucht
sich weder dagegen aufzulehnen noch nimmt er diese Tatsache
einfach fatalistisch hin. Er schreibt sich selbst hinein in seine ei16
Ebd., S. 44.
Ebd., S. 49.
282
17
gene Vergänglichkeit, so dass diese zu einem ästhetischen
Grundmotiv seines Lebens und Schreibens werden kann. Die folgende Stelle bringt dies auf den Punkt:
Weilten wir für alle Zeit auf Erden hier und vergingen nicht wie der
Tau auf der Adashi-Heide und der Rauch auf dem Toribe-Berg, alles
wäre ohne Reiz. Daß das Menschenleben voller Unbestand, gerade
das macht es so wunderbar. Schaut euch die Geschöpfe an, keines lebt
so lange wie der Mensch. Die Eintagsfliege stirbt, sobald der Abend
dämmert. Die Sommerzikade weiß von keinem Frühling und von keinem Herbst. Allein ein ganzes Jahr, kostet man es aus, ist eine lange
Zeit. Doch wer da meint, er möchte ewig leben, dem erscheinen selbst
tausend Jahre noch flüchtig wie der Traum einer einzigen Nacht. 18
Erst wenn der Einzelne sich ganz verbunden hat mit seiner Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, kann die Kraft des Lebens sich so
entfalten, dass sie nicht mehr gegen den eigenen Tod sich richtet,
sondern diesen zu einem Quell des Lebens selbst macht. Vor allem die verdrängte Vergänglichkeit ist hinterlistig und lässt den
Menschen im Innersten leiden und unbefriedigt sein Leben fristen.
Schönheit des Unvollendeten
Dass die Schönheit nicht mit Ewigkeit und symmetrischer Harmonie – wie dies lange Zeit in der europäischen Tradition der Fall
war – verbunden wird, sondern mit der Vergänglichkeit und damit auch mit etwas Unvollendetem, ist ein besonderes Kennzeichen der Hauptströmung japanischer Ästhetik seit fast 1000 Jahren. Dieses Empfinden äußert sich in vielen kleinen Details, wo
eine Asymmetrie, das Zerbrochene oder das Gealterte den eigentlichen ästhetischen Wert einer Sache ausmacht. So gehören zu
den wertvollsten Teeschalen in Japan, die in manchen Fällen bereits über 300 Jahre alt sind, die liebevoll reparierten Bruchstellen
in besonderer Weise hinzu. Man versucht diese nicht zu tuschieren, sondern sie gehören zum Leben der Teeschale selbst, die genau an der Bruchstelle ihre Vergänglichkeit zeigt und in sich aufnimmt.
Man hört so manches Mal, es sähe häßlich aus, wenn in einer Bücherreihe äußerlich nicht jedes Buch dem anderen gleiche. Was der Pries18
Ebd., S. 14.
283
ter Kōyū dazu meinte, bewundere ich genauso, er sagte nämlich:
‚Vollständigkeit bei allem erstrebt nur der Gewöhnliche. Unvollendetes ist schön.‘ ‚Was immer es auch sei, es bis ins Letzte zu vollenden,
das ist schlecht. Was nicht abgeschlossen ist, bewegt, weil es das Gefühl vermittelt, daß Raum für weiteres Wachsen noch vorhanden ist.
Wird für den Herrscher ein Palast errichtet, läßt man an einer Stelle
immer etwas unvollendet‘, so sagte jemand. Selbst in den Schriften
weiser Männer längst vergangener Zeiten fehlt mit Absicht mancher
Abschnitt; er wurde nie geschrieben.19
Wo die Vergänglichkeit zum Grundmotiv des Lebens wird, kann
sich eine Ästhetik des Unvollendeten ausbilden. Man könnte sagten, es zählt die Andeutung immer mehr als die voll entfaltete
Phantasie oder das voll entfaltete Gedicht oder Bild. Es sind die
Andeutungen und das Unvollendete, die Platz lassen für neue Anschlüsse und Spielräume.
Wohnen
Eine weitere Besonderheit der japanischen Ästhetik ist, dass sie
von Anfang an mit dem alltäglichen Leben verbunden war. Es
sind häufig nicht die großen Kunstwerke, sondern die kleinen
Dinge im Alltag, die den besonderen ästhetischen Reiz ausmachen. So hat sich bereits seit der Heian-Zeit ausgehend von den
kaiserlichen Palästen eine Wohnkultur entwickelt, die von naturverbundener Feinheit und sinnlichen Resonanzen getragen wird.
In den verfeinerten japanischen Häusern finden sich Orte für die
Betrachtung des Mondes ebenso wie kleine Nischen, in denen
Schreibkunstwerke und kleine Blumengestecke bewundert werden können. Ein kleiner Garten gehört ebenso dazu wie das Moos,
das über Jahre hinweg auf Teilen des Daches gewachsen ist.
Kenkō beschreibt die Wohnung eines Gebildeten wie folgt:
An einem Ort, wo ein Mann von Bildung und Geschmack in aller Stille lebt, will mir sogar des Mondes Schimmer schöner noch als anderswo erscheinen. Nicht die Pracht der neuesten Mode rührt mich an.
Genuß bereiten mir vielmehr Gehölze, die schon älter sind, ein Garten,
dem nicht ständig Pflege angedeiht, ein Altan, offen, aber überdacht,
und davor in einem wohlgewählten Abstand ein Zaun aus Bambusste-
19
Ebd., S. 102.
284
cken sowie im Hause ein paar kleine Dinge, die wie achtlos in den
Räumen liegen als Zeichen der Beschaulichkeit. 20
Jahreszeiten
Die japanische Kultur und Ästhetik ist von Anfang an mit der
Wahrnehmung der jahreszeitlichen Veränderungen verbunden. In
den klassischen Gedichten kann nie der Bezug zur gerade herrschenden Jahreszeit fehlen. Durch diesen Bezug sind die Gedichte
immer eingebunden in den zeitlichen Verlauf des Jahres und sind
somit Ausdruck einer bestimmten Jahreszeit. Jede Jahreszeit hat
ihre besonderen Blumen, Düfte, Klänge, Lichterscheinungen, Geschmäcker, tastsinnliche Empfindungen, Wärme- und Kälteempfindungen. Indem die Dichtung und andere Künste die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen sinnlichen Ebenen richten, wird
jede Jahreszeit zu einem bewegten und bewegenden sinnlichen
Resonanzraum, in dem der Mensch sich selbst als ein Wesen der
Natur erfährt. Auch die kleinste Bewegung in den jahreszeitlichen
Wandlungen ist wert, beachtet und sinnlich aufgenommen zu
werden. Noch heute wird während der Kirschblüte ab Mitte März
an jedem Abend für mindestens drei Wochen in den Hauptnachrichten darüber berichtet, in welchem Teil des Landes sie gerade
begonnen hat.
Jeder Wandel der Natur im Wechsel der vier Jahreszeiten hat seinen
eigenen Reiz. Am stimmungsvollsten sei der Herbst, heißt es; darin
sind sich alle einig, wie es scheint. Trotzdem glaube ich, der Frühling
bezaubert uns viel mehr. Der Vögel Sang verkündet uns sein Nahen,
und wenn im milden Sonnenlicht die Gräser unten an den Zäunen
sprießen, ist er dicht herangerückt; Nebeldünste wallen; und hat die
Kirsche kaum begonnen, ihre Blüten zu entfalten, zerzausen Wind und
Regen sie auch schon zu unserem Leid. Bis dann die Blätter grünen,
stimmen uns die kahlen Bäume traurig. Allbekannt ist, daß die Mandarinenblüte Erinnerungen weckt, doch um wieviel mehr noch verführt der Pflaumenblüte Duft uns, Vergangenem zu gedenken. Es gibt
so vieles, an dem wir nicht achtlos vorübergehen können, sei es des
Goldröschens bescheidenes Blühen oder der Glyzinie zerbrechliche
Pracht.21
20
21
Ebd., S. 19.
Ebd., S. 32.
285
Mond
Die Wahrnehmung des Mondes spielt in der japanischen Kultur
eine besondere Rolle. Sein besonderes Licht wird seit alters geschätzt und in seiner Verschiedenheit wahrgenommen. Er kann
klar, rund und hell am dunklen Nachthimmel stehen, er kann aber
auch durch den nächtlichen Dunst schimmern und die Dinge in
ein glänzendes Dunkel hüllen. Immer ist es ein Spiel von Licht
und Dunkelheit, von Licht und Schatten. Das Mondlicht bietet
von diesem Ineinanderspiel unendliche Schattierungen. Das Licht
des Mondes ist subtil und bringt nie alles vollständig in den Blick.
Es lässt vieles im Verborgenen, das nur zart im Schatten geahnt
werden kann. 22
Bewundert man blühende Kirschen einzig in ihrer vollen Pracht, den
Mond nur dann, wenn keine Wolke ihn verdeckt? […] Wieviel enthüllt unserm Auge doch ein Zweig, dessen Knospen sich eben erst
öffnen, oder ein Garten, der von abgefallenen Blütenblättern übersät
ist. […] Tiefer noch als das tausend Meilen strahlende Licht des klaren Vollmonds ergreift unser Herz der Mond, der, lang schon erwartet,
kurz vor dem Morgengrauen endlich durch die Wolken bricht. Gibt es
Stimmungsvolleres als Mondesleuchten, das in tiefer Waldeseinsamkeit grünlich zwischen den Zedernzweigen schimmert, oder den Mond,
der sich plötzlich für eine kleine Weile hinter einer Wolkenbank verbirgt? 23
Briefkultur
Die traditionelle Weise, in Japan einen Brief zu beginnen, ist der
direkte Bezug auf die sinnlich wahrgenommenen jahreszeitlichen
Erscheinungen. Ein Brief kann damit beginnen, dass die sommerliche Hitze erwähnt wird und das laute Zirpen der Zikaden. Es
kann aber auch die erste Färbung des Laubes Erwähnung finden
zusammen mit dem ersten Hauch von Kälte, der sich morgens in
den Häusern ausbreitet. Diese Tradition ist in Japan so tief verwurzelt, dass auch in der elektronischen Kommunikation durch
E-Mail häufig zunächst ein Bezug zur Jahreszeit und zur allgemeinen Befindlichkeit hergestellt wird. Mit diesem Bezug zur
22
Vgl. hierzu: Tanizaki Jun’ichiro: Lob des Schattens. Entwurf einer
japanischen Ästhetik. Aus dem Japanischen von Eduard Klopfenstein, 3.
Auflage. Zürich: Manesse 1988.
23
Kenkō: Draußen in der Stille (Anm. 12), S. 160.
286
konkreten jahreszeitlichen Befindlichkeit bekommt die nachfolgende Nachricht oder der Brief eine sinnliche Situation, aus der er
geschrieben ist. Philosophisch gesehen zeigt sich hier ein tiefes
Wissen um die jeweilige Situiertheit menschlicher Handlungen.
Denn in all unserem Tun sind wir immer angebunden an die konkrete Stimmung und Situation. Wer dies nicht wahrnimmt und
sich darauf bezieht, gilt als ungebildet.
An einem Morgen, als wunderschöner Schnee gefallen war, schrieb
ich jemandem, dem ich etwas mitzuteilen hatte, einen Brief, erwähnte
aber nicht den Schnee. Die Antwort, die mir darauf wurde, fand ich
köstlich: ‚Wie könnte ich zur Kenntnis nehmen, was mir ein derart
grober Klotz zu sagen hat, denn anders kann ich den nicht nennen, der
es versäumt, mich mit der Frage zu begrüßen: Sahst Du den Schnee
am Morgen glitzern? Daß du so wenig Herz besitzt, enttäuscht mich
sehr.‘ Der Verfasser dieses Briefes lebt nicht mehr, doch ich erinnere
selbst noch diese Kleinigkeit.24
Abgeschiedenheit
Kenkō ist Buddhist und steht damit in einer alten Tradition der
Einsamkeitspflege. Sein Ideal vom Leben ist nicht, sich im Treiben in der Welt zu verlieren, sondern seinen Bezug zu sich selbst,
den anderen Menschen und zur Natur zu vertiefen und in sinnliche Resonanzen zu bringen. Er hält nichts von großen Reden,
sondern sucht das Gespräch mit Menschen, die längst verstorben
sind, aber durch ihre Bücher ein reiches Leben in ihm entfalten.
Aus der Ruhe und Abgeschiedenheit steigt so die Beziehung zu
sich selbst, den anderen Menschen und der Natur immer wieder
neu auf, ohne an besondere Erwartungen gebunden zu sein.
Was geht in einem Menschen vor, der Mußestunden nicht erträgt?
Höchstes Glück für mich ist, ganz allein zu sein und mein Herz an
nichts zu hängen. Folgt man dem Treiben in der Welt, wird man versucht und allzuleicht verführt. Und pflegt man Umgang mit den Menschen, so redet man, wie es der andere gerne hört, und sei es auch das
Gegenteil von dem, was man tatsächlich meint. Bald scherzt man miteinander, bald streitet man, mal ist man ärgerlich, mal freut man sich.
[…] Auch wenn ein Mensch den wahren Weg noch nicht gefunden hat,
kann er sich des Lebens freuen, sofern er nur aus allen Bindungen sich
24
Ebd., S. 52.
287
löst, Abgeschiedenheit sich sucht und fern von allem Treiben seinem
Herzen Ruhe gönnt. 25
Nichts spendet größeren Trost, als allein im Lampenschein vor den
Büchern zu sitzen und mit Menschen längst entschwundener Zeiten
Freundschaft zu schließen. 26
Wahre Bildung und Selbstkenntnis
Einem alten Ideal in Ostasien zufolge, stellt der Wissende sein
Wissen nicht prunkvoll zur Schau. Wissende sind vielmehr an ihrer Zurückhaltung zu erkennen, da sie immer auch zutiefst ihre
eigene Unvollkommenheit gewahren. Denn kein Wissen kann
vollkommen sein. So ist der Gestus des Wissens nie vorpreschend,
sondern bedächtig und insistierend. Er ist verbunden mit Übungen
z.B. der Schreibkunst, die den Schreibenden durch das Schreiben
mit dem Wissen der Texte in Verbindung bringt. Es ist eine Form
des inkorporierten Wissens, das sich in langer Übung in den Leib
eingeschrieben hat. In diesem Übungsprozess lernt man nicht nur
andere kennen, sondern auch sich selbst, was für ein nachhaltiges
Wissen unabdingbar ist. Wahre Bildung zeichnet sich durch diese
verschiedenen Momente aus und ist nicht auf die Schnelle zu haben. Bildung braucht Zeit, da sie auch in die Tiefenschichten der
leiblichen Existenz hinein zu sickern hat.
Man sollte nie so tun, als sei man tief in etwas eingedrungen. Ein
Mann von wahrer Bildung spricht selbst von dem, was ihm vertraut ist,
nicht mit Kennermiene. Nur wer die finsterste Provinz soeben erst
verlassen hat, weiß auf jedes eine Antwort, als gäb‘ es nichts, wovon
er keine Ahnung hätt‘. Mag manches an ihm auch Bewunderung verdienen, so macht die hohe Meinung, die er von sich selber hat, ihn
nicht gerade angenehm. Vornehm ist indessen, stets mit viel Bedacht
ausschließlich über das zu reden, was man gründlich kennt, und zwar
auch dann nur, wurde man danach gefragt. 27
Für die Bildung eines Menschen ist zuerst vonnöten, daß er aus den
alten Schriften der Chinesen sich zu eigen macht, was die Weisen
lehrten. Das nächste wäre dann die Schönschrift, selbst wenn man sie
nicht gleich als Kunst betreiben will, sollte man sie doch erlernen,
weil das Üben mit den Zeichen einem auch die Texte näherbringt. 28
25
Ebd., S. 97.
Ebd., S. 23.
27
Ebd., S. 99.
28
Ebd., S. 144.
288
26
Selbst Leute, die einem nicht gerad unklug dünken, sind mit einem
Urteil über andere oft sehr schnell zur Hand, kennen sich selber aber
wohl am wenigsten. Wer sich jedoch nicht selber kennt, kann auch
andere nicht begreifen. Alles andere wäre wider die Vernunft. Nur wer
sich selber kennt, verdient es, klug genannt zu werden. 29
In Resonanz mit den Dingen
Eine besondere Form der Bildung ist der Umgang mit den Dingen
des Alltags. Je mehr wir in sinnlicher Resonanz mit diesen stehen,
umso mehr verbinden wir uns mit der jeweiligen Situation des eigenen Lebens. Erst im Umgang und in der Begegnung zeigt sich
dann, was sich aus der Situation ergeben kann. Um diese besondere Weise der Handlung auszudrücken, kommt im ersten Satz
des folgenden Zitats eine grammatische Form zum Einsatz, die
eine bestimmte Weise des Handelns zum Ausdruck bringt. Gewöhnlich unterscheiden wir in der deutschen Sprache zwischen
aktiven und passiven Handlungen: „Ich küsse“ oder „ich werde
geküsst“. Im Japanischen wird – ähnlich wie im Altgriechischen –
eine weitere Aktionsform unterschieden, die den Namen „Medium“ trägt. Nach den Erklärungen der japanischen Grammatik
werden, vereinfacht gesagt, damit Handlungsformen zum Ausdruck gebracht, in denen eine Handlung oder ein Vollzug wie von
selbst geschieht, ohne dass ein klar bestimmtes Subjekt diese
Handlung willentlich ausgeführt hätte. Es handelt sich somit um
Handlungen, in denen wir uns in höchster Aufmerksamkeit einlassen auf einen Vollzug, der aber nicht vom Einzelnen gesteuert
wird, sondern der wie von selbst geschieht und sich von innen her
entfaltet. Auf Deutsch könnte man sagen, nicht ich handele, sondern es handelt durch mich hindurch. Erst wenn ich so in die Situationen des Lebens hineinfinde, kann ich eingehen in die sinnlichen Resonanzen mit mir selbst, anderen Menschen und der Natur.
Greifst du zum Pinsel, überkommt dich Lust zum Schreiben, nimmst
du ein Instrument zur Hand,' möchtest du musizieren. Der Becher
weckt Verlangen nach Wein, und einem Spielchen wärest du nicht abgeneigt, sobald du zwischen deinen Fingern Würfel spürst. Die Dinge
also stacheln unsere Sinne an.30
29
30
Ebd., S. 155 f.
Ebd., S. 185.
289
Erwartungslosigkeit
Geht man auf die beschriebene Weise ein in die Vollzüge des eigenen Lebens, so treten die ichbezogenen Erwartungen immer
mehr zurück. In aufmerksamer Erwartungslosigkeit geht man behutsam den Impulsen nach, die wichtig erscheinen, und hängt
nicht an den Erwartungen und Planungen, die man sich zurechtgelegt hat. Dies ist sicher kein leichtes Leben, da es in jeder Tätigkeit eine sinnlich-resonierende Aufmerksamkeit erfordert, die
sich mit den Erfordernissen der jeweiligen Situation verbindet.
Wird das Kind krank, so müssen alle anderen Pläne zurückstehen,
ist ein Mensch in Not, so sind die Erwartungen an ihn zu modifizieren. Es kann den Anschein haben, als ob hier Willkür herrschen würde, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Handlungen sind
immer konkret und werden nicht von einer abstrakten Erwartung
getragen. Alltäglich in konkreter sinnlicher Resonanz zu leben
und aufmerksam die Vollzüge des Alltags zu gestalten kann nur
das Ergebnis eines langen Übungsweges sein, der als Weg nie zu
Ende ist. Hier zeigt sich Kenkōs Ideal des Lebens, das sich aus
höfisch-ästhetischer und buddhistischer Lebenshaltung gebildet
hat.
Du hattest dir für heute etwas Bestimmtes vorgenommen, doch dann
kommt Dringliches dazwischen, und du verbringst den ganzen Tag
damit; ein Gast, den du erwartest, ist verhindert, es kommt statt dessen
jemand, den du nicht gebeten hast; auf was du bautest, erwies sich als
ein Fehlschlag, und was du nicht einmal zu hoffen wagtest, das gelingt.
Was dir beschwerlich schien, machte dir dann keine Mühe; von dem
du glaubtest, es sei leicht zu schaffen, wurde Anlaß dir zu manchem
Kummer. Ein Tag verläuft stets anders als gedacht. Genauso ist es mit
dem Jahr und mit dem Leben auch. Meint man jedoch, es komme immer anders als gedacht, so irrt man wiederum, was alles nur noch ungewisser macht. Das einzige Gewisse ist in der Tat das Ungewisse. 31
Zahllos sind die Dinge, die, wenn sie an etwas haften, das, woran sie
haften, schwächen und zerstören: Am Körper sind’s die Läuse und im
Haus die Mäuse; im Staate sind‘s die Räuber, beim kleinen Mann die
Schätze, beim Edlen die Gerechtigkeit und beim Priester wohl die
Lehre.32
31
Ebd., S. 215.
Ebd., S. 117.
290
32
Leerwerden
Buddhistisch gesehen ist alles und jedes in sich leer. Diese Leerheit wird jedoch überdeckt durch Begierden, Wünsche und Anhaftungen. Der buddhistische Übungsweg des Leerwerdens in der
Version von Kenkō als buddhistischem Mönch ist ein Weg zurück zu den ursprünglich sinnlich-alltäglichen Motiven des Lebens. Kurz gesagt, ist der Alltag der Weg und die Übung. Erst in
der Übung des Leerwerdens kann all das, was zuvor gesagt wurde,
realisiert werden. Denn sobald egoistische Begierden, Wünsche
und Anhaftungen sich in die Vollzüge des Alltags einmischen,
entstehen Blockaden und Widersprüche, die die lebendig sinnlichen Resonanzen zerstören.
In ein Haus, das einen Herrn hat, kehrt ein Mensch, der nicht dort hingehört, niemals nach Belieben ein. Doch eine unbewohnte Stätte betritt aufs Geratewohl ein jeder, der des Weges kommt. Auch Füchse
und auch Eulen nisten sich dort ein, als wär‘ es ihr Revier, weil sie
niemand stört. Und Geisterwesen, wie Baumgespenster und dergleichen mehr, treiben an dem Ort ihr Spiel. Und wie ist es mit dem Spiegel? Er wirft ein Bild von allem, was jemals vor ihm auftaucht, stets
zurück, weil er selber keine Farben hat und keine Formen. Besäß‘ er
Farben und auch Formen, würde er nicht spiegeln. Leere nimmt die
Dinge auf. Und da uns nun, ohne daß wir darauf Einfluß hätten, allerlei Gedanken kommen, frag‘ ich mich, ob das wohl daran liegt, daß
jenes, was wir unser Sinnen nennen, von keinem Herrn besetzt ist.
Denn wäre es nicht herrenlos, stellte sich die Vielzahl von Gedanken
sicher niemals ein. 33
In Kenkōs literarischem Lebensentwurf durchdringen sich ästhetische und religiöse Ebenen auf innigste Weise. Religion geht über
in Ästhetik und Ästhetik in Religion. Es lässt sich hier kaum noch
trennen, was gewöhnlich so verschieden zu sein scheint. Damit
die buddhistische Lebensform – die in Indien weit davon entfernt
war, sich mit dem Ästhetischen zu verbinden – in dieser Weise
ausgelegt werden konnte, war ein langer Veränderungsprozess
des Buddhismus über China, Korea und Japan nötig. Auch wenn
diese Entwicklung historisch in hohem Maße voraussetzungsreich
ist, so kann uns der Entwurf von Kenkō über die Grenzen der
Kulturen und Religionen hinweg gerade in seiner ästhetischen
33
Ebd., S. 250.
291
Ausrichtung auch heute noch ansprechen. Dass dies geschehen
kann, ist vielleicht ein zentraler Sinn von dem, was Goethe ‘Weltliteratur‘ genannt hat.
292
Autorinnen und Autoren
Bausenhart, Guido – Prof. Dr. – Universität Hildesheim, Institut
für Katholische Theologie
von Bernstorff, Wiebke – Dr. phil. – Universität Hildesheim,
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Elberfeld, Rolf – Prof. Dr. – Universität Hildesheim, Institut für
Philosophie
Graf, Guido – Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft
Gröschner, Annett – Dipl. Germanistin – Universität Hildesheim,
Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft
Günther, Sebastian – Prof. Dr. – Georg-August-Universität
Göttingen, Seminar für Arabistik/Islamwissenschaft
Kubik, Silke – Dr. – Universität Hildesheim, Institut für deutsche
Sprache und Literatur
Moennighoff, Burkhard – apl. Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut für deutsche Sprache und Literatur
Ortheil, Hanns-Josef – Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim,
Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft
Pieper, Irene – Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut
für deutsche Sprache und Literatur
Schärf, Christian – apl. Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim,
Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft
Schreiner, Martin – Prof. Dr. – Universität Hildesheim, Institut
für Evangelische Theologie
Tholen, Toni – Prof. Dr. phil. – Universität Hildesheim, Institut
für deutsche Sprache und Literatur
293
Hildesheimer Universitätsschriften
Herausgegeben von der Universitätsbibliothek Hildesheim
Band 1
Das Dritte Reich im Gespräch: Zeitzeugen berichten, Studierende
fragen. - Philipp Heine / Stefan Oyen / Manfred Overesch /
Marcus Thom (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1997. - 108 S.
ISBN 3-9805754-0-3
Preis: € 7
Band 2
Begriff und Wirklichkeit der kleinen Universität: Positionen und
Reflexionen; ein Kolloquium des Instituts für Philosophie der
Universität Hildesheim. - Tilman Borsche / Christian Strub /
Hans-Friedrich Bartig, Johannes Köhler (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 194 S.
ISBN 3-9805754-3-8
Preis: € 12
Band 3
Zeitenumbruch in Ostafrika: Sansibar, Kenia und Uganda (1894 1913); Erinnerungen des Kaufmanns R. F. Paul Huebner. Herward Sieberg (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 315 S.
ISBN 3-9805754-1-1
Preis: € 15
Band 4
Arntz, Reiner: Das vielsprachige Europa: eine Herausforderung
für Sprachpolitik und Sprachplanung
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 188 S.
ISBN 3-9805754-4-6
Preis: € 12
Band 5
Jarman, Francis: The perception of Asia: Japan and the West
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 240 S.
ISBN 3-9805754-5-4
Preis: € 13
Band 6
Eberwein, Anke: Konzertpädagogik: Konzeptionen von
Konzerten für Kinder und Jugendliche
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1998. - 148 S.
ISBN 3-9805754-6-2
Preis: € 10
Band 7
"Ich bin völlig Africaner und hier wie zu Hause ...":
F. K. Hornemann (1772 - 1801); Begegnungen mit West- und
Zentralafrika im Wandel der Zeit; Hildesheimer Symposium,
25. - 26.9.1998. - Herward Sieberg / Jos Schnurer (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 1999. - 204 S.
ISBN 3-9805754-7-0
Preis: € 14
Band 8
Raabe, Mechthild: Hans Egon Holthusen:
Bibliographie 1931 - 1997
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2000. - 225 S.
(Veröffentlichungen aus dem Nachlass Holthusen; 1)
ISBN 3-9805754-8-9
Preis: € 15
Band 9
Bildung als engagierte Aufklärung: Ernst Cloer zum 60.
Geburtstag. - Dorle Klika / Hubertus Kunert / Volker Schubert
(Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2000. - 227 S.
ISBN 3-9805754-9-7
Preis: € 15
Band 10
Arntz, Reiner / Wilmots, Jos: Kontrastsprache Niederländisch –
ein neuer Weg zum Leseverstehen
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2002. - 171 S.
ISBN 3-934105-01-7
Preis: € 15
Band 11
Friedrich Konrad Hornemann in Siwa: 200 Jahre
Afrikaforschung. - Gerhard Meier-Hilbert / Jos Schnurer (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2002. - 212 S.
ISBN 3-934105-02-5
Preis: € 13
Band 12
Schulen im Hildesheimer Land – ein historisches Portrait zur
Eröffnung des Schulmuseums an der Universität Hildesheim. Rudolf W. Keck / Hartmut Schröder (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2003. - 102 S.
ISBN 3-934105-03-3
Preis: € 8
Band 13
Begegnungen im Tschad – Gestern und Heute: Drittes
Hildesheimer Hornemann-Symposium. - Gerhard Meier-Hilbert /
Jos Schnurer (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2003. - 182 S.
ISBN 3-934105-04-1
Preis: € 13
Band 14
Schul- und Hochschulmanagement: 100 aktuelle Begriffe; ein
vergleichendes Wörterbuch in deutscher und russischer Sprache /
Olga Graumann / Rudolf W. Keck / Michail Pewner /
Anatoli Rakhkochkine / Alexander Schirin (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsverlag, 2004. - 246 S.
ISBN 3-934105-07-6
Preis: € 14
Band 15
Interkulturalität in Wissenschaft und Praxis Jürgen Beneke, Francis Jarman (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2005. - 273 S.
ISBN 3-934105-08-4
Preis: € 14
Band 16
Literarische Orte - Orte der Literatur Hans Herbert Wintgens, Gerard Oppermann (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2005. - 270 S.
ISBN 3-934105-09-2
Preis: € 15
Band 17
1933: Verbrannte Bücher - Verbannte Autoren
Hans Herbert Wintgens, Gerard Oppermann (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsbibliothek, 2006 - 274 S.
ISBN-10 3-934105-12-2
ISBN-13 978-934105-12-6
Preis: € 15
Band 18
In der Werkstatt der Lektoren: 10 Gespräche
Martin Bruch, Johannes Schneider (Hrsg.):
Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil
Hildesheim: Universitätsverlag, 2007. - 203 S.
ISBN-10 3-934105-15-7
ISBN-13 978-934105-15-7
Preis: € 11
Band 19
Literarische Figuren: Spiegelungen des Lebens
Hans-Herbert Wintgens, Gerard Oppermann (Hrsg.)
Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil
Hildesheim: Universitätsverlag, 2007. - 291 S.
ISBN-10 3-934105-16-5
ISBN-13 978-934105-16-4
Preis: € 15
Band 20
Weltliteratur I: Von Homer bis Dante
Hanns-Josef Ortheil, Paul Brodowsky, Thomas Klupp (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsverlag, 2008. - 279 S.
ISBN-10 3-934105-27-0
ISBN-13 978-3-934105-27-0
Preis: € 15
Band 21
Weltliteratur II: Vom Mittelalter zur Aufklärung
Hanns-Josef Ortheil, Paul Brodowsky, Thomas Klupp (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsverlag, 2009. - 293 S.
ISBN-10 3-934105-51-3
ISBN-13 978-3-934105-51-5
Preis: € 15
Band 22
Weltliteratur III: Von Goethe bis Fontane
Hanns-Josef Ortheil, Thomas Klupp, Alina Herbing (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsverlag, 2010. - 309 S.
ISBN-10 3-934105-34-3
ISBN-13 978-3-934105-34-8
Preis: € 15,00
Band 23
Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik – Hilmar Hoffmanns
"Kultur für alle" reloaded
Wolfgang Schneider (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsverlag, 2010. - 282 S.
ISBN-10 3-934105-35-1
ISBN-13 978-3-934105-35-5
Preis: € 15,00
Band 24
Weltliteratur IV: Das zwanzigste Jahrhundert
Hanns-Josef Ortheil, Thomas Klupp, Alina Herbing (Hrsg.)
Hildesheim: Universitätsverlag, 2011. - 304 S.
ISBN-10 3-934105-37-8
ISBN-13 978-3-934105-37-9
Preis: € 15,00