BERNHARD OBERREITHER
Irritation – Struktur – Poesie
Zur Poesie erzählter Welten bei Clemens Setz
Originalbeitrag
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Oberreither: Irriation – Struktur – Poesie. Zur Poesie erzählter Welten bei
Clemens Setz. In: Dossier Graz 2000+. Neues aus der Hauptstadt der Literatur.
Hrsg. v. Gerhard Fuchs, Stefan Maurer und Christian Neuhuber. Erstellt am
16.01.2020. (= Dossieronline). DOI: 10.25364/16.03:2019.1.10 (zuletzt aufgerufen:
TT.MM.JJJJ)
Dossieronline (dossieronline.at) ist das Open-Access-Journal des Franz-NablInstituts für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz und ist mit der
ISSN 2519-1411 eingetragen. E-Mail: nabl.institut@uni-graz.at
BERNHARD OBERREITHER
IRRITATION – STRUKTUR – POESIE
Zur Poesie erzählter Welten bei Clemens Setz
1 Vorbemerkung: Shock and Awe
Wer dem literarischen Werk von Clemens Setz vorerst als Medienphänomen begegnet, wird schnell ein ganz bestimmtes Bild davon haben. Seit
zwölf Jahren werden in der Literaturkritik mit großer Verlässlichkeit dieselben Merkmale genannt, um zu beschreiben, worum es in den Texten des
Autors bzw. worum es dem Autor in seinen Texten geht; darunter eines,
für das hier eine kleine, aber illustrative Auswahl an Stimmen aus den
zahllosen Rezensionen stehen soll: Setz’ Prosa sei, so Christoph Schröder
2011 zu Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, „durchzogen […] von
manchmal unterschwelliger, zumeist aber brachialer Gewalt, von Ekel,
Demütigungen und Quälereien“. 1 Sebastian Hammelehle bezeichnet die
darauf folgende Buchpublikation des Autors, Indigo (2013), im Spiegel als
„schrilles Vexierkabinett, vollgestopft mit Verweisen auf alles Abseitige
und Grausame“ 2 ; Thomas Andre spricht ebendort anlässlich von Die
Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015) von einem „oft quälenden und
bisweilen ekelhaften Setting zwischen Anstalt und Stalking-Albtraum“3.
Angesichts desselben Romans mutmaßt Richard Kämmerlings: „Grenzen
des guten Geschmacks haben in Clemens J. Setz immer schon den Impuls
1
2
3
Christoph Schröder: Magie und Masche [Rezension zu Die Liebe zur Zeit
des Mahlstädter Kindes]. In: Der Tagesspiegel vom 14.3.2011. URL:
https://www.tagesspiegel.de/kultur/buchkritk-magie-und-masche/3943972.html (letzter Zugriff: 05.05.2019).
Sebastian Hammelehle: Mumpitz! [Rezension zu Indigo]. In: Spiegel online,
26.09.2012. URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/deutscher-buchpreis-rezension-von-indigo-von-clemens-j-setz-a-858041.html (letzter Zugriff:
05.05.2019).
Thomas Andre: Was seid ihr kaputt [Rezension zu Die Stunde zwischen
Frau und Gitarre]. In: Spiegel online vom 09.09.2015. URL:
https://www.spiegel.de/kultur/literatur/stalking-roman-von-clemens-setzstunde-zwischen-frau-und-gitarre-a-1051228.html (letzter Zugriff:
05.05.2019).
125
ausgelöst, sie mit aller Drastik zu überschreiten.“4 Sachlich nicht unzutreffend leitet Sebastian Fasthuber die Quellen des Autors her: „Die Bücher
von Clemens J. Setz muten bisweilen so an, als habe der Autor die abseitigeren Bereiche des Internets abgesurft und würde einem die Perlen seiner
nächtlichen Streifzüge hinterher erzählen.“5
Zwar könnte man durchaus einwenden, dass mit diesem medialen Diskurs (obgleich er sich aus positiven wie negativen Stimmen zusammensetzt) bestimmte Merkmale der Texte des Autors überrepräsentiert sind –
geschadet hat das dem Autor als Figur im literarischen Feld wohl nicht.
Das ist allein daran ersichtlich, dass solche und ähnliche Stimmen auch auf
der Homepage des Suhrkamp-Verlags zitiert werden: ‚Shock and awe‘
sind, gewissermaßen, Teil der PR-Strategie. Auch in der Laudatio zum
Raabe-Preis 2015 ist von Setz’ „Ästhetik der Drastik“6 die Rede.
Zweifellos bedienen diese Urteile unabhängig von der damit einhergehenden Wertung ein Alleinstellungsmerkmal des Autors, und es bleibt zu
fragen, ob sich diese ökonomische oder marketingtechnische Kategorie
auch literarästhetisch verrechnen – und wie sie sich überhaupt erst einmal
beschreiben lässt.
Außerdem: Bilden tatsächlich das Bizarre, der Schock, das Exzentrische die bestimmende ästhetische Ratio dieser Texte? Der Unterton der
kritischen Stimmen im medialen Diskurs ist ja oft deutlich: Anstelle von
literarischem Wert, so der Nenner, auf den viele der Einwände gebracht
werden können, stehe hier der bloße Schauwert des Abseitigen. Setz’
Texte würden sich dann (manche der oben zitierten Auslassungen laufen
4
5
6
Richard Kämmerlings: Dies ist der wahnsinnigste Roman des Jahres [Rezension zu Die Stunde zwischen Frau und Gitarre]. In: Die Welt vom
07.09.2015. URL: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article146112324/Dies-ist-der-wahnsinnigste-Roman-des-Jahres.html (letzter
Zugriff: 05.05.2019).
Sebastian Fasthuber: Die Schwarte der Saison [Rezension zu Die Stunde
zwischen Frau und Gitarre]. In: Falter vom 9.9.2015. URL: https://www.falter.at/falter/rezensionen/buch/597/9783518424957/die-stunde-zwischenfrau-und-gitarre (letzter Zugriff: 05.05.2019).
Begründung der Jury. In: Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm
Raabe-Literaturpreis 2015. Hrsg. v. Hubert Winkels. Göttingen: Wallstein
2016, S. 25-26, hier S. 26.
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darauf hinaus) restlos in der Sammlung und im Arrangement vorgefundener Materialien aufgehen, im ‚objéct trouvé‘, im Zitat.
Dieser in den Kulturseiten und Feuilletons getroffenen Charakterisierung von Setz’ Werk – insbesondere der seiner Prosa – möchte ich mich
in den folgenden Ausführungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nähern. Es geht also zum Teil darum, einen Kenntnisstand einzuholen,
der dort schon vorliegt. Davon ausgehend möchte ich die immanente Poetik dieser Texte aufsuchen. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Diese
Texte, mit all den irritierenden, abseitigen, transgressiven Momenten, sind
gerade darin poetisch. Außerdem wird sich zeigen, dass in diesen Texten
implizit immer schon die Rede war von einer Poetik, die sich von der
Schock-Wirkung emanzipiert – die ohnehin nur geringe Halbwertszeit hat
– und die in ihren Formulierungen verblüffend nahe an dem liegt, wovon
auf unserer Seite der Grenze zwischen Literatur und Literaturwissenschaft
schon seit Jahrzehnten die Rede ist. Ich argumentiere dabei ganz bewährt
strukturalistisch: unter Rückgriff auf einen Poesiebegriff, der einen eng
umgrenzten Effekt auf Zeichenebene meint, der bei Setz in die dargestellte
Welt übertragen wird. Es geht also von der Text- auf die Darstellungsebene; auch dort liegt bei Setz, in einem ganz traditionellen Sinn, Poesie.
2 Text-Körper-Schnittstellen
‚Poesie‘ als Merkmal auf sprachlicher Ebene wird Setz’ Texten regelmäßig und von allen Seiten, also in der Sache (wenn auch nicht in der Wertung) übereinstimmend attestiert. Das ist eine zweite Konstante des medialen Diskurses: die Rede von der großen Zahl an gewagten Metaphern und
Vergleichen in diesen Texten.
Ein Beispiel: „Der Dienstag ist ein alter Mann mit Blumen am Hut, sehr
gelb im Gesicht, und seine Augen sind fast nur Zwinkern.“ (F 18) Die Passage entstammt dem Roman Die Frequenzen und zeigt die Wochentage in
der Wahrnehmung des Protagonisten Alexander Kerfuchs; er ist Synästhet,
ein Wahrnehmungsmodus, der die Figuren und damit die Texte des Autors
vielfach auszeichnet. Mit der Synästhesie läuft hier ein Poesiegenerator,
der zumindest seit der Romantik produktiv ist („Golden wehn die Töne
127
nieder …“), Synästhesie ist aber kein rein ästhetisches Phänomen, sondern
auch ein wahrnehmungspsycho- bzw. -physiologisches. Vordergründig
eine gewagte Metapher, wird die wenig naheliegende Gleichung „Dienstag = alter Mann“ usw. sofort plausibler durch die Tatsache, dass sie einer
Perspektive entspringt, deren wahrnehmungspsychologische Voraussetzungen nicht der Norm entsprechen. Die rhetorische Figur ist damit recht
unpoetisch auf der Handlungsebene motiviert.7
Viele, vielleicht die meisten Figuren bei Setz sind auf die eine oder andere Weise psychisch oder in ihrer Wahrnehmungsapparatur beeinträchtigt; indem Metaphern und Vergleiche auf die derart beeinträchtigte oder
verschobene Perspektive zurückzuführen sind, hat die Rhetorik des Textes
hier zumindest eine Schlagseite in Richtung ‚Pathologie der Darstellung‘.
Synästhesie steht an der Schnittstelle zwischen Ästhetischen und Physiologischen und steht dort gemeinsam mit einer ganzen Reihe von Phänomenen, mit denen sich der Autor intensiv auseinandersetzt: ASMR gehört dazu – ein neurologisches Phänomen („Autonomous Sensory Meridian Response“), dessen wissenschaftlich zweifelhafter Status nichts daran
ändert, dass Betroffene durch bestimmte visuelle, akustische oder haptische Reize ohne Umwege das Belohnungszentrum ihres Gehirns aktivieren können, und dem Setz einen Essay8 sowie einen Roman (Die Stunde
…) gewidmet hat. Weiters finden sich im Werk des Autors Migräneauren
(s. z.B. Indigo), Ohrgeräusche (Die Frequenzen), Grand-Mal-Anfälle (Die
Stunde …), Demenz (Die Frequenzen), Nah- und Nachtoderfahrungen
(Söhne und Planeten, Die Frequenzen); die Liste ließe sich wahrscheinlich
noch fortsetzen.
Poetische Sprache ist in diesen Fällen also bedingt: neurologisch, psychologisch, dabei oft pathologisch. Außerdem technologisch, nämlich
7
8
„Eigentlich“, so urteilt Baßler, „würde er auch selbst gern auf diese Sprache
der dritten Art hinaus, die Natalie mit Mike findet [gemeint sind deren
‚Nonseq‘-Dialoge, Anm.], allein, er traut sich nicht. Letztlich verweist in seiner Prosa doch alles auf etwas Bekanntes und Verständliches.“ Moritz Baßler: Realistisches non sequitur. Auf der Suche nach einer kostbaren Substanz. In: Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe (wie Anm. 6), S. 59-81, hier
S. 75.
Clemens J. Setz: Die Poesie des ASMR. In: Clemens J. Setz trifft Wilhelm
Raabe (wie Anm. 6), S. 42-46.
128
dort, wo in Texten jüngerer Zeit immer wieder Übersetzungs- und Vervollständigungsalgorithmen in die Textur eingreifen: „Aus dem fucking
hätte das Chatprogramm um ein Haar rücklings gemacht.“ (TD 21)
Setz’ Texte verfahren damit trotz hoher Dichte an Vergleichen, Metaphern, Chiffren grundsätzlich realistisch, soll heißen: Poesie als Verfremdung auf der Sprachebene, als Irritation dieser Verbindung vom Text zur
erzählten Welt,9 begegnet uns immer abgefedert – motiviert etwa durch
die Figurenpsychologie und andere Schnittstellen zwischen erzählter Welt
und Sprache. Die Verbindung von der Text- zur Darstellungsebene funktioniert indes durchwegs einwandfrei.
Damit ist man auf der Ebene angelangt, auf der die Poesie dieser
Texte am allerbesten zu verorten ist: auf der Darstellungsebene, die nicht
nur die eingangs genannten Schock- und Ekeleffekte beinhaltet, sondern
mit ihnen eine ganze Reihe von ähnlich zu kategorisierenden Phänomenen:
Zu den in der Kritik gern vermerkten Motiven wie Sadomasochismus,
Ekellust, sozialer Devianz gesellen sich am gemäßigteren Ende der Skala
etwa die paradoxe Affektstruktur der Figuren – schwer erklärbare Abneigungen oder Faszinationen – oder Anomalien auch außerhalb der Figurenzeichnung: wie die sogenannten „Thomassons“10 – Dinge im Straßenbild,
von denen der Autor in seiner Poetikvorlesung spricht, Tore, Knäufe, Stiegen etc., die sichtlich einmal eine Funktion hatten, nun aber nicht mehr,
und als Überbleibsel eines verschwundenen Zusammenhangs stehen geblieben sind. Zu nennen wären auch ‚Glitches‘, die neben dem Autor11
auch seine Figur Natalie (Die Stunde …) begeistern: Es handelt sich um
Programmierfehler in Computersimulationen, die in solchen Fehlern unfreiwillig ihre Konstruktionsweise nach außen kehren. Durch Setz’ Texte
kursieren darüber hinaus abgelegene Zitate aus dem apokryphen musika-
9
10
11
Vgl. dazu Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850-1950. Eine Geschichte
literarischer Verfahren. Berlin: Schmidt 2015.
Clemens Setz: Erste Vorlesung. In: C. S. u. Kathrin Passig: Verweilen unter
schwebender Last. Tübinger Poetik-Dozentur 2015. Künzelsau: Swiridoff
2016, S. 10ff.
Clemens J. Setz: Die Poesie der Glitches. In: logbuch Suhrkamp [o. J.].
URL: https://www.logbuch-suhrkamp.de/clemens-j-setz/die-poesie-der-glitches/ (letzter Zugriff: 05.05.2019).
129
lischen, philosophischen oder literarischen Kanon des Autors und ungezählte, an weiß Gott welchen Rändern der Populärkultur ausgegrabene
Anekdoten und Miniaturen: etwa die Geschichte vom einsamsten Baum
der Welt (einer Schirmakazie, die bis 1973 in der Ténéré-Wüste im Niger
stand – vgl. I 167), von der Puppenfabrik, die im Zweiten Weltkrieg plötzlich bloß noch traurige Puppen produzierte (SFG 816) oder die untergegangene Berufsgruppe der „Zeitfrauen“, die einst die Uhrzeit verkauften.12
Die literaturkritischen Reaktionen auf diese Vielfalt des Exzentrischen
wurden schon angeführt. Ebenso zutreffend wie die dortigen Beschwörungs- und Bannformeln ist jedoch die Feststellung, dass es sich in allen
hier geschilderten Fällen schlicht um den Bruch mit literarischen wie außerliterarischen Normen und Erwartungshaltungen handelt – also um die
Irritation kulturell tradierter Frames und Skripte.
3 Was war noch einmal Poesie?
Beim Erfassen von Poetizität in bewährter Manier liegen Begriffe wie Irritation oder Verfremdung recht nahe. Fragt sich jedoch, wo genau die spezifisch literarische Irritation liegt: Irritieren im weiteren Sinn können auch,
um gleich Beispiele aus dem Fundus des Autors zu nennen, Twitterfeeds,
obskure Sachbücher oder Youtube-Kanäle, ohne zwangsläufig poetisch zu
sein.
Viktor Sklovskij hat bekanntlich die genuin künstlerische Irritation unter dem Begriff der Verfremdung („Ostranenie“) verhandelt. Während die
Alltagswahrnehmung chronisch abgestumpft ist, durchstößt die Kunst diesen Schirm des bloßen Wiedererkennens: „[U]m die Dinge zu fühlen, um
den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt.“ Und
diese verfährt, indem sie „Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung
steigert“13: Hier geht es darum, wie leserInnenseitiges Alltagswissen kurzfristig sistiert wird, durch bestimmte Modi des Beschreibens (indem man
12
13
Vgl. Clemens J. Setz: Zeitfrauen und Alienautopsien [TEDx Graz vom
6.11.2015]. URL: https://www.youtube.com/watch?v=PaG6KyqJPGI (letzter
Zugriff: 05.05.2019).
Viktor Sklovskij: Kunst als Verfahren [1916]. In: Russischer Formalismus.
Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hrsg. v.
130
einen Gegenstand „so beschreibt, als werde er zum ersten Mal gesehen,
und einen Vorfall, als ob er sich zum ersten Mal ereigne […]“14) ebenso
wie durch die Tropen der Rhetorik. Als Beispiele bringt Sklovskij übrigens
Szenen körperlicher Züchtigung bei Tolstoi und erotische Bildlichkeit (wir
sind also unserem Thema näher, als wir dachten).
Diese Irritationen auf Zeichenebene bzw. im Übergang zwischen Zeichen- und Darstellungsebene sind eines der meistbehandelten Themen der
literaturkritischen Auseinandersetzung mit Setz: Es geht um die hohe
Dichte rhetorischer Figuren. „Metapherngeilheit“ 15 hat Klaus Zeyringer
die Sache einmal genannt, auch die Rede von „Stilblüten“ findet sich mitunter.
Kritik dieser Art begegnet Setz durch ein selbstreflexives, selbstironisches Moment. Am deutlichsten ist in dieser Hinsicht vielleicht eine Passage in Bot. Bei dieser Publikation handelt es sich um die Simulation eines
Interviews, wobei jedoch die Antworten keiner Interviewsituation entstammen, sondern in Form von Textausschnitten dem literarischen Tagebuch des Autors („einer elendslangen Worddatei, die so etwas wie eine
ausgelagerte Seele bildet“, so Setz im Vorwort, B 10) entnommen werden.
Eine dort beschriebene Reise nach Norwegen ist dem Protagonisten und
Ich-Erzähler Anlass, sich seitenlang in metaphern- und analogiereichen
Beschreibungen des Nordlichts zu ergehen – um allerdings anschließend
festzustellen:
Am Ende der Aktivität zeigen sich einige würmelnde Nester, dann sehen wir
einen Tentakel, dessen Inneres in engen Wellen weitergeweht wird wie niedrige Wolken, eine Schlängelbewegung, und wieder die räumlichen Regenfäden. – Später im Hotelzimmer muss ich lachen über die Sinnlosigkeit solcher
Beschreibungen. Ich sitze neben einer Espressomaschine, die exakt wie ein
sich verbeugender Ritter aussieht, und streiche einige Absätze Aurora-Prosa
in meinem Notizbuch durch. (B 158)
14
15
Jurij Striedter. München: Fink 1971, (= UTB Literaturwissenschaft. 40.) S. 335, hier S. 15.
Ebd., S. 17.
Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien-Verl. 2008, S. 225.
131
Zur Beantwortung der Frage, was Poesie sei, trug bekanntlich auch Roman
Jakobson bei, unter anderem in seinem fast fünfzig Jahre nach Sklovskijs
Text erschienenen Aufsatz Linguistik und Poetik: Poetisch sei eine Mitteilung dann, wenn sie auf ihre sprachliche Verfasstheit aufmerksam mache.16 Bei Jakobson funktioniert dieses Hinweisen auf die Sprache, indem
das Moment der sprachlichen Strukturalität in den Vordergrund gerückt
wird: also die Tatsache, dass jedes Zeichen, das uns etwa in einem Satz
begegnet, zugleich einer an dieser konkreten Stelle nicht aktualisierten,
abwesenden Menge anderer Zeichen gegenübersteht, die ebenfalls an dieser bestimmten Stelle im Syntagma hätten stehen können – und sich als
eine Art uneingelöster Möglichkeit im Schlepptau dieses Zeichens finden.
Diese Achse der Sprache – die paradigmatische Achse bzw. Achse der
Äquivalenz – durchkreuzt unsere Sätze gewissermaßen im rechten Winkel.
Poetisches Sprechen weist darauf hin, dass es ungezählte Zeichen gibt, die
mit dem jeweils aktualisierten Zeichen über das unsichtbare Seil der Äquivalenz verbunden sind: ein Verhältnis, in dem dann etwa die Metaphorik
des Erotischen zu dem steht, was gemeint ist, aber nicht benannt wird.17
Äquivalenz schlägt in diesen Fällen die Brücke vom Anwesenden zum
Abwesenden: in der Metapher und anderen Ersetzungsfiguren rundweg,
im Vergleich zu einem zumindest auf Darstellungsebene abwesenden
Bildspender. Es geht also um das Verhältnis des Einzelfalls zur Konvention (die im Fall von rhetorischen Figuren die entsprechenden Paradigmen
bereithält). Wenn wir angesichts des vorher angeführten Katalogs inhaltlicher Irritationen oder Anomalien von Frames sprechen, dann steckt auch
darin das Moment der Konventionalität: Der Frame bestimmt das übliche
Nebeneinander der Dinge und bildet so eine Norm, die als abstrakte Größe
16
17
Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: ders.: Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. 3. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 262.) S. 83-121.
„Fick die Kirsche!“ (SP 16) wäre ein Beispiel in dem für Setz repräsentativen
Register – und zugleich eines dafür, wie Metaphorik hier tendenziell normalisiert wird, weil die Rede von der Kirsche in der entsprechenden Passage davor (quasi behutsam) in der Figurenperspektive als Vergleich eingeführt
wird.
132
den Bezugspunkt der verschiedenen ihr gehorchenden Situationen darstellt. Zum Beispiel: Zu einem Baum gehört der Wald; zu einer Telefonzelle gehört die Großstadt rundherum; zum Ejakulat wildfremder Menschen – der Gedanke wird sich beim Lesen von Die Stunde zwischen Frau
und Gitarre des Öfteren einstellen – gehört der Ekel. Nicht so bei Setz, der
gerade die Abweichung von solchen Frames aufsucht.
Werden Frames solchermaßen unterlaufen oder gebrochen, rückt die
entsprechende Situation (die Handlung, die Beschreibung) in ein Gegensatzverhältnis zur Norm. Durch den Bruch tritt die Norm und mit ihr Strukturalität als Konstruktionsgesetz der Wirklichkeit in den Vordergrund;
Struktur wird thematisch. Mit ihren Irritationsmomenten betreiben diese
Texte also eine aus der Sprache in die dargestellte Wirklichkeit transponierte Poesie.
4 Zwischenfrage nach ‚Vorläufern‘
Eine Zwischenfrage mit Blick auf die literarischen Vorläufer ist angebracht: So, wie sie eben beschrieben wurde, funktioniert jede transgressive
(z.B. Schock- oder Ekel-)Ästhetik, auch bei anderen Autorinnen und Autoren. Setz ist, was seinen privaten Kanon, oder, wenn man so will, seine
Vorläufer und Einflüsse betrifft, sehr auskunftsfreudig, und unter diesen
Werken finden sich einige, die sich solche Effekte zu Nutze machen. Kann
man Setz in dieser Hinsicht allerdings diesen anderen Autoren ohne weiteres zur Seite stellen?
Wer ein entsprechendes Motiv von Setz in die Texte seines Kanons zurückverfolgt, merkt schnell, dass die Differenzen wohl aussagekräftiger
sind als die Übereinstimmungen. Letztere bleiben oft oberflächlich, zu
sehr unterscheiden sich die Texte hinsichtlich Register oder narrativer
Strukturen. Für den Zusammenhang dieser Untersuchung lassen sich beispielhaft die bei Setz so prominenten Momente des Sadismus und der
Ekellust zurückverfolgen in das Werk zweier anderer Autoren, die Setz
explizit nennt: In seinem privaten Kanon finden sich mit Bret Easton Ellis
und Dennis Cooper Autoren, deren Texte Sex- und Gewaltexzesse zeigen,
133
wie sie auch die Imaginationen Setz’scher Figuren füllen. Zu nennen wären hier etwa Ellis’ American Psycho (1991) oder Coopers ebenso skandalöser Erstling Frisk (1991), Texte, die sich zu großen Teilen aus solchen
Szenen zusammensetzen.
Üblicherweise werden sie der angelsächsischen ‚blank fiction‘ zugerechnet: einer vom literarischen Minimalismus (‚minimal realism‘) etwa
eines Raymond Carver abgeleiteten Strömung, die sich mit Themen wie
Gewalt und sexueller Gewalt, Drogenmissbrauch, Konsumismus, Verlust
von Individualität und Autonomie den Entfremdungserscheinungen der
Populärkultur widmet. Erzählerisch wird das im Fall von American Psycho
oder Frisk durch eine teils manische Aufmerksamkeit für Oberflächen bewerkstelligt (denen auch durch die hilflosen chirurgischen Versuche der
Protagonisten nicht beigekommen werden kann), sowie durch die Aussparung psychologischer Innenwelten. Die Psyche dominiert diese Texte als
Leerstelle18 – im Fall eines Patrick Bateman, dessen Taten nie auch nur
andeutungsweise eine psychiatrische Tiefendimension hinterlegt wird, oder in der geschickten perspektivischen Retusche des Cooper’schen IchErzählers (der sich gerade in den Passagen, in denen es um ihn selbst geht,
auf die Wahrnehmungen Dritter beschränkt).19
Während Setz’ Texte die offensichtlichen inhaltlichen Merkmale mit
diesen beiden gemeinsam haben, ist deren Funktion jedoch eine andere.
Das betrifft unter anderem dieses Verhältnis zur Innenwelt: Setz erforscht
geradezu obsessiv die Innenwelten seiner Figuren und motiviert deren z.B.
sadistische Impulse – auf paradoxe Weise, aber doch – psychologisch:
etwa im Fall des Kindes, das in Milchglas abends erst zur Ruhe kommt,
als es seine Sammlung von Bildern etwa von Kreuzigungen, Folterszenen
und Missbildungen betrachtet. Ein weiterer Unterschied trotz der vordergründigen motivischen Gemeinsamkeit betrifft die narrative Ordnung: Die
Texte Ellis’ und Coopers sind auf Serialität und Steigerung ausgerichtet.
Dagegen steht bei Setz die Akkumulation, das sammelnde Nebeneinander,
18
19
Vgl. dazu etwa: Zoltán Abádi-Nagy: The Narratorial Function in Minimalist
Fiction. In: Neohelicon 27 (2000), H. 2, S. 237-248.
Vgl. Dennis Cooper: Frisk. New York: Grove 1991; Bret Easton Ellis: American Psycho. New York: Vintage 1991.
134
das Ausbreiten einer Kollektion, die als Sammlung nichts zur Teleologie
beiträgt, sondern andere, eigene Gesetzmäßigkeiten hervorbringt.
5 Struktur I: Liste von Listen
Setz’ Texte nutzen also die Überschreitung, um aus dem Verhältnis zur
Norm Poesie zu generieren; allerdings ist gegenüber einer Poetik, die auf
dem Bruch von Frames beruht, Skepsis angebracht, bedenkt man, wie
schnell jede Art von Bruch der ästhetischen Norm eingemeindet wird.
Dazu kommt die Konkurrenz anderer, oft nicht-künstlerischer Medien.
Den Schock- und Schreckensbekundungen der Literaturkritik, wenn sie
über Setz redet, begegnet eine Generation, die mit digitalen Kuriositätenkabinetten wie rotten.com aufgewachsen ist, eher verständnislos.
Ich möchte die These aufstellen, dass Setz’ Texte immer schon eine
weitere Poetik bereitgehalten haben, eine, die der Ästhetik des FrameBruchs entgegensteht oder diese zumindest komplementär ergänzt – dabei
aber ebenfalls auf der Handlungsebene stattfindet. Als erste Annäherung
daran soll hier eine Form erwähnt werden, mit der Setz’ Texte – wie durch
den Normverstoß – Strukturalität literarisch fruchtbar machen, zugleich
aber auch diese Strukturalität selbst reflektieren bzw. durch die jeweiligen
ProtagonistInnen reflektieren lassen. Aus einem poetischen Text wird dort,
und bei Setz oft unerwartet, ein poetologischer. Die Rede ist von der Form
der Liste.
Natalie aus Die Stunde zwischen Frau und Gitarre beispielsweise erinnert sich an eine Liedtext-Zeile nur unvollständig; infolgedessen geistert
diese Zeile in ihrem Kopf herum, wobei die Leerstelle je nach Situation
gefüllt wird, sodass immer wieder Listen entstehen: Listen möglicher Konjekturen der Leerstelle.
„You are the irgendwas beneath my wings …“
„You are the dndndn beneath my wings.“
„Therapist, Challenger, Fred Astaire, Nobel Prize“
„You are the butterfly beneath my wings“
„You are the Röntgenarzt beneath my wings.“ (SFG 214f., 235 u. 286)
– und so fort; die Zeile verbindet die verschiedenen Situationen im Verlauf der Handlung, in denen sie auftritt; was auch immer diese Situationen
135
sonst gemein haben, durch die Zeile wird diese Äquivalenz sichtbar gemacht. Zugleich wird durch die zahllosen möglichen Versionen dessen,
was da vor „beneath my wings“ stehen könnte, eine im Textverlauf immer
umfangreicher werdende Liste von Worten generiert, deren Äquivalenz
durch ihre Einsetzung an derselben Stelle im Vers einfach behauptet, hergestellt wird. Jede Version hat von nun an alle anderen im paradigmatischen Schlepptau.
Der Icherzähler des Pseudo-Interviewbandes Bot beschreibt seine Lesegewohnheiten: „Ich lese seit Jahren im Grimm-Wörterbuch, als wäre es
eine lineare Erzählung; auch das keine „beabsichtigte“ oder „korrekte“
Handhabung dieses Werks“ (B 117; diese Gewohnheit teilt der Icherzähler
mit dem des Textes Die Katze wohnt im Lalande’schen Himmel, TD 146)
– sondern die Überführung einer Liste von Lemmata und Belegen, das
heißt eines Paradigmas, in eine kontige Ordnung (und schon hat man Poesie).
Schon in der ersten Romanpublikation des Autors, Söhne und Planeten,
findet sich eine Passage, die das Thema und seine poetologische Implikation verhandelt. Die Äußerung stammt von Thomas, einem Freund des das
Zentrum des Romans bildenden Selbstmörders Viktor Senneger:
Kataloge, Listen. Item. Item. Was Wagner betrifft. Was Proust betrifft.
Man sollte am besten nur Listen von sich zurücklassen auf Erden. Gedichte sind im Grunde nichts anderes. Einkaufs-, Opfer-, Kondolenz-,
Siegerlisten. Die ganze Welt zerfällt in Listen. Listen bilden die Substanz
von Schulen, von Universitäten, Bestseller-, Literatur-, Ergebnis-, Anwesenheitslisten. Der Kanon. (SP 155)
Besonders ein Satz daraus verdient es hier, noch einmal hervorgehoben zu
werden, und nicht nur wegen seiner großen Nähe zu Jakobson: Gedichte
seien im Grunde nichts anderes. Wenn der Protagonist dieser Passage dieses Formgesetz zugleich aber der Welt attestiert, heißt das, dass Listen,
Paradigmen auch außerhalb von Sprache als gleichzeitiges Nebeneinander
aufeinander bezogener Elemente existieren: als Listen, aus denen sich die
Welt zusammensetzt.
136
6 Struktur II: Paare, Paradigmen
Bisher war – mit rhetorischer Bildlichkeit, mit einer Poetik des FrameBruchs – die Rede von der Fruchtbarmachung von Äquivalenzen zwischen
An- und Abwesendem. In poetischer Textur sind hingegen oft beide Elemente dieses poetischen Verhältnisses gleichermaßen ‚präsent‘: im Reim,
in der Alliteration, der Paronomasie.20 In der Liste, die etwa Dinge einer
fiktionalen Welt anführt, wandert solche Äquivalenz von der textuellen auf
die Darstellungsebene. Daraus resultiert Strukturalität, wie sie der erzählten Welt eignet.
Milchglas (2011), einer der poetologisch aufschlussreichsten Texte des
Autors, gibt illustrative Beispiele für rhetorische Figuren, für den Framebruch (zu den Eigenheiten des Protagonisten, eines Kindes, gehört, dass er
zur Bekämpfung seiner Schlaflosigkeit die erwähnte Sammlung von
Schockbildern heranzieht). Außerdem aber installiert der Autor in eben
diesem Text auch ein Gegenmodell zu dieser Poetik des Framebruchs: eine
Poetik, die ebenso auf Darstellungsebene stattfindet, dabei aber nicht auf
transzendente Normen (oder den Verstoß gegen diese) zurückgreifen
muss. In einer Szene des Textes empfängt der Protagonist die heilige Kommunion.21 Seine Aufmerksamkeit allerdings richtet sich auf ein Detail am
Rand der Szene:
Über dem Altar, sehr weit oben, gab es ein rundes, weißes Fenster aus Milchglas, das ich immer anstarrte, wenn ich empfing. Es war genauso rund und
weiß wie die Hostie in meinem Mund, und die Distanz zwischen mir und dem
hohen Fenster verringerte sich fast auf null, wenn sich die kleinere Version
davon, die Hostie, an meinen Gaumen legte. Wie ein Seil, das zwischen zwei
weit entfernten Punkten gespannt wird. (LZ 15f.)
Wie verhalten sich diese beiden Dinge, Hostie und Fenster, zueinander?
Metaphorisch? Analogisch? Fest steht ihre Äquivalenz, sie stehen gewissermaßen auf zwei Seiten einer Gleichung. Beide Seiten des Verhältnisses
20
21
„Hier mein Ticket. Hier mein Pass. Und dies ist mein Zwirn“ – lässt der IchErzähler vor einer Flugreise seine Packliste in Günter Eichs Inventur übergehen.
Ausgerechnet – kaum wo wird das Verhältnis zwischen An- und Abwesendem, Zeichen und Bezeichnetem so virulent wie im Leib Christi/der Oblate.
137
sind dabei materialiter präsent. Die Entsprechung liegt zwischen zwei Elementen auf Handlungsebene, es geht nicht um einen rhetorischen Brückenschlag vom An- zum Abwesenden. Äquivalenz wird ‚in praesentia‘ und
auf dinglicher Ebene her- und zugleich ausgestellt. Und diese manifeste
Strukturalität wird explizit reflektiert22 – ironischerweise in Form eines
Vergleichs („[w]ie ein Seil“).
Immer wieder stößt man bei Setz auf solche Äquivalenzen; ihre Poesie
liegt im Gegensatz zu der des Framebruchs nicht in der Einzigartigkeit,
sondern gerade in der Aufhebung jeder Isolation, der Evokation von ‚Hyperlinks‘, in Passagen, deren Fokus den Rahmen der erzählten Situation
überschreitet: Oft medial vermittelt, öffnet sich in diesen Momenten die
jeweilige Handlung auf einen größeren Zusammenhang, auf andere,
gleichartige Situationen hin. So werden plötzlich Situationen, Szenen, Abläufe angeführt, die zueinander äquivalent sind; sie haben gewissermaßen
an derselben Liste teil, entsprechen beispielsweise demselben Frame. Frames und Skripte – das sind aus dieser Perspektive die Überschriften für
Listen von äquivalenten Situationen. Daraus resultiert Struktur, bestehend
auf der einen Seite aus Paradigmen (Frames, Skripten), auf der anderen
Seite aus den sich nach diesen Regelmäßigkeiten bildenden Kontiguitätszusammenhängen (Situationen, Abläufen) – eine Struktur, die sich ohne
weiteres einer (fiktionalen wie nicht-fiktionalen) Welt attestieren lässt.
Das hat in Setz’ Texten manchmal die Form ganz unauffälliger, possierlich-exzentrischer Beobachtungen: „Wie alle Glühbirnen auf diesem
Planeten so sind auch alle Badezimmerspiegel miteinander verbunden,
man könnte auch sagen: vernetzt“ (F 66), heißt es in den Frequenzen. Mit
solchen Feststellungen wird die Einheit von Zeit und Ort unvermittelt
überschritten, die Elemente der Szene stehen plötzlich in Beziehungen zu
anderen Elementen und Situationen, hinweg über große räumliche oder
anderweitige Distanzen, dabei allesamt präsent in der erzählten Welt, wie
22
Unter anderem darin gehen diese Texte über die in der histoire manifesten
Strukturalität hinaus, die sich wohl jedem narrativen Text attestieren lässt;
basale Oppositionen wie ‚Protagonist-Antagonist‘ werden nicht zwangsläufig
thematisch.
138
aufgefädelt auf das erwähnte Seil. Die erzählte Welt erscheint nun als etwas, das in die erwähnten Kontiguitätszusammenhänge zerfällt, die zugleich durch Ähnlichkeiten und Differenzen paradigmatisch verbunden
sind. Dieses Geflecht aus situativer Kontiguität und Äquivalenz wird so
explizit verhandelbar – und Strukturalität als Rückgrat der erzählten Welt
offengelegt.
Eine Nebenfigur (oder, wie der fiktive Lexikonartikel behauptet, der
dem Buch beiliegt: die heimliche Hauptfigur) der Frequenzen, Herr Steiner, besitzt eine
Sammlung von Postkarten, aus Porto, aus Marokko, aus Venedig, aus Prag,
aus St. Petersburg: sie [seine verstorbene Frau, Anm.] und er, das immer gleiche Paar, vor ständig wechselndem Hintergrund. Sie waren die Konstante, die
den Städten eine Ordnung verlieh, eine Ordnung, die die Städte ohne sie gar
nicht hatten. (F 208)
Zuerst könnte man anmerken, dass Touristenpostkarten in den meisten
Fällen vorgefertigt gekauft werden und so zwar die betreffende Stadt, aber
kaum einmal die Person zeigen, die sie versendet; dass es außerdem auch
eher unüblich ist, Postkarten an sich selbst zu schicken. Vor allem aber ist
an dieser Stelle bemerkenswert, wie unverblümt hier die Rede von einer
Struktur ist, in der Äquivalenzen („das immer gleiche Paar […] die Konstante“) eine Klammer bilden, die sich um eine Reihe von Situationen
schließt (um nicht zu sagen: wie außerdem im „Paar“ schon das „Paradigma“ anklingt).
Ein anderer Modus, Äquivalenzen auf der Darstellungsebene zu produzieren, ist Gleichzeitigkeit: „Natalie liebte alles, was weltumspannend war,
wie Live-Sendungen, Mondphasen oder die Romane von Stephen King“,
wird die Protagonistin der Stunde zwischen Frau und Gitarre beschrieben.
„Denn wenn etwas live war“, führt Natalie aus, „sah und hörte man genau
das, was gerade jetzt im selben Augenblick irgendwo anders geschah. Man
war also an zwei Orten gleichzeitig. (SFG 21, 22)
Ein anderer Schauplatz dieses Phänomens: „Ginger Ale, Cola, Sprite.
Die vertrauten Markennamen taten ihr gut. Die gab es auf der ganzen Erde,
zu diesem Zeitpunkt wurden sie von Tausenden von Menschen ange-
139
schaut.“ (SFG 746) – „Zu diesem Zeitpunkt“, „von tausenden von Menschen“: Das zeitliche und räumliche Durchstoßen situativer Grenzen, die
Verflochtenheit kontiger Situationen durch Ähnlichkeiten und Korrespondenzen könnte man kaum deutlicher machen.
7 Schluss
Setz’ erzählerisches Verfahren transponiert also die Strukturgesetze, wie
sie in der Sprache, wie sie in poetischer Rede herrschen, auf die erzählte
Welt. Indem er das tut, wird diese Struktur thematisch, und damit die Darstellungsebene in diesem ganz traditionell gefassten Sinn poetisiert. Neben
einer Poesie, die sich mit dem Vokabular der rhetorischen Figurenlehre
beschreiben lässt und wie sie bei Setz vor allem anhand synästhetischer
und anderer Grenzphänomene zwischen Ästhetik und Physiologie eingeführt wird, steht bei diesem Autor also nicht nur eine Poetik des FrameBruchs, der Irritation und des Schocks, sondern darüber hinaus eine Poetik
der dargestellten Welt, die Strukturalität auf der Darstellungsebene inszeniert. Man kann vielleicht von einer Poetik des Netzwerks sprechen: Alle
Elemente, die poetisch aufeinander bezogen werden, sind manifest als
Knotenpunkte einer Struktur aus Äquivalenz und Kontiguität in der erzählten Welt.
Eine der schönsten Erzählungen des Bandes Die Liebe zur Zeit des
Mahlstädter Kindes, ein Text mit dem Titel Character IV, spielt auf einem
fremden Himmelskörper, auf dem sich ein von der Erde emigrierter Protagonist ein einsames Domizil eingerichtet hat. Unendlich weit von jedem
bekannten Zusammenhang entfernt, sinniert er nach über etwas, was ihn
von der Erde noch viel deutlicher trennt als der bloße Raum:
Er besaß zwar einige Audioaufnahmen vom Glockengeläut aus verschiedenen
Städten, in denen er gelebt hatte, aber die hörte er sich niemals an. Nein, Glocken und Fußballspiele, das waren zwei Dinge, die all ihren Reiz verloren,
wenn man sie auf Magnetband aufzeichnete. Es war wichtig, zu wissen, dass
sie in genau diesem Augenblick stattfanden, an einem nahen oder fernen Ort.
Aber hier, auf Character IV, war Gleichzeitigkeit nicht leicht zu bekommen.
Sie war eine seltene und teure Ware, eine Information, über die sich nur Experten problemlos unterhalten konnten, man musste über allerlei seltsame
Theorien Bescheid wissen und andauernd in Blitzen denken, die an zwei ver-
140
schiedenen Orten einschlugen, oder in Zügen, die sich mit sehr hoher Geschwindigkeit voneinander fortbewegten. Solchen Unfug musste man beherrschen, sonst verstand man nichts und berechnete alles falsch. (LZ 250)
Allerlei seltsame Theorien, Unfug zum Thema Gleichzeitigkeit, über den
sich nur Experten problemlos unterhalten können – man wird den Verdacht nicht los: Wahrscheinlich geht es hier tatsächlich um Literaturtheorie.
Nachsatz
Man kann diese Poetik wohl als eine der Medienkonkurrenz verstehen;
dieser Punkt, der sicher gerade in Setz’ Fall eine eingehendere Betrachtung
verdient, soll hier abschließend zumindest kurz Erwähnung finden.
In verschiedenen Texten des Autors erscheint das Internet als ein Ort,
an dem Normverstoß und Regelmäßigkeit ständig Kopf an Kopf liegen:
Jede Bizarrerie, jede Passion oder Perversion findet sich dort, und findet
dort sogleich ihre Entsprechung. Noch die seltsamsten Phänomene ordnen
sich in ihre jeweiligen Nachbarschaften ein: Foren, Threads, Chatgroups,
digitale Marktplätze etc. Im ‚dark web‘, schreibt Setz in einen Essay, stößt
er „auf eine Seite, auf der anonyme Beiträger über Dinge diskutieren, die
einem beim Lesen die Augen verbrennen“23 – und doch wird im Netz zugleich tendenziell alles normalisiert: „Das Internet“, stellt er anderswo fest,
„ist, wie jeder weiß, eine große Wiedererkennungswiese. Es eliminiert
jede Art von Isolation. Egal, was für ungewöhnliche Eigenschaften man
zu besitzen glaubt, es gibt immer einen anderen Menschen auf der Erde,
der sie teilt.“24
Es fällt auf, dass die beiden oben dargestellten Modi der Poetisierung
der Darstellungsebene – das Brechen sowie das Herstellen von Regeln/Regelmäßigkeiten – diesen dem Netz innewohnenden Widerspruch zu illustrieren scheinen. Ein Bezug von Setz’ Prosa zu Inhalten wie zur Organisationsform des Netzes lässt sich tatsächlich auch konkreter festmachen: So
23
24
Clemens Setz: Die Tiefe. In: Die Zeit (Hamburg) vom 04.07.2013. URL:
https://www.zeit.de/2013/28/internet-deep-net-tor-onionland/komplettansicht
(letzter Zugriff: 05.05.2019).
Ders., Die Poesie des ASMR (wie Anm. 8), S. 44.
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stimmt es etwa, dass der Autor seine Texte mit Beutestücken aus ausführlichen medialen Streifzügen füllt (er selbst demonstriert das u.a. in seiner
Poetikvorlesung). Zum anderen aber sind es auch die Effekte des Internets
und anderer Medien, die seine Texte sich zunutze, und ihre formale Ordnung, die sie fruchtbar machen.
Das Überbrücken räumlicher und zeitlicher Distanzen sowie Allgegenwart und Gleichzeitigkeit, wie sie den modernen Medien als Effekt attestiert werden (je nach Medium und Medientheorie in unterschiedlichem
Ausmaß und mit unterschiedlicher Wertung), treten dabei einerseits
schlicht als Handlungselemente in Erscheinung: Medien im technischen
Sinne werden zu Motiven (das iPhone gehört zu den wichtigsten Besitztümern Natalies und damit zu den wichtigsten Ding-Motiven in Die Stunde
zwischen Frau und Gitarre), und indem sie das tun, erzeugen sie die genannten Effekte, in denen die Strukturalität der erzählten Welt verhandelt
wird. Dafür können die meisten der oben genannten Beispiele als Belege
dienen, erscheinen in ihnen doch Telefone, Bücher, Live-Fernsehen, Postkarten als die Werkzeuge – oder Agenten – der Vernetzung (ein weiter
gefasster Medienbegriff verleibt sich auch die Glühbirne aus den Frequenzen noch ein: auch sie eine ‚extension of man‘).
Aber nicht nur nutzt Setz die Effekte dieser Medien auf der Handlungsebene; man kann sagen, dass seine Texte ihre Organisationsform imitieren
– das enzyklopädische Moment, wie es vor allem (aber nicht nur) das Internet auszeichnet. Die räumliche wie zeitliche Omnipräsenz seiner Inhalte
ergänzt durch das Wegfallen aller, etwa moralischer oder ästhetischer,
Schranken, werden in ein System des gleichzeitigen Nebeneinanders in der
erzählten Welt übertragen. Dabei jedoch überschreiten die literarischen
Texte ihr mediales Gegenüber: indem sie dessen Strukturen und Voraussetzungen – und damit die eigenen – freilegen, reflektieren, literarisch produktiv machen.
Siglen
SP = Setz, Clemens: Söhne und Planeten. St. Pölten, Salzburg: Residenz 2007.
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F = Setz, Clemens J.: Die Frequenzen. St. Pölten, Salzburg: Residenz
2009.
LZ = Setz, Clemens J.: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Berlin: Suhrkamp 2011.
I = Setz, Clemens J.: Indigo. Berlin: Suhrkamp 2012.
SFG = Setz, Clemens J.: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Berlin:
Suhrkamp 2015.
B = Setz, Clemens J.: Bot. Gespräch ohne Autor. Hrsg. v. Angelika
Klammer. Berlin: Suhrkamp 2018.
TD = Setz, Clemens J.: Der Trost runder Dinge. Berlin: Suhrkamp
2019.
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