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Irritation Struktur Poesie. Zur Poesie erzählter Welten bei Clemens Setz

2020

BERNHARD OBERREITHER Irritation – Struktur – Poesie Zur Poesie erzählter Welten bei Clemens Setz Originalbeitrag Empfohlene Zitierweise: Bernhard Oberreither: Irriation – Struktur – Poesie. Zur Poesie erzählter Welten bei Clemens Setz. In: Dossier Graz 2000+. Neues aus der Hauptstadt der Literatur. Hrsg. v. Gerhard Fuchs, Stefan Maurer und Christian Neuhuber. Erstellt am 16.01.2020. (= Dossieronline). DOI: 10.25364/16.03:2019.1.10 (zuletzt aufgerufen: TT.MM.JJJJ) Dossieronline (dossieronline.at) ist das Open-Access-Journal des Franz-NablInstituts für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz und ist mit der ISSN 2519-1411 eingetragen. E-Mail: nabl.institut@uni-graz.at BERNHARD OBERREITHER IRRITATION – STRUKTUR – POESIE Zur Poesie erzählter Welten bei Clemens Setz 1 Vorbemerkung: Shock and Awe Wer dem literarischen Werk von Clemens Setz vorerst als Medienphänomen begegnet, wird schnell ein ganz bestimmtes Bild davon haben. Seit zwölf Jahren werden in der Literaturkritik mit großer Verlässlichkeit dieselben Merkmale genannt, um zu beschreiben, worum es in den Texten des Autors bzw. worum es dem Autor in seinen Texten geht; darunter eines, für das hier eine kleine, aber illustrative Auswahl an Stimmen aus den zahllosen Rezensionen stehen soll: Setz’ Prosa sei, so Christoph Schröder 2011 zu Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, „durchzogen […] von manchmal unterschwelliger, zumeist aber brachialer Gewalt, von Ekel, Demütigungen und Quälereien“. 1 Sebastian Hammelehle bezeichnet die darauf folgende Buchpublikation des Autors, Indigo (2013), im Spiegel als „schrilles Vexierkabinett, vollgestopft mit Verweisen auf alles Abseitige und Grausame“ 2 ; Thomas Andre spricht ebendort anlässlich von Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015) von einem „oft quälenden und bisweilen ekelhaften Setting zwischen Anstalt und Stalking-Albtraum“3. Angesichts desselben Romans mutmaßt Richard Kämmerlings: „Grenzen des guten Geschmacks haben in Clemens J. Setz immer schon den Impuls 1 2 3 Christoph Schröder: Magie und Masche [Rezension zu Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes]. In: Der Tagesspiegel vom 14.3.2011. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/buchkritk-magie-und-masche/3943972.html (letzter Zugriff: 05.05.2019). Sebastian Hammelehle: Mumpitz! [Rezension zu Indigo]. In: Spiegel online, 26.09.2012. URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/deutscher-buchpreis-rezension-von-indigo-von-clemens-j-setz-a-858041.html (letzter Zugriff: 05.05.2019). Thomas Andre: Was seid ihr kaputt [Rezension zu Die Stunde zwischen Frau und Gitarre]. In: Spiegel online vom 09.09.2015. URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/stalking-roman-von-clemens-setzstunde-zwischen-frau-und-gitarre-a-1051228.html (letzter Zugriff: 05.05.2019). 125 ausgelöst, sie mit aller Drastik zu überschreiten.“4 Sachlich nicht unzutreffend leitet Sebastian Fasthuber die Quellen des Autors her: „Die Bücher von Clemens J. Setz muten bisweilen so an, als habe der Autor die abseitigeren Bereiche des Internets abgesurft und würde einem die Perlen seiner nächtlichen Streifzüge hinterher erzählen.“5 Zwar könnte man durchaus einwenden, dass mit diesem medialen Diskurs (obgleich er sich aus positiven wie negativen Stimmen zusammensetzt) bestimmte Merkmale der Texte des Autors überrepräsentiert sind – geschadet hat das dem Autor als Figur im literarischen Feld wohl nicht. Das ist allein daran ersichtlich, dass solche und ähnliche Stimmen auch auf der Homepage des Suhrkamp-Verlags zitiert werden: ‚Shock and awe‘ sind, gewissermaßen, Teil der PR-Strategie. Auch in der Laudatio zum Raabe-Preis 2015 ist von Setz’ „Ästhetik der Drastik“6 die Rede. Zweifellos bedienen diese Urteile unabhängig von der damit einhergehenden Wertung ein Alleinstellungsmerkmal des Autors, und es bleibt zu fragen, ob sich diese ökonomische oder marketingtechnische Kategorie auch literarästhetisch verrechnen – und wie sie sich überhaupt erst einmal beschreiben lässt. Außerdem: Bilden tatsächlich das Bizarre, der Schock, das Exzentrische die bestimmende ästhetische Ratio dieser Texte? Der Unterton der kritischen Stimmen im medialen Diskurs ist ja oft deutlich: Anstelle von literarischem Wert, so der Nenner, auf den viele der Einwände gebracht werden können, stehe hier der bloße Schauwert des Abseitigen. Setz’ Texte würden sich dann (manche der oben zitierten Auslassungen laufen 4 5 6 Richard Kämmerlings: Dies ist der wahnsinnigste Roman des Jahres [Rezension zu Die Stunde zwischen Frau und Gitarre]. In: Die Welt vom 07.09.2015. URL: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article146112324/Dies-ist-der-wahnsinnigste-Roman-des-Jahres.html (letzter Zugriff: 05.05.2019). Sebastian Fasthuber: Die Schwarte der Saison [Rezension zu Die Stunde zwischen Frau und Gitarre]. In: Falter vom 9.9.2015. URL: https://www.falter.at/falter/rezensionen/buch/597/9783518424957/die-stunde-zwischenfrau-und-gitarre (letzter Zugriff: 05.05.2019). Begründung der Jury. In: Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Hrsg. v. Hubert Winkels. Göttingen: Wallstein 2016, S. 25-26, hier S. 26. 126 darauf hinaus) restlos in der Sammlung und im Arrangement vorgefundener Materialien aufgehen, im ‚objéct trouvé‘, im Zitat. Dieser in den Kulturseiten und Feuilletons getroffenen Charakterisierung von Setz’ Werk – insbesondere der seiner Prosa – möchte ich mich in den folgenden Ausführungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nähern. Es geht also zum Teil darum, einen Kenntnisstand einzuholen, der dort schon vorliegt. Davon ausgehend möchte ich die immanente Poetik dieser Texte aufsuchen. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Diese Texte, mit all den irritierenden, abseitigen, transgressiven Momenten, sind gerade darin poetisch. Außerdem wird sich zeigen, dass in diesen Texten implizit immer schon die Rede war von einer Poetik, die sich von der Schock-Wirkung emanzipiert – die ohnehin nur geringe Halbwertszeit hat – und die in ihren Formulierungen verblüffend nahe an dem liegt, wovon auf unserer Seite der Grenze zwischen Literatur und Literaturwissenschaft schon seit Jahrzehnten die Rede ist. Ich argumentiere dabei ganz bewährt strukturalistisch: unter Rückgriff auf einen Poesiebegriff, der einen eng umgrenzten Effekt auf Zeichenebene meint, der bei Setz in die dargestellte Welt übertragen wird. Es geht also von der Text- auf die Darstellungsebene; auch dort liegt bei Setz, in einem ganz traditionellen Sinn, Poesie. 2 Text-Körper-Schnittstellen ‚Poesie‘ als Merkmal auf sprachlicher Ebene wird Setz’ Texten regelmäßig und von allen Seiten, also in der Sache (wenn auch nicht in der Wertung) übereinstimmend attestiert. Das ist eine zweite Konstante des medialen Diskurses: die Rede von der großen Zahl an gewagten Metaphern und Vergleichen in diesen Texten. Ein Beispiel: „Der Dienstag ist ein alter Mann mit Blumen am Hut, sehr gelb im Gesicht, und seine Augen sind fast nur Zwinkern.“ (F 18) Die Passage entstammt dem Roman Die Frequenzen und zeigt die Wochentage in der Wahrnehmung des Protagonisten Alexander Kerfuchs; er ist Synästhet, ein Wahrnehmungsmodus, der die Figuren und damit die Texte des Autors vielfach auszeichnet. Mit der Synästhesie läuft hier ein Poesiegenerator, der zumindest seit der Romantik produktiv ist („Golden wehn die Töne 127 nieder …“), Synästhesie ist aber kein rein ästhetisches Phänomen, sondern auch ein wahrnehmungspsycho- bzw. -physiologisches. Vordergründig eine gewagte Metapher, wird die wenig naheliegende Gleichung „Dienstag = alter Mann“ usw. sofort plausibler durch die Tatsache, dass sie einer Perspektive entspringt, deren wahrnehmungspsychologische Voraussetzungen nicht der Norm entsprechen. Die rhetorische Figur ist damit recht unpoetisch auf der Handlungsebene motiviert.7 Viele, vielleicht die meisten Figuren bei Setz sind auf die eine oder andere Weise psychisch oder in ihrer Wahrnehmungsapparatur beeinträchtigt; indem Metaphern und Vergleiche auf die derart beeinträchtigte oder verschobene Perspektive zurückzuführen sind, hat die Rhetorik des Textes hier zumindest eine Schlagseite in Richtung ‚Pathologie der Darstellung‘. Synästhesie steht an der Schnittstelle zwischen Ästhetischen und Physiologischen und steht dort gemeinsam mit einer ganzen Reihe von Phänomenen, mit denen sich der Autor intensiv auseinandersetzt: ASMR gehört dazu – ein neurologisches Phänomen („Autonomous Sensory Meridian Response“), dessen wissenschaftlich zweifelhafter Status nichts daran ändert, dass Betroffene durch bestimmte visuelle, akustische oder haptische Reize ohne Umwege das Belohnungszentrum ihres Gehirns aktivieren können, und dem Setz einen Essay8 sowie einen Roman (Die Stunde …) gewidmet hat. Weiters finden sich im Werk des Autors Migräneauren (s. z.B. Indigo), Ohrgeräusche (Die Frequenzen), Grand-Mal-Anfälle (Die Stunde …), Demenz (Die Frequenzen), Nah- und Nachtoderfahrungen (Söhne und Planeten, Die Frequenzen); die Liste ließe sich wahrscheinlich noch fortsetzen. Poetische Sprache ist in diesen Fällen also bedingt: neurologisch, psychologisch, dabei oft pathologisch. Außerdem technologisch, nämlich 7 8 „Eigentlich“, so urteilt Baßler, „würde er auch selbst gern auf diese Sprache der dritten Art hinaus, die Natalie mit Mike findet [gemeint sind deren ‚Nonseq‘-Dialoge, Anm.], allein, er traut sich nicht. Letztlich verweist in seiner Prosa doch alles auf etwas Bekanntes und Verständliches.“ Moritz Baßler: Realistisches non sequitur. Auf der Suche nach einer kostbaren Substanz. In: Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe (wie Anm. 6), S. 59-81, hier S. 75. Clemens J. Setz: Die Poesie des ASMR. In: Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe (wie Anm. 6), S. 42-46. 128 dort, wo in Texten jüngerer Zeit immer wieder Übersetzungs- und Vervollständigungsalgorithmen in die Textur eingreifen: „Aus dem fucking hätte das Chatprogramm um ein Haar rücklings gemacht.“ (TD 21) Setz’ Texte verfahren damit trotz hoher Dichte an Vergleichen, Metaphern, Chiffren grundsätzlich realistisch, soll heißen: Poesie als Verfremdung auf der Sprachebene, als Irritation dieser Verbindung vom Text zur erzählten Welt,9 begegnet uns immer abgefedert – motiviert etwa durch die Figurenpsychologie und andere Schnittstellen zwischen erzählter Welt und Sprache. Die Verbindung von der Text- zur Darstellungsebene funktioniert indes durchwegs einwandfrei. Damit ist man auf der Ebene angelangt, auf der die Poesie dieser Texte am allerbesten zu verorten ist: auf der Darstellungsebene, die nicht nur die eingangs genannten Schock- und Ekeleffekte beinhaltet, sondern mit ihnen eine ganze Reihe von ähnlich zu kategorisierenden Phänomenen: Zu den in der Kritik gern vermerkten Motiven wie Sadomasochismus, Ekellust, sozialer Devianz gesellen sich am gemäßigteren Ende der Skala etwa die paradoxe Affektstruktur der Figuren – schwer erklärbare Abneigungen oder Faszinationen – oder Anomalien auch außerhalb der Figurenzeichnung: wie die sogenannten „Thomassons“10 – Dinge im Straßenbild, von denen der Autor in seiner Poetikvorlesung spricht, Tore, Knäufe, Stiegen etc., die sichtlich einmal eine Funktion hatten, nun aber nicht mehr, und als Überbleibsel eines verschwundenen Zusammenhangs stehen geblieben sind. Zu nennen wären auch ‚Glitches‘, die neben dem Autor11 auch seine Figur Natalie (Die Stunde …) begeistern: Es handelt sich um Programmierfehler in Computersimulationen, die in solchen Fehlern unfreiwillig ihre Konstruktionsweise nach außen kehren. Durch Setz’ Texte kursieren darüber hinaus abgelegene Zitate aus dem apokryphen musika- 9 10 11 Vgl. dazu Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850-1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin: Schmidt 2015. Clemens Setz: Erste Vorlesung. In: C. S. u. Kathrin Passig: Verweilen unter schwebender Last. Tübinger Poetik-Dozentur 2015. Künzelsau: Swiridoff 2016, S. 10ff. Clemens J. Setz: Die Poesie der Glitches. In: logbuch Suhrkamp [o. J.]. URL: https://www.logbuch-suhrkamp.de/clemens-j-setz/die-poesie-der-glitches/ (letzter Zugriff: 05.05.2019). 129 lischen, philosophischen oder literarischen Kanon des Autors und ungezählte, an weiß Gott welchen Rändern der Populärkultur ausgegrabene Anekdoten und Miniaturen: etwa die Geschichte vom einsamsten Baum der Welt (einer Schirmakazie, die bis 1973 in der Ténéré-Wüste im Niger stand – vgl. I 167), von der Puppenfabrik, die im Zweiten Weltkrieg plötzlich bloß noch traurige Puppen produzierte (SFG 816) oder die untergegangene Berufsgruppe der „Zeitfrauen“, die einst die Uhrzeit verkauften.12 Die literaturkritischen Reaktionen auf diese Vielfalt des Exzentrischen wurden schon angeführt. Ebenso zutreffend wie die dortigen Beschwörungs- und Bannformeln ist jedoch die Feststellung, dass es sich in allen hier geschilderten Fällen schlicht um den Bruch mit literarischen wie außerliterarischen Normen und Erwartungshaltungen handelt – also um die Irritation kulturell tradierter Frames und Skripte. 3 Was war noch einmal Poesie? Beim Erfassen von Poetizität in bewährter Manier liegen Begriffe wie Irritation oder Verfremdung recht nahe. Fragt sich jedoch, wo genau die spezifisch literarische Irritation liegt: Irritieren im weiteren Sinn können auch, um gleich Beispiele aus dem Fundus des Autors zu nennen, Twitterfeeds, obskure Sachbücher oder Youtube-Kanäle, ohne zwangsläufig poetisch zu sein. Viktor Sklovskij hat bekanntlich die genuin künstlerische Irritation unter dem Begriff der Verfremdung („Ostranenie“) verhandelt. Während die Alltagswahrnehmung chronisch abgestumpft ist, durchstößt die Kunst diesen Schirm des bloßen Wiedererkennens: „[U]m die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt.“ Und diese verfährt, indem sie „Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert“13: Hier geht es darum, wie leserInnenseitiges Alltagswissen kurzfristig sistiert wird, durch bestimmte Modi des Beschreibens (indem man 12 13 Vgl. Clemens J. Setz: Zeitfrauen und Alienautopsien [TEDx Graz vom 6.11.2015]. URL: https://www.youtube.com/watch?v=PaG6KyqJPGI (letzter Zugriff: 05.05.2019). Viktor Sklovskij: Kunst als Verfahren [1916]. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hrsg. v. 130 einen Gegenstand „so beschreibt, als werde er zum ersten Mal gesehen, und einen Vorfall, als ob er sich zum ersten Mal ereigne […]“14) ebenso wie durch die Tropen der Rhetorik. Als Beispiele bringt Sklovskij übrigens Szenen körperlicher Züchtigung bei Tolstoi und erotische Bildlichkeit (wir sind also unserem Thema näher, als wir dachten). Diese Irritationen auf Zeichenebene bzw. im Übergang zwischen Zeichen- und Darstellungsebene sind eines der meistbehandelten Themen der literaturkritischen Auseinandersetzung mit Setz: Es geht um die hohe Dichte rhetorischer Figuren. „Metapherngeilheit“ 15 hat Klaus Zeyringer die Sache einmal genannt, auch die Rede von „Stilblüten“ findet sich mitunter. Kritik dieser Art begegnet Setz durch ein selbstreflexives, selbstironisches Moment. Am deutlichsten ist in dieser Hinsicht vielleicht eine Passage in Bot. Bei dieser Publikation handelt es sich um die Simulation eines Interviews, wobei jedoch die Antworten keiner Interviewsituation entstammen, sondern in Form von Textausschnitten dem literarischen Tagebuch des Autors („einer elendslangen Worddatei, die so etwas wie eine ausgelagerte Seele bildet“, so Setz im Vorwort, B 10) entnommen werden. Eine dort beschriebene Reise nach Norwegen ist dem Protagonisten und Ich-Erzähler Anlass, sich seitenlang in metaphern- und analogiereichen Beschreibungen des Nordlichts zu ergehen – um allerdings anschließend festzustellen: Am Ende der Aktivität zeigen sich einige würmelnde Nester, dann sehen wir einen Tentakel, dessen Inneres in engen Wellen weitergeweht wird wie niedrige Wolken, eine Schlängelbewegung, und wieder die räumlichen Regenfäden. – Später im Hotelzimmer muss ich lachen über die Sinnlosigkeit solcher Beschreibungen. Ich sitze neben einer Espressomaschine, die exakt wie ein sich verbeugender Ritter aussieht, und streiche einige Absätze Aurora-Prosa in meinem Notizbuch durch. (B 158) 14 15 Jurij Striedter. München: Fink 1971, (= UTB Literaturwissenschaft. 40.) S. 335, hier S. 15. Ebd., S. 17. Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien-Verl. 2008, S. 225. 131 Zur Beantwortung der Frage, was Poesie sei, trug bekanntlich auch Roman Jakobson bei, unter anderem in seinem fast fünfzig Jahre nach Sklovskijs Text erschienenen Aufsatz Linguistik und Poetik: Poetisch sei eine Mitteilung dann, wenn sie auf ihre sprachliche Verfasstheit aufmerksam mache.16 Bei Jakobson funktioniert dieses Hinweisen auf die Sprache, indem das Moment der sprachlichen Strukturalität in den Vordergrund gerückt wird: also die Tatsache, dass jedes Zeichen, das uns etwa in einem Satz begegnet, zugleich einer an dieser konkreten Stelle nicht aktualisierten, abwesenden Menge anderer Zeichen gegenübersteht, die ebenfalls an dieser bestimmten Stelle im Syntagma hätten stehen können – und sich als eine Art uneingelöster Möglichkeit im Schlepptau dieses Zeichens finden. Diese Achse der Sprache – die paradigmatische Achse bzw. Achse der Äquivalenz – durchkreuzt unsere Sätze gewissermaßen im rechten Winkel. Poetisches Sprechen weist darauf hin, dass es ungezählte Zeichen gibt, die mit dem jeweils aktualisierten Zeichen über das unsichtbare Seil der Äquivalenz verbunden sind: ein Verhältnis, in dem dann etwa die Metaphorik des Erotischen zu dem steht, was gemeint ist, aber nicht benannt wird.17 Äquivalenz schlägt in diesen Fällen die Brücke vom Anwesenden zum Abwesenden: in der Metapher und anderen Ersetzungsfiguren rundweg, im Vergleich zu einem zumindest auf Darstellungsebene abwesenden Bildspender. Es geht also um das Verhältnis des Einzelfalls zur Konvention (die im Fall von rhetorischen Figuren die entsprechenden Paradigmen bereithält). Wenn wir angesichts des vorher angeführten Katalogs inhaltlicher Irritationen oder Anomalien von Frames sprechen, dann steckt auch darin das Moment der Konventionalität: Der Frame bestimmt das übliche Nebeneinander der Dinge und bildet so eine Norm, die als abstrakte Größe 16 17 Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: ders.: Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 262.) S. 83-121. „Fick die Kirsche!“ (SP 16) wäre ein Beispiel in dem für Setz repräsentativen Register – und zugleich eines dafür, wie Metaphorik hier tendenziell normalisiert wird, weil die Rede von der Kirsche in der entsprechenden Passage davor (quasi behutsam) in der Figurenperspektive als Vergleich eingeführt wird. 132 den Bezugspunkt der verschiedenen ihr gehorchenden Situationen darstellt. Zum Beispiel: Zu einem Baum gehört der Wald; zu einer Telefonzelle gehört die Großstadt rundherum; zum Ejakulat wildfremder Menschen – der Gedanke wird sich beim Lesen von Die Stunde zwischen Frau und Gitarre des Öfteren einstellen – gehört der Ekel. Nicht so bei Setz, der gerade die Abweichung von solchen Frames aufsucht. Werden Frames solchermaßen unterlaufen oder gebrochen, rückt die entsprechende Situation (die Handlung, die Beschreibung) in ein Gegensatzverhältnis zur Norm. Durch den Bruch tritt die Norm und mit ihr Strukturalität als Konstruktionsgesetz der Wirklichkeit in den Vordergrund; Struktur wird thematisch. Mit ihren Irritationsmomenten betreiben diese Texte also eine aus der Sprache in die dargestellte Wirklichkeit transponierte Poesie. 4 Zwischenfrage nach ‚Vorläufern‘ Eine Zwischenfrage mit Blick auf die literarischen Vorläufer ist angebracht: So, wie sie eben beschrieben wurde, funktioniert jede transgressive (z.B. Schock- oder Ekel-)Ästhetik, auch bei anderen Autorinnen und Autoren. Setz ist, was seinen privaten Kanon, oder, wenn man so will, seine Vorläufer und Einflüsse betrifft, sehr auskunftsfreudig, und unter diesen Werken finden sich einige, die sich solche Effekte zu Nutze machen. Kann man Setz in dieser Hinsicht allerdings diesen anderen Autoren ohne weiteres zur Seite stellen? Wer ein entsprechendes Motiv von Setz in die Texte seines Kanons zurückverfolgt, merkt schnell, dass die Differenzen wohl aussagekräftiger sind als die Übereinstimmungen. Letztere bleiben oft oberflächlich, zu sehr unterscheiden sich die Texte hinsichtlich Register oder narrativer Strukturen. Für den Zusammenhang dieser Untersuchung lassen sich beispielhaft die bei Setz so prominenten Momente des Sadismus und der Ekellust zurückverfolgen in das Werk zweier anderer Autoren, die Setz explizit nennt: In seinem privaten Kanon finden sich mit Bret Easton Ellis und Dennis Cooper Autoren, deren Texte Sex- und Gewaltexzesse zeigen, 133 wie sie auch die Imaginationen Setz’scher Figuren füllen. Zu nennen wären hier etwa Ellis’ American Psycho (1991) oder Coopers ebenso skandalöser Erstling Frisk (1991), Texte, die sich zu großen Teilen aus solchen Szenen zusammensetzen. Üblicherweise werden sie der angelsächsischen ‚blank fiction‘ zugerechnet: einer vom literarischen Minimalismus (‚minimal realism‘) etwa eines Raymond Carver abgeleiteten Strömung, die sich mit Themen wie Gewalt und sexueller Gewalt, Drogenmissbrauch, Konsumismus, Verlust von Individualität und Autonomie den Entfremdungserscheinungen der Populärkultur widmet. Erzählerisch wird das im Fall von American Psycho oder Frisk durch eine teils manische Aufmerksamkeit für Oberflächen bewerkstelligt (denen auch durch die hilflosen chirurgischen Versuche der Protagonisten nicht beigekommen werden kann), sowie durch die Aussparung psychologischer Innenwelten. Die Psyche dominiert diese Texte als Leerstelle18 – im Fall eines Patrick Bateman, dessen Taten nie auch nur andeutungsweise eine psychiatrische Tiefendimension hinterlegt wird, oder in der geschickten perspektivischen Retusche des Cooper’schen IchErzählers (der sich gerade in den Passagen, in denen es um ihn selbst geht, auf die Wahrnehmungen Dritter beschränkt).19 Während Setz’ Texte die offensichtlichen inhaltlichen Merkmale mit diesen beiden gemeinsam haben, ist deren Funktion jedoch eine andere. Das betrifft unter anderem dieses Verhältnis zur Innenwelt: Setz erforscht geradezu obsessiv die Innenwelten seiner Figuren und motiviert deren z.B. sadistische Impulse – auf paradoxe Weise, aber doch – psychologisch: etwa im Fall des Kindes, das in Milchglas abends erst zur Ruhe kommt, als es seine Sammlung von Bildern etwa von Kreuzigungen, Folterszenen und Missbildungen betrachtet. Ein weiterer Unterschied trotz der vordergründigen motivischen Gemeinsamkeit betrifft die narrative Ordnung: Die Texte Ellis’ und Coopers sind auf Serialität und Steigerung ausgerichtet. Dagegen steht bei Setz die Akkumulation, das sammelnde Nebeneinander, 18 19 Vgl. dazu etwa: Zoltán Abádi-Nagy: The Narratorial Function in Minimalist Fiction. In: Neohelicon 27 (2000), H. 2, S. 237-248. Vgl. Dennis Cooper: Frisk. New York: Grove 1991; Bret Easton Ellis: American Psycho. New York: Vintage 1991. 134 das Ausbreiten einer Kollektion, die als Sammlung nichts zur Teleologie beiträgt, sondern andere, eigene Gesetzmäßigkeiten hervorbringt. 5 Struktur I: Liste von Listen Setz’ Texte nutzen also die Überschreitung, um aus dem Verhältnis zur Norm Poesie zu generieren; allerdings ist gegenüber einer Poetik, die auf dem Bruch von Frames beruht, Skepsis angebracht, bedenkt man, wie schnell jede Art von Bruch der ästhetischen Norm eingemeindet wird. Dazu kommt die Konkurrenz anderer, oft nicht-künstlerischer Medien. Den Schock- und Schreckensbekundungen der Literaturkritik, wenn sie über Setz redet, begegnet eine Generation, die mit digitalen Kuriositätenkabinetten wie rotten.com aufgewachsen ist, eher verständnislos. Ich möchte die These aufstellen, dass Setz’ Texte immer schon eine weitere Poetik bereitgehalten haben, eine, die der Ästhetik des FrameBruchs entgegensteht oder diese zumindest komplementär ergänzt – dabei aber ebenfalls auf der Handlungsebene stattfindet. Als erste Annäherung daran soll hier eine Form erwähnt werden, mit der Setz’ Texte – wie durch den Normverstoß – Strukturalität literarisch fruchtbar machen, zugleich aber auch diese Strukturalität selbst reflektieren bzw. durch die jeweiligen ProtagonistInnen reflektieren lassen. Aus einem poetischen Text wird dort, und bei Setz oft unerwartet, ein poetologischer. Die Rede ist von der Form der Liste. Natalie aus Die Stunde zwischen Frau und Gitarre beispielsweise erinnert sich an eine Liedtext-Zeile nur unvollständig; infolgedessen geistert diese Zeile in ihrem Kopf herum, wobei die Leerstelle je nach Situation gefüllt wird, sodass immer wieder Listen entstehen: Listen möglicher Konjekturen der Leerstelle. „You are the irgendwas beneath my wings …“ „You are the dndndn beneath my wings.“ „Therapist, Challenger, Fred Astaire, Nobel Prize“ „You are the butterfly beneath my wings“ „You are the Röntgenarzt beneath my wings.“ (SFG 214f., 235 u. 286) – und so fort; die Zeile verbindet die verschiedenen Situationen im Verlauf der Handlung, in denen sie auftritt; was auch immer diese Situationen 135 sonst gemein haben, durch die Zeile wird diese Äquivalenz sichtbar gemacht. Zugleich wird durch die zahllosen möglichen Versionen dessen, was da vor „beneath my wings“ stehen könnte, eine im Textverlauf immer umfangreicher werdende Liste von Worten generiert, deren Äquivalenz durch ihre Einsetzung an derselben Stelle im Vers einfach behauptet, hergestellt wird. Jede Version hat von nun an alle anderen im paradigmatischen Schlepptau. Der Icherzähler des Pseudo-Interviewbandes Bot beschreibt seine Lesegewohnheiten: „Ich lese seit Jahren im Grimm-Wörterbuch, als wäre es eine lineare Erzählung; auch das keine „beabsichtigte“ oder „korrekte“ Handhabung dieses Werks“ (B 117; diese Gewohnheit teilt der Icherzähler mit dem des Textes Die Katze wohnt im Lalande’schen Himmel, TD 146) – sondern die Überführung einer Liste von Lemmata und Belegen, das heißt eines Paradigmas, in eine kontige Ordnung (und schon hat man Poesie). Schon in der ersten Romanpublikation des Autors, Söhne und Planeten, findet sich eine Passage, die das Thema und seine poetologische Implikation verhandelt. Die Äußerung stammt von Thomas, einem Freund des das Zentrum des Romans bildenden Selbstmörders Viktor Senneger: Kataloge, Listen. Item. Item. Was Wagner betrifft. Was Proust betrifft. Man sollte am besten nur Listen von sich zurücklassen auf Erden. Gedichte sind im Grunde nichts anderes. Einkaufs-, Opfer-, Kondolenz-, Siegerlisten. Die ganze Welt zerfällt in Listen. Listen bilden die Substanz von Schulen, von Universitäten, Bestseller-, Literatur-, Ergebnis-, Anwesenheitslisten. Der Kanon. (SP 155) Besonders ein Satz daraus verdient es hier, noch einmal hervorgehoben zu werden, und nicht nur wegen seiner großen Nähe zu Jakobson: Gedichte seien im Grunde nichts anderes. Wenn der Protagonist dieser Passage dieses Formgesetz zugleich aber der Welt attestiert, heißt das, dass Listen, Paradigmen auch außerhalb von Sprache als gleichzeitiges Nebeneinander aufeinander bezogener Elemente existieren: als Listen, aus denen sich die Welt zusammensetzt. 136 6 Struktur II: Paare, Paradigmen Bisher war – mit rhetorischer Bildlichkeit, mit einer Poetik des FrameBruchs – die Rede von der Fruchtbarmachung von Äquivalenzen zwischen An- und Abwesendem. In poetischer Textur sind hingegen oft beide Elemente dieses poetischen Verhältnisses gleichermaßen ‚präsent‘: im Reim, in der Alliteration, der Paronomasie.20 In der Liste, die etwa Dinge einer fiktionalen Welt anführt, wandert solche Äquivalenz von der textuellen auf die Darstellungsebene. Daraus resultiert Strukturalität, wie sie der erzählten Welt eignet. Milchglas (2011), einer der poetologisch aufschlussreichsten Texte des Autors, gibt illustrative Beispiele für rhetorische Figuren, für den Framebruch (zu den Eigenheiten des Protagonisten, eines Kindes, gehört, dass er zur Bekämpfung seiner Schlaflosigkeit die erwähnte Sammlung von Schockbildern heranzieht). Außerdem aber installiert der Autor in eben diesem Text auch ein Gegenmodell zu dieser Poetik des Framebruchs: eine Poetik, die ebenso auf Darstellungsebene stattfindet, dabei aber nicht auf transzendente Normen (oder den Verstoß gegen diese) zurückgreifen muss. In einer Szene des Textes empfängt der Protagonist die heilige Kommunion.21 Seine Aufmerksamkeit allerdings richtet sich auf ein Detail am Rand der Szene: Über dem Altar, sehr weit oben, gab es ein rundes, weißes Fenster aus Milchglas, das ich immer anstarrte, wenn ich empfing. Es war genauso rund und weiß wie die Hostie in meinem Mund, und die Distanz zwischen mir und dem hohen Fenster verringerte sich fast auf null, wenn sich die kleinere Version davon, die Hostie, an meinen Gaumen legte. Wie ein Seil, das zwischen zwei weit entfernten Punkten gespannt wird. (LZ 15f.) Wie verhalten sich diese beiden Dinge, Hostie und Fenster, zueinander? Metaphorisch? Analogisch? Fest steht ihre Äquivalenz, sie stehen gewissermaßen auf zwei Seiten einer Gleichung. Beide Seiten des Verhältnisses 20 21 „Hier mein Ticket. Hier mein Pass. Und dies ist mein Zwirn“ – lässt der IchErzähler vor einer Flugreise seine Packliste in Günter Eichs Inventur übergehen. Ausgerechnet – kaum wo wird das Verhältnis zwischen An- und Abwesendem, Zeichen und Bezeichnetem so virulent wie im Leib Christi/der Oblate. 137 sind dabei materialiter präsent. Die Entsprechung liegt zwischen zwei Elementen auf Handlungsebene, es geht nicht um einen rhetorischen Brückenschlag vom An- zum Abwesenden. Äquivalenz wird ‚in praesentia‘ und auf dinglicher Ebene her- und zugleich ausgestellt. Und diese manifeste Strukturalität wird explizit reflektiert22 – ironischerweise in Form eines Vergleichs („[w]ie ein Seil“). Immer wieder stößt man bei Setz auf solche Äquivalenzen; ihre Poesie liegt im Gegensatz zu der des Framebruchs nicht in der Einzigartigkeit, sondern gerade in der Aufhebung jeder Isolation, der Evokation von ‚Hyperlinks‘, in Passagen, deren Fokus den Rahmen der erzählten Situation überschreitet: Oft medial vermittelt, öffnet sich in diesen Momenten die jeweilige Handlung auf einen größeren Zusammenhang, auf andere, gleichartige Situationen hin. So werden plötzlich Situationen, Szenen, Abläufe angeführt, die zueinander äquivalent sind; sie haben gewissermaßen an derselben Liste teil, entsprechen beispielsweise demselben Frame. Frames und Skripte – das sind aus dieser Perspektive die Überschriften für Listen von äquivalenten Situationen. Daraus resultiert Struktur, bestehend auf der einen Seite aus Paradigmen (Frames, Skripten), auf der anderen Seite aus den sich nach diesen Regelmäßigkeiten bildenden Kontiguitätszusammenhängen (Situationen, Abläufen) – eine Struktur, die sich ohne weiteres einer (fiktionalen wie nicht-fiktionalen) Welt attestieren lässt. Das hat in Setz’ Texten manchmal die Form ganz unauffälliger, possierlich-exzentrischer Beobachtungen: „Wie alle Glühbirnen auf diesem Planeten so sind auch alle Badezimmerspiegel miteinander verbunden, man könnte auch sagen: vernetzt“ (F 66), heißt es in den Frequenzen. Mit solchen Feststellungen wird die Einheit von Zeit und Ort unvermittelt überschritten, die Elemente der Szene stehen plötzlich in Beziehungen zu anderen Elementen und Situationen, hinweg über große räumliche oder anderweitige Distanzen, dabei allesamt präsent in der erzählten Welt, wie 22 Unter anderem darin gehen diese Texte über die in der histoire manifesten Strukturalität hinaus, die sich wohl jedem narrativen Text attestieren lässt; basale Oppositionen wie ‚Protagonist-Antagonist‘ werden nicht zwangsläufig thematisch. 138 aufgefädelt auf das erwähnte Seil. Die erzählte Welt erscheint nun als etwas, das in die erwähnten Kontiguitätszusammenhänge zerfällt, die zugleich durch Ähnlichkeiten und Differenzen paradigmatisch verbunden sind. Dieses Geflecht aus situativer Kontiguität und Äquivalenz wird so explizit verhandelbar – und Strukturalität als Rückgrat der erzählten Welt offengelegt. Eine Nebenfigur (oder, wie der fiktive Lexikonartikel behauptet, der dem Buch beiliegt: die heimliche Hauptfigur) der Frequenzen, Herr Steiner, besitzt eine Sammlung von Postkarten, aus Porto, aus Marokko, aus Venedig, aus Prag, aus St. Petersburg: sie [seine verstorbene Frau, Anm.] und er, das immer gleiche Paar, vor ständig wechselndem Hintergrund. Sie waren die Konstante, die den Städten eine Ordnung verlieh, eine Ordnung, die die Städte ohne sie gar nicht hatten. (F 208) Zuerst könnte man anmerken, dass Touristenpostkarten in den meisten Fällen vorgefertigt gekauft werden und so zwar die betreffende Stadt, aber kaum einmal die Person zeigen, die sie versendet; dass es außerdem auch eher unüblich ist, Postkarten an sich selbst zu schicken. Vor allem aber ist an dieser Stelle bemerkenswert, wie unverblümt hier die Rede von einer Struktur ist, in der Äquivalenzen („das immer gleiche Paar […] die Konstante“) eine Klammer bilden, die sich um eine Reihe von Situationen schließt (um nicht zu sagen: wie außerdem im „Paar“ schon das „Paradigma“ anklingt). Ein anderer Modus, Äquivalenzen auf der Darstellungsebene zu produzieren, ist Gleichzeitigkeit: „Natalie liebte alles, was weltumspannend war, wie Live-Sendungen, Mondphasen oder die Romane von Stephen King“, wird die Protagonistin der Stunde zwischen Frau und Gitarre beschrieben. „Denn wenn etwas live war“, führt Natalie aus, „sah und hörte man genau das, was gerade jetzt im selben Augenblick irgendwo anders geschah. Man war also an zwei Orten gleichzeitig. (SFG 21, 22) Ein anderer Schauplatz dieses Phänomens: „Ginger Ale, Cola, Sprite. Die vertrauten Markennamen taten ihr gut. Die gab es auf der ganzen Erde, zu diesem Zeitpunkt wurden sie von Tausenden von Menschen ange- 139 schaut.“ (SFG 746) – „Zu diesem Zeitpunkt“, „von tausenden von Menschen“: Das zeitliche und räumliche Durchstoßen situativer Grenzen, die Verflochtenheit kontiger Situationen durch Ähnlichkeiten und Korrespondenzen könnte man kaum deutlicher machen. 7 Schluss Setz’ erzählerisches Verfahren transponiert also die Strukturgesetze, wie sie in der Sprache, wie sie in poetischer Rede herrschen, auf die erzählte Welt. Indem er das tut, wird diese Struktur thematisch, und damit die Darstellungsebene in diesem ganz traditionell gefassten Sinn poetisiert. Neben einer Poesie, die sich mit dem Vokabular der rhetorischen Figurenlehre beschreiben lässt und wie sie bei Setz vor allem anhand synästhetischer und anderer Grenzphänomene zwischen Ästhetik und Physiologie eingeführt wird, steht bei diesem Autor also nicht nur eine Poetik des FrameBruchs, der Irritation und des Schocks, sondern darüber hinaus eine Poetik der dargestellten Welt, die Strukturalität auf der Darstellungsebene inszeniert. Man kann vielleicht von einer Poetik des Netzwerks sprechen: Alle Elemente, die poetisch aufeinander bezogen werden, sind manifest als Knotenpunkte einer Struktur aus Äquivalenz und Kontiguität in der erzählten Welt. Eine der schönsten Erzählungen des Bandes Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, ein Text mit dem Titel Character IV, spielt auf einem fremden Himmelskörper, auf dem sich ein von der Erde emigrierter Protagonist ein einsames Domizil eingerichtet hat. Unendlich weit von jedem bekannten Zusammenhang entfernt, sinniert er nach über etwas, was ihn von der Erde noch viel deutlicher trennt als der bloße Raum: Er besaß zwar einige Audioaufnahmen vom Glockengeläut aus verschiedenen Städten, in denen er gelebt hatte, aber die hörte er sich niemals an. Nein, Glocken und Fußballspiele, das waren zwei Dinge, die all ihren Reiz verloren, wenn man sie auf Magnetband aufzeichnete. Es war wichtig, zu wissen, dass sie in genau diesem Augenblick stattfanden, an einem nahen oder fernen Ort. Aber hier, auf Character IV, war Gleichzeitigkeit nicht leicht zu bekommen. Sie war eine seltene und teure Ware, eine Information, über die sich nur Experten problemlos unterhalten konnten, man musste über allerlei seltsame Theorien Bescheid wissen und andauernd in Blitzen denken, die an zwei ver- 140 schiedenen Orten einschlugen, oder in Zügen, die sich mit sehr hoher Geschwindigkeit voneinander fortbewegten. Solchen Unfug musste man beherrschen, sonst verstand man nichts und berechnete alles falsch. (LZ 250) Allerlei seltsame Theorien, Unfug zum Thema Gleichzeitigkeit, über den sich nur Experten problemlos unterhalten können – man wird den Verdacht nicht los: Wahrscheinlich geht es hier tatsächlich um Literaturtheorie. Nachsatz Man kann diese Poetik wohl als eine der Medienkonkurrenz verstehen; dieser Punkt, der sicher gerade in Setz’ Fall eine eingehendere Betrachtung verdient, soll hier abschließend zumindest kurz Erwähnung finden. In verschiedenen Texten des Autors erscheint das Internet als ein Ort, an dem Normverstoß und Regelmäßigkeit ständig Kopf an Kopf liegen: Jede Bizarrerie, jede Passion oder Perversion findet sich dort, und findet dort sogleich ihre Entsprechung. Noch die seltsamsten Phänomene ordnen sich in ihre jeweiligen Nachbarschaften ein: Foren, Threads, Chatgroups, digitale Marktplätze etc. Im ‚dark web‘, schreibt Setz in einen Essay, stößt er „auf eine Seite, auf der anonyme Beiträger über Dinge diskutieren, die einem beim Lesen die Augen verbrennen“23 – und doch wird im Netz zugleich tendenziell alles normalisiert: „Das Internet“, stellt er anderswo fest, „ist, wie jeder weiß, eine große Wiedererkennungswiese. Es eliminiert jede Art von Isolation. Egal, was für ungewöhnliche Eigenschaften man zu besitzen glaubt, es gibt immer einen anderen Menschen auf der Erde, der sie teilt.“24 Es fällt auf, dass die beiden oben dargestellten Modi der Poetisierung der Darstellungsebene – das Brechen sowie das Herstellen von Regeln/Regelmäßigkeiten – diesen dem Netz innewohnenden Widerspruch zu illustrieren scheinen. Ein Bezug von Setz’ Prosa zu Inhalten wie zur Organisationsform des Netzes lässt sich tatsächlich auch konkreter festmachen: So 23 24 Clemens Setz: Die Tiefe. In: Die Zeit (Hamburg) vom 04.07.2013. URL: https://www.zeit.de/2013/28/internet-deep-net-tor-onionland/komplettansicht (letzter Zugriff: 05.05.2019). Ders., Die Poesie des ASMR (wie Anm. 8), S. 44. 141 stimmt es etwa, dass der Autor seine Texte mit Beutestücken aus ausführlichen medialen Streifzügen füllt (er selbst demonstriert das u.a. in seiner Poetikvorlesung). Zum anderen aber sind es auch die Effekte des Internets und anderer Medien, die seine Texte sich zunutze, und ihre formale Ordnung, die sie fruchtbar machen. Das Überbrücken räumlicher und zeitlicher Distanzen sowie Allgegenwart und Gleichzeitigkeit, wie sie den modernen Medien als Effekt attestiert werden (je nach Medium und Medientheorie in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlicher Wertung), treten dabei einerseits schlicht als Handlungselemente in Erscheinung: Medien im technischen Sinne werden zu Motiven (das iPhone gehört zu den wichtigsten Besitztümern Natalies und damit zu den wichtigsten Ding-Motiven in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre), und indem sie das tun, erzeugen sie die genannten Effekte, in denen die Strukturalität der erzählten Welt verhandelt wird. Dafür können die meisten der oben genannten Beispiele als Belege dienen, erscheinen in ihnen doch Telefone, Bücher, Live-Fernsehen, Postkarten als die Werkzeuge – oder Agenten – der Vernetzung (ein weiter gefasster Medienbegriff verleibt sich auch die Glühbirne aus den Frequenzen noch ein: auch sie eine ‚extension of man‘). Aber nicht nur nutzt Setz die Effekte dieser Medien auf der Handlungsebene; man kann sagen, dass seine Texte ihre Organisationsform imitieren – das enzyklopädische Moment, wie es vor allem (aber nicht nur) das Internet auszeichnet. Die räumliche wie zeitliche Omnipräsenz seiner Inhalte ergänzt durch das Wegfallen aller, etwa moralischer oder ästhetischer, Schranken, werden in ein System des gleichzeitigen Nebeneinanders in der erzählten Welt übertragen. Dabei jedoch überschreiten die literarischen Texte ihr mediales Gegenüber: indem sie dessen Strukturen und Voraussetzungen – und damit die eigenen – freilegen, reflektieren, literarisch produktiv machen. Siglen SP = Setz, Clemens: Söhne und Planeten. St. Pölten, Salzburg: Residenz 2007. 142 F = Setz, Clemens J.: Die Frequenzen. St. Pölten, Salzburg: Residenz 2009. LZ = Setz, Clemens J.: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Berlin: Suhrkamp 2011. I = Setz, Clemens J.: Indigo. Berlin: Suhrkamp 2012. SFG = Setz, Clemens J.: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Berlin: Suhrkamp 2015. B = Setz, Clemens J.: Bot. Gespräch ohne Autor. Hrsg. v. Angelika Klammer. Berlin: Suhrkamp 2018. TD = Setz, Clemens J.: Der Trost runder Dinge. Berlin: Suhrkamp 2019. 143