Exkurs zum Bindfaden (Die Nystensche Regel)
Dem Weg ins Pathologische, den der Begriff des Übergangsobjekts eröffnet, wird
nun ein kurzer Nachtrag gewidmet, und zwar zu einem weiteren Text Hochgatterers, der das Drama um den Verlust und seine Überwindung anders auflöst als die
Kurze Geschichte.
Indem dort noch eine Vielzahl psychoanalytischer Lesarten angeführt worden
war, war ja die Gültigkeit solcher Erklärungen überhaupt in Frage gestellt worden.
Und weil außerdem die Kurze Geschichte tatsächlich keine irgendwie geartete Katastrophe bereithält, zumindest nicht am Fischwasser, könnte man schließen: Kein
Grund zur Aufregung, um die psychische Gesundheit der Protagonisten braucht
man sich, der abfälligen Seitenhiebe und despektierlichen Lesarten zum Trotz,
nicht ernstlich Sorgen zu machen: Sie alle kommen gesund nach Hause und in
ihren bürgerlichen Alltag zurück, wo sie weiterhin in ausreichendem Maße funktionieren.
Mit Winnicotts Übergangsobjekte und Übergangsphänomene gelesen, würde das etwa so klingen: Welche frühkindlichen primären Objektbeziehungen, welche Übergangsobjekte da auch eine Rolle gespielt haben, mittlerweile ist ihre Bedeutung
verblasst; nun betreiben die drei am Fischwasser das, was Winnicott als den gesunden Ausgang solcher Dingbeziehungen bezeichnet hat: Spiel, Kultur. Wäre es zwar
pathologisch, auf der illusorischen Bedeutung eines Dings zu beharren, dem sonst
schlicht niemand diese Bedeutung zusprechen will, ermöglichen im Gegenzug dieselben Zuschreibungen, sofern sie von einer Gruppe geteilt werden, gemeinsame,
sozial sanktionierte Illusionen:
Wir sehen […] ein Zeichen seelischer und geistiger Störung darin, wenn ein Erwachsener zu große Ansprüche an die Glaubensbereitschaft seiner Mitmenschen
stellt und sie dazu zwingen möchte, eine Illusion zu teilen, die nicht die ihre ist.
Was wir teilen können, ist die Achtung für das illusionäre Erlebnis, und wir können
uns, wenn wir wollen, auf der Basis der Ähnlichkeit unserer illusionären Erlebnisse zu Gruppen zusammenfinden. Dies ist eine durchaus übliche Ursache der
Gruppenbildung unter Menschen.1
1
Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene (1969 [1953]), S. 668.
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Üble Dinge. Materialität und Fetischismus in der Prosa Paulus Hochgatterers
Und einer solchen ›durchaus üblichen‹ und nicht nennenswert geisteskranken
Gruppe begegnen wir bei der Lektüre der Kurzen Geschichte.
Wulff, Winnicott und Winnicott
In besagtem Vortrag von 1951 kommt Winnicott auf einen Aufsatz von M. Wulff von
1946 zu sprechen,2 der den Fetischismus in frühkindlichen Entwicklungsstadien
behandelt und dabei Fallbeispiele bringt, die problemlos auch mit Winnicott zu lesen wären. Wulff jedoch stellt den Knaben, der zum Einschlafen ein Kleidungsstück
der Mutter benötigt, oder das Mädchen, das auf seinen geliebten wie gehassten
Spucklatz besteht, in einen Zusammenhang mit dem Fetischismus des Erwachsenen.3 Er erkennt an, dass diese Phänomene weit verbreitet sind, stellt aber dennoch einen pathologischen Zug fest: »What is largely unobserved or unappreciated
is the fetishistic nature of such behavior.«4 Es könne nicht letztgültig festgestellt
werden, ob dieses Verhalten zu Fetischismus im Erwachsenenalter führt, es gebe
aber sehr wohl »hints« und »suggestions« in diese Richtung.5
Zwar weicht Wulff von Freud ab: Weil frühkindlicher Fetischismus meist in Zusammenhang mit dem Abstillen des Kindes auftrete, sei der Fetisch kaum als Ersatz
des mütterlichen Phallus zu verstehen, sondern vielmehr als Ersatz der mütterlichen Brust bzw. der Mutter als Ganzer (die verdrängte Bedrohung gehe also zeitlich dem Drama um den Phallus schon voraus).6 Allerdings lässt sich Wulff zufolge
an den Fallgeschichten doch ablesen, wie der Fetisch, in veränderter Form, aber
gleichwohl identifizierbar, von einer Entwicklungsphase in die nächste übertragen
werde, wodurch er schließlich Einfluss auf das Triebziel nehme.7 Damit wird –
wenn auch spekulativ – eine fortlaufende Entwicklungslinie des Fetischs entworfen.
Winnicotts Einwand am Ende seines Vortrags aus dem Jahr 1951 ist naheliegenderweise der, dass mit Annahme dieser Entwicklungslinie kein Raum gelassen wird
für die Möglichkeit, dass das Übergangsobjekt eine Erfahrung auch des dezidiert
»gesunden Kindes« sei, »ebenso normal wie allgemein verbreitet«.8 Zwar könne
die Idee des Übergangsobjekts Licht auf den Beginn des Fetischismus werfen, doch
warnt er vor der Überdehnung und dem Bedeutungsverlust des Fetischbegriffs und
2
3
4
5
6
7
8
Vgl. Wulff, Fetishism and Object Choice in Early Childhood (1946).
Die Fallgeschichte des Jungen scheint tatsächlich bis ins Detail der von Freud rekonstruierten
Abfolge zu entsprechen. Vgl. ebd., S. 451-453.
Ebd., S. 456.
Ebd., S. 465.
Vgl. ebd., S. 462f.
Vgl. ebd., S. 471.
Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene (1969 [1953]), S. 681.
Exkurs zum Bindfaden (Die Nystensche Regel)
merkt an, dass auch die den Fetisch grundierende Illusion vom mütterlichen Phallus weit verbreitet und nicht zwangsläufig pathologisch ist. Zudem, schließt er,
könnten uns wichtige Dinge entgehen, schlössen wir vom psychopathologischen
Phänomen des Fetischismus zurück auf die Übergangsphänomene, die zu den
Anfängen menschlicher Erfahrung gehören und der allgemeinen und gesunden
emotionalen Entwicklung eigen sind.9
Diesen Text Winnicotts in unmittelbarer intertextueller Nachbarschaft zu haben, gibt der jeweiligen Verhandlung von Dingbeziehungen zwangsläufig einen
beschwichtigenden Unterton.
Allerdings hat Winnicott sein Konzept vom Übergangsobjekt nach einigen Jahren neu bewertet. Eine veränderte Bezugnahme auf Wulff setzt es in ein anderes Verhältnis zum Fetischismus: Der Abschnitt der Fassung von 1951, der Wulffs
Fetisch-These angriff, ist in der Buchfassung des Textes von 1971 verschwunden.
Das kann verschiedene Gründe haben, etwa herausgeberischer Natur, das Ergebnis ist jedenfalls eine Neugewichtung: Anstelle der Verteidigung des Übergangsobjekts gegen das Fetisch-Verdikt folgt nun eine längere Fallgeschichte aus dem Jahr
1955, der die Anmerkung vorangestellt wird, dass Übergangsobjekte etwas Normales seien, allerdings »läßt sich im Verlauf klinischer Beobachtungen auch eine
Psychopathologie erkennen.«10
Die betreffende Fallgeschichte handelt von einem Buben, der aufgrund zahlreicher Trennungserlebnisse von seiner Mutter einen exzessiven Hang zum Gebrauch
seines Übergangsobjekts entwickelt; die vom Arzt initiierte Aussprache zwischen
Mutter und Sohn löst das Problem stets nur bis zum nächsten Trennungserlebnis.
Er schließt mit der Anmerkung, dass die unsichere Beziehung zur Mutter zur Homosexualität sowie zu einer Perversion im Erwachsenenalter führen könnte. Ein
über zehn Jahre später hinzugefügter Nachtrag berichtet nun davon, dass der Patient nicht hatte geheilt werden können:
In der Adoleszenz entwickelte dieser Junge weiteres Suchtverhalten, besonders
gegenüber Drogen, und er konnte das Elternhaus nicht verlassen, um eine Ausbildung zu erhalten. Alle Versuche, ihn von seiner Mutter wegzubringen, schlugen
fehl, weil er regelmäßig ausbrach und nach Hause zurücklief.
Er wurde ein enttäuschender Jugendlicher, der herumlungerte und offenbar seine Zeit und seine geistigen Fähigkeiten vergeudete (er hatte, wie oben bemerkt,
einen IQ von 108).11
9
10
11
Ebd.
Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene (1973 [1971]), S. 25.
Ebd., S. 31.
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Üble Dinge. Materialität und Fetischismus in der Prosa Paulus Hochgatterers
Der eine Faden
Es gibt nun einen Text von Hochgatterer, der noch deutlicher als die Kurze Geschichte an Winnicotts Übergangsobjekt anschließt, dabei aber diesen späteren Intertext
und damit den pathologischen Ausgang der Geschichte wählt: Es handelt sich um
die Titelerzählung des Bandes Die Nystensche Regel von 1995. Der literarische Text
übernimmt dabei die Winnicott’sche Ätiologie in markanten Punkten, die Funktion
dieses Intertext bleibt dabei jedoch nicht auf die Korrespondenz zur Figurenpsychologie beschränkt.
Ein Ich-Erzähler berichtet hier im Rückblick von seiner Bekanntschaft – einer Kletterfreundschaft – mit Robert Fauler (den übrigens auch der Protagonist
Schneider in Über Raben kennt, ÜR 18f. u.ö.). Man kennt sich aus dem Medizinstudium; der Studienabschluss wird zugunsten der alpinistischen Unternehmungen
gleich einmal eineinhalb Jahre nach hinten verschoben (NR 111).
Schon die erste Kletter-Episode ist für die Natur dieser Freundschaft bezeichnend: Über das Seil, das die beiden Kletterer verbindet, rauscht ein Karabiner von
Fauler bergab zum Ich-Erzähler und zerbricht dessen Brille, das Resultat sind ein
durchschnittener Jochbogen und zugeschwollene Lider (NR 112).
Diese Passage verbindet die wesentlichen motivischen Reihen, die den Text bestimmen. Die Motive der Blindheit (bzw. der Wahrnehmungsverweigerung) und
der Gefährdung des Körperlichen finden hier ihren Ausgang. Die Wahrnehmungsfähigkeit des Ich-Erzählers etwa ist nicht nur kurzfristig, als Ergebnis dieser einen Episode eingeschränkt, sie ist dies auch im größeren Zusammenhang des Textes. Er verkennt Faulers von Beginn an prekären Geisteszustand und wundert sich
nicht über dessen schon während der ersten Phase ihrer Bekanntschaft sonderbares Verhalten: die Neigung zum Singen am Berg, die Fixierung auf bestimmte Ausrüstungsgegenstände, das selbstverletzende Verhalten, mangelnde Empathiefähigkeit – all dem steht er mit der eigenen mangelnden Empathie- und Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber: »Mir fiel das nicht sonderlich auf, da an ihm gar
nichts gewöhnlich war« (NR 112). Auch den Stimmungsumschwung bei Fauler, der
dem Ende dieser ersten, einjährigen Phase ihrer Freundschaft vorausgeht, kann
der Ich-Erzähler nur im Nachhinein rekonstruieren (NR 115).
Das Motiv der gefährdeten Körperlichkeit wird im Lauf der Handlung an zahllosen Stellen wieder aufgenommen, am Berg (die Protagonisten stürzen Schuttfelder hinunter, holen sich Erfrierungen, erbrechen, schneiden sich am Fels, nicht
zuletzt erhängt sich einer von ihnen – NR 112, 113, 114 usf.) ebenso wie im Flachland, im Alltag (eine Kaffeemaschine explodiert, Randsteine, Autorückspiegel und
Gebäude stellen sich in den Weg – NR 123, 125).
Ursache dafür, dass diese beiden Motivketten hier ihren Ausgang finden
können, ist ein weiteres Element, das sowohl als metaphorisch aufgeladenes
Ding-Motiv als auch als wichtiges intertextuelles Verbindungsstück gelesen wer-
Exkurs zum Bindfaden (Die Nystensche Regel)
den kann: das Seil. Einerseits ist es ein Sicherungsmittel, das diese Sicherheit
gewissermaßen über die zwischenmenschliche Bindung herstellt; es ist dabei
andererseits, wie sich gezeigt hat, nicht ganz ohne Tücke und steht somit bedeutungsschwer für die Ambivalenz zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Seil
und seine Verwandten im Text stellen, metaphorisch und manchmal auch realiter,
eine zwischenmenschliche Verbindung dar, mit dem Potenzial (um mit Latour zu
sprechen) zu Errettung und Gefährdung zugleich.
Es findet seine Fortsetzung in zahlreichen Fäden, Zwirnen und Schnüren des
Textes, wobei seine metaphorische Lesbarkeit immer um dasselbe Thema (das Zwischenmenschliche) kreist, dabei aber jedes Mal eine jeweils andere Facette eröffnet: Fauler trägt beim Klettern allen praktischen Einwänden zum Trotz schwarze
Zwirnhandschuhe, offenbar ein Weihnachtsgeschenk; sein Schweigen vor dem abrupten Ende der Freundschaft wirkt auf den Ich-Erzähler, als würde er sich in einen
Kokon ›einspinnen‹; zentrales Element der am Ende des Textes stehenden ›Verpackungsidee‹ schließlich sind mehrere tausend Meter Kunststofffaden (NR 114, 116,
139).
Folgendes hat es mit diesem Kunststofffaden auf sich: Die Freundschaft zu Fauler zerbricht nach einem Jahr, für den Ich-Erzähler überraschend und scheinbar
endgültig. Erst einige Jahre später – der Ich-Erzähler hat inzwischen sein Studium abgeschlossen, geheiratet, sich scheiden lassen, seine Karriere verabschiedet
und das Klettern wieder aufgenommen –, Jahre später jedenfalls kreuzen sich ihre Wege wieder, zufällig, beim Klettern am Gosaukamm im Dachsteingebiet. Sie
machen dort weiter, wo sie aufgehört haben.
Auf der Terrasse einer Berghütte hat Fauler die »Verpackungsidee«: Seine Inspiration dabei ist eine von Christos Verhüllungsaktionen,12 von da aus entwickelt
sich der Plan: Fauler will Berge verhüllen, »Berge! Was sonst?« Der Ich-Erzähler,
der in Gedanken gerade bei einer Dame vom Nebentisch war, assoziiert: »Wir stülpen einen schwarzen BH über Ortler und Königsspitze, […] der Zebru bleibt frei,
eine blanke Mittelbrust.« Schwarz sei schon einmal nicht schlecht, meint Fauler,
der Ich-Erzähler äußert nun praktische Einwände, vor allem was den Transport betrifft. Es macht nicht den Eindruck, als würde zu diesem Zeitpunkt im Gespräch
noch jemand scherzen. Fauler assoziiert nun seinerseits: »Ein riesiges Leichentuch,
sagte er, und dort und da ein silberner Stern! – Er strahlte. Mich fröstelte, aber mir
war klar, daß man als Irrenarzt viel zu leicht alles klinisch sieht.« Sie einigen sich
auf die drei Zinnen – die »Kathedrale der Dolomiten«, merkt Fauler an, und stellt
sich gleich die Frage, ob vielleicht der Papst das Requiem zelebrieren würde. »Bei
12
Vgl. dazu auch die idyllische (aber auch »gruselig[e] und ein wenig subversiv[e]«) Vision einer vollständig eingestrickten Salztorbrücke, von der Hochgatterer in einem Zeitungsbeitrag
spricht: Hochgatterer, Was wird aus Moritz werden? (2010).
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Üble Dinge. Materialität und Fetischismus in der Prosa Paulus Hochgatterers
manchen Leuten ist es sinnvoll, wenn sie einen Irrenarzt zum Freund haben. Ich
war erleichtert, als Robert zu lachen begann.« (NR 137f.)
Zweimal erkennt der Ich-Erzähler in dieser Passage, dass Faulers Äußerungen
durchaus symptomatisch zu lesen wären, beide Male findet er Gründe, das nicht zu
tun, und ist dankbar dafür – immerhin müsste er sonst die eigene, erotische, mit
der so viel weniger einladenden thanatischen Bildwelt des Freundes konfrontieren.
Die Abwandlung der Verpackungsidee, für die sich die beiden Protagonisten
entscheiden – eine Idee Faulers –, besteht nun nicht in der Verpackung, sondern
in der Verschnürung der Berge, mittels eines hochreißfesten Nylonfadens, der über
die drei Zinnen gespannt werden soll: an jeder Zinne jeweils zweimal vom Wandfuß
zum Gipfel und wieder zurück, um eine am Gipfel überkreuzte und somit paketgerechte Verschnürung zu erreichen.13
Der Text endet mit dem Selbstmord Faulers. Die Verschnürung der Kleinen
Zinne geht noch erfolgreich vonstatten, wenn auch nicht ohne Zwischenfälle, am
Ende des zweiten Tages allerdings stoßen sie auf einen Toten, der aufgrund einer
ausgebrochenen Sicherung abgestürzt war; die Seilpartnerin sitzt im Schockzustand neben seinem Leichnam. Hier taucht erneut eine zerbrochene Brille auf: die
Frau hält sie in Händen (NR 148f.). Entsprechend des so wiederaufgerufenen Dingsymbols lässt der Ich-Erzähler Fauler bei den beiden zurück, um alleine Hilfe zu
holen. Als er zurückkehrt, hat Fauler sich erhängt (NR 155).
Dieser Selbstmord ist nun der katastrophale Endpunkt einer Entwicklung,
die als psychologische mit Winnicott zu lesen wäre, die aber vor allem die dort
begegnenden Motive literarisch engführt. Faulers Tod ist psychologisch erklärbar,
zugleich und zuvorderst jedoch gehorcht er der immanenten Logik eines Dings,
die eine psychologische, in ihrer Zuspitzung jedoch vor allem eine literarischästhetische ist. Das Seil bzw. die Schnur ist nicht nur Symptom, sondern auch –
ambivalentes – Symbol: Es vereint Verschnürung als Sicherung, Festigung einerseits, mit Verschnürung als Fixierung, mortifizierender Stillstellung andererseits.
Zuerst kann festgehalten werden, dass Fauler in seiner frühen Kindheit ein
Trennungstrauma erlebt hat: Beide Eltern sind, als er vier Jahre alt war, bei einem Segelunglück gestorben, ein Faktum, mit dem Fauler noch nicht umzugehen
weiß; seine Haltung den Eltern gegenüber ist noch mit zwanzig Jahren von Zorn
und Misstrauen geprägt (NR 112). Der Verlust bzw. befürchtete Verlust der Mutter ist auch der Ausgangspunkt von Winnicotts Fallgeschichte; bezeichnender aber
ist in beiden Fällen die Symptomatik: Ein Diagnoseinstrument Winnicotts ist ein
»Schnörkel-Zeichenspiel«, bei dem der Patient die begonnenen Linien des Arztes
selbst zu Bildern vervollständigen muss. Er merkt an, es
13
Die Kleine Zinne wird also zweimal begangen: den Fehrmannkamin (Nordwand) hinauf, die
Südwestflanke hinunter, die Nordwestkante hinauf, die Innerkofler-Route (Nordwand) hinunter (NR 139-146).
Exkurs zum Bindfaden (Die Nystensche Regel)
wurde fast alles, was ich ihm vorlegte, so umgeformt, daß etwas herauskam, das
mit einem Bindfaden zu tun hatte. So kamen unter anderem folgende Zeichnungen zustande: ein Lasso, eine Geißel, eine Peitsche, ein Yo-Yo-Faden, eine Schleife,
noch eine Peitsche und noch eine Geißel.
[…] Sie [die Eltern, Anm.] berichteten, daß der Junge von allem, was mit Bindfäden
zu tun hat, besessen sei; in jedem Zimmer, in das sie kämen, habe er Stühle und
Tische zusammengebunden, und es komme auch vor, daß sie ein Kissen fänden,
das mit einem Bindfaden an den Ofen gebunden war.14
Winnicott deutet die Bindfaden-Angewohnheit des Jungen als Versuch, mit Trennungsängsten, mit mangelnder Kommunikation, mangelndem Zusammenhalt in
zwischenmenschlichen Beziehungen umzugehen. All das wird damit auf DingEbene behandelt. Die Grenze zur Krankheit werde dann überschritten, wenn der
Faden nicht mehr der Kommunikation, dem Ausdruck der Bedrohtheit, sondern
ihrer Verleugnung diene.15 Faulers Vorwurf an seine Eltern deutet auf eine so geartete Verleugnung hin: Sie seien nicht tot, sie hätten sich bloß abgesetzt, und
würden ihm irgendwann »über den Weg laufen, ganz zufällig, in Südwestafrika
oder auf den Fidschi-Inseln.« (NR 112)
Fauler singt und klettert, soweit wir wissen, das heißt: er hat Teil an den oben
genannten sozial sanktionierten ›illusionären Erlebnissen‹ im Bereich von Spiel,
Kunst und Kultur, die sich bis zum Erwachsenenalter als Übergangsphänomene
entwickeln.16 Am Ende des Textes hat er den Gesang allerdings aufgegeben – eines Erlebnisses wegen, das an das Schicksal Wertheimers in Thomas Bernhards
Untergeher erinnert:
Das Esultate des Othello war es, sagte er, dieser beschissene Mario del Monaco
war es. […] Vier Töne, flüsterte er, nein eigentlich nur zwei Töne, eine Oktave, die
unglaublichste Oktave in der gesamten Literatur, ein wenig überzogen, gerade um
eine Stimmbanddicke überzogen! […] Nur ein Trottel kann weitersingen, wenn er
das einmal gehört hat. (NR 134f.)
Der Verlust dieser Tätigkeit hängt zweifellos mit der Verschlechterung von Faulers
psychischem Zustand zusammen, die Verpackungsidee ist ein letztes, buchstäblich
an die Spitze getriebenes Symptom, die übersteigerte Version dessen, was der Bub
in Winnicotts Fallgeschichte mit Sesseln und Tischen anstellt.
Faulers Selbstmord ist wahrscheinlich nicht von Anfang an geplant. Dennoch
gibt es eine Inszenierung von Seiten Faulers, einen Plan, der zum gemeinsamen
14
15
16
Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene (1973 [1971]), S. 27.
Vgl. ebd., S. 30.
Vgl. Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene (1973 [1971]), S. 15.
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Üble Dinge. Materialität und Fetischismus in der Prosa Paulus Hochgatterers
Projekt der Berg-Verschnürung parallel läuft, und der offenbar am Ende des ersten Klettertags seinen Ausgang nimmt: »Selbstmörder«, sagt der Ich-Erzähler am
Gipfel der Kleinen Zinne über einen Solokletterer, der ohne Helm unterwegs ist,
Fauler bezieht das irrtümlich auf sich (NR 140). Am Abend in der Hütte äußert der
mittlerweile ziemlich aufgebrachte Fauler
ein paar ziemlich abstrakte Sätze über die Bedeutung von Beziehungen und
schloß mit der Bemerkung: Für die Menschen, die einem im Leben unterkommen, gilt genau dasselbe. Ja, gewisse Menschen muß man sogar ganz besonders
hübsch verpacken. (NR 141)
Am zweiten Tag steigt Fauler ungesichert und ohne Rücksichtnahme auf den nachsteigenden Ich-Erzähler voraus und hinterlässt dabei eine Spur aus Blutflecken
und -tropfen; zur Rede gestellt, leugnet er die Verletzung, an den Unterarmen seines Leichnams findet der Ich-Erzähler jedoch später »elf Vierecke mit je einem
eingeschriebenen Kreuz geritzt, links fünf davon, rechts sechs, lauter nette kleine Pakete.« (NR 155)17 Das Motiv des Fadens erhält spätestens hier die Brisanz,
die ihm schon in der eingangs erwähnten Passage (s.o.: das Seil, der Karabiner,
die Gesichtsverletzung) anzumerken war: Zwischenmenschliche Beziehungen (und
ihr Scheitern) werden im eingeritzten Bild des Fadens mit der verletzlichen Physis
kurzgeschlossen. Das Projekt, in dem der Gefährdung sozialer Bindungen gedacht
werden soll, hinterlässt Spuren im Körper, die den körperlichen Tod vorzeichnen.
Motivisch, wohlgemerkt, psychologisch braucht es dazu noch einen letzten Auslöser.
Durch Winnicott informiert, wissen wir, dass es Verlusterfahrungen sind, die
das Verhältnis zum Übergangsobjekt akut werden lassen. Die Konfrontation mit
dem verunglückten Alpinisten aktualisiert nun Faulers Kindheitstrauma, da jener, wie seine Begleiterin erzählt, eine vierjährige Tochter hinterlässt: Als der IchErzähler den Schauplatz verlässt, »hielt [Fauler] seine Arme so, als würde er einen
Säugling in ihnen wiegen.« (NR 151) Dann erhängt er sich, am Kletterseil, nachdem
er es zuerst konsequenterweise mit dem Nylonfaden versucht hat. Sein Selbstmord
geht über den Bezug zu Winnicott hinaus; er steigert dessen Drastik, könnte man
sagen, zugleich jedoch weist die Todesthematik auf einen anderen Intertext hin.
Zentrales Thema der Verpackungsidee sind zwischenmenschliche Beziehungen; der Faden Faulers entspricht – mit gewissen Abweichungen – dem Faden
des Jungen in Winnicotts Fallgeschichte. Doch verkompliziert der Text dieses Verhältnis: Erstens handelt es sich bei Fauler um einen Erwachsenen; aus der Fallgeschichte Winnicotts geht hingegen nicht hervor, ob auch der Adoleszente noch
17
Siehe dazu auch Daniela Strigls Lektüre der eingeritzten Pakete als Teil einer – auch werkübergreifenden – ›Metaphernkette‹: Dies., Lauter Fälle – nicht nur für die Literaturwissenschaft (2003), S. 173.
Exkurs zum Bindfaden (Die Nystensche Regel)
seiner ursprünglichen korrupten Dingbeziehung anhängt. Zweitens und viel zentraler sind jedoch schon der Entstehungsgeschichte der Verpackungsidee gänzlich
andere Fluchtpunkte eingeschrieben, als Winnicotts Text sie aufweist: In der oben
wiedergegebenen Passage stehen einander die Assoziationen der beiden Protagonisten, ein großer BH über Ortler und Königsspitze bzw. ein überdimensionales
Leichentuch inklusive Requiem, gegenüber wie ein wohlbekanntes Freud’sches Begriffspaar: Eros und Thanatos.
Der andere Faden
Es ist wiederum ein Faden, der zum entsprechenden Text führt. Dabei handelt
es sich um Freuds schon erwähnten Text Jenseits des Lustprinzips von 1920 und das
darin begegnende Fort-Da-Spiel, in dem die Fadenspule dem Kind dazu dient, ein
Verlusterlebnis, den Fortgang der Mutter zu verarbeiten. Was auch als Sprungbrett
zu einer Theorie der Symbolbildung bzw. der Entfremdung dient, wird von Freud
in einen ganz anderen Kontext weitergeführt. Jenseits des Lustprinzips geht von der
Annahme aus, dass der psychische Apparat darauf hinarbeitet, das eigene Erregungsniveau konstant bzw. so niedrig als möglich zu halten; das Lustprinzip sei
aus einem ›Konstanzprinzip‹ abzuleiten.18 Freud stellt nun die ganz grundlegende
Frage, wie man einerseits an einer Vorherrschaft des Lustprinzips festhalten könne, während Menschen im Wiederholungszwang (der traumatischen Neurose, der
Kriegsneurose, aber eben auch im Fall des Kinds mit der Fadenspule) ganz offensichtlich unangenehme Ereignisse erneut aufsuchen:
Die neue und merkwürdige Tatsache […], die wir jetzt zu beschreiben haben, ist,
daß der Wiederholungszwang auch solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine Lustmöglichkeit enthalten, die auch damals nicht Befriedigungen, selbst nicht von seither verdrängten Triebregungen, gewesen sein können.19
Dieser Wiederholungszwang stellt gewissermaßen die Nachtseite des Lustprinzips
dar; Freud spricht von »rätselhaften masochistischen Tendenzen«, einem »dämonischen« Zug im Ich.20 Er sieht in ihm »eine Funktion des seelischen Apparats,
welche, ohne dem Lustprinzip zu widersprechen, doch unabhängig von ihm ist
und ursprünglicher scheint als die Absicht des Lustgewinns und der Unlustvermeidung.«21
Lustgewinn und Wiederholungszwang finden bei Freud ihren gemeinsamen
Boden in dem dem Lustprinzip zugrundeliegenden Trieb jedes Organismus zum
18
19
20
21
Vgl. Freud, Jenseits des Lustprinzips (1940 [1920]), S. 5.
Ebd., S. 18.
Ebd., S. 11, 36.
Ebd., S. 32.
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Spannungsausgleich, »z u r W i e d e r h e r s t e l l u n g e i n e s f r ü h e r e n
Z u s t a n d s«22 . Im Fall des Angsttraums eines Traumatisierten sowie im Fall des
Kindes mit der Fadenspule würde die Wiederherstellung auf dem Wege einer Wiederholung unter anderen Umständen (der Angstbereitschaft) vonstattengehen.23
Das Unlusterlebnis sei deshalb nicht für das Spiel des Kindes »unbrauchbar«24 ,
weil dieses durch seinen Nachvollzug den Abbau des übermächtigen Reizes und
die besagte Wiederherstellung erlaube.
Aus dieser »konservativen Natur« des Trieblebens zieht Freud nun noch eine
weitere Konsequenz für den gesamten Organismus. »Es muß […] ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und zu dem es über
alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt.« Dieser Ausgangszustand muss noch
vor dem Beginn des Lebens selbst angesetzt werden; die Folgerung daraus lautet:
»D a s Z i e l a l l e n L e b e n s i s t d e r T o d«.25 Der Selbsterhaltungstrieb
ist unter diesen Voraussetzungen nichts als der Trieb, dem Organismus seinen »eigenen Todesweg«, die ihm »immanente[]« Todesvariante zu sichern.26
Von seinem eigenen, ›vorbestimmten‹ Tod ist das Kind mit der Fadenspule natürlich noch weit weg; bemerkenswert ist jedoch, wie bei Freud auch die frühkindliche Verarbeitung einer Verlusterfahrung als ein Schritt auf dem »Umweg[] zum
Tode«27 lesbar wird. Die Nystensche Regel nimmt diese Verknüpfung auf; Faulers
Verlusterfahrung findet hier ihr zweites Gegenstück im analytischen Diskurs (natürlich erneut unter veränderten Vorzeichen: dem nicht korrespondierenden Alter,
dem drastischen Ausgang der Geschichte).
Aber nicht nur Faulers Verhältnis zur Verpackungsaktion wird damit vor diesen
morbiden Hintergrund gestellt, dasselbe gilt für den Ich-Erzähler. Seine erotische
erste Assoziation schlägt ihn zwar der Seite des Eros zu, der jedoch wird von Freud
letztlich ebenfalls in den Dienst des »Konstanzprinzips«, des »Umweg[s] zum Tode« gestellt. Das geschieht in einer nicht mehr bloß spekulativ, sondern mittlerweile mythologisch argumentierenden Passage: Freud zieht den platonischen Mythos
von den mannweiblichen Kugelwesen heran, und stellt deren Wiedervereinigung
als Weg des Spannungsausgleichs – und damit ebenfalls als Schritt auf besagtem
Umweg in den Raum. Er tut das vorsichtig, in einem aus Fragesätzen bestehenden Absatz, kurz bevor er feststellt, die Überlegung an dieser Stelle abbrechen zu
müssen.28
22
23
24
25
26
27
28
Ebd., S. 38.
Vgl. ebd., S. 32.
Ebd., S. 15.
Ebd., S. 40.
Ebd., S. 41.
Ebd.
Vgl. ebd., S. 62f.
Exkurs zum Bindfaden (Die Nystensche Regel)
Die bei Hochgatterer titelgebende ›Nystensche Regel‹ bezeichnet ein Phänomen der Totenstarre (dass sie immer in dem Glied einsetzt, das vor Eintreten des
Todes zuletzt bewegt wurde). Vor dem Hintergrund des Freud’schen Textes führen die von beiden Protagonisten assoziativ – und dann in einem Fall realiter –
beschrittenen Wege in Richtung einer solchen finalen Reglosigkeit. Das betrifft
nicht nur Fauler (an dem der Ich-Erzähler schließlich das gesetzmäßige Einsetzen
der Totenstarre überprüft), sondern auch den Ich-Erzähler selbst; das wird nachträglich plausibel: Die Maßnahmen, die er in seinem privaten und beruflichen Leben setzt (die Scheidung, der Wechsel in eine anspruchslose berufliche Position –
NR 128), dienen immer deutlicher der Verminderung von Reizspannung. Am Ende
wird dann auch seine Erstarrung wirkungsvoll ins Bild gesetzt.
Das Gewebe
Nachdem Faulers Ende den Freud’schen Intertext in die Nähe der Nystenschen Regel hat rücken lassen, zitiert das Ende des Textes noch einmal, deutlicher als im
gesamten Text bisher, Winnicott. Der Ich-Erzähler verlässt den Schauplatz; seine
Reaktion ist vielsagend, denn die Gewalttour, die er dabei unternimmt,29 ist sichtlich eine Fluchtbewegung, die erst zwei Tage später ihr Ende findet:
Ich sitze jetzt vor einem alten Wirtshaus in Rizzio, einem kleinen Weiler oberhalb
von Calalzo di Cadore. Ich trinke Rotwein. Ich habe soeben ein Stück weiße Schnur
um die Beine meines Sessels gebunden. Ich weiß nicht, was ich weiter tun werde.
Nein, ich weiß es nicht. (NR 156)
Er ›weiß es nicht‹ – das gilt wohl auch für seine eigene Verstricktheit in die Tragödie. Bis zum Schluss missdeutet er Faulers Symptome (bzw. spricht er ihnen
die symptomatische Lesbarkeit einfach ab), um ihn abschließend in einer fatalen Belastungssituation zurückzulassen. Auch an ihm zeigt sich nun das zentrale
Symptom – besser: das zentrale Motiv – der Winnicott’schen Fallgeschichte.30
29
30
Sie verläuft ziemlich kerzengerade durch die Berge, zuerst nach Süden, dann nach Südosten, und endet in Rizzios bei Calalzo di Cadore, und zwar (so lässt sich errechnen) nach über
vierzehn Stunden Gehzeit und knapp 8.000 zurückgelegten Höhenmetern.
Rückblickend wird deutlich, wie sehr für ihn zwischenmenschliche Verhältnisse immer schon
ein Problem waren (er vernachlässigt die eigene Familie, seine Ehe zerbricht, er geht allein in
die Berge – NR 114, 128, 129ff.). Unter Umständen weist die Pathologie des vermeintlich Gesunden auf eine Argumentationsschwäche bei Winnicott hin: Auch auf den optimistischen,
üblichen Ausgang der Bindung des Kindes an ein Übergangsobjekt ist kein Verlass. Die Weiterentwicklung des Übergangsobjekts nämlich zu einem von einer Gruppe geteilten Übergangsphänomen ist per se einmal nur eine Veränderung, nicht zwangsläufig eine Verbesserung. Gruppen sind so gesund wie ihre Mitglieder, so könnte man das zusammenfassen,
und wie und woran auch immer man sich bindet: Ein Seil (oder auch: ein Faden) ist nicht
zwangsläufig ein Sicherungsmittel. – Man kann mit Recht einwenden: Um aber tatsächlich
113
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Die Folgerichtigkeit des Textes ist, wie gesagt, weit mehr eine motivische denn
eine psychologische. Die beiden psychoanalytischen Intertexte lassen sich nicht
zur Deckung bringen: Die Faden-Motive entstammen zwar beide einem Komplex
der frühkindlichen Verlustangst, in beiden Fällen bezieht sich diese auf die Mutter; dennoch: die Fadenspule ist kein Übergangsobjekt, und ein Übergangsobjekt
(die Kuscheldecke etwa) dient nicht zuvorderst dem darstellenden Spiel. Die medizinischen Intertexte taugen hier nicht zur Diagnose, frappant bleibt allein die
symbolische Kraft ihres zentralen Dingmotivs. Auf genuin literarisch-ästhetischer
Grundlage werden die beiden psychoanalytischen Topoi miteinander verwoben.
Bezogen auf den Diskurs, dem die genannten Intertexte entstammen, den medizinischen, kann man feststellen: Die Nystensche Regel problematisiert den medizinischen Blick. Der Ich-Erzähler legt außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit die mit
dieser verbundene Aufmerksamkeit für symptomatische Lesbarkeit ab, zugleich
aber behält er die dort verordnete emotionale Distanziertheit bei. Indem er sie unwillentlich in den Bereich des Privaten überträgt, steht im Raum, dass sie auch am
ärztlichen Blick eine Pathologie darstellt; folgerichtig zeigt (oder inszeniert) er abschließend die Symptomatik der Fallgeschichte aus dem Intertext – gerade als er,
dem Berufsstand entsprechend, den ›Fall Fauler‹ niederschreibt.
Als Kommentar auf das Genre der ›Fallgeschichte‹ ist der Text nun auch poetologisch zu lesen. Die Nystensche Regel zeigt in hohem Maße – sicher mehr als alle
anderen in dieser Arbeit behandelten Texte Hochgatterers – die Merkmale dieses
Genres. Einer der Grundzüge der Erzählung ist zwar, dass der kletternde Psychiater in privater, nicht in professioneller Funktion spricht und letztere explizit von
sich weist. Dennoch sind alle wichtigen Merkmale der medizinischen, insbesondere psychoanalytischen Fallgeschichte da: Der Text kreist – mit einer Unterbrechung – um einen Protagonisten, Fauler, dessen Leben zumindest ausschnittsweise von der frühen Kindheit bis zu Krankheit und Tod wiedergegeben wird und
der – als ›Fall‹ – außerhalb der gesellschaftlichen und psychologischen Norm steht.
Die Darstellung reicht von möglichen Ursachen über die Entwicklung der Symptomatik bis zum aus diesen Symptomen resultierenden – oder zumindest auf diese
folgenden – Ende, auch wird, als zentrales Merkmal der vor allem psychoanalytischen Fallgeschichten, die Position des Erzählers eingebunden und reflektiert.
Da Die Nystensche Regel zudem so überdeutlich auf Winnicotts Fallgeschichte referiert (die noch dazu einem Textkorpus entstammt, mit dem der Ich-Erzähler selbst
in seiner beruflichen Tätigkeit zu tun hat)31 , ist anzunehmen, dass Hochgatterers
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eine inhaltliche Kritik an Winnicotts Text zu sein, sind die Bezugnahmen in der Nystenschen
Regel doch zu punktuell; wichtige Aspekte der ›Krankengeschichte‹ Faulers fehlen schlicht:
Etwa ist von kindlichen Übergangsobjekten nicht die Rede, diese werden erst – über Winnicott hinaus – im Erwachsenenalter virulent.
Der Ich-Erzähler arbeitet beispielsweise zum »Fürsorglichkeitsniveau bei Triebtätermüttern«
(NR 123), und damit in jenem Bereich, mit dem sich nicht zuletzt Winnicotts hier behandel-
Exkurs zum Bindfaden (Die Nystensche Regel)
Erzählung nicht bloß als literarischer Vertreter des Genres, sondern auch als Reflexion des Verhältnisses zwischen Medizin und Literatur anzusehen ist.
Das Genre der Fallgeschichte wurde Ende des achtzehnten Jahrhunderts etwa
von August Gottlieb Meißner popularisiert. Die von ihm publizierten Sammlungen – die Skizzen (1778-1796) – enthielten einleitende und reflektierende Abschnitte,
in denen ein literarisches Programm vorgegeben wurde: eine Hinwendung zu den
neuen, von der »feinen und gelehrten Welt« generell missachteten, »nie genützte[n] Situation[en]«32 , die sich dem Dichter in den realen Schicksalen des Privatmenschen seiner Gegenwart böten – im implizierten Gegensatz, wie Johannes F.
Lehmann festhält, zu den literarisch ausgiebig ›genutzten‹ Situationen der antiken
Überlieferung. Das ist eine »Stoffbeschaffungsmaßnahme«33 abseits dichterischer
Gelehrsamkeit und mit gesellschaftspolitischer Stoßrichtung, auf die sich nicht
zuletzt Schiller in seiner Einleitung des Verbrechers aus Infamie bezieht.34
Die medizinische Fallgeschichte wurde im Verlauf ihrer Popularisierung und
Literarisierung immer wieder als kritisches Instrument gegen sich selbst gewendet: Büchners Woyzeck (entst. 1836/37) etwa liefert in seiner ersten Entwurfsfassung
eine Analyse der diskursiven Herstellung des ›Falls‹ in »Schau- und Repräsentationsszenen, die deutlich machen, wie Fälle über Sehen und Reden konstituiert werden.«35 Knapp sechzig Jahre später werden bei Oskar Panizza (Der Korsettenfritz,
1893) die Mechanismen und Rituale ausgestellt, die das klinische Subjekt nach Vorgaben der Fallgeschichte ›sprechen machen‹.36
Auch Hochgatterers Text lässt sich als Bezugnahme auf das Genre lesen, steht
also in dieser kurz angerissenen Tradition – stellt allerdings keine im engeren Sinne kritische Bezugnahme dar. Die Nystensche Regel lässt sich nicht als Kritik am
Genre der Fallgeschichte und beispielsweise ihres Zugriffs auf das Subjekt lesen
(tatsächlich bleibt dieser Zugriff hier ja aus, mit dem bekannten Ende). Die Bezugnahme auf das Genre der Fallgeschichte erscheint hier vielmehr schon als Reflexion
einer historischen literarischen Praxis. Sie ist – Jahrhunderte nach der Popularisierung und Literarisierung der Fallgeschichte und übrigens exakt hundert Jahre nach
Freuds und Breuers Publikation der Fallgeschichten über Hysterie – ein Kommentar auf die kulturelle Verfügbarkeit und Wirkmächtigkeit dieser Fallgeschichten:
Meißner will mit der Fallgeschichte die Wirklichkeit als Material gegen den Mythos
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te Texte auseinandersetzen. Vgl. Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene
(1969 [1953]), z.B. S. 676.
Meißner, Bemerkungen bei Gelegenheit dieser Geschichte von dem Verfaßer (1783), S. 129.
Vgl. Lehmann, Erfinden, was der Fall ist (2009).
Lehmann, Erfinden, was der Fall ist (2009), S. 363.
Vgl. ebd., Fn. 10.
Ebd., S. 373.
Vgl. Werner, Geschnürte Welt (1999).
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Üble Dinge. Materialität und Fetischismus in der Prosa Paulus Hochgatterers
ausspielen, Hochgatterer hingegen setzt die Fallgeschichten und die darin vermittelte Wirklichkeit als ein kulturell wirksames Textkorpus, als neuen Mythos. Man
könnte noch weiter gehen: Vielleicht ist es gerade die Bekanntschaft mit diesem
Textkorpus, die den Protagonisten am Ende (bewusst oder unbewusst) anleitet,
wenn er – deutlich genug – auf das Winnicott’sche Motiv zurückgreift. So kommen die psychoanalytischen Intertexte und ihre Fallgeschichten als eine Sammlung
kulturell tradierter Motive und Weltdeutungen in den Blick, als Reservoir, befüllt
aus der Wirklichkeit,37 in die es selbst wiederum einmündet.
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Die ›Bedeutung‹ des Fadens sei ja auch außerhalb des Faches jedermann intuitiv klar, so Winnicott. Vgl. Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene (1973 [1971]), S. 29.