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DERKOLONIALEDISKURSUNDORTEDES
GEDÄCHTNISSES
vonAnilBhatti(NewDelhi)
inKooperationmitderKommission
fürKulturswissenschaftenundTheatergeschichtederÖAW.
erschienenin:Csáky,Moritz/Sommer,Monika(Hg.):Kulturerbeals
soziokulturellePraxis.Innsbrucket
al.:Studienverlag2005(Gedächtnis
–Erimnnerung–Identität6),
pp.115-128.
1Musil,Robert:DerMannohne
Eigenschaften.Bd.2.Hg.v.Adolf
Frisé.Reinbek:Rowohlt2002,p.441.
KKT
Ähnlich wie Robert Musils Kakanien sollte auch das postkoloniale Indien als ein Land des
»Sowohlalsauchu(nd)desWedernoch«1gedachtwerden.StattderaristotelischenLogikdes
»Entweder-oder«sollteeineArtdialektischerLogikhelfen,derKomplexitätdergeschichtlichen
Entwicklung Indiens gerecht zu werden. Auf dem günstigen Boden eines säkularen Staats
sollten dieTraditionen von kulturellerToleranz, kommunikativer Mehrsprachigkeit und religiösemSynkretismuswiederihrengerechtenPlatzbekommen,nachdemdieEpistemologiedes
KolonialismusdieKomplexitätIndiensalsChaosbegriffenhatteunddurchGrenzziehungenin
allenlebensweltlichenBereichen›Homogenisierung‹alsidentitätsstiftendenWerterfunden
undalshandlungsbestimmendinstallierthatte.DassäkulareProjektwar,wiewirwissen,eine
Utopie,derenCharmedurchdenAngriffaufsieehererhöhtalsvermindertwird.Sielebtim
fundamentalistischgeprägtenIndienimironischenModuszwarweiter,aberderkonzentrierte
AngriffvonHindu-FundamentalistenaufMonumenteausderZeitderislamischenHerrschaft
unterstreicht ja nur die Fragilität utopischer Projekte in Indien. Es geht um Moscheen, die
angeblichaufdemFundament(!)vonzerstörtenTempelngebautwurden.Siesindjuristische
undwissenschaftlicheStreitobjekte;Orteeinesneuen,religiösgeprägtenGedächtnisses,das
im triumphalen politischen Aufstieg historische Wiedergutmachung durch Zerstörung der
SymboledernationalenSchmacherlangenwill.Esgehtalsonichtumdiehistorischbehutsame Pflege von alten Monumenten oder um Restaurierung, sondern schlicht um Zerstörung
undumAuslöschungdeshistorischenGedächtnisses.
I
2IchrekurriereaufeinigeGedanken
undFormulierungenausBhatti,Anil:
KulturelleVielfaltundHomogenisierung.In:Feichtinger,Johannes/Prutsch,Ursula/Csáky,Moritz
(Hg.):Habsburgpostcolonial.MachtstrukturenundkollektivesGedächtnis.Innsbrucketal.:Studienverlag
2003,pp.55-68.DortauchweiterführendeLiteratur,insbes.Csáky,
Moritz/Zeyringer,Klaus(Hg.):AmbivalenzdeskulturellenErbes.
VielfachkodierungdeshistorischenGedächtnisses.Paradigma:
Österreich.Innsbruck:Studienverlag
2000,pp.31-34;Feichtinger,Johannes/Stachel,Peter:DasGewebe
derKultur.Kulturwissenschaftliche
AnalysenzurGeschichteundIdentitätÖsterreichsinderModerne.
Innsbrucketal.:Studienverlag2001.
3Herder,JohannGottfried:Ideen
zurPhilosophiederGeschichte
derMenschheit.Frankfurt/M.:
DeutschherKlassikerVerl.1989,
p.287u.p.369.
4Cf.Basu,Kashik/Subrahmanyam,
Sanjay(Hg.):UnravellingtheNation.
SectarianConflictandIndia’sSecular
Identity.NewDelhi:PenguinBooks
India1996,p.2ff.
5AusderVielzahlderSchriften
zudiesemThemaseiengenannt:
Bhargava,Rajeev(Hg.):Secularism
anditsCritics.NewDelhi:Oxford
UP1998;Chatterjee,Partha(Hg.):
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In einem allgemeinen Sinn können wir zunächst darauf hinweisen, dass die neuzeitliche
Staatenformation Homogenisierungstendenzen favorisiert.2 Der ideale Fall sollte Religion,
Volk und Sprache territorial zusammenführen. Wir können dies als die nationalstaatliche
Orthodoxie betrachten. Ihre theoretischen Fundamente gehen auf Herders Überlegungen
zur Diversität zurück.3 Die nationalstaatliche Fragmentation in Europa nach dem Ersten
WeltkriegvollzogsichweitgehendaufderGrundlagedieserGrundliniederethnischenSelbstbehauptung,wobeidieSowjetunionalsprekäresGegenmodellfunktionierte,derenVersuch,
eine multiethnische Staatsstruktur aufzubauen, offenbar keinen nachhaltigen strukturverändernden Einfluss hatte. BeideTendenzen waren nach dem ZweitenWeltkrieg vorhanden,
und wir haben Beispiele von kleinen Staaten mit homogener Zusammensetzung (Religion,
Ethnizität,Sprache)undeinigegroßemultiethnische,plurikulturelle,religiösvielfältigeNationalstaatenwieIndienundJugoslawien.
WederdieLabilitätderSowjetunionnochderZusammenbruchJugoslawiensüberraschen,
dennplurikulturelleStaatenwarenstetsgefährdeteStaaten–sowohlimGründungsprozess
alsauchinihremhistorischenDasein.DashistorischeParadigmadesVerfallsdesHabsburger
Reichserinnertunsdaran.DieswirdauchinderGegenwartdeutlich,denneinerseitsentwickeln
sichrelativhomogeneGesellschaftenzukomplexerenGebildenaufinternationalerEbene.Der
IntegrationsprozessEuropasisteinsolcherTransformationsprozess,dernationalstaatlichorganisierteEinheitenzueinergrößerenEinheit(Europa)tendenziellhinführt.Andererseitswerden bereits existierende komplexe Gesellschaften Spannungen ausgesetzt, die ihren Zerfall
herbeiführen oder ankündigen. Hier wären viele postkoloniale Gesellschaften wie Indien zu
nennen, und nach dem Ende Jugoslawiens bleibt Indien der Testfall dafür, dass ethnische,
religiöse und sprachlicheVielfalt – sozusagen gegen die Herder’sche Orthodoxie – mit dem
Staatsbegriffkompatibelsind.4
II
Seitdem19.JahrhundertstehtdieKulturdiskussioninIndienunterdemZeichendesTransformationsprozessesdurchdenKolonialismus.5DieTatsache,dassdasmoderneIndieneinResultatzweiergleichzeitigerKampfprozesseist,nämlichdespolitischenBefreiungskampfesgegen
denKolonialismusunddesgesellschaftlichenEmanzipationskampfesgegendenFeudalismus,
bedeutet, dass Kulturargumente in Indien zum umstrittenen Terrain werden. Das gesellhttp://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/ABhatti2.pdf
DERKOLONIALEDISKURSUNDORTEDESGEDÄCHTNISSES
vonAnilBhatti(NewDelhi)
WagesofFreedom.FiftyYearsofthe
IndianNation-State.Delhi:Oxford
UP1998;Pandey,Gyanendra:The
ConstructionofCommunalismin
ColonialNorthIndia.Delhi:Oxford
UP1992;Pannikar,K.N.:Culture,
Ideology,Hegemony.Intellectuals
andSocialConsciousnessinColonial
India.NewDelhi:Tulika1995;Thapar,
Romila:HistoryandBeyond.New
Delhi:OxfordUP2000;vandeVeer,
Peter:ReligiousNationalism.Hindus
andMuslimsinIndia.Delhi:Oxford
UP1996.
6Cf.Nietzsche,Friedrich:Vom
NutzenundNachtheilderHistorie
fürdasLeben.In:Ders.:Sämtliche
Werke(Krit.Studienausg.in15
Bden.).Bd.1.München:dtvp.330.
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KKT
schaftspolitischeGanzedrücktsichalsProzessderDemokratisierungaus,wobeiErfolgeund
RückschlägeindiesenProzesseingebautsind.
Im19.JahrhundertkommteszurNeugruppierungvonverschiedenenreligiösgeprägten
GesellschaftsschichteninFormvonKonflikt-undAustauschverhältnissenmitdemKolonialismus.EsentstehtlangsamjenetypischeMisch-undÜberlagerungsformurbanerindischerKultur,diefürdiekolonialeundpostkolonialeSituationkennzeichnendist.Damitwerdenauch
Problemegeschaffen,dieineinemumfassendenkulturellenFeldwirksamwerden.Indiesem
FeldgehtesumdenProzesscharaktervonKulturen;esgehtumdieNormalitätvonplurikulturellen,multilingualen,multireligiösenundmultiethnischeKommunikationszusammenhängen;dieWechselbeziehungzwischenSprache,Region,Religion,Nationalität,StaatundNation;
dasProblemderMultireligiosität,politischerDiversität,ethnischerSpannung–alldiesunter
demZeichenderHeterogenität.
AufdemBodendieserSichtweiseentwickeltesicheinebreiteantikolonialeBewegung,die
imWesentlichen von der indischen Kongresspartei getragen wurde. Sie war von Anfang an
»inklusiv«;d.h.ReligionszugehörigkeitwarnichtausschlaggebendfürdenPatriotismus.Kulturpolitisch war diese Bewegung offen und auf Integration eingestellt. In der Kongresspartei
warenallereligiösenGruppenvortreten.IhreKulturpolitikzielteaufdieEinbindungallerReligionstraditioneninIndienimInteressederpolitischenUnabhängigkeitvomKolonialismus.Sie
warinersterLinieantikolonial,d.h.:SierichtetesichgegendenKolonialismus,umUnabhängigkeitfürIndienalsheterogenesGanzeszuerlangen.
In der postkolonialen Situation geht es in der Nachfolge dieser inklusiven Bewegung
darum,IndiensHeterogenitätwertmäßigalsNormalzustandzuprojizierenundInstitutionen
aufzubauen,welchedieseHeterogenitätunterderÄgidedessäkularenStaatsfestigen.
DasModellderHomogenisierungstelltdasGegenteildavondar.Durcheinefragwürdige
ExtrapolationdereuropäischenErfahrunghabenindischeNationalismustheorienundreligiös
geprägtenationalistischeBewegungendenHomogenisierungsgedankenfavorisiert.AuchdieseDenkrichtungerhebtdenAnspruch,die»natürliche«Ordnungfürdie(nationalstaatliche)
OrganisationsformvonMenschenherstellenzuwollen.Essolleinesprachlich,ethnischund
religiösmöglichstkompakteOrdnungentstehen.DieseOrdnungschafftdenBegriffderMinorität,diedannumbürgerlicheRechtekämpfenmuss.
DiepluralistischesozialePraxisdesHinduismuswirdignoriert.EinmonolithischerBlock
soll entstehen, der dann andere Religionen Indiens – hauptsächlich Islam und Christentum
–marginalisiertundVolkstraditionenvonderHochkulturtrennt.BereitsbestehendeplurikulturelleKommunikationsstrukturenwerdensomitneugegliedertundGrenzziehungsprozesse
in Gang gesetzt. Die dadurch konstruierte »Tradition« wird für partikularistische Zwecke
instrumentalisiert.IndiesemSinneistdieindischeKulturdiskussionaucheineDiskussionüber
den»NutzenundNachteil«derTradition6undüberdiePolitikdesErbens.
DasKulturargument,dassichalsInklusions-ExklusionsModellanHomogenisierungsideologienanlehnt,setztsichdamitdurch.Moslems,ChristensollenquaMoslems,ChristenmarginalisiertoderletztlichalsTeileinerHindu-Kultur(Hindutva,Hinduwayoflife,»Hindutum«)
absorbiert werden. Sikhs und Jains und Buddhisten gelten als Hindu-Ableger, die von der
offiziellen Hindutradition inkludiert werden können. Ebenfalls werden die nichtsanskritistischenTraditionenaufdenzweitenRangrelegiert.EssollfortannureinehinduistischeLeitkulturgelten.ImplurikulturellenindischenStaatführtdieseideologischeOffensivezurNormierung eines hegemonialen Kulturbegriffs, zur Nivellierung der Diversität, und dies wiederum
führt zur Dominanz der Majorität – d.h. der Hindus – im Staat. Innerhalb dieser Majorität
werdendannwiederumhegemonialeStrukturen(Klasse,Kaste)gefestigt.DerGebrauchdes
KulturbegriffssignalisiertalsoeinumkämpftesTerrain.
DergegenwärtigekulturelleHandlungsbedarfwirdhäufigdurchdenRekursaufvermeintlich ewig gültigeTraditionen einer homogenen Hindu-Gemeinschaft im indischen Altertum
sanktioniert.DieTatsache,dassdiehinduistischeTraditionausverschiedenenRichtungen,Sekten,unddivergierendenregionalenRitualenbestand,diesichmanchmalauchwidersprechen,
wird ignoriert. Der Fundamentalismus selektiert ideologisch passende Elemente aus der
Vergangenheit,umeineHomogenitätzusuggerieren,diehistorischnichtzubelegenist.
Neben der inklusiven antikolonialen Bewegung entwickelte sich somit ein dezidiert
religiös geprägter Nationalismus, sowohl bei den Hindus als auch bei den Muslims. Dieser
NationalismuswurdewenigerdurchdenAntikolonialismusgeprägt,alsvielmehrdurchsein
BemühenumdieErrichtunghomogenisierterBlöckevonMuslimsundHindus.Dieserreligiöse
DERKOLONIALEDISKURSUNDORTEDESGEDÄCHTNISSES
vonAnilBhatti(NewDelhi)
7Cf.Thapar,Romila:Somanath.The
ManyVoicesofaHistory.NewDelhi:
PenguinBooks2004,p.15f.
8Zit.n.ibid.,p.191.
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Nationalismus war exklusiv. Ihm ging es weniger um die Opposition zur Kolonialmacht, als
vielmehr um die Herstellung von jeweils monolithischen Hindu- bzw. Muslimidentitäten.7
Auf Grund jeweils »exkludierender« Merkmale beanspruchte er separate nationalstaatliche
Heimatländer mit dominierenden religiösen Majoritäten von Hindus bzw. Moslems. Die
Geschichtsinterpretationen dieser exkludierenden Nationalismen waren auffallend ähnlich
undergänztensichspiegelbildlich.
K.M.Munshi,einerderGründerdesWeltratsderHindusschreibtexplizit:»[...] theraces
thatweresettledfromthebanksoftheSarasvatitothoseoftheNarmadawerehomogenous
in blood, language and culture, long before the period of the Rigvedic mantras [...].«8 Es
überrascht nicht, dass die Ideologisierung des Hinduismus die arische Einwanderungsthese
ablehnt.EnthistorisierungundHomogenisierungsindzweiSeitendesFundamentalismus.
III
9Mill,James:TheHistoryofBritish
India.3Bde.London1817-1823;
Thapar2004.Zumallgemeinem
ProblemderWissenschaftunter
demKolonialismuscf.insbes.
Cohn,Bernhard:TheCommand
ofLanguageandtheLanguage
ofCommand.In:Guha,Ranajit:
SubalternStudies4.Delhi:Oxford
UP1985,pp.276-329;Pannikar
1995.Cf.auchBhatti,Anil:ZumVerhältnisvonSprache,Übersetzung
undKolonialismusamBeispiels
Indiens.In:Turk,Horst/Bhatti,Anil
(Hg.):KulturelleIdentität.DeutschindischeKulturkontakteinLiteratur,
ReligionundPolitik.Berlin:Schmidt
1997,pp.3-19.
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DieWissenschaftspolitikdesKolonialismusbestandnichtzuletztdarin,eineInterpretationsmacht zu erlangen. Die Komplexität Indiens z.B. wurde im Rahmen der Wissensaneignung
durchdenKolonialismusalsChaosempfunden.DieBeherrschungdesChaoserfolgtedurch
einebeispielloseEntfaltungklassifikatorischerundtaxonomischerEnergieimRahmeneiner
kolonialenEpistemologie.ImZusammenhangmitderEntwicklungeinerkolonialenKompetenzwardiesystematischeKodifizierungauchderindischenGeschichteeinwichtigesAnliegendesbritischenKolonialismus.
Seit James Mills Darstellung der indischen Geschichte9 (1817-1823) wurde diese in hinduistische, islamische und britische Abschnitte periodisiert. Es wurde behauptet, dass ein
monolithischesHindukollektivdurchmoslemischeEroberungszügeundTempelzerstörungen
gedemütigtund traumatisiertsei.DerislamischeIkonoklasmusundderBauvonMoscheen
seien Vorgänge, die im hinduistischen Indien rückgängig gemacht werden müssten. Diese
LesartderGeschichtebildetauchdieGrundlagedesfundamentalistischbeeinflusstenRevisionsargumentsinderindischenPolitik,dasdieHindu-MajoritätinIndienzumOpferderislamischen Herrschaftsperiode stilisiert. Die differenzierte Auswertung der Geschichtsquellen
sprichteineandereSprache.AberbeiderBesetzungvonGedächtnisortenkommtesaufden
grobenPinselstrichan.Quellenvergleiche,BezugauforaleTraditionen,sozialePraxisspielen
keineRolle.EskommtaufdiedramatischeInszenierungeineskulturellenRestitutionsvorgangs
an.AuchdeshalbwerdenMonumentezuZentrendesorthodoxenZugriffs.
DiekolonialistischeGeschichtsschreibungundWissenschaftübteeinenwesentlichenEinflussaufdieIdeologiedesreligiösenNationalismusaus.Dieserübernahmdiekolonialistische
Lesart der indischen Geschichte, die von einem Gegensatz zwischen Hindus und Muslims
ausging. Es entstand eine Ideologie der altindischen (sprich: althinduistischen) Glanzzeit,
islamischer Knechtschaft und britischer Dominanz auf einer höheren Zivilisationsstufe. Der
HindunationalismuskonstruierteeineessenziellekulturelleDifferenzdarausundstigmatisiertedieJahrhunderteislamischerHerrschaftzurFremdherrschaftschlechthin.ReligiöseGrenzziehunglöschtedieüberlappendenFormenpolitischerInteressenbildungenundsozio-religiöserPraxisaus.
DieTeilungIndiens(»Partition«)istinderWahrnehmungdiesesPostulatseineressenziellen
DifferenzzwischenHindusundMoslemsvorprogrammiert.AufkulturellerEbenebedeutetdie
Teilung die Weigerung, die nationalstaatliche koloniale Befreiung in der Doppelbewegung
als antifeudalistische und antikoloniale Bewegung aufzufassen und einen säkularen Staat
in Gesamtindien zu errichten. Sowohl hindu- wie moslem-fundamentalistische Haltungen
verabsolutierendenReligionsunterschiedzumKulturunterschiedundverweigernihreZustimmunginderSacheeinerEntwicklungeinersäkularenÖffentlichkeit.DasErgebnisisteinislamischerStaatPakistanundeinformalsäkularerStaatIndien,dessenVerfassungdieDistanz
zwischen Religion und Staat verankert. Der Widerspruch zwischen Verfassungsutopie und
gesellschaftlicher Wirklichkeit ist dann der Motor der indischen Spannung im Bereich der
KulturundPolitikinderEpochepostkolonialerStaatsformation.KulturalsSystemderSignifikation,dieeineoftverwirrendeSkaladerDiversitätumfasst,istdannnichteinzusammenhängendesGanzes,dasals»wayoflife«charakterisiertwerdenkann,sonderneherals»ways
ofstruggle«.
DersäkulareStaatverzichtetdagegenaufdenSchutzder»Natürlichkeit«undistbewusst
als utopisches Konstrukt angelegt. Das erklärt auch seine Fragilität. Er ist in hohem Maße
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vonAnilBhatti(NewDelhi)
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vomintaktenFunktionierendemokratischerInstitutionenabhängig.SeinPrinzipistdiesymmetrische Distanz zu institutionalisierten Religionsansprüchen im offiziellen Bereich. Das
bedeuteteinesymmetrischeBehandlungderReligionen.Daskannauchumschlagenundals
PrinzipderGleichbegünstigungmitnegativenFolgenausgelegtwerden.
IV
10Kosambi,D.D.:MythandReality.
StudiesintheFormationofIndian
Culture.Bombay:PopularPrakashan
1968,p.2.
11Ders.:AnIntroductiontothe
StudyofIndianHistory.Bombay:
PopularPrakashan1968[1956],p.8.
12Nehru,Jawaharlal:TheDiscovery
ofIndia.NewDelhi:OxfordUP1997
[1946],p.59.WirkennendasPalimpsest-BildsonstalsSinnbildfürdie
GehirnfunktionausSchriftenvon
ThomasdeQuincy:»Whatelsethan
anaturalandmightypalimpsestis
thehumanbrain?[...]Everlasting
layersofideas,images,feelings,
havefallenuponyourbrainsoftlyas
light.Eachsuccessionhasseemed
toburyallthatwentbefore.And
yet,inreality,notonehasbeen
extinguished«.Cf.Assmann,Aleida:
ZurMetaphorikderErinnerung.In:
Hemken,Kai-Uwe(Hg.):Gedächtnisbilder.VergessenundErinnern
inderGegenwartskunst.Leipzig:
Reclam1996,pp.16-46,hierp.25.
Das,wasbeiDeQuincyalsMetapher
fürdasIndividualgedächtnisunddie
BeschaffenheitdesGehirnsfungiert,
wirdbeiNehruzueinerMetapher
fürdaskulturelleBewusstsein.Keine
Schichtwirdgelöscht.Cf.Bhatti
2003,p.64.
13Cf.Hegel,GeorgWilhelm
Friedrich:Phänomenologiedes
Geistes.In:Ders.:Werkein20Bden.
Bd.3.Frankfurt/M.:Suhrkamp1970,
p.24f.
DerGedanke,dassIndienalsResultathistorischerÜberlagerungenaufzufassenist,bildetein
GegenkonzeptzurHomogenisierung.DieseKonstruktioneiner›Idee‹Indiensnegiertsowohl
den Authentizitätsdiskurs als auch die Homogenisierungsthese. Der Gedanke der Gleichzeitigkeit wurde von D.D. Kosambi in der Formulierung ausgedrückt, Indien sei »a country
where contemporary society is composed of elements that preserve the indelible marks of
almosteveryhistoricalstage.«10Indiensei
acountryoflongsurvivals.Peopleoftheatomicagerubelbowswiththoseofthe
chalcolithic.Thevastmajorityofcountrysidegodsarestilldaubedwitharedpigment
thatisapalpablesubstituteforlong-vanishedbloodsacrifices–whichalsosurvivein
afewcases,althoughtheveryideaofbloodsacrificeswouldnowcomeasashockto
manydevotees.11
JawaharlalNehruhatdiesprachlicheundkulturelleKomplexitätIndiens,seineDiversitätund
dieEinheitinderDiversitätmitdemBilddesPalimpsestszuerfassenversucht:Indienseiwie
einPalimpsest,dessenGültigkeitinseinerGanzheitliegtundnichtinirgendeinerSchicht,zu
dermandurcheinenAktderReinigungoderWegradierunggelangt.Indienwarein
ancientpalimpsestonwhichlayeruponlayerofthoughtandreveriehadbeen
inscribed,andyetnosucceedinglayerhadcompletelyhiddenorerasedwhathad
beenwrittenpreviously.Alloftheseexisttogetherinourconsciousorsubconscious
selves,thoughwemaynotbeawareofthem,andtheyhadgonetobuildupthe
complexandmysteriouspersonalityofIndia.12
DiepositiveWertungderMehrschichtigkeitbedeutetFülleundReichtumimhistorischenProzess.Wenn die Schichtung aber als zunehmenderVerlust an Authentizität aufgefasst wird,
kommt es zu einer Auffassung von Geschichte als Entfernung von der Ursprungswahrheit,
als Identitätsverlust. Anstatt die »mehrschichtige Ganzheit« zu sehen, gründet die Suche
nachWurzeln in der Parallelisierung der vertikalen Schichtung mit Fragen desWahren oder
Authentischen,mitderSuchenachdenQuellenodernachdemUrtext,derallein»Wirklichkeit«wäre.SowiewennmanimGewebederKultureineneinzigenFadenalswahrheitsbestimmendausmachenwürde.OderdieeineNotenfolgeineinempolyphonenMusiksatz.Im
Gegenteil:DassogenanntewirklicheIndien,wennmanschondiesenBegriffverwendenwill,
liegtnichtinirgendeinerUrschicht,sonderninderGanzheitundGleichzeitigkeitdesmehrschichtigenProzesses.Dasbedeutet,dassIndienzujedemZeitpunktimmeralsResultatdes
GesamtprozessesseinerEntwicklungaufzufassenwäre.13
HomogenisierungsversuchebetrachtenwiralsoalsFormenderkulturellenBesitzergreifung,
diesolcheGesamtheitennegieren,umeinerbestimmtenhistorischenSchichtAuthentizität
zuzusprechen.DerHindu-FundamentalismusgehtletztendlichvoneinemGoldenenZeitalter
aus,welchesdurchdenEinbruchdesIslamzerstörtwurde.Esgiltnun,diesesGoldeneZeitalter durch die Exklusion des fremden Störfaktors zu restaurieren. Solche Denkweisen sind
demPalimpsest-Gedankendiametralentgegengesetzt.DennstrenggenommenwäredieUrschichteinessolchenPalimpsestseinleeresBlatt;tabularasa.DerDrangnachAuthentizität
und Ursprungsreinheit in plurikulturellen Gesellschaften ist somit auch ein Vorgang, der
kulturelleSpurenausradiert.AuslöschungenundAusradierungensindkeineMetaphern.Die
blutigeGeschichtederReligionskonflikteinIndiensprichtihreigenesUrteildarüber.
V
Seite431|01|2006
Sichtbar wird das dargestellte Problem durch die Besetzung von Gedächtnisorten. Dies geschiehtsowohlmetaphorischalsauchbuchstäblich.DieKonstruktionundErfindungeinesGedächtnisortsisteinnotwendigerTeildesHomogenisierungsprozesses,indemIdentifikationsfelderausMythos,GeschichteundpolitischerBewegungkonstruiertwerden.ZweiEreignisse
sindindiesemZusammenhangwichtig.
DERKOLONIALEDISKURSUNDORTEDESGEDÄCHTNISSES
vonAnilBhatti(NewDelhi)
14Goethe,JohannWolfgangv.:
West-ÖstlicherDivan.In:Ders.:
Sämtl.Werkein18Bden.Bd.3.
Zürich:Artemis1977,pp.438f.(Noten
undAbhandlungen,Mahmudvon
Gasna).
15Thapar2004,p.16.
16Zit.n.ibid.,p.14.DerAusschluss
desIslamsausderEuropäischen
Indologieim19.Jh.trugzurideologischbestimmtenFestlegung
vonIndienalsLandderHindus
entschiedenbei.
17»[...]forathousandyears
Mahmud‘sdestructionoftheshrine
hasbeenburntintothecollective
sub-consciousofthe(Hindu)race,
asanunforgettablenational
disaster[...]«Zit.n.ibid.,p.16.
18Zit.n.Noorani,A.G.(Hg.):The
BabriMasjid,1528-2003.›AMatterof
NationalHonour‹.2Bde.Bd.1.New
Delhi:Tulika2003,p.15.
KKT
Bald nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 zeigt sich diese Lesart im Verlangen nach dem
Wiederaufbau des berühmten Somnath Tempels. Die Information über die Zerstörung des
SomnathTempelsdurchMahmudvonGhazniimJahre1026wurdeimRahmenderWissensaneignungüberIndienzumBestandteildeskolonialenDiskursesinEuropa.Goethebetonte
denKonfliktzwischendemislamischenMonotheismusunddemindischenGötzendienst.Da
Goethegegendieindische»Vielgötterei«war,konnteer»denEiferdesGötzenstürmers«,wie
erschreibt,»billigen«unddemErobererMahmuddie»zugleicherZeitgewonnenenunendlichenSchätze«gönnen.Goetheverehrt»besondersinihmdenStifterpersischerDichtkunst
undhöhererKultur.«14
Der britische Kolonialismus sah das anders. Lord Ellenborough, Governor General von
Indien,instrumentalisiertedieErinnerunganMahmudsRaubzug,umihnalsDesasterfürdie
Psyche der Hindus hinzustellen. SeinVersuch, einenTeil des geraubten Schatzes aus Afghanistan nach Indien zurückzubringen, war anscheinend durch Herrschaftskalkül motiviert.
Hindussolltenmerken,dassdiebritischeHerrschaftbereitwar,dieSchmachderislamischen
Herrschaftzukompensieren.EsgingumdieideologischePositionierungdesIslamalsStörfaktorundKonkurrenzfürEuropaundalszerstörendeGewaltinIndien:»[...]forathousandyears
Mahmud’sdestructionoftheshrinehasbeenburntintothecollectivesub-consciousofthe
(Hindu)race,asanunforgettablenationaldisaster[...]«.15KurznachderUnabhängigkeit1947
sahesausderKolonialsichtnichtandersaus:
OneofthemostpopularincidentsofIndianhistoryisprovidedbyMahmudofGhazni,thegreaticonoclastwholedthemostfamousofhistwelveexpeditionsagainst
IndiatohumblethemightofthegreatSomnatha.FollowinghimsuccessiveMuslim
invaderstriedtorazethetempletodust.Crisisuponcrisismarkedthechequered
historyofSomnatha.ButeachtimethedevoutHindurebuiltthemonumentas
soonastheinvaderhadturnedhisbackafterindulginginhisfavouritegameof
descecrationandplunder.Fornearlyfourhundredyearsthisamazingdramaof
unendingstrugglebetweenMuslimbigotryandHinduzealwenton.Tillatlastin
thefifteenthcenturyHindusabandonedtheshrineinsheerdespair,tobuildanew
templenearby.
DieSchlussfolgerungdarauslautet:»ItisthesacreddutyofnewandrenascentIndiatoreconsecrateSomnathaandtryandresoreitsformergloryandsplendour«.16
Diese »heilige Pflicht« wurde aus dem angeblichen, essenziellenWiderspruch zwischen
HindusundMoslemsabgeleitet.K.M.Munshisprachdavon,dassdieZerstörungdesTempels
einnationalesDesastersei.DieTatseiindaskollektiveUnterbewusstseinder(Hindu-)Rasse
eingebrannt.17
AusderSichtdersäkularenSaatsauffassungkonnteNehrunurmahnen.IneinemBriefan
die»ChiefMinisters«derindischenBundesländerschrieber:
YoumusthaveheardaboutthecomingceremoniestoSomnathtemple.Manypeople
havebeenattractedtothisandsomeofmycolleaguesareevenassociatedwithit
intheirindividualcapacities.Butitshouldbeclearlyunderstoodthatthisfunction
isnotgovernmentalandtheGovernmentofIndiaassuchhasnothingtodowithit.
Whileitiseasytounderstandacertainmeasureofpublicsupporttothisventure,
wehavetorememberthatwemustnotdoanythingwhichcomesinthewayofour
statebeingsecular.ThatisthebasisofourConstitutionandgovernments,therefore,
shouldrefrainfromassociatingthemselveswithanythingwhichtendstoaffectthe
secularcharacterofourstate.Thereare,unfortunately,manycommunaltendencies
atworkinIndiatodayandwehavetobeonourguardagainstthem.Itisimportant
thatgovernmentsshouldkeepthesecularandnon-communalidealalwaysbefore
them.18
Etwa40JahredanachkommteszurzweitenundentscheidendenBesetzungeinesGedächtnisortsimZeichendesFundamentalismus.IndernordindischenStadtAyodhya,demlegendärenGeburtsortdesHindu-GottesRama,gibteseinedemMoghulKaiserBaburzugeschriebene
Moschee.Erbautim15.Jahrhundert,sollsieaufhinduistischenTempelfundamentenstehen.Der
Ortbildetseitdemspäten19.JahrhunderteinenKonfliktstoffzwischenHindusundMoslems
in dem Gebiet, ohne dass es zu einem nationalen Problem geworden wäre. Hinduistische
FundamentalistenhabenimDezember1991dieMoscheeimDiensteihresreligiösenMachtanspruchs zerstört. Dem war eine groß angelegte Kampagne vorausgegangen, die in einer
martialischen Rath-Yatra, einer religiösen Fahrt mit einem Triumphwagen kulminierte, die
Seite531|01|2006
DERKOLONIALEDISKURSUNDORTEDESGEDÄCHTNISSES
vonAnilBhatti(NewDelhi)
19Zit.n.ibid.,p.93.
20Ibid.,p.95.
KKT
vom Somnath in Westindien nach Ayodhya führte. Inszeniert von der politischen Führung
der hinduistischen Rechtspartei, der BJP (Bharatiya Janata Party), sollte die Kontinuität in
dem Restitutionsverlangen der Hindufundamentalisten dadurch unterstrichen werden. Ein
kompliziertesGerichtsverfahrensollnundenStreitjuristischlösen.DieExistenzeinesTempels
soll durch archäologische Ausgrabungen belegt werden. Vom Palimpsest-Gedanken aus
gesehen, wäre dieVermutung, dass eine Moschee auf Resten einesTempels gebaut wurde,
weder eine Überraschung noch unbedingt ein Sakrileg, sondern lediglich etwas, was dem
blutigen,machtorientiertenGangderGeschichtezugeschriebenwerdenkann,diemanjetzt
alsplurikulturellesResultataufzufassengewilltist.Eskämedanndaraufan,denGedächtnisort
AyodhyaimSinnedesSäkularismussowohlfürHindusalsauchfürMoslemsoperationabel
zu machen. Aber genau das widerspricht dem Fundamentalismus jeder Couleur. Er nimmt
denPalimpsest-Gedankenzurück,verwirftihn,umdieMonochromiedesreinenUrsprungszu
findenunddabeizuerfinden.IndenWortenvonRomilaThapar,S.GopalundK.N.Pannikar:
WewouldliketoreiteratethattheBabriMasjid-Ramjanmabhumidisputeisnot
aquestiontobedecidedbyhistoricalorarchaelogicalevidence.Thefundamental
aspectofthisissueisthatthedestructionofthemosqueanditsreplacementby
atemple,asameansofgettingevenwithMuslimrule,isareturntothepolitics
ofmedievaltimes–andthereforeanactionwhichwecannotendorse,eitheras
historiansorascitizensofIndia.19
EbenfallsdezidiertschreibtderArchäologeundHistorikerSurajBhan:
[...]hypotheticallyspeaking,evenifsomeremainsofaRamatemplearefoundbelow
theBabriMasjidtomorrow,itdoesnotmeanthatweshouldalsoperpetuatethe
barbaritiesofthepastbydestroyingthemosquetodayaftercenturies.Allsocieties
intheworldhavesufferedactsofoppressionandsuppressionatthehandsofrulers,
whetherHindu,Muslim,SikhorChristian,andirrespectiveoftheaffiliationsofthe
masses.TheHindurulersdeprivedthevastmajorityoftheHindus,forcenturies,of
therighttoenteratemple,therighttoeducation,ortherighttochoiceofwork.
Hinduwomenunderthecruelcustomofsati,weredeniedeventherighttoliveafter
theirhusbandsdied...Thewrongsofthepastcannotberectifiedtoday.Whatwecan
doistounderstandthepastandlearnthecorrectlessionsfromit:whatthoughtor
actionledtotheadvancementofsocietyinthepastandwhatpusheditbackwards,
whatistobecherishedandwhatistoberejectedinourtraditionandhistory.20
VI
Wichtig ist die Einsicht, dass die Besetzung von Gedächtnisorten den religiösen Diskurs
erzwungenhat.IndienwarniemalseinebefriedeteGesellschaft,abervorderDominanzdes
Fundamentalismus hat der Staat religiöse Streitigkeiten verurteilt. Erst jetzt kommt es zu
einerVerquickungvonStaatundfundamentalistischerPolitikundzueinerBeschönigungder
Vorgänge.
DieHerrschaftdesreligiösenDiskursesbedeuteterstens,dassdieExistenzderMoschee
von einem Rechtsprechungsprozess abhängig gemacht wird. Die Moschee ist buchstäblich
zumSteindesAnstoßesgeworden.AnstatteinesnationalenkulturellenErbehabenwirden
BesitzansprucheinerreligiösenGemeinde.AnderStelleeinesKonfliktszwischenSäkularismus
undFundamentalismusüberdiePflegedesnationalenpostkolonialenErbeshabenwireine
RechtssachezwischenHindusundMoslems.DieStellvertreterbeiderReligionenkönnenkaum
eineglaubwürdigeLegitimationnachweisen.InsofernistdieAufwertungderGerichtsbarkeit
aucheinRückschrittfürdiesäkulareInterpretationderGeschichteundderTradition.DieinklusiveantikolonialeBewegunghatsichindieserFormlangfristignichtbehauptenkönnen.
DaszweitebemerkenswerteErgebnisliegtinderAufwertungderWissenschaft,umeine
gesellschaftspolitischeStreitfragezuentscheiden.DieArchäologie,diewedermethodologisch
noch vom Selbstverständnis her eine missionarische Aufgabe wahrnehmen kann, wird zur
LeitwissenschaftundlöstdieGeschichtswissenschaftab.DieGeschichtswissenschaftkonnte
immer mit dem Argument divergenter Quellen die fundamentalistische Eindeutigkeit in
Fragestellen.NunsolldieArchäologieeindeutigeEvidenzvorlegen.SieistalsWissenschaft
überfordert. Es war niemals ihre Aufgabe, über eine angeblicheWahrheit zu befinden, sondern lediglich Evidenz zu sammeln, deren Deutung zu einer historischen Rekonstruktion
verhelfen sollte. Nun hat sie sich politisch instrumentalisieren lassen und ist in den Dienst
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DERKOLONIALEDISKURSUNDORTEDESGEDÄCHTNISSES
vonAnilBhatti(NewDelhi)
21Cf.dieStellungnahmenvon
ArchälogenundHistorikern:Bhan,
Surajn/Habib,Irfan/Shrimali,K.M.
in:Frontline,Chennai,26.September
2004und24.Oktober2004.
22Cf.dazuSikand,Yogindar:Sacred
Spaces.ExploringTraditionsof
SharedFaithinIndia.NewDelhi:
PenguinBooks2003.
23Paz,Octavio:ImLichteIndiens.
EinEssay.Übers.v.RudolfWittkopf.
Frankfurt/M.:Suhrkamp1999,
[1995],pp.83-148;Khilnani,Sunil:
TheIdeaofIndia.London:Hamish
Hamilton1997.
24Paz1999,p.139.
25Grillparzer,Franz:Sämtl.Werke.
Hg.v.PeterFranku.KarlPörnbacher.
2Bde.Bd.1.München:Hanser1960,
p.500.
KKT
einer religiösen Ideologie eingetreten. Sie funktioniert nach zwei Prinzipien: Suchet und Ihr
werdet finden; Nicht sein kann was nicht sein darf. Diese epistemologische Überforderung
wird die Seriosität des Fachs beschädigen. Es wird zur Hagiografie. Dass die Ergebnisse von
Fachvertretennichtakzeptiertwerden,überraschtnicht.21
Gegen den Synkretismus22 und den Säkularismus bedeutet die Besetzung der Orte des
Gedächtnisses,dasshistorischeMonumenteimGeisteeinesGeschichtsmythoszerstörtwerdenkönnen.DieArchäologiegreiftdenPalimpsest-Gedankenzentralan.Siesoll tatsächlich
eineUrschichtimhistorischenSedimentierungsprozessfinden,diedasPrädikat»authentisch«
usurpierenkann.MitHilfederideologisiertenWissenschaftgehtesdemFundamentalismus
darum,zuzeigen,»wieeswirklichwar«.DagegengehtesdemSäkularismusdarum,»waswir
ausderGeschichtemachen«.DerVersuch,»organische«Gemeinschaftenzukonstruieren,führt
tendenziellzumZusammenbruchvonplurikulturellenStaaten.DasZieldessäkularenProjekts
in Indien war eine indische Gesellschaft, als Gegenentwurf zur Ideologie einer majoritären
Hindu-Gemeinschaft.DieRisseindiesemEntwurfsindjetztallzudeutlichgeworden.
Als Diplomat und Reisender verbrachte der mexikanische Dichter und Nobelpreisträger
OctavioPazmehrereJahreinIndien.Ihmverdankenwireineneinfühlsamen,komparatistisch
angelegtenEssayüberIndien.Ersahdeutlich,dassIndieneinProjektist,dasamnationalistischen Fundamentalismus scheitern kann. »Die nationalistische Ideologie ist eine moderne
europäischeErfindung,undihreVermischungmitden traditionellenReligionenwarundist
explosiv.«DieserhinduistischeNationalismusbedroht»nichtnurdieDemokratie,sondernauch
dieIntegritätIndiens.«23Festhaltensolltenwirauch,dassdieplurikulturellePerspektiveden
Nationalismusnichtpositivkonnotiert.ImZusammenhangeinervergleichendenBetrachtung
überIndienundMexikoschreibtOctavioPaz:»DerNationalismusistkeinheitererGott:Erist
einMoloch,dersichmitBlutsaugt.ImAllgemeinenentstehendieExzessedesNationalismus
durch den Kult, den seine Anhänger mit der Homogenität treiben; ein einziger Glaube und
eineeinzigeSprachefüralle.«24DasdrastischeBildvonPazerinnertanGrillparzersbekanntes
Epigramm(»DerWegderneuernBildung/Geht/VonHumanität/DurchNationalität/Zur
Bestialität«)25, dessen traurige Aktualität an Orten des Gedächtnisses in Indien manifest
wird.
Prof.Dr.AnilBhatti,Jahrgang1944,StudiumderGermanistik,PolitikwissenschaftundPhilosophiein
München,Promotion1971.ForschungsstipendiatderHumboldt-Stiftung1975/76und1982inBielefeld,
MünchenundGöttingen.ProfessoramCentreofGermanStudiesderJawaharlalNehruUniv.NewDelhi,
PräsidentderGoethe-SocietyofIndia.
Kontakt:anilbhatti@hotmail.com
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