Die Klitoris ist nicht nur größer und komplexer als viele wissen -- sie wurde auch von der Wissenschaft lange ignoriert. Genauso wie viele andere Aspekte der weiblichen Sexualität.
Audio podcast featuring Talaya SCHMID, Daniel HAAG-WACKERNAGEL, Rodo PFISTER, Stephanie HAERDLE, and some more.
https://www.quarks.de/allgemein/quarks-storys-folge-29-klitoris-reloaded-die-lueckenhafte-erforschung-weiblicher-lust/
Mit 17 hat Talaya Schmid ein einschneidendes Erlebnis: Beim Sex mit ihrem Freund entsteht plötzlich ein großer nasser Fleck im Bett. Hat sie aus Versehen gepinkelt? Danach traut sie sich nicht mehr, in Anwesenheit ihres Partners einen Orgasmus zu haben – aus Angst, dass es wieder passieren könnte. Heute setzt sich die Künstlerin dafür ein, die Sexualität von Menschen mit Vulven zu enttabuisieren.
Tabu oder fetischisiert
Denn vielen geht es heute noch wie der siebzehnjährigen Talaya: Die Flüssigkeiten, die weibliche Körper absondern, sind entweder schambehaftet oder werden fetischisiert. Und auch die Forschung hat nur wenige Antworten parat. Woraus besteht weibliches Ejakulat? Haben Frauen eine Prostata? Gibt es den G-Punkt? Darüber wird in der Wissenschaft ausdauernd gestritten. Und die Klitoris ist in modernen Lehrbüchern oft falsch oder gar nicht dargestellt.
Der älteste Sexratgeber der Welt
Dabei wussten wir schon mal sehr viel mehr über weibliche Sexualität als heute. Schon im alten China wurden sexuelle Körpertechniken aufgezeichnet – mehrere hundert Jahre vor dem Kamasutra. In den Han-Gräbern von Mawangdui wurden 2.300 Jahre alte Texte gefunden, die sexuelle Körpertechniken beschreiben – und Teile von Vulva und Vagina, die heute gar keine Namen mehr haben. Auch europäische Anatomen im 17. und 19. Jahrhundert fertigten detaillierte Zeichnungen von Klitoris und weiblicher Prostata an.
Können wir Körperfunktionen kollektiv vergessen?
Wohin ist dieses Wissen verschwunden? Und warum sind so viele Menschen mit Vulven heute so wenig vertraut mit ihren eigenen Körpern? Eine Antwort liegt in patriarchalen Strukturen, die Frauen auf ihre Fortpflanzungsfähigkeit reduzieren. Von der Antike bis ins Mittelalter glaubte man, dass sich männlicher und weiblicher Samen vermischen müssen, um Nachwuchs zu zeugen. Bis klar wurde, dass eine Schwangerschaft auch ohne weiblichen Orgasmus und Ejakulation zustande kommt. Daraufhin wurde die weibliche Lust in der allgemeinen Wahrnehmung zuerst unwichtig, dann suspekt, unanständig oder sogar krankhaft.
Klitorismodelle, Squirting-Workshops und feministische Kunst
Doch einige Menschen arbeiten daran, den alten Wissensschatz zu heben und die weibliche Sexualität ins Rampenlicht zu rücken. Wie der emeritierte Biologieprofessor, der anatomisch korrekte Klitorismodelle herstellt. Die sexpositive Feministin, die Menschen in Workshops das Squirten bei- und ihren eigenen Körper näherbringt. Die Kulturwissenschaftlerin, die ein Buch über die Geschichte der weiblichen Ejakulation geschrieben hat. Die Wissenschaftlerin, die Sextechniken sammelt und auswertet – von Frauen, für Frauen. Und Talaya Schmid, die mit ihrer Kunst weibliche Sexualität als aktiv, lustvoll, überbordend und selbstbestimmt darstellt.
Das Comeback der Klitoris
Auch dank ihrer Bemühungen sind Darstellungen von weiblichen Lustorganen viel häufiger als noch vor ein paar Jahren: Als Cupcake-Verzierungen, Graffiti auf Brückenpfeilern, Aufkleber auf Klotüren. Und auch in die Lehrbücher wird sie es bald schaffen: Ein Lernatlas Anatomie, der der Klitoris ganze vier Seiten widmet, ist bereits in Arbeit.