Razorlight
Wie bei vielen Bands stellt sich auch bei Razorlight die Frage, wie viel Platz ein Frontman einnehmen darf. Oder kann eine Band gar ausschließlich auf diesen bauen, darf der Rest der Band komplett austauschbar sein?
Hört man Johnny Borrell (als Sänger und Gitarrist natürlich Frontman) zu, so könnte man meinen, er halte ausschließlich sich selbst für unersetzbar. Die anderen Bandmitglieder bei Razorlight seien zwar ganz nette Kumpel und Ausführende seiner kreativen Inputs. Mehr aber auch nicht. Musikalisch hat er seinen "Soulmate" noch nicht gefunden.
Was soll man auch von einem Sänger erwarten, der früher mit dem Songwriter-Gespann seiner Generation gearbeitet hat: Johnny ist kurze Zeit Bassist bei den Libertines und bekommt dort zu spüren, was es bedeutet, wenn sich zwei gefunden haben. Was für ein Potenzial da entsteht. Nicht, dass der blutjunge Borrell (bei der Veröffentlichung des Debütalbums 2004 ist er gerade mal 22 Jahre alt) alleine nicht über ausreichend Potenzial verfügen würde. Ein Verbündeter würde vielleicht aber die Last von seinen Schultern nehmen, die nach den Vorschusslorbeeren der britischen Presse auf ihm lastet.
So viel zur Person im Vordergrund. Nun bestehen Razorlight aber doch aus vier Mitgliedern, die alle ihren Stil zur wahnsinnigen Hit-Compilation "Up All Night" beitragen.
Es treffen sich zunächst Borrell und der Schwede Björn Agren. Der ist 2002 eigentlich auf dem Weg nach Australien und macht in London nur einen Zwischenstopp in einer Schweden-WG. Weiter kommt er jedoch nie. Schon als Kind lernt er auf einer Farm in der schwedischen Einsamkeit, Gitarre zu spielen. Als er in London ankommt, hat er sein Instrument schon Jahre nicht mehr angerührt. Doch eine Anzeige im NME erinnert ihn an seine alte Leidenschaft: In einem Pub trifft er sich mit Borrell, nach fünf Minuten gehen sie in Johnnys Wohnung, um gemeinsam zu spielen.
Anschließend stößt Carl Dalemo zur Band. Auch ein Schwede, der in die Londoner WG Björns zieht. In seiner Heimat ist der blonde, dürre Skatepunk Mitglied der Band "Spiral Stairs", in der er singt und Gitarre spielt. Borrell und Agren brauchen jedoch einen Bassisten. So besorgt sich Dalemo einen Bass und ist das dritte Mitglied der Band.
Mit Christian Smith-Pancorvo, einem Halb-Peruaner, Halb-Engländer, ist die Band vollständig. Bevor er zu den anderen stößt, reist er ein Jahr durch Afrika, trommelt dort mit einheimischen Stämmen.
In dieser Konstellation beginnen sie, ihre ersten Demos aufzunehmen. Ihr Manager hält auf Video fest, was sie spielen. Im Oktober 2002 gehen die vier noch einmal ins Studio, um ordentliche Demos aufzunehmen. Die fallen in die Hände des XFM-Moderators John Kennedy, der vom melodischen und tanzbaren Retro-Rock-Punk hellauf begeistert ist. Er bindet die Songs fest in sein Programm ein. Bald fangen seine Hörer an, die Songs mitzuschneiden und Bootlegs auszutauschen. Das Interesse an der Band wächst rasend.
Im Sommer 2003 nehmen Razorlight noch einmal einige Demos auf, mit denen sie eine Flut von Angeboten von Seiten der Plattenfirmen auslösen. Razorlight entscheiden sich für Mercury/Universal. Zeitgleich spielen sie auf dem japanischen "Summer Sonic Festival". Dorthin lädt man sie ausschließlich aufgrund ein paar lausiger MP3s und ihres guten Rufes ein.
Damit nicht genug. Mercury-Chef Steve Lillywhite, der schon Größen wie U2, den Talking Heads und Morrissey zu einem ordentlichen Sound verhalf, begibt sich als Producer mit ins Studio. Doch unter einem guten Stern steht das Ganze nicht: Lillywhite verlässt Mercury im Januar 2004, um U2 zu produzieren, und lässt damit auch Razorlight im Stich. Später wird Johnny Borrell behaupten, dass er mit diesem Mann, Reputationen hin oder her, ohnehin nicht zusammen arbeiten konnte.
Er sieht diesen Vorfall eher als Glück. Denn John Cornfield, der anschließend die Produktion leitet, ist genau das Richtige für die Band. Doch auch hier kommt das Ende früher, als geplant. Cornfields Vater erkrankt, und er muss nach Cornwall, um ihn zu pflegen. Es ist ihm nicht möglich, ständig zu Aufnahmen nach London zu fahren.
Ratlos geht die Band zunächst nach Amerika, um dort in New York und auf den South By Southwest-Festival in Texas einige Gigs zu spielen. Doch als sie zurückkommt, hat sich die Lage nicht geändert: Cornfield sitzt weiter in Cornwall, die Jungs in London. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie suchen sich schon wieder einen neuen Produzenten, oder sich fahren zu ihrem alten aufs Land. Sie entscheiden sich für die zweite Variante.
Als sei das nicht genug gewesen, fängt Drummer Christian nun an, sich der Arbeit in den Weg zu stellen. Er wolle nicht so viel arbeiten, hat eigentlich immer einen Grund, warum er gerade Pause machen müsse und sich nicht hinters Schlagzeug setzen könne. Borrell ist außer sich. Er, dem Musik alles bedeutet, kann dieses lethargische Verhalten nicht nachvollziehen. Ob Christian nun aus der Band geschmissen wird oder ob er freiwillig geht, ist nicht klar.
Doch einige Zeit später sitzt Andy Burrows hinter den Drums. Gerüchte sagen, die Band habe mit ihm den Drumpart noch einmal eingespielt. Die Credits im Album bekommt allerdings Christian. Im Juni 2004 erscheint das Album, euphorisch vom NME gefeiert, in England. Vier Monate später kommt das hoffnungsvolle Debüt auch in Deutschland in die Läden.
In England sammelt die Band derweil eine Auszeichnung nach der anderen. Das nächste Jahr lebt die Band on the road, was erst mit einem Auftritt bei der Neuauflage von Bob Geldofs "Live Aid" endet. Die Jungs sind ausgebrannt, gönnen sich trotzdem nur einen Monat Auszeit. Den verbringt Johnny - das erste Mal seit über zehn Jahren ohne seine Gitarre - gemeinsam mit seinem Bruder auf Bali.
Anschließend geht es mit einigen Songs, die die Band bereits im Tourbus geschrieben hatte und neuen Ideen in ein kleines Lagerhaus. Dort proben Razorlight vier oder fünf Monate lang und beginnen mit der Vorproduktion. Anschließend ging es mit Chris E. Thomas (arbeitete unter anderem schon mit den Sex Pistols, Pink Floyd, Roxy Music) ins Studio. Sie arbeiten drei Monate lang an der zweiten Platte.
Im August 2006 erscheint dann in Deutschland das zweite Album "Razorlight". In England steht es da bereits auf Platz eins der Charts und hat Platin eingesammelt. Erneut wird es auch in Deutschland von Fangemeinde und Kritikern gefeiert.
Schlagzeuger Andy Burrows ab 2006 definitiv festes Bandmitglied und schreibt auch an einigen der neuen Songs mit. So kommt sein Ausstieg Anfang 2009 recht überraschend - er wolle sich neuen musikalischen Herausforderungen stellen, heißt es. David "Skully" Sullivan-Kaplan ersetzt ihn auf der Bühne und soll eventuell auch in die Aufnahmen des kommenden Albums mit einbezogen werden. Sullivan-Kaplan verdrosch bislang bei Men, Women & Children die Felle, einer Band, die der frühere Glassjaw- Gitarrist Todd Weinstock gegründet hat.
Zunächst nimmt sich die Band nach "Razorlight" jedoch eine Auszeit. Andy schreibt währenddessen das Soloalbum "Colour Of My Dreams", Björn zieht mit seiner Gitarre auf eine Mittelmeerinsel und Carl begibt sich auf die Suche nach neuen Bands. Mit einem Notizbuch und einem Stift verschwindet derweil Borrell auf die Äußeren Hebriden, einer kaum bewohnten Inselkette vor der Westküste Schottlands. Dort schreibt er die meisten Songs zm Album "Slipway Fires", das 2009 erscheint. Razorlight bewegen sich darauf weg vom pompösen Pop ihrer Vorgänger-Alben und mischen 60s-Rock in ihre Lieder. Produziert wird das Album von Mike Crossey.
Danach wird es ruhig um die Band. Der Versuch im Winter 2010 ein neues Album aufzunehmen scheitert und führt zum Ausstieg von Dalemo und Ågren. Johnny Borrell ist nun das letzte verbliebene Gründungsmitglied. Nach dem Ausstieg seiner alten Weggefährten kommt an den Saiteninstrumenten allerdings keine Konstanz mehr rein. Immer wieder wechselt in den folgenden Jahren das Line-Up der Band. Das fällt aber kaum wem auf, denn langsam aber sicher verschwinden Razorlight auch von den Line-Ups der größeren Festivals.
2013 schiebt Frontmann Borrell das Projekt dann auf die lange Bank um sich auf seine Solo-Karriere zu konzentrieren. Die flopppt aber so richtig, das Album "Borrell 1" wollen in der ersten Woche kaum mehr als 500 Leute kaufen.
Im Jahr darauf geht die Band anlässlich des zehnjährigen Jubiläums ihres Debütalbums wieder auf Tour, am Bass tobt sich der 18-jährige Brasilianer Joao Mello aus. Das Ausbleiben eines neuen Albums erklärt der Frontmann mit der Schwierigkeit, eine Plattenfirma zu finden.
Erst 2018 scheint sich das geändert zu haben. Inzwischen sind Harry Deacon und David Ellis an den Saiten zu finden, letzterer schreibt auch an den Songs mit. Mit dem neuen Line-Up veröffentlicht die Band ihr erstes Album nach zehn Jahren Pause und beweist auf "Olympus Sleeping" neu gefundenen Humor und alte unbestreitbaren Qualitäten. Sogar Johnny Borrell scheint an seinem Gotteskomplex gearbeitet zu haben. Zur VÖ des Albums am 26. Oktober gibt es keine großspurigen Töne, einfach nur gute Musik, die wie ein Nostalgietrip in die Indie-Clubs der 00er funktioniert.
2021 kommt nach über zehn Jahren erstmals wieder das Original-Line-Up für ein Konzert zusammen. Zwei neue Songs erscheinen 2022 auf dem Greatest Hits-Album "Razorwhat – The Best of", im Oktober 2024 folgt mit "Planet Nowhere" das erste neue Album in der alten Besetzung.
© Laut
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