Erzählungen über das Erleben und Begegnen
Von Margot Wilke
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Buchvorschau
Erzählungen über das Erleben und Begegnen - Margot Wilke
Margot Wilke
Erzählungen über das
Erleben und Begegnen
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
www.engelsdorfer-verlag.de
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Rückkehr in die Kindheit
Frühlingsboten im Bruch
Straße
Clogs
Der unbekannte Maler
ICH lebe wie ICH will
Freundschaft
Blätter
Zwanzig Jahre danach
Christel
Rückkehr in die Kindheit
Für Romy
Je älter man wird, desto stärker werden die Erinnerungen, die viele Jahre zurückliegen. Das Langzeitgedächtnis ist ausgeprägter. Vor allem die Kindheitserinnerungen treten dabei mehr hervor. Das wird wohl auch daran liegen, dass die Kindheit unbeschwerlicher und sorgensloser war als das Erwachsensein. Probleme und Unangenehmes sind vergessen und das Angenehme steht im Vordergrund. Somit erscheint die Kindheit in einem verklärten Licht und wird immer erzählenswerter. Meine Erinnerungen werden immer ausgeprägter, wenn ich an die Ferienzeit bei meinen Großeltern denke.
Es war eine herrliche Zeit. Ich konnte machen, was ich wollte und keinerlei Zwänge wurden mir auferlegt. Ständige Ermahnungen wie „Sitz gerade! Beim Essen schlingt man nicht! Schmatz nicht! Die Ellenbogen vom Tisch! Sprich nur, wenn du gefragt wirst!" gab es nicht. Bei meinen Großeltern konnte ich die erlernten Sitten anwenden, musste aber nicht und brauchte das auch nicht. Es war die großelterliche Nachsicht, die sie bei ihren eigenen Kindern nicht angewendet hatten.
Umherstrolchen! Essen, wann ich wollte! Keiner hinderte mich auf Bäume zu klettern und wenn ich mich nicht wusch, fiel das auch nicht weiter auf. Die Pumpe war schneller erreichbar als das Waschbecken. Ferien nach meinem Geschmack und auch vielleicht der Traum mancher Kinder heute.
Mich packte die Sehnsucht nach meinem Kinderland. Eigentlich kannte ich dort keinen Menschen mehr, denn 60 Jahre sind eine lange Zeit – über ein halbes Jahrhundert. Nur eine einzige Verbindung bestand, mit der Tochter einer Schulkameradin meines Vaters. Und diese war nur ein telefonischer Kontakt, wir kannten uns nicht.
Nachdem einige Angebote zum Besuch eingegangen waren, entschloss ich mich kurz und bündig, meinen Traum zu erfüllen.
Meine Freundin fuhr mich hin, sie übernahm die Fahrt in meine Kindheit und musste stundenlang meine Aufregung ertragen.
Ein eigenartiges Gefühl erfasste mich. War es Erregung? Erwartung? Und ich hatte auch ein wenig Angst. Angst vor einer Enttäuschung, ein Erxleben vorzufinden, überall modernisiert und nichts mehr von meiner Kindheit zu erkennen. Die Breite Straße ohne Kastanien, die trauten alten Häuschen aus dem 18./19.Jh. verputzt und nicht mehr wiederzuerkennen, wobei gerade diese dem Ort ein anheimelndes Flair verliehen.
Die meisten Dörfer erkennt man schon von weitem an ihren Kirchtürmen. Nicht so hier. Hier ist der uralte Hausmannsturm mit einer Höhe von wohl über
50
m
. Er soll 920 erbaut worden sein und kennt die Geschichte seines Ortes wohl am besten. Er ist das Wahrzeichen von Erxleben.
Am ehemaligen Bahnhof vorbei. Ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht mehr wusste, ob das alte Bahnhofsgebäude noch steht. Ist ja auch egal.
Wir fuhren in den Ort. Erleichterung, die alte vertraute Parkmauer von Schloss II ist noch da. Und dann wurden die Erinnerungen konkreter. Die alte Apotheke – Breite Straße – Gasthaus „Zur Post", wo ich übernachten wollte.
Ich war in Erxleben. Ich war auf den Spuren meiner Kindheit. Hier sind die Wurzeln meiner Familie zu finden. Väterlicherseits alteingesessene und mütterlicherseits seit vielen Jahren dort lebende Großeltern.
Mein Zustand wurde immer verwunderlicher. „Fahr doch bitte erst die Straße entlang." Diese Fahrt durch den Ort empfand ich wie eine Pflicht. Ich wollte die Jahre zurückspulen und die Jetztzeit vergessen, noch einmal erleben, Kindheitserinnerungen nicht nur auffrischen.
„Ich möchte erst einmal die Häuser meiner Großeltern sehen." Und was sah ich im ersten Moment? Neue Fenster! Der alte Zaun ist weg, ist ja klar und auch der Fliederbusch. Die schönen alten ausgetretenen Steinstufen mussten Betonklötzen weichen. Aber die Kastanien, die den Straßenrand säumten, stehen noch, ebenfalls die Parkmauer vom Park I. Auch eingerückt, im Hintergrund der Straße, das kleine Häuschen aus roten Backsteinen der anderen Großeltern, allerdings ohne Tünnekenborn, ein damals beliebter alter Brunnen. Die Fenster mit Brettern vernagelt, wie tote Augen. Aber es steht noch.
Vor meinen Augen entstand das Bild meines Großvaters. Ein rundes Gesicht mit einem kleinen Schnurrbart. Auf dem Kopf kurze graue Stoppeln. Wenn man darüber strich, was nur seine Söhne durften, hörte man ein abwehrendes Brubbeln. War es Wohlbehangen oder Ärger? Man konnte es nicht deuten. Leicht gebückt, etwas o-beinig in den Holzpantinen, aus der Hosentasche hing ständig ein Zipfel vom Taschentuch. Diese Angewohnheit behielt er bis ins hohe Alter.
Zurück zur „Post. Ich stieg aus dem Auto, die letzten 60 Jahre versanken im Nichts. Ich war in Erxleben. Alles andere war ausgelöscht und ich genoss es. Die alte „Post
war noch wie früher. Die große Toreinfahrt wie einst – die Gaststube vertraut anheimelnd und die Wirtsleute gar nicht fremd, obwohl ich sie nicht kannte. Schon beim Aussteigen ein warmer herzlicher Empfang. Das letzte Gefühl der Fremdheit fiel ab, ich war wieder Kind.
„Ich bin da", der Anruf an meine Bekannte. Und da kam sie. Wir erkannten uns beide sofort. Nichts, aber auch gar nichts Unbekanntes lag zwischen uns, als würden wir uns ewig kennen, waren nie getrennt, wie alte Freundinnen. Vielleicht ist auch dieses Sofortverstehen etwas Seltenes.
Und dann wurden Erinnerungen wachgerufen, bedingt auch dadurch, dass ich das Poesiealbum meines Vaters aus dem Jahre 1920 mitgenommen hatte. Wir waren mittendrin im Erzählen und fanden kein Ende.
Für mich begann es jetzt wie früher – Besuche machen. Nur damals war es ein klein wenig anders. Die Besuche dauerten den ganzen Tag, denn eine riesengroße Verwandtschaft erwartete meinen Besuch. Bei jedem einzeln musste ich den damals üblichen Knicks machen, Erstaunen über mein jährliches Wachstum und die großelterlichen Gene über mich ergehen lassen. Die Reihenfolge: die anderen Großeltern, eine Cousine meines Vaters und noch eine Cousine, die Schwester meines Großvaters samt Anhang, meine Tante mit ihrem Gefolge von Eltern und zwei Schwestern und zuletzt zum Apotheker. Wobei dieser Besuch für mich der angenehmste war. Er war ein gemütlicher alter Herr mit einer Brille und ersetzte im Notfall auch mal den Arzt. Er hatte eine mir unbekannte Beziehung zu meinem Heimatort. Der alte Herr hatte mich ins Herz geschlossen und liebte meinen Thüringer Zungenschlag. Der obligatorische Knicks und dann Erzählen, Erzählen und wieder Erzählen. Ging das Thema aus, animierte er mit geschickten Fragen und der Wasserfall mit Thüringer Klangfarbe setzte sich fort. Zum Abschluss der Knicks und die Taschen voller Süßigkeiten, somit war meistens der erste Tag beendet und meine persönliche Ferienzeit konnte beginnen.
Heute jedoch führte mich der erste Weg zu der einzig verbliebenen Schulkameradin meines Vaters, beide Jahrgang 1910 und somit 97 Jahre und sie hatte am vorigen Tag Geburtstag. Ihr Häuschen wie eh und je. Na, Gott sei Dank! Es gab noch das alte Erxleben.
Das Wohnzimmer ähnlich wie bei meinen Großeltern. Ich fühlte mich sofort heimisch. Dann musste ich von ihrem Schulkameraden, meinen Vater, erzählen. Erinnerungen und immer wieder Erinnerungen wurden ausgetauscht und nach und nach fiel mir immer mehr ein. Inzwischen gab es Kaffee und Geburtstagskuchen. Und der Kuchen! Tatsächlich „Arme Leute Kuchen." Das rutschte mir unkontrolliert heraus und war mir dann furchtbar peinlich. Aber es ist ein typischer Erxlebener Kuchen. Zu Geburtstagen wird er noch heute bei uns gebacken und wird am liebsten gegessen. Ein einfacher Hefeteig, mit Daumen und Zeigefinger Löcher drehen und diese mit Butter oder Sahne füllen, dann Zucker darüber streuen. Ich konnte mich nicht beherrschen und habe gesündigt, ohne rot zu werden.
Nach diesem Besuch gingen wir noch die Straße entlang. An den alten, mir so vertrauten Häusern spazierten wir vorbei, aber meine Augen suchten eine bestimmte Toreinfahrt von einem Bauernhof.
Es waren die Nachkriegsjahre und alles war knapp. Eine der Töchter heiratete und es sollte eine große Hochzeit werden. Das war das Ereignis im Dorf, vor allem auch für uns Kinder, zumal ich so etwas noch nicht erlebt hatte. So waren wir auch dementsprechend aufgeregt und sammelten Porzellan für den Polterabend. Es durfte nur Porzellan sein, denn nur das brachte dem jungen Paar Glück.
Dann war es endlich so weit. Bepackt mit altem Geschirr zogen wir zum Hochzeitshaus. Mit Schreien, Lachen und Knallen zerschlugen wir das Mitgebrachte. Und dann stieg uns ein süßer Duft in die Nase. Die Braut brachte Teller mit Kuchen. Streuselkuchen! Streuselkuchen mit echter Butter gebacken! Das war zu dieser Zeit für uns, die nur karge Kriegskost kannten, einmalig, denn Butter war Mangelware. Wenn gebacken wurde, dann mit Margarine, die es aber auch nur auf Lebensmittelkarten gab.
Die Teller waren schnell leer. Ein Stück Kuchen, ein bleibendes Erlebnis! Seitdem ist Streuselkuchen meine Leidenschaft, aber nur wenn die dicken Streusel mit Butter gebacken sind.
Und dann ein eigenartiger Zufall.