Kindheit auf dem Dorf: Jugend in wechselvoller Zeit 1933-1950
Von Heinrich Löhmann
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Kindheit auf dem Dorf - Heinrich Löhmann
Impressum
Deutschland 1933–1939
Bei Gesprächen anlässlich meines 70. Geburtstages im Jahre 2003 bin ich von verschiedenen Seiten gebeten worden, doch einmal etwas aus meiner Kinder- und Jugendzeit aufzuschreiben, damit die Erinnerung daran nicht mit unserer Generation ganz verloren geht. Nach einigem Zögern habe ich mich jetzt dazu entschlossen und will versuchen, das Beste daraus zu machen. Wenn ich des Weiteren oft die Worte „wir und „uns
verwende, so sind selbstverständlich damit meine Schwestern Friedchen und Dorli und viele andere Spiel- und Schulkameraden gemeint, denn Gott sei Dank habe ich meine Kindheit nicht allein verbracht.
Da unsere Kinder- und Jugendjahre untrennbar mit den schweren und folgenreichen Ereignissen jener Zeit – Hitler-Reich, Kriegs- und Nachkriegszeit – verbunden sind, möchte ich darüber nicht hinweggehen, sondern erzählen, was ich aus jenen schlimmen Jahren mitbekommen habe und was auch unser Leben wesentlich mit geprägt hat.
Ende Januar 1933, also zwei Wochen nach meinem Geburtstag, wurde Adolf Hitler bei einer Regierungsneubildung vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und konnte einige Wochen später im März bei den Reichstagswahlen mit seiner NSDAP auch die stärkste Fraktion bilden. Er ist also nach den damaligen parlamentarischen Spielregeln völlig legal an die Macht gelangt. Nach anfangs scheinbar erfolgreicher Regierungsarbeit führte dann aber eine verhängnisvolle Politik zum Kriegs-ausbruch 1939 und den bekannten Zerstörungen in Europa und Asien mit zig Millionen Todesopfern und der Dreiteilung des deutschen Reiches.
Von nachwachsenden Generationen bin ich gelegentlich gefragt worden: „Habt ihr denn nicht gemerkt, welche verbrecherischen Kräfte sich da entwickelten, habt ihr von all den schlimmen Dingen nichts gewusst und etwas dagegen unternommen?" Wir als gerade mal schulpflichtige Kinder konnten ja kaum was merken oder etwas tun, aber ich möchte hier auch etwas für unsere Eltern- und Großelterngeneration sprechen.
Bei der Betrachtung dieser Frage geht man leicht vom heutigen Bildungs- und Informationsstand aus. Das war aber damals ganz anders. Meines Wissens haben nur drei Schüler aus Sebbenhausen, die älter waren als ich, die Mittelschule in Hoya besucht. Für die breite Bevölkerung war nach acht Jahren manchmal einklassiger Volksschule Schluss. Keine Oberschule, kein Abitur, geschweige denn Studium. Der Lehrstoff war auf konservative Wissensvermittlung und Auswendiglernen ausgelegt. Eine Führung zu pluralistischen, weltoffenen Denkweisen hin fand nicht statt.
Es gab weder Fernsehen noch Radio; der aus jener Zeit bekannte Volksempfänger, ein Einfachradio, wurde erst in den dreißiger Jahren eingeführt und von der NS-Führung geschickt als Propaganda-Instrument genutzt. Hinter vorgehaltener Hand wurde deshalb der Apparat auch nach dem Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels „Goebbelsschnauze genannt. An Zeitungen wurde aus Kostengründen längst nicht in jedem Haus eine Tageszeitung gelesen. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften waren, wenn überhaupt, nur in Nienburg zu beschaffen; und wer hatte schon Hitlers Ideologie-Bibel „Mein Kampf
gelesen? Nach 1933/34 wurde ja ohnehin alles gleichgeschaltet und in Radio und Zeitungen nur das verbreitet, was Partei und Regierung genehm war.
Der allgemeine Wissensstand war also eher gering. Dazu kam, dass viele Menschen den verlorenen Weltkrieg 1914–18 nicht verkraftet hatten und dem anschließend untergegangenen Kaiserreich nachtrauerten. Die Lebensumstände der zwanziger Jahre, die in Wirklichkeit nicht „golden" waren, was allenfalls für Unterhaltungsszenerie und Nachtleben zutraf, taten ein Übriges. Die Inflation mit der Vernichtung des Geldvermögens und eine Weltwirtschaftskrise mit dramatischer Arbeitslosigkeit führten zu sozialen Notständen, wie wir sie uns heute in unserem halbwegs dichten sozialen Netz nicht vorstellen können.
Die Reichsregierungen, die damals in schneller Folge wechselten, sich neu bildeten und wieder gestürzt wurden, waren nicht in der Lage, das Land vernünftig zu verwalten, und so konnte sich in der Bevölkerung kein Vertrauen zu einer stabilen, demokratischen Staatsform entwickeln. Da fiel es sicher leicht, einer Partei anzuhängen, die Arbeit und Brot für alle versprach, damit das Land zu neuer wirtschaftlicher Blüte führen konnte und vor allem auch die „nationale Würde" wiederherstellen wollte. Die war nämlich nach Ansicht vieler durch den Versailler Vertrag, der den Ersten Weltkrieg beendete, zerstört worden. Diese Anhängerschaft bestand damals aber überwiegend aus der jüngeren, aktiven Generation, die das Leben noch vor sich hatte und etwas daraus machten wollte. Die älteren Leute standen dem Ganzen eher skeptisch gegenüber, weil es ihnen wohl zu neu, zu großsprecherisch, zu aufdringlich erschien; jedenfalls habe ich das aus Gesprächen im Verwandten- und Bekanntenkreis meiner Großelterngeneration so entnommen.
Wie so vieles, was ich bisher geschrieben habe und noch schreiben werde, habe ich das als Sechs- bis Zwölfjähriger natürlich nicht so gewusst. Aber als Erwachsener hat sich bei mir aus all diesen aufgeschnappten Gesprächen, eigenen Beobachtungen, Erinnerungsfetzen und vielem, was man später gehört und gelesen hat, ein Bild jener Zeit geformt, das bestimmt sehr wirklichkeitsnah ist.
Die Einsicht, dass doch vielleicht nicht alles so gut und richtig war, was die NSDAP und die Regierung machten, ist wohl erst später gekommen. Mein Vater war wie die meisten jungen Männer im Dorf fast selbstverständlich auch Mitglied der SA. Er erzählte aber später, dass er sich nach dem 9. November 1938, an dem die Judenverfolgung erstmals für alle deutlich sichtbar wurde, ganz aus der aktiven Parteiarbeit mit Aufmärschen, Veranstaltungen usw. zurückgezogen hat. Als ich nach Vaters Tod seine hinterlassenen Akten sichtete, fand sich auch noch sein SA-Mitgliedsbuch wieder an. Aus den Eintragungen und Abstempelungen darin konnte ich das dann bestätigt finden. Und unser „Heisen-Vader hat sehr viel später, als in den sechziger Jahren während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem das ganze schreckliche Geschehen jener Jahre noch einmal wieder aufgerollt wurde, zu mir gesagt: „Wenn man das jetzt hört und sieht, was da alles passiert ist, muss man sich ja schämen, dass man damals auch dazu gehört hat.
So haben wohl viele gedacht, aber nicht jeder mochte das so deutlich aussprechen.
Zur Frage, ob man als Erwachsener zu der Zeit von Konzentrationslagern und ähnlichen Verbrechen nichts gewusst haben konnte, fällt mir eine kleine Begebenheit aus dem letzten Kriegsjahr ein. Wir Jungen hatten uns während des Versteckspiels in einer alten Feldscheune in der Fährstraße verkrochen. Draußen auf der Straße trafen sich zwei Soldaten auf Urlaub und erzählten sich natürlich ihre Erlebnisse. Von beiden Männern wusste man, dass sie KPD-Anhänger waren. Bei jeder Wahl vor 1933 und nach 1945 wurden nämlich in Sebbenhausen auch einige Stimmen für die Kommunisten abgegeben, und da hegte man so seine Vermutungen, wer das wohl sein könnte. Also: Einer von den beiden hatte von einem Lager im Emsland gehört, in dem „Leute wie wir", aber auch hohe Parteifunktionäre oder Kriegshelden, die zum Teil mit Ritterkreuz ausgezeichnet waren, die sich aber irgendwie missliebig gemacht hatten, eingesperrt worden waren und unter strengster Bewachung harte Arbeit im Torfmoor leisten mussten. Mehr wussten also diese Regimegegner, die sicherlich jede ähnliche Nachricht begierig aufgenommen hätten, auch nicht.
Im Übrigen haben diese Gegensätze zwischen NSDAP und KPD im Dorfleben keine bleibenden Spuren hinterlassen. Jedenfalls hat einer dieser KPD-Männer, beruflich ein Landtechnik-Fan, später sehr gut und lange mit einem Hofbesitzer aus der Hitler-Anhängerschaft zusammengearbeitet. Nur ein Spitzname aus jener Zeit ist im Dorf hängen geblieben: Einer der glühendsten Hitler-Anhänger hatte zu seinem Pech den gleichen kleinen Gehfehler wie der schon angesprochene Chefpropagandist Dr. Goebbels. Da er auch noch einen Familiennamen trug, der im Dorf mehrfach vorkam, hieß er bald zur Unterscheidung von den anderen Familien ... Goebbels. Dieser Name ist ihm bis zu seinem Tod erst vor einigen Jahren erhalten geblieben.
Sebbenhausen 1933–1939
Das war also die Zeit in die wir hineingeboren wurden. Jetzt möchte ich auch noch den Ort – das Dorf, in dem wir aufwuchsen – etwas näher beschreiben. Im Gegensatz zu heute, wo es wie in den meisten Dörfern nur noch ein paar meist größere „Landwirtschaftliche Vollerwerbsbetriebe" gibt und das Dorf sonst nur noch Wohn- und Schlafort für pendelnde Schulkinder und auswärtig angestellte Arbeitnehmer ist, war Sebbenhausen zur damaligen Zeit ein in sich geschlossener, fast sich selbst versorgender Ort mit vergleichsweise wenig Bezügen und Kontakten zur Außenwelt. Es gab zirka 15 Bauernhöfe verschiedenster Größenordnung von vielleicht zwei bis drei ha bis fast 70 ha, aber alle waren mit allen Viehgattungen – das heißt Milchkühen, Schweinen, Arbeits- oder Zuchtpferden und Geflügel – ausgestattet. Es gab eine Schmiede, zwei kleinere Tischlereien, eine Mühle, einen Kohlen- und kleinen Landhandel, eine Bäckerei, einen Kaufmannsladen, einen Schuster, zwei Schneidermeister, sehr wichtig: zwei Gasthäuser und für ein kleines Dorf etwas ungewöhnlich: zwei Fuhrbetriebe, die sich entwickelt hatten, weil die Milchkannen täglich – und anfänglich noch mit pferdebespannten Wagen – zu den Molkereien nach Hoya oder Wietzen gefahren werden mussten. Von all dem ist jetzt nur noch eine kleinere Spedition übrig geblieben.
Postkarte
An außerdörflichen Arbeitsplätzen gab es nur den so genannten Wasserbau in Hoya, der für Ufersicherung und -ausbau an der Weser zuständig war. Die dort arbeitenden Dorfbewohner nannte man „Werselüe". Sonst wohnten im Dorf nur noch ein paar Ziegeleiarbeiter, die auf der anderen Weserseite in Schweringen und Haßbergen beschäftigt waren.
Postkarte
Zu jedem dieser Haushalte gehörte aber ein kleiner Stall, in dem ein bis zwei Milchkühe und etliche Schweine gehalten wurden.
Kanalbau 1938
Kanalbau 1938
Da auch immer ein größerer Nutzgarten vorhanden war, konnten fast alle Lebensmittel selbst erzeugt werden. Ein paar Morgen (0,25 ha) Land waren meist von einem Bauern gepachtet und wurden von dessen Pferdegespannen mit bearbeitet. Dafür wurde dann auf dem Bauernhof, wo ja auch alles mit mühsamer Handarbeit erledigt werden musste, mitgeholfen. Das war aber weit mehr als ein heutiges Arbeitgeber / -nehmerverhältnis. Wenn die Menschen zueinander passten, also in der heutigen Ausdrucksweise, die Chemie stimmte, entwickelte sich daraus oft ein Vertrauensverhältnis, das auch die Familien mit einbezog und manchmal Generationen überdauerte. Bei uns war das so mit der Familie Heise. Unser getreuer „Heisen Fritz Vader" ist auch mir noch lange eine Art väterlicher Ratgeber und Helfer gewesen.
Kanalbrücke Balge im Bau 1938
Kanal-Holzbrücke Winter 1940
So hatte jede Familie im Dorf, auch wenn sie reichlich mit Kindern gesegnet war und über wenig Geldeinkommen verfügte, ihren Lebensunterhalt und musste keine wirkliche Not leiden, wie das in den Städten in Kriegs- und Nachkriegszeiten oft der Fall war. Auch die Verwaltung lief viel einfacher und direkter als heute. Selbst in dem kleinsten Dorf gab es einen Bürgermeister, der Gemeindedirektor, Rechnungsführer, manchmal auch noch Standesbeamter in einer Person war. In Sebbenhausen hatte dieses Amt mein Onkel Dietrich Karstens, meist „Kranz-Vader" genannt, inne. Er war schon Ende der zwanziger Jahre bei einer Kommunalwahl gewählt worden und – obwohl beileibe kein Hitler-Anhänger – während der zwölf braunen Jahre im Amt belassen und auch nach 1945 von der britischen Militärregierung neu berufen worden. Das ist wohl ein Beweis dafür, wie korrekt und loyal er seinem Amt und den Dorfbewohnern verpflichtet war und nicht der gerade herrschenden Regierungsform. Erst 1946/47 bei der ersten Gemeinderatswahl konnte er von dem jungen Fritz Böckmann abgelöst werden.
Eine große Umwälzung und Neuerung brachte für unser kleines Dorf der Kanal- und Schleusenbau mit sich. Schon seit Ende des Ersten Weltkriegs in Planung und Vorbereitung, wurde das Weserkanalisierungsprogramm wohl auch zur Arbeitsbeschaffung und Wirtschaftsförderung jetzt plötzlich angeschoben und umgesetzt. Damit nicht nur einige direkt betroffene Höfe das benötigte Land hergeben mussten, wurde das ganze Marschgebiet zwischen den Dörfern Sebbenhausen und Buchhorst und zur Weser bis Drakenburg in einer „Flurbereinigung" neu eingeteilt und erhielt damit das uns heute bekannte Gesicht. 1935 war Baubeginn, bis zur vorläufigen Einstellung der Bauarbeiten 1940/41 waren die Erdarbeiten schon fast fertig, das Kanalbett in seiner jetzigen Form komplett, nur das spätere Schleusenbecken war noch auf jedem Ende durch einen breiten Erdwall vom Kanal getrennt. Die Brücken Balge, Holzbalge und Buchhorst waren bereits fertig und wurden auch benutzt. Als ab 1952 die Arbeiten zu Ende geführt wurden, mussten nur noch die Schleuse und die Sebbenhausener Betonbrücke gebaut werden.
Bürgermeister „Kranz-Vader"
Vom Bau selbst haben wir wegen unseres kindlichen Alters wenig gesehen. Deutlich in Erinnerung ist mir aber das Lärmen der damals modernen Baumaschinen: das Tuckern und Scheppern der kleinen Dieselloks, die lange Lorenzüge auf den vielen Feldbahnschienen hinter sich herzogen, und das Quietschen der riesigen Bagger, die statt der heute üblichen Hydraulik mit Dutzenden von zum Teil armdicken Stahlseilen betrieben wurden. Am lautesten aber war das dumpfe Hämmern und Zischen der Dampframmen, mit denen Spundwände und ähnliche Bauteile tief in den Untergrund getrieben wurden. Neben dieser modernen Technik wurden noch viele Handarbeitskräfte gebraucht. Weil in unseren Dörfern aber wenig freie Arbeitskräfte wohnten, hatte man diese überwiegend aus dem Gebiet um das westpreußische Danzig herum angeworben. Für sie baute man auf einem Platz neben der heutigen Balger Schule ein kleines Barackendorf, wo sie in einer Gemeinschaftsküche von Sebbenhäuser und Balger Kochfrauen versorgt wurden. Die „höheren Chargen" der Baufirmen Habermann und Guckes, Garre und Sohn sowie der staatlichen Bauaufsicht hatten sich in den dörflichen Gasthäusern oder auch in geeigneten Privatquartieren manchmal sogar mit ihren Familien eingerichtet.
All das trug dazu bei, dass es für Handel, Handwerk und ähnliches Kleingewerbe nach Jahrzehnten des Stillstands wieder etwas mehr Arbeit und Einkommen in unseren Dörfern gab. Eigentlich erstaunlich ist es auch, dass es zwischen der Dorfjugend und den Baubelegschaften nie zu ernsthaften Reibereien gekommen ist. Einige von den „Danzigern" haben hier auch geheiratet und von den Technikern oder Behördenleuten sind etliche wegen der folgenden Kriegsnöte gar nicht erst wieder in ihre heimatlichen Großstädte gezogen.
Deutlicher in Erinnerung ist mir geblieben, dass man mit den riesigen anfallenden Erdmassen nicht