Tote zahlen nicht: Kriminalroman
Von Mariana Richter und Hans Christian Brook
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Über dieses E-Book
Das „Bistro am Markt“ bietet südfranzösische Küche; nicht unbedingt das, was man in dem kleinen Städtchen Kirchberg vermutet. Da ist es erst recht nicht gut fürs Geschäft, wenn sich ein Gast das Leben nimmt. Kurze Zeit später tauchen zwei dubiose Botschaftsangehörige im Lokal auf, die sich intensiv umsehen. Eine tot geglaubte Sängerin tritt plötzlich in Erscheinung. Und es gibt das Urlauberpärchen mit ostdeutschem Akzent, das vermutlich nicht nur der guten Küche wegen neuerdings Stammgast ist. Ihr schönes Bistro in den Fängen der Russenmafia? Das hat gerade noch gefehlt! Wirtin Viola Burowski und Freund Valentin Korbbinder wollen mehr über die Hintergründe erfahren. Alle Fäden scheinen in der zentralasiatischen Republik Abusistan zusammenzulaufen. Dann wird ein vermisster Kaufmann erdrosselt aufgefunden. Jetzt ist Kriminalkommissarin Carola Wald-Svendsen gefragt.
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Buchvorschau
Tote zahlen nicht - Mariana Richter
Erinnerung
Sonntagnachmittag
Es stank nach Gülle. Schon den ganzen Tag. Viola Burowski beschloss enttäuscht, dass es sich trotz des schönen spätsommerlichen Wetters nicht lohnte, die Stühle vor ihrem Lokal aufzustellen. Erst in diesem Frühjahr hatte sie das ehemalige „Gasthaus zur Quelle am Kirchberger Marktplatz übernommen, in das Lokal viel Eifer, Farbe und Geld investiert und es als „Bistro am Markt
wiedereröffnet. Sie war immer noch stolz auf ihr Werk und fand, dass es gut in das schöne alte Haus an der Schauseite des etwas verschlafenen Hunsrück-Städtchens passte. Viele Stunden hatte sie an ihrer alten Nähmaschine gesessen und die Stoffe mit den bunten provenzalischen Mustern zu Vorhängen, Tischdecken und Stuhlkissen verarbeitet.
Das „Bistro am Markt bot südfranzösische Spezialitäten an, die von „Bomme
zubereitet wurden, dem Koch Bernd Mahlmann mit der sehr kompakten Figur. Viola hatte ihn vom alten Lokal übernommen. Schon lange hatte Bomme von einer guten mediterranen Küche geträumt und überraschte sie immer wieder mit neuen Gerichten nach ausgefallenen Rezepten. Bisher hatte sich noch nicht recht herumgesprochen, um was für eine kulinarische Attraktion Kirchberg damit reicher geworden war. Oft mussten sie den größten Teil von Bommes Köstlichkeiten selbst essen. Viola befürchtete, dass eines nicht allzu fernen Tages ihr Konto das einzig Schlanke an ihr bleiben würde.
Die meisten Gäste fragten immer noch nach Spießbraten, Schnitzel mit Pommes und all den anderen gewohnten Gerichten. Viola kannte diese Vorlieben – sie hatte lange genug in der „Quelle" gekellnert. Wenn die Stammgäste bei ihr nicht so bedient wurden, wie sie es gewohnt waren, dann würden sie in die anderen Gasthäuser ausweichen. Verzeichneten diese nicht sogar schon Umsatzsteigerungen?
Außerdem hatte die Konkurrenz Schankbetrieb. Aber Viola meinte bestimmt und entschieden: „Ich bin doch nicht auf ’n Hunsrück gekommen, um in ’ner Kneipe hinterm Tresen zu stehen! Dit hätt ick in Köpenick an jeder Ecke jekonnt!"
Auch nach fast achtzehn Jahren auf dem Hunsrück war ihr Ost-Berliner Tonfall immer noch unverkennbar, vor allem, wenn sie etwas auf den Punkt bringen wollte – und das tat sie oft, rasch und ungebeten, was ihr als Schülerin und Studentin in der DDR mehrfach Schwierigkeiten eingebracht hatte. Nach vier Semestern war sie wegen wiederholten staatskritischen Verhaltens gezwungen worden, ihr Architekturstudium abzubrechen. Danach hatte sie einige Jahre als technische Zeichnerin in einem Betrieb gearbeitet, der die Wende nicht überlebte. Also nahm sie eine Stelle als Kellnerin an, da ihr das Geld fehlte, ihr Studium fortzusetzen, und sie die erlittene Kränkung noch nicht verwunden hatte. Eines Abends, während sie vor dem Lokal in der Köpenicker Altstadt die Menütafel beschriftete, hörte sie hinter sich eine Stimme: „Wenn die Gulaschsuppe so lecker schmeckt wie die Bedienung aussieht, dann habe ich heute das große Los gezogen!"
Sie drehte sich um, musterte den jungen Mann neugierig und meinte lachend: „Die Suppe ist zu haben, die Bedienung nicht!"
Er erwiderte selbstbewusst: „Dann fange ich mit der Suppe an!"
Und wirklich blieb es nicht bei der Suppe. Jürgen kam jeden Tag zum Essen. Sie erfuhr, dass er aus Simmern war und den Auftrag hatte, die Köpenicker Verwaltung auf westlichen Standard zu bringen. Sicher war er dabei erfolgreich – wie in allem, was er sich vornahm. Viola fand nicht nur seine bernsteinfarbenen Augen sehr überzeugend und folgte ihm, als er zurück nach Simmern versetzt wurde. Mittlerweile war sie im dritten Monat schwanger.
Einer seiner alten Freunde, die sie in Simmern kennenlernte, meinte einmal beiläufig: „Der Jürgen kriegt immer, was er will! Viola musste sich eingestehen, dass genau diese Eigenschaft sie an ihm fasziniert hatte. Nachdem Jürgen nun auch sie bekommen hatte, wandte er sein Interesse anderem zu. Viola fühlte sich auf dem Hunsrück zusehends verloren. Daran änderte auch die Geburt ihrer Tochter Julienne nur wenig. Nach langem Hin und Her trennte sie sich von Jürgen, zog mit Julienne nach Kirchberg und arbeitete wieder als Kellnerin. Die Gäste und die Inhaberin der „Quelle
schlossen die neue Bedienung mit den langen rotblonden Locken und den oft schalkhaft blitzenden Augen rasch in ihr Herz. So blieb sie in dem Gasthaus und übernahm es, als ihre Chefin sich zur Ruhe setzte und zur Tochter nach Wiesbaden zog.
Unwillig schüttelte Viola den Kopf, als sie feststellte, was sie gerade auf die Menütafel ihres Lokals geschrieben hatte, wischte „Gulaschsuppe" wieder aus und schrieb stattdessen:
„Provenzalische Tomatensuppe
Lammragout
Crudités".
Dann schaute sie auf die Wanduhr. In zwei Stunden erwartete sie die „Powerfrauen Hunsrück. Die Frauenfitnessgruppe wollte nach einer längeren Wanderung den Tag im „Bistro am Markt
ausklingen lassen. Viola freute sich auf die Frauen, die schon in der „Quelle" gerne wiederkehrende Gäste gewesen waren. Außerdem war sie froh über diese Reservierung: Der Sonntag war ihr umsatzschwächster Tag, so dass sie das Lokal inzwischen am Wochenende nur noch abends öffnete. Bomme war schon seit einer Stunde damit beschäftigt, Salat zu waschen und Gemüse zu putzen. Viola überlegte oft, wen sie ihm als Küchenhilfe an die Seite stellen konnte – aber umsonst wäre nicht einmal Julienne dazu bereit und Viola konnte schon Irina, ihre Aushilfsbedienung, kaum bezahlen. An diesem Abend bediente sie allein.
Sie ging in den hinteren Gastraum, schob die Tische zu einer langen Tafel zusammen und breitete ihre Tischdecken vor sich aus. Welche sollte sie nehmen: die dunkelrote mit den kleinen goldenen französischen Lilien, umrandet von Blumen- und Paisleymustern? Oder lieber die azurblaue mit den Zitronen? Sie entschied sich für die große orangegelbe mit den Sonnenblumen. Schon lange träumte sie davon, das leicht angeschlagene weiße Gasthausgeschirr durch ein passenderes Service zu ersetzen. Bisher hatte es nur zu einer weißen Servierplatte mit blauen Pflanzen- und Blumenranken gereicht. Diese war das Schmuckstück der Eckvitrine, die Viola im Frühjahr ertrödelt und wieder zurechtgemacht hatte. Seufzend deckte sie den Tisch. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie sich das zur Servierplatte passende Geschirr und eine Küchenhilfe leisten konnte.
Unbekümmertes Summen aus der großen Gaststube holte sie in die Realität zurück. Dieses Geräusch war ihr vertraut: Valentin Korbbinder scherte sich nur wenig darum, was seine Umgebung von ihm denken mochte. Der nicht mehr ganz junge und seit Jahren geschiedene Musiker, den Julienne und Viola manchmal liebevoll „Körbchen" nannten, war einer ihrer wenigen regelmäßigen Gäste. Seit Bomme südfranzösisch kochte, kam er noch häufiger. Er unterrichtete an verschiedenen Schulen Musik und privat Klavier und Klarinette. Julienne lernte bei ihm Keyboard. Gelegentlich schrieb er für musikalische Fachzeitschriften und spielte vertretungsweise die Orgel in den Dorfkirchen der Umgebung, lieber jedoch Jazz mit Freunden. Seit bald dreißig Jahren schrieb er an der bedeutendsten Sinfonie des späten 20. (jetzt des frühen 21.) Jahrhunderts.
In der Tür erschien ein schmales unrasiertes Gesicht, umgeben von halblangen Haaren. Kurzsichtige braune Augen schauten fragend über den Rand einer Nickelbrille. Viola unterdrückte ein Lachen: „Mensch, kiek nich so, hier jib’s heute nur Salat! Gleich kommen die Powerfrauen, die achten auf schlanke Linie."
Valentin nickte langsam, rührte sich aber nicht vom Fleck.
„Von Salat werde ich nicht satt, stellte er fest. „Bomme hat bestimmt auch noch was anderes. Ich geh mal gucken. Das Knoblauchhühnchen neulich war echt lecker! Für ’nen Stammgast wie mich könnt ihr euch ja mal ’n bisschen ins Zeug legen.
Viola lachte: „Für Stammgäste gibt’s heute Lammragout. Dazu einen Côte du Rhône?"
Valentin Korbbinder nickte erneut und schlenderte zu dem Tisch in der Ecke links gegenüber vom Eingang, an dem er immer saß. Erneutes leises Summen zeigte Viola an, dass der bedeutenden Sinfonie offenbar gerade ein Motiv hinzugefügt wurde. Die Aussicht auf Lammragout schien Valentin zu inspirieren. Auf dem Weg blieb er an der Menütafel stehen und bat: „Bringst du mir vorher noch eine Tomatensuppe? Und etwas frisches Baguette?"
Nach einer Weile trat der Koch mit einem dampfenden Teller an Valentins Tisch. „Hier, probier mal. Tomatensuppe provençale. Guten Appetit!"
Wortlos nippte der Musiker an seinem Rotwein, tunkte etwas Baguette in die heiße Suppe und schloss genießerisch die Augen. Bomme ging lächelnd zurück in die Küche.
Kurz darauf brachte Viola das Lammragout und setzte sich einen Moment an Valentins Tisch. Er hatte wieder angefangen zu summen.
„Neues Motiv für deine Sinfonie oder Hymne auf ein gutes Essen?", erkundigte sie sich interessiert.
„Beides, erwiderte Valentin. „Die Suppe, das Ragout und der Wein stehen in schönstem A-Dur!
„Uraufführung nächstes Wochenende im ,Bistro am Markt‘? Viola hatte Valentin schon mehrmals gebeten, zusammen mit einigen Freunden Live-Musik zu machen. Bisher war es jedoch bei der Idee geblieben, weil Valentin immer noch seiner Studentenzeit in Köln und der dortigen Musikszene nachtrauerte. Er schaute sie an und sagte: „Jetzt gehen wir das wirklich an. Versprochen!
Die Tür öffnete sich und ein weiterer Gast betrat den Raum. Viola betrachtete den Mann neugierig und erstaunt; ihrer Vorstellung nach hätte er eher in ein Lokal in Monte Carlo gepasst. Mit seinem Aussehen und seiner Erscheinung wirkte er wie ein Double von George Clooney. Er trug einen Sakko über dem offenen Hemd und Jeans. An seiner rechten Hand fiel ihr ein großer kostbarer Goldring mit dunkelblauem Stein auf. Der Fremde schaute sich im Raum um und Viola hatte den Eindruck, dass er einen Platz suchte, an dem er möglichst ungestört sein konnte. Er entschied sich schließlich für den Tisch hinten rechts in der Ecke. Viola trat zu ihm.
„Schönen guten Abend! Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen? Und die Karte?"
Der Fremde zögerte.
„Ja … Äh … Ein Glas Wasser, bitte. Ja, und die Karte. Ich … Ich weiß noch nicht, was ich esse. Ich gucke in Ruhe."
Überrascht vernahm Viola den vertrauten Tonfall des Berliner Ostens. Gerne hätte sie ihn darauf angesprochen und ihn gefragt, was ihn nach Kirchberg verschlug. Doch es war offensichtlich, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Sie brachte ihm das gewünschte Glas Wasser und die Speisekarte.
„Bitte sehr! Suchen Sie sich in Ruhe etwas aus. Als Tagesgericht kann ich unser Lammragout empfehlen sowie eine provenzalische Tomatensuppe. Wir haben heute Abend auch einiges an Salat, mehr als in der Karte steht. Wenn Sie etwas Bestimmtes möchten: Ich bin im Nebenraum beim Eindecken. Rufen Sie einfach, wenn Sie so weit sind!"
Der Fremde murmelte etwas Unverständliches und Viola ging zurück in den Nebenraum, um die unterbrochene Arbeit fortzusetzen.
Hab ich zu viel geredet?, fragte sich Viola. Der unbekannte Gast hatte etwas merkwürdig Schillerndes an sich, das sie unsicher hatte drauflos plappern lassen. Egal. In anderthalb Stunden würden die Powerfrauen kommen. Bis dahin hatte sie noch eine Menge zu tun.
Sie legte das Besteck neben die Teller. Nach einer Weile hörte sie Valentin zur Toilette gehen. Kurz darauf glaubte sie ein Stöhnen aus der Gaststube zu vernehmen und hob den Kopf. Sie wollte gerade nachschauen, als sie ein Glas auf den Fußboden fallen hörte. Gleichzeitig gab es ein dumpfes Geräusch. Sie ließ die Serviette los, die sie gerade falten wollte, und stürmte in den vorderen Gastraum. Bomme und Valentin mussten das Geräusch ebenfalls bemerkt haben und kamen aus Küche und Toilette gelaufen. Der Fremde hing reglos auf dem Stuhl. Sein Kopf war auf die Tischplatte aufgeschlagen.
Bomme fasste den Mann an der Schulter und wollte ihn aufrichten.
„Verdammt, der ist tot! Er schnüffelte. „Hier stinkt’s nach Bittermandel!
Auch Viola und Valentin traten näher heran und schauten entgeistert auf den Toten, dessen rechte Hand schlaff herabhing. Der Stein seines Rings war jetzt zur Seite weggeklappt. Das Geheimfach, das er verborgen hatte, war leer.
Plötzlich sagte Viola bestimmt: „Also, Leute, hier kann der nicht bleiben! Gleich kommen die Powerfrauen! Wenn wir jetzt die Bullen rufen, denn isset aus und vorbei, dann kann ick mir den Abend hier von der Backe putzen und alle weiteren auch! Wer geht schon in ’n Lokal, in dem die Gäste einfach auf ’n Tisch kippen und dit war ’t denn!"
In ihrer Stimme lag eine Mischung aus Panik und Entschlossenheit. Sie schaute in die Runde und begegnete Valentins nachdenklichem und Bommes hilflosem Blick, dann sah sie zur Eingangstür hinüber.
„Mensch, kiekt nich so dusselig, überlegt lieber, wo wir den jetzt hinschaffen!"
Bomme meinte: „Ich mach mal lieber das Fenster auf!"
„Damit jeder rinkiekt?! Außerdem stinkt es draußen auch!"
„Aber der Gestank muss raus!, widersprach Bomme in plötzlich festem Tonfall. „Lieber Gülle als Zyankali.
„Gute Mischung, murmelte Valentin. Dann schlug er vor: „Aufs Klo.
„Wie, musste schon wieder pullern? Kommst doch gerade von da!"
„Quatsch. Der Typ! Wir schaffen ihn aufs Klo! Komm, Bomme, pack mal mit an!"
„Warte!", sagte Bomme und holte Einweghandschuhe aus der Küche.
„Mensch, Bomme, du