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Suppenbrunzer: Niederbayern Krimi
Suppenbrunzer: Niederbayern Krimi
Suppenbrunzer: Niederbayern Krimi
eBook419 Seiten3 Stunden

Suppenbrunzer: Niederbayern Krimi

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Über dieses E-Book

Aufrüttelnd, erbarmungslos und ungewöhnlich – ein Kriminalroman, der noch lange nachhallt

Sophia Alvarez von der Münchner Mordkommission wird in den Bayerischen Wald strafversetzt. Ausgerechnet! Denn dort kommt sie her, dorthin wollte sie nie wieder zurück. Kaum hat sie einen Fuß in die Provinz gesetzt, ereignet sich ein Unglück, das die dörfliche Gemeinschaft ins Wanken bringt: Ein junges Mädchen geht an Pfingsten in Flammen auf. Ein spektakulärer Suizid? Oder war es Mord? Sophia ermittelt gegen den Willen ihrer Vorgesetzten – und muss sich auch ihrer eigenen Vergangenheit stellen ...
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum18. Apr. 2019
ISBN9783960414803
Suppenbrunzer: Niederbayern Krimi

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    Buchvorschau

    Suppenbrunzer - Nicole Lingen

    Nicole Lingen studierte nach dem Abitur in München Sprachen und arbeitete als freie Journalistin. Über ein Stipendium der Filmhochschule München kam sie zum Drehbuch. Fünfundzwanzig Fernsehfilme und noch einmal so viele Folgen verschiedener Serien stammen aus ihrer Feder. Für die Familienserie »Racko – ein Hund für alle Fälle«, die 2019 ausgestrahlt wird, hat Nicole Lingen nicht nur Drehbücher geschrieben, sondern ist auch als Headautorin verantwortlich.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

    © 2019 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/Stefan Kiefer

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

    Umsetzung: Tobias Doetsch

    Lektorat: Carlos Westerkamp

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-480-3

    Niederbayern Krimi

    Originalausgabe

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    www.emons-verlag.de

    Für Edith

    Wie oft sah ich die blassen Hände nähen,

    ein Stück für mich – wie liebevoll du sorgtest!

    Ich sah zum Himmel deine Augen flehen,

    ein Wunsch für mich – wie liebevoll du sorgtest!

    Und an mein Bett kamst du mit leisen Zehen,

    ein Schutz für mich – wie sorgenvoll du horchtest!

    Detlev von Liliencron

    und

    Manfred

    1

    Das letzte Licht erlosch, und das Bauernhaus lag im Dunkeln. Endlich. Aber er wartete noch. Wollte sichergehen. Den ganzen Tag über hatte es geregnet. Der Boden war nass, schlammig und voller Pfützen. Ein Waldkauz schrie. Irgendwo blökte eine Kuh. Sonst war es still. Die Art von Stille, in der das eigene Atmen laut wird. Sein Atmen war jedoch eher ein Keuchen. Die lange Holzleiter, die er vom Schuppen hinüber zum Haus schleppte, war verdammt schwer.

    Geschafft. Dort oben im ersten Stock war ihr Fenster. Er lehnte die Leiter gegen die Mauer. Sein Puls raste, sein Herz trommelte so heftig gegen die Brust, als wollte es herausspringen, direkt in ihre Arme, sie, die um diese Uhrzeit sicher schon selig schlief. »Fensterln« nannte man das, was er vorhatte. Des Fensterln war früher a Brauch, wo die junga Burschn bei der Nacht zu de Deandln ganga san, hatte Pfarrer Neuhaus erst kürzlich einer Touristin erklärt. Heut aber san die Zeiten a scho wieda vorbei. Schad eigentlich. Der Herr Pfarrer mit seinem Blaulicht auf dem alten VW-Käfer, wenn er wieder einmal für eine Krankensalbung viel zu spät dran war. Nicht dass der mir no mit seiner ganzen Sünd im Rucksack davostirbt!

    Er schüttelte sich bei dem Gedanken an den Pfarrer, der ihn im Beichtstuhl immer danach fragte, ob er unkeusch gewesen sei. Mit diesem seltsam gierigen Unterton. Schmutzige Worte erreichten direkt das Lustzentrum im Gehirn, hatte er gegoogelt und es bei der anderen versucht, die jetzt nicht mehr da war. »Fick mich«, hatte er sich ausprobiert, obwohl ihm schon allein vom Aussprechen der beiden Worte speiübel geworden war. Er hasste diese Art von Sprache. Aber – es hatte funktioniert. Sie war dazu bereit gewesen. Er nicht. Und dann wollte sie auch noch davonrennen. Vor ihm. Dabei war er nicht so wie die anderen, die sie ständig enttäuscht hatten. ER hätte sie auf Händen getragen …

    Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name … Die Worte rasten durch sein Gehirn, es gelang ihm nicht, sie zu stoppen. Er musste wieder an den Pfarrer denken. Er grinste. Weil den hatte er im Griff. Schwindelte bei ihm immer a bisserl vor sich hin. Wenn er schon auf so was stand. Manchmal allerdings übertrieb er, und der Pfarrer, der ihm gegenübersaß, wurde kreidebleich. Die Rosenkränze und die vielen Gegrüßet-seist-du-Maria als auferlegte Buße ersparte er sich allerdings. Es gab nichts zu bereuen und auch nichts, um es wiedergutzumachen. Er war ein braver Junge. So brav.

    Er setzte den Fuß auf die erste Sprosse, hielt inne, zog ihn wieder zurück. Legte sich stattdessen ins Gras. Die Nässe kroch durch sein T-Shirt und die viel zu dünne Hose. Er spürte sie nicht. Verschränkte die Arme unter dem Hinterkopf. Ließ ihr Fenster nicht aus den Augen. War mit der Phantasie ganz bei ihr. Wie sie jetzt wohl dalag? Unter dem Laken. Nackt. Eine Brust entblößt. Er wollte an ihren Brustwarzen saugen. Die Milch heraussaugen, die sie nicht hatte. Die auch an der anderen Brust, an der er gesaugt hatte, irgendwann versiegt war. Mit dem Finger wollte er über die sanfte Wölbung ihres Busens streichen, sich in ihrer Achsel verkriechen, betäubt werden von ihrem Duft, dieser wunderbaren Mischung aus Honig, Schweiß und Unschuld. Wollte ihn in sich aufsaugen, mit der Zunge lecken, ihn wie Schnupftabak in die Nase schniefen, so weit hinein ins Gehirn, dass es vor Begierde explodierte und er nicht mehr denken musste und denken und … Durch jede Pore wollte er sie in sich aufnehmen, bis auch die letzte Zelle trunken war – von ihr. Allein schon bei der Vorstellung fühlte er sich lebendig.

    Endlich Mann sein.

    Er atmete die Nacht ein und … ihm wurde übel. Er sprang auf. Übergab sich. Und es war, als erlösche mit dem Erbrochenen auch das Feuer, das er zumindest einen Augenblick lang zwischen den Lenden gespürt hatte. Der Sound der Sonntagspredigt war in seinem Ohr. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Ohne vorher kremiert worden zu sein wie sein Onkel, der nach dem Schweinsbraten mit einem seligen Seufzer vom Stuhl gefallen war. Herzinfarkt mit sechzig. Sie hatten ihn verbrennen lassen, und er war der Einzige in der Familie gewesen, der hatte dabei sein wollen. Feuer faszinierte ihn und was es mit dem Körper machte.

    Die Leiter war noch da.

    Er nahm nun doch Sprosse um Sprosse. Die Nässe klebte an ihm, ob vom feuchten Gras oder vom Schweiß. Egal. Er erreichte ihr Fenster. Sie lag da. Im Licht des Mondes, der das schwarze Wolkengeflecht mit aller Kraft auseinanderstemmte, um den Blick freizugeben auf – sie. Sie war nackt und wunderschön. Das lange weizenblonde Haar wie ein Heiligenschein um ihr zartes Gesicht. Das Handy in seiner Hosentasche. Ein Foto machen. Auf diese Weise diesen kostbaren Moment für immer festhalten. Er steckte das Handy wieder ein. Von nun an würde sie ihm wie die anderen zur Verfügung stehen, wenn er sie brauchte. Dabei fiel ihm ein, was der Bestatter noch gesagt hatte, als er sich von ihm den Verbrennungsvorgang bis ins letzte Detail hatte erklären lassen: »G’sunde brennen besser als Kranke und Frauen besser als Männer.«

    Er blieb bei ihr, bis sich in der Fensterscheibe, die sie trennte, die Morgensonne verfing und sie mit ihren Strahlen umarmte. Aufglühen und gleichzeitiges Verglühen. Einmal nur aufleuchten wie die Sonne und damit alles Unansehnliche zerstören. Asche zu Asche. Frauen brennen besser als Männer. Staub zu Staub. Sprosse um Sprosse kletterte er wieder hinunter. Stellte die Leiter zurück und verschwand ebenso leise, wie er gekommen war.

    2

    Der Teufel. Jedes Mal wenn Sophia, Hauptkommissarin im Dezernat 11 der Münchner Mordkommission, die Frauenkirche durch das Hauptportal betrat, hatte sie ihn vor Augen. Klein, schwarz und mit langem Schwanz. Es war eine fast kindliche Vorstellung, die sie noch immer von dem dunklen Gesellen hatte. Sie stellte sich vor, wie der Teufel ebenso wie sie jedes Mal aufs Neue verwundert war über die klare, strenge Gliederung des spätgotischen Kirchenschiffs. Er, der fest entschlossen gewesen war, das Gotteshaus zu zerstören. So zumindest die Sage, die sich aufgrund eines schwarzen Fußabdrucks auf dem grün-blau-rötlichen Rautenboden aus Stein über die Jahrhunderte hinweg gehalten hatte. Es gab nur einen Grund, weshalb der Teufel von seinem Vorhaben abließ, so die Sage weiter, und der war, dass von seiner Perspektive aus kein einziges Fenster zu sehen gewesen war. Überzeugt davon, dass niemand bereit sein würde, in einer Kirche ohne Fenster zu beten, stampfte der Teufel vor Freude auf, hinterließ den besagten schwarzen Fußabdruck und fuhr, zufrieden darüber, dass sich alles wie von selbst regelte, zurück in sein nie erlöschendes Höllenfeuer.

    Wäre er nur ein paar Schritte weitergegangen, auch das überlegte Sophia gelegentlich, hätte er die Schönheit der mit bunten Glasfragmenten geschmückten Fenster ebenso wahrgenommen wie sie. Vielleicht war das die Botschaft. Dass es gelegentlich nur ein paar Schritte mehr brauchte, aus der Dunkelheit ins Licht, um das Fenster zu sehen und mit dem Fenster den Ausweg aus Zorn, Hass, zügelloser Begierde oder Verzweiflung. Vielleicht gäbe es dann weniger Totschlag, Mord, schwere Körperverletzung und Terror. So aber blieb dem Teufel, nachdem er seinen Fehler erkannt hatte, nichts anderes übrig, als rasend vor Zorn um die Zwiebeltürme des Doms zu Unserer Lieben Frau zu blasen und zu stürmen, weil nach der Weihe die Kirche für ihn unantastbar geworden war. Er stürmte und blies weiter durch die Augustinerstraße, über die Löwengrube und dann wieder andersherum, Richtung Neuhauser Straße, aber immer bis hinein ins Münchner Polizeipräsidium in der Ettstraße, wo das Teuflische nicht selten mit in der Vernehmung saß. Das Böse, das jeden Menschen, einschließlich sie selbst, davon war Sophia überzeugt, zum Mörder machen konnte.

    »Und dann sagen die Atheisten, dass es nix gibt.«

    Sophia war so in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, obwohl der Mann hinter ihr leise gesprochen, ja fast geflüstert hatte. Wie schreckhaft sie geworden war. Ständig in Habachtstellung, verwundbar wie ein Schmetterling. Wenn du in Gefahr bist, spürst du es nicht, es ist nur wie ein Windhauch, der dein Haar streift. Eine Frau hatte es zu ihr gesagt. Eine Joggerin, die im Englischen Garten angegriffen, vergewaltigt und schwer verletzt worden war. Jetzt fiel Sophia der Satz wieder ein. Sie ignorierte den Mann, sah sich nicht einmal nach ihm um, machte einen Knicks, bekreuzigte sich und schob sich rasch in die Enge einer Kirchenbank. Sie barg das Gesicht in den Händen. Nicht nur als Zeichen, dass sie nicht angesprochen werden wollte, sie versuchte sich auf diese Weise auch etwas zu entspannen. Doch all ihre Sinne blieben auf Alarm. In letzter Zeit brauchte es nicht viel, und alles in ihr geriet außer Kontrolle.

    Sie hörte, wie er sich neben sie setzte. Ein unangenehmer Geruch ging von ihm aus. Sie verkroch sich noch tiefer in die Hände. Sprich mich nicht an. Lass mich in Ruhe.

    »Dabei gibt es was.« Er sprach sie an. »Ich bin ganz sicher, dass es was gibt.«

    Sie spürte, wie sich ihre langen, rot lackierten Fingernägel in die Stirn bohrten, hinter der es jetzt zu toben anfing. Am liebsten hätte sie mit dem Kopf auf die Kirchenbank ge-, den Schädel aufgeschlagen wie ein rohes Ei. Raus mit dem ganzen Zeug, alles raus. Raus, raus, raus, raus! Dieses ständige Atmosphärewittern. Dieses Sich-in-Menschen-hineinfühlen-Können. Manchmal wusste sie nicht einmal mehr, wo der andere aufhörte und sie anfing. Sie wollte endlich wieder nur ICH sein.

    Der faule Geruch. Jetzt wusste sie, woran er sie erinnerte. An Azeton, möglicherweise ein Hinweis auf eine entgleiste Diabetes.

    »Geht es Ihnen nicht gut?« Er rückte noch näher an sie heran.

    »Halten Sie doch endlich den Mund!« Es platzte aus ihr heraus, ehe sie sich zurückhalten konnte. Die Hände glitten von ihren Augen, und sie sah ihn zum ersten Mal an. Im Gegensatz zu seiner Stimme war er alt. »Tut mir leid.«

    Er deutete auf ihre Stirn. »Sie sind da ganz rot. Nicht von Ihrem wunderschönen Nagellack, ich glaub, da ist sogar ein bisschen Blut.« Er zog das Einstecktuch aus seinem teuer aussehenden Jackett, spuckte darauf, wollte ihr die Stirn abtupfen.

    Sie zuckte zurück. »Danke, aber es geht schon.«

    Er sagte nichts, schien über ihr Zurückweichen enttäuscht. Sophia sah ihn sich jetzt näher an, so wie sie sich alles näher ansah, was irgendwie von Bedeutung zu sein schien. Er war um die achtzig, nicht nur der Anzug, auch die Krawatte war von edlem Design, das weiße Haar zu lang und ungepflegt wie die buschigen Augenbrauen. Offenbar gab es niemanden, der ihn darauf hinwies oder alles ein wenig zurechtstutzte. Was sie aber am meisten an ihm fesselte, war der Ausdruck seiner Augen. Wie von Menschen, die nach einem Endlosverhör, nach unzähligen Lügen, Beschönigungen und Verharmlosungen endlich gestanden. Ja, ich war’s. Ich war’s. Ich war’s. Es war dieser kleine, kaum wahrnehmbare Moment, in dem sie erkannte, dass sie so weit waren oder nicht mehr konnten, dass sie ihre Tat – jetzt – zugeben würden. Sie nannte diesen Moment »Abschied im Blick«. Dieses Begreifen, dass das Leben, so wie er oder sie es gekannt hatte, für immer vorbei war. Ein Mord veränderte alles. Den Menschen und das Sein. Zu töten machte einsam.

    »Wenn es nix gäbe da oben«, der alte Mann hatte sich offenbar von seiner Enttäuschung erholt, »also wenn es danach, wenn’s vorbei ist mit uns, nur dunkel wäre, dann gäbe es doch nicht diese Vollkommenheit, diese Pracht. Das schafft kein Mensch allein. Das hat was Göttliches.«

    Sophia tat ihm den Gefallen, legte den Kopf ebenfalls in den Nacken, wobei die Wirbel wie Kieselsteine knirschten, auf die jemand getreten war. Sie benötigte dringend eine Massage. Nur wann?

    Aus dieser Perspektive hatte sie die Frauenkirche schon lange nicht mehr betrachtet. Sie nahm wahr, dass sich die in zartem Ocker gehaltene Decke über ihnen wie ein Stern wölbte. Bunte Konsolfigürchen blickten auf sie herab und schnitten – alles andere als heilig – Fratzen. Der alte Mann senkte wieder den Kopf, sah Sophia beschwörend an, die den Kopf ebenfalls wieder in die richtige Position rückte, und fuhr in sakralem Tonfall fort: »Schauen Sie sich doch die Gemälde an. Unser Herr Jesus in seinem unsagbaren Schmerz, und da vorn«, er deutete auf den Altarbereich und hauchte: »unsere Maria Immaculata …«

    »Die unbefleckte Empfängnis.« Sie wusste nicht, warum, fast gegen ihren Willen hatte ihre Stimme diesen ironischen Unterton, wie immer, wenn sie etwas als zu dick aufgetragen empfand. Die deutsche Seite in ihr sorgte für die Nüchternheit ihrer Gedanken. »Was ich sagen will, die katholische Kirche übertreibt.«

    Er lächelte warm. »Schon Adalbert Stifter hat gesagt, das Mutterherz ist der schönste und unverlierbarste Platz des Sohnes, selbst wenn er schon graue Haare trägt. Und jeder hat im ganzen Weltall nur ein einziges solches Herz.«

    »Die Mutter ist keine heilige Kuh.« Wieder geriet sie außer Kontrolle, ohne zu wissen, warum. Sie fauchte ihn an: »Eine Mutter ist oft eine ganz schön arme Sau!«

    Ein verächtlicher Blick. Der alte Mann stand auf und verließ die Kirche ohne ein weiteres Wort, aber mit einem heftigen Zuschlagen des Kirchenportals, sodass Sophia schon fürchtete, die sich am Kielbogen des Portals festkrallenden Krabben verlören ihren Halt, knallten ihm direkt auf den Kopf und er würde somit noch vor seiner Zeit aus dem Leben scheiden. Das war die portugiesische Seite in ihr – die Phantasie.

    Sie stand ebenfalls auf, warf der unbefleckten Maria, die allen Müttern diesen Scheißruf eingebracht hatte, nicht menschlich, sondern überirdisch zu sein, ebenfalls den Blick des Abschieds zu, fragte sich gleichzeitig, ob wenigstens die Geburt von Jesus Christus für sie schmerzhaft gewesen war, und beschloss, dass sie selbst genug Kraft getankt hatte. Es war an der Zeit, ins Präsidium zurückzukehren. Das Kirchenportal schlug nun auch hinter ihr zu.

    3

    Das Kirchenportal zur Wallfahrtskirche Maria Himmelfahrt, die auf dem Bogenberg hockte, als gehöre die ganze Donaulandschaft ihr, quietschte in den Angeln. Es erinnerte ihn an das Geräusch an einer Regenrinne entlangkratzender Fingernägel. Er und die Nachbarskinder hatten einander damit geärgert, ebenso wie sie Stefan mit einem aufgeblasenen Luftballon gejagt hatten, bis er nicht mehr weiterkonnte und um Gnade winselte. Stefan hatte Angst vor Luftballons gehabt. War er ungehorsam gewesen, hatte seine Mutter den Luftballon direkt neben seinem Ohr platzen lassen. Irgendwann waren Stefan und seine Familie weggezogen. Stefan hatte nichts zurückgelassen außer vielleicht ein schlechtes Gewissen.

    Er lächelte. Seine Mutter war fürsorglich und zärtlich. In dieser Hinsicht hatte er wirklich Glück. Nie hätte sie ihm auch nur annähernd so etwas angetan. Wieder dieses Quietschen. Aber diesmal hatte er Vaseline mitgebracht. Seine Mutter bewahrte sie im Badezimmerschrank auf. Er würde sie ihr ersetzen müssen.

    Doch die Tür war zu schwer, um sie auch nur einen Millimeter aus ihren Angeln zu heben. Er stellte den Cremetopf achtlos zur Seite und konzentrierte sich stattdessen auf die Steinplatte, die sich im Vorraum des nördlichen Seitenportals der Kirche befand. Sie faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue.

    HaeC seDes Del parae InsIgnIs (1104)

    Schon trug im Jahr Eilfhundert wier

    Der Donau Fluth mit Gottes Segen

    Dein Bild, Maria uns entgegen.

    In seiner Schloßkappelle hier

    Hat Aswin, Bogens frommer Held

    Es Dir zur Ehre ausgestellt.

    Die Verszeilen sagten aus, dass im Jahre 1104 eine Steinmadonna gegen den Donaustrom schwamm und am Marienfelsen bei Pogana, dem heutigen Bogen, landete. Die zart und reinigsten Jungfrau und Mutter Gottes Mariae, wie es weiter hieß. Er verehrte sie. Die Reinheit der Gottesmutter. Betete sie an. Fing an zu beten. Betete für die Menschen, die ihre Verzweiflung und Not herausschreien wollten, jedoch stumm waren. Er verfluchte gleichzeitig diesen Gott, der sein eigenes Leben über ihre Wunden und Seelennarben gelegt hatte, sodass sie nicht mehr gesehen wurden. Er glaubte nicht an das, was der Pfarrer predigte: Das Kreuz heile den Menschen, befreie ihn, Gottes Tod inmitten der Welt stelle den Menschen wieder in die Mitte der Welt.

    Er – glaubte nur noch an sich.

    Er – betete nur noch für sich.

    Und für seinen Onkel. Für ihn zündete er auch eine Kerze an. Langsam zog er den Zeigefinger der rechten Hand durch die Flamme. Brandopfer als Sühne. Der schamvolle Körper verbrennt. Die Seele wird frei. Er zog den Finger zurück. Er war schwarz. Es hatte nicht einmal wehgetan. Fast war er darüber enttäuscht, denn ohne Schmerz, auch das predigte der Pfarrer, ohne Schmerz gab es keine Erlösung.

    Er fühlte Wut in sich aufsteigen, holte tief Luft, blies alle Kerzen, die Gläubige für ihre Verstorbenen und Lebenden angezündet hatten, mit einem Mal aus, stürzte aus der Kirche. Glockengeläut, weit über das Tal, bis hinein in die ewige, alles verbrennende Sonne. Er lief noch schneller, sah den Pfarrer, der ihm den steilen Weg vom Parkplatz entgegenschnaufte. Er stoppte, duckte sich rasch hinter einen Grabstein.

    ***

    Der Pfarrer betrat die Kirche und wunderte sich, dass alle Kerzen gleichzeitig verlöscht, jedoch nicht abgebrannt waren. Er sah sich um, fand die Vaseline, war mit einem für seine Korpulenz ungewöhnlich schnellen Satz beim Beichtstuhl, riss ihn auf, nichts. Suchte die Kirche weiter ab, Kirchenbank um Kirchenbank, schaute hinter den Altar, betrat die Sakristei, öffnete den Schrank, in dem die liturgischen Gewänder aufbewahrt wurden, durchwühlte sie, wobei zwei von ihnen vom Kleiderbügel rutschten, aber auch da war nichts, was irgendwie auffällig gewesen wäre. Er gab auf. Falls ein junges Paar die Kirche für seine Sexspiele genutzt hatte, war er zu spät gekommen. Er warf die Vaseline in den Abfall und bereitete den Gottesdienst vor, der zu Ehren des verstorbenen Riedbauern stattfinden sollte.

    4

    Sophia hatte die Ettstraße erreicht, steuerte auf das Polizeipräsidium zu, trat durch das gewaltige Eisentor, das in den Innenhof führte, und warf zum ersten Mal dem Hinterteil des auf einer Steinsäule thronenden bayerischen Löwen keine Kusshand zu. Hätte sie sich selbst beobachten können, hätte sie eine sehr schlanke, zierliche Frau Ende dreißig gesehen, die leichtfüßig, als trügen die Beine kaum Gewicht, in Jeans und auf hohen Absätzen die wenigen Stufen nahm, die zu dem Gebäude führten. Einem ehemaligen Kloster der Augustinereremiten, fünf Stock hoch und mit Glockenturm. Sophia war nicht der Typ Frau, der in einer Menschenmenge oder einem Restaurant auffiel. Das heißt, ob sie auffiel oder nicht, hing jeweils vom Blickwinkel ihres Betrachters ab und davon, ob er sich die Zeit nahm, sie zu entdecken oder nicht.

    Die Augen fast schwarz, die Brauen breit, dunkel und sehr gerade, die Gesichtsform oval, die Nase schmal, aber für Sophias Geschmack zu groß, genauso wie ihr Mund. Je nach Lichteinfall oder Stimmung konnte sich ihr Gesicht dramatisch verändern, sodass man manchmal das Gefühl hatte, Sophia sei mehr als nur eine. Als fände man in ihren Zügen auch die Vielfalt ihrer Ahnen wieder und die strenge Melancholie des Fado, melodiöses Wehklagen und seliges Lächeln. Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. Ein Satz von Fernando Pessoa, den ihr Vater gern zitiert hatte.

    Sophia stemmte die schwere Holztür auf, trat ein in die Parallelwelt, die ebenfalls mit viel dunklem Holz gestaltet worden war. Die berüchtigte No-go-Area, dieser Ort, der ein ähnliches Prickeln hervorrief wie »Das Schweigen der Lämmer«. Hier wurde das Verbrechen zur Realität, spornte die Phantasie an, jagte sie durch Wogen wohligen Schauderns.

    Sie fühlte ihn, noch ehe sie ihn sah. Witterte seine Panik. Wie Hunde über einen Pfotenabdruck den Angstschweiß ihrer Artgenossen. Sie drehte sich ein wenig nach links, in die Richtung, aus der seine Schwingungen sie erreichten.

    Er war groß, kräftig, schwarz und jung. Zwei Polizisten führten ihn mit Handschellen ab, er schlurfte mit hängenden Schultern, dann wandte er sich ihr zu. Augen wie zwei riesige schwarze Löcher, die Iris kaum noch sichtbar. Drogen, dachte sie noch, als er sich mit der Kraft seines sehnigen Körpers aus dem Griff der Beamten befreite, auf sie zusprang und – sie wich erschrocken zurück – inmitten der Bewegung erstarrte. Schockgefroren. Der Blick entleert.

    »Was ist mit ihm?«, fragte sie die beiden Polizisten, die ihn immer wieder anstießen: »Hey man, auf geht’s.«

    »Der Typ ist illegal, wird abgeschoben.«

    Offenbar erhielten die Nervenbahnen wieder Signale. Zuerst zuckten die Augenlider, dann bebten die Lippen, und schließlich zitterte er am ganzen Leib, so wie Sophia noch keinen Menschen jemals hatte zittern sehen.

    »Was hat er angestellt?«

    »Er ist nach dem Abschiebebescheid untergetaucht. Wir haben ihn erwischt, als er was zum Essen geklaut hat.«

    Sophia nickte, dachte noch, was geht’s mich an, wollte schon weitergehen, als sich der Mann ganz leicht nach vorn beugte und flüsterte: »Help me!«

    Sophia hatte bereits oft gehört, wie Menschen sie um Hilfe baten, anflehten, aber in dem Ton, mit dem er es sagte, lag etwas … »Help me!« Kein Abschied in den Augen. Sie waren auch nicht mehr leer. Todesangst, das war es, was sie sah und fühlte. Sophia kannte die Zellen im Haftbereich. Klein, eng und fast alle ohne Fenster. Nicht mehr als ein dunkles Loch. »Please!« Hätte die Haut des Mannes die Eigenschaft gehabt, blass zu werden, so wäre er, da war Sophia sicher, mittlerweile kreidebleich. Gerade noch völlig schwarz, war jetzt nur noch Weiß in seinen Augen, Iris und Pupillen nach oben oder unten oder sonst wohin gerutscht.

    »Gebt ihm wenigstens eine Zelle mit Fenster.«

    »Ist keine mehr frei.« Man merkte den Polizisten an, wie unwillig sie über ihre Einmischung waren.

    »Dann tauscht halt mit einem, der das Loch besser aushält als er.«

    »Der hier hat es übers Mittelmeer bis zu uns geschafft. Der hält schon was aus.«

    »Help me!«

    »Hey man, your family is waiting for you.« Die Beamten stießen ihn leicht in die Seite. Sophia dagegen dachte, die Familie hat alle Hoffnung für ein besseres Leben auf ihn gesetzt. Er würde nicht willkommen sein.

    »Please!«

    »Don’t cry like a baby.« Der andere Polizist grinste.

    Sein Flehen. Die Augen. Dieses Blitzlichtgewitter von Angst und Panik, das aus dem Mann förmlich in sie hineinströmte, und dazu das Grinsen des Polizisten.

    »Sie sind ein verdammter Rassist.« Ihr Herz raste. »Und er kriegt eine Zelle mit Fenster.«

    Ohne ein Wort führte ein Beamter den Mann ab, der keinen Widerstand mehr leistete. Der andere Beamte wandte sich an Sophia. »Das wird ein Nachspiel haben.«

    »Und ob es das wird«, gab sie zurück und rief dem Mann nach. »Don’t worry, I will help you!«

    Der Mann drehte sich nicht mehr nach ihr um.

    Ließ sie mit dem Gefühl zurück, einen Fehler gemacht zu haben.

    Wenn du in Gefahr bist, spürst du es nicht, es ist nur wie ein Windhauch, der dein Haar streift.

    ***

    »Wieser, sofort in mein Büro!«

    Im Besprechungsraum wurden gerade Rechner installiert, Zugriffsberechtigungen erteilt, Telefonanschlüsse geschaltet, der Kühlschrank gefüllt und die Kaffeemaschine angeschlossen. Die »Sonderkommission Balanstraße«, die unter Sophias Leitung in einem brutalen Doppelmord an einem Rentnerehepaar ermitteln würde, richtete sich ein.

    Jetzt aber war es still. So scharf war der Ton ihres Chefs August Ertl gewesen. Selbst die Vögel stellten für einen Moment ihren Gesang ein. Ertl drehte sich um, Sophia schraubte sich auf ihren ohnehin acht Zentimeter hohen Absätzen noch etwas höher, damit sie wenigstens die ein Meter siebzig erreichte, die sie als Jugendliche vergeblich angestrebt hatte, und folgte ihrem Vorgesetzten, der sie normalerweise nur mit Sophia ansprach. Benutzte er den Nachnamen, war es ernst. Allerdings war es der falsche Nachname. Sie war keine Wieser mehr. Sie war eine Alvarez. Sie richtete sich noch weiter auf. »Alvarez bitte … A-l-v-a-r-e-z!«

    Ertl ging nicht darauf ein, entschuldigte sich auch nicht. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, der unter der Aktenlast fast zusammenzubrechen schien, bot Sophia jedoch keinen Platz an. Blieb gefasst. »Wie kommen Sie dazu, dem Kollegen Moser eine rassistische Motivation zu unterstellen? Er tut nur seine Pflicht.«

    Sophia hielt seinem Blick stand. »Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, diesen offenbar traumatisierten Mann gut zu behandeln.«

    »Er ist illegal eingereist. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, also muss er zurück. So ist das Gesetz.«

    »Und deshalb kann man ihn nicht menschenwürdig behandeln?«

    »Die eine Nacht wird er schon aushalten.«

    Sophia hatte ihrer Stimme den wohltuend sanften Tonfall geben wollen, mit dem sie selbst die skrupellosesten Straftäter so einwickelte, dass sie unachtsam wurden und schließlich gestanden. Ruhe, sie brauchte Ruhe. Sie brüllte Ertl an: »Falls er diese eine Nacht überlebt!«

    »Reißen Sie sich zusammen.«

    Sie versuchte es. »Bitte unternehmen Sie was.« Presste die Zähne so fest zusammen, dass ihr der Kiefer wehtat.

    »Ich werde den Teufel tun.«

    »Dann sind Sie nicht viel besser.« Sie brauste wieder auf.

    »Sie meinen, dann bin ich auch ein Rassist?«

    Normalerweise neigte Ertl nicht zu Überreaktionen. Normalerweise war er auch nicht cholerisch, sondern war eher ein kühler Kopf. Jetzt aber lief er an. Vom Hals aufwärts zog sich das Dunkelrot über sein Gesicht, den kahlen Schädel, kroch über seinen Nacken hinein in sein blütenweißes Hemd. Die blauen Augen verengten sich unter den buschigen weißen Augenbrauen. Weiß-blau wie Bayern, dachte sie noch, da fuhr Ertl, und das war das Gefährliche, mit großer Ruhe fort: »Ich werde dafür sorgen, dass Sie versetzt werden.«

    »Sie können mich nicht versetzen. Ich habe eine Aufklärungsquote von fast neunzig Prozent.«

    »Sie widersetzen sich meinen Weisungen.«

    »Sie meinen die erkennungsdienstliche Maßnahme letzte Woche, bei der wir im Notfall auch mit Gewalt vorgehen sollten?«

    »Der Mann war ein Schwerverbrecher, einschlägig vorbestraft. Sie machen, was Sie wollen, ignorieren meine Anrufe, und ich habe Glück, wenn ich in den Genuss Ihres Rückrufs komme.« Sein Ton wurde schärfer. »Mit der Pünktlichkeit nehmen Sie es auch nicht so genau.«

    »Ich hab zwei halbwüchsige Kinder …« Es war Zeit zu kämpfen. Sie wurde kleinlaut.

    »Während Ihren ermittelnden Kollegen die Köpfe rauchen, starren Sie aus dem Fenster, springen dann plötzlich auf und sind verschwunden.«

    »Weil ich einen Gedanken verfolge, der uns weiterbringt.«

    »Genau, die Betonung liegt auf ›uns‹. Warum weihen Sie dann Ihre Kollegen nicht in Ihre gedanklichen Ergüsse mit ein?«

    »Hat sich jemand über mich beschwert?«

    »Hauptkommissarin Wieser.«

    »Alvarez!«

    »Also gut, Alvarez.« Fast nachsichtig sah er sie an. »Es gibt keinen Ihrer Kollegen, der sich noch nicht über Sie beschwert hätte.«

    Stille. Sophia fühlte sich so klein, wie sie tatsächlich war. Ein Meter zweiundsechzig ohne Schuhe.

    »Wohin wollen Sie mich abschieben?« Noch war sie gefasst.

    »So weit weg wie möglich.« Er blieb kalt, und er blieb fest.

    »Und das wäre?«

    »Was halten Sie vom Bayerischen Wald?«

    Er kannte ihre Akte.

    Wie konnte er nur so zynisch sein?

    Der Schmerz aus der Frauenkirche war wieder da. Pochte, pulsierte, bohrte und stach. Diesmal hätte sie am liebsten mit dem Schädel so fest gegen Ertls Schreibtisch geschlagen, dass sämtliche Akten auf den Boden fielen und ein heilloses Durcheinander anrichteten. Schreie still. Diese Worte plötzlich in ihrem Kopf. Weil niemand soll dich hören. Ihr wurde übel. Der Kreislauf, dachte sie noch. Dann wurde es schwarz um sie, und Sophia fiel – direkt in August Ertls blitzschnell zum Rettungsanker mutierte Arme.

    5

    Er wusste nicht genau, was es war. Warum? Auf einmal? Aber er hielt es kaum noch aus. Dieses Nachts-vor-ihrem-Fenster-Stehen, innerlich heulend wie ein aus Tschechien eingewanderter Wolf, die gespeicherten Fotos, auf denen er sie berühren konnte, wann und wenn er wollte. Nein, nicht noch einmal. Stattdessen nahm der Plan allmählich Gestalt an.

    Mit dem Fahrrad zum Bahnhof in Straubing. Dort war er um sechs Uhr fünfundzwanzig in den ICE gestiegen und sechsundzwanzig Minuten später im Regensburger Hauptbahnhof angekommen. Danach mit dem Bus zum Universitätsklinikum mit seinem Zentrum für Schwerbrandverletzte. Alles war genau durchdacht. Das Warten vor der Intensivstation. Auf denjenigen, der ihm als geeignet erschien. Benzin oder Spiritus? Besucher kamen. Explodierende Gasflasche. Besucher gingen. Tränen. Wortfetzen. So eine Scheiße, so eine verdammte Scheiße. Er hatte sich informiert. Lichtbogenverletzung, auch nicht schlecht. Als lebende Fackel über allem schweben. Ein Signal geben, wie ein Leuchtturm in der Nacht.

    Ein Ehepaar näherte sich der Intensivstation. Er notierte. Ehepaar. Passt. Mitte vierzig. Passt. Unauffällig drehte er ihnen den Rücken zu. Nachdem er sich für sie entschieden hatte, wollte er nicht, dass sie ihn erkannten. Doch das hätte

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