Gut Hermannsheide
Von Roswitha Casimir und Roger Harrison
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Über dieses E-Book
Angestoßen durch den Leichenfund verfolgen wir den Lebensweg des eigenwilligen Industriellensohns Victor van Vals durch zwei Weltkriege und erleben das Entstehen des fiktiven Guts Hermannsheide. Schauplätze sind neben seiner Heimat das angrenzende Emsland, die niederländische Region Twente sowie Münster und Berlin.
Seine zwanzigjährige Tochter Marie erlebt die britische Besatzung der Grafschaft Bentheim, bis sie in den Nachkriegswirren spurlos verschwindet. Warum wird der Schotte mit ihrem Verschwinden in Zusammenhang gebracht, welches Rätsel umgibt ihn und seine Familie?
Erst knapp siebzig Jahre nach Kriegsende werden die Geschehnisse aufgelöst und offenbaren spektakuläre Familiengeheimnisse.
"Gut Hermannsheide ist die zweite Erzählung aus der Trilogie um das Gut in der Grafschaft Bentheim.
Bisher erschienen ist Band 1 "Das Dilemma".
Roswitha Casimir
Roswitha Casimir, geboren 1952 in Koblenz. Die gelernte Betriebswirtin war zunächst in einer Anwaltskanzlei und seit 1984 in einer internationalen Behörde in München, Berlin, Wien und Den Haag tätig. 2005 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
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Buchvorschau
Gut Hermannsheide - Roswitha Casimir
Bisher von den Autoren veröffentlicht:
Die Autoren:
Roswitha Casimir, geboren 1952 in Koblenz. Die gelernte Betriebswirtin war zunächst in einer Anwaltskanzlei und seit 1984 in einer internationalen Behörde in München, Berlin, Wien und Den Haag tätig. 2005 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
Roger Harrison, geboren 1954 in Hannover, hat schottische Wurzeln und wuchs in den USA und Großbritannien auf. Der Ex-Unternehmensberater und Internetpionier war bis 1996 in London und anschließend in München und Den Haag selbständig tätig. 2010 beendete er sein Berufsleben.
Die Autoren sind miteinander verheiratet und leben heute in Nordwestdeutschland unweit der niederländischen Grenze.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Prolog
Kapitel I: Letztes Jahr in der Grafschaft Bentheim
Abschnitt 1: Déjà-Vu
Abschnitt 2: Forsthaus
Abschnitt 3: Douglas und Fiona
Abschnitt 4: Einzug
Abschnitt 5: Bußmann und seine Freunde
Abschnitt 6: Die Leiche
Kapitel II: Jahrhundertwende
Abschnitt 1: Die Familie van Vals
Abschnitt 2: Schüttorf 1896
Abschnitt 3: Aussprache
Abschnitt 4: Wietmarschen
Abschnitt 5: Ankunft in Berlin
Abschnitt 6: Meyer‘s Hof
Kapitel III: 20. Jahrhundert
Abschnitt 1: Studium
Abschnitt 2: Wannsee
Abschnitt 3: Katharina
Abschnitt 4: Neuigkeiten von Zuhause
Abschnitt 5: Chaos
Abschnitt 6: Plan B
Kapitel IV: Das Mustergut
Abschnitt 1: Beruf und Leidenschaft
Abschnitt 2: Aufbau
Abschnitt 3: Krieg
Abschnitt 4: Schlechte Zeiten
Abschnitt 4: Marie
Abschnitt 5: Gefährliche Zeiten
Abschnitt 6: Flucht in die Niederlande
Kapitel V: Kriegswirren
Abschnitt 1: Kriegserklärung
Abschnitt 2: Bombadierung
Abschnitt 3: Der Offizier
Abschnitt 4: Liebe
Abschnitt 5: Familiennachzug
Abschnitt 6: Desaster
Kapitel VI: Vor wenigen Wochen
Abschnitt 1: Dorf in Aufruhr
Abschnitt 2: Recherchen
Abschnitt 3: Verhör
Abschnitt 4: Die Aufzeichnungen
Abschnitt 5: Deters
Abschnitt 6: Der Gerichtsmediziner
Abschnitt 7: Soko Marie
Vorwort
Die vorliegende Erzählung ist Teil einer Trilogie um das fiktive Gut Hermannsheide in der niedersächsischen Grafschaft Bentheim.
Bei der Trilogie handelt sich um drei inhaltlich zusammenhängende, jedoch jeweils abgeschlossene Geschichten, in die wir, wo nötig, Hintergrundinformationen aus den anderen Teilen integriert haben, um die Bücher unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge lesen zu können.
Während der 2018 erschienene Band Das Dilemma in der Gegenwart spielt, umfasst Gut Hermannsheide die Zeit zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. Voraussichtlich Mitte 2020 erscheint der dritte und letzte Band mit dem Arbeitstitel Mörder!, der die Nachkriegszeit beleuchten wird.
Für alle drei Erzählungen gilt: Sie basieren auf wahren Vorgängen – nämlich den Ideen und Gedanken zweier Autoren, die sie ersannen. Hirngespinste könnte man sagen. Handlung, Figuren und Örtlichkeiten sind in teilweise reale geschichtliche Ereignisse eingebunden, jedoch unserer Fantasie entsprungen. Ähnlichkeiten mit konkreten Ortschaften, existenten Personen und tatsächlichen Geschehnissen sind nicht immer zufällig, vieles hätte durchaus so stattfinden können, dennoch: Die Geschichten sind fiktionale Werke. Wer sich trotzdem wiedererkennt, verfügt über mindestens so viel Fantasie wie die Autoren.
Die Verfasser
Juli 2019
Prolog
Sie verschwand auf unerklärliche Weise und tauchte nie wieder auf.
Marie war als Dolmetscherin und Hausmädchen für einen britischen Offizier tätig, der Ende des Zweiten Weltkriegs Gut Hermannsheide mit seiner Kompanie beschlagnahmte, nachdem britische und polnische Truppen die Grafschaft besetzt hatten.
Da das Haupthaus des Gutes in den letzten Kriegstagen durch einen Bombenangriff beschädigt und unbewohnbar geworden war, nahm der Offizier im nahegelegenen Forsthaus Quartier. Seine ursprünglich knapp einhundert Mann umfassende Kompanie, die nach der verlustreichen Operation Overlord, der Invasion in der Normandie von Juni 1944, auf gerade einmal 34 Mann geschrumpft war, wollte er in den Arbeiterhäusern unweit des Gutes unterbringen, die allerdings durch Gutsmitarbeiter und ihre Familien bewohnt waren.
Dieses Requirieren von Wohnraum fiel ihm ausgesprochen schwer. Die Bewohner mussten alles zurücklassen und ihr Zuhause innerhalb von Stunden räumen, ohne zu wissen, wohin. Auch wenn es Kriegsfeinde und die besonders verhassten Deutschen waren – er erkannte die Not der einzelnen Menschen und versuchte, so rücksichtsvoll wie möglich zu handeln. Der deutsche Nationalsozialismus und sein dämonischer, fanatischer Diktator Hitler mochten einen schrecklichen Krieg angezettelt haben, der Millionen Tote forderte und unzählige Menschen ins Unglück stürzte, doch nicht jeder Deutsche war ein Nazi, Mörder und Judenhasser.
Nach Ansicht des Majors war der Krieg so gut wie beendet, Deutschland lag auf dem Boden, die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht musste unmittelbar bevorstehen, zumal Gerüchte über den Tod Hitlers die Runde machten. Ja, bestraft werden sollten natürlich alle Schuldigen, doch in seinen Augen war dies nun Sache der Justiz und nicht des Militärs.
Gleichzeitig sorgte er sich um seine eigenen Leute. Sie waren jung, kaum einer über 25 Jahre alt, und sie hatten Dinge gesehen und erlebt, die sie sich vor dem Krieg gewiss nicht einmal hätten vorstellen können. Sie hatten gefährliche, entbehrungsreiche und kräftezehrende Monate auf ihrem Vormarsch zum niederländisch-deutschen Grenzgebiet hinter sich, wo sie kaum mehr von der Nachschubversorgung bedient werden konnten und weitgehend auf sich selbst gestellt waren. Sie hatten es nun mehr als verdient, eine ordentliche warme Mahlzeit zu essen, in einem Haus und einem richtigen Bett zu schlafen, sich vernünftig zu waschen und anständig zu versorgen.
Für ihn selbst musste keine Familie ihre Wohnung räumen, da der letzte Förster von Hermannsheide an der Ostfront gefallen war, keine Familie hinterließ und das Haus leer stand. In dieser Försterei konnte der Major im unteren Bereich seine Kommandantur einrichten und im oberen Stockwerk wohnen.
Den Einheimischen, die ihre Häuser für seine Leute verlassen mussten, wollte er gern gestatten, in den Nebengebäuden und Stallungen der weitläufigen Gutsanlage unterzukommen, bis ihnen von der Militärverwaltung Wohnraum zugewiesen wurde. Gleichzeitig wollte er die Menschen darüber informieren, dass die britische Militärregierung bereits aktiv geworden war, den Verwaltungssitz des Landkreises von Bentheim nach Nordhorn verlegt hatte und sich so schnell wie möglich um die Belange der Bevölkerung kümmern würde. Die Verständigungsprobleme waren jedoch enorm. Sein Dolmetscher war schon in der Normandie gefallen, weder er selbst noch seine Leute sprachen Deutsch und die Bewohner höchstens ein paar Brocken Englisch.
So war er erfreut und erleichtert, als sich eine junge Frau als Übersetzerin anbot und tatsächlich respektable Sprachkenntnisse vorwies. Er erfuhr von ihr, dass sie Marie hieß und die Tochter der Gutsbesitzer war. Nachdem sie seine Informationen und Anweisungen klar und selbstsicher an die Bewohner weitergegeben und sie offenkundig beruhigt hatte, fragte der Major, wo sie selbst wohnte. Sie zuckte nur mit den Schultern.
»Seit der Bombardierung mal hier, mal da. Es ist ja mild, deswegen ist es nicht schlimm, im Stall oder Schuppen zu schlafen.«
»Und Ihre Familie?«
»Meine Eltern sind in Ostpreußen, um meine Großmutter zu holen.«
Der Major war von ihrer inneren Ruhe und offensichtlichen Gelassenheit beeindruckt, mit der sie dem Ausnahmezustand dieser Zeiten begegnete. Er bot ihr an, gegen Kost und Logis für ihn zu arbeiten und eines der Zimmer im Obergeschoss des Forsthauses zu beziehen.
»Wenn Sie erlauben...« Sie zögerte ein wenig.
»Es gibt da ein Gartenhäuschen hinter der Försterei. Das könnte ich mir herrichten. So würde ich Sie nicht stören ...«
»... und ich dir nicht zu nahe kommen ...«, beendete der Major den Satz in Gedanken und mit einem inneren Grinsen.
Aber er hatte volles Verständnis, dass eine junge und attraktive Frau wie sie zögerte, Tür an Tür mit einem Fremden zu wohnen. Sie war zwar klein und zierlich, doch mit ihrem entschiedenen Auftreten und ihrer Schönheit fiel sie sofort in der Menge auf. Sie hatte einen sportlichen Körper, leicht gebräunte Haut, zu einem Pferdeschwanz gebundenes blondes Haar, babyblaue strahlende Augen und einen Schmollmund in einem perfekt geschnittenen Gesicht. Er musste sich zwingen, sie nicht regelrecht anzustarren. Stattdessen nickte er knapp und reichte ihr zur Besiegelung der Absprache die Hand.
»In Ordnung. Richten Sie sich in Ruhe ein und melden Sie sich morgen früh um acht Uhr in der Kommandantur.«
Marie war die einzige Tochter von Victor und Katharina van Vals, dem Verwalter-Ehepaar von Gut Hermannsheide. Ihre Mutter stammte aus Ostpreußen, wo noch die Großmutter lebte. Ihr Vater kam aus Schüttorf, wo es ebenfalls noch Verwandte gab, alles Schwestern ihres Vaters. Wegen einer alten Familienfehde hatte sie jedoch mit diesen Verwandten, außer mit Tante Henriette und ihrer Familie, keinen Kontakt, hatte sie nicht einmal je kennengelernt. Es schien sich um Erbstreitigkeiten zu handeln, die aus der Jugend ihres Vaters herrührten. Mit Tante Henriette allerdings, einer jüngeren Schwester ihres Vaters, war sie gut befreundet. Henriette Deters war bereits Großmutter, und Marie hatte ein inniges Verhältnis zu Enkelchen Peter, der mehrfach auf dem Gut seine Ferien verbracht und den sie immer gern gehütet hatte.
In den Wirren der Nachkriegszeit mit ihrem nicht enden wollenden Strom von Besatzern, Flüchtlingen, heimkehrenden Soldaten, ehemaligen Zwangsarbeitern, Hamsterern oder Obdachlosen, mieden vor allem die Frauen die Landstraßen und einsamen Wege abseits von Siedlungen. Da Gut Hermannsheide rund eine Stunde Fußweg von Schüttorf entfernt lag, besuchte Marie ihre Tante erst wieder im Herbst 1947. Es gab viel zu erzählen, doch im Mittelpunkt stand die bedauerliche Tatsache, dass Maries Eltern in Ostpreußen vermisst waren und sie sie inzwischen vermisst gemeldet hatte.
Henriette war voller Sorge und Mitgefühl, trauerte sie doch selbst um ihren Bruder und ihre Schwägerin. Gleichwohl freute sie sich darüber, dass Marie recht propper aussah und überraschenderweise zugenommen hatte, obwohl sie klagte, dass es ihr körperlich gar nicht gut ginge, was aber wohl an ihrer Untröstlichkeit läge. Marie erzählte, sie müsse nun für ein paar Monate in den Haushalt eines in Osnabrück stationierten Generals ziehen, um dessen kürzlich aus England nachgezogenen schwangeren Frau zur Hand zu gehen. »Ihr« Major habe es wohl nicht ablehnen können, als sein Vorgesetzter bei einem Besuch darum bat, dass sie sich einige Monate um seine Frau kümmere.
In den kommenden Monaten schrieb Marie zweimal an Henriette – eine Postkarte mit dem kurzgefassten Inhalt, dass es ihr in Osnabrück soweit gut ginge, der britische Generalmajor Farndale und seine Lady freundlich zu ihr seien und sie wohl im Januar oder Februar zurückkomme. Ihre zweite und letzte Nachricht war eine Weihnachtskarte. Traurig sei sie, dass die Eltern nach wie vor vermisst seien und sie das Weihnachtsfest nicht mit der Familie feiern könne, doch ansonsten ginge es ihr gut. Sie freue sich auf ihre baldige Rückkehr und das Wiedersehen mit Tante Henriette und ihrer Familie.
Danach hörte man nie wieder von ihr.
Zunächst machten sich Tante Henriette und ihre Familie keine größeren Sorgen, schließlich war Marie eine selbständige und selbstbewusste junge Frau. Lediglich der kleine Peter fragte beständig nach, wann Tante Marie – und vor allem das Geschenk, das sie ihm versprochen hatte – endlich käme. Erst als Ende März 1948 noch immer kein weiteres Lebenszeichen von ihrer Nichte gekommen war, begann Tante Henriette mit Nachforschungen. Sie bat einen Nachbarn, der Besorgungen in Nordhorn zu erledigen hatte, auf der Kommandantur in der Bentheimer Straße vorzusprechen und nach der Privatadresse des Generalmajors Farndale in Osnabrück zu fragen, den Marie in einer ihrer Nachrichten ja namentlich erwähnt hatte.
Der Nachbar kam mit der Information zurück, dass der Generalmajor bereits vor sechs Monaten nach London zurückberufen worden. Er war noch so schlau gewesen, nach der Ehefrau zu fragen; vielleicht war sie ja allein in Osnabrück verblieben. Darauf erhielt er die Auskunft, dass der Generalmajor seit vielen Jahren Witwer sei und gar keine Frau habe.
Verwirrt und tief beunruhigt entschied Tante Henriette, nun auf der Stelle und höchstpersönlich in Hermannsheide nach Marie zu suchen. Zumindest der Major, Maries letzter Arbeitgeber, musste schließlich wissen, wo sie war. Zusammen mit ihrem früheren Verwalter – die Straßen waren für Frauen allein immer noch nicht ganz gefahrlos – machte sie sich ungeduldig zu Fuß auf den Weg.
Seit wenigen Tagen herrschte für die Jahreszeit ungewöhnliche und beständig zunehmende Kälte im Land, die Temperaturen waren in der Nacht auf bis minus zwanzig Grad gefallen, die Straßen waren vereist, es wehte ein scharfer Wind. Kaum waren sie aus der Stadt heraus, wurde ihnen klar, dass sie bei diesem Wetter unverhältnismäßig lange für den Fußmarsch nach Hermannsheide brauchen würden. Sie wollten schon umkehren, besseres Wetter abwarten und nach einer Fahrgelegenheit suchen, als das Pferdefuhrwerk des lutherischen Pastors von Bentheim anhielt und sie mitnahm.
Der Pastor, der mangels eigener Kirche seine in der Grafschaft versprengten Schäfchen auf regelmäßigen Rundtouren betreute, war auf dem Weg nach Birkenvenn, was nur wenige Kilometer nördlich von Hermannsheide lag und wo er eine Messe lesen wollte. Als sie dankbar zugestiegen waren und die Tante mit einem erleichterten Seufzer im hinteren Teil des Planwagens Platz nahm, realisierte der Pastor mit Wohlgefallen, dass sich nun auf seinem Wagen neben seinem selbstverständlich lutherischen Küster Siegfried, der die Zügel führte und der reformierten Frau Klasing, die ebenfalls nach Hermannsheide wollte, die katholische Tante und ihr calvinistischer Verwalter gesellt hatten. Fünf Personen und vier unterschiedliche Konfessionen. Er selbst hielt von kirchlichen Konflikten nichts und sehnte sich nach der christlichen Versöhnung zwischen Lutheranern und Katholiken, ja, am besten allen Glaubensrichtungen. Einen Moment verlor er sich mit einem verträumten Lächeln in der Vorstellung, wie er und sein lutherischer Amtskollege in der früheren katholischen Kirche St. Laurentius zu Schüttorf in friedlicher Eintracht und mit allen Gläubigen auf dem so außergewöhnlich, da kreisrund angeordneten Gestühl saßen und ein gemeinsames Abendmahl feierten.
»Eines Tages …,« dachte er zuversichtlich, verfolgte sodann jedoch interessiert die Unterhaltung seiner Mitfahrer. Frau Klasing, eine Bekannte von Henriette, hatte sie nach dem Grund ihres Besuchs in Hermannsheide gefragt und zeigte sich erstaunt, als sie den Zweck des Ausflugs erfuhr.
Nein, nein, das könne nicht stimmen, dass Marie bis nach Weihnachten in Osnabrück gewesen sei. Das sei erheblich kürzer gewesen! Sie sei zwar im Winter ein paar Wochen verschwunden gewesen und man hatte gehört, dass sie in Osnabrück bei einer englischen Generalsfamilie war. Doch spätestens die Woche vor Weihnachten war sie zurückgekehrt. Genau eine Woche vor Weihnachten habe sie sie nämlich im Forsthaus von Hermannsheide gesehen. Nein, sie täusche sich nicht – das wisse sie ganz genau!
Der Heilige Abend sei ja auf einen Mittwoch gefallen und genau in der Woche zuvor, also am 17. Dezember, sei sie am Forsthaus gewesen, um Näharbeiten abzugeben, die die Frau des Majors in Auftrag gegeben hatte. Sie lieferte ihre Näharbeiten schließlich immer mittwochs aus. Mit der Lady konnte sie sich ja leider nicht verständigen – gerne hätte sie mit ihr geplaudert, zumal sie sah, dass sie schwanger war. Sie hatte auf einmal schon ein hübsch rundes Bäuchlein, die Frau Major. Doch der Herr Major sei hinzugekommen, habe die Nähsachen in Empfang genommen, ihr einen großzügigen Geldbetrag und eine Konservendose mit eingemachtem Schweinefleisch in die Hand gedrückt und freundlich zugenickt. Da blieb ihr nichts übrig, als zu gehen. Gleichzeitig habe sie die Marie zufällig hinter einem Fenster im ersten Stock entdeckt und ihren Namen gerufen. Marie habe darauf das Fenster geöffnet, ihr zugewunken und »Schöne Festtage und ein gesegnetes Weihnachtsfest!« gewünscht. Sie war sicherlich bei der Hausarbeit gewesen, die gute Marie. Sie hatte ja immer gut zu tun, das fleißige Ding. Das Forsthaus war schließlich ein großes Haus und jetzt, wo die Dame des Hauses auch noch schwanger war, gab es bestimmt noch mehr für sie zu tun, nicht wahr.
Es sei aber sinnlos, zum Forsthaus zu fahren, denn Marie sei gewiss nicht mehr dort, schließlich seien der Engländer und seine Frau bereits vor längerem ausgezogen. Zurück in ihre Heimat, habe es geheißen. Das müsse wohl Ende Januar gewesen sein, und seither stünde das Forsthaus leer. Wo Marie nun wohnte, könne sie leider nicht sagen. Jedenfalls nicht in Hermannsheide, das würde sie wissen.
Henriette war entsetzt. Es hatte also offensichtlich keinen Sinn, weiterzufahren, auch ihr Begleiter war dieser Meinung. So entschieden sie sich, abzusteigen und kämpften sich im Schneesturm zurück nachhause. Frau Klasing und der Pastor hatten versprochen, sich umzuhören und sich zu melden, falls sie etwas über Maries Verbleib erfuhren.
Zurück in Schüttorf schickte Henriette ihren Enkel Peter umgehend zur Polizei, um Marie vermisst zu melden. Um Gotteswillen, vielleicht hatte man es mit einer Straftat zu tun! Vielleicht war Marie nach England oder anderswohin entführt worden oder sogar tot, ermordet! Die Tante war höchst beunruhigt. Auch der Rest der Familie war in Aufruhr, so wie bald ganz Schüttorf, wo sich die Nachricht von Maries mysteriösem Verschwinden wie ein Lauffeuer verbreitete.
KAPITEL I
Letztes Jahr
in der Grafschaft Bentheim
1
Déjà-Vu
Erneut überfiel Alexander McGregor ein merkwürdiges Vertrautheitsgefühl, als er vor dem ehemaligen Herrenhaus der Gutsanlage von Hermannsheide stand. In den letzten beiden Jahren grundsaniert und wieder aufgebaut, beherbergte es einen Landgasthof mit Biergarten, einen altmodischen Kolonialwarenladen, eine Reihe von Wohnungen sowie im gesamten linken Flügel eine »Tagesbetreuung für Senioren und Kinder«. Alexander erlebte ein Déjà-vu – das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein und viel über diese Örtlichkeit zu wissen. Dabei sah er sich jedoch vor den Ruinen dieses Herrenhauses stehen, so wie es vor seiner Sanierung ausgesehen haben mochte. Gleichzeitig war er sich sicher, zum ersten Mal in seinem Leben hier oder in der näheren Umgebung zu sein.
Ein solches Erlebnis war ihm nicht vollständig neu, doch frühere Vorfälle angeblicher Erinnerungen waren flüchtig und entlarvten sich rasch als Täuschung, eine Art Fehlschaltung des Gehirns. So war es ihm bereits kurz gegangen, als sie das Forsthaus besichtigten. Die Auffahrt zum Haus durch ein Wäldchen, der Anblick von außen, waren ihm seltsam vertraut erschienen. Doch sobald sie das Haus betraten, verging diese Empfindung.
Nun allerdings war das Phänomen auffallend stark und intensiv. Aus einer vagen Intuition wurde nahezu Gewissheit. Sein Blick fiel auf den modernen Eingangsbereich des Hauses, doch gleichzeitig meinte er, vor einer eingefallenen und zerstörten Freitreppe mit steinernen Balustraden zu stehen.
Erstaunlich. Paradox und rätselhaft.
Zweifelsohne war Alexander ein fantasiebegabter Mensch, schließlich hatte er bis zu seiner kürzlichen Pensionierung sein Auskommen als Computerspiele-Entwickler bestritten und war in seiner Freizeit begeisterter Rollenspieler. Hinzu kam, dass er sich mit Kryptozoologie beschäftigte, einem Gebiet der Zoologie, das verborgene Tiere aufspürt und erforscht. Diese, allerdings noch nicht allgemein anerkannte Wissenschaft wurde um 1950 von dem Zoologen Bernard Heuvelmans begründet. Obwohl sich viele Scharlatane auf diesem Gebiet herumtrieben, gab es unter ihnen eine Reihe ernstzunehmender Forscher. Ihren Gedanken hatte er sich angeschlossen und ging mit ihnen davon aus, dass Drachen zu den Nachfahren der Dinosaurier zählten und die Berichte, die uns aus dem Altertum oder dem Mittelalter überliefert sind, einen wahren Kern enthielten.
Nicht wenige Menschen bezeichneten ihn wegen seiner Hobbys und Leidenschaften als exzentrisch und ein wenig weltfremd. Doch er stand durchaus mit beiden Beinen fest auf der Erde, glaubte weder an Übersinnliches noch an Wahrsagerei. Daher konnte er sich die intensiven und überaus realistischen Gedanken- und Bilderfetzen nicht erklären, die ihn beim Anblick des Herrenhauses geradezu überfallen hatten.
Vor dem Gebäude stehend, blieb ihm keine Zeit, sich diesem Phänomen weiter zu widmen, denn nun verlangte seine Frau Clara nach Aufmerksamkeit.
»Was denkst du? Sollen wir kaufen? Ich finde vor allem die Lage und das Grundstück einfach wunderschön! Auch sonst habe ich nichts zu kritisieren. Wir werden viel renovieren müssen, aber finanziell hält sich das in Grenzen, wenn wir mit anpacken.«
Natürlich sprach sie nicht über das Herrenhaus, sondern um das einige hundert Meter entfernt gelegene ehemalige Forsthaus, das sie zuvor besichtigt hatten und wo ihn eine erste Erinnerungstäuschung überrascht hatte.
Sie wartete nicht, bis er antwortete. Im Grunde musste er keine Antwort geben, denn Claras Worte ließen erkennen, dass sie sich bereits für einen Kauf entschieden hatte. Alexander wies zwar gern von sich, unter ihrem Pantoffel zu stehen, musste aber zugeben, dass vorwiegend das getan wurde, was sie wollte. Ein Veto-Recht stand ihm prinzipiell zu – er verwendete es indes nur äußerst selten. Sie hatten überaus ähnliche Ansichten und einen ähnlichen Geschmack. Daher war sie meist in der Lage, ihn von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Andererseits hatte sie sich die wenigen Male, wo er eine andere Meinung vertrat und partout ihre Sicht der Dinge nicht akzeptieren wollte, einsichtig und nachgiebig gezeigt.
Der Immobilienmakler hatte erzählt, das bis vor kurzem ein altes Ehepaar im Forsthaus lebte. Als die Frau starb, habe sich der Witwer entschlossen, in ein Altersheim zu ziehen. Seither, es mochten zwei oder drei Monate her sein, stand das Haus zum Verkauf.
»Sie könnten also sofort einziehen, wenn Sie möchten.«
Zum Abschied hatte er ihnen noch ein ausführliches Exposé überreicht und einen Spaziergang sowohl durch die Ortschaft als auch zum Gutsgelände empfohlen.
»Es wird viel getan, Sie werden überall Bauarbeiten sehen.«
»Wir haben davon gelesen. Es ist einer der Gründe, warum wir überhaupt auf Hermannsheide aufmerksam geworden sind.«
»Überdenken Sie Ihre Entscheidung ruhig gründlich, doch lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit. Es gibt einige ernsthafte Interessenten für das Forsthaus. Es ist ja auch ein kleines Juwel. Und in der näheren Umgebung hätte ich sonst leider kein Objekt, das für Sie in Frage käme. Die Nachfrage ist hoch, seitdem in Hermannsheide so viel passiert.«
Ähnliches verkündeten Immobilienmakler wohl bei jedem Verkaufsobjekt, doch in diesem Fall schien man ihm glauben zu können. Hermannsheide war zum beliebten Wohnort geworden und das Haus eine seltene und doch bezahlbare Gelegenheit.
2
Forsthaus
Nachdem Alexander sein sechzigstes Lebensjahr überschritten hatte – Clara war nur ein Jahr jünger –, hatten sie begonnen, nach einem Ort zu suchen, wo sie ein Haus kaufen und sich nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit dauerhaft niederlassen könnten. Damals lebten sie in den Niederlanden, in Den Haag, um genau zu sein, wo Clara in einer europäischen Behörde tätig war, während Alexander als Informatiker und Spieleentwickler von zuhause arbeitete. Clara, Tochter eines deutschen Diplomaten, der alle vier Jahre in ein anderes Land versetzt worden war und später als Europäische Beamtin selbst von häufigem Wohnsitzwechsel betroffen, hatte nie ein Heimatgefühl entwickelt. Alexander hingegen liebte seine Heimat Schottland und fühlte sich dem Land im Innersten tief verwurzelt; es hatte ihn aber beruflich