Meins!: Erzählungen über eine Kindheit im Norden Kasachstans
Von Ida Häusser
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Über dieses E-Book
- über babylonische Sprachverwirrungen und das Überleben im Sozialismus
- über Vertreibung und Verbannung, Heimatlosigkeit und den Versuch einer Heimatverortung
- über ein ramponiertes Schaukelpferdchen vom Sperrmüll und über das Christkind, das man sehen kann. Es sogar berühren könnte, wenn man sich nur trauen würde.
- über die blühende Tulpensteppe, ein einzigartiges Schauspiel in der sonst so kargen Landschaft im Nordwesten Kasachstans
- über schöne und weniger schöne Erinnerungen und die Heiligsprechung der Kindheit.
Ida Häusser
Ida Häusser wurde 1962 als Russlanddeutsche in Kasachstan geboren und ist auch dort aufgewachsen, als Älteste von dreizehn Geschwistern. Die Familie gehörte zu den Andersdenkenden und konnte bereits 1981 nach Deutschland ausreisen. Hier folgten Sprachkurs, Abitur, Studium der Wirtschaftsinformatik und 26 Jahre berufliches Engagement. Ida Häusser ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und eine Enkelin. Die Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte sie erst spät, mit knapp 50 Jahren. Seitdem widmet sie sich der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte, recherchiert, fragt nach, hält fest, reist, lernt.
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Buchvorschau
Meins! - Ida Häusser
Tülpanami
MEINE DREI DINGE
Dieses neue Kennenlern-Spiel kommt in meine Ideenschatulle: In fünf Minuten drei Dinge notieren, die mich beschreiben, mir wichtig sind.
In dieser Schatulle liegt schon so viel: Kalendersprüche, Reiseprospekte, Zeitungsausschnitte mit Buchbesprechungen, kunterbunt, auch Ideen für Geburtstagseinlagen, kann man immer mal brauchen. Ich jage und sammle so etwas gern. Wann will ich das alles ordnen?
Nur drei Dinge, die mir wichtig sind? Ich hätte so vieles um mich herum … Aber was steht für mich?
In meinem ersten Leben hätte ich gar nicht nachdenken müssen: Es war das Klavier. Dabei habe ich mich am Anfang mit diesem Ding so schwergetan. Ich wollte nicht üben. Üben war eine lästige Pflicht. Auch nicht vorspielen. Ich habe gelernt, mich zu überwinden. Und etliche Jahre später konnte ich mir ein Leben ohne mein Pianino nicht vorstellen, seine glatten Tasten waren passgenau für meine Hände geschaffen, ich fühlte sie blind. Wenn ich die Finger nebeneinander hielt, schlug ich sie automatisch nacheinander an, auch am Tisch, beim Essen und in der Schule, und ausgestreckt griffen sie eine Oktave, immer wieder. Meine typische Handbewegung damals.
Bei den Musikern gibt es eine Redewendung: Wenn man einen Tag nicht übt, merkt man es selbst. Wenn man zwei Tage nicht übt, hört es der Lehrer. Nach drei Tagen merkt es das Publikum. Mit achtzehn Jahren kam ich nach Deutschland und konnte anfangs nur auf der Tischkante üben. Den Ton dazu konnte ich mir ja denken. Ich entdeckte eine neue Leidenschaft: Stricken. Kreativ und nützlich. Von Montag bis Donnerstag sammelte ich Ideen, am Freitag kaufte ich die Wolle und am Montag konnte ich den neuen Pullover schon in den Sprachkurs anziehen. Zwölf Pullover später hatte ich eine ausgewachsene Sehnenscheidenentzündung, nein: zwei – an jeder Hand.
Es dauerte drei Jahre, bis ich wieder ein Klavier bekam. Doch seine Tasten waren mir fremd geworden, bei jedem Oktavgriff verdammte ich die Pullover. Jetzt waren sie out und ausgeleiert. Ich erinnerte mich, wie gerne ich neue Musikstücke analysierte, und beschloss, Informatik zu studieren. Musik und Mathematik haben viel gemeinsam, sagte ich mir. Computer sind die Zukunft, sagten damals alle. Nun wurden die Computer meine täglichen Begleiter, kleine, große, Datenbanken, Netzwerke, Workflows. Ich lernte, Arbeitsprozesse zu hinterfragen und zu optimieren. Was man alles mit Computern machen kann! Die Macht, Dinge gestalten zu können, kann einem viel Kraft geben.
Mein Job wurde ungeheuer wichtig für mich, manchmal wichtiger als meine Kinder. Wie oft habe ich sie frühmorgens aus dem warmen Bett gezerrt und in die Krippe geschleppt, sie dort durch die Tür geschoben, verweint und verrotzt, und mich davongestohlen, zu meinen Projekten und Terminen. Weiter, immer weiter! Keine Bange, meinen Kindern hat mein Job nicht geschadet, alles ist gut gegangen. Bis ich irgendwo diesen blöden Spruch aufgeschnappt habe: Wer jeden Tag etwas mehr gibt, als er nimmt, ist irgendwann mal – leer. Nun, nach über fünfzwanzig Jahren, ist nichts mehr wie früher. Ich spüre nur noch die Pflicht, nicht mehr mich selbst.
Den Klavierdeckel halte ich geschlossen, damit ich die stummen Vorwürfe nicht höre. Der Neuanfang will nicht glücken. Aber es gibt noch etwas Wichtiges in meinem Leben: Bücher. Überhaupt das geschriebene Wort. Von klein auf. Ich las die Regale der Schulbibliothek leer, wahllos, was hat mich dabei so fasziniert? Die zur Sonne strahlenden sowjetischen Gutkinder, alle gleich, wie aufgereiht bei einem Morgenappell, unterschiedlich nur in ihrem Wetteifer? Oder ihre unermüdlich von Werkrekord zu Werkrekord eilenden Eltern? Ich weiß es nicht. Wenn ich als Teenager in der Stadtmitte für meine Eltern etwas besorgen musste, so gab ich das Wechselgeld immer für irgendein Buch aus, egal welches. Werke ausländischer Autoren bekam man gar nicht, sogar die russischen Klassiker wurden von den sowjetischen Buchhändlern unter der Hand im Bekanntenkreis verscherbelt. Ich suchte für die wenigen Kopeken etwas aus, Hauptsache ein Buch. Bücher waren günstig, aber aus so schlechtem Papier und mit minderwertigem Leim geklebt, dass sie schon nach dem ersten Lesen zerfielen.
Meine Mutter schimpfte nicht, wenn ich ihr in der Küche statt des Wechselgeldes stolz das neue Buch zeigte. Dabei war das Geld so knapp. Eigenes Taschengeld hatten wir nicht. Sie schimpfte auch nicht, wenn ich wieder mit einem Buch auf dem Diwan saß und sie in der Küche daneben Berge von Wäsche von mir und meinen vielen Geschwistern wusch. Wenn ich danach die Großmutter besuchte und sie mir ins Gewissen redete, „Helf´ doch der Mama, du bisch doch die Ältscht!, wusste ich, dass meine Mutter sich über mich beklagte. Ich maulte im Stillen: „Was kann ich dafür, dass ich die Älteste bin!
Unsere erste Lektüre auf Deutsch waren Groschenromane, die meine Mutter von ihrem Bruder aus Deutschland bekam. Eine perfekte Beigabe zu den kleinen Sendungen mit Schokoladeneiern oder Adventskalendern. Und schon auf den ersten Blick so belanglos, dass sie jede Briefzensur passierten. Wie wir uns auf diese Pakete freuten! Sobald die Süßigkeiten verteilt waren, teilten wir auch die Hefte und staunten über die Welt der Chalets, Chefärzte und Schlossdamen. Wie weit war sie von unserer werktätigen Wirklichkeit entfernt!
Auch heute gehe ich am liebsten in Buchhandlungen shoppen. Nur lese ich nicht mehr wahllos und auch nicht wie im Suff. Ich habe jetzt endlich Zeit. Blättere immer wieder zurück und lese gute Passagen nochmals, markiere Wortspiele und Vergleiche, analysiere den Aufbau, den Sprachstil, die Übergänge, die Erzählperspektive. Jetzt habe ich mich zu diesem Kurs an der Volkshochschule angemeldet. Anfängerkurs „Autobiografisches Schreiben". Ein netter Einstieg, diese Kennenlern-Übung.
In fünf Minuten drei Dinge notieren, die mir wichtig sind. Ja, je mehr ich darüber nachdenke, was mein Leben ausmacht, was mich ausmacht, desto unbändiger wird mein Verlangen, selbst schreiben zu lernen. Um alles festzuhalten, was ich selbst erlebt habe, was ich von meinen Verwandten gehört habe.
Mama, unsere Familie hat eine besondere Geschichte. Was, wenn ich die Einzige bin, die sie erzählen kann?
ICH BIN
– EINE SCHREIBÜBUNG –
Ich bin im August 1962 geboren, in den ersten Jahren des Aufatmens nach der langen Nachkriegszeit, in Aktjubinsk, im Nord-Westen Kasachstans. In einer aufstrebenden Industriestadt am Fuße des Uralgebirges, das bekanntlich Europa und Asien trennt. Die Eltern: zwei ehemalige Nachbarskinder aus einer deutschen Kolonie direkt am Ufer des Schwarzen Meeres. Aufgewachsen: zwischen mehreren Kulturen, oben die offizielle sozialistische des Kindergartens und der Schule, mit auswendig gelernten Parolen, darunter, in unserer jungen Siedlung, ein Nebeneinander der sowjetischen „Brudervölker", mit Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, Ethnien, Überzeugungen und Stände; Russen, Kasachen, Griechen, Polen, Juden, Koreaner. Menschenmassen, die wie von einer übermächtigen Hand in diese einsame Gegend gesetzt wurden. Werden wir jemals erfahren, ob diese Hand einem Plan oder bloßer Willkür folgte?
Und inmitten all des Durcheinanders die dritte Kultur, der heimliche deutsche Kokon – daheim. Das, was zu Hause gesprochen und getan wurde, durfte nicht auf die Straße getragen werden, und die Dinge von der Straße am besten nicht ins Amt.
Parallelwelten. Mehrfach parallel.
Schon während meiner Geburt kam es zur ersten babylonischen Sprachverwirrung. Meine Mutter lag stundenlang in den Wehen und winselte immer wieder: „Oh Gott, oh Gott! Die russische Hebamme war zuerst irritiert, dann verärgert und sagte zu ihrer Kollegin auf Russisch: „So eine Verrückte! Andere Frauen schreien und fluchen oder rufen ‚Gospodi pomiluj, Herr erbarme dich!‘. Die hier quasselt die ganze Zeit von irgendeinem Kater.
Die Kollegin nickte und äffte nach: „Oh kot, oh kot!"
„Kot" ist das russische Wort für Kater.
KOKON-UTOPIE
Wie viele Missverständnisse es beim Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Sprachen und Kulturen geben kann, weiß jeder Migrant. Er weiß auch, dass sie meistens nicht so heiter sind. Zum Leidwesen unserer Eltern und Großeltern prallten die sowjetische Welt und die Welt der Russlanddeutschen aufeinander. Wie gut sie auch ihre Puppen schützten, wie eng sie uns auch in Windeln wickelten, irgendwann drängten unsere Ärmchen hinaus und berührten die Welt außerhalb ihres Einflusses. Zur Zeit meiner Kindheit hat man die Säuglinge in Russland ganz fest gewickelt, in