Integrale Psychologie: Ein ganzheitlich–methodenoffener Ansatz
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Über dieses E-Book
Dies ist ein Buch für den interessierten Laien und Profi. Es verbindet empirisch-wissenschaftliches Denken und geistige Erkenntnissuche zu einer ganzheitlich-integralen Sichtweise.
Sie erfahren, wie Sie die Erkenntnisse unterschiedlicher kommunikationstheoretischer, psychologischer und spiritueller Richtungen zusammendenken und integrieren können, statt sich für eine Sichtweise zu entscheiden und die anderen zu verwerfen.
Denn jeder Ansatz weist einen Wahrheitsaspekt auf, der aber schnell auch einseitig überbetont werden kann.
Die klare und auf das Wesentliche konzentrierte Darstellung und die integrale Perspektive können Ihnen helfen, bewusster durch das 21. Jahrhundert zu navigieren und offener für tiefere Sinnfragen zu werden. Zahlreiche Selbstwahrnehmungsübungen aus der Gesprächstherapie und des Focusing vertiefen persönlichkeitsnah diese Erkenntnisse.
Rainer Eggebrecht gibt mit diesem Buch Anregungen, wie es in Zeiten permanenten gesellschaftlichen Wandels und medial verunsichernder Überinformation weiterhin gelingen kann, unser immer komplexeres Leben mit schöpferischer Energie und Lebensfreude sinnvoll zu bewältigen
Rainer Eggebrecht
Rainer Eggebrecht ist Gründer und Leiter des "Instituts für integrale Gesprächs- und Focusingtherapie" (igf). Als Max-Planck-Stipendiat promovierte er über "Interkulturelle Kommunikation". Seit 1990 bildet er Trainer, Coaches und Therapeuten in Gesprächstherapie und Wahrnehmungsschulung (Focusing) aus. An der Semmelweis-Universität Budapest lehrte er deutschsprachigen Studenten der Medizin moderne Psychotherapieverfahren und Focusing. Er beriet renommierte Unternehmen, darunter Bertelsmann (als Mitbegründer des "100-Tage-Trainings für Führungskräfte"), Ritter Sport, u.a. Als offizieller Focusing-Koordinator für Deutschland leitet er Aus- und Fortbildungen in Focusing, Gesprächstherapie, Achtsamkeitsschulung und Entscheidungsfindung. Er wurde in die Liste der "Top Exzellent Trainer" (Deutschland, Österreich, Schweiz) aufgenommen.
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Buchvorschau
Integrale Psychologie - Rainer Eggebrecht
KAPITEL 1: Kurze Darstellung der humanistischen Psychologie
(Carl Rogers)
In jeder wissenschaftlichen und psychologischen Methode gibt es Techniken und Grundhaltungen. Diese Werte nennt man in der Philosophie »Axiome« – Grundüberzeugungen, auf die man sich geeinigt hat und die nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen. Unser Grundgesetz besteht aus Axiomen, zum Beispiel: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« (wie weit dies tatsächlich voll umgesetzt wird, ist eine andere Frage). Axiome der Psychologie sind Einfühlung, Akzeptanz und Authentizität.
Carl Rogers, der Begründer der Klientenzentrierten Therapie (in Deutschland auch »Humanistische Psychologie« genannt), hat diese Grundwerte deutlich formuliert. In einem berühmt gewordenen Diskurs aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts standen sich zwei Auffassungen vom Menschen unversöhnlich gegenüber:
Skinner (der Begründer der Verhaltenstherapie) behauptete, der Mensch sei manipulierbar und damit »machbar«. Carl Rogers hingegen behauptete, der Mensch sei frei und autonom.
Doch statt zu fragen, welcher Ansatz richtig oder falsch ist, erkennen wir heute aus integraler Perspektive, dass jeder Ansatz wahr – aber nicht vollständig ist. Nun können wir herausfinden, wie die Teilwahrheiten zusammenpassen und wie man sie integrieren kann, statt sich für eine zu entscheiden und die andere zu verwerfen.
Carl Rogers betont, dass seelische Gesundheit eng mit einem Zustand der Kongruenz (Echtheit) verbunden ist: Wenn das Selbst-Konzept nicht mit der Erfahrung von Wirklichkeit übereinstimmt (Rogers nennt dies »organismische Erfahrung«), führt dies zu Inkongruenz und Spannungen. In erster Linie geht es darum, diese Grundhaltungen möglichst effektiv zu verwirklichen: Echtheit, nicht urteilende Wertschätzung (Akzeptanz) sowie Empathie – im Sinne von einfühlendem Verstehen und Erfassen des inneren Bezugsrahmens unseres Gegenübers. Die Art und Weise, wie Menschen sich erleben, wird als entscheidender Faktor des personzentrierten Ansatzes gesehen.
Echtheit (Kongruenz): Die erste Bedingung der personzentrierten Haltung ist Echtheit, Unverfälschtheit oder Kongruenz. Je mehr man in einer Beziehung man selbst ist, das heißt, keine professionelle Attitüde und keine persönliche Fassade zur Schau trägt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch unser Gegenüber versucht, sich so zu verhalten und damit auf konstruktive Weise zu wachsen.
Kongruenz erlaubt es, offen Gefühle und Einstellungen wahrzunehmen, die einen selbst bewegen, also Zugang zu dem zu haben, was innerlich in einem abläuft, und real als Person anwesend zu sein – was jedoch nicht bedeutet, dass man sich ständig mitteilt.
Ruth Cohn beschreibt dies treffend: »Nicht alles, was echt ist, muss ich sagen, aber was ich sage, sollte echt sein!« (mündliche Mitteilung).
Einfühlsames Verstehen (Empathie): Dies ist der zweite förderliche Aspekt – die Fähigkeit, Erlebnisse und Gefühle genau und sensibel zu erfassen. Diese Art des sensiblen, aktiven Zuhörens ist selten in unserem Leben. Wir glauben oft zuzuhören, aber es geschieht selten mit wirklichem Verständnis und echter Einfühlung. Nach Rogers ist diese ganz besondere Art des Zuhörens eine der mächtigsten Kräfte der Veränderung, die es gibt.
Wertschätzen (Akzeptanz): Die dritte Voraussetzung ist das Akzeptieren (das Anerkennen dessen, was ist – auch wenn es uns stört). Akzeptieren bedeutet nicht, jede Äußerung oder Verhaltensweise unseres Gegenübers gutzuheißen oder zu billigen. Hier stößt man sowohl als Helfer wie auch als Privatperson an seine eigenen Grenzen, die man selbst akzeptieren und bestehen lassen muss.
Der Weg ist ebenso wichtig wie das Ziel: Die personorientierte Haltung, die auf diesen drei Bedingungen beruht, ist nichts Statisches, das man lernt und dann »hat«, sondern ein Ziel, das man in einem fortlaufenden Lernprozess immer wieder neu anstrebt.
Dadurch erfahren wir vielleicht auch, wie es ist, uns selbst zu transzendieren, und aktivieren unsere Fähigkeit, neue spirituelle Richtungen der menschlichen Entwicklung zu erschließen.
Kurze Wahrnehmungs- und Besinnungsübung:
Setzen Sie sich entspannt hin und lassen Sie einfühlsam – und ohne irgendeinen Leistungsanspruch – folgende Frage auf sich wirken:
Wer in meinem Leben hat mir mal wirklich zugehört?
Bleiben Sie ein oder zwei Minuten einfach offen in Ihrer Wahrnehmung – ganz gleich, welche Erinnerungen, Gedanken, Bilder, Gefühle oder Körperempfindungen entstehen.
Vielleicht ist es eine diffuse Mischung aus alledem – nehmen Sie einfach alles wahr.
KAPITEL 2: Logische Erkenntnisse der Kommunikationspsychologie
Die Kommunikationspsychologie wurde in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch Paul Watzlawick und Friedemann Schulz von Thun einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Sie bietet logische Grundlagen zum Verständnis polar-gegensätzlicher Begrifflichkeiten und Kommunikationsstörungen – und ist damit auch für integrales Denken von Bedeutung.
Ein wichtiges Modell daraus ist das Werte-Rechteck.
Darstellung des Werte-Rechtecks
Menschliches Verhalten ist polar. Unsere kognitiven Denkstrukturen sind so angelegt, dass es von jeder Eigenschaft immer auch einen Gegenpol gibt: friedlich – konfliktfähig; großzügig – sparsam; ich-bezogen – sozial; alleine – zusammen usf.
Beispiel:
Erkenntnis 1: Wir denken in Gegensätzen.
Erkenntnis 2: Jede Polarität weist immer zwei Ausprägungen auf: eine positive und eine ins Negative übertriebene.
Erkenntnis 3: Eine Eigenschaft ist dann positiv, wenn sie noch einen Bezug zur Polarität aufweist (heller »Schatten«). Ansonsten neigt sie zur Übertreibung und gerät damit ins Minus, da ihr das Korrektiv der Gegenseite fehlt (dunkler »Schatten«).
Beispiel: Ja-Sagen ist nur dann positiv, wenn man bei Bedarf auch Nein sagen kann. Wenn Nein-Sagen »im (dunklen) Schatten liegt« – wenn man niemals Nein sagen kann, dann wird man ein Ja-Sager.
Ursachen für problematische Beziehungen liegen oft in zu unterschiedlichen Erwartungshaltungen: Wird das Verhalten eines anderen für uns schwierig, so hängt dies oft mit unserem eigenen »Schatten« zusammen, d. h. diese Verhaltensweise ist uns fremd und wird daher leicht negativ überbewertet und abgewertet.
Der »Schatten« kann hellgrau bis tiefschwarz sein: je dunkler, umso weniger können wir noch etwas Positives darin wahrnehmen und übertreiben den eigenen Standpunkt auf unserer Werte-Rechteckseite. Wenn Sie kein Gespür mehr dafür haben, dass »alleine sein« auch ein positiver Wert ist, fehlt Ihnen das Korrektiv der Gegenseite und Sie übertreiben den Wunsch nach Zusammensein. Den Abgrenzungswunsch Ihres Partners können Sie dann nur mehr im Minus als Egozentrik interpretieren.
Die Entwicklungslinie liegt auf der Diagonale – von der negativen Übertreibung hin zum positiven Gegenpol:
Wenn Sie am anderen das Alleine-sein-Wollen stört, könnte es sein, dass Sie selbst sehr anlehnungsbedürftig sind. In diesem Fall sollten Sie sich fragen: Was kann ich tun, um meine Fähigkeit zum Alleine-Sein weiterzuentwickeln? (Ihren »Schatten« aufhellen, um wieder positiv teamfähig zu werden).
Übung: Entwickeln Sie nun Ihr eigenes Werte-Rechteck für die Frage: Welches Verhalten stört mich an anderen?
Dann fragen Sie sich, auf welcher Seite Sie eher beheimatet sind (ankreuzen). Stricheln Sie bitte die andere Seite »schattig« ein. Da Ihr Schatten bestimmt (!) nur hellgrau ist, fällt es Ihnen sicher nicht allzu schwer, Ihre Entwicklungsrichtung zur positiven Ausprägung Ihres »schattigen« Gegenpols zu erkennen und mit einem Pfeil einzuzeichnen.
Bei dunklem Schatten können Sie nur mehr das Minus der Polarität wahrnehmen. Homöopathisch ausgedrückt, könnte man auch so formulieren: Das, was Sie am anderen am meisten stört, benötigen Sie selbst in einer gesunden Dosis (den positiven Aspekt, der im »Schatten« liegt) – für Ihre eigene Weiterentwicklung.
Zu Beginn einer Beziehung ist Gegensätzlichkeit (Polarität) meistens sehr attraktiv: Sie verlieben sich wahrscheinlich nicht in jemanden, der die gleichen »Macken« hat wie Sie selbst –Sie verlieben sich in jemanden, der dort über Stärken verfügt, wo Sie selbst weniger Kompetenzen besitzen. So finden und ergänzen sich: der Ruhige und der Vielredner, der Lebensfrohe und der Verantwortungsvolle, der Durchsetzungsfähige und der Friedliche. Eigentlich müssten wir beim ersten Kennenlernen ehrlicherweise sagen:
»Ich habe hier ein schattiges Plätzchen neben mir – willst du es mir nicht aufhellen?«
In Paarberatungen frage ich manchmal zerstrittene Paare: »Was hat Ihnen an Ihrem Partner(in) gefallen, als Sie sie/ihn kennen gelernt haben? Meist ist das genau die Eigenschaft, die Sie heute stört (sie ist nur vom Plus ins Minus gerutscht). Das heißt: Sie lassen sich das Anderssein vom Partner gerne schenken – wenn diese Eigenschaft später aber gegen Sie gewendet wird, dann sehen Sie nur mehr den Ihnen fremden dunklen »Schatten« in seiner Minus-Ausprägung.
So wird aus der liebevoll-temperamentvollen Partnerin, die Ihr Leben eines eher ruhigen Zeitgenossen angenehm in Schwung bringt, irgendwann eine hysterisch-nervige Frau, die Türen knallt und launisch ist. Umgekehrt