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Der letzte Traum
Der letzte Traum
Der letzte Traum
eBook373 Seiten4 Stunden

Der letzte Traum

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Über dieses E-Book

Ein Roadtrip mit dem Fahrrad.
Auf der Flucht vor dem letzten Traum.
Mit Albträumen im Gepäck.

Menschen wie verblichene Polaroid-Fotos säumen den Weg durch eine sterbende Gesellschaft. Die letzten Überlebenden sind rastlos, schlaflos und erzählen ihre Geschichten. Wer hört zu, wenn der Schlaf zum letzten Mal die Arme um die Welt schlingt?
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum8. Feb. 2022
ISBN9783903296404
Der letzte Traum

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    Buchvorschau

    Der letzte Traum - Faye Hell

    DER LETZTE TRAUM

    Faye Hell

    Roman

    Grafik2

    Die Deutsche Bibliothek und die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnen diese Publikation in der jeweiligen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten:

    http://dnb.ddp.de

    http://www.onb.ac.at

    © 2022 Verlag ohneohren, Ingrid Pointecker, Wien

    www.ohneohren.com

    ISBN: 978-3-903296-40-4

    1. Auflage

    Autorin: Faye Hell

    Coverbild: Anatoly777 | pixabay.de

    Lektorat, Korrektorat: Verlag ohneohren

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und/oder des/der Autor:in unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind völlig frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    E-Book Distribution: XinXii

     www.xinxii.com

    logo_xinxii

    Inhaltsverzeichnis

    Anmerkung des Verlags

    eins

    zwei

    drei

    Mariem

    vier

    fuenf

    Anuk

    Papst

    sechs

    sieben

    Sebana

    acht

    Mateo

    Claudia

    Ich

    Die Autorin

    Hinweise zum Inhalt - Content Notes

    Anmerkung des Verlags

    Faye Hell hat einen sehr heftigen Roman geschrieben, der viele Themen berührt, die unangenehm sind. Sehr sorgfältig haben wir uns darum bemüht, diese so vollständig wie möglich aufzuführen. Trotz aller Sorgfalt kann uns etwas entgangen sein, gerade weil dieses Buch sehr viele Themen anspricht.

    Die Liste findet ihr hier ganz am Ende des Buches.

    Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

    Francisco de Goya (1746–1828)

    eins

    1670 Meilen bis Carlsbad, New Mexico.

    Dreiundzwanzig Stunden Fahrtzeit.

    Ich sitze hinter dem Steuer des Pick-up-Trucks. Ein altes, unverwüstliches Blechungetüm. Genau der Begleiter, den sich eine mutige Einzelkämpferin in einem Endzeit-Roadmovie auf ihrem Weg durch die fiktive Apokalypse wünschen würde. Dawn of the Pick-up-Truck. Ein verbissenes Arbeitstier, das zwar keine Seele, dafür aber eine Geschichte hat.

    Deine Geschichte.

    Ein verdammter Ford. Natürlich ein verdammter Ford, mitten im verdammten Detroit. Er ist der Inbegriff dieser Stadt, die bereits im Sterben lag, als die Menschen noch gefahrlos träumen konnten und dabei nur ihren Glauben an die Gerechtigkeit, die Menschheit und sich selbst riskierten.

    Der Truck ist ihr Herzenskind. Mir ist Detroit nie eine Mutter gewesen. Keine gute, keine schlechte. Gar keine.

    Ich starre das Lenkrad an. Kralle meine Nägel in das weiche Leder, als würde ich meine Klauen in das Fleisch eines Zinnmanns schlagen. Der Pick-up erduldet meine Umklammerung. Ich schließe meine Augen, lehne mich nach vorne und drücke meine Stirn gegen die glatte, tote Tierhaut. Rieche daran. Ich frage mich, ob nach all der Zeit noch dein Geruch daran haftet, doch mir steigt nur der ranzige Gestank einer endgültig bedeutungslos gewordenen Vergangenheit in die Nase. Instinktiv halte ich den Atem an, öffne meine Augen, richte mich wieder auf und presse meinen ausgemergelten Körper in den durchgesessenen Autositz. Ich betrachte den Schlüssel, der im Zündschloss steckt. Es grenzt an ein Wunder, dass ich ihn überhaupt gefunden habe. Und das an einem Punkt, an dem die Zeit der Wunder offiziell vorbei ist. Sie haben es gestern in den Nachrichten gebracht.

    Der Schlüssel verspottet mich.

    Er ist im Recht.

    Und es funktioniert.

    Ich verspüre Scham. Und Furcht. Weil das hier keine Fiktion ist und ich weder mutig bin, noch eine Kämpferin. Ich bin eine Frau, die in einem alten Truck sitzt. Mehr nicht. Das Garagentor ist weit geöffnet, aber ich wage es nicht, den Motor zu starten. Der Truck hat zu lang vom Weltgeschehen und mir unbewegt in der Garage gestanden und ich weiß nicht, ob er überhaupt anspringen wird. Aber das ist es nicht, was mich zögern lässt. Das ist es nicht, was mich für den gerechtfertigten Spott des Schlüssels empfänglich macht.

    1670 Meilen.

    In deinem Truck.

    „Wie kannst du in einer Stadt wie Detroit nur ohne Auto überleben?", haben mich unsere gemeinsamen Freunde immer gefragt. Wie sich nun zeigt, ist es nicht meine unangemessene, autolose Existenz, die mein Leben aufs Spiel setzt.

    Der Traum ist die Bedrohung.

    Es ist auf eine absolut humorlose Weise makaber. Ich hatte immer schon den Eindruck, dass Träume unberechenbar sind.

    Gefährlich.

    Ich hatte keine Ahnung wie gefährlich.

    Ich sehne mich an jenen Punkt der Geschichte zurück, an dem die einzige Gefahr, die von unseren Träumen ausging, jene war, dass sich diese nicht erfüllten. Wir hatten Angst einsam und entzaubert aufzuwachen. Enttäuscht zu werden. Wir hatten Angst, das Träumen am Ende aufzugeben und bloß noch zu funktionieren. Heute funktioniert gar nichts mehr.

    Eigentlich kümmert es mich nicht, dass es dein Truck ist.

    Es sind die dreiundzwanzig Stunden.

    Das ist zu wenig.

    Das kann und darf nicht alles sein, was mir vom Leben bleibt.

    Ich will schlafen und ich will tatsächlich endlich wieder träumen, aber ich bin nicht bereit dazu, es in dreiundzwanzig verdammten Stunden zu tun. Vielleicht ist die Welt ganz allgemein fertiggefahren und demnach auch fertig mit mir, aber ich habe noch nicht abgeschlossen. Nicht mit mir und nicht mit der Welt.

    Nicht mit dir.

    Mein impulsives Sehnen, das mich davon abhält, den Motor zu starten, ist keinesfalls romantischer oder optimistischer Natur.

    Es ist vollkommen illusionsbereinigt.

    Ich brauche keine Hoffnung. Scheiß auf Hoffnung! Sie ist die scheinheilige kleine Schwester des Traums. Das macht die Hoffnung ebenfalls gefährlich. Alles, was ich brauche, ist mehr Zeit. Dann werde ich die Fledermäuse beim Verlassen ihrer Höhle beobachten. Sobald die letzte Fledermaus in die Dunkelheit verschwindet, werde ich die Augen schließen und ebenfalls hinübergleiten.

    Auf den Schwingen meines letzten Traumes.

    „Aber ich brauche mehr Zeit. Das ist alles."

    Mein nervöser Blick wandert ziellos durch die Garage und bleibt an meinem rot lackierten Worksman-Industrial-Bike hängen, das in der rechten Ecke neben dem Tor lehnt. An manchen Stellen blättert der von mir unsachgemäß aufgetragene Lack ab. Das Fahrrad sieht schäbig aus. Als hätte es eine Krankheit. Ein krankes Rad in einer kranken Welt.

    „Genug Zeit", flüstere ich.

    zwei

    Der kühle Fahrtwind weht mir ins Gesicht.

    Die Stadt riecht nach Rauch.

    Ich trete fester in die Pedale, stelle mir vor, ich könnte abheben wie der verschrumpelte Außerirdische in diesem Kinderfilm. Bloß würde ich nicht nach Hause reisen, sondern meinem Zuhause und allem, was damit verbunden ist, den Rücken kehren. Da fällt mir ein, dass ich nichts mehr von Wert habe, das ich zurücklassen könnte. Ich muss mich weder von Last noch von Glück befreien.

    Ich bin bereits frei.

    Das erste Mal in meinem Leben bin ich tatsächlich frei. Doch jetzt, wo es soweit ist, sind das Leben und die Freiheit gleichermaßen bedeutungslos. Da gibt es nichts mehr in diesem Haus, das beinah zwanzig Jahre lang die Schuhschachtel gewesen ist, in der ich mein kleines lächerliches Leben aufbewahrt habe. Es ist nichts mehr davon übrig. Bloß ein alter Truck in einem baufälligen Haus.

    Ich höre auf zu treten, denke darüber nach anzuhalten.

    Bleib stehen, erklingt deine fordernde Stimme in meinem Kopf, fast so, als wärst von nun an du derjenige, der meine Gedanken formuliert. Fast so, als hätte ich die Kontrolle über meine Gedanken verloren und nicht dich. Aber der Weg führt leicht bergab. Das Rad rollt von ganz allein und ich habe nicht die Kraft, die Bremse zu betätigen. Meine Hände zittern. Es ist eigenartig, anhalten zu wollen, aber es im selben Atemzug nicht genug zu wollen, um auch tatsächlich zu bremsen. Würde das Rad von selbst langsamer und langsamer werden und schließlich anhalten, würde ich nicht wieder in die Pedale treten. Aber bremsen. Bremsen würde ich nicht.

    Ich füge mich in die Situation.

    Das ist es, was ich gelernt habe.

    Zu mehr reicht es nicht.

    „Aber ich bin losgefahren! Ich füge mich nicht mehr, ich kämpfe. Siehst du? Ich kämpfe!", brülle ich und meine Gedanken verstummen. Du verstummst. Ich weiß selbst, dass mein angeblicher Kampf eine Lüge ist, aber die Lüge reicht aus, um mich wieder schneller fahren zu lassen.

    Seit Monaten ist es die Lüge, die alles am Laufen hält. Uns alle weitermachen lässt.

    Und täglich werden wir alle weniger und weniger.

    Und die Lüge dreht und dreht die Welt.

    Aber wer weiß schon, was mit der Lüge geschehen wird, jetzt wo das Wunder für tot erklärt worden ist.

    Der eiskalte Wind pfeift mir um die Ohren. Später muss ich anhalten und mir eines meiner Tücher um den Kopf wickeln. Ich werde drei Wochen unterwegs sein. Ich darf nicht krank werden. Kranke Menschen schlafen viel zu tief. Sie erwachen nicht, wenn der Fiebertraum sie holt. Ich muss meine Ohren schützen, ich kann kein Fieber riskieren.

    Ich habe mein schulterlanges Haar abrasiert. Die Stoppeln sind drei Millimeter lang. Ich bin pflegeleicht geworden, als die ersten Menschen in unserer Straße nicht wieder aus ihren Betten aufgestanden sind. Junge Menschen. Gesunde Menschen. Träumer, wie du und ich es einst gewesen sind.

    Ich mag es, dass mein Haar ist, wie ich jetzt bin.

    Pflegeleicht.

    Warum ist das nicht immer so gewesen?

    Pflegeleicht.

    Das damals vermeintlich beklemmende Leben weiß man erst zu schätzen, wenn der nahende Winter die verstohlen geweinten Tränen in Eiskristalle verwandelt. Ich verziehe den Mund. Ich hasse es, wenn sentimentale Bilder meine Gedanken einholen, obwohl ich doch gar nicht gebremst habe.

    Die Häuser ziehen an mir vorüber, während ich die verlassene Straße entlangfahre. Die meisten sind bloß noch ausgebrannte Ruinen. Wie die Jahresringe an einem Baum das Alter markieren, geben die Ruinen Auskunft über den Verfall der Stadt. Da gibt es die Häuser, die vor zehn Jahren schon in Flammen aufgegangen sind und dann gibt es jene, die letzte Nacht erst gebrannt haben.

    Ich fahre durch ein Schlagloch und mein Rad gerät ins Wanken. Die schweren Satteltaschen auf dem Gepäckträger verstärken die zerstörerische Kraft, die mich erst aus dem Gleichgewicht und danach zu Fall bringen will.

    Als ich das Rad auf einem Flohmarkt gekauft habe, hat es keinen Gepäckträger gehabt. Den hast du gebaut, weil ich ihn gebraucht habe. Ich habe dich nicht darum gebeten, du hast es einfach gemacht. Du hast gewusst, dass mir die Dinge, die ich tatsächlich brauche, weit mehr Freude bereiten, als jene Dinge, nach denen ich mich theoretisch sehne. Das Rad selbst ist grob und solide. Der Rahmen wird von zwei Oberrohren gestützt. Das Rad erweckt den Anschein, als könne es den Weltuntergang überdauern. Der grobschlächtige Gepäckträger aus rostfreiem Stahl wirkt, als würde er noch unverwüstlich aus der verbrannten Erde emporragen, während der rote Rahmen zu schwarzem Staub zerfällt.

    Um die Hässlichkeit des Praktischen erträglich zu machen, hast du die Satteltaschen gekauft. Sie haben das von mir Gebrauchte durchaus schöner, aber vor allem haben sie es praktischer gemacht. Das dicke Leder ist speckig und zu den Rändern hin wird aus dem leicht rötlichen Braun fast schon ein Schwarz. Die Deckklappen werden mit jeweils zwei Schnallen verschlossen. Eine der beiden Schnallen der rechten Tasche ist verloren gegangen. Wenn ich fahre, flattert die Deckklappe im Wind.

    Ein Lederfähnlein im Wind.

    Ich habe diese Satteltaschen immer gemocht.

    Wie man in Detroit ohne Auto überleben kann?

    Ganz einfach, mit Satteltaschen auf dem Gepäckträger.

    Früher sind die Taschen häufig bis obenhin mit Nahrungsmitteln gefüllt gewesen. Heute sind die beiden braunen Ledertaschen bis auf einige Wasserflaschen beinah leer. Meine wenigen Habseligkeiten habe ich in meinen Rucksack gepackt. Es muss irgendeine verquere Logik dahinterstecken, die mich dazu zwingt, meine Zahnbürste möglichst nah an meinem Körper zu tragen.

    Ich habe einen Kamm mitgenommen, fällt es mir ein und ich beginne lauthals zu lachen. Öffne meinen Mund weit für den eiskalten Wind. Spüre, wie meine Lungenflügel gefrieren. Mein Herz.

    „Ich habe einen Kamm mitgenommen!", brülle ich gegen den Wind an. Meine Stimme klingt wie der Schrei einer hysterischen Nebelkrähe. Ich schäme mich nicht, ich bin zu ausgelaugt für Scham, aber ich bin dennoch froh, dass mich niemand hören kann. Die Leute sind entweder tot oder sie haben ihre Häuser und Ruinen verlassen. Sie glauben, wenn sie auf Reisen gehen, bleibt ihr Geist wach. Bleiben sie wach. Der einst so verpönte ruhelose Geist ist zur Überlebensstrategie geworden. Nur wenige Menschen sind geblieben und die wollen die Stadt brennen sehen.

    Und die Welt.

    „1670 Meilen", flüstere ich, als würde ich ein verdammtes Geheimnis bewahren. Mein Wahnsinn gehört allen. Auch denen, die ihn nicht mehr hören können. Mein Ziel gehört nur mir.

    1670 Meilen.

    In vierzig Meilen werde ich endlich das Stadtgebiet verlassen.

    Und irgendwo viel weiter da draußen wartet die Wüste.

    Sie ruft mich nicht, aber sie wartet.

    Ich hasse und bewundere es, dass die Wüste so geduldig ist.

    drei

    Sobald Detroit hinter mir liegt, nimmt der Verkehr wieder stetig zu. Scheint die Motor City ausgestorben, menschen- und motorenleer, so tummeln sich ihre röhrenden Kreaturen auf den Freeways und Highways außerhalb der Stadt. Wie Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Wie ein Vermächtnis, das schwer im Magen liegt und deshalb heraufgewürgt wird. Wie die Haarballen einer Katze auf dem Fußboden vor dem Bett.

    Detroits ausgekotzte Kinder.

    Die neuen Nomaden sind auf der Flucht vor ihren Träumen.

    Ihren letzten Träumen.

    Gut zwanzig Meilen nach Ann Arbor biege ich in einen etwas breiteren Feldweg ein. Dieser erweist sich wenig überraschend als verlassen, aber beschwerlich. Hat in der Stadt der Vorbote des Winterwinds mein Gesicht und meine Glieder schmerzhaft gekühlt, klebt nach wenigen Minuten auf der unasphaltierten Fahrbahn Schmutz auf dem Schweißfilm, mit dem die Hitze der Überanstrengung meinem müden Körper überzieht. Ich halte an und reiße das Tuch, das ich wie einen Turban trage, von meinem fast kahlen Schädel. Meine Schultern schmerzen und mein Atem rasselt, als hätte ich nicht nur Schmutz im Gesicht, sondern auch Schotter in der Lunge.

    Ich drehe mich um und mustere den Weg, den ich gerade gekommen bin. Dann richte ich den Blick wieder geradeaus. Ich habe die sinkende Sonne im Nacken. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich nur daran gedacht habe, dass ich mehr Zeit brauche. Mehr Zeit auf meinem Fahrrad. Aber ich habe mich niemals gefragt, was ich zu tun gedenke, sobald ich absteige. Ich kann nicht durchfahren.

    Ich muss mich ausruhen, ohne zur Ruhe zu kommen.

    „Scheiße", fluche ich und ein Schwarm Sperlinge erhebt sich aus dem Gestrüpp zu meiner Linken. Sie schreien, als wären sie empört darüber, dass ich ihre gemächliche Vorabendstimmung störe.

    „Ich habe Scheiße gesagt!", brülle ich ihnen hinterher und schäme mich. Die Stunden zuvor noch für unmöglich gehaltene Scham ist unendlich kostbar. Ich will sie dennoch nicht. Es ist entwürdigend. Nicht, weil mich die Vögel zum Brüllen bringen, sondern weil ich die Vögel beneide. Ich weiß, sie haben es sich in dieser Hecke gemütlich gemacht, weil sie demnächst schlafen wollen. Ich vermeide seit genau achtundsechzig Tagen jede Form von Gemütlichkeit. Dankenswerterweise raubt mir meine Depression ohnehin meist den Schlaf. Aber wer schläft schon fest, wenn die Welt untergeht?

    Und das nicht mit einem gnädigen Knall, sondern einem abscheulich leisen Wimmern.

    Einem verdammt langatmigen Wimmern.

    Wer schläft?

    Ich kenne die Antwort.

    Die Sperlinge schlafen.

    Aber sie schlafen wenigstens nicht in diesem elenden Gestrüpp. Ich gönne ihnen ihr Gestrüpp nicht. Es gibt keinen Grashalm mehr auf dieser Welt, der noch für mich bestimmt wäre, warum sollten Sperlinge dann einen ganzen Strauch ihr Heim nennen dürfen? Das Wort Heim aus ihren weit aufgerissenen Schnäbeln schreien dürfen? Es kümmert mich nicht, dass sie ein paar Meter weiter einen anderen Busch, dessen rotes Herbstlaub ein visuelles Feuer entfacht, bevölkern. Mir genügt der Moment der Vertreibung, der meine armselige Seele bereichert. Ich selbst will noch gar keinen Platz zum Verweilen finden, also wird mich mein Weg ein paar Meilen weiter Richtung Carlsbad führen. Aber ich muss der Wahrheit ins schmutzige Gesicht starren. Mein Worksman-Industrial-Bike ist ebenso wenig wie ich für diesen Feldweg geschaffen. Schweren Herzens wende ich. Es geht zurück auf die Straße, wo das Rad im Minutentakt von Zinnmännern und Zinnfrauen überholt wird.

    Das Rad.

    Ich habe es immer vermieden, ihm einen Namen zu geben.

    Nur sentimentale Idioten beseelen Lebloses. Laden Gegenstände mit Persönlichkeiten auf, kreieren Menschendinge, weil die Menschheit ihnen zu artifiziell erscheint. Und grausam.

    Ich beschließe, dass nun die Zeit dafür gekommen ist, dem Rad einen Namen zu geben.

    Esel, komm schon, König der Straße."

    Ich schiebe Esel den Schotterweg entlang, weil ich mich nicht dazu durchringen kann, wieder aufzusteigen. Schritt für Schritt, so werde ich diesen Tag ausklingen lassen und abwarten, was die Nacht bringt. Fürs Erste ist das Plan genug. Es tut gut, sich an etwas Lebloses, das einen Namen hat, zu klammern. Weil meine Füße schwer sind und ich froh bin, dass ich mich festhalten kann. Weil mir das Leblose nicht mein Herz brechen wird. Wetten würde ich darauf allerdings keine abschließen. Mein Herz wird von Rissen zusammengehalten.

    Wer auf mein Herz setzt, hat schon verloren.

    „Sieht aus, als könntest du ein Taxi gebrauchen, Cutie."

    Ein Wagen fährt im Schritttempo neben mir her. Ein bemerkenswert hässlicher Kombi mit einer einschüchternd schönen Frau darin.

    „Ich komm klar", knurre ich und schiebe Esel das schwarze Asphaltband entlang.

    „Das sieht nicht so aus. Komm schon", erwidert die Prinzessin, die den Fehler gemacht hat, ihr Märchenbuch zu verlassen. Offensichtlich hat sie das Memo nicht erhalten. Sie weiß nichts vom Weltuntergang. Weshalb sollte sie sonst freundlich sein?

    Das Gute am Ende ist, dass Moral und Konvention ebenfalls draufgehen. Und das noch schneller, als wir es tun. Niemals zuvor ist es leichter gewesen, die Wahrheit zu sagen. Oder dem Nachbarn zwischen die Augen zu schießen. Das ist sogar für Detroit eine Steigerung. Eine Steigerung des Zerfalls.

    „Hallo? Hörst du mich? Ich will dich mitnehmen!"

    Ich könnte mich auf das Rad setzen und einfach weiterfahren. Das wäre sicher die beste Antwort auf ihre beharrliche Hilfsbereitschaft, aber ich schaffe es nicht. Allein der Gedanke daran lässt die Kieselsteine in meiner Lunge knirschen. Ich bleibe stehen und der Kombi hält neben mir an.

    „Schon besser, freut sich Barbiegirl. „Ich brauche wirklich Gesellschaft. Und mal ganz ehrlich, du siehst grauenvoll, aber harmlos aus. Ich will ja nicht Ted Bundy auf dem Beifahrersitz haben.

    „Du bist in Sicherheit. Ted Bundy hat nur Brünette gekillt."

    Sie lacht und wirft ihr strohblondes Haar über ihre rechte Schulter.

    „Das ist ja cool", stellt sie fest.

    „Cool?", frage ich irritiert.

    „Es ist cool, dass du so etwas weißt. Ich bin kein Psycho. Versprochen."

    „Das ist genau das, was ein Psycho sagen würde."

    „Und selbst wenn ich einer wäre, würde das noch eine Rolle spielen?"

    Ich denke kurz über ihre Worte nach. Sie hat recht. Es spielt keine Rolle mehr. Die schleichende Apokalypse stellt alles andere in den Schatten. Ich schüttle den Kopf.

    „Keine Rolle. Gar keine."

    „Ausgezeichnet! Ich bin übrigens Mariem", stellt sie sich fröhlich vor.

    „Das ist Esel", sage ich und deute auf mein Fahrrad.

    „Super, freut mich. Klapp die Rückbank um, pack Esel in den Kofferraum und wir reiten gemeinsam in den Sonnenuntergang."

    „Also doch ein Psycho", stelle ich fest.

    „Bedeutungslos, Cutie. Alles ist bedeutungslos."

    Im Auto machen wir das, was zwei Fremde im Auto nun mal machen, wenn nicht einer für die Gesellschaft des anderen bezahlt hat.

    (Cash, Drogen, Alkohol, geheuchelte Bewunderung. Nicht nur Huren sind käuflich.)

    Eine Viertelstunde lang mimen wir mit mäßigem Erfolg die freudentrunkenen Hauptdarstellerinnen einer beliebigen Broadway-Komödie und überschütten einander mit leeren Belanglosigkeiten. Eigentlich überschüttet sie mich. Ich trinke, seltsamerweise ohne zu ertrinken, und lächle höflich. Finde sogar vier mäßig anerkennende Worte. Für eine Todgeweihte bin ich in Smalltalk-Höchstform.

    Schönes Rad.

    Schicker Wagen.

    Unwahrscheinlich heißer Tag heute.

    Die Vögel fliegen tiefer als sonst.

    Bei Wallstore kann man jetzt auch Einbauküchen kaufen.

    Inklusive Einbaugeräte?

    Dann versinken wir in stoischem Schweigen. Der spiegelglatte See des Bewusstseins ist ein stiller, doch die Wasser des Unterbewusstseins sind tief. Und verschlammt. Und zu unserem Selbstschutz größtenteils unergründlich. Selbst der verbale Wasserfall, der eben noch zwischen Mariems vollen Lippen herausgesprudelt ist, verkommt zu einem halbherzigen Tröpfeln unartikulierter Laute.

    Ein Seufzen?

    Ein Lachen?

    Der leise Ton, den unsere sterbende Welt ausstößt?

    Ich weiß es nicht. Auf der Suche nach der richtigen Antwort fallen mir die Augen zu.

    „Du kannst gern schlafen, wenn du willst."

    Mariems Worte lassen mich hochschrecken. Ich reiße die Augen auf und schreie: „Ich habe nicht geschlafen!"

    Sie muss nichts erwidern, denn diese Worte kenne ich. Ich habe sehr wohl geschlafen und ich habe es verabsäumt, davor meinen Wecker zu stellen.

    Mein Nachbar hat ihn für mich gebastelt. Er hängt an einem blauen Strick. Ich trage den Wecker an seiner improvisierten Kette unter meinem T-Shirt, direkt auf meiner blanken Haut. Um mich zu wecken, gibt er nicht nur ein manisches Schrillen von sich, sondern versetzt mir auch einen leichten Stromschlag. Ich kann nicht sagen, wie es funktioniert, aber es funktioniert. Es funktioniert so gut, dass mein Nachbar gar nicht mehr hat einschlafen können. Er hat sich erhängt. In seiner Garage. Mit einem blauen Strick. Er ist der letzte Wachgebliebene seiner Familie gewesen. Er wird dort hängen bleiben, bis einer sein Haus abfackelt oder er von selber abfällt.

    In einer eindeutigen Welt gibt es keine unbeabsichtigten Zweideutigkeiten mehr.

    Und ja, ich habe ihn persönlich dort hängen sehen. Und nein, man schläft nicht einfach ein. Jedes Quäntchen Schlaf wird genau geplant. Das ist kein Spiel.

    Die traumlose Welt schläft minutiös oder sie stirbt.

    „Ich habe nicht geschlafen", wiederhole ich, doch dieses Mal verkommt der aggressive Aufschrei zur defensiven Frage.

    Ich bin außer Atem. Keuche, als wäre ich dem Tod von der Schippe gesprungen und hätte einen Dreihundertmetersprint hingelegt, damit den Tod und mich wenigstens dreihundert Meter voneinander trennen.

    Sie hätte mich weiterschlafen lassen können.

    Sie hätte mich träumen lassen können!

    „Du kannst gern schlafen, wenn du willst", wiederholt nun sie. Wir sind in einer Endlosschleife gefangen, aber wenigstens sind wir nicht verloren. Doch bevor ich abermals bekräftigen kann, dass ich nicht geschlafen habe, durchbricht sie das Muster.

    „Wirklich, schlaf ruhig."

    Ihre Stimme klingt mit einem Mal derart traurig, dass sich mein einsames Herz unter dem Stromschläge verpassenden Wecker zusammenzieht.

    „Du musst nicht traurig sein", sage ich, noch bevor ich darüber nachdenken kann, warum ich das sage. Noch bevor mir bewusst wird, dass ich das besser nicht hätte sagen sollen. Dass mir eine derartig lapidare und gleichzeitig elementare Äußerung einer Fremden gegenüber nicht zusteht.

    „Ich denke nicht, dass du recht hast, aber danke, antwortet sie und ihr Lächeln ist so bittersüß, als würde Lakritze von ihren spröden Lippen tropfen. „Und jetzt schlaf. Wir haben das doch geklärt. Ich bin keine Serienmörderin. Ich lasse dich nicht träumen. Ich pass auf dich auf. Wie lang schaffst du?

    „Zehn Minuten und dreißig Sekunden haben mich in den letzten beiden Monaten nicht umgebracht", erwidere ich.

    „Ich gebe dir zehn Minuten. Dann wecke ich dich und erzähle dir von Honey."

    „Honey?", frage ich und meine eigene Stimme klingt bereits, als wäre sie drei Menschenleben weit weg. Oder in den Untiefen des spiegelglatten Sees versunken.

    „Honey. Das ist ein Kosename. Ich sag das immer zu ihm. Vielleicht, weil seine Haare so hellgelb wie Honig sind. Auch andere Leute verwenden das."

    „Honig ist nicht hellgelb. Er ist süß. Süß wie die, die wir lieben."

    „Die, die wir lieben. Das gefällt mir. Süß ist die beste Farbe der Welt. Was ist mit dir? Sagt niemand Honey zu dir? Bist du kein Honigbärchen?"

    Die Silben sind tonnenschwer, als ich sie mit meiner Zunge, die einem langsam erstarrenden Brocken Lava gleicht, aus meinem trockenen Mund schiebe. „Kein Honig. Nicht mehr. Schon lang nicht mehr."

    „Das tut mir leid. Manchmal vergesse ich das alles. Ich wollte nicht …"

    Sie verstummt mitten im Satz.

    Es ist mir lieber, die Frau, die keine Serienmörderin ist, will tatsächlich gar nichts und vor allem nicht von mir.

    Es genügt, wenn sie mich in zehn Minuten weckt.

    Ohne Stromschlag.

    „Zehn Minuten", nuschle ich.

    Ich glaube noch zu hören, wie sie mich Honigbärchen nennt.

    „Machen wir ein Foto für Picturegram? Mit meiner neuen Bestie auf Reisen? Hashtag Roadtrip. Hashtag auf dem Weg zu Honey."

    Das Auto parkt am Straßenrand. Sie hat sich zu mir auf den Beifahrersitz herübergelehnt und hält ihr Smartphone hoch. Etwas tief in mir wünscht sich, sie hätte mich weiterschlafen lassen. Scheiß auf die Zehnminutensicherheit. Scheiß auf die Wirklichkeit, in der eine blonde Südstaatenprinzessin mich mit Hashtags weckt. Ich wähle den Albtraum. Aber ich fühle mich derart ausgeruht, dass ich ihr den Social Media-Anfall verzeihe. Und die unangemessene Freundschaftsbekundung.

    Und das vermeintliche Honigbärchen.

    „Ich hasse Picturegram", knurre ich und sie lässt enttäuscht das Handy sinken.

    „Wäre ja nur für ein einziges Foto", jammert sie.

    „Ich bin dir was schuldig, Mariem, aber nicht das."

    „Honey würde sicher gern ein Foto von uns beiden sehen."

    „Honey kann auf mich verzichten, glaub mir, Käsekuchen."

    Sie kichert.

    Ihr manisch überdrehtes Kichern legt die Vermutung nahe, dass vielleicht sie es ist, die Ted Bundy im Kofferraum versteckt hat. Dann fällt mir ein, dass es sich Esel dort gemütlich gemacht hat. Ich sollte mir Esel schnappen und abhauen.

    „Honey bedeutet mir alles. Er ist meine

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