"Wer seiner Seele Flügel gibt …": Mit Kunst das Leben meistern. Aufgezeichnet von Christine Dobretsberger
Von Renate Holm und Christine Dobretsberger
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Über dieses E-Book
Sie ist auf der Bühne wie im Leben eine absolute Ausnahmeerscheinung, vielseitig als Künstlerin, beherzt und engagiert als Mensch: Renate Holm blickt auf eine einzigartige Karriere in den Bereichen Operette, Oper und Theater, aber auch Film und Unterhaltungsmusik zurück. Nach wie vor aktiv als Gesangspädagogin und in Konzerten, schlägt sie dem Älterwerden ein Schnippchen und ist Vorbild für Generationen. Doch was ist die Quelle ihrer Schaffenskraft?
Disziplin und Humor spielen eine wesentliche Rolle, ebenso wie Spiritualität und die Liebe zu ihren zahlreichen Tieren – Renate Holm erzählt höchst unterhaltsam und sehr persönlich aus ihrem Leben und gibt Kraftquellen preis, die "der Seele Flügel geben".
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Rezensionen für "Wer seiner Seele Flügel gibt …"
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Buchvorschau
"Wer seiner Seele Flügel gibt …" - Renate Holm
»Nichts ist, das dich bewegt,
du selber bist das Rad,
das aus sich selbsten läuft
und keine Ruhe hat.«
ANGELUS SIBELIUS
nachdem ich von Ihnen und all meinen Freunden immer wieder darauf angesprochen wurde, doch die Fortsetzung meines ersten Buches Ein Leben nach Spielplan zu schreiben, um zu erfahren: Was ist seither passiert? Wie waren die letzten 25 Jahre? Lebt man auch »nach dem Spielplan«, also nach einer dreißigjährigen Ära an der Wiener Staatsoper, nach einem »Spielplan«? Oder hängt man ihn ein für alle Mal in den Schrank? Gibt es einen sinnvollen Ersatz für den Spielplan? Wie schafft man das Leben »danach«?, habe ich mich endlich dazu entschlossen, den Versuch zu starten.
Interessanterweise ist mir erst im Prozess des Schreibens das Tempo des »Hamsterrades«, in dem ich zeit meines Lebens drinnen war, so richtig bewusst geworden. Und das Schreiben hat mir geholfen, von diesem Wahnsinnstempo ein wenig herunterzukommen – sozusagen vom allegro assai (Hamster in voller Aktion! Sehr schnell!) zum andantino (etwas langsamer, aber immer noch beschwingt) bis hin zum andante zu finden, um dann im Finale zu sein. Nur mit dem einen Unterschied, dass in meinem Leben – im Gegensatz zur Musik – das FINALE nicht das ENDE bedeutet!
Mir ist es ein großes Anliegen, Ihnen, liebes Publikum, das mich zu dem gemacht hat, was ich werden konnte, und mir geholfen hat, die Höhen zu erreichen und auch lange dort bleiben zu können, auf diesem Wege einfach DANKE zu sagen. Durch die Arbeit an diesem Buch ist mir mehr denn je klar geworden, wie sehr ich von Ihnen beschenkt wurde. Ihre jahrzehntelange Treue und Zuneigung, Ihr herzlicher Zuspruch, Ihre Ermutigungen, die für mich oft so unendlich wichtig waren, haben mich dazu bewogen, mich auf meine Art und Weise bei Ihnen zu bedanken und zwar indem ich versucht habe, jene Erfahrungen, die mir persönlich im Laufe meines Lebens zugutekamen, weiterzugeben – sei es in künstlerischer Hinsicht oder in ganz alltäglichen Dingen. Vielleicht mag es den einen oder anderen von Ihnen auch interessieren, wie es gelingen kann, »dreißig Jahre fünfzig zu bleiben« – wobei diese kleinen Geheimnisse in Wahrheit ziemlich real sind …
Denn wenn man über sein Leben reflektiert, empfindet man die glücklichsten und die schwersten Momente noch einmal besonders intensiv. Manchmal war es in der langen Zeit von der achtzehnjährigen Renate Franke bis zu der fünfundachtzigjährigen Renate Holm für mich fast nicht nachvollziehbar, dass es sich um ein und dieselbe Person gehandelt hat.
Aber eins weiß ich ganz sicher, dass es neben meiner Musik für mich immer eine große Lebens- und manchmal sogar Überlebenshilfe war – bildlich gesprochen –, meiner Seele hin und wieder Flügel zu geben, der Realität für eine kurze Zeit zu entfliehen, um danach den Alltag mit ein wenig mehr Gelassenheit zu meistern.
Mit meinen besten Wünschen verbleibe ich allerherzlichst,
Ihre
Renate Holm
»Zauberlied der Nacht, Stimme der Natur, deine Melodie klingt so süß an mein Ohr. Zauberlied der Nacht, Stimme der Natur, deine Töne fliegen zum Himmel empor.«
Auszug aus dem
LIED DER NACHTIGALL
Wir mussten an diesem Tag bereits zum dritten Mal in den Luftschutzkeller. Draußen heulten die Sirenen … Nach Jahren des täglichen Bombenhagels über Berlin hatte man es sich hier im Keller bereits ein bisschen häuslich eingerichtet. Jeder Hausbewohner hatte sein kleines Eckchen mit einigen persönlichen Dingen. Für mich waren mein Puppenwagen und meine Käthe-Kruse-Puppe das Wichtigste. Die waren immer dabei. Der Luftschutzkeller war für uns schon so etwas wie ein zweites Wohnzimmer geworden. In dieser Nacht im Jahre 1943 war es besonders schlimm. Ganz in unserer Nähe schlugen die Bomben ein und jedes Mal glaubten wir, diesmal hier nicht mehr lebend herauszukommen … Aber dann trat sie doch wieder ein – die so ersehnte Totenstille … Und nach einiger Zeit wagte sich der erste Nachbar zum Ausgang und gab das Zeichen, dass wir wieder in unsere Wohnungen konnten. In diesem Moment hatte man die Hoffnung: Nun ist es endlich vorbei! Alles wird gut … Großes Aufatmen … und man konnte sogar wieder ein bisschen lächeln. Doch am nächsten Tag ging mit den ersten Sirenen dasselbe von vorne los …
Diese Situation änderte sich erst, als eines Morgens über das Radio der Aufruf kam, dass Goebbels alle Mütter und Kinder aus Berlin evakuieren ließ. In den darauffolgenden Tagen wurde uns ein Quartier im Spreewald zugeteilt. Wir durften nur das Notwendigste mitnehmen. Mein Puppenwagen war gleichzeitig mein Koffer, darin ließ sich recht viel verstauen. Man brachte uns in ein kleines Dorf, rund neunzig Kilometer von Berlin entfernt. Dieses Dorf hieß Ragow. Wir wurden in einer ehemaligen Schule untergebracht, wo meiner Mutter und mir eineinhalb Zimmer zugewiesen wurden. Was war das für ein ungeheurer Sprung von Berlin hierher aufs Land! Es dauerte nicht lange und man kannte jeden Einzelnen im Dorf. Für uns Kinder war es freilich ein kleines Paradies. Wiesen, Äcker, Felder, ein kleiner Teich – kurzum: Möglichkeiten zum Spielen und Herumtoben ohne Ende! Und was das Beste war: Plötzlich gab es Tiere zum Anfassen, die man bislang nur aus Schulbüchern kannte: Kühe, Pferde, Ochsen, Ziegen, Hennen, Hasen … das war eine Sensation für mich! Und da begann meine ganz große Tierliebe. Im Vergleich zu Berlin war es für mich fast wie ein Urlaub auf dem Land!
Meine Mutti und ich zu Kriegsbeginn, nicht ahnend, was alles Schreckliches auf uns zukommen wird
Doch jetzt kam auch ganz schnell der Ernst des Lebens zurück. Schließlich musste ich ja in die Schule. Und das war in der Tat nicht so einfach und bequem, denn das Gymnasium befand sich im Nachbarort Lübben, sechs Kilometer von Ragow entfernt. Also hieß es für mich rauf aufs Rad! Bei jedem Wetter! Aber ich fuhr gerne in die Paul-Gerhardt-Schule, nicht zuletzt deshalb, weil hier Jungen und Mädchen unterrichtet wurden. Das war neu für mich, denn in Berlin ging ich ins Lyzeum, eine reine Mädchenschule. Ich muss ehrlich sagen: Ich habe die Schulzeit in Lübben richtig genossen! Wir hatten eine tolle Klassengemeinschaft. Burschen wie Mädchen teilten miteinander Freud und Leid. Da war keine Konkurrenz, sondern ein Miteinander. Abgesehen davon, waren wir in Musik ein unschlagbares Team! Wolfgang Friedrich war unser bravouröser Tenor, Klaus Ostermann ein sensationeller Bass, ich war mit meiner Sopranstimme die Dritte im Bunde. Aus dieser Kameradschaft wurde übrigens eine Freundschaft, die über fünfzig Jahre anhielt.
Die Paul-Gerhardt-Schule in Lübben, in deren Aula ich den allerersten Gesangsauftritt meines Lebens hatte – unvergesslich …
Wolfgang war auch der Initiator für unser erstes Konzert, ein Oratorium von Bach. Wir hatten viel und mit großem Enthusiasmus probiert. Am Tag der Aufführung verwandelte sich die Aula der Schule in einen kleinen Konzertsaal, und wir feierten auf Anhieb einen Riesenerfolg! Damit hätte ich nie im Leben gerechnet … noch weniger damit, dass man einhellig der Meinung war, dass ich einmal eine große Sängerin werden würde. Keiner ahnte wohl, dass ich in diesem Moment ganz andere Gedanken im Kopf hatte. Im Stillen dachte ich: »Lieber Gott, lass mich nie wieder solches Lampenfieber haben!« Leider hat der liebe Gott anscheinend genau in diesem Moment weggehört …
Von den Früchten der Natur leben
In Ragow wohnten wir direkt neben einem Bauernhof. Sobald ich mit den Schulaufgaben fertig war, halfen wir unseren Nachbarn bei der Arbeit. Dafür bekamen wir einen Laib Brot oder ein Stück Butter. In dieser Zeit lernte ich so gut wie alle landwirtschaftlichen Tätigkeiten. Wenn auf den Feldern das Korn reif zur Ernte stand, haben wir mit der Hand die Manderln aufgestellt und die Körner mit dem Dreschflegel herausgeschlagen. Das Ackerland wurde mithilfe zweier Ochsen bestellt. Was heute maschinell in zehn Minuten erledigt wird, dauerte damals gut zwei Stunden. Zu meinen Aufgaben zählten auch Stallausmisten und Melken. Ich lernte auch, wie man Butter selber macht. Das war ein spannendes Unterfangen, denn wenn die Temperatur nicht optimal war, hatte man nach vier Stunden Stampfen nicht Butter, sondern einen riesigen Berg Schlagsahne! Das war natürlich lustig, nur gab es dann eben keine Butter … Aber wenn man Glück hatte und die Temperatur richtig war, hat sich die Butter am Boden des Fasses zusammengeballt, und man durfte sich obendrein auf ein Glas frische Buttermilch freuen!
Die Kartoffelernte erfolgte ebenfalls noch in reiner Handarbeit. Auf Leinensäcken kniend, haben wir die Kartoffeln mit einer Harke herausgeholt und nach ihrer Größe aussortiert. Das war eine ziemliche Prozedur – aber als Belohnung versammelten sich nach der Arbeit alle Helfer an einem riesigen Tisch und wir aßen die frisch gekochten Pellkartoffeln, die wir zuvor gerade geerntet hatten. Dazu gab es das berühmte Spreewälder Leinöl und Quark, was bis zum heutigen Tag zu meinen absoluten Lieblingsspeisen zählt! Keine Woche vergeht ohne dieses Gericht! Das weiß auch mein treuer Berliner Fanclub, der mir alle zwei Monate frisches Spreewälder Leinöl nach Wien schickt.
Mit Ragow verbinde ich noch etwas: den herrlichen Duft von frisch getrocknetem Heu. Nachdem die Männer mit Sensen die Wiesen gemäht hatten, hieß es für uns, das geschnittene Gras so lange sorgfältig zu wenden, bis es trocken war. Und zwar wirklich ganz trocken! Andernfalls bestand die Gefahr, dass das Heu schimmlig werden würde und somit als Futter unbrauchbar war. Also mussten wir wenden, wenden, wenden … Danach wurde stundenlang zusammengerecht und das Heu auf den Ochsenkarren verladen. Wenn abends der Heuwagen voll war, kletterte ich ganz hinauf und genoss dieses unbeschreiblich schöne Gefühl, weich gebettet und eingehüllt von diesem herrlichen Duft nach Hause zu fahren – in der untergehenden Sonne … All das gehörte jetzt schon zu meinem Leben. Es hätte eine schöne Zeit sein können, wenn nicht dieser fürchterliche Krieg die Idylle ständig wie ein Damoklesschwert überschattet hätte.
Die andere Seite von Ragow …
Was ich bisher von Ragow erzählt habe, waren die positiven Seiten meiner Jugendjahre auf dem Land. Mit der Heugabel zu hantieren, war für mich das Natürlichste auf der Welt. Dass ich relativ bald mit einer ganz anderen Art von Gabel konfrontiert sein würde, nämlich mit der Stimmgabel, zählt zu den kleinen Wundern, die einem im Leben widerfahren können … Zunächst kamen aber sehr schmerzhafte Jahre auf uns zu. Als der Krieg 1945 zu Ende ging, marschierten russische Soldaten in unser kleines Dorf ein. Ich kann mich nur an Eines erinnern: Angst, Angst, Angst … Besonders schlimm war es, als sie eines Tages drohten, das ganze Dorf niederzubrennen, weil sich angeblich unser Nachbarbauer einem russischen Befehl widersetzt hätte. Alle Dorfbewohner mussten in ein nahegelegenes Waldstück flüchten. In der Eile konnten wir nur ein paar Lebensmittel, Kissen und Decken mitnehmen. Wieder war es mein Puppenwagen, den wir als Transportmittel nutzten. Es waren unvorstellbar qualvolle Stunden, es war tiefer Herbst, feucht, kalt und nebelig. Und dann diese Riesenangst, dass womöglich unser ganzes Dorf mitsamt allen Tieren, Häusern und Lebensmittelvorräten in Flammen aufgehen könnte … Von einer Stunde zur anderen haben wir geschaut, ob der Himmel über dem Dorf schon vom Feuer rot geworden ist …
Als drei Tage und drei Nächte nichts passiert war, schlich sich einer der Männer ins Dorf, um auszukundschaften, was geschehen war. Er kam mit der Nachricht zurück, dass die Russen das Dorf nicht niedergebrannt hätten. Stattdessen hätten sie die ganze Familie von jenem Bauern exekutiert, der angeblich Widerstand geleistet haben soll. Diesen Anblick werde ich nie vergessen … Als wir ins Dorf zurückkehrten, fanden wir die ganze Familie – vom Enkelkind bis zur Großmutter – an den Händen zusammengebunden tot vor ihrem Bauernhof liegen.
Heute, siebzig Jahre später, sind solche Grausamkeiten in erschütternder Weise nahezu täglich in allen Facetten in den Medien zu sehen. Der Unterschied zu den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges ist nur, dass diese nicht medial transportiert wurden. Die Menschen, die das damals erleben mussten, haben keine Wiedergutmachungen erhalten. Es gab zu dieser Zeit weder psychologische Betreuung noch karitative Hilfeleistungen, wie es heute der Fall ist. Erst im Jahr 1949, als meine Mutter und ich nach Berlin zurückgekehrt waren, änderte sich alles zum Besseren und somit auch unser Leben.
Wie ich »Bäuerin aus Liebe« wurde
Aus Ragow nahm ich allerdings einen Traum mit: Ich wollte später einmal Tiere haben, einen Stall und einen Acker, ich wollte Kartoffeln anbauen und diese Nähe zur Natur noch einmal erleben … Und schicksalhaft sollte dieser Traum fünfzehn Jahre später in Erfüllung gehen. Zu dieser Zeit war Wien bereits mein Lebensmittelpunkt und Herbert von Karajan hatte mir gerade einen langjährigen Vertrag an der Staatsoper angeboten. Für mich als Sängerin bedeutete das, in der Weltelite angekommen zu sein. Ich war erfüllt von unendlicher Dankbarkeit … Gleichzeitig kam ein enormes Arbeitspensum auf mich zu. Um den hohen Erwartungen gerecht zu werden, widmete ich mich von morgens bis abends der Materie Sängerin. Und zwar mit voller Konzentration! Und vollem Einsatz! Da gab es nicht viel Freizeit. Aber auf der Suche nach einem kleinen Stück Erde und einem kleinen Häuschen in der Natur, wo ich meine Batterien aufladen konnte, ergab sich ganz plötzlich Folgendes: In einer Zeitungsannonce wurde in Niederösterreich, in der Nähe von Hollabrunn, eine dreihundert Jahre alte Mühle zum Verkauf angeboten. Es war »Liebe« auf den ersten Blick.