Asche zu Asche, Sterne zu Staub
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Buchvorschau
Asche zu Asche, Sterne zu Staub - Wiebke Schmidt-Reyer
Wiebke Schmidt-Reyer
Asche zu Asche
Sterne zu Staub
Roman
Die Autorin
Wiebke Schmidt-Reyer wurde 1976 in Nakuru in Kenia - bekannt für seinen Nationalpark mit den Flamingos - geboren. Sie ist in Bayern und im Zürcher Oberland in der Schweiz aufgewachsen und hat zeitweise in Kalifornien, Frankreich und Kanada gelebt.
Sie hat in München Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und viele Jahre als PR-Beraterin und -Managerin gearbeitet. Asche zu Asche, Sterne zu Staub ist ihr erster Roman, den sie größtenteils während eines dreimonatigen Sabbaticals verfasst hat. Wiebke Schmidt-Reyer lebt mit ihrem Mann und ihren Haustieren in der Ostschweiz am Walensee.
© 2017 Wiebke Schmidt-Reyer
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Ingo Diekhaus
Für einen großen Krieger.
Du hast mir Flügel verliehen.
Sie zu spreizen tut noch weh.
Aber man kann nicht fliegen,
ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Speak in extremes. It‘ll save you time.
– David Bowie –
Damals
1Meine Großmutter kam aus einer Familie, in der der Tod eine besondere Rolle spielte, eine größere als das Leben, wie sie lange Zeit glaubte. Dreizehn Jahre lebte sie in diesem Glauben, so lange nämlich waren Beerdigungen und Totenwachen die einzigen Feierlichkeiten, an denen sie teilnehmen durfte. Auguste – so hieß meine Großmutter – lernte die Menschen kennen als eine trübselige Versammlung schwarz gekleideter Menschen, die mit gedämpften Stimmen sprachen und nur hinter vorgehaltener Hand verschämt lachten. Sie mag sich gelegentlich gewundert haben, weshalb die Menge der Trauernden bei diesen Anlässen nie weniger wurde und wo die immer neuen Gesichter herkamen, aber bei den Hochzeiten und Taufen, bei denen diese zur Familie stießen, war Auguste nie dabei. Gehorsam weinte sie um Menschen, die sie kaum kannte, und tat, wie ihre Mutter sie hieß: Nie hätte sie auf einer Beerdigung gelacht, stets gab sie gut acht auf das schwarze Kleid und aß gerade so viel vom Totenschmaus, dass sie weder mäkelig noch maßlos erscheinen mochte. Sie lernte die Sprache des Beileids und wunderte sich, dass die immer gleichen abgenutzten Worthülsen auf die gesamte Vielfalt der Trauer – das lautlose Weinen, das unaufhörliche Kopfschütteln oder auch verlorene Nicken, das monotone Murmeln, das besinnungslose Kreischen – passen sollten. Sie sagte möge er in Frieden ruhen , ohne eine Vorstellung von der Unruhe der Toten zu haben; sie sagte mein Beileid , ohne Leid zu empfinden; sie sagte aufrichtige Anteilnahme , ohne zu wissen woran. Bereits in jungen Jahren war Auguste so vielen Leichen begegnet, dass die gänzliche Abwesenheit von Leben in einem menschlichen Körper aufgehört hatte, sie zu verstören. Sie betrachtete die friedlich leblosen Körper mit großer Gelassenheit und empfand ihre vorhersehbare, unveränderliche Starre als sehr beruhigend.
Der Grund für dieses morbide Arrangement war ihre Mutter, eine puritanische Engländerin aus aristokratischem Hause, die den Katholiken in Bayern, wohin die Ehe sie verschlagen hatte, zutiefst misstraute, weil sie ihre Sprache nicht verstand und ihre Religion für frivol hielt. Mary Agnes, meine Urgroßmutter, lebte in ständiger Angst vor Anstößigkeiten, die sie stets befürchtete und nie verstand, und nur dem Tod traute sie zu, den Derbheiten Einhalt zu gebieten. Bei Augustes Geschwistern, dem fast zehn Jahre älteren Severin und der sechs Jahre älteren Leonie, hatte Mary Agnes diese Vorsicht nicht walten lassen, und sie machte sich Vorwürfe, wenn sie an die Ergebnisse dachte. Severin hielt sich viel in der Stadt auf, wo er Anschluss an Künstlerkreise gefunden hatte, wobei niemand recht zu sagen wusste, was das konkret bedeutete, sich in Künstlerkreisen aufzuhalten. Leonie, ein feistes, fröhliches Mädchen, kam mehr nach seiner Großmutter väterlicherseits als nach der hochgewachsenen, feingliedrigen Mary Agnes oder dem sehnigen, aber kräftigen Vater Johann. Leonie erinnerte Johann an seine früh verstorbene Mutter, und sie hatte er, der ansonsten nicht viel mit seinen Kindern anzufangen wusste, gerne um sich. Er nahm sie mit auf die Felder und in die Ställe und erzog sie zu einer guten, tüchtigen Bäuerin, die bevorstehenden Regen am Rennen der Hühner und die Heuernte am Flug der Bienen ablesen konnte. Wenn Mary Agnes auch sehr wohl wusste, dass sie die Größe und das Ansehen von Johanns Hof und damit ihren Wohlstand seiner Tüchtigkeit als Landwirt verdankten, galt ihr Leonies Robustheit doch als ein stiller Vorwurf, die aristokratischen Wurzeln ihrer Tochter nicht ausreichend gepflegt zu haben. Wenigstens bei Auguste, der Jüngsten, wollte sie diesen Fehler nicht machen und erzog sie, wie es einer lady gebührte.
Was einer lady gebührte und was von einer solchen zu erwarten war, wusste Mary Agnes bis ins kleinste Detail. Aus einer der angesehensten, wohlhabendsten und einflussreichsten Familien Südenglands stammend, hatte sie eine formvollendete Erziehung genossen. Sie plauderte angenehm und nicht ganz unintelligent über Kunst, Literatur, Gesellschaft und die konfliktarmen Aspekte des Tagesgeschehens. Sie verstand es, ein angeregtes, ausgeglichenes Gespräch zu führen, in dem sie ihrem Gegenüber zuhörte und selbst etwas zu sagen hatte. Sie kleidete sich zu jedem Anlass angemessen, elegant und geschmackvoll. Sie konnte im Schlaf hersagen, wer bei einem gesellschaftlichen Anlass in welcher Reihenfolge wem und durch wen vorgestellt wurde. Mary Agnes war stets liebenswürdig, adrett und eloquent und beging nie einen faux pas. Bis sie ihre Familie vor den Kopf stieß und der feinen Gesellschaft auf Jahre hinaus Gesprächsstoff lieferte, als sie sich in den falschen Mann verliebte.
Es war Mary Agnes bestimmt gewesen, einen Mann von ihrem Stand zu heiraten, einen Stammhalter zu gebären und in der guten Gesellschaft ihren Platz einzunehmen, mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Wohltätiges zu machen. Aber die eigens für dieses Schicksal einbestellte Mittlerin war nur einmal kurz abgelenkt, als neben ihr ein Amor mit den Flügeln schlug, und so traf des Amors Pfeil sein Ziel, und Mary Agnes verliebte sich in einen Mann namens Johann Ierschbach, weder Adeliger noch Engländer, sondern ein Landwirt, freilich einer der reichsten in seinem Landkreis, freilich einer der stattlichsten in seinem Jahrgang, aber dennoch ein Bauer und ein Bayer dazu.
Meine Urgroßeltern lernten sich im noch jungen Jahrhundert in Brighton, dem mondänen Seebad der Engländer kennen, als Mary Agnes sich, angeleitet von der Countess of Dufferin, die als hervorragende Ehestifterin galt, auf den Heiratsmarkt begab und Johann, ein schmucker junger Landwirt, seine paar Brocken Englisch auf eine englische Landwirtschaftsmesse trug, um sich anzuschauen, wie man andernorts die Felder bestellte. Der Moment, in dem die beiden einander begegneten, besiegelte das Unglück der Countess, die nie hätte zulassen dürfen, dass ihr Protégée aus bestem Hause mit dem Ausländer, über dessen familiäre und finanzielle Verhältnisse niemand etwas wusste, auch nur ein Wort wechselte. Was der klatschsüchtigen Gesellschaft größtes Vergnügen bereitete, versetzte Mary Agnes’ Mutter, Lady Rosalind Eagleton, derart in Rage, dass sie erstmalig in ihrem Leben aus ihrer Rolle der englischen Aristokratin – die freilich nur angeheiratet war, die sie dafür aber umso gewissenhafter ausfüllte – fiel und der Countess of Dufferin beim Tee im Grand Hotel für alle anderen Gäste hörbar mitteilte, ihre Dienste für die Eagletons seien nicht mehr gewünscht und es sei wohl besser, wenn sie umgehend ihre Sachen packe und aus Brighton verschwinde. Das überaus angenehme Leben der Countess hatte damit ein jähes Ende. Wenig vermögend und ohne Verwandtschaft, hatte sie ein behagliches Auskommen damit gehabt, junge Mädchen auf ihren Eintritt in die Gesellschaft vorzubereiten, ihren Aufenthalt an vergnüglichen Orten und ihren Umgang dort zu beaufsichtigen und kunstvolle Ehebande zu knüpfen. Neben Reisekosten und Unterhalt sprang nicht selten auch eine komplett neue Garderobe dabei heraus, aber nur bis zu dem Moment, da Mary Agnes Eagleton ihr kurz entwischte und auf dem Pier einen jungen Mann aus den Bergen traf, der das Meer und seine Brandung nicht fassen konnte und seiner Begeisterung in so unbeholfenen Worten Ausdruck verlieh, dass Mary Agnes herzhaft gelacht hätte, wenn es ihm nicht so herzbewegend ernst gewesen wäre.
Das schreckliche Missgeschick verbannte also die Countess aus Brighton und der Gesellschaft und mit ihr ihren scheußlichen Terrier Humbert. Humbert wurde von niemandem vermisst, die Countess jedoch schmerzlich, war sie doch auf jeglichen Anlässen von Bedeutung die Quelle aller Informationen gewesen und hatte Einblick in die Familienangelegenheiten all derer von Interesse gehabt. Für die ehrgeizigen Mütter, Anstandsdamen und betagten Tanten, die ihre Schützlinge auf die Bälle begleiteten und mit Argusaugen darüber wachten, dass der Tanzpartner auch wirklich derjenige war, den sie bereits vor Jahren dazu ausersehen hatten, begann nun wieder eine Zeit der Spekulationen und Gerüchte, da die einzige wahre Autorität des Heiratsmarktes aus dem Geschäft verbannt worden war. Aber nachdem die Countess bei den Eagletons, dem Maß aller Dinge, was das comme il faut betraf, in Ungnade gefallen war, getraute sich niemand mehr, sie ins Geschehen zurückzuholen. Dabei hätte nie jemand, Lady Rosalind Eagleton inbegriffen, bestritten, dass nach dem Abgang der Dufferin keine so kunstvollen Ehebande mehr geknüpft wurden und es sicher nie so weit gekommen wäre, dass The Honourable Aelfred Harmsworth kurz vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag in einer panischen Kurzschlusshandlung seiner Tante dritten Grades mit Bethany Hayworth verlobt wurde, um wenige Wochen später ebenso verdeckt wie überraschend Lady Adrianna Thynne zu heirateten, die ihm von Standes wegen ohnehin zugestanden hätte, von der Tante dritten Grades aber aus reiner Unkenntnis übersehen worden war. Hinter den Türen der Häuser Harmsworth, Hayworth und Thynne müssen die Fetzen geflogen sein; nach außen hin verabschiedete sich die geschmähte Bethany auf unbestimmte Zeit in einen französischen Küstenort, und die frisch gebackene Lady Harmsworth brachte sechs Monate nach der Hochzeit einen erstaunlich gut entwickelten Jungen zur Welt. Die Häuser Harmsworth, Hayworth und Thynne lagen in Schutt und Asche.
Die Eagletons hingegen hielten sich schadlos, und Mary Agnes und Johann heirateten nach ungebührlich kurzer Verlobungszeit. Ob die Hochzeit letztlich von den Eagletons gutgeheißen oder lediglich nicht unterbunden wurde, hat außer den direkt Beteiligten nie jemand erfahren. Es wird gewiss Szenen gegeben haben, aber darüber sprach Mary Agnes nie. Erst nach Mary Agnes’ Tod fand Auguste in den Papieren ihrer Mutter einen Brief von Lady Rosalind, in dem sie ihre Tochter an das Versprechen erinnerte, nicht unter der absolut unzweideutigen Frist von zehn Monaten nach der Eheschließung ein Kind zur Welt zu bringen und der ihr Aufschluss darüber gab, dass es wohl durchaus Verhandlungen gegeben hatte.
Im Nachhinein ist es schwer, die amour fou nachzuvollziehen, die meine beiden zutiefst konventionellen und wohl auch nicht besonders leidenschaftlichen Urgroßeltern ergriffen haben muss, dass sie so wild entschlossen waren zu heiraten. Zu Beginn konnten sie sich kaum verständigen und tasteten sich vorsichtig, Wort für nachgeschlagenes Wort, Satz für mühselig übersetzten Satz, in der Sprache des anderen aneinander heran. Was Urgroßvater Johann in Mary Agnes’ Augen so besonders machte, weiß heute niemand mehr zu sagen. In der Familienerinnerung hat er sich nie als verwegener Charmeur hervorgetan, dem man zugetraut hätte, einem jungen Mädchen derart den Kopf zu verdrehen, dass sie Hals über Kopf ihre Heimat und ihre nicht unerhebliche gesellschaftliche Stellung mit allen daraus resultierenden Annehmlichkeiten aufgab. Eher zeichnete er sich dadurch aus, dass sämtliche Erinnerungen an ihn mit den Worten schweigsam und freundlich begannen und dann zumeist unvermittelt und etwas ratlos abbrachen.
Es muss Lady Rosalind das Herz gebrochen haben, dass sie ihre stattliche Tochter nicht nur nicht standesgemäß verheiraten konnte, sondern dies auch nicht mit dem Pomp und Staat tun konnte, mit dem sie Rang und Ansehen der Familie hätte zelebrieren wollen. Schnell kamen die Familien überein, dass die Hochzeit in Johanns Heimat würde stattfinden müssen. Zu kritisch waren in England die Blicke, die auf die unrühmliche Verbindung mit einem Bürgerlichen, einem Ausländer, einem Landwirt gerichtet wurden, zu groß die Häme der Neider, zu gierig das Verlangen nach einem Skandal. So machten sich Lady Rosalind, die Braut, ihre Schwester Amelia und eine kleine, handverlesene Zahl von Dienstmädchen noch im Herbst desselben Jahres auf den Weg nach Bayern, vorgeblich, um die Hochzeitsmodalitäten zu besprechen und Johanns Familie kennen zu lernen, in Wahrheit aber, um die Eheschließung schnell, unbemerkt und in Abwesenheit des Brautvaters zu vollziehen. Zurück nach England kehrten einzig Lady Eagleton, Amelia und die meisten der Bediensteten, im Gepäck ein Foto, das das Brautpaar am Tag seiner Hochzeit vor einem unbestimmten Kirchenportal zeigte. Tatsächlich ist dies das einzige Foto, das von dieser Hochzeit existiert. Eine Weile brodelte in London noch die Gerüchteküche, aber schon bald gab das Thema angesichts des eisernen Schweigens der Eagletons nichts mehr her, und das allgemeine Interesse wandte sich anderen Dingen zu.
Ich habe mir oft ausgemalt, wie die Fahrt von England nach Bayern für Mary Agnes wohl gewesen sein mag, drei langgestreckte Tage, während derer sie erst der Zug, dann das Schiff, dann wieder Zug um Zug aus ihrem vertrauten Leben, ihrer Sprache, all den angenehmen Gewissheiten ihres Standes und ihrer Familie heraustrug. Mit jeder Stunde, die sie gen Süden reiste, zog sich ihr Land von ihr zurück, stampfte unaufhaltsam seinem Ende entgegen, fiel über die Klippen ins Meer, löste sich als Wassermasse in alle Richtungen auf, formte sich wieder zu Land, erst flach, geduckt und vom Wind zerfranst, dann weit und reich in Grün und Gold, dann weich gewellt, dann immer hügeliger unter einem immer höher gewölbten Himmel, bis die Reise zu Füßen schroffer Felsen ein jähes Ende fand. Ab hier ging es nicht mehr weiter. Weiter nach vorne konnte man nicht schauen, nur noch in die Höhe, bis der Kopf im Nacken lag, gelenkt und nach oben gezogen von den steilen Wänden, die uralt, grau und herablassend bis dorthin reichten, wo der Himmel anfing. Mary Agnes war angekommen und würde bleiben, an diesem Ort, den sie nur auf einer einzigen Postkarte von Johann je gesehen und von dem sie nur in wenigen ungelenken Sätzen in seinem unzureichenden Englisch gehört hatte. Ob es das war, was sie sich vorgestellt und erhofft hatte, ob sie enttäuscht oder gar entsetzt war oder einfach zu erschöpft, um überhaupt noch irgendetwas zu empfinden, hat sie nirgendwo festgehalten.
Unscheinbar und verloren trotz der zwei mächtigen Kaltblüter wirkte vor dieser Bergkulisse das Pferdegespann, mit dem Johann seine Braut und ihre Begleiterinnen am Bahnhof abholte und zu dem Gasthof brachte, wo sie bis zur Hochzeitsfeier bleiben sollten – dem mit Abstand besten der Umgebung, so prachtvoll in seiner alpenländischen Üppigkeit, dass sogar Lady Rosalind beeindruckt war. Die folgenden Tage, die die Engländerinnen zusammen mit Johanns Familie verbrachten, waren angefüllt mit Anstrengungen, sich einander anzunähern und nicht daran zu verzweifeln, dass es so viel über die jeweils andere Seite zu lernen gab und kaum Worte, um zu fragen und Antworten zu geben. Jeder gab sich Mühe, gestikulierte mit Händen und Füßen, lächelte und schwieg viel, und abends, wenn man sich trennte und sich in die eigene Umgebung zurückzog, waren alle zu müde, um noch mit denen zu reden, mit denen sie es gekonnt hätten.
Johann hatte in diesen Tagen wenig Zeit, seine Braut willkommen zu heißen. Die Ernte war voll im Gange, und er wurde überall auf dem Hof und auf den Feldern gebraucht. Da seine Mutter früh gestorben war und Sir Eagleton abwesend, fanden sich Lady Rosalind und der alte Ierschbach, unterstützt von seiner ältesten Tochter Anna, in der merkwürdigen Situation wieder, als englische Aristokratin und bayerischer Landwirt ihre Kinder miteinander zu verheiraten, eine Konstellation, mit der keiner von beiden je gerechnet hatte. Keiner hatte die Möglichkeit, sich der anderen Seite verständlich zu machen, was letzten Endes nicht schlecht war: Hätten sie miteinander reden können, wären sie doch nicht von ihren Positionen abgewichen, nicht aus Starrsinn, sondern weil keiner von beiden auf die Kompromisse vorbereitet war, die man eingehen musste, wenn die eigenen Kinder aus unverständlicher Liebe, entgegen alle Konventionen und ans andere Ende Europas heirateten. So traf das Gesetz die Entscheidung, das den kleinsten gemeinsamen Nenner vorgab. In beiderseitigem Interesse wurde die standesamtliche Trauung ergänzt durch eine kirchliche, die stattfinden konnte, weil der örtliche Pfarrer verständig genug war, um zu wissen, dass die Anglikanische Kirche seinem Glauben nicht gänzlich zuwiderlief, egal, was man im Dorf davon zu halten bereit war. Es gab ein offizielles Hochzeitsfoto und anschließend eine kleine private Feier, über der für einen Nachmittag und einen Abend die Schwingen eines Engels schwebten und ihr das Wunder bescherten, dass jeder jeden verstand.
Dieser glückselige Tag war der einzige, der zwischen Mary Agnes, der jugendlichen Braut, und Mary Agnes, der Ehefrau eines der größten Landwirte des Landkreises, stand. Für eine Hochzeitsreise war keine Zeit; Johann wurde nach wie vor bei der Ernte gebraucht. Die Möglichkeit einer Hochzeitsreise stand noch lange als etwas Nachzuholendes im Raum, wurde mit der Zeit aber seltener und seltener erwähnt und endgültig fallen gelassen, als elf Monate später Severin auf die Welt kam.
So stand Mary Agnes bereits am ersten Tag ihrer Ehe hilflos in der großen Hofküche und hatte keine Ahnung, was von ihr erwartet wurde. Eine Schwiegermutter gab es nicht, die hatte der Blitz getroffen, als Johann drei Jahre alt gewesen war. Umso enger hatte er sich an seine Schwester Anna gehängt, die ihm – selbst noch Kind und gebeugt von ihrer eigenen Trauer – so gut es ging die Mutter ersetzt hatte. Anna war eine robuste Frau, die sich hervorragend darauf verstand, Ferkel aus dem Leib der Sau ans Tageslicht zu befördern und die kranken und schwächlichen unter ihnen am Leben zu erhalten, ein Thema, zu dem sie sich sehr zu Mary Agnes’ Entsetzen oft und gerne äußerte. Aber Anna überraschte ihre Schwägerin auch mit ihrem großen Herz und einer bislang unentdeckten Sprachbegabung. Mit engelsgleicher Geduld führte sie ihre Schwägerin in die Haushaltsführung ein, lernte passabel Englisch und bot Mary Agnes so herzlich, ehrlich und unvoreingenommen ihre Freundschaft an, dass diese nicht anders konnte, als sich beschämt zu fügen.
Im Frühjahr des darauf folgenden Jahres kam Mary Agnes’ Schwester Amelia zu Besuch und blieb bis zum Krieg und dann bis er zu Ende war. Die Schwestern hatten nie eine innige Beziehung zueinander gehabt, aber auch keine schlechte. Sie hatten unter demselben Dach gelebt und sich wenig füreinander interessiert. Nun, da Amelia die Anstrengung unternommen hatte, Mary Agnes zu besuchen, und nun, da sie sah, dass auch deren exotische Wahl nicht das reine Glück bedeutete, konnte jede Schwester sich einreden, die andere fände ihr Leben interessanter als das eigene, sodass es ihnen selbst erträglicher wurde.
Amelia war zwei Jahre älter als Mary Agnes und blieb, um Lady Rosalinds Elend zu vollenden, zeit ihres Lebens ohne Mann. Dabei war sie eine intelligente, durchaus interessante Frau und hatte ein hübsches Gesicht mit großen grünen Augen und einem entzückenden Näschen mit bezaubernden die Sommersprossen, ein Erbe ihres irischen Urgroßvaters, der jedoch, weil er ein zwar gutaussehender, aber armer, weil gar zu barmherziger Landarzt gewesen war, lieber unerwähnt blieb. Dann und wann kam auch das Gerücht auf, der Landarzt sei erst nachträglich und nach dem sicheren Tod aller Zeitzeugen in die Familienchronik geschrieben worden und die grünen Augen und Sommersprossen seien tatsächlich diejenigen eines irischen Schäfers, dem Amelias und Mary Agnes’ Urgroßmutter während eines unvergesslichen Sommers in den grünen Hügeln seiner Heimat begegnet war. Diese Gerüchte wurden von der Familie je weder bestätigt noch dementiert. Die Eagletons wussten nur zu gut, dass auch ein Dementi eine Form von Anerkennung war und dass Abstreiten lediglich die Bestätigung war, dass es etwas abzustreiten gab. Sie ließen sich gar nicht erst dazu herab zuzugeben, den Tratsch auch nur gehört zu haben, und ließen dem Gesinde die Freude an den Spekulationen. Amelia mochte das nur recht sein. Wenn sie es auch nicht zugeben konnte, war sie doch zutiefst eitel und romantisch. Eine leidenschaftliche außereheliche Beziehung unter ihren Vorfahren schmeichelte ihr und rückte sie in das Licht, in dem sie sich selbst gerne sah.
Sie hatte geplant, für zwei bis drei, maximal vier Monate bei Mary Agnes zu bleiben und im Herbst wieder nach Hause zu fahren. Nach Ablauf dieser Frist packte sie ihre Koffer und machte sich reisefertig. Doch dann kam dem Abreisetermin irgendeine Nichtigkeit dazwischen und dann dem nächsten und wiederum dem nächsten. Amelia, fest überzeugt, dass sie zum jeweils nächsten Termin bestimmt abreisen würde, ließ ihre Koffer gepackt und entnahm von Tag zu Tag nur das Nötigste. Frisch Gewaschenes legte sie umgehend zurück in den Koffer, und so lebte sie mehrere Jahre direkt aus dem Koffer und hätte jederzeit von einem Tag auf den anderen abreisen können. In all den Jahren, die sie blieb, lernte sie nicht ein Wort Deutsch und konnte sich ausschließlich mit ihrer Familie unterhalten sowie mit den Angestellten, die Mary Agnes’ Kauderwelsch mittlerweile genügend englische Brocken entnommen hatten, um einem Gespräch folgen zu können. In dem Versuch, ihre gestelzte Sprache zu imitieren, nannten die Kinder sie Hontamilia – abgeleitet von aunt Amelia mit gehauchtem a, wie sie sich selbst nannte –, und als Hontamilia war sie bald im ganzen Dorf bekannt.
Hontamilia war es, die ihnen von den Engeln erzählte. Sie wusste alles über Engel. Das hatte sie von ihrer Urgroßmutter geerbt, und da sie nicht über deren leidenschaftliche Liebe zu einem grünäugigen irischen Landarzt oder Schäfer sprechen konnte, erzählte sie von den Engeln.
„Am Anbeginn der Zeit standen Himmel und Erde einander so nahe, erzählte Hontamilia, „dass die Engel unter den Menschen gingen wie ihresgleichen. Sie gaben acht auf die, die ihres Schutzes bedurften, und ließen auch die, die allein zurechtkamen, nie ganz aus den Augen. Himmel und Erde waren im Gleichgewicht, und überall herrschte große Zufriedenheit und ein erträgliches Maß an Übel. Dann aber bevölkerte sich die Erde zu sehr mit Menschen, und den Engeln ging der Platz aus. Da fuhren sie hinauf in den Himmel und hefteten sich als Sterne ans Firmament. Von nun an betrachteten sie die Erde aus der Ferne, und ganz selten nur noch, wenn es ihnen gefällt, uns zu beschützen oder wenn sie sich in einen der Menschen verlieben, kommen sie noch einmal herab.
Severin und Leonie, als sie alt genug waren, die Geschichten zu verstehen, hörten zu und nickten. Was Hontamilia erzählte, klang genau wie das, wovon der Pfarrer sonntags in der Kirche sprach, nur dass es bei ihr nicht wie eine Drohung klang. Umso verwirrender war es, dass die Tante ihnen das Versprechen abnahm, das alles für sich zu behalten und mit niemandem darüber zu sprechen. „Aber, Hontamilia, protestierte Severin, „wenn es doch die Wahrheit ist, warum dürfen wir dann nicht darüber sprechen?
Hontamilia beugte sich zu ihm herunter, zwinkerte ihm mit ihren irischen grünen Augen zu und sagte in dem rauchigen, volkstümlichen Tonfall ihrer Vorfahren: „Never let the truth get in the way of a good story."
Hontamilia hatte guten Grund, die Kinder zur Verschwiegenheit zu verpflichten. Was sie ihnen erzählte, hätte kein Pfarrer der Welt, weder katholisch noch evangelisch noch anglikanisch, geduldet, und andere, die ihre Ansichten teilten, hätte sie als die, die sie war, in der Zeit, in der sie lebte, nicht finden können.
Als junge Frau hatte Hontamilia darunter gelitten, keinen Mann gefunden zu haben, aber in einem gewissen Alter erkannte sie die Vorzüge ihres ungebundenen Lebens und lernte, es in vollen Zügen zu genießen. Sie nannte sich bachelorette, und bei ihr klang es wie souffragette, schmerzhaft, aber auch stolz und unbeugsam und mit einer Überzeugung dahinter. Sie war eine sehr fromme Frau mit der klaren Einsicht derer, die Gott gut kennen, weil sie viel mit ihm gezankt haben. Sie hatte sich von der Kirche befreit, als sie die verschiedenen Religionen und ihre Riten als bloßes Beiwerk, als immer wieder eine andere Dekoration für immer denselben Gott erkannt hatte. Hontamilia lebte einen fröhlichen Glauben, der sich ungeniert bei allen Religionen bediente, von denen sie wusste – den monotheistischen wie den pantheistischen, den Naturreligionen und der Vielgötterei – sowie bei einigen, die sie selbst erfunden hatte, und den sie in einer ebenso schönen wie einfachen These zusammenfasste: Gott ist groß und großzügig und liebt die Vielfalt all dessen, was die Menschen sich vorzustellen in der Lage sind. Sie war der festen Überzeugung, dass ein und derselbe Gott hinter allen Religionen steht und dass er den Menschen verschiedene Kulturen und verschiedene Glaubensrichtungen gegeben hat, weil ihm die Vielfalt der Riten Spaß macht. Hontamilia hatte ein so liebenswertes, buntes, ständig wandelbares und spannendes Bild von ihrem Gott, dass es viele Jahre später die ganze Familie dauerte, dass es im Haus der Blauen Paula keinen Platz mehr hatte.
2Augustes arglose und ahnungslose Kindheit endete, da war sie dreizehn, als Severin heiratete und Mary Agnes ihre Jüngste unmöglich auch von der Hochzeit des eigenen Bruders fernhalten konnte, zumal die Braut darauf bestand, ihre junge Schwägerin zur Brautjungfer zu nehmen. Severins Braut Marianne war eine lebenslustige, herzliche und herzensgute Person und allseits beliebt. In vielerlei Hinsicht hätte sie ihrer zukünftigen Schwiegermutter höchst willkommen sein müssen, denn sie war eine Städterin , einer kunstinteressierten Familie entstammend und verhieß damit so etwas wie Weltläufigkeit, was in diesem alpenländischen Weiler sonst niemand besaß. Doch Mariannes Familie war mittellos, und ihr Ansehen und ihre Bedeutung waren rein geistiger Natur. Nicht nur, dass sie Severins Wohlstand nichts hinzuzufügen hatten, sie konnten sich auch nicht die Hochzeitsfeier leisten, die von Tradition wegen dem ältesten Sohn zustand und von den Eltern der Braut zu bezahlen war.
Mary Agnes haderte lange und bitterlich mit Severin, um diese Mésalliance mit einer gebildeten, aber armen Gutbürgerlichen abzuwenden und ihn zu einer gewinnbringenden, gesellschaftlich respektablen Eheschließung mit der Tochter eines benachbarten Bauern zu drängen, die das Fortbestehen des Hofes sicherstellen und seine Bedeutsamkeit mehren würde. Zu ihrer großen Enttäuschung erhielt sie dabei keinerlei Unterstützung von Johann, der die Brautwahl seines Sohnes überraschend wohlwollend hinnahm. Ob er zu desinteressiert, zu schweigsam oder vielleicht zu klug war, um Mary Agnes darauf hinzuweisen, dass sie sich ebenso den Wünschen ihrer Familie widersetzt und ihre eigene Wahl getroffen hatte, darüber wagte nie jemand zu urteilen. So schwieg Johann, Mary Agnes redete, und Severin setzte seinen Willen durch und heiratete Marianne.
Auguste hingegen hätte sich keine bessere Schwägerin vorstellen können. Auf Anhieb war sie von Marianne fasziniert; noch nie hatte sie jemanden wie sie gesehen. Nicht nur, dass sie sich kleidete wie in den Illustrierten – Auguste hatte immer gedacht, dass sich überhaupt niemand auf der Welt kleidete wie in den Illustrierten –, auch ihr Spitzname, allein schon die Tatsache, dass sie einen Spitznamen hatte, versetzte Auguste in basses Erstaunen. Marianne nannte sich Smarri und überließ die Menschen gerne ihren Spekulationen darüber, woher dieser seltsame, mal männlich, mal normannisch anmutende Name wohl kam. Die Wahrheit war, dass Marianne als Kind – wie alle kleinen Mariannen – s Mariandl genannt worden und Schwierigkeiten gehabt hatte, dieses komplexe Wortgebilde auszusprechen, sodass sie einfach nach den ersten zwei Silben aufhörte, wenn sie von sich selbst sprach.
Auguste hatte noch nie eine erwachsene Frau mit einem Spitznamen getroffen. Kinder hatten niedliche oder lustige Kosenamen; Männer nannten einander beim Nachnamen oder fanden irgendwelche Namen füreinander, die sich aus ihrem Wohnort, einer Eigenart oder einer lange zurückliegenden Peinlichkeit ableiteten. Dass Marianne sich Smarri nannte, verlieh ihr in Augustes Augen etwas Geheimnisvolles, fast schon Übernatürliches, so, als hätte sie zusätzlich zu der Person, als die sie auf die Welt gekommen und die auf den Namen Marianne getauft worden war, eine zweite Persönlichkeit geschaffen, über die sie ganz alleine bestimmen konnte und die Dinge tun konnte, die Marianne nicht tun konnte. Auguste hatte noch nicht einmal einen Kosenamen. Mary Agnes hatte die Namen ihrer Kinder mit Bedacht gewählt und immer peinlich darauf geachtet, sie ganz auszusprechen und nicht durch Abkürzungen zu verschandeln. Severin hatte nie Sevi oder Sevo sein dürfen, Leonie nie Lelo, Lonchen oder Leni, und ganz besonders gewehrt hatte sich Mary Agnes gegen das naheliegende Gusti. Auguste lag nachts oft wach und sinnierte darüber nach, wie es wohl wäre, selbst einen Spitznamen zu haben, wie dieser lauten würde und was zu tun er ihr erlauben würde. Nicht im Traum hätte sie während dieser schlaflosen Nächte daran zu denken gewagt, wie schnell ihr Wunsch schon bald in Erfüllung gehen würde.
Der Tag der Hochzeit war ein Samstag im Juli. Bereits mit den ersten Sonnenstrahlen fiel eine bleierne Hitze auf das Land, und ein elektrisches Knistern in der Luft verhieß ein heftiges Sommergewitter. Jeder Bauer und Landbesitzer hätte an diesem Tag heuen müssen, aber keinem der Geladenen wäre es in den Sinn gekommen, die Feier zu verpassen. Zu ungeheuerlich, zu vielversprechend war allein die Tatsache einer Hochzeitseinladung während der Heuernte und für einen Wochentag, den der Pfarrer mit Argwohn betrachtete, riskierte doch der Großteil der Gemeinde am Tag danach zu spät zur Messe zu erscheinen. Wer so etwas tat, besaß entweder großen Mut oder große Unwissenheit, und in beiden Fällen versprach es eine Feier zu werden, die man sich um nichts auf der Welt entgehen lassen durfte.
Schon vom frühen Morgen an brodelte es in der Küche in Töpfen und Kesseln. Ein unwiderstehliches Duftgemisch nach Gebackenem, Gebratenem und Gebrauten legte sich über den Hof und drang noch in seine letzten Winkel vor. Darunter mischten sich Gerüche von Leckereien, die niemand kannte und die jeder sofort kosten wollte. Der Duft zog weiter über die Felder und Wiesen auf die umliegenden Höfe und ins Dorf, bis er den gesamten Landkreis so sehr in Bann gezogen hatte, dass die Vögel das Singen vergaßen, die Kühe das Grasen und die Schmetterlinge sich sachte irgendwo niederließen, um sich mit sanften Flügelschlägen in den erstaunlichen Wohlgeruch einzuhüllen. Wer der Verlockung folgte und neugierig die große Tenne auf dem Hof der Ierschbachs betrat, wurde mit großem Hallo begrüßt. Die jungen Frauen an den Töpfen und hinterm Tresen bewirteten jeden Gast mit Kaffee und Gebäck, Käse und Wurst. Sie alle waren groß, stark und weizenblond wie nordische Göttinnen. Ihre langen Zöpfe wirbelten im Takt ihrer Arbeit, und sie bewegten sich flink und fröhlich, als wäre die Hitze vom Herd in der unmenschlichen Julihitze nicht mehr, als irgendjemand ertragen konnte. Niemand wusste, wer sie waren und woher sie kamen. Sie aber fragten keinen nach seinem Namen und kannten doch jeden, sodass niemand sich die Blöße gab, sie nach Namen und Herkunft zu fragen; man schämte sich, sie offenbar gekannt und es vergessen zu haben.
Gegen Mittag war die Tenne voll. Niemand hätte zu sagen gewusst, wie viele Menschen sich in und vor der Scheune drängten. Jede Sitzgelegenheit war belegt, und wurde ein Stuhl frei, standen sofort zwei Personen an, um ihn sich zu teilen. Familien organisierten sich, standen abwechselnd um Essen an und hielten sich die Plätze frei. Wer alleine gekommen war, setzte sich einfach irgendwo dazu. Wer vorne in der Schlange stand, nahm Bestellungen von hinten entgegen und forderte Gegenleistungen ein. Hatte man zu Beginn die Nichteingeladenen noch an ihrem leicht schuldbewussten Gesichtsausdruck erkannt, verwischten sich die Unterschiede bald. Niemanden kümmerte es, wer eingeladen war und wen die Neugierde geschickt hatte. Die blonde Heerschar teilte jedem Essen und Getränke aus, und egal, wie groß die Menge war, die sich am Tresen drängte, es war immer von allem da, und jeder bekam reichlich.
Als nach mehreren Stunden ein allgemeines Gefühl der Sättigung und der Höhepunkt der sommerlichen Hitze die Gesellschaft einzuschläfern drohten, riefen die Kirchenglocken zur Trauung. Dösig und verstört besann sich die Menge des eigentlichen Grunds der Feier – der Eheschließung –, der vor lauter Essen ganz in Vergessenheit geraten war. Ein wenig ratlos begann man, nach jemandem Ausschau zu halten, der einem sagen konnte, wohin man sich zur Trauung begeben sollte. Das Glockengeläut kam aus nächster Nähe, aber eine Kirche oder Kapelle gab es auf dem Hof nicht. Als das Stimmengewirr am lautesten und die Ratlosigkeit am größten waren, rief ein kleiner Putte, so drall, lichtblond und stark, dass er nur mit den nordischen Göttinnen gekommen sein konnte, mit klarer Stimme seht, der Bischof! und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Hügel. Und tatsächlich stieg von der Hügelkuppe herab eine rot gewandete Gestalt mit Stab und Mitra, gefolgt vom Pfarrer und einer Prozession von Diakonen, Ministranten und Postulanten. Dahinter folgten die Chöre zweier Kirchen und eine Phalanx von Fahnenträgern, dahinter wiederum die Blaskapelle und dann die schönsten und stärksten Stiere des Landkreises, geführt von den kräftigen jungen Männern, denen sie gehörten. Hinter den Stieren ging der Jodelchor, dahinter die Schützengesellschaft, und dann folgten die Falkner, ihre Tiere, denen sie die Augen verbunden hatten, damit sie nicht an die Jagd dachten, auf dem Arm tragend. Auf die Falkner folgten die Gespannfahrer mit ihren von eleganten Hackneys gezogenen Einspännern, ihren Landauern, in denen die örtlichen Würdenträger saßen und winkten, und ihren Brauereiwagen, gezogen von sechs massigen, glänzenden Füchsen. Dahinter gingen die Schuhplattler mit den riesigen Pinseln am Hut und pfiffen und juchzten, und dazu drehten und drehten sich die Dirndl, dass einem nur schon vom Zuschauen schwindelig wurde. Als farbenprächtiger Schlusspunkt gingen zuhinterst die Gaukler, Dirnen und Kesselflicker, die Säufer, Wanderprediger, Dichter, Seiltänzer, Tagelöhner und Landstreicher und alle die, die nicht zum offiziellen Geleit des Bischofs gehörten, aber stets in seinem Gefolge anzutreffen waren.
Diesem Zug aus über fünfhundert Personen und Tieren, der sich allein über fast einen Kilometer hinstreckte, schloss sich die Hochzeitsgesellschaft nun an und folgte dem Bischof zu dem Ort, an dem die Trauung stattfinden würde. Im großen Obstgarten der Ierschbachs kam der Zug zum Stillstand, und die kirchlichen Würdenträger, Sängerinnen und Sänger, die Fahnenträger, Musiker und Jodler, die Stierführer, Schützen, Falkner, Kutscher, Tänzer und das fahrende Volk verteilten sich unter den altehrwürdigen Apfel- und Birnbäumen, zwischen den Kirschen und Aprikosen. Die Gäste gesellten sich zu ihnen, blieben stehen oder setzten sich ins Gras, wie es ihnen beliebte. Die zwei Kirchenchöre, unterstützt von den Jodlern, stimmten ein Gloria an, und durch den Obsthain dröhnte das Orgelspiel, bis auch der letzte Gast andächtig verstummt war. Da holte die Orgel von neuem aus, unterstützt von