Der Mann, der nichts vergessen konnte
Von Ralf Isau
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Buchvorschau
Der Mann, der nichts vergessen konnte - Ralf Isau
Ralf Isau
Der Mann, der nichts vergessen konnte
Saga
Der Mann, der nichts vergessen konnte
Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany
(www.ava-international.de)
Die Originalausgabe ist 2008 im Piper Verlag erschienen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright ©2008, 2023 Ralf Isau und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728390320
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Für Roman
»Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst,
dann lass ihn sich selbst besiegen.«
Anonymus
»Früher oder später kommt der Zusammenbruch,
und er kann schrecklich sein.«
Roger Babson (Wirtschaftsexperte, 5. September 1929)
PHASE I
HERAUSFORDERUNG
9. November 1989
»Im Schach nämlich geht es darum: das Ich des Gegners zu unterwerfen, sein Ego zu zerbrechen und zu zermalmen, sein Selbstbewusstsein zu zertreten ‒ und es zu verscharren und seine ganze verachtenswerte sogenannte Persönlichkeit ein für alle Mal zu Tode zu zerhacken – und zu zerstampfen; und dadurch die Menschheit von einer stinkenden Pestbeule zu befreien. Es ist ein königliches Spiel«
Bobby Fischer
Es wird behauptet, bedeutende Ereignisse seien wie eine Frischzellenkur für das Gedächtnis. Noch Jahrzehnte später entsännen sich Menschen beim Gedanken daran genau an den Ort ihres Aufenthalts oder an die gerade verrichtete Tätigkeit. Umso sonderbarer mutet es an, wenn ausgerechnet der Mann mit dem besten Gedächtnis der Welt sich nicht mehr an einen solchen Tag erinnern konnte. Und trotzdem ist genau das geschehen.
Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war Tim Labin neun Jahre alt und hieß noch Tim Rosenholz. Er litt zwar gelegentlich unter epileptischen Anfällen, doch seine Lehrer bescheinigten ihm einen überdurchschnittlichen Verstand. Seinen Altersgenossen war er weit voraus. Der blinde Fleck auf der später so makellosen Netzhaut seines Erinnerungsvermögens rührte von tragischen Vorkommnissen her, die in besagter Nacht sein Leben verändern sollten.
Wie Millionen andere Familien saßen auch die Labins an jenem Donnerstag vor dem TV-Gerät. Um sie herum vibrierte das ganze Wohnhaus wie eine riesige Lautsprecherbox, weil offenbar die ganze Nachbarschaft ebenfalls Westfernsehen guckte. Der Sender Freies Berlin, vor wenigen Monaten noch eine verbotene Fernsehstation auf der anderen Seite des sozialistischen Schutzwalls, strahlte ein weltweit einzigartiges Live-Programm aus.
Am innerstädtischen Grenzübergang Bornholmer Straße hatte die Masse seit etwa neun Uhr abends »Tor auf!« skandiert, bis Viertel nach elf der Schlagbaum tatsächlich hochging. Ähnliches vollzog sich an den Übergängen Sonnenallee und Invalidenstraße. Seitdem war Berlin ein Tollhaus. Im Westen der Stadt fielen sich die Menschen um den Hals, am Brandenburger Tor tanzten sie auf der Mauer, und in den Straßen floss der Sekt in Strömen.
Bei den Rosenholzens herrschte ergriffenes Schweigen. Robert und Hanna saßen im Wohnzimmer, einander bei den Händen haltend, auf der Couch. Ihre Blicke waren wie unter Hypnose auf die Mattscheibe gerichtet. Um ihre elterlichen Instinkte nicht zu wecken, verhielt sich Tim still. Er steckte zwar schon in dem lächerlichen blauen Frotteeschlafanzug mit dem Sandmännchen auf der Brust, durfte aber ebenfalls noch fernsehen.
Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür.
Die Eltern zuckten zusammen, als flösse elektrischer Strom durch die Sprungfedern des alten Sofas.
»Ziemlich spät für einen Besuch«, raunte Hanna. Ein besorgter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
Roberts Blick wanderte zur Standuhr neben dem Sekretär. Es war elf Minuten vor Mitternacht. Seine Stimme klang auf eine beschwörende Weise ruhig, als er antwortete: »Vielleicht nur jemand von den Nachbarn, der mit uns auf die Grenzöffnung anstoßen will. Ich schau mal nach.« Er schlüpfte in die Filzpantoffeln, und nachdem er den Fernseher leise gestellt hatte, schlich er aus dem Zimmer.
Trotz des Lärms aus den oberen Stockwerken hörte Tim die Dielen im Flur knarren. Die Familie Rosenholz lebte in einer geräumigen Altbauwohnung in der Krausnickstraße 5 im Berliner Stadtteil Mitte. Mit den Nachbarn kam man gut aus. Wozu also die Geheimnistuerei?, fragte er sich.
Erneut klingelte es, und die gedämpfte Stimme eines Mannes war zu hören. »Herr und Frau Rosenholz? Ich muss Sie dringend sprechen. Bitte, öffnen Sie.«
Im nächsten Moment war Robert wieder im Zimmer. Hastig schaltete er die Deckenleuchte und den Fernseher aus. »Es ist Gomlek«, zischte er und spähte vorsichtig durchs Fenster zur Straße hinab.
»Wer?«, fragte Hanna.
»Iwan Gomlek. Der Russe, der neulich bei uns in der Registratur herumgeschnüffelt hat. Rainer meinte, ich solle ihn nicht beachten. Gomlek sei von unseren Freunden, ein KGB-Stationsleiter aus Karlshorst.«
Tims Mutter sprang von der Couch hoch. »Der sowjetische Geheimdienst? Meinst du, sie sind uns auf die Schliche gekommen?«
»Psst!« Robert vollzog mit erhobenem Zeigefinger einen Kreis, als wolle er auf Kobolde oder andere unsichtbare, unter der Decke schwebende Lauscher hindeuten. Das Verhalten seiner Eltern war Tim nicht geheuer. Mit einem Mal hörte er ein Klopfen von der Wohnungstür.
»Herr und Frau Rosenholz. Bitte, öffnen Sie sofort! Wir wissen, dass Sie zu Hause sind.«
»Wir sind aufgeflogen«, jammerte Hanna.
Robert schüttelte den Kopf. »Vielleicht werden wir bespitzelt, aber wir sind keine Feinde der Republik. Nicht mal Diebstahl kann man uns vorwerfen.«
»Nein, aber wir haben etwas hinzugefügt. Sie werden sich einen feuchten Kehricht um unsere Absichten scheren. Für sie sind wir Saboteure. Sie bringen uns nach Bautzen und sperren uns weg. Oder wir werden hingerichtet ...«
Abermals pochte es. »Herr Rosenholz, seien Sie doch vernünftig. Wenn Sie nicht öffnen, müssen wir die Tür aufbrechen«, drohte die Stimme von draußen.
»Ich versuche sie hinzuhalten. Versteck du den Jungen. Sofort!«, zischte Robert.
Allmählich bekam Tim Angst. Zwar hatte er seine Eltern in den letzten Wochen ab und zu beim Tuscheln erwischt, sich aber nichts weiter dabei gedacht. Erwachsene meinten ja ständig, sie müssten ihren Kindern etwas verschweigen, weil sie für die Wahrheit noch nicht reif genug seien.
Seine Mutter packte ihn am Arm. »Komm, schnell!«, flüsterte sie und zog ihn auf den Flur hinaus, wohin schon der Vater vorausgeeilt war.
»Sie haben uns geweckt. Was wollen Sie denn?«, rief Robert und täuschte ein Gähnen vor.
»Versuchen Sie nicht, uns hinzuhalten, Rosenholz. Wir haben Ihren Fernseher gehört.«
»Sind Sie noch nie vor der Glotze eingeschlafen?«
»Das sage ich Ihnen, sobald Sie uns geöffnet haben. Aufmachen!«, befahl die Stimme dieses Gomlek. Tim fand sie hinreichend einschüchternd, um sich den Mann als besonders gefährlichen Geheimagenten vorzustellen.
Inzwischen war Hanna mit ihrem Sohn durch die nächste Tür geeilt – in die Küche. Neben dem Fenster lag die Speisekammer, ein besseres Versteck fand sich auf die Schnelle nicht. »Hinein mit dir und keinen Mucks!«, raunte sie und schob Tim in den engen Verschlag. »Wenn sie kommen, dann kriech unter die Plane in der Kartoffelkiste.«
Ehe er sich’s versah, hatte sie die Tür schon wieder verschlossen. Tim hätte am liebsten laut losgeheult. Die von den Bildern fröhlicher Menschen heraufbeschworene friedliche Stimmung war einer kalten Furcht gewichen. Aufregung, Angst, heftiges Atmen, Dämmerlicht und Kälte – das alles war nicht gut für ihn. Es konnte einen epileptischen Anfall auslösen. Und dann wäre er allein, niemand könnte ihm helfen ... Zitternd spähte er zwischen den verzogenen Holzfüllungen der Tür hindurch in die Küche. Mit einem Mal ging das Licht aus. Seine Mutter war in den Flur zurückgekehrt.
Die Kammer verfügte über ein eigenes Fenster, eng zwar und mit einer Schicht weißer Farbe auf der Scheibe, aber wenigstens schimmerten die Straßenlaternen matt hindurch. Tim sah sich um. Er kauerte inmitten von Regalen voller Einweckgläser, Dosen und Äpfel. Ganz hinten stand die große Holzkiste mit den Kartoffeln. Als er die Plane zurückschlug, hörte er unvermittelt die aufgeregte Stimme des Vaters.
»Was soll das? Wir haben nichts getan!«
»In die Küche mit ihnen«, verlangte Gomlek.
Die Ritzen in der Tür wurden erneut von gelbem Licht geflutet. Lautes Poltern und die Stimmen zweier anderer Männer drangen in die Kammer. Tims Angst wurde größer und größer, sein Zittern immer heftiger. Trotzdem zog es ihn wieder zu dem Spalt in der Tür. Dicht über dem Boden war er am breitesten und gewährte ein schmales Sichtfeld zwischen der Fensterwand und der karierten Wachstuchdecke auf dem Küchentisch. Niemand war zu sehen.
»Wo ist Ihr Sohn?«, fragte Gomlek mit tiefer Stimme in fast akzentfreiem Deutsch.
»Er übernachtet heute bei einem Freund«, log Robert.
Tim war am Nachmittag tatsächlich bei seinem Schulfreund in der Oranienburger Straße gewesen. Weil beide Jungen im selben Karree wohnten, hatte er abends die Abkürzung über den begrünten Innenhof genommen und das Haus durch den Hintereingang betreten. Sollten die Agenten nur vorne, in der Krausnickstraße, Posten bezogen haben, konnten sie von seiner Heimkehr nichts wissen.
Iwan Gomlek schien sich mit der Antwort zu begnügen. Er lief an der Vorratskammer vorbei und zog die Fenstervorhänge zu. Jetzt konnte Tim ihn von der Seite sehen, und er erschrak.
Das Scheusal richtete eine Pistole auf seine Eltern, ein schwarzes Ding mit monströs langem Lauf. Der Mann mochte um die fünfzig sein, war ganz in Schwarz gekleidet, groß und so breit wie ein Kleiderschrank. Sein kantiger Schädel wurde durch eine Glatze noch besonders betont. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Gesicht ...
»Plaudern wir miteinander. Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Gomlek mit gespielter Freundlichkeit. Er schob den Küchentisch zum Herd hinüber und stellte zwei Stühle mitten in den Raum. Seine beiden Helfer zwangen Robert und Hanna, sich hinzusetzen, womit sie für Tim ebenfalls sichtbar wurden, wenn auch nur von hinten.
»Damit Sie in der Aufregung keine Dummheiten anstellen, werden wir Ihnen jetzt ein Mittel injizieren«, erklärte Gomlek im Ton eines Arztes, der über eine harmlose Schutzimpfung spricht.
Tims Mutter fing leise an zu weinen.
»Was ist das? Eine Wahrheitsdroge?«
»Viel besser. Schön stillhalten, damit ich nicht hiervon Gebrauch machen muss.« Gomlek wackelte bedeutungsvoll mit der Waffe.
Einer seiner Begleiter zog eine Spritze auf. Der Kerl hatte dichtes, glattes, schwarzes Haar, einen vollen Schnurrbart, aber nur eine Augenbraue. Im Vergleich zu seinem Boss war er jünger, kleiner, grobschlächtiger und irgendwie ... orientalischer. Sanftheit gehörte offenbar nicht zu seinen Stärken – er stach Hanna die Nadel einfach durch den Rock in den Oberschenkel. Sie japste vor Schmerz.
»Muss das wirklich sein?«, protestierte Robert.
Der dritte Agent schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht.
Hanna schrie.
Der Mann versetzte auch ihr eine Ohrfeige.
Tim hätte am liebsten ebenfalls losgebrüllt, doch ihm schwante, dass er damit sich und seinen Eltern nur schaden würde. Stattdessen biss er in den Ärmel seines Pyjamas, um gegen die aufkommende Panik anzukämpfen. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse, als seine Mutter zu weinen begann. Ihm war schwindelig. Warum hatte ihn seine Epilepsie nicht längst außer Gefecht gesetzt? Hilflos musste er mit ansehen, wie der Schnurrbärtige eine zweite Ampulle köpfte, dieselbe Spritze abermals aufzog und sie dem Vater ins Bein jagte.
Gomlek befahl seinen Männern, die Wohnung nach dem Jungen zu durchkämmen. Derweil sackte Robert zur Seite. Tim sah seinen Vater schon betäubt vom Stuhl fallen, aber unvermittelt hielt der KGB-Mann ihn fest und rückte ihn wieder gerade. »Vermutlich wundern Sie sich, warum Ihre Arme und Beine Ihnen nicht mehr gehorchen. Das ist aber ganz normal«, erklärte er gut gelaunt, während es in einem Nachbarzimmer polterte. »Mein Kamerad hat Ihnen einen Cocktail verabreicht, der Ihre Muskulatur erschlaffen lässt. Keine Sorge, wir haben die Zusammensetzung und Dosierung so gewählt, dass Sie weiter atmen und sprechen können. Die Schwäche wirkt nur auf die Extremitäten. So ersparen wir uns die Handschellen oder Stricke, und Sie können mir ganz entspannt zuhören und meine Fragen beantworten. Sie arbeiten doch beide im Referat 7 der Hauptverwaltung Aufklärung, nicht wahr?«
»Was soll die Frage? Das wissen Sie doch ganz genau«, knirschte Robert.
Gomlek verzog den Mund zu etwas, das einem Lächeln ähnelte. »Ganz richtig. Ich will es Ihnen nur leichter machen, Herr Rosenholz. Wir können die Angelegenheit auch gerne abkürzen: Wonach haben Sie und Ihre Frau im Archiv gesucht?«
»Wir? Gesucht? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Der Agent schlenderte zu den Küchenschränken neben dem Herd, ließ seine Fingerspitzen über zwei der dort liegenden Messer gleiten und entschied sich für das größere. Damit kehrte er zurück und stach Hanna die Klinge tief in den Oberschenkel.
Ihr Schmerzensschrei ließ Tim von der Tür zurückschrecken. Mit weit aufgerissenen Augen saß er auf dem Boden der Speisekammer und presste sich den Arm gegen den Mund, weil er nicht mehr länger an sich halten konnte. In einem erstickten Laut brachen Furcht und Entsetzen aus ihm hervor. Wenn sie dich hören, bringen sie dich um! Der Gedanke vermischte sich in seinem Kopf mit der Sorge um die Eltern zu einem betäubenden Gift, das ihm schier das Bewusstsein raubte.
Nach einer Weile kroch er trotzdem zum Spalt zurück. Hanna wimmerte nur noch, und der KGB-Mann fuhr mit seinem Verhör fort.
»... müssen mir bitte glauben, Herr Rosenholz, dass ich keine Freude bei dem empfinde, wozu Sie mich zwingen«, säuselte Gomlek, als bedauere er den brutalen Vorfall. »Aber ich kenne mich mit der menschlichen Anatomie leidlich aus. Das Messer hat keine Schlagader verletzt. Ihre Frau muss also nicht verbluten – wenn Sie Ihre Bedenkzeit kurz halten.«
»Wir sind keine Spione«, beteuerte Robert. Seine Stimme klang gepresst von unterdrücktem Zorn und hilfloser Verzweiflung.
»Habe ich das behauptet?«, entgegnete Gomlek konziliant. »Was wissen Sie über Thomas Jefferson Beale?«
»Wie? Ich verstehe nicht ...«
»Unserer Kenntnis nach haben Sie in der Registratur, in der Sie arbeiten, Informationen über diese Person gesammelt. Der Name ist auch mehrmals in Gesprächen gefallen, die Sie mit Leuten aus Ihrem Auslandsgeheimdienst und anderen Mitarbeitern der HVA führten.«
Roberts Kopf taumelte hin und her, »Beale ist kein amerikanischer Spion. Unsere Nachforschungen sind rein privater Natur.«
»Ach?«
»Das ist die Wahrheit. Sie müssen mir glauben, Genosse Gomlek. Bitte, verbinden Sie doch endlich meine Frau!«
Hannas Wimmern wurde lauter.
»Das hat noch Zeit. Sie kennen doch sicher die Worte des großen Strategen: ›Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann lass ihn sich selbst besiegen.‹ Mag sein, dass ich nicht stark genug bin, um Sie zum Reden zu bringen, Herr Rosenholz, aber gegen Ihre eigenen Gefühle kommen Sie auf die Dauer nicht an. Sagen Sie mir jetzt, was Sie so sehr an Thomas Beale interessiert. Was verbindet Sie oder Ihre Familie mit diesem Mann?«
»Das weiß ich selbst nicht genau ...«
»Wir spielen hier kein Kaffeehausschach, Herr Rosenholz. Sie sind am Zug. Geben Sie mir endlich klare Antworten, oder Ihre Frau ...«
Gomlek verstummte, weil die beiden Agenten in die Küche zurückkehrten.
»Wir haben nur das hier gefunden, Genosse Oberstleutnant«, sagte der mit der fehlenden Augenbraue in fließendem Deutsch, wenn auch mit hartem Akzent.
»Wodka?«
»Sogar zwei Flaschen von dem feinsten Wässerchen. Von dem Jungen fehlt jede Spur. Er könnte höchstens noch hinter der Tür da sein.«
»Du meinst, uns sitzt ein Kibitz im Nacken?«, entgegnete Gomlek vergnügt. Zum ersten Mal wandte er sein Gesicht direkt dem Versteck zu.
Tim erschrak. Ihm war, als blicke er ins Antlitz eines haarlosen Ungeheuers. Dieser Mann hatte etwas von einem Kraken an sich. Hektisch krabbelte er zu der Kartoffelkiste, kletterte hinein, zog sich die Plane über den Kopf und hielt den Atem an.
Einen lärmenden Herzschlag später wurde die Tür aufgerissen. Zwei feste Schritte. Durch die Ritzen zwischen den Brettern sah Tim schwere Stiefel. Direkt über ihm erklang die Stimme des Schnurrbärtigen. »Eine Speisekammer, Genosse Oberstleutnant. Kein Junge. Nur eine Kiste.«
»Schau nach, was drin ist, Casim.«
Tim sah durch den Spalt, wie der Mann in die Hocke ging und die Mündung einer Pistole vorüberglitt. Er kniff die Augen zu. Jetzt bist du fällig! Der Gedanke donnerte noch durch seinen Schädel, als unvermittelt Roberts aufgeregte Stimme dazwischenblitzte.
»Also gut, ich gebe Ihnen, was Sie haben wollen.«
Der Agent in der Kammer fuhr herum.
Gomlek lachte. »Warum nicht gleich so, Herr Rosenholz?« Und in ernsterem Ton fügte er hinzu: »Du kannst zurückkommen, Casim, und schließ die Tür hinter dir ab.«
Tim hörte ein Klappen, und in der Kiste wurde es dunkel. Er atmete aus.
Eine Weile wagte er nicht, sich zu rühren, aber dann wurde die Sorge um die Eltern übermächtig. Er schlüpfte unter der Plane hervor, kroch auf allen vieren zur Tür und spähte durch den Spalt.
Das Kinn seiner Mutter war auf die Brust gesunken, so als schliefe sie. Ihr Bein blutete immer noch.
Robert reckte seinem Peiniger trotzig das Kinn entgegen.
Gomlek sagte amüsiert: »Ich hoffe für Sie, Ihr Zwischenzug war nicht bloß eine Finte.«
Ehe Tims Vater etwas erwidern konnte, erschien wieder der Mann mit der fehlenden Augenbraue auf der Bildfläche und reichte seinem Boss einen geöffneten, vergilbten Briefumschlag. Gomlek entnahm ihm ein einzelnes, in der Mitte gefaltetes Blatt.
»Eine Vollmacht in englischer Sprache. Wie interessant«, murmelte er, während er mit großen Augen den Inhalt des Papiers studierte. »Sogar beinahe hundertfünfzig Jahre alt! Und was haben wir denn da?« Gomlek fing an, aus dem Inhalt zu zitieren: »›Ich verdanke Mr. Rosewood mein Leben ... Er genießt mein vollstes Vertrauen ... händigen Sie bitte Mr. Rosewood die Schachtel mit sämtlichen Papieren aus.‹ Rosewood? Rosenholz? Klingt ja tatsächlich, als habe sich da einer Ihrer Ahnen um den Unterzeichner des Dokuments verdient gemacht. Da stehen nur die Initialien T.J.B. Woher wussten Sie, dass dieses Schriftstück von Thomas Jefferson Beale stammt?«
»Weil es unzählige Veröffentlichungen über Robert Morriss und Beale gibt.«
»Wo? In der DDR? Das bezweifle ich. Und in den Buchläden unserer sozialistischen Bruderstaaten werden Sie bestimmt auch nichts über das Gespann gefunden haben. Oder lesen Sie etwa die Schriften des Klassenfeinds?« Gomleks Stimme wurde hart. »Machen Sie mir nichts vor, Herr Rosenholz. Sie wissen mehr, als Sie zugeben wollen. Ist Ihre Familie im Besitz dieser Schachtel, die Beales Freund Jacob Rosewood in Empfang genommen hat?«
»Nein, verdammt noch mal! Sie unterstellen uns da etwas ...« Roberts Kopf wackelte wie bei einem Betrunkenen hin und her. »Wir haben weder diese Schachtel noch die erwähnten Papiere jemals gesehen. Wäre es anders, wieso sollten wir dann in der Registratur nach weiteren Spuren zu diesem mysteriösen Dokument suchen?«
»Vielleicht, weil Beales Vermächtnis verschlüsselt ist und Sie es nicht entziffern können?«
»Aber das ist nicht wahr.«
»Ein guter Spieler überblickt stets mehrere Züge seines Gegners im Voraus, Herr Rosenholz. Als dieser Vollidiot von Pressesprecher heute ohne Ermächtigung den Wegfall sämtlicher Reisebeschränkungen verkündete, war mir klar, dass ich handeln musste, damit Sie mir nicht entwischen ...«
»Sie sind wahnsinnig!«, schrie Robert dazwischen.
Tim trat der kalte Schweiß auf die Stirn, und sein Herz fing an zu rasen.
Gomlek blieb scheinbar gelassen. Bedächtig nahm er dem Bärtigen eine der Wodkaflaschen aus der Hand – und zerschlug sie blitzschnell auf dem Kochherd. Der Inhalt spritzte über den Boden. Mit dem zersplitterten Rest in der Hand näherte er sich langsam Tims Mutter.
»Sind Sie bereit, Ihre Dame zu opfern, Rosenholz?«
»Bitte!«, bettelte Robert. »Lassen Sie Hanna in Ruhe. Dieses Papier ist uralt. Vielleicht existiert Beales Schachtel überhaupt nicht mehr. Ich würde Ihnen alles geben, um meine Familie zu schützen, aber ich habe nichts.«
»Kannst du mir Feuer geben, Casim?«, wandte sich Gomlek seinem Henkersknecht zu.
Der Schnurrbärtige zog eine Streichholzschachtel aus der Tasche und strich ein Zündholz an. Auf Gomleks Wink warf er es in die Wodkapfütze unter dem Herd. Tim vernahm ein leises Fauchen. Blaue Flammen züngelten über den Boden.
Gomlek verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »Tempus fugit, sagt der Lateiner – ›Zeit fliegt‹ –, und die Ihre ist gerade verflogen.« Noch immer stand er vor Hanna, den Flaschenhals fest umklammernd.
»Bitte!«, schluchzte Robert. »Was immer Sie von uns wollen, wir haben es nicht.«
Versonnen starrte Gomlek auf das beschichtete Tischtuch, das zuvor auf den Boden gefallen war. Qualmwolken stiegen davon auf. Er schüttelte traurig den Kopf. »Wirklich zu schade, Herr Rosenholz. Es ist nicht allein die magere Ausbeute unseres Besuchs hier, die mich bekümmert, sondern mehr noch Ihr völlig nutzloses Leiden.«
»Wenn Sie nur bitte endlich gehen!«
»Sie haben mir also nichts mehr mitzuteilen?«
»Verdammt noch mal, nein!«, brüllte Robert aus voller Kehle.
Starr vor Angst klebte Tim an der Tür und wünschte, dies alles sei nur ein grausamer Traum. Sämtliche Muskeln in seinem Körper waren hart wie Stein; nur seine Lungen pumpten den Sauerstoff immer schneller ins Blut.
Gomlek seufzte. »Dann sagen Sie Ihrer Frau Lebewohl.« Er nickte seinem zweiten Helfer zu.
Der Mann trat hinter Hanna, krallte seine Finger in ihren dunklen Haarschopf und riss ihren Kopf brutal zurück.
Eine kleine Ewigkeit lang betrachtete Gomlek teilnahmslos die ihm dargebotene Kehle. Dann holte er bedächtig mit seinem Scherbendolch aus.
In diesem Moment durchlief Tim ein nur allzu bekanntes Gefühl – meistens kündigte sich so ein epileptischer Anfall an. Ein, zwei Sekunden lang war ihm, als stürze er in einen tiefschwarzen Abgrund. Dann versagten ihm Arme und Beine den Dienst, und während er wie aus weiter Ferne den Schrei seines Vaters hörte, sackte er zu Boden und versank in Finsternis.
*
Als Tim wieder zu sich kam, tat ihm die Zunge weh. Er schmeckte Blut. Um ihn herum war es laut. In seinen Ohren dröhnte ein unerklärliches Fauchen. Benommen sah er sich um. War er in der Speisekammer? Seltsam. Hatte er etwa wieder einen Anfall gehabt?
Die Luft in dem kleinen Raum war so heiß, als käme sie aus einem Föhn. Tim verspürte den unbändigen Drang davonzulaufen. Irgendwohin. Doch er war offenbar in einem Albtraum gefangen, aus dem es keinen Ausgang gab. Als er den Kopf hob, bemerkte er die gleißenden Ritzen in der Tür. Allmählich kehrte sein Geist in die Wirklichkeit zurück, wenngleich diese ihm nach wie vor alles andere als real erschien. In der Küche tobte ein Feuer!
Er musste raus hier. Sofort! Seine Hand wollte sich auf den Türknauf legen, zuckte aber sofort wieder zurück. Das Metall war glühend heiß.
Ächzend kam er auf die Beine und sah sich in der Speisekammer um. Sein Blick streifte über Gläser, Dosen und Äpfel und blieb schließlich an einem alten Handtuch hängen. Das könnte gehen.
Rasch faltete er den Stoff zweimal zusammen, legte ihn über den Knauf und drehte diesen nach rechts. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Die Vorstellung, in der Kammer bei lebendigem Leibe zu verbrennen, versetzte ihn in Panik. Er schrie und rüttelte an der Tür, aber die rührte sich nicht, und so musste er den Drehgriff wieder loslassen, weil die Hitze seine Haut sogar durch den vierlagigen Lumpen hindurch zu versengen drohte. Gehetzt sah er sich um.
Das Fenster! Es war der einzige Weg in die Freiheit. Die Wohnung lag im ersten Stock. Konnte er einen Sprung aus dieser Höhe wagen? Und würde er überhaupt durch die schmale Öffnung hindurchpassen? Ein bedrohliches Knacken von der Tür gemahnte ihn zur Eile. Jeden Moment konnten die Flammen sich durchs Holz fressen. Es blieb ihm gar keine andere Wahl, als sich durchs Fenster zu zwängen.
Entschlossen packte er den ersten der beiden Schwenkriegel, aber auch der hing fest. Wieder sah sich Tim in der Kammer um. Da gab es weder einen Hammer noch andere Werkzeuge, nur diese verdammten ...
Dosen!
Besser als nichts, dachte er, nahm einen der Weißblechbehälter aus dem Regal und hämmerte damit gegen den Riegel. Nach mehreren Schlägen lockerte sich dieser und klappte endlich herum. Sofort nahm Tim den zweiten Verschluss in Angriff, hämmerte, rutschte ab und schlug erneut dagegen, bis auch dieses Hindernis genommen war. Die verbeulte Dose ließ er achtlos fallen.
Aus der Ferne hörte er das Martinshorn der Feuerwehr. Vermutlich hatten die Nachbarn den Notruf gewählt. Gut so. Hoffentlich waren auch seine Eltern den Flammen entkommen. Wieder ertönte von der Tür ein schauerliches Knacken.
Tim packte den runden Knauf. Der Anfall hatte ihn geschwächt, deshalb sammelte er einen Moment Kraft. Dann riss er das Fenster mit einem Ruck auf.
Zu spät wurde ihm klar, was er damit ausgelöst hatte. Der Todeskampf der Tür schwoll zu einem grauenerregenden Knirschen und Ächzen an. Tim sah eine Menschentraube auf der Straße. Mehrere Leute gestikulierten aufgeregt, aber der Lärm des Feuers übertönte ihre aufgeregten Stimmen.
Rasch stieg er in die Fensternische und schob sich mit vorgereckter Schulter nach draußen auf den Sims. Nur noch ein paar Minuten, dachte er, dann kommt die Feuerwehr und rettet ...
Unvermittelt brach die Hölle los. Die Tür der Speisekammer wurde förmlich aus ihrem Rahmen gesprengt, und eine brüllende Flammenzunge leckte gierig nach dem frischen Sauerstoff.
Vor Schreck verlor Tim den Halt und fiel. Während das Pflaster des Gehweges auf ihn zuraste, drehte sich alles um ihn herum. Er schrie aus Leibeskräften. Dann wurde sein Körper gleichsam von einer riesigen Faust zermalmt, und jener seidene Faden, der seine Schmerzen und Ängste gehalten hatte, riss jäh von ihm ab.
PHASE II
AUFSTELLUNG
17 Jahre später
»Ich konnte den Traum noch mechanischer behandeln; aber mein Genius ruft mir überhaupt zu: Gleich der Schachmaschine; rollet die Weltmaschine mit lauten Rädern um, aber eine lebendige Seele verbirgt sich hinter den mechanischen Schein.«
Jean Paul
Ein Raunen ging durch die bogenförmigen Reihen des Auditoriums, als JJ ihren betagten Schützling in den Saal führte. Sie wusste nur allzu gut, dass die Studenten hier ein verwöhntes Publikum waren. Doch selbst an einer Eliteuniversität wie dem MIT gehörten Auftritte wie dieser wohl eher zu jenen seltenen Ausnahmen.
Dr. Emil W. Kogan, der Gastdozent an diesem Nachmittag, arbeitete für die National Security Agency, den geheimsten Geheimdienst der USA, so geheim, dass noch dreißig Jahre nach seiner Gründung zahlreiche Kongressabgeordnete und Senatoren nichts von seiner Existenz gewusst hatten, Crypto City, das NSA-Hauptquartier in Fort Meade, Maryland, hieß zwar wie eine Stadt, hatte auch die Dimensionen einer Kleinstadt, ließ sich aber auf keiner offiziellen Karte finden. Die NSA war ein hungriger Moloch, der nicht Kinder, sondern elektronische Nachrichten verschlang. Jedes Telefonat, jedes Fax und jede E-Mail verleibte er sich ein – weltweit. In seinem kilometerlangen »Gedärm« wurde diese oft unverdauliche Kost aufgeschlüsselt: in einen großen Batzen Abfallstoffe und die wenigen nützlichen Bestandteile, die ihn weiter wachsen ließen. Der monströse Verdauungstrakt beschäftigte an die vierzigtausend Bakterien – die NSA bevorzugte allerdings die Bezeichnung »Mitarbeiter«. Den Stoffwechsel des Moloch in Gang zu halten galt als Privileg, das gemeinhin mit einem sicheren Job und guter Bezahlung assoziiert wurde. Da nun aber der Appetit des Riesen unersättlich war, suchte er ständig neue begabte Mathematiker, Linguisten und Informatiker.
Letztere gehörten einer ganz besonderen Spezies an, der man bisweilen geradezu mystische Fähigkeiten nachsagte: Sie vermochten Maschinen Leben einzuhauchen. Nach Ansicht vieler spielten sie damit in derselben Liga wie Zeus oder Zarathustra. Und zu den weltweit führenden Zauberschulen für den Götternachwuchs zählte das MIT, genauer gesagt, das Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory, kurz CSAIL.
Wie schräg einige Köpfe an diesem »Laboratorium für Informatik und Künstliche Intelligenz« zu denken fähig waren, dokumentierte recht anschaulich der Gebäudekomplex, in dem es untergebracht war. Das Rayand Maria Stata Center, in dessen vierstöckigen Sockelbau JJ soeben ihren Mentor geführt hatte, wirkte ein wenig, als sei es eine Manifestierung von Ballantines bizarrem Traum aus Alfred Hitchcocks Film Ich kämpfe um dich. Mit seinen schrägen Fassaden vermittelte der Komplex den Eindruck der Unfertigkeit, so, als seien große Spielkarten flüchtig aufeinandergestapelt, um beim nächsten Windhauch wieder zusammenzustürzen. Immerhin hatte das Stata diesen Zustand jetzt schon mehr als zwei Jahre überdauert. Damit symbolisierte es treffender als jeder Slogan das Credo der Menschen, die hier lernten und arbeiteten: Nichts ist statisch, alles kann sich verändern, nur der Wandel bleibt uns ewig erhalten.
Obwohl also Abwechslung am CSAIL Pflicht war, entbehrte der Auftritt des »Stargasts« nicht einer gewissen Exotik. Karim Al Massari – JJs am MIT studierender Freund – hatte die Erwartungshaltung im Vorfeld der Veranstaltung hochgeschraubt. Kogan sei blind, hatte er seine Kommilitonen wissen lassen, und seine achtundzwanzig Jahre junge Begleiterin eine Traumfrau wie aus Tausendundeiner Nacht.
Während JJ den Redner zum Katheder geleitete, schweifte ihr Blick durchs Publikum. Überwiegend Männer. Oder zumindest Milchbärte, deren lässige Körperhaltung verriet, wie ungemein männlich sie sich fühlten. Bis jetzt verlief also alles nach Plan. Der hungrige Schwarm stierte den Köder an. Es störte sie nicht, von Kogan vor allem als Blickfang mitgenommen worden zu sein, solange ihre übrigen Qualitäten bei ihm im Vordergrund standen. Und das musste man Emil Kogan lassen: Obwohl er ein Meister der Täuschung war, achtete er bei seinen Mitarbeitern stets mehr auf den Inhalt als auf die Verpackung.
Der Doktor aus Crypto City trug einen langen weißen Stock und eine schwarze Brille, welche sich perfekt an seine Gesichtsform anpasste. Auch sein dunkelgrauer Anzug war maßgefertigt. Kogan füllte ihn auf beeindruckende Weise aus. Im Veranstaltungshinweis hatten die Studenten lesen können, er sei sechsundsechzig, doch in der Art und Weise, wie sich dieser stattliche Mann bewegte, wirkte er auf die meisten wohl eher zwanzig Jahre jünger. Da gab es kein Zittern, keinen gebeugten Rücken oder sonstige Anzeichen von Hinfälligkeit. Aufrecht trat er ans Pult – es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, seinen Vortrag sitzend zu halten. Sein weißes Haar war voll und für einen Mann dieses Alters erstaunlich lang.
Als Repräsentantin einer dem US-Verteidigungsministerium unterstellten Behörde hatte JJ für den Auftritt im CSAIL ein konservatives Outfit gewählt: dunkelblaues Kostüm mit taillierter Jacke und eng geschnittenem Rock, der eine Handbreit über dem Knie endete; dazu eine weiße Bluse und eine Perlenkette, die besonders gut mit ihrem bronzefarbenen Teint harmonierte. Sie war eins fünfundsiebzig groß und schlank. Die figurbetonte Kleidung konnte sie sich also leisten, auch dank eines strengen Ernährungsplans und regelmäßigen Trainings in Thaing Byong Byan, einer burmesischen Kampfsportart. Ihre weit über die Schultern fallenden, dunkelbraunen, seidig glatten Haare trug sie offen. Vermutlich fragten sich die stieläugigen Milchbärte, woher diese Miss Orient oder ihre Ahnen stammten. Auf Afghanistan tippt ihr bestimmt nicht, dachte JJ, während sie ins Publikum lächelte. Karim meinte immer, ihre Augen seien ihre stärkste Waffe. Sie leuchteten ausdrucksstark wie vom Sternenhimmel gefallene grüne Smaragde, und mit dem dunkleren Außenring um die Iris besaßen sie eine fast hypnotische Wirkung. Als gebürtiger Pakistaner war auch er ein Orientale, und die neigten ja bekanntermaßen zu blumigen Übertreibungen.
»Die junge Dame neben mir, die ein Großteil von Ihnen gerade angafft, ist JJ«, begann Kogan ganz unkonventionell seinen Vortrag. Auf eine förmliche Begrüßung verzichtete er. Offenbar wusste er genau, dass er mit Konventionen vor diesem Publikum keinen Eindruck schinden konnte, wohl aber mit dem Juwel an seiner Seite.
JJ nickte in die Zuhörerschaft, ließ einmal mehr ihr betörendes Lächeln aufblitzen und setzte sich auf den Stuhl, welchen man für sie neben dem Rednerpult bereitgestellt hatte. Einige Studenten verfolgten interessiert das damit einhergehende Höherrutschen ihres Rocksaums.
»JJ ist an einer kleineren Universität in New Haven, Connecticut, immatrikuliert, wo sie gerade an ihrer Dissertation in Geschichte arbeitet«, fuhr Kogan fort und erntete dafür spontanen Beifall. Jeder hatte verstanden, dass er von Yale redete, nach Harvard, das gewissermaßen auf der anderen Straßenseite vom MIT lag, die zweitreichste Universität der Welt. Mit seinem sicheren Gespür für die ewige Rivalität der beiden Wissenschaftszentren hatte Kogan bei seinen elitären Zuhörern, noch ehe sein Vortrag begann, zum zweiten Mal gepunktet. Einige Studenten johlten vor Vergnügen. JJ machte gute Miene. Kogan deutete mit der Linken erstaunlich präzise in ihre Richtung und setzte noch einen drauf. »Wem sie ihre Gunst schenkt, der darf diese anmutige Fee Jamila nennen. Aber unterschätzen Sie JJ nicht. Wer sie beeindrucken will, braucht eine gehörige Portion Grips,«
Im Hörsaal ertönten begeisterte Pfiffe und Jay-Jay-Rufe. Einige hielten sich sogar für intelligent genug, »Jamila« zu intonieren.
»So gerne ich Ihnen am heutigen Nachmittag mehr über meine liebreizende Assistentin erzählen würde, so sehr drängt es mich, mit einem anderen Thema Ihre geschätzte Aufmerksamkeit zu gewinnen.« Mit diesen Worten brachte Kogan seinen Vortrag geschickt auf die sachliche Ebene. Er stellte sich nun förmlich als Mitarbeiter eines NSA-Projekts vor und bezeichnete sich ganz unbescheiden als einen der führenden Experten auf dem Gebiet des Terrorismus und der Kriegführung im Internet. Über das genaue Aufgabengebiet seiner Arbeitsgruppe dürfe er aus Geheimhaltungsgründen nichts Näheres sagen. Damit fesselte er sein Publikum noch mehr. Mit seiner nächsten Äußerung wurde er sehr konkret, ja, geradezu unverblümt.
»Einige bezeichnen uns als größte und einflussreichste Schnüffelbehörde auf diesem Planeten.« Unter der undurchsichtigen Brille zog sich sein Mund in die Breite. »Das stimmt. Doch ich möchte Ihnen heute etwas darüber erzählen, warum die Welt eine solche Einrichtung benötigt und wieso die NSA ein Garant für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Bündnispartner sowie für unser aller Freiheit ist. Ich will auch ganz offen über die