Jakobsplatz
Von Annegret Wochele
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Annegret Wochele
Annegret Wochele, geboren 1948, Studium der Germanistik und Theologie, lange Jahre Lehrerin für Deutsch, Religionslehre und Kunsterziehung. Sie lebt in Stuttgart.
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Jakobsplatz - Annegret Wochele
„Nu Mädel, was weinste denn so jämmerlich?, fragte Luley, der Schreiner, das Kind. Er schraubte im Wohnzimmer der neuen Wohnung den Bücherschrank zusammen und war dabei, den Eckschrank mit der gebogenen Scheibe einzupassen, was kniffelig genug war. So ein plärrendes Kind kam ihm da ziemlich ungelegen. „Schau, so ‘nen scheenen Schrank hab‘ ich geschreinert für den Papa. Das kannste ni koofen im Laden. So was macht nur noch der alte Luley
, sagte er in einem Singsang, der dem Kind fremd war.
Er sprach anders als die Leute am Ort. Alles war dem Kind fremd: die weitläufige Wohnung, das dunkle bis zur halben Höhe mit braun gebeizten Nut- und Federbrettern verkleidete Treppenhaus, der Geruch nach Holz und Leim und überall standen Kisten und Wäschekörbe und überall war es im Wege. Der alte Luley fingerte aus einer viel zu weiten Cordhose ein Taschentuch heraus, ging in die Knie, wischte dem Kind den Tränenrotz von der Oberlippe und ließ es noch einmal kräftig schnäuzen. „Nu Mädel, jetzt is aber gudd!", sagte er in einem strengeren Ton, was erneut lautes Geplärre zur Folge hatte.
Der Vater kam ins Zimmer, noch im weißen Kittel, nahm das Kind auf den Arm und tätschelte ihm den Rücken, begleitet von einem sonoren „Is ja gut, Anna, is ja gut!".
„Doktor, ich weeß ni, was se hat. Sie plärrt und plärrt!"
„Was fehlt dir denn, hm? Tut was weh?" fragte der Vater in der Tonlage, die er auch seinen kleinen Patienten gegenüber anschlug. Auch er zog ein gebrauchtes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche. Es roch nach Vater und stoppte den Tränenfluss sofort.
„Das Schemelchen ist nicht da", brachte das Kind stockend hervor.
„Welches Schemelchen?"
„Na, mein Fußschemelchen, auf dem ich immer sitze! Ich hab‘ schon überall geguckt, aber es ist nicht da! Ihr habt es hinten beim Opa gelassen, aber ich brauch es doch!"
„Das kann passieren bei dem Trubel. Aber schau, es ist ja noch hell, du kannst das Schemelchen hinten holen. Du kennst ja den Weg, bist ihn doch immer mit der Mutti gegangen, wenn ihr zum Einkaufen seid. Du gehst raus auf den Platz, dann links um die Ecke und dann immer geradeaus bis zum Schulhügel und von dort siehst du das Haus vom Opa schon! Luley schüttelte den Kopf, legte den Schraubenzieher weg und wischte sich die Hände am Kittel ab. „Dokterchen, die Kleene weeß ni, was rechts und links is! Die find ni hin un ooch ni heeme!
Das leuchtete dem Vater ein, dass er die dreijährige Anna damit überforderte. Er setzte das Kind ab, blickte noch einmal anerkennend auf Luleys Meisterwerk und ging mit der Kleinen an der Hand durch die weitläufige Wohnung in den Raum, der das Kinderzimmer werden sollte. Seine Frau bezog gerade die Kissen für das Stockbett, in dem Anna und ihr Bruder Wolfgang schlafen würden. Wo die fünf Jahre ältere Schwester Ev-Marie schlafen sollte, war noch unklar. Vielleicht erstmal auf dem Sofa, war die Überlegung der Mutter, die mit der organisatorischen Planung des Umzugs sehr eingespannt war.
Beiläufig blickte sie auf das verheulte Gesicht des Kindes, deutete das als Hunger und meinte energisch: „Abendessen gibt es erst, wenn ich hier fertig bin."
„Nein, sie vermisst ihr Schemelchen. Wir haben es wahrscheinlich hinten beim Opa vergessen."
„Kind, das holen wir morgen. Dafür hab‘ ich jetzt keinen Kopf," sagte sie und tätschelte der Kleinen, die sich an ihr Bein schmiegte, die Wange. Das Kind klammerte sich an sie, versteckte das Gesicht in ihren Rock, der ganze Körper wurde geschüttelt.
Die Eltern blickten sich an. Es gab offensichtlich nur eine Lösung: Das Schemelchen musste her. Man rief nach der großen Schwester, die mit dem Kind nach hinten gehen sollte, um es zu holen.
Von da an spaltete sich nicht nur die Welt von Anna, sondern die der ganzen Familie in „hinten und „vorne
.
Hinten, das war der Opa, Opas Haus, Tell, sein Jagdhund, der Garten, der Bach im Garten, die kleine Kapelle im Garten, die der Opa als Protest gegen die Nazis gebaut hatte, wie es hieß. Hinten, dort war der Hühnerstall, denn Eier brauchte man immer, hat sie im Krieg tauschen können gegen Mehl oder Rahm. Hinten, dort waren die Spargelbeete, die Erdbeerbeete und Beerensträucher, das Spalierobst. Hinten, dort war das Gartenhaus, dahinter die Garage, in die der Vater seinen grauen Volkswagen mit dem geteilten Heckfenster stellte, darüber war die sogenannte Halle, die als Wäscheboden diente.
Hinten, das war die Holzlege, in der das alte Ehepaar Rundel, das seit Kriegsende bei Opa in zwei winzigen Räumen unter dem Dach wohnte und ein paar Stallhasen fütterte, die man auch streicheln durfte.
Hinten, das war Paula, die nach dem Tod der Großmutter dem Opa den Haushalt führte und mit der man so wunderbar singen konnte. Hinten, das waren die Sommerabende, an denen der Großvater auf der Knopfharmonika spielend eine Runde durch den Garten ging, die drei Enkelkinder bereits in Schlafanzug und Nachthemd mit ihren Lampions im Schlepptau, dann zurück zum Haus ins Schlafzimmer, wo die Lampions im Wasserkrug des Lavoirs abgestellt wurden, aber noch eine kurze Weile leuchten durften, bis die Kinder eingeschlafen waren.
Hinten, das war das Paradies, und dass es den Flurnamen „Heiligengarten" trug, schien nur gerechtfertigt. Unweit von dort gab es die Heiligenquelle und die Teufelsquelle und Opa war der festen Überzeugung, dass das Wasser der Teufelsquelle, von dem er sich täglich einen Krug ins Haus holte, den besten Kaffee ergäbe.
Vorne, das war das große Mietshaus mitten im Ortskern am Jakobsplatz, es gehörte ebenfalls dem Opa. Dort wohnte nun die kleine Anna mit ihrer Familie und ihr Vater hatte in drei Räumen eine Arztpraxis eröffnet.
Er hatte schon eine Weile auf der Untersuchungsliege in seinen Praxisräumen übernachtet, weil dort das Telefon war und er schnell erreichbar sein musste. Seine Frau Anneliese, die mit den Kindern noch bei ihrem Vater im Heilgengarten wohnte, war am Abend mit dem Essen im Korb und manchmal auch mit einer Flasche Wein nach vorne, um mit ihrem Mann den Tag abzuschließen. Obwohl seit seiner Rückkehr aus dem Krieg nun schon ein paar Jahre vergangen waren und zwei der Kinder danach geboren wurden, waren sie einander immer noch ein bisschen fremd. Berny war nicht mehr der lebenslustige Medizinstudent, den sie, die Krankenschwester, in der Klinik in Würzburg kennengelernt und dann mitten im Krieg geheiratet hatte. Er hatte nicht nur ein Glied seines Mittelfingers verloren, sondern auch die Hoffnung, dass er doch noch seinen Facharzt in Gynäkologie machen könnte. „Hyperemesis gravidarum", das Erbrechen in der Frühschwangerschaft, war das Thema seiner Doktorarbeit und sein Doktorvater war auch nicht weit weg. Nur zwanzig Kilometer waren es, aber dazwischen lag die Zonengrenze und jetzt, mit drei Kindern und dem Neuanfang in Malstadt schien das alles unerreichbar. Die Überbleibsel seines beruflichen Lebensplanes, ein gynäkologischer Untersuchungsstuhl, stand in seinem Sprechzimmer, Geburtszange und Spekula lagen sterilisiert im Instrumentenschrank.
„Sie haben das Zeug dazu, spezialisieren sie sich und machen den Facharzt, hatte der Doktorvater damals gemeint, „das ist die Zukunft
. Für den Fünfundzwanzigjährigen war die Zukunft aber der Krieg, der ihn als Stabsarzt durch halb Europa schickte. Nachts in seinen Träumen war er immer noch dort, hörte die Schüsse und Schreie. In einem besonders schlimmen Traum kommt ein junger Soldat zu ihm ins Lazarett. Schwer blutend und laut schreiend. In der rechten Hand trägt er seinen linken Arm, vom Feind abgeschossen. „Was soll ich mit dem abgerissenen Arm? Den kann ich nicht mehr anflicken, versucht der Arzt vergeblich dem verzweifelten Verwundeten klarzumachen und muss gegen die eigene Verzweiflung ankämpfen. „Doktor, das ist doch mein Arm, der gehört doch zu mir, den kann ich doch nicht wegwerfen!
Und Schweiß gebadet schreckt der Träumende aus dem Schlaf hoch. Immer wieder plagten ihn solche Bilder und das jaulende Schluchzen so vieler seiner Generation, die er „draußen im Feld" nur notdürftig versorgen konnte, ging ihm nicht aus dem Ohr. Und er konnte und wollte nicht darüber sprechen, was ihn immer noch ängstigte und umtrieb.
Aber jetzt, hier in der Rhöner Kleinstadt, wollte er seinen Frieden haben. An den Krieg erinnerten nur die Schlagbäume und Überwachungstürme an der Grenze und die täglichen Patrouillenfahrten der Amerikaner dorthin. Im offenen Jeep fuhren sie durch die Hauptstraße und die Kinder staunten, wenn auch ein Schwarzer dabei war, winkten und riefen „chewing gum, chewing gum!". Und immer warfen die Amerikaner ein paar Kaugummi-Briefchen, nach denen sich die Kinder lachend bückten und sie untereinander aufteilten.
Er hatte das seinen Kindern verboten. Sie sollten die Amerikaner nicht anbetteln, denn er tat sich schwer, sie als Befreier zu sehen. Obwohl er nicht zu den Kämpfern in der ersten Linie gehörte und nur in der Grundausbildung ein Gewehr in der Hand gehabt hatte, fühlte er sich als besiegter Kämpfer und sein Stolz ließ das nicht zu.
Die ersten Tage in der neuen Wohnung waren für Anna nicht einfach. Außer dem Teddybären, der schon etwas abgeschabt war und auch nur ein Auge hatte, waren die anderen Spielsachen noch nicht ausgepackt oder sie waren noch „hinten beim Opa. Den Teddy jedoch nahm sie mit ins Bett und er durfte auch seine Schuhe anbehalten, kleine rote Schnürstiefelchen aus Leder, die der Vater aus Frankreich mitgebracht hatte, damals, als die große Schwester noch klein und „der Vati noch im Feld war
, wie sich die Mutter jedes Mal erinnerte, wenn sie den Bären mit den roten Stiefelchen sah. Sie hätten nie gepasst und der Vater sei ganz enttäuscht gewesen, dass seine Tochter schon laufen konnte, als er mit den Stiefelchen auf Heimaturlaub kam. Anna fand, dass dem Teddy die roten Stiefelchen bestens zu dem honiggelben Fell passten.
Nachts, wenn es im Haus ganz andere Geräusche gab als hinten beim Opa, wo man durch das offene Fenster den Malbach rauschen hörte oder das Rascheln der Birkenblätter, da fürchtete sich Anna und kletterte ins Stockbett darüber, wo der Bruder schlief und schlupfte bei ihm unter die Decke. Er war nur ein Jahr älter, aber als großer Bruder taugte er schon ein bisschen. Die beiden flüsterten, um die große Schwester nicht aufzuwecken, die auf einem Sofa gegenüber schlief.
„Ich will wieder hinter zum Opa", jammerte sie. Das gehe nicht, meinte er. Ihr Bett sei doch jetzt hier und wenn sie hintergehe, sei ja er allein. Das leuchtete ihr ein. Sie kuschelte sich an den kleinen großen Bruder.
„Hab dich lieb."
„Weiß ich doch!"
Bis alles in der Wohnung an Ort und Stelle war und weil die kleine Anna dabei störte, brachte die Mutter sie nach hinten zum Opa, wo sie herzlich willkommen war. Der Großvater war nicht unglücklich darüber, dass nun im Haus etwas mehr Ruhe herrschte. So gern er seine Enkel und seine einzige Tochter bei sich hatte, war ihm das Toben der drei manchmal ein bisschen zu viel geworden, vor allem abends, bis endlich Ruhe einkehrte. Jetzt, am späten Vormittag saß er auf der kleinen Veranda, die Richtung Garten angebaut war, seinen Jagdhund Tell zu den Füßen. Er hatte ein Achtele Weißwein vor sich stehen und aß ein paar Würfelchen Schweizer Käse, die er mit einem Hirschfänger aufspießte. Als Anna die Treppe zur Veranda hochkletterte, hellte sich seine Mine auf.
„Ja, da is ja mei Moggele! Komm setz dich e wengle bei mich bei, meinte er im breitesten Unterfränkisch und rückte auf der Bank ein Stückchen beiseite, um ihr Platz zu machen. „No, Moggele, willste aach e Bröggele?
Sie nickte eifrig und pickte einen Käsewürfel von der Spitze des Hirschfängers und genoss es sehr, den Opa ganz für sich zu haben.
Die Zeit bis zum Mittagessen vertrieben sie sich manchmal mit einem Kapellenrundgang, wie er es nannte. Tell trottete vorneweg und der Großvater pfiff ihn zurück, wenn jemand entgegenkam. Sie spazierten an den Gärten vorbei, die rechts und links den Weg säumten, hinunter zur Heiligenquelle, dann zur Teufelsquelle, dort tranken sie aus der hohlen Hand ein paar Schluck, stiegen dann hinauf zur Großenbergkapelle, setzten sich auf die Bank unter der Linde mit dem Blick Richtung Bahnhof. Hier erzählte Opa gern die Geschichte, wie dort in den letzten Kriegstagen seinem Neffen, der zu neugierig gewesen sei, vom Feind der Arm abgeschossen wurde. Auf dem Schoß von Opa sitzend, wurde das blutige Ereignis zum spannenden Abenteuer, auch wenn Anna nicht wusste, was Krieg bedeutete und wer der Feind war. Vor der Schutzengel-Kapelle, die neben der Großenbergkapelle stand, betete er laut, dass der Herr sie vor Blitz und Ungewitter bewahren möge und vor allem vor Krieg. Danach gingen sie zurück in den Garten, wo am Malbach auch eine kleine Kapelle stand, von der Anna wusste, dass der Opa sie selbst gebaut hatte und dass darunter ein schmaler Bunker in den Kalkfelsen geschlagen war, der sie im Krieg schützen sollte. Der Bunker war ein beliebtes Versteck, wenn die Kinder „Versteckeles spielten. „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein…ich komme!
Anna konnte da schon mitspielen und kannte die geheimen Verstecke der Geschwister gut. Die aber wussten, dass sie sich vor dem Bunkerversteck fürchtete und verbargen sich umso lieber dort.
Zwischen dem Kind und dem Großvater waren enge Fäden gespannt. Als die Mutter ihren Eltern im Frühsommer 1948 eröffnete, dass sie schwanger sei, schlug die Großmutter die Hände über dem Kopf zusammen: „Jössas na, scho wieder?! Der klenne Bu steckt doch noch in de Windel! Ja muss des sei! Kann sich dei Mo net e weng zammreiß! Jetz, wo’s Geld nix mehr wert is, muss mer doch net drei Kinner hab!"
Der Großvater blickte seine Frau entsetzt an, nahm die Tochter wortlos in den Arm und ging mit ihr ins Gartenhaus, das gegenüber lag. Sie weinte, während er ihr beruhigend über den Rücken strich. „Weißte, sagte er, „ich hab mir immer mehr Kinner gewünscht, aber leider biste ällens gebliebe. Ich freu mich über jedes Enkele, des kömmt. Dei Mo hat ja aach noch vier Geschwisters g‘habt. Mir nemmes, wie’s kömmt! Dei Mutter hat‘s scho früh mit em Herze g‘habt, mehr Kinner hätt‘ se eifach net g‘schafft.
Als dann elf Tage vor Heiligabend Anna das Licht der Welt erblickte, kam sie doch ein bisschen ungelegen, denn die beiden Geschwister hatten schweren Keuchhusten. Das Neugeborene durfte nicht mit nach Hause, damit es sich nicht ansteckt und die Mutter musste und wollte nach Hause, weil doch Weihnachten war und die kranken Kinder gerade jetzt nicht alleine bleiben sollten. Die junge Familie wohnte damals zwei Ortschaften weiter, wo der Vater in der Wohnung in zwei kleinen Zimmern Sprechstunde hielt. So ließ man den Säugling zur Sicherheit im Kinderzimmer der Wöchnerinnenstation in Malstadt und der Opa kam täglich am Nachmittag zu seinem dritten Enkelkind, wiegte es im Arm und sang dabei: „Drauße im Wald hat’s e kleins Schneele g’schneit, drum is so kalt drauße im Wald. Oder, weil Weihnachten vor der Tür stand und es ihm besonders passend erschien: „Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all…
. Die Krankenschwestern wussten schon, wenn der alte Will auftaucht, wird gesungen und im Säuglingszimmer ist dann für eine Weile Ruhe, denn der Gesang des alten Mannes wirkte sich beruhigend aus auf die Kinder in den Bettchen, die Schwestern, die draußen bei Kaffee und Plätzchen eine Pause einlegen konnten, und auch auf ihn selbst. „So e Klennes muss doch e weng genomme wer…!", sagte er halblaut und streichelte der kleinen Anna in seinem Arm die Wange. Man hatte ihr den Namen seiner Frau gegeben, obwohl er das nicht gerecht fand. Aber das behielt er für sich. Da mischte er sich nicht ein. Er blickte in das kleine Gesicht und bestaunte die winzigen Finger, die sich an seinem hingestreckten Zeigefinger festhielten.
Als die Keuchhustengefahr nach einigen Wochen vorüber war und das Kind zu seinen Eltern und Geschwistern nachhause durfte, vermisste er die Nachmittage auf der Wöchnerinnenstation regelrecht. Er fuhr, so oft er konnte, mit dem Rhönbockel, einer kleinen Dampflokomotive mit drei Wagen, in der Holzklasse in den Nachbarort, um dort seine Enkel zu besuchen. Als ehemaliger Beamter der Eisenbahn fuhr er immer noch verbilligt.
Seine Frau, die inzwischen mit einer Angina Pectoris ans Bett gefesselt war, konnte den nach ihr benannten Säugling nur ein paarmal auf dem Arm halten. Nicht einmal bei der Taufe, die in der Krankenhauskapelle stattfand, konnte sie dabei sein. Sie habe es nicht vermisst, so glaubten ihr Mann und ihre Tochter zu spüren. Und wenn nicht der traditionelle Name Anna in der Familie hätte weitergegeben werden sollen, hätte es zwischen der Kleinen und ihrer Großmutter keine Verbindung gegeben. Am Ende des Winters starb sie und so wuchs Anna ohne Großmutter und ohne Patin auf, denn die Mutter ihres Vaters, die zufälligerweise auch Anna hieß, war auch schon weit vor dem Krieg verstorben. Umso mehr kümmerte sich der der Großvater um die Kinder.
ganze Haus war, Teil im Erdgeschoss, wo die Volksbank der Rhön Geschäftsräume hatte bis auf die letzte Dachkammer von Flüchtlingen bewohnt. Die am Ortsrand rasch gebauten einfachen Mehrfamilienhäuser reichten nicht aus, die Flut derer zu beherbergen, die da keine sechs Kilometer von der thüringischen Grenze, der Zonengrenze, entfernt, gestrandet waren. So mussten viele auch in den bestehenden Häusern der Innenstadt untergebracht werden und auf engstem Raum und ohne Luxus zusammenleben. So auch im Haus am Jakobsplatz, in vier Stockwerken im Vorderhaus und zwei im Hinterhaus teilte man sich die Toiletten mit den anderen Bewohnern, in den oberen Stockwerken waren das manchmal mehr als zehn Personen. Nur zwei Wohnungen hatten ein eigenes Badezimmer. Für die anderen gab es ein Bad hinter der Waschküche, die im Hof lag. Waschkessel und Badeofen musste man mit Holz anschüren. Trotz der beengten und einfachsten Wohnverhältnisse war das Haus wie eine Burg zu den anderen Bewohnern der Kleinstadt hin. Sein Erbauer, der alte Oskar Will, Annas Großvater, der „hinten wohnte, stammte aus dem Ort und dessen Vater auch. Sie waren keine Bauern mehr, hatten Geschäft und das genügte, dass die andern ein bisschen auf Abstand blieben. Und dass sein Schwiegersohn, der jetzt seine Arztpraxis dort eröffnete, auch nicht „hiesig
war, wie die Malstädter sagten, das verband alle Hausbewohner miteinander. Man begegnete sich mit Hilfsbereitschaft und Respekt, denn alle mussten einen Neuanfang suchen. Die alteingesessenen Bewohner von Malstadt ebenso wie die Flüchtlinge. verbunden durch die Heimatlosigkeit und die Erinnerung an das, was sie verloren hatten, und versuchten in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Die Voraussetzung, schnell heimisch zu werden, war nicht gut. Zwar sprachen alle deutsch, aber sie redeten in verschiedenen Dialekten und, , die meisten waren protestantisch und dies in der überwiegend katholischen Rhön.
Von den vielen Menschen fasste Anna zu Oma und Opa Grau als erstes Vertrauen. Die beiden wohnten im Hinterhaus in drei Räumen, die früher Stallungen waren. Man kam gleich vom Hof aus über ein paar Stufen in die Küche, in der Oma Grau oft Köstlichkeiten auf der Herdplatte briet. Sie waren aus Kartoffeln und Quark hergestellt und dazu gab es Zwetschgenkompott. Obwohl es ganz anders schmeckte als das, was Paula hinten bei ihrem Opa kochte, liebte es Anna, der Oma Grau dabei zuzusehen, wie Kartoffeln und Quark zum Teig verknetet wurden und manchmal durfte sie auch mithelfen und meinte spitzbübisch: „Gell, jetzt mantschen wir wieder und machen Matsch. Und wenn Oma Grau die im Hof spielende Anna rief: „Heut gibt’s wieder Matsch, willst du mitessen
, dann war das Kind nicht zu halten. Nichts schmeckte besser als die auf der Herdplatte gebratenen Kartoffelküchle.
Oma Grau hatte schlohweiße Haare, über die sie ein hauchfeines Netz trug, auch nachts, damit die Wasserwelle möglichst lang hält, wie sie dem Kind erklärte. Ihre Schwiegertochter, die Zenzi, hatte in der Bauerngasse einen kleinen Friseursalon aufgemacht und frisierte sie immer wieder.
Am Nachmittag, wenn Licht in den Hinterhof kam, saß Oma Grau auf einem Stuhl vor der Tür, hatte eine Kissenrolle auf einem Holzgestell vor sich stehen und klöppelte. Das hatte man in Malstadt noch nicht gesehen. Es wurde genäht, gestrickt, gestickt und gehäkelt, aber Klöppeln, das kannte man nicht. In beiden Händen hielt die alte Frau mehrere Garnfäden, an deren einem Ende Holzhülsen befestigt waren, das andere war mit Stecknadeln im Kissen fixiert. Die Hülsen drehte sie nach einem geheimnisvollen Takt mit- und gegen einander, sodass ganz filigrane Spitzen entstanden. Dabei erzählte sie Geschichten und Sagen aus ihrer Heimat. Und von der Flucht erzählte sie immer wieder. Anna saß auf ihrem Schemelchen oft dabei, schaute gebannt auf die immer noch flinken Finger, die die Holzhülsen von einer Hand in die anderen gleiten ließen, hörte den hellen Ton, wenn die Hülsen aufeinandertrafen. Sie stellte sich vor, wie Oma und Opa Grau vor Rübezahl abgehauen sind, denn Opa Grau hatte ihr erklärt, dass Flucht abhauen heißt. Abhauen, weil der Feind kommt. Das Wort Feind kannte sie von ihrem Opa und von ihrem Vater, war sich aber nicht sicher, ob alle vom selben sprachen.
Opa Grau übernahm ungefragt Hausmeisterdienste im Haus. Er kehrte den Hof, schippte im Winter Schnee vor dem Haus und hatte eine Methode entwickelt, wie er die schweren Mülltonnen, runde gusseiserne Tröge, durch den Gang auf den Jakobsplatz rollte. „Zu irgendetwas muss unsereiner ja noch nütze sein", meinte er.
Der hagere Mann trug meist einen Hut über dem schütteren Haar und man hatte den Eindruck, dass die großen, etwas abstehenden Ohren den Hut davor bewahrten, über die Augen zu rutschen. Diese Ohren hatten es Anna angetan. Der äußere Teil der Ohrmuschel war dünn und durchsichtig und von feinen Äderchen durchzogen. Manchmal stellte sich Anna hinter ihn und sah das Licht durch die rötliche Haut scheinen und sagte: „Opa Grau, ich seh‘ durch deine Ohren die Sonne! Der lachte: „Siehste, da haste Kintopp ganz umsonst!
Auch wenn die kleine Anna die schwere Metalltüre zum Hinterhof nur mit Mühe öffnen konnte, schlüpfte sie gern in den Hinterhof, wenn die alten Hausbewohner dort im Sommer auf der Bank saßen und miteinander redeten. Als sie eines Tages hörte, dass sie von „Adolf sprachen, wollte sie wissen: „Wohnt der auch hier?
„Dummerle, der ist schon ein paar Jahre tot, meinte dann Oma Grau und ihr Mann ergänzte: „Dem haben wir das alles hier zu verdanken!
Er nickte dabei mit dem Kopf und hob seine großen Arbeiterhände Richtung Himmel, so dass Anna daraus schloss, dass der Adolf wohl ein guter Mensch gewesen sein müsse, denn genauso machte es ihr Opa auch, wenn er Gottseidank sagte, weil etwas gut ausgegangen war.
Oma Grau war von allen Frauen im Haus Annas Herz am nächsten. Sie konnte immer bei ihr anklopfen und war willkommen. Sie und ihr Mann freuten sich, wenn das lebendige Mädchen bei ihnen saß, beim Klöppeln zuschaute und immer wieder neugierig fragte, wie es denn bei ihnen zu Hause gewesen sei und ihnen so Stichworte lieferte, davon zu erzählen. Bei uns zu Hause, so begann vieles, was sich die Bewohner des Hinterhauses an Sommernachmittagen im Hof erzählten. Anna kannte das Gefühl, für das sie noch kein Wort hatte, das aber irgendwie mit „hinten" zu tun hatte, mit dem Großvater und allem, was es dort gab, wenn man am Morgen die Augen aufschlug, und was jetzt vorne anders war.
Eine der alten Frauen in Annas Umfeld war Emma Rossmann. Sie wohnte mit ihrem Mann Rudolf im Hinterhaus im ersten Stock in zwei Räumen, die ineinander gingen. Plumpsklo und den einzigen Wasseranschluss teilten sie sich mit Familie Böhm, die zu viert in drei kleinen Räumen gegenüber wohnten.
„Ich bin die Emma", sagte Frau Rossmann zu Anna, die noch etwas scheu an der Tür stand und in den ersten Raum schaute, in dem ein Doppelbett und ein großer Schrank standen. Über dem Bett hing ein Bild, das zeigte einen übergroßen Engel, der einen kleinen Jungen über eine schmale Brücke ohne Geländer führte, darunter toste ein wilder Gebirgsbach.
„Nu Mädel, kumm rein". Anna folgte der kleinen Frau, die meist ein weißes Kopftuch trug, das sie unter dem Kinn zusammengebunden hatte. Sie schlängelten sich an großen Kisten vorbei, in denen viele Metallteile lagen und Kupferdraht, auch ganz feine bunte Kunststoffröhrchen. In der Küche dahinter saß Herr Rossmann am Tisch, steckte eine bestimmte Anzahl von Metallteilen ineinander, legte sie in eine Presse, die er mit einem