Blutsschwestern
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Übel zugerichtet muss Ljiljana untertauchen. Ihre erfolgreiche Schwester Sanja überredet sie, in die alte Heimat Serbien zu verschwinden. Doch statt Zuflucht und Hilfe zu finden, geraten die beiden in eine Fehde zwischen einer Mafia-Patin und ihren Widersachern. Die höllische Gewalt droht die Schwestern in tiefste moralische Abgründe zu reißen – nur die Verbindung zueinander kann sie noch retten.
Der kraftvolle Debütroman von Ana Wetherall-Grujić zerschmettert das Klischee der unterwürfigen, friedvollen Frau. Schnörkellos und mit bitterbösem Humor erzählt sie von Schwesternschaft, Heimat und kaltblütiger Rache.
",Ich kann nicht zurück', sagte sie leise. Sie konnte nicht lauter sprechen, jedes Wort schien neue Wunden in ihrer Kehle aufzureißen. Ein noch tieferer Schmerz überlagerte den körperlichen: Angst. Sie fürchtete sich vor der Polizei, vor ihrer Zukunft. Wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich aber auch vor sich selbst: Wie hatte sie das Messer nehmen können?"
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Buchvorschau
Blutsschwestern - Ana Wetherall-Grujić
1
»Wasch das Blut ab!«, sagte Sanja, ohne den Blick von dem zweistöckigen Haus abzuwenden, das aus einem Architektur-Bildband der 1980er gefallen zu sein schien. Sie reichte ihrer Schwester eine Wasserflasche. »Und zieh dich um!«
»Ich habe nichts mit«, sagte Ljiljana. Sie nahm die Flasche in die gesunde, linke Hand. Im Krankenhaus hatte sie sich nur die Jeans angezogen und ihre Jacke übergeworfen. Sie hatte kein Oberteil, das sie statt des fleckigen Krankenhaushemdes hätte anziehen können.
Sanja antwortete nicht. Sie starrte immer noch auf das Haus. Eine Zornesfalte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Ljiljana wollte noch etwas sagen, aber als sie ansetzte, verschränkte Sanja die Arme vor der Brust. Ljiljana klemmte die Flasche zwischen den geschienten Arm und ihre Taille und versuchte mit der anderen Hand den Schraubverschluss aufzudrehen.
»Gib her!«, sagte Sanja, öffnete die Flasche und reichte sie ihrer Schwester.
Ljiljana hatte sich noch in der Nacht auf einer verlassenen Toilette irgendwo in Ungarn gewaschen, während Sanja draußen ihre Handys mit einem Stein zerstört hatte. In der flirrenden Hitze Serbiens hatten sich Reste von getrocknetem Blut mit Schweiß vermischt und Ljiljana wieder eingesaut. Während sie sich mit dem bisschen Wasser wusch, stieg Sanja ins Auto. Auf dem Beifahrersitz lag die Jacke ihrer Schwester. Billiges Lederimitat, das eng geschnitten war. Sie würde weder die Flecken noch das Hemd verdecken. Sanja griff auf den Rücksitz und bekam den steifen Stoff ihres Trenchcoats zu fassen. Sie hatte ihn trotz der Eile bei ihrer Flucht nicht einfach auf den Rücksitz geworfen, sondern zuerst das Innenfutter nach außen gedreht, damit er nicht dreckig würde.
»Hier, versuch den«, sagte sie beim Aussteigen. Ihre Schwester wirkte verloren in dem Mantel. Er reichte ihr fast bis an die Schienbeine. Aber er verdeckte immerhin das Hemd. »Sieht okay aus«, log Sanja. Ihr Blick wanderte vom Mantel zu Ljiljanas Gesicht.
Gleich würde Sanja einen Witz über ihr Gesicht machen. Sie würde irgendetwas Sarkastisches sagen, irgendetwas Geistreiches. So ging Sanja, so war ihr Vater mit Problemen umgegangen: darüber scherzen und sie bloß nicht an sich heranlassen. Das Witzchen würde sie ein bisschen verletzen, aber Ljiljana freute sich fast darauf, weil sie wusste, dass ihre Schwester danach wieder ein bisschen mehr sie selbst wäre. Sie wäre nicht mehr der verbissene Zombie, der die ganze Nacht über neben ihr am Steuer gesessen und stur auf die Straße gestarrt hatte, ohne ein Wort zu sagen. Der selbst dann nicht mit ihr gesprochen hatte, als er im Morgengrauen in einem verlassenen Waldstück geparkt und den Sitz zurückgeklappt hatte. Erst als Sanja sich weggedreht hatte, war Ljiljana aufgegangen, dass sie schlafen wollte, bevor sie weiterfahren würden.
»Lass uns reingehen«, sagte Sanja und deutete in Richtung Haus. Ljiljana nickte und folgte ihr. Sie hatten vor der Einfahrt am Straßenrand geparkt. Aber sie hätten auch mitten auf der Fahrbahn stehen bleiben können: Ihnen war seit mindestens einer Stunde kein Auto mehr begegnet. Die wenigen anderen Häuser in der Umgebung waren verlassen und verfallen. Das Gras reichte schon fast bis zu den Fenstern.
Das Gebäude vor ihnen war von einem rostigen Zaun umgeben, der irgendwann rot gewesen sein musste. Sanja konnte nicht erkennen, wie weit er hinter das Haus reichte, weil das weitläufige Grundstück über einen Abhang nach unten an den Waldrand und aus ihrem Blickfeld führte. Keine Klingel. Nichts rührte sich. Nichts war zu hören. Kein Fernseher, kein Geschirrklappern, keine Tiere.
Sanja öffnete das Tor und sie betraten einen gepflegten Garten. Auf dem Weg waren sie an vielen Häusern und Vorgärten vorbeigekommen, die man in Wien wohl eher Hütten oder Schrottplätze genannt hätte. Hier gab es kein Gerümpel, keinen ausgetretenen Schlamm und auch keine zerfledderten Hühner. Der tiefgrüne Rasen war penibel geschnitten, vor der Haustür hatte jemand zwei Blumenbeete so angelegt, dass sie das gleiche Muster aus bunten Blumen zeichneten. Links von ihnen stand eine Laube, überwachsen von Weinreben. Rechts eine Scheune aus hellem, lackiertem Holz.
Hier gab sich jemand Mühe, stellte Sanja fest, als sie über kunstvoll angeordnete Steinplatten den Vorgarten querten. Und hatte Geld. Dieser Rasen musste ständig bewässert werden, damit er so grün blieb.
Sie hielten vor der Eingangstür. Sanja ging im Kopf noch einmal durch, was sie sagen wollte. Sie klopfte. Nichts.
»Hallo?«, sagte sie laut und freute sich, dass zumindest dieses Wort auf Serbisch gleich war wie im Deutschen. Ihre Stimme krächzte über dem A. Ljiljana dachte an früher, als ihre Schwester sich heiser geschrien hatte. Heute wirkte sie beherrscht. Ljiljana fragte sich, ob Sanja in ihrem Leben mit jemandem so laut stritt, wie sie es mit ihrer Mutter getan hatte.
»Hier drüben, Mädchen!« Die Stimme kam von hinter dem Haus. Sanja und Ljiljana gingen über das Gras um das Haus herum. An der Ecke zog Sanja ihre Schwester an ihrem gesunden Arm und schritt voraus. Das Grundstück fiel hier tatsächlich steil ab. Vor dem Abhang wurde aus einem Viereck im grünen Rasen ein brauner, umgegrabener Acker. Dort stand eine alte Frau. Sie sah aus wie eine Kartoffel mit Zahnstochergliedmaßen. Ausgerissene Pflanzen lagen zu ihren Füßen, die in klobigen Gummistiefeln steckten. Sie trug eine zerschlissene Hose und ein Oberteil, das so ausgeblichen war, dass Sanja nur raten konnte, welche Farbe es einmal gehabt hatte. Sie hatte die erdigen Hände in die Seiten gestemmt und blinzelte unter dem grell gemusterten Kopftuch zu den Schwestern rüber.
»Wir suchen die Hexe«, sagte Sanja ohne eine Begrüßung. Innerlich verfluchte sie ihr eingerostetes Serbisch. Sie hatte seit Jahren ihre Muttersprache nicht mehr gesprochen. Es fühlte sich an, als müsste sie für jedes Wort ganz tief in sich graben.
»Ah, meine Liebe, hier gibt es keine Hexen«, antwortete die alte Frau. Ihre Stimme hatte den Klang eines Kupferkessels, der mit Stahlwolle gereinigt wurde.
»Der Mann an der Tankstelle meinte, die Hexe wohne am Ende des Dorfes«, sagte Sanja. Sie lächelte ein falsches Lächeln und hoffte, dass sie höflich wirkte. »Und das hier ist das Ende des Dorfes.«
Die Alte lächelte ebenfalls. Besser gesagt: Sie bleckte die Zähne. Sie beugte sich wieder zu ihren Pflanzen und sagte, Wurzeln ausreißend: »Ihr seid hier falsch.«
Ljiljana sah Sanja an. »Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte sie. »Wir können Sie auch bezahlen.« Doch die Frau reagierte nicht. »Lass uns gehen«, flüsterte Ljiljana ihrer Schwester auf Deutsch zu. Die Alte wollte sie nicht hier haben. Ljiljana wollte lieber noch einmal zur Tankstelle fahren und selbst mit dem Mann sprechen. Sanja hatte ihn vielleicht falsch verstanden. Sie drehte sich um und ging wieder zurück in den Vorgarten.
Sanja blickte ihrer Schwester nach. Ljiljana hatte den geschienten Arm an die Brust gepresst. Fuck, sie sollte sie zu einem Arzt bringen. Sie wollte der alten Frau klarmachen, dass das hier kein Witz war. Aber ihr fehlten die Worte. Sie spuckte auf den Boden und eilte ihrer Schwester nach.
»Die Hexe wohnt fünf Kilometer von hier, wenn ihr der Straße weiter folgt«, hörte sie die alte Frau hinter sich, »aber so wie das Mädchen aussieht, braucht sie einen Arzt.«
Sanja drehte sich um und wollte gerade antworten, dass es diese dämliche Fotze einen Scheißdreck anging, was sie brauchten, da rief Ljiljana: »Vielen Dank!«, und sah aus dem Augenwinkel, wie ihre Schwester sie wütend anfunkelte. Scheiß drauf, sagte sich Ljiljana. Sanja würde jetzt nicht explodieren. Ljiljana wollte die Alte zum Abschied versöhnlich und extra breit anlächeln. Sie dachte zu spät daran, dass das nicht ging. Sie spürte, wie ihre Lippe aufriss und ihr warmes Blut über das Kinn tropfte. Sie wandte sich um, wollte am liebsten zum Auto rennen, hatte aber Mühe, sich überhaupt fortzubewegen. Ihr Arm schmerzte. Sie konnte sich nicht aus dem Mantel befreien. Sie zerrte daran und versuchte gleichzeitig das Blut von ihrem Kinn aufzufangen.
»Argh!«, rief Ljiljana. Sanja kam hinter ihr her. »Hey, warte, ich helfe dir«, sagte sie.
Ljiljana bewegte sich wie ein riesiger Vogel mit einem gebrochenen Flügel. Sie warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu, doch die Wut verging, als sie Sanja ansah. Zum ersten Mal seit gestern Abend lächelte sie. Ein richtiges Lächeln, nicht das falsche, das sie der Kartoffelfrau gezeigt hatte.
»Geh scheißen, Sunny!«, nuschelte Ljiljana hinter ihrer Hand, die das Blut stoppte, und ärgerte sich, dass es sie freute, dass ihre Schwester lächelte.
Sanja lachte jetzt und wickelte den Arm ihrer Schwester aus dem Mantelknoten, den sie selbst gebildet hatte. Sie ging zum Auto, legte den Mantel wieder auf den Rücksitz, dann nahm sie einen Zipfel des Krankenhaushemds, um ihn an die blutende Lippe ihrer Schwester zu drücken.
»Versuch das nächste Mal nicht zu lachen, wenn du einen Burberry-Mantel trägst«, sagte sie und zwinkerte ihr zu.
Ljiljana nahm den Zipfel von der Lippe und beugte sich zum Seitenspiegel des Wagens. Seit gestern Nacht ließ sie jeder Blick in den Spiegel erschrecken. Nicht nur, dass sie vom Mund abwärts mit ihrem eigenen Blut verschmiert war. Die linke Gesichtshälfte war rohes, glänzendes Fleisch. Das linke Auge zugeschwollen, die Lippe gerade wieder aufgerissen. Sie bekam schwer Luft durch die geschwollene Nase, die nicht mehr blutete, aber ihr einen spitzen Schmerz direkt ins Gehirn zu senden schien, wenn sie sie auch nur berührte. An den besten Stellen war die Haut ihres Gesichts dunkelrot und glänzend. An den schlimmsten schimmerte sie schwarz.
»Warum wische ich das Blut eigentlich weg?«, fragte sie eher sich selbst als Sanja. Hier gab es keinen Schönheitspreis zu gewinnen. Dennoch tupfte sie sich das Blut vom Gesicht.
»Weil du ein hübsches Mädchen bist«, sagte Sanja. »Du siehst nur gerade nicht so aus«, wollte sie hinzufügen. Sie sah, wie ihre Schwester sich im Seitenspiegel betrachtete, und fragte sich, ob sie selbst auch so traurig war, wenn sie ihr Gesicht betrachtete.
Das Schreckliche war nicht die zerfetzte Seite. Es war der Kontrast zur anderen Hälfte ihres herzförmigen Gesichts: Das große, grüne Auge, die hohen Wangenknochen und die verspielten Grübchen um ihre von Natur aus kirschroten Lippen. Ljiljana sah aus wie eine Puppe, die in ein Säurefass getaucht worden war. Sanja wollte ihre Schwester nicht fragen, was sie über ihr Gesicht dachte. Also stieg sie ins Auto.
Sanja sah konzentriert auf die Straße, während sie das Auto zwischen riesigen Schlaglöchern und zerbeulten Straßenbegrenzungen hindurchsteuerte. Um sie herum wurden aus vertrockneten Gräsern karge Büsche und dann ein Wald. Je dichter die Bäume und das Buschwerk, desto schmaler und verwilderter der Weg vor ihnen. Äste schleiften über das Autodach. Das Geräusch hatte Ljiljana kurz aus ihren Gedanken gerissen. Frühe Kindheitserinnerungen waren in ihr hochgekommen. Sie dachte an Urlaube, als sie in einem kleineren, billigeren Auto mit Sanja hinten gesessen hatte. Ihre Eltern hatten vorne alte serbische Radiosender gesucht, die sie mit der Zeit vor dem Krieg verbanden. Sanja hatte immer Kopfhörer im Ohr gehabt, weil sie mit serbischer Musik nichts anfangen konnte. Ljiljana hatte aus dem Fenster geschaut und sich vorgestellt, in den verlassenen Häusern am Wegesrand zu wohnen.
»Gott verfickte …«, rief Sanja aus. Ihre Stimme brach nicht, obwohl sie laut war. Bald wäre sie wieder ganz die Alte, dachte Ljiljana zuerst. Und dann, dass die Welt unterging, wenn ihre Schwester auf Serbisch fluchte.
Sanja stoppte abrupt, zog die Handbremse an und stieß gleichzeitig die Autotür auf. Sie verfing sich in Dornenbüschen, die den Boden bedeckten. Hinter ihr war der Wald, der so dicht emporragte wie eine grüne Wand, vor ihr eine Anhöhe. Zuerst ein Grasstück voller Wildblumen und hinter einem verrosteten Zaun ein Rasen, der viel zu grün und gepflegt für Serbien war.
Und da stand die Alte. Sie schaute zu ihnen herab. Grinste. »Ihr habt ja ganz schön lange gebraucht«, sagte sie und lachte ihr Kupferkessellachen.
2
Jugoslawien, 1989
Milena hasste den Jungen von dem Moment an, als er ihr die Tür aufmachte. Er sah dumm aus. Sein Mund stand offen, sein Gesicht war verschmiert und Milena war sich sicher, dass die Hand, mit der er die Türklinke hielt, klebrig war. Obwohl er Milena gerade mal bis übers Knie ging, erschien er plötzlich riesengroß.
»Warum bist du hier?«, fragte er sie. Er sprach die Worte nicht klar aus und sabberte beim Reden. Als hätte er etwas im Mund und die Wörter müssten sich erst daran vorbeidrängen.
Milena überlegte, einfach ins Haus hineinzugehen. Sie hatte Angst, dass sie hier jemand stehen sah. Irgendetwas raschelte rechts von der Tür im Garten. Was, wenn jemand hier arbeitete? Was sollte sie sagen, warum sie vor Nikolina Jovanovićs Haus stand? Sicher nicht, um sich eine Schale Zucker auszuleihen.
»Ich muss mit deiner Mama reden. Ist sie da?«, antwortete Milena. Der Junge schaute sie noch einen unendlichen Moment lang skeptisch an, drehte sich dann ohne ein Wort zu sagen um und ließ Milena ins Haus.
Er kniete jetzt vor der Couch, auf der Milena in der Wohnküche Platz genommen hatte. Sie fragte sich bereits zum zweiten Mal, ob etwas mit ihm nicht stimmte. Er starrte sie an. Seine dunklen Augen waren leer, seine Hände tatsächlich verschmiert. Milena zwang sich zu einem Lächeln, das hoffentlich höflich war, und suchte etwas, woran sie ihren Blick heften konnte, um sich zu beruhigen. Sie dachte über den ersten Satz nach. Wie würde sie anfangen? Was würde die Alte haben wollen? Sie griff nach dem Packen Geld. Würde es reichen?
»Bleib konzentriert«, befahl sie sich. Sie sah aus dem riesigen Fenster. Der Wald kam ihr dunkel und unheimlich und unendlich weit vor. Er zog sich bis zum Horizont. Sie hatte oft im Wald gespielt, als sie klein war. Sie erinnerte sich an die frische Luft, sogar im Sommer, wenn alles vor Hitze flirrte. Daran versuchte sie zu