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Regenbogenweiß: Roman
Regenbogenweiß: Roman
Regenbogenweiß: Roman
eBook363 Seiten5 Stunden

Regenbogenweiß: Roman

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Über dieses E-Book

"Regenbogenweiß" ist ein Buch über Gleichheit und Glück, über die Notwendigkeit von Trauer,
die fundamentale Bedeutung von Zeit und über Europa im Hier und Jetzt.
Am Beginn des Romans steht ein Ende: Hermann stirbt plötzlich und unerwartet. Er hinterlässt seine Frau und zwei erwachsene Kinder. Alle drei trauern – auf je eigene Weise. Die soeben pensionierte Lehrerin Marlene beginnt, Flüchtlingen zu helfen; Sohn Bob, Kosmologe und Zeitforscher, zieht sich ans äußerste Südende Europas in die Natur zurück; und Tochter Filippa, Philosophin in Paris, möchte mehr denn je endlich Mutter werden. Für alle stellt sich die Frage nach einem glücklichen Leben noch einmal neu und dringlicher – während große gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen im Gange sind, die sie skeptisch mitverfolgen.
»So viele Entscheidungen, die damals noch ungetroffen waren, die getroffen werden mussten, damit es sie hier heute gab. Und jede hätte anders ausfallen können und dann wäre sie heute nicht. Aber wie traf man Entscheidungen, dachte Filippa. Wie traf man sie richtig.«
SpracheDeutsch
HerausgeberDroschl, M
Erscheinungsdatum14. Feb. 2022
ISBN9783990591123
Regenbogenweiß: Roman
Autor

Friederike Gösweiner

Friederike Gösweiner wurde 1980 in Rum geboren. Sie studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Innsbruck und arbeitet seither als Autorin, Lektorin und Rezensentin. 2016 erschien ihr erster Roman "Traurige Freiheit", für den sie den Österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt erhielt.

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    Buchvorschau

    Regenbogenweiß - Friederike Gösweiner

    Goesweiner-Regenbogenweiss.jpg

    Friederike Gösweiner

    Regenbogenweiß

    Roman

    Literaturverlag Droschl

    Für die Familie, aus der ich komme

    La philosophie véritable n’est pas un exercice abstrait. Depuis toujours, dès Platon, elle se dresse contre l’injustice du monde. Elle se dresse contre l’état misérable du monde et de la vie humaine. Mais elle fait tout cela dans un mouvement qui toujours protège les droits de l’argumentation et qui, finalement, propose une nouvelle logique dans le même mouvement par lequel elle dégage le réel du bonheur de son semblant.

    Alain Badiou, Métaphysique du bonheur réel

    Embracing time means believing that reality consists only of what’s real in each moment of time. This is a radical idea, for it denies any kind of timeless existence or truth – wether in the realm of science, morality, mathematics, or government. All those must be reconceptualized, to frame their truth within time.

    Lee Smolin, Time Reborn

    2014

    Dienstag, 18. November 2014

    Marlene stand am Küchenfenster, trocknete sich die Hände. Sie blickte hinaus, um zu sehen, ob ihr Mann schon losgefahren war. Sie sah das Auto noch in der Einfahrt stehen, die Heckklappe geöffnet, sah ihren Mann eine Bierkiste in den Kofferraum des Wagens heben. Gut, dachte sie, dann kann ich ihn an die Milch noch erinnern. Und sie war dabei, das Fenster zu öffnen, als sie ihn zu Boden gehen sah, dann hinter dem Auto liegen sah, auf dem Asphalt. Sie erschrak. So sah kein Sturz aus.

    Sie hastete die Stufen von der Eingangstür hinunter in die Einfahrt zu ihm hin. Sie fühlte nach dem Puls, ergriff zuerst das eine, dann das andere Handgelenk. Sie fühlte keinen. Sie begann zu zittern, sichtbar zitterten die Arme, als sie zurückstürzte ins Haus, zum Telefon im Flur. Sie rief die Rettung, lief dann zurück zu ihrem Mann, beugte sich wieder über ihn, begann damit, sein Herz zu massieren. Und sie fragte sich: Wie macht man das, wie geht das?, während ihre Hände auf den Brustkorb ihres Mannes drückten, kräftig, sie dachte: Ich darf nicht zu schwach drücken, und: Wann, wann endlich kommt die Rettung, es dauert so lange, es dauert viel zu lange, es dauert eine Ewigkeit.

    Sie hielt inne, horchte, ob sie Hermann atmen hörte, seinen Brustkorb sich heben sah. Und als da nichts war, als sie nichts hörte und nichts sah, setzte sie die Herzmassage fort, drückte wieder mit ineinander verschränkten Händen auf den Brustkorb ihres Mannes, dachte: Nicht sterben, nicht sterben, du darfst nicht sterben, bitte, du darfst nicht sterben. Dann das Martinshorn, endlich das Martinshorn, Marlene spürte die Erleichterung, sie hatte durchgehalten, jetzt würde alles gut.

    Als die Sanitäter bei ihr waren, richtete sie sich auf, trat zwei Schritte zur Seite und beantwortete die Fragen, die man ihr stellte, ließ den Blick dabei nicht von ihrem Mann, über dem jetzt der Arzt kniete. Sie sah ihm zu, sah den Sanitätern, die ihm assistierten, zu, hörte die Stimme des Notarztes, nervös klang das, dachte sie, nicht gut, das klang nicht gut.

    Ein paar Augenblicke später saß sie im Rettungswagen, ohne Mantel, ohne Tasche, ohne Telefon, fiel ihr dann ein. Wieder hörte sie das Martinshorn, anders jetzt, ihr Mann auf einer Bahre, angeschlossen an Geräte, sie neben ihm, und in ihrem Kopf nur zwei Gedanken: Herzinfarkt. Und: Bitte, bitte nicht.

    Im Krankenhaus saß Marlene in einem Sessel in einem Flur und wartete. Noch gab es Hoffnung, es gab die Hoffnung so lange, bis es keine Hoffnung mehr gab – immer wieder dieser Satz in ihrem Kopf: Es gab die Hoffnung. Dann kam der Arzt, sie sah ihn schon von Weitem und ihr fiel sein Name nicht mehr ein, sie kannte ihn doch, er kannte auch Hermann, seit Jahren, und sie stand auf und spürte weiche Knie. Und dann der Satz und noch ein Satz, und mehr hörte sie dann nicht mehr. Der Arzt sprach weiter, Marlene sah, wie sich sein Mund bewegte, aber sie hörte nichts, in ihrem Kopf nur die zwei Sätze von zuvor: Die Wiederbelebungsversuche waren erfolglos geblieben. Es tue ihm so leid.

    Marlene stand in Hausschuhen und alleine vor dem Arzt. Peter hieß er, jetzt wusste sie es wieder. Seine Stimme kam zurück in ihren Kopf. Es tue ihm leid, sie hatten alles versucht. Es sei nicht geglückt. Es tue ihm so leid. Er schüttelte den Kopf.

    Marlene sah ihn weiter an, auch als er wegsah, zu einer Schwester blickte. Dann eine Berührung an ihrem Arm. Und eine Stimme, die zu ihr sagte, sie solle sich setzen, und fragte, wen man anrufen könne, ob sie ihn jetzt sehen wolle, sie könne jetzt zu ihrem Mann. Marlene sagte nichts. Dann noch einmal die Hand der Schwester an Marlenes Arm, die Berührung stärker jetzt, und noch einmal die Frage, ob sie ihren Mann sehen wolle, sie brächte sie zu ihm. Und jetzt nickte Marlene.

    Dann stand sie dort, am Totenbett ihres Mannes, und sah ihn an, sah sein Gesicht, die schmale Nase, den breiten Mund, die zwei Furchen auf der Stirn. Alles ihr so vertraut, so sehr vertraut. Sie stand vor ihm, blickte in sein Antlitz, dachte: Als ob er nur schliefe, dachte: Er schläft nur, er wacht wieder auf; es war unmöglich, dass er nicht aufwachen würde, unmöglich, er schläft doch nur. Und sie streckte ihre Hand nach seiner aus. Daraufhin: jäher Schmerz. Das war nicht seine Hand, die sie da hielt, nicht seine, wie sie sie kannte, wie sie ihr Körper kannte. Und sie begann zu weinen.

    Filippa griff nach ihrem Smartphone, sah die Sprachnachricht ihrer Tante. Sie dachte: ungewöhnlich, nahm zwei Bücher vom Tisch, um sie zum Stapel ungelesener Bücher neben dem Schreibtisch zu legen, sah auf die Uhr, dachte: Sie lag perfekt in der Zeit mit ihrem Aufräumprogramm, und begann, die Nachricht abzuhören.

    Sie stand vor dem Schreibtisch, hörte die Stimme ihrer Tante, hörte, was sie ihr sagte, hielt immer noch die Bücher in der rechten Hand. Sie legte sie auf dem Schreibtisch ab, vor den Computer, langsam. Ihre Hand blieb auf den Büchern liegen. Aus dem Smartphone jetzt eine Stimme, die sagte: »Si vous souhaitez réécouter le message, tapiez 1, si vous souhaitez archiver …« Filippas Daumen drückte eine Taste, die Stimme verstummte und es war wieder still in der Wohnung, nur von draußen entfernt Autolärm, Geräusche eines Vormittags mitten in Paris.

    Ein Stundenplättchen der Tischuhr, bei der Plättchen nach vorne kippten, minütlich und stündlich, fiel geräuschvoll nach vorn. Filippa stand im Zimmer, regungslos. Wieder fiel ein Plättchen, diesmal leiser. Und Filippa stand wie angewurzelt da.

    Dann plötzlich Hektik, ich muss nach Hause, sofort, ich muss zu Hause anrufen, dachte sie. Und während sie Kleidungsstücke aus der Kommode in ihren Koffer warf, hörte sie die Tante, und sie hörte auch die Mutter, sie hörte das Weinen ihrer Mutter. Es war gewiss, ihr Vater war tot. Sie sagte, sie käme mit dem nächsten Flieger, so schnell wie möglich, sie sei schon unterwegs.

    Filippa schloss die Tür hinter sich, eilte die Treppe hinunter. Und in ihrer Wohnung fiel ein Minutenplättchen und Staubpartikel tanzten im Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, unbesehen, für sich.

    Vergebens versuchte Filippa dann Anuk zu erreichen. Sie versuchte es dreimal, sie wusste, er konnte kaum schon wach sein, dort in Amerika, es war zu früh. Also schrieb sie ihm, er solle sie anrufen, sie schrieb Dad has di und sie hielt inne, sie wollte das nicht tippen, und tippte dann weiter, tippte ein e und ein d, und in dem hellen Display stand died und der Cursor blinkte dahinter auf, in kurzem, gleichmäßigem Intervall. Wie ein Herzschlag, dachte Filippa, und spürte Tränen kommen. Sie tippte weiter, tippte heart und in der Vorschlagsleiste erschien ein rotes Herz. Dann tippte sie ein a, ein t und noch ein t, wählte den Wortvorschlag attack, tippte schnell auf Senden und wischte mit der Rechten über ihr Gesicht.

    Wenig später stand sie in der Schlange des Security Check, und sie hörte eine Stimme mit ihr reden, la carte d’embarquement verlangen, hörte sie nach liquides fragen, hörte eine andere Stimme, ein paar Augenblicke später, sie auffordern nach rechts zu treten, die Beine leicht zu spreizen. Und sie tat es und dachte dabei die ganze Zeit: Wann hatte sie den Vater zum letzten Mal gesehen? Wo war das gewesen? Und die letzten Worte? Der letzte Blick?

    Im Flieger dann saß sie am Fenster und sie versank in ihrem Sitz, während die Stewardessen zeigten, wie der Sicherheitsgurt geschlossen und geöffnet wurde, und eine Computerstimme sagte: »In the unlikely event of a sudden loss of cabin pressure, oxygen masks will drop down from the panel above your head …« Und in ihrem Kopf nur der Gedanke: Papa tot. Und dann ein weiterer Gedanke: Arme Mama. Und dann sofort die Frage: Weiß es mein Bruder schon? Ist auch er jetzt unterwegs nach Hause, irgendwo in der Luft über Europa?

    Die Umarmung am Flughafen wortlos und unter Tränen, und das Weinen hörte während der Fahrt nicht auf. Tante Dodo fuhr und weinte, die Mutter saß am Beifahrersitz und weinte, und Filippa weinte, am Rücksitz hinter ihrer Mutter, streckte der Mutter ihre Hand nach vorn, versuchte sie von hinten zu umarmen, und sie spürte, wie fest sich die Hand der Mutter an sie klammerte, wie fest sich ihre Mutter an sie klammerte.

    Später die Bitte der Tante, sie solle es bei Bob nochmals versuchen. Sie sei immer in der Mailbox gelandet und zurückgerufen habe er noch nicht. Die Mutter weinte auf dem Sofa, sie weinte laut, hörte nicht auf zu weinen.

    Filippa ging ins Arbeitszimmer ihrer Mutter am Ende des Flurs, stand dort eine Weile reglos vor dem Fenster, das Smartphone in der Hand, vor ihr der kahle Strauch, in dem zwei Vögel saßen, dahinter alles bräunlich-grau.

    Nach einer Weile dachte sie: Jetzt wird es gehen, ich bin ruhig genug. Dann wählte sie die Nummer ihres Bruders und spürte, wie alles in ihr sich sofort neuerlich zusammenkrampfte, wie wieder Tränen kamen, sie konnte nichts dagegen tun. Es tutete kein einziges Mal, alles, was sie hörte, war: »The number you have dialled is currently unavailable. Please try again later.« Bob hatte keine Sprachmailbox.

    Sie schrieb an ihren Bruder eine Nachricht, schrieb: Ruf mich an, wenn du das liest. Sofort. Egal zu welcher Zeit.

    Mittwoch, 19. November 2014

    Bob erwachte. Er war müde, sein Nacken steif. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren: Das hier war Frankfurt, gestern hatte er die letzte Tour beendet, war von Cape Town hierhergeflogen, heute ging es weiter ins Headquarter, dann nach Hause, endlich nach Hause. Er gähnte, griff nach seinem Smartphone, las die Nachricht seiner Schwester, sah ihre verpassten Anrufe. Was da los sein mochte, fragte er sich, sank zurück ins Kissen und dachte: Zuerst duschen.

    Sein Smartphone vibrierte. Er sah den Namen seiner Schwester, er wunderte sich nicht und wunderte sich doch. Sie klang gereizt.

    »Warum hast du nicht zurückgerufen?«

    »Ist wer gestorben oder was?« So hart hatte er es nicht sagen wollen, es sollte eher scherzhaft klingen, dachte Bob, aber er war einfach sehr müde und kaum wach.

    Filippa schwieg, und Bob setzte sich auf und lenkte den Blick in Richtung Fenster. Alles einförmig grau da draußen, und ein Flieger, der sich in den Himmel schraubte. Tatsächlich, etwas Schlimmes also, dachte Bob. Und er hörte seine Schwester sagen: »Papa«, und nach einer Pause: »Gestern.« Und etwas in ihm ließ ihn darauf sagen: »Willst du mich verarschen?« Das konnte doch nicht sein.

    »Herzinfarkt. Mama war dabei.«

    »Nein.«

    »Gestern.«

    »Nein. Das kann nicht sein.«

    »Gestern Vormittag. Einfach zusammengebrochen, als er die Bierkiste ins Auto gehoben hat.«

    Und als sie das sagte, hatte Filippa wieder das Bild der Einfahrt vor sich. Sie sah den Vater liegen, sah die Mutter über ihn gebückt, alles so, wie es die Mutter ihr geschildert hatte. Und sie wusste, gleich würde sie weinen, wieder weinen.

    Bob sagte, er flöge heute von Cape Town zurück, morgen würde er kommen, morgen sei er da. Sie legten auf.

    Da stand er jetzt in T-Shirt und Boxershorts, vaterlos. Er hatte gelogen und jetzt spürte er sein Gewissen. Es war ihm passiert, war keine Absicht gewesen. Er hätte heute hinfahren können. Etwas in ihm hatte dazu Nein gesagt. Jetzt war es so.

    Wieder ein Flieger, der im Wolkengrau verschwand. Bob spürte, dass er Hunger hatte. Er hatte den Impuls Zoe anzurufen, aber ließ es bleiben. Sie würde bestürzt sein, vielleicht weinen, an seiner Stelle, der er jetzt nicht weinte, dachte er. Er fühlte sich ruhig. Er war wach, plötzlich hellwach, das ja, aber er spürte keine Tränen aufsteigen in sich, er war ruhig. Er traute dieser Ruhe nicht.

    Jetzt hast du keinen Vater mehr, sagte er zu sich, als er dann ins Bad ging und die Dusche heiß aufdrehte. Was heißt das? Er sah ihn vor sich, und sah sich selbst an seiner Hand, als kleiner Junge, durch ein Gebäude gehen. Er sah seinen Vater auf ihn einreden und spürte seine Hand an seiner ziehen, gegen seinen Willen ihn weiterziehen und ihm dabei etwas erklären. Er wusste nicht, woher das Bild jetzt kam, aber es war ihm wohlbekannt. Es war eine der frühen Erinnerungen, sie kam zuweilen, wenn er an ihn dachte, und er schob das Bild rasch fort. Er stellte sich unter die Dusche, hielt Kopf und Nacken unter den Wasserstrahl, spürte die Wärme auf seinem Körper. Und er blieb lange so, reglos unter dem heißen Wasserstrahl.

    Donnerstag, 20. November 2014

    Bob sah seine Schwester schon von Weitem, sah sie neben dem großen weißen Auto stehen, klein, geradezu zerbrechlich sah sie aus. Zerbrochen, dachte er, aber das sagte man so nicht, als er auf sie zuging, ihr blasses Gesicht sah und die roten Augen. Sie umarmten sich wortlos und er spürte, wie ihm flau wurde im Magen.

    Speiübel war ihm, als Filippa den Wagen startete. Und in ihm das Gefühl von Ausgeliefertsein, das er so hasste. Er wollte nicht ins Elternhaus, wusste nicht, wie der Mutter gegenübertreten. Was machte man mit weinenden Frauen. Unter anderen Umständen wäre er heute endlich nach Hause gekommen, dachte Bob, hätte mit Zoe geschlafen, im eigenen Bett geschlafen. Warum konnte es nicht so sein.

    Als Filippa das Auto dann vor dem Elternhaus geparkt hatte, blieben beide stumm im Wagen sitzen.

    »Da wären wir«, sagte Filippa.

    »Da sind wir, ja.« Bob fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

    »Noch fünf Minuten«, sagte er dann.

    Er bat selten um etwas, dachte Filippa. Und ob sie ihm ihre Hand hinüberstrecken sollte, damit er sie nehmen konnte. Wann hatte sie das zum letzten Mal gemacht, die Hand des kleinen Bruders gehalten? Hatte sie das je einmal gemacht, seit sie keine Kinder mehr waren? Und wann zuletzt? Sie sah zu ihm, er sah nach vorn, er war nervös, dachte Filippa, sah dann auch nach vorn, sah zu der Lärche, die das Haus überragte und kahl jetzt auf winterliche Kälte wartete.

    Sie schwiegen. Bob räusperte sich, als wolle er etwas sagen, sagte nichts. Filippa spürte, wie die Kälte von draußen langsam in das Auto kroch.

    »Wie waren die Reisegruppen?«, fragte sie dann.

    »Ganz okay. Eine Lehrergruppe. Anstrengend. Und geizig. Sonst okay. Der Rest: pensionierte Banker«, antwortete Bob. »Uninteressante Leute. Ultrakapitalisten. Erzkonservativ.«

    Filippa nickte wieder und sie schwiegen weiter. Dann sagte sie: »Dass du das immer noch machst, du brauchst doch das Geld nicht mehr …«

    »Das ist wie bezahlter Urlaub, mit Peter als Kollegen«, antwortete Bob, und nach einem kurzen Schweigen fragte er: »Warum hat er bitte dieses Auto gekauft?«

    Filippa zuckte die Achseln.

    »Es beschleunigt nicht einmal wirklich gut.«

    »Man sitzt erhöht, steigt bequem ein.«

    »Und der CO2-Fußabdruck? Und die Ästhetik? Beides zum Kotzen. Einfach zum Kotzen ist das doch.«

    Kurz lächelte Filippa, dann sofort wieder Traurigkeit. »Ich hab ihn zum letzten Mal hier gesehen, im Auto. Er hat mich zum Bahnhof gebracht. Wir haben uns flüchtig umarmt.«

    Jetzt würde Bob ihr sagen, wann er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, dachte sie. Aber es kam nichts, und Filippa spürte, dass sie gleich wieder weinen würde. Also öffnete sie dann doch die Wagentür und nach zwei, drei Augenblicken tat es ihr Bruder ihr gleich und sie gingen langsam die Stufen hinauf ins Elternhaus und Bob dachte: Ich habe ihn auch in dieser Scheißkarre zum letzten Mal gesehen. Aber ich habe die Tür hinter mir zugeknallt und mich auch nicht mehr umgedreht, nachdem er mir auf der ganzen Fahrt zum Flughafen auszureden versucht hat, mich auf die Stelle zu bewerben, und mir wieder einmal gesagt hat, dass ich mein Talent an dieser Universität vergeude und ich offenbar ein noch viel faulerer Sack sei, als er sich jemals hätte vorstellen können, ganz und gar unambitioniert und kurzsichtig oder einfach nur dumm oder heillos verliebt. Und dass ich irgendwann an ihn denken würde, irgendwann, wenn es zu spät wäre, und bereuen würde, nicht auf ihn gehört zu haben. Dass das die letzten Worte gewesen waren, vor Wochen, die der Vater zu ihm gesagt hatte, an die er sich so klar erinnerte, dass es jedes Mal wehtat, wenn er es tat, wie jetzt, als er die Worte wieder hörte, jedes einzelne, bis zum letzten Satz, als das Auto schon am Flughafen geparkt war, der Motor abgestellt: »Ich will dir doch nur helfen, merkst du das nicht?« »Danke fürs Herbringen«, hatte er daraufhin trocken erwidert, um dann die Tür hinter sich zuzuschlagen, wütend und gekränkt, und das zu Recht, dachte er jetzt. Und dann war er davongegangen, ohne sich noch einmal richtig umzusehen, nur das dicke weiße Auto hatte er aus dem Augenwinkel wegfahren gesehen, in dem damals sein Vater gesessen war, am Steuer, am Leben. Sie hatten danach nicht mehr miteinander telefoniert. Wie immer hatten sie geschwiegen, dachte Bob.

    Nachts lagen alle drei wach in ihren Zimmern. Marlene lag auf dem Tagesbett in ihrem Arbeitszimmer. Unmöglich in das Schlafzimmer zu gehen, im Ehebett zu liegen. Sie nahm eine der Schlaftabletten, sie wehrte sich nicht mehr. Sie wollte nur noch schlafen, wollte, dass die wirren Gedanken, die ihren Geist durchzuckten, endlich verschwanden. Es galt an so vieles zu denken – die E-Mail-Adressen seiner Kollegen, auch international, das musste schnell gehen, und: Sie hatten nie darüber gesprochen, ob er verbrannt werden wollte oder in einem Sarg verrotten, das beschäftigte sie so sehr. Sie hatte das einfach entschieden, das Gespräch, an das sie gedacht hatte dabei, war Jahre her, die Erinnerung vage, warum hatten sie nie mehr darüber gesprochen, nichts geklärt, es war nichts geklärt …

    Jetzt war es zu spät, dachte sie, zu spät, und das Weinen wurde stärker, wurde unaushaltbar, und in ihrem Kopf wieder nur der eine Gedanke, der unerträgliche, unmögliche, immer von Neuem mit immer neuer Wucht: Hermann tot, Hermann ist tot. Tot. Fort für immer. Kommt nicht wieder, nie wieder, gleich, was du tust, gleich, wie sehr du weinst, gleich, ob du betest, bittest, flehst, er kommt nicht wieder. Nie wieder. Und das Weinen wurde heftiger – bis die Tablette wirkte und ihr Bewusstsein schwand.

    Einen Stock höher lauschte Filippa in ihrem Zimmer, die Tür einen Spalt geöffnet, in die Stille, ob sie ihre Mutter unten wieder weinen hörte. Sie lag in ihrem Bett und versuchte sich zu strömen, um ruhig zu werden. Sie hielt mit den Fingern der einen Hand nacheinander jeweils einen Finger der anderen, versuchte gleichmäßig zu atmen, sie musste schlafen, sie brauchte Schlaf. Aber immer kam ihr das Bild der Hauseinfahrt in die Quere, sie sah ihren Vater dort liegen, und sie sah die Mutter zu ihm hinstürzen, sie hörte die Rettung. Sie sah alles vor sich, wie es ihr die Mutter geschildert hatte, und sie spürte ihr eigenes Herz dabei, sie spürte es allzu deutlich, sie kam nicht herunter von dieser Erregtheit, die sie nicht einschlafen ließ. Und sie dachte: Was wird jetzt werden? Nichts hat mehr Gültigkeit, was bisher gewesen war. Alles wird jetzt anders sein, für immer anders sein. Und sie weinte um ihren Vater. Warum war er tot. Warum.

    Bob starrte an die mit Formeln vollgekritzelte Wand, und auf die Plakate, die dort immer noch hingen. Blass beschienen vom Mondlicht sahen ihm dort Paul Dirac und Ayrton Senna dabei zu, wie er nicht schlafen konnte. Auch zwei Tote, dachte er, und er wünschte sich zu weinen, er spürte, dass er weinen wollte und dass ihn das quälte, dass etwas nicht hinaus konnte aus ihm, das hinaus musste, das er loswerden wollte, sofort und auf der Stelle. Er hätte allen Grund zu weinen, er sollte weinen, alle weinten, den ganzen Tag weinten sie und er stand daneben und ihm war schlecht und er weinte nicht.

    Freitag, 21. November 2014

    Am Frühstückstisch die Frage, welche Kleidung sie zum Bestatter mitnehmen sollten. Welches Hemd. Pullover oder Sakko. Keinen Anzug, er hatte nur einen getragen, wenn es sein musste. Und es musste selten sein. Wie viele Entscheidungen noch, fragte sich Marlene, die zu treffen waren, von ihr, die auf sie warteten, die ihr unmöglich waren, und sie wollte wieder zurück in ihr Zimmer laufen und die Tür hinter sich zuschlagen, sich im Bett verkriechen, noch eine Tablette nehmen, schlafen, immer schlafen.

    Das Telefon klingelte schon wieder. Es stand im Flur. Sie telefonierte im Stehen, dort am Ende des Flurs. Wieder war es ein Bekannter, der es in der Zeitung gelesen hatte. Die Todesanzeige war veröffentlicht. Viele würden zum Begräbnis kommen, dachte sie, als sie sich wieder an den Küchentisch setzte, ihr Mann war bekannt. Sie nahm einen Schluck Tee. Etwas an den Anrufen tat ihr gut, zu reden tat ihr gut. Sie atmete tief durch. Der Einzige, der nicht redete, war ihr Sohn.

    Er lehnte gegen die Arbeitsplatte und trank seinen Kaffee, schweigend, der Platz ihr gegenüber war leer und er würde leer bleiben, dachte Marlene, er würde jetzt leer bleiben.

    Bob blickte auf die aufgeschlagene Zeitung links von ihm, in der die Todesanzeige abgedruckt war, und Marlene fragte sich, was er fühlte, jetzt gerade, er zeigte keine Regung wie so oft, und sie sagte in seine Richtung: »Aber den Pullover ziehst du nicht an zum Begräbnis.« Ihr Sohn blickte sie an.

    »Wieso nicht?«, fragte er und es klang ehrlich verwundert für Marlene.

    »Er hat ein Loch.«

    »Wirklich?«

    »Am Ärmel.«

    Bob überprüfte es und fragte: »Schlimm?«

    »Vielleicht hast du ja auch ein Hemd. Und ein Sakko.«

    Bob schwieg. Er hatte natürlich nichts dergleichen hier, wie auch, er kam nicht von Zuhause, er kam von drei Wochen Reisegruppen auf Fahrrädern durch ein fremdes warmes Land führen. Und Marlene dachte, ihm war elend, niemals sonst hätte er so kleinlaut reagiert auf ihre Stichelei, und dass es ihr selber gelungen war, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten, auf den Moment, auf ein Detail darin. »Das blaue Hemd mit den weißen Streifen, das japanische?«, fragte Marlene dann zu ihrer Tochter gewandt und schon war die Kontrolle wieder fort, sie musste weinen, stemmte sich dagegen. Es blieb bei einem Wimmern.

    Filippa nickte. Sie musste das graublaue meinen mit den sehr feinen gebrochen weißen Streifen, das er ständig getragen hatte, jahrelang. »Aber es ist geflickt, oder?«

    »An den Ärmeln. Und hinten am Kragen. Sieht man nicht. Im Sarg.« Marlene holte ihr Stofftaschentuch aus dem linken Ärmel hervor und schnäuzte sich.

    Bob hörte zu und ihm war elend. Er spürte Wut, er fühlte sich hilflos, er wollte gehen, den Raum verlassen, wenigstens die Zeitung zuschlagen, aus der ihm das Gesicht seines Vaters entgegenblickte. Aber er wagte es nicht. Und er konnte auch nicht wegsehen. Er hatte die Zeitung nicht aufgeschlagen, sie war schon offen dagelegen, und dann hatte er hingeblickt und den Namen gelesen, das Foto gesehen, den abgedroschenen Spruch von Einstein gelesen: Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer, wenn auch hartnäckigen, Illusion. Was für ein Blödsinn, dachte Bob. Dann las er wieder seinen eigenen Vornamen, neben dem der Schwester, hinter dem der Mutter. Es gab zwei Anzeigen – die der Universität war größer. Und jetzt fragte er sich, ob es einen Zusammenhang gab zwischen dem Loch am Ärmel seines Pullovers und dem geflickten Loch am Ärmel des Hemdes, mit dem sie den Vater begraben wollten. Er trank einen Schluck Kaffee. Er hörte die Mutter fragen: »Pullover oder Sakko?«, und die Schwester antworten: »Sakko. So wie er zur Arbeit gefahren ist. Oder?« Die Mutter sagte: »Und dazu Jeans.« Er hörte sie wimmern. Unerträglich. Es war unerträglich. Was konnte er tun. Wie verhielt man sich in diesem Fall? Er trank noch einen Schluck Kaffee. Ihm war übel.

    Filippa berührte ihre Mutter sachte am Arm und Marlene griff nach der Hand ihrer Tochter und beruhigte sich wieder.

    »Dann fahren wir. Du kommst nicht mit, oder?«, fragte Marlene in Bobs Richtung.

    »Soll ich?«

    »Wie du willst. Du musst nicht.«

    Bob blickte sie einen Moment stumm an. Dann trank er seine Tasse in einem Zug leer und sagte: »Ich fahre«, und ging in den Flur, um sich die Schuhe anzuziehen.

    Im Vorbeigehen stellte die Mutter ein Paar Schuhe des Vaters heraus, dann ging sie nach oben, hinter ihr Filippa, und Marlene war froh, die Tochter hinter sich zu spüren, als sie das Schlafzimmer betrat, den Schrank fixierte und schnell das Hemd vom Bügel nahm, und frische Unterwäsche, Socken und noch ein zweites Hemd, zur Sicherheit. Den Rest würde sie unten finden, in der Garderobe, dachte Marlene, und sie war froh, aus dem Zimmer wieder hinauszukommen, am ungemachten Bett vorbeigesehen zu haben, auf dem sein Pyjama lag, der nach ihm roch, stärker als sein Lieblingshemd, das sie jetzt nach unten trug.

    Bob stand in seinen Schuhen bereit vor der Garderobe, vor sich die Schuhe des toten Vaters, und das Paar abgetragener Hausschuhe, das da stand, wo es auch in seiner Kindheit gestanden war bei väterlicher Hausabwesenheit. Wie oft war das der erste Blick gewesen, wenn er zur Tür hereingekommen war, dachte er, nach den Hausschuhen der Eltern zu sehen, zu wissen, mit wem er zu rechnen hatte, ehe er nach einem Abstecher in die Küche hinauf in sein Zimmer verschwunden war, das nur betreten durfte, wem er es ausdrücklich erlaubte. Daran hatte sich der Vater nie gehalten, dachte Bob, er war schon mit dem Klopfen eingetreten, absichtlich, um ihn zu provozieren. Und das war ihm auch gelungen, nicht nur damit, bis zuletzt.

    Beim Hinausgehen zum Auto streifte Bobs Blick den seiner Schwester, und er dachte an Zoe, an Zoe, wenn es ihr schlecht ging. Und er fragte sich, wie es seiner Schwester wohl gerade gehen mochte. Sie hatten noch gar nicht wirklich gesprochen.

    Beim Bestatter standen sie dann zwischen Sargmodellen und Urnen, drei Särge waren aufgeklappt, um die Auswahl an Sarginnenausstattungsvarianten zu präsentieren, die Urnen standen in Regalen an der Wand, sortiert nach klassischen und ausgefallenen Modellen. Sie schwiegen, dann zeigte Marlene auf den einzigen schlichten hellen Sarg ohne ein Kreuz, blickte fragend zu Filippa. Sie nickte. Bobs Blick blieb bei den Urnen hängen. Er dachte: Es war absurd, völlig absurd, was den Menschentieren alles einfiel, Gefäße, nachempfunden einem Hundekopf, einem Bergschuh, einem Motorradhelm als Ort der sogenannten Ewigkeit für ein Häufchen Asche. Nie im Leben würde ihm das einmal widerfahren, ihn sollten Geier fressen, auf einem Berg, dachte er, und nickte dann auch, als ihn der Blick der Mutter traf.

    Dann sollte sie noch das Sarginnenleben auswählen. »Zu gerüscht«, sagte die Mutter, und Filippa stimmte ihr zu. Die Bestattungsfrau sprach von Rosendamast und Gitterdamast und bedauerte, dass es die Wellensteppung leider nicht champagnerfarbig gäbe. Und Marlene spürte, wie sie es kaum noch aushalten konnte in dem Raum, und zeigte dann auf das Modell, das ihr am wenigsten glänzend vorkam. Die Frau sollte aufhören zu reden, sofort. Ihr Mann lag im Kühlraum, direkt unter ihr in diesem Haus. Er lag dort schon die ganze Zeit. Und sie fragte sich, ob sie das alles wirklich ertragen musste, ob es nicht einen Weg gab, es nicht ertragen zu müssen, und wenn es jetzt schon so unendlich schmerzhaft war, wie es dann erst sein würde, wenn alles vorüber wäre, das Begräbnis überstanden, die Kinder fort und sie allein in dem großen Haus. Panik bei dem Gedanken, eine neue Panik, vor dem, was dann kam, als sie das plötzlich vor sich sah – die Leere, die dann wäre, wenn all das Entsetzliche, das ihr jetzt bevorstand, vorüber war. Und sie sah vor sich die Schlaftabletten, die Packungen im Arzneimittelschrank im Bad, der Vorrat, der noch von ihrer Mutter stammte, und zu dem sich jetzt neue Pillen gesellten, sie hatte die erste Packung gestern direkt bei der Ärztin mitgenommen. Und sie fragte sich, wie viele notwendig wären und wie schnell und wie sicher der Tod dann käme.

    Im Auto sagte Bob, dass er nicht gedacht hätte, dass der Vater nicht verbrannt werden wollte. Filippa wollte fragen, aus welchem Material der Stoff dieser bescheuerten Innenausstattung sein mochte, er hatte sich nach Polyester angefühlt und das würde nicht verrotten und ihr Vater hätte das nicht gewollt, aber was war zu machen. Sie würde Sarginnenausstattung später googeln. Bob schaltete das Gebläse höher, die Scheiben waren angelaufen. Das Geräusch der Klimaanlage legte sich über das des Motors und die Stimme der Mutter, die sagte: »Euer Vater hat nicht

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