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Die Gartenlaube (1859)/Heft 4

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.       Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Er betet.

Erzählung von J. D. H. Temme, Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)


IV.
Er betet.
Acht Tage waren seit dem Balle bei der Präidentin verflossen. Antonie, die unglückliche Tochter des Raths Rohner, lag noch im Wahnsinn. In ihrem Körper wüthete zugleich ein Fieber. Der Arzt hatte das Fieber für ein günstiges Zeichen erklärt. Mit ihm werde die Nacht aufhören, die den Geist der Armen umdunkle. So hoffte er. Es konnte auch anders kommen.

Der Vater saß an dem Bette der Kranken. Hinter ihm stand der alte Schreiber Bernhard. Der Rath Rohner hatte einem Gespenste geglichen, als er in jener Nacht die wahnsinnige Tochter nach Hause brachte. Aber einem finsteren, drohenden Gespenste. Das Kind war das einzige Wesen auf der Welt gewesen, das er liebte. Sie war es noch, sie mußte es noch sein, sein Herz konnte sich nicht von ihr reißen, von ihr nicht. Und das Herz war ihm nicht gebrochen! Welche ungeheure Kraft mußte der Mann haben! Welche ungeheure Gewalt über sich! Er hatte die Tochter dem alten Bernhard übergeben, der noch auf war.

„Laß sie zu Bette bringen und den Arzt rufen!“

Aber der alte Mann hatte sich entsetzt.

„Um des Himmels willen, Rohner, was ist dem Kinde? Was ist Dir? Wie siehst Du aus? Was ist vorgefallen?“

„Was vorgefallen ist, alter Narr? Entweder ist sie eine Diebin und eine Wahnsinnige zugleich, oder sie ist blos eine Wahnsinnige. Laß den Arzt rufen.“

Damit war er in sein Zimmer gegangen.

„Möchte er beten können! Nur einmal! Nur für das arme Kind!“ jammerte der alte Mann.

„Was macht sie?“ fragte am andern Morgen der Rath den Schreiber. Er fragte es kalt, hart.

„Zu dem Wahnsinn ist ein hitziges Fieber gekommen.“

Der Rath hörte die Antwort eben so kalt und hart. Aber man sah es dem harten Gesichte doch an, daß er die ganze Nacht kein Auge geschlossen hatte, und als er, wie jeden Morgen, zum Gerichte gehen wollte, schienen die Füße ihn nicht tragen zu können. Er kehrte in sein Zimmer zurück und verschloß sich darin. Er genoß den ganzen Tag nichts. Zwei Tage lang ließ er sich nicht sehen. Er hatte auch nach der Kranken nicht gefragt. Am Abend des dritten Tages erschien er in dem Krankenzimmer. Sein Gesicht war furchtbar entstellt, sein Haar hatte in den paar Tagen sich grauer gefärbt; aber hart war er geblieben. Er stellte sich an das Bett der Kranken und betrachtete das in der Hitze des Fiebers glühende Gesicht, die von dem Wahnsinn zerstörten Züge. Er konnte das Alles sehen, ohne daß in sein Auge eine Thräne trat, ohne daß ein Zug seines Gesichtes sich veränderte.

„Ist sie immer so?“ fragte er den Schreiber, der weinend am Bette saß.

„Immer!“

Er starrte still vor sich hin. Dann fuhr er auf einmal auf.

„Der Bruder ein Betrüger! Sie – Ist es denn möglich? Großer –“

„Sprich das Wort aus,“ sprach der alte Schreiber zu ihm hin. „Mensch, sprich das Wort Gott aus. Du kannst sie retten! Du rettest sie.“ Aber der Rath sah ihn finster an.

„Abergläubischer Narr, kann ein Wort geschehene Dinge ungeschehen machen?“

„Aber sie ist keine Diebin! Diese nicht! Und wenn die ganze Welt es behauptet, und wenn ihr eigener Vater es beschwört, hartherzig oder selber wahnsinnig, es ist nicht wahr, ich verlasse das Kind nicht, das reinste, das unschuldigste Kind, das auf Erden lebt!“

Auf einmal hatte der Rath einen Entschluß gefaßt. Er verließ das Zimmer und das Haus. Er kehrte spät in der Nacht zurück. Er war bei der Präsidentin, bei der Generalin, bei dem Regierungsrath gewesen. Sie hatten ihm Alles mittheilen müssen, was sie wußten. Zu der Gräfin Göppingen war er nicht gegangen. Sie hatte er nicht fragen können.

Er kam kalt nach Hause zurück, und stellte sich wieder an das Bett der Kranken. Er betrachtete sie wieder. Er starrte vor sich hin.

„Ist sie schuldig?“ fragte, er sich. „Ist der Wahnsinn ihr Glück?“

Er verschloß sich wieder in sein Zimmer. Am folgenden Morgen früh ging er wieder aus, und zwar das erste Mal zum Gerichte nach dem Balle; es war den vierten Tag danach. Auf dem Gerichte ließ er sich die Acten gegen die Vatermörderin vorlegen. Er las sie aufmerksam durch. Dann ging er in das Criminalgefängniß, wo auch sein Sohn saß; aber zu ihm ließ er sich nicht führen. Der Director des Gefängnisses mußte ihn zu der Vatermörderin geleiten. Mit ihr unterhielt er sich lange. Er fand in ihr ein tief unglückliches, aber tief reumüthiges Geschöpf. Ein besseres Wesen war sie schon jetzt. Sie konnte der menschlichen Gesellschaft wieder nützlich werden, wenn das Gefühl ihres Unglückes ihr das gestattete. Und mußte man das nicht hoffen, wenn ihr die Gnade, wenn ihr wieder die Liebe der Menschen wurde? Der Director des Gefängnisses bestätigte ihm, was er selbst fand.

[46] Nach diesem Besuche kehrte er nach Hause zurück; hier angekommen, kleidete er sich in seine Uniform, fuhr zum Schlosse des Landesherrn und ließ sich bei dem Monarchen zu einer Audienz melden; er wurde aber nicht angenommen. Der Landesherr habe keine Zeit, hieß es; wenn der Rath etwas vorzutragen habe, möge er es schriftlich einreichen. Der Regent des Landes konnte den Mann nicht empfangen, dessen Sohn der Wechselfälschung schuldig, dessen Tochter eines in den höchsten Cirkeln der Residenz verübten Diebstahls bezichtigt, der selbst als ein Gottesleugner bekannt war.

Der Rath fuhr nach Hause zurück und schrieb den ganzen Tag. Er sandte das Schreiben an den Präsidenten des Gerichts. Es enthielt ein Begnadigungsgesuch an den Monarchen für die zum Tode verurtheilte Vatermörderin. Er bat den Präsidenten, es mit einem befürwortenden Berichte dem Monarchen zu überreichen. Er hatte den Landesherrn darin beschworen, die Verurtheilte zu begnadigen, und alle Gründe, die dafür sprachen, auseinandergesetzt; er hatte offen ausgesprochen, daß er nach seinem Verständnisse des im Lande geltenden Gesetzes nicht anders als für den Tod habe stimmen können, daß er aber jetzt erkenne, es gebe ein höheres Recht, als das des von Menschen geschriebenen Gesetzes, das Recht einer sittlich menschlichen Gerechtigkeit, und daß es das schönste Vorrecht des Staatsoberhauptes, das edelste Juwel in der Fürstenkrone sei, dieses erhabenste Recht zur Geltung zu bringen.

Der Präsident antwortete ihm umgehend, daß er sofort die Bittschrift befürwortend dem Regenten überreicht habe.

Aber eine Veränderung war auch seitdem mit dem Rathe nicht vorgegangen; wenigstens war sie äußerlich nicht wahrzunehmen. Nur verließ er von da an fast das Bette der Kranken nicht, und es war sonderbar anzusehen, wie er mit dem so kalten und harten Gesichte unbeweglich da saß und jeder Bewegung der irrsinnigen Kranken folgte und jedem ihrer Athemzüge lauschte.

So hatte er drei Tage gesessen und acht Tage waren seit dem Irrsinne, seit der Krankheit der Tochter vergangen. Er saß an dem Bette, unbeweglich, äußerlich kalt, wie immer, Auge und Ohr auf jede Bewegung, auf jeden Laut der Kranken gerichtet. Hinter ihm stand der Schreiber Bernhard. Der alte Mann hatte die Augen voll Thränen. Er konnte den Blick nicht zu der Leidenden, der körperlich und geistig Leidenden wenden, und doch zog jede ihrer Bewegungen, jeder ihrer Athemzüge die nassen Augen unwiderstehlich auf sich. Dann mußte er wieder den Vater anblicken, der so unbeweglich, so unempfindlich dasitzen konnte.

„Könnte er nur einmal sein Herz zu Gott wenden! Herr im Himmel, kannst Du es denn nicht zu Dir wenden? Warum lässest Du ihn so hart bleiben, warum lässest Du Dich ihm unerkannt in dem tiefsten Elende, in der entsetzlichsten Angst, in dem qualvollsten Jammer, die ein Menschenherz ertragen kann? Soll denn nichts diesen Menschen zu Dir erheben können?“

Da wurde leise an die Thür geklopft, der alte Bernhard ging hin und öffnete sie und nahm von dem alten Diener des Raths ein Schreiben, das er dem Rath überreichte.

Der Rath Rohner öffnete es; er las es. Die Muskeln seines bleichen Gesichtes zitterten. In seinen Händen flog das Papier. Der Präsident des Gerichts benachrichtigte ihn, daß der Monarch die Vatermörderin begnadigt habe.

„Gott im Himmel!“ rief er.

Er rief es laut, tief, tief aufathmend, aus dem untersten Grunde seines Herzens heraus.

Der alte Bernhard fiel auf die Kniee.

„Herr des Himmels, Du wirst gnädig in ihm! Sei gepriesen, sei gedankt. O, laß ihn ganz Dich erkennen.“

Aber der alte Mann mußte wieder aufspringen. Die Kranke machte eine Bewegung, eine lebhafte, aber nicht heftige. Dann richtete sie sich auf, ebenfalls nicht heftig, vielmehr langsam, wie sich besinnend. Sie hatte das seit dem Beginn ihrer Krankheit noch nicht gethan.

Der Rath und der alte Bernhard sahen sie aufmerksam, überrascht, dann ängstlich an. Sie blickte um sich, nicht wild oder stier wie bisher. Das Auge war klar, der Blick ruhig, nachsinnend, milde. Der alte Bernhard mußte sich abwenden, um seine hervorstürzenden Thränen nicht zu zeigen. Der Rath aber erkannte, daß dieser Blick wieder Klarheit des Geistes, wieder Bewußtsein zeige. Der Wahnsinn war gewichen. Ein Schauer durchfuhr den Vater.

„Antonie!“ sagte er mild.

Weiter konnte er kein Wort sprechen.

Der Wahnsinn war gebrochen, die Helle des Geistes war zurückgekehrt. Aber damit war ein furchtbarer Augenblick der Entscheidung gekommen. Stand der Vater vor einer Verbrecherin?

Da erhob die Tochter ihre Stimme, klar, ruhig und sanft, wie ihr Auge war.

„Vater, sieh mich an!“

Er blickte schweigend an.

„Vater, kannst Du in mir eine Verbrecherin, eine Diebin finden?“

Sie sprach es so unendlich ruhig, klar und milde; sie sprach es edel.

„Nein, nein, mein Kind!“ rief der Vater, und warf sich über sie hin, und umschlang sie mit seinen Armen und weinte über ihr. Dann erhob er sich langsam. Dann beugte er sich wieder nieder. Aber er war in die Kniee gesunken, und hatte die Hände gefaltet. So lag er still am Fußende des Bettes.

„Und Du, mein treuer Bernhard,“ sagte das unschuldige Kind zu dem alten, treuen Bernhard, „hast Du auch an Deine Toni geglaubt?“

„Gewiß, gewiß!“ rief der Greis. „Aber still, er betet!“ –

Als einige Wochen nachher die häßliche und eifersüchtige Frau des schönen und galanten Rittmeisters, Baron Richter, ihren Mann ebenfalls in einer Umarmung mit der schönen Gräfin Auguste von Göppingen überraschte, und nun zugleich jene Ueberraschung des Paares auf dem Balle der Regierungspräsidentin bekannt wurde, zweifelte auch die Welt nicht mehr an der Unschuld der edlen Antonie Rohner.

Der Rath Rohner aber hatte schon vorher den Monarchen um seinen Abschied gebeten. Sein Verstand des Richters und sein Herz des Menschen seien in einen Widerstreit gerathen, für dessen Vermittlung zum wahren Gedeihen des Rechtes in seinem vorgerückten Alter ihm der richtige Maßstab fehle.

Einige Wochen später verließ der Rath und seine Tochter die Residenz. Der alte Bernhard folgte ihnen.




Der gelbe Handschuh.
Von Louise Ernesti.

Die Dresdner Gallerie besitzt ein Cabinet ganz angefüllt mit Schöpfungen einer und derselben Hand. Es sind dies die Pastellbilder der berühmten Venetianerin Rosalba Carriera, die 1672 geboren wurde und 1757 starb. Einige wenige Bilder von Mengs und Liotard ausgenommen, hat die kleine Gallerie für sich nur allein diese Künstlerin zum Schöpfer. Sie wurde in Venedig herangebildet und zwar von einem Meister, der einen wundersam schönen Namen führte. Er hieß Diamantini. Es ist mir zu bedauern, daß er ein sehr mittelmäßiger Maler war und durchaus kein Diamant im Diadem der Kunst. Anfangs malte die junge Künstlerin Oelgemälde und zwar Copieen nach großen Meistern; dann ging sie auf Bilder im kleinsten Format über und schuf sogenannte Dosenstückchen. Diese fanden Beifall, vielleicht mehr wegen der Dosen, die von Gold und Silber waren und als Geschenke vertheilt wurden. Endlich fing sie an, Pastellbilder zu schaffen, und dabei blieb sie.

Ob ihre Bilder wirklich so vortrefflich gewesen sind, wie die Zeitgenossen rühmen, muß dahin gestellt sein. Die Kunst der Pastellmalerei ist nämlich, wie wohl Jeder weiß, stark den Zufälligkeiten unterworfen, die ein unvollkommenes Material herbeiführt. Die Farben bleichen, sie verwischen sich, gehen unvermerkt eine in die andere über und die Contour leidet dadurch. Es kann demnach sein, daß die Bilder, die wir jetzt betrachten, anders zu der Zeit aussahen, als sie geschaffen wurden. Heutzutage stellen sie sich, was das Colorit anbetrifft, trocken unwahr und fast bis zur Kreideweiße gebleicht dar. Unmöglich ist es fast, einem solchen Bilde [47] jetzt noch Beifall abzugewinnen. Mengs, der freilich später seine Bilder schuf, hat gezeigt, daß man diesen spröden und ungefälligen Farben doch ein ziemlich kräftiges und markiges Colorit abgewinnen kann. Der Kopf seines Vaters und sein eigener jugendlicher Kopf sind meisterhaft; der berühmte Amor nicht minder.

Doch zurück zu Rosalba Carriera! – Sie verließ Venedig und reiste an den Höfen Frankreichs und Deutschlands umher. Ueberall krönte der Ruf ihre Schöpfungen, man riß sich um ihre Bilder. Die Fürsten gaben ihr Feste, die Akademien nahmen sie zu ihrem Mitgliede auf. So kam sie denn auch nach Sachsen.

Der Hof August des Starken war der Vereinigungsplatz alles dessen, was das damalige Europa Interessantes, Schönes und Kunstfertiges hatte. Italien sandte seine Sängerinnen, Spanien seine Hidalgo’s und Abenteurer; aus Polen strömten die Courtisanen herbei, aus Frankreich die schönen Geister. Selbst Schweden gab eine seiner lieblichsten Töchter, um den Hof dieses nordischen Augustus zu schmücken, – die reizende Aurora Königsmark; doch sie ist es nicht, von der hier gesprochen werden soll, denn ihre Zeit war vorüber, sie hatte sich schon in die Mauern der Abtei von Quedlinburg zurückgezogen.

An Aurora von Königsmark’s Stelle herrschte zu jener Zeit die Gräfin Cosel. Sie stand eben im Zenith ihrer Macht.

Als sie vernahm, daß eine Künstlerin, und noch dazu eine Venetianerin, sich den Mauern Dresdens nähere, wurde sie ungeduldig und argwöhnisch, allein sie beruhigte sich, als sie hörte, daß die Künstlerin nicht mehr jung und nichts weniger als schön sei. Jetzt war sie die Erste, die den König bat, sich von ihr malen zu lassen.

König August empfand wenig Lust, diesem Wunsche der Gräfin zu willfahren. Er hatte sich erst kurz vorher von dem berühmten Sylvestre abkonterfeien lassen, und er wußte, wie lästig ihm die wiederholten Sitzungen gewesen waren; auch bemerkte er der Gräfin, daß sie bereits zwölf Bildnisse von ihm habe und daß es unnütz sei, noch ein dreizehntes, vielleicht unähnliches hinzuzufügen, dagegen wolle er die Künstlerin beauftragen, sie, die Gräfin, zu malen.

Dies geschah und Rosalba Carriera schuf ein Bild von der schönen Gräfin Cosel, das alle Welt entzückte und das die Anforderungen des Königs befriedigte, der den Befehl gab, es in seinem Cabinete aufzustellen.

Die Gräfin bestürmte jetzt von Neuem den König mit Bitten, und endlich versprach August, zu einem Bilde zu sitzen; allein es kam nicht dazu. Wenn der bestimmte Tag erschien, so war der König entweder auf der Jagd oder befand sich im Conseil oder unternahm eine kleine Reise. Die Gräfin hatte zuletzt nicht mehr den Muth, ihn an sein Versprechen zu mahnen. Sie verdoppelte ihre Freundlichkeit gegen die fremde Künstlerin, um sie in Betreff dieses gescheiterten Planes bei guter Laune zu erhalten, sie räumte ihr sogar eine Wohnung in ihrem Palaste ein und gab Rosalba einen Theil ihrer Dienerschaft zur Aufwartung.

Eines Tages erging sich die Gräfin auf dem Altan ihres Palastes und warf einen neugierigen Blick in die Zimmer der Künstlerin, die leer standen, denn die Dame befand sich in Moritzburg, um dort ein Bild zu copiren. Die Staffeleien, die halb fertigen Bilder, das Durcheinander von Farbenkasten, Pergamentrollen beschäftigten die müßige Spaziergängerin und sie blieb lange an dem hohen, bis an den Balkon des Altans reichenden Fenster stehen, um hineinzuschauen.

Plötzlich fiel ihr Blick auf ein an der Wand lehnendes Portrait, das ihr das des Königs zu sein schien. Es war nicht ganz vollendet; doch schaute der Gräfin der Kopf mit so sprechender Aehnlichkeit von der Pergamenttafel entgegen, daß ihr kein Zweifel blieb, als sie es genauer betrachtete. – Sie irrte sich nicht, es war der König!

So hatte er also zum Bilde gesessen, ohne es ihr zu sagen, und die Künstlerin hatte dieses schöne ähnliche Portrait geschaffen, ebenfalls ohne ein Wort davon laut werden zu lassen!

Dies erregte den Verdruß der Gräfin. Wie konnte man es wagen, ihr dergleichen zu verheimlichen! – oder sollte vielleicht eine Ueberraschung vorbereitet werden? – Es war möglich, und alsdann hatte die Verheimlichung, die sonst unverantwortlich, ihren guten Grund.

Als Rosalba Carriera nach kurzer Zeit von ihrem kleinen Ausfluge zurückkam, konnte es die Gräfin nicht lassen, ihr zarte Vorwürfe zu machen. Die Anspielungen waren dunkel, die Winke unverständlich. Endlich, als kein Verständniß, vor allen Dingen kein Einverständniß zu Stande kommen wollte, sprach sich die Gräfin offen über das im Atelier entdeckte Bild aus.

Rosalba erstaunte. Sie wußte von dem Dasein eines solchen Bildes nichts; sie schwur die heiligsten Eide, daß sie es nicht gemalt, ja sie versicherte, daß die hartnäckige Widersetzlichkeit des Königs es ihr bisher unmöglich gemacht habe, ein Portrait zu schaffen.

„Nun wohl,“ sagte die Gräfin Cosel gereizt, „man betrügt mich. Ich habe ein solches Bild gesehen, folglich muß es existiren, und da es sich in ihrem Atelier befindet, Madame, so müssen Sie es natürlich auch gemalt haben.“

Die Künstlerin erbot sich, sogleich mit der Gräfin in die Malerzimmer zu gehen.

Es geschah; das ganze Atelier wurde durchsucht, und man fand anfangs nichts. Endlich, aus einer dunkeln Ecke, verhüllt mit einem Stücke Leinwand, zog die Hand der Gräfin die Tafel hervor, auf der sich – jetzt vollendet – das Portrait des Königs August befand.

Die Carriera erschrak heftig. Sie schlug die Hände zusammen, und rief ein Mal über das andere:

Per dio! Ich weiß nicht, wie dieses Bild hierher kommt! Ich habe es nicht gemalt; aber es ist trefflich! Ein Kunstwerk! – Gräfin, bemerken Sic diesen Blick der Augen, wie viel Feuer und, ich möchte sagen, fürstliche Zärtlichkeit liegt in ihnen! In der That, der König ist nie besser, nie schmeichelhafter aufgefaßt worden; es ist der schöne Mann, der große Fürst, der starke Held in Eins verschmolzen!“

Hätte die Künstlerin nicht so aufmerksam das Bild, sondern außer diesem auch die Gräfin betrachtet, sie hätte bemerken können, welch einen Ausdruck von Verdruß, Zorn, Neid und Rachbegier ein sonst so glattes, so regelmäßiges und so reizendes Gesicht anzunehmen vermochte.

„Es ist gut!“ sprach Gräfin Cosel kurz, indem sie das Bild wieder an die Wand stellte und die Leinwand darüber warf. „Sie haben das Bild gemalt. Weshalb Sie mich getäuscht haben und fortfahren, mich zu täuschen, will ich nicht wissen. Morgen werde ich das Bild abholen lassen und die bedungene Summe dafür soll Ihnen ausgezahlt werden; allein ich wünsche, daß Sie hinfort mein Haus räumen.“

Die Gräfin ging nach diesen Worten fort und ließ die Künstlerin in einer aufgeregten, beleidigten Stimmung zurück. Rosalba konnte sich das Wunder mit dem Bilde nicht erklären, und war uneinig mit sich über die Mittel, die sie anzuwenden habe, diese am Hofe so allmächtige Frau wieder zu ihren Gunsten zu stimmen. Einstweilen nahm sie nochmals die Tafel zur Hand, betrachtete das Bild und rief voll Entzücken:

„Das ist herrlich gemalt! – Wer es auch geschaffen hat, ich hätte es selbst nicht besser machen können.“

Bei diesem Ausrufe hörte sie hinter sich eine Kaffeetasse zu Boden fallen und sie bemerkte, sich umschauend, ihre Magd, die roth vor Verlegenheit und Schrecken die Scherben vom Boden aufsammelte.

„Was ist das, Magdalene? Wie kann man so ungeschickt sein!“ rief sie dem Mädchen zu. „Zum ersten Male ertappe ich Dich darauf, daß Du ein Kaffeebret nicht zu halten verstehst. Sind Deine Hände gleich klein und zierlich, wie ich Dir oft gesagt habe, so lehre sie doch, ihre Dienste so thun, daß ich nicht dabei zu Schaden komme. Zeig her, was hast Du da an Deiner Hand? Ei sieh – Farbe! Blaue, rothe Striche! Wie kommst Du dazu?“

Magdalene fuhr rasch mit der Schürze über die Finger und verwirrt entgegnete sie:

„Ich habe vorhin den Kasten mit den Farbenstiften geordnet.“

Die Künstlerin antwortete nicht. Sie war wieder in Anschauung des Bildes vertieft.

„Der Schatten an der Wange,“ murmelte sie vor sich hin, indem sie mit einem farbigen Stiftchen Zeichen in die Luft machte; „vortrefflich! Er läßt das Lächeln des Mundes ahnen, ohne es doch zu zeigen. So ist ein Hauch von Leben glücklich über diese sonst so schwere Partie bei diesem Kopfe hinvertheilt! Man kann diesen Mund sehr sinnlich auffassen, und das ist gewöhnlich auch geschehen; doch man kann ihn auch fein und geistig schön darstellen, und so ist er hier. Wahrlich, nur eine Frau, und zwar eine Frau, die den König liebt, kann dies Bild gemalt haben! Ich kenne das! Ach – ich kenne das!“

[48] Rosalba Carriera versank bei diesem Ausruf in schöne, längst verklungene Träume. Sie lehnte ihr Haupt auf die Rücklehne des Stuhls und sah mit einem halb geschlossenen Auge und mit dem Ausdruck süßen Friedens an die Decke des Zimmers hinauf.

Das junge Mädchen hinter dem Stuhle war leise herangetreten und machte mit einem Stifte, den sie sich vom nächsten Tische genommen, ein paar flüchtige Striche an der Halsbinde.

„Ich kenne das!“ schwärmte die Künstlerin weiter, „wie oft habe ich Gesichter auf die Tafel geworfen, die ich mit leerem, trostlos ermüdetem Sinne geschaffen! und dann – ach und dann leuchtete mir ein Auge gegenüber, das Blicke der Liebe versandte, Blicke, die in Dein Herz, arme Rosalba, drangen und darin irgend welches Weh, irgend welchen Wahnsinn entzündeten! – Ach, wie ganz anders webten sich da die Farben zusammen, wie ganz anders flog der Stift; – wie ganz anders legten sich süße Schattenringe, kleine jubelnde Farbenlichter wie Küsse der Liebe um die todten Linien des Bildes! – Da sangen und jubelten die Farbengeister, da schlossen sie sich im Ringelreihen Händchen an Händchen, und im Zaubertanz wurde ein reizend liebliches Bild vollendet, das dann nachher der Welt kund that, daß hier Liebe die Liebe gemalt! Ja, arme Rosalba, Du hast auch einst solche Stunden genossen, Du hast auch einst solche Bilder gemalt! Ja, gesteh es, Du warst ein heimlich glühendes Rosenknöspchen – Ach – Ach!“

Und wieder kam die Hand hinter der Stuhllehne hervor, und machte keck mehrere Striche am Bilde des Königs.

Rosalba Carriera fuhr aus ihren Träumen auf, haschte nach der Hand und schrie:

„Was thust Du, Einfältige? Du wagst es, an dieses Kunstwerk Deine Pfuscherhand zu legen? Hinweg, Vermessene! Fort, daß ich Dich nicht züchtige!“

Das junge Mädchen zog sich ein wenig zurück und als sie sah, daß sich der Zorn ihrer Gebieterin zu legen begann, sagte sie mit einer treuherzigen Stimme, indem sie die Hände faltete:

„Um der Gnade Gottes willen, sagt mir, Signora, ist denn das Bild wirklich so gut gemalt?“

„Nun ja doch! Aber was kümmert es Dich?“

„Was es mich kümmert?“

„So sprich!“ rief die Künstlerin, aufmerksam werdend, „Weißt Du etwa, wer es gemalt hat und wie es in dieses Zimmer gekommen ist?“ Das Mädchen neigte bejahend das Haupt.

Rosalba sprang auf.

„Nun, wer?“ rief sie lebhaft, „Wer ist’s, der hier in diesem Lande der Hyperboräer es wagt, so gut zu malen, wie ich? Wer ist’s? –“

„Es ist kein Mann, Signora!“

„Noch schlimmer! Also eine Frau? Ich könnte sie hassen, sie verfolgen, sie tödten! – Wie heißt sie? Wo ist sie?“

„Sie steht vor Euch!“ sagte das Mädchen ruhig. „Ich bin es!“ setzte sie mit Stolz und Würde hinzu.

Rosalba Carriera wankte zurück, fiel auf ihren Stuhl; dann zog sie ihr Taschentuch hervor und fuhr damit über Stirn und Augen. Mit geöffnetem Munde starrte sie das Mädchen an und erst nach einer Pause von mehreren Secunden war sie im Stande das Wörtchen „Du?“ hervorzubringen.

„Ist es denn so unmöglich, daß ein armes Mädchen Talent hat?“ entgegnete Magdalene. „Es war bekannt, Signora, daß Sie keine Schülerinnen annahmen, und da mein geringes Talent, zugleich der Wunsch meiner Eltern mich zur Kunst trieben, beschloß ich, wider Ihren Willen Ihre Schülerin zu werden. Ich wurde Ihre Magd und die Zeit, die mir von meinen Geschäften blieb, wandte ich dazu an, Ihre Bilder zu copiren. O, ich besitze ein ganzes Zimmer voll, das ich sorgfältig vor jedem Blicke geheim halte! – Wenn der Zufall nicht die Entdeckung herbeigeführt, ich hätte als Ihre Zofe Sie verlassen, um dann, Ihnen ewigen Dank zollend, als selbstständige Künstlerin für mich zu leben.“

(Schluß folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmanns-Bilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 7. Die Jagd auf den Hochalpen.

Nachdem ich in den bisherigen „Wild-, Wald- und Waidmanns-Bildern“ meist Schilderungen aus meiner Heimath und Beobachtungen, die ich in derselben in reichem Maße anzustellen Gelegenheit gehabt, zu geben versucht, möge mir der Leser diesmal hinausfolgen in die Berge des bairischen Hochlandes und Tyrols.

Mit jubelndem Gefühle verließ ich den Dampfwagen, dessen dämonisch beflügeltes Vorspann mich bald in die Nähe meines Zieles, des Hochgebirges, wohin mich unwiderstehliche Sehnsucht getrieben, gebracht hatte, und fuhr mit dem Postomnibus, hoch oben auf dem Verdeck des Wagens sitzend, durch die malerischen Gegenden nach Tölz und von da ab nach Langriß, wo ich übernachtete.

Am andern Morgen wurde mir endlich das Vergnügen, mich mit gutem Gewissen meinen eigenen Füßen anvertrauen zu können. Meine ziemlich schwere Reisetasche wandelte ich dadurch in einen Gebirgssack um, daß ich mir mittelst eines Strickes ein paar Tragbänder daran herstellte und so die Last wohlgemuth auf den Rücken nahm. Fort gings nun, immer im Thale hin, wo die smaragdgrünwellige, milde Isar am hellleuchtenden kalkigen Ufer vorüberrauschte, auf so wundervoll schönem Wege, daß ich mich im Vollgenuß solcher Umgebung überglücklich fühlte.

Erst durchwanderte ich noch bewohntere Gegenden; dann wurde es wilder und wilder. Doch hat man, im Thale weiter ziehend, stets einen gut gehaltenen Fahrweg, da alljährlich nicht allein der König von Baiern mit bedeutendem Gefolge und vielen Pferden nach der Vorderriß zum Jagen kommt, sondern auch der Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha, welcher sein ausgedehntes, wildreiches Jagdgebiet in der Hinterriß und weiteren Umgebung besitzt, diesen Weg benutzt. Der Wald, theils Laub-, theils Nadelholz, das sich vom Thale aus in die höheren Regionen erstreckt, prangt in kräftigster Entwickelung. Von ungemeinem Reiz ist übrigens der sich hier geltend machende Ahorn, welcher in den phantastischsten Formen, während Stamm und Aeste mit saftig grünen, auf der Rückseite silberweißen Flechten oder sammetgrünem Moos in üppigster Fülle überwuchert sind, seine Kronen auf mächtigem Gezweig emporträgt.

In einem nur aus einigen Häusern, unter denen ein Forsthaus zugleich Wirthhaus war, bestehenden Orte im Thale mache ich Halt. Hier traf ich mit einem höheren österreichischen Grenzbeamten von der Station Achenthal, Namens Köckert, zusammen, der, als er mich als Sachse erkannte, mit großem Enthusiasmus von der cameradschaftlichen Aufnahme sprach, die er im Jahre 1851 als Oberlieutenant der Jäger auf dem Durchmarsche von Schleswig-Holstein in Leipzig und Dresden gefunden hatte. Mit besonderer Achtung und Liebe gedachte er der sächsischen Jägerofficire Keller, Lehmann, Dietrich und Nallein, die er mich von ihm zu grüßen bat, wenn ich etwa den einen oder anderen der Herren kennen lernen sollte. Vielleicht bestellt dieses Blatt die Grüße. Wir schieden herzlich von einander, jeder seinen Weg verfolgend, und gegen Abend kam ich in der Vorderriß an, wo ich beim dortigen Revierförster eine gastliche Aufnahme fand.

Nachdem ich einige genußreiche Stunden in der liebenswürdigen Försterfamilie verlebt und, ehe ich zu Bett ging, am offenen Fenster bei sternenhellem Himmel dem fernen Ruf der Hirsche, die sich dann und wann vernehmen ließen, gelauscht hatte, warf ich mich dem Schlafe in die Arme, um am andern Morgen früh weiter zu wandern.

Von der Hinterriß, wohin ich nun steuerte, hatte ich bereits so viel Rühmliches gehört, daß meine Erwartungen nicht wenig gespannt waren. Dennoch wurden alle meine auch noch so anspruchsvollen Einbildungen von der Wirklichkeit übertroffen. Diese stumme und doch so beredte, heilige, mächtige Bergesnatur mit ihren wilden

[49] 

Jagd im Hinterriß: Der Sturz des Alpenhirsches.

Wäldern und rauschenden Wässern machte den tiefsten, ernstesten Eindruck auf mich.

In einem Punkte aber, hinsichtlich dessen ich gerade stets die bescheidensten Ansprüche, namentlich im Walde, zu machen gewöhnt bin, sah ich mich demungeachtet getäuscht, woran freilich die Natur unschuldig war. Ich hatte nämlich in dem Glauben, in der Hinterriß [50] einen, wenn auch kleinen, doch mit irgend welchem Verkehr, insbesondere mit einem Schuhmacher gesegneten Ort zu finden, mich nicht einmal mit Bergschuhen versehen, geschweige denn an einem Unterkommen gezweifelt. Allein in dieser Beziehung hatte ich mich zu harmlosen Vorstellungen überlassen. Glücklicher Weise ließ mich wenigstens der noch immer gut gebahnte Weg, den ausschließlich Se. Hoheit der Herzog von Coburg erhält, nicht im Stich, und ich wanderte daher in meinen kalbledernen Stadtstiefelchen, die mir, nebenbei gesagt, auf halbwege gutem Pfade lieber sind, als solche, mit wahren Radnägeln beschlagene, rindslederne, harte Gebirgschuhe, fröhlich weiter. Nahm mich doch auch die imposanteste Natur zu sehr in Anspruch, als daß sie mich hätte Fragen der Fußbekleidung erwägen lassen.

Je weiter ich kam, desto enger wurde das Thal, so daß zuletzt nur auf der einen Seite der wildströmenden Riß noch Raum für den Weg im Thale war. Das Laatschengebüsch (Knieholz) trat sonderbarer Weise schon hier häufig auf mit schlangengleichem, zähem Gezweig und dunkelm, saftiggrünem, üppigem Nadelwuchse den Boden bedeckend oder hier unten im Thale sich ausnahmsweise bisweilen zu einem dürftigen Baume, ähnlich einer verkrüppelten Kiefer, gestaltend. Da, wo die mit Laub- und Nadelwald bekleideten Bergesmassen Schluchten bildeten, klimmte das Knieholz in diesen hinan, bis es über dem eigentlichen Walde die Herrschaft gewann und das Auge nur noch diese Vegetation und grüne Matten durchstreifte. Zuletzt thronte das todte, zerklüftete Gestein wie eine Mauerkrone über Allem. Im Thale rauschte, wie schon erwähnt, die wilde Riß dahin, grünwellig und weißschäumig, der Isar ähnlich, in die sie sich ergießt. An gewissen Stellen, wo sich der Weg hoch über dem Ufer des sich überstürzenden Wassers hinzieht, verengt sich das Flußbett, man möchte sagen, zur bloßen Spalte. Hier ist der Anblick großartig, wenn man mit Hülfe sich über den Abgrund neigender Bäume an die in die Tiefe abschießende Felswand vortritt und unter sich das wie im Zorn brausende, seine engen Felsufer unterhöhlende Gewässer tobend dahinstürmen sieht, als wolle es so schnell als möglich seinen Zwangspaß zurücklegen, um Freiheit zur Ausbreitung zu gewinnen.

Von eingetretenem Regen getrieben, beschleunigte ich meine Schritte, so daß ich in Kurzem in der Hinterriß anlangte. Es steht hier ein reizendes, vom Fürsten von Leiningen im Burg-Styl erbautes Jagdschloß, welches jetzt Besitzthum des Herzogs von Coburg ist. Nicht weit davon befindet sich ein malerisches, geräumiges Jagdhaus, in dem der Herzog zur Jagdzeit ausschließlich wohnt. Außerdem begegnet der Blick da, wo sich das Thal erweitert, einem Kirchlein, dem sich ein von vier Mönchen und einem Pater bewohntes Gebäude anschließt, dem sich wieder ein Wirthschaftsgebäude zugesellt, worin das sogenannte Gasthaus nebst Ställen für das Vieh des Wirthes befindlich ist. Diese Herberge nun, welche als Schild ein Cigarrenkastenbretchen, auf dem mit Tinte „Gasthaus“ geschrieben stand, führte, wurde mein Absteigequartier, an das ich noch jetzt nicht ohne Schauder zurückdenken kann. Die Wirthin, eine Frau von etwas düsterer, schmutziggrauer Färbung, hatte nämlich die Ueberzeugung, daß alles für die Leibesnahrung Nothwendige in unmittelbare Berührung mit ihren Fingern gekommen sein müsse, ehe es genossen werden könne. Hieraus machte sie auch durchaus kein Hehl, wie ich gleich am ersten Abend erfahren sollte.

Ich hatte mir einen „Schmarren“ bestellt, und da die Küche in diesem Gasthof der einzige erträgliche Aufenthalt war, so bekam ich Gelegenheit, die Art und Weise, wie mir „mein Brod gebacken wurde“, mit anzusehen. Zuerst wurde Milch an’s Feuer gesetzt und durch Eintauchen des Fingers, der übrigens – die Gerechtigkeit erfordert die Anerkennung – jedesmal sauber abgeleckt wurde, so oft gekostet, bis der gehörige Wärmegrad erprobt war; dann kam sie in einen Tiegel mit Mehl, um mit diesem zu einem Brei vermischt zu werden, dem ein paar Eier zugesetzt wurden, wobei die treffliche Köchin nicht verfehlte, deren zarte Schalen mit dem Finger rein auszuwischen und das an ihm Haftende in die allgemeine Masse, die mir zugedacht war, geschickt hineinzuschlenkern. Endlich pflückten ihre gewandten Hände noch die leckere Butterzuthat in das Gericht, und in fünf Minuten durfte ich mir Appetit wünschen.

Nach solcher Erfahrung zog ich es am andern Tage vor, mir Eier, Butter und einen Tiegel geben zu lassen, um mir selbst ein frugales Mahl zu bereiten; doch auch da entging ich meinem Schicksale nicht, denn als ich fertig war und die gelungenen „Eier auf Butter“ auf den Teller geschüttet hatte, siehe, da that meine gute Frau Wirthin wieder, was sie nicht lassen konnte, tunkte die fürchterliche Fingerspitze in jedes der zitternden Eidotter, natürlich nicht, ohne sie jedesmal gewissenhaft abzulecken, und belobte mich, wie vortrefflich ich es mit dem Grade der Weichheit getroffen hätte. Resignirt ließ ich später Alles über mich ergehen, da es nicht zu ändern war. Um mich übrigens nicht dem Verdacht der Uebertreibung auszusetzen, darf ich bemerken, daß das Haus von den wenigen Bewohnern der Hinterriß mit volksthümlichster Aufrichtigkeit der „Gasthof zum dreckigen Löffel“ benamst wurde. Glücklicher Weise spreche ich von vergangenen Zeiten. Die Wirthschaft ist jetzt in ganz andern, nämlich reinlichen Händen. die sich von unberufenen Einmischungen frei halten. Die Wirthsleute von damals sind, wenn ich nicht irre, nach Innsbruck gezogen, und jetzt waltet an ihrer Statt ein Förster mit seiner Familie.

Obgleich ich im strömenden Regen angekommen war, ließ ich mich, da es noch früh am Tage war, nicht abhalten, sobald ich meine Reisetasche abgelegt hatte, in die Berge zu steigen. War ich nun doch einmal so naß, daß es mir auf etwas mehr nicht ankam, und wahrlich, ich hatte nicht Ursache, mein Unternehmen zu bereuen. Allerdings erschien die Natur wie grau in grau gemalt, und nur das herbstlich bunte Buchenlaub war die einzige wirkliche Farbe, welche die Einförmigkeit unterbrach; desto gewaltiger aber wirkten die Formen. Massenhaft stieg der Wald empor, massenhaft überragten ihn die kahlen Wände, und massenhaft thürmten und ballten sich die Wolken um die tief grau-violett gefärbten Häupter des Gebirges, sie hier und da verhüllend und an ihnen sich niedersenkend in den Wald, um schwer darüber hinzuziehen, bis sie entweder in Regen zerflossen oder wieder emporzogen und an den steilen Wänden gleichsam hinankletterten, um sich mit dem Wolkenmeere über den Bergen wieder zu vereinigen und das alte Spiel auf’s Neue zu beginnen. Bald befand ich mich selbst in den Wolken; hier den einen Weg verfolgend, kam ich auf eine verlassene Alm. Hier bot sich eine wundervolle, wenn auch durch den Regen beschränkte Aussicht meinen Blicken dar. Zackig stiegen aus einem unter mir liegenden Thale die Wände empor, näher erscheinend, als sie es in Wirklichkeit waren – ein Phänomen, das, so das entgegengesetzte, im Gebirge sehr häufig vorkommt, weshalb sich der Schütze sehr daran zu gewöhnen hat, um nicht zu weit oder zu nah zuzuschießen. Da, wo Wald die Berge deckte, sah man an manchen Stellen, wie ihn die Lawinen in ihrem rasenden Fall streifenweise vernichtet hatten. Solch ein mit den verwetterten, grauen Baumleichen übersäeter Wahlplatz schaute gar düster darein, wozu die umherschwärmenden, goldgelb geschnäbelten, rothfüßigen, sonst rabenschwarzen Alpendohlen mit ihrem pfeifenden und, wenn auch angenehmen, doch ungemein melancholischen Ton eine höchst charakteristische Staffage bildeten. Höher schlug mir das Herz, als trotz so schlechtem Wetter an der gegenüberliegenden Gebirgslehne aus dem düster gefärbten Walde der mächtige Schrei eines Hirsches erschallte, der wie fern rollendes Gewitter sich dröhnend als Echo fortsetzte und in der Ferne von einem Nebenbuhler beantwortet wurde. Wer niemals einen Hirsch schreien hörte, namentlich nicht im Gebirge, hat keine Ahnung davon, wie großartig das klingt! Gewaltig, löwenhaft, ist diese Stimme der ausgesprochenste herausforderndste Ausdruck mannhaften Zornes und brennender Kampfbegier; Aufruf zum Wettstreit und Warnung, ihn anzunehmen, zugleich!

In längerem Pausen wiederholte sich des Liebebrünstigen Geschrei, bis er, vielleicht in einer Suhle liegend, das Zornesfeuer gedämpft hatte und still wurde. Das war mir wahrhaft lieb, denn ich hätte mich sonst kaum schon entschließen können, in’s Thal hinabzusteigen, und doch war es die höchste Zeit, wenn ich nicht der einbrechenden Dunkelheit überrascht werden wollte. Ich trat deshalb schleunigst den Rückweg an, und kam dennoch bereits im Finstern in meinem classischen Gasthof an. Der Hunger, der nach dem Sprüchwort der beste Koch ist, würzte den naiv bereiteten Schmarren, und der Wirthssohn, ein herzensguter Mensch, erfreute mich den Abend über beim Feuerschein des Heerdes mit reizend hübschem Citherspiel. Nachdem ich meine Sachen zum Trocken am Heerd aufgehängt hatte, beschloß ich, mich schlafen zu legen, und bald umfing mich das Bett freilich nur halb, wenigstens das Oberbett, das jedenfalls nur für einen halbwüchsigen Menschen bestimmt war. Wollte man sich ganz darunter bergen, blieb einem nichts übrig, als sich wie ein Taschenmesser zusammenzuknicken; denn [51] sonst müßten die Beine mit der Brust abwechseln, unbedeckt zu frieren. Außerdem hatte man die gebräuchliche Decke nur annähernd durch ein noch beigegebenes Linnentuch zu ersetzen gesucht. Ich kam mir in dieser Hülle wie ein eingewickelter Leichnam vor, dem man ein großes Kopfkissen auf den Bauch gelegt hat.

Dem düstern Regenwetter folgte ein schöner, sonniger Tag, und so ging ich denn bei Zeiten mit einem Stück Brod in der Tasche fort, um neue Ausflüge zu machen. Wieder schlug ich mich auf dem ersten besten Pfad in den Wald und durch diesen in die Höhe. Hatte der graue Tag großartige, erste Totaleindrücke gegeben, so brachte der heitere Sonnenschein bezaubernde, freudig erregende und doch nicht minder großartige Wirkungen auf diesem herrlichen Stück Erde hervor. Im feinsten duftigen Ton lagen die gegipfelten Bergeshäupter über dem nicht minder duftigen Walde, der nach dem Thale zu, wo das Laubholz mehr vorwiegend war, in herbstlich goldenem Schmucke dalag. Weiße Nebelstreifen zogen hier und da aus den Thälern empor, um als leichte Wölkchen die in rosigem Lichte strahlenden Höhenzüge zu umschweben, wo sie oft lange, wie gefesselt vom spielenden Sonnenglanz, der auch sie purpurn überhauchte, hafteten, bis sie, wie im Lichte zerfließend, dem Auge entschwanden, oder am blauen Aether dahin eilten und sich nach und nach den Blicken entzogen. Und wie durchschoß und durchwob die Sonne den stillen Wald! Hier streifte das Licht anmuthig schimmernd über die Wände eines der haushohen Felsblöcke, wie sie in Menge, größer oder kleiner, stellenweise den Wald bedecken, Zeugen von mächtigen Ereignissen, welche sie hinabschleuderten in die Tiefe, wo sie seitdem, überwuchert von Moos, zum Theil mächtige, sie mit den Wurzeln umklammernde Bäume auf sich tragend, einer neuen Umwälzung entgegen zu harren scheinen. Dort schlüpfte und drängte sich gleichsam das allbelebende leuchtende Element zwischen Stämmen und Felsblöcken durch, jetzt an einem mächtigen Ahornstamm emporklimmend, jetzt über die am Boden liegenden, modernden Baumriesen dahin gleitend; oder es sprang blinkend über den Gießbach weg, bis es sich an einer Matte ausbreitete und Alles mit goldigem Schein umschloß. Welcher Reiz liegt aber in einer solchen Matte oder Voralm, wie man sie heißt! Einzelne große Ahornbäume oder Buchen bilden hier wohl Gruppen, an denen gewöhnlich ein Muttergottesbild den andächtigen Jäger oder Senner fesselt. Und kommt man nun vollends in die Höhe, so daß man meistens noch unter sich zu blicken hat, dann fühlt man erst, was es bedeutet, in freier Bergluft zu stehen – es weht Dir die kleinlichen Sorgen und Erinnerungen aus der Brust. Ja, kleinlich erscheint Dir so Vieles, was Dich im schweren Odem der Städte bedrückte! Wild starren hier oben die letzten mächtigen Tannen empor oder liegen, vom Sturme gewaltsam gebrochen oder in sich selbst sterbend zusammengesunken, unter ihren theils noch trotzenden, grünenden, theils bereits ebenfalls schon abgestorbenen, aber noch stehenden, mit wallendem Baumbart geschmückten Brüdern. Noch weiter hinan streift das Auge über dunkelsaftiggrünes Laatschengebüsch, bis über diesem die hellen, leuchtenden Zacken des Gebirges sich emporrecken. Mit feierlich erhobenem Gefühl stand ich an solchen Orten und schaute zu den hellglänzenden, silbernen Wolken hinauf, wie sie emportauchten über jene Felsengipfel, oder sah in die blaue duftige Tiefe unter mir, wo der Blick von Wipfel zu Wipfel der ehrwürdigen Tannen hernieder stieg, bis er endlich auf dem in Massen zusammengehenden Walde Ruhe fand und dem Ohr das Anrecht überließ, weiter vorzudringen und dem tobenden Gießbach, den das Auge nicht mehr erreichte, zu lauschen. Was aber die Sinne nicht mehr erfassen könnten, das zaubert die Phantasie herbei. Sie folgt den unsichtbaren Wellen, um sich mit ihnen in die Gebirgsseeen zu verlieren und all die bedrängenden Erscheinungen in harmonischer Ruhe zu lösen und auszugleichen.

Noch erinnere ich mich lebhaft des unvergleichlich schönen Morgens, als ich in solchen Empfindungen schwelgte, – und als der Schrei eines Hirsches, scheinbar ganz nah, mich freudig aufschreckte. Sofort beschloß ich, mich an diesen Hirsch heranzupirschen. Als er wieder schrie, folgte ich, nachdem ich den Wind wohl beobachtet hatte, der Richtung, wo ich ihn vermuthete. Freilich war das nicht so leicht, als ich im ersten Augenblicke geglaubt hatte, da ich mich bei völliger Unkenntniß des Terrains auf Umgehung mächtiger, mir im Wege liegender Gebirgseinschnitte nicht einlassen konnte, sondern möglichst gerade auf das Ziel lossteuerte. Der öfter wiederkehrende Schrei des Brünstigen ließ mich nicht leicht irre werden und leidenschaftlich stieg, kletterte und rutschte ich immer weiter. Bald mußte ich wild durcheinander geworfene Stämme überklettern, die, zum Theil morsch oder schon verfault, das Darüberhinschreiten unsicher machten; bald ging es an Hängen hinauf und hinab, über mächtige Blöcke oder Geröll weg. Lauschend stand ich dann oft still, wenn ich einen Stein losgetreten hatte, der vollends hinabsprang in die Tiefe. Doch wieder schrie der Hirsch, da hier im Gebirge ein solches Geräusch aus verschiedenen Ursachen häufig vorkommt und das Wild nicht stört. Endlich, als ich einen tiefen Einschnitt mühsam überklettert und den Hirsch noch einmal gehört hatte, kam ich auf ein etwas tiefer liegendes, von alten Tannen umsäumtes Wiesenplätzchen. Es war ein Brunftplatz, was mir mehrere Suhlen und vom Schlagen des Hirsches weißgeschälte Baumstämmchen, so wie der durch zahlreiche Fährten zertretene Boden und endlich der Brunftgeruch des Hirsches bewiesen. Nicht lange vorher mußte der Hirsch noch hier gestanden haben, das sah man an dem aus der Suhle umhergespritzten Schlamme, der an den in der Nähe stehenden Gegenständen haftete und noch ganz frisch war. Lange Zeit stand ich hier lauschend, bis an die Knöchel im Koth und Wasser, und zwar in meinen kalbledernen Stiefeln, deren Sohlen ohnehin in ein höchst widerspenstiges Verhältniß zum Oberleder gerathen waren, während dieses in schmerzlicher Zerrissenheit über solche abnorme Zustände und Zumuthungen sich selbst aufzugeben schien. Glücklicher Weise besaß ich in meiner Reisetasche noch ein Brüderpaar, welches ich bisher von dergleichen ungewohnten Strapatzen fern gehalten hatte.

Der Hirsch hatte inzwischen aufgehört zu schreien, und schon glaubte ich, ein Stück Wild vom Trupp, den er jedenfalls bei sich hatte, hätte mich wahrgenommen, als ich, nicht weit über mir, den machtvollen Ruf wieder vernahm. Ich hörte mein Herz schlagen und rang buchstäblich nach Athem, so regte es mich auf, daß ich bald den ersten Alpenhirsch sehen sollte. Vorsichtig kletterte ich empor, was anfangs ziemlich leicht und gut von Statten ging. Aber bald erfuhr ich, daß ich mich abermals in der Entfernung getäuscht; ich mußte immer höher und höher und fand nur hier und da, wo der Boden eine weiche Stelle hatte, die Fährte, aus der ich, wie aus dem Schrei, auf den Hirsch als einen starken schließen konnte. Wieder hörte ich ihn, und nun kam es darauf an, mich auf eine teufelsmäßig steile Höhe hinanzubringen, wenn ich mit Erfolg, das heißt, unbemerkt an mein Ziel gelangen wollte. Innerhalb meines Gesichtskreises stand wenigstens kein Wild, und ich mußte daher aller Wahrscheinlichkeit nach unbemerkt bleiben, so lange ich mich von der Höhe hielt. Gelang mir’s aber, diese zu ersteigen, dann durfte ich fast mit Bestimmtheit darauf rechnen, über die andere Seite hinab den Burschen stehen zu sehen. Wohlan denn, hinauf – ich hatte keine andere Wahl! Laatschengebüsche, die hier schon vorherrschend waren, benutzte ich als natürliche Strickleitern, mit deren Hülfe ich von Plateau zu Plateau emporstieg. Oben standen ein paar verknorrte Fichten, deren struppige Zweige bis auf die Wurzeln herunterreichten. Nicht ohne Anstrengung näherte ich mich den Schutz versprechenden Wächtern dieser Zinne, bis ich die gewaltige Handhabe einer ihrer ausbiegenden Wurzeln erfassen und mich hinaufschwingen konnte. Hier barg ich mich, auf dem Bauche liegend, unter dem Gezweig. Vorsichtig hob ich den Kopf, die mir gegenüberliegende Hänge sorgfältig mit dem Auge absuchend. Da half mir der Hirsch selbst, ihn zu finden, indem er in einer Entfernung von nicht mehr als vierzig Schritten, etwas unter mir, zu schreien anfing. Er stand an einem Laatschengebüsch auf einer kleinen Grasfläche, von der aus mächtiges Geröll sich in die Tiefe erstreckte. Ueber dem Gebüsch trotzten die kahlen schneidigen Rücken einen Gebirgsjoches empor. Ein Trupp, so viel ich bemerken konnte, von zwei alten Thieren mit Kälbchen und einem Schmalthiere war der Serail des Alleinherrschers. Vollkommen außer Wind, lag ich in meinem Versteck so sicher, daß ich mit der wünschenswerthesten Muße das Treiben dieser Thiere beobachten konnte.

(Schluß folgt.)



[52]
Die Wasserspitzmäuse und die Fische.
Von Dr. Ludwig Brehm.

Obschon mir das Wort des Horaz: „Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus“[1] recht wohl in Erinnerung ist, kann ich es dennoch wagen, den geehrten Lesern einmal eine Maus vorzuführen, welche durchaus keine „lächerliche“ ist, und das geringe Ansehen, in welchem die Mäuse seit Jahrtausenden stehen, keineswegs verdient. Die Wasserspitzmaus, welche ich meine, wird gewiß sogleich an Interesse gewinnen, wenn ich vorausschicke, daß sie ganz dasselbe unter den Mäusen, was der Luchs unter den größeren Thieren ist.

Eigentlich ist die Spitzmaus gar keine Maus, sondern ein von dieser weit verschiedenes echtes Raubthier, welches sich nicht mit Nagen und Schaben an Früchten und ähnlichen Nahrungsgegenständen befaßt, sondern auf Raub ausgeht und weit größeren Thieren, als sie selbst, einen für jene höchst verderblichen Krieg erklärt hat. Sie hat mit den Mäusen nur die geringe Größe und eine ähnliche Gestalt gemein, zeichnet sich aber sofort durch ihren verlängerten Rüssel, bei genauerer Untersuchung aber besonders durch ihr Raubthiergebiß vortheilhaft aus. Letzteres weist sie auf thierische Nahrung (Würmer, Insecten und Wirbelthiere) an, ersterer dient ihr, wie dem Maulwurfe, zum Höhlengraben und trägt das äußerst entwickelte Geruchsorgan.

Ein anderes Kennzeichen der Spitzmäuse ist eine Reihe von groben Haaren an den Seiten, unter denen Drüsen liegen, welche eine besondere stark riechende Flüssigkeit ausschwitzen. Diese theilt den Thieren einen so üblen Geruch mit, daß sie von den Hauskatzen nicht gefressen, sondern nur zum Vergnügen gefangen werden. Blos die Eulen stoßen sich nicht an diesen Geruch und verzehren die ergriffenen Spitzmäuse ohne Anstand.

Alle Spitzmäuse sind höchst raubgierige, muthige und gewandte Thiere. Die gemeine Spitzmaus frißt andere Mäuse und vertilgt eine so große Menge derselben, daß diese ihrem grimmen Feinde zu entweichen suchen. Unser bekannter Dichter Welcker beobachtete, wie sie diese Jagd betreiben. Er besaß eine Spitzmaus lebend, band ihr einen festen Faden an ihren Hinterfuß und ließ sie im Freien in ein von Mäusen bewohntes Loch kriechen. Nach kurzer Zeit kam eine Ackermaus in größter Angst herausgekrochen, welcher die Spitzmaus, deren Zähne sich im Nacken des Schlachtopfers eingebissen hatten, auf dem Rücken saß. Sie saugte ihr luchsartig das Blut aus, tödtete sie in kurzer Zeit und fraß sie auf. –

Die Thiere sehen trotz ihrer kleinen Augen nicht nur bei Tage, sondern auch in nicht ganz finsteren Nächten sehr gut, graben sich Löcher, in denen sie wohnen, schlafen und hecken, sind sehr gewandte Thiere und, da sie keinen Winterschlaf halten, das ganze Jahr in Thätigkeit. Die merkwürdigsten unter allen sind die Wasserspitzmäuse. Sie haben die Größe der Hausmaus, erscheinen aber wegen ihres dichten, für das Leben im Wasser geeigneten Pelzes größer, als ihr Körper erwarten läßt. Alle sind auf dem Oberkörper glänzend, aber mattschwarz, im Winter viel schöner, als im Sommer, auf dem Unterkörper grauweiß, weißgrau oder weißlich, zuweilen rein, oft aber mit Grauschwarz, welches nicht selten ein Kreuz bildet, theilweise bedeckt. Ihr Schwanz ist schmal und behaart, nach den verschiedenen Arten länger oder kürzer und bildet ein Ruder. Um gegen das Eindringen des Wassers geschützt zu sein, ist ihr Pelz sehr dicht und mit so nahe aneinander stehenden Haaren bedeckt, daß diese vollkommen aneinander anschließen und, so lange diese Thierchen gesund sind, keinen Wassertropfen eindringen lassen; ein jeder derselben läuft von ihm ab. Sie schwimmen nicht durch Schwimmfüße oder Schwimmhäute, sondern einfach durch Schwimmhaare an allen vier Füßen. Diese Einrichtung hat in der That etwas Wunderbares. Die Schwimmhaare sind stark, ziemlich lang und stehen an den Seiten der Zehen so dicht neben einander, daß sie selbst bei ausgebreiteten Zehen, durch Muskelkraft aneinander gedrückt, keine Zwischenräume lassen. Sie leisten unseren Wasserspitzmäusen sehr gute Dienste. Wollen diese schwimmen, dann legen sie beim Vorwärtsbewegen der Füße die Zehen eng an- oder übereinander, so daß sie nur einen kleinen Raum zu durchschneiden haben. Beim Rückwärtsbewegen der Füße aber breiten sich die Zehen und Haare auseinander. Diese letzteren füllen die Zwischenräume zwischen den ersteren aus, lassen kein Wasser durch und bilden durch die breite Fläche, welche sie jetzt einnehmen, vortreffliche Schwimmfüße. Durch diese werden unsere kleinen Wasserbewohner in den Stand gesetzt, rasch zu schwimmen und geschickt zu tauchen.

Ich kenne kein anderes Thier, welches eine solche Einrichtung besitzt. Die Wasserratte hat keine Schwimmhaare und steht deswegen auch in der Geschicklichkeit, zu schwimmen und zu tauchen, weit hinter der Wasserspitzmaus zurück. Sie bedarf dieser aber auch nicht so, wie unsere Spitzmaus, weil sie nicht, wie diese, von Thieren, sondern von Pflanzen lebt.

Die Wasserspitzmaus bewohnt vorzugsweise die Gewässer gebirgiger Gegenden, am liebsten solche, in denen es auch bei der größten Kälte des Winters noch offene Stellen gibt; denn diese sind ihnen im Winter ganz unentbehrlich, um ihre Nahrung während der kalten Jahreszeit zu erlangen. Den Tag bringen sie an den von Menschen besuchten Orten gewöhnlich in den von ihnen selbst gegrabenen Löchern zu. Allein da, wo sie keine Nachstellungen zu fürchten haben, sind sie auch am Tage recht munter; besonders im Frühjahre zur Paarungszeit. Ich wünschte dem geneigten Leser, einmal das Betragen dieser gewandten Thierchen im Frühlinge mit anzusehen. Ein Pärchen derselben befindet sich in einem nur an seinen Ufern mit Rohr, Schilf oder Riedgras bewachsenen, übrigens einen freien Wasserspiegel bildenden Teiche. Jetzt kommt das Weibchen aus dem Verstecke herausgeschwommen, hebt den Kopf und die Brust aus dem Wasser empor und sieht sich nach allen Seiten um. Das Männchen, welches sein Weibchen lange gesucht hat, zeigt sich ebenfalls auf dem freien Wasserspiegel und kaum hat es den Gegenstand seiner Sehnsucht entdeckt, so schwimmt es eilig auf sein Weibchen zu. Diesem ist es aber noch nicht gelegen, seine Liebkosungen anzunehmen. Es läßt zwar das Männchen ganz nahe an sich herankommen, allein ehe es erreicht ist, taucht es plötzlich unter und entweicht weit von diesem, indem es auf dem Grunde des Teiches eine Strecke fortläuft und an einer ganz anderen Stelle, als an der, wo es untergetaucht ist, wieder emporkommt. Das Männchen hat jedoch sein Auftauchen bemerkt und eilt dem Orte zu, an welchem es sich befindet. Schon glaubt es am Ziele zu sein, da verschwindet das schnell tauchende Weibchen abermals und kommt anderswo wieder zum Vorschein. Das Männchen verfolgt es von Neuem; das Weibchen taucht zum dritten Male unter und dieses Spiel geht Viertelstunden lang fort, bis sich endlich das Weibchen dem Willen des Männchens ergibt.

Am Tage verlassen unsere Spitzmäuse ihre Löcher und das Wasser selten, des Nachts aber laufen sie gewöhnlich auf dem Ufer herum und werden dann nicht selten eine Beute der Eulen und Katzen. Da diese letzteren sie, wie schon oben bemerkt wurde, nur tödten, aber nicht verzehren, so gelang es mir, von diesen schwer zu erhaltenden Mäusen eine bedeutende Menge zusammen zu bringen. Ich suchte nämlich jeden Morgen die Ufer unserer nahe gelegenen Teiche ab und fand nicht selten eine Wasserspitzmaus, welche eine gefällige Katze für mich gefangen hatte. Die Eulen ergreifen diese kleinen Wasserbewohner nicht nur, um sie selbst zu verschlingen,[2] sondern auch, um sie ihren Jungen zuzutragen. Man findet sie oft in größerer Anzahl, als die jungen Eulen einer Brut in einem Tage verzehren können, auf dem Horste liegen.

Wir haben schon oben bemerkt, daß die Wasserspitzmäuse, wie ihre Sippenverwandten, nicht aus dem Pflanzenreiche, sondern aus dem Thierreiche ihre Nahrung nehmen. Sie verzehren Wasser- und andere Insecten, Würmer, vielleicht auch Weichthiere, lieben jedoch die Fische ganz vorzüglich. Um diese in kleinen Bächen, welche sie sehr gern bewohnen, bequem fangen zu können, treiben sie dieselben – in der hiesigen Gegend die Schmerlen und Ellritzen – in eine kleine Bucht, deren Eingang sie besetzen. Jetzt trüben sie das Wasser und bewachen den Eingang der Bucht. Sobald nun einer der genannten kleinen Fische an ihnen vorüberschwimmen will, fahren sie auf denselben zu und fangen ihn gewöhnlich; „sie fischen im Trüben“, wie das Sprichwort sagt.

Allein diese kleinen Geschöpfe richten wegen ihrer Gefräßigkeit nicht nur unter den kleinen Fischen eine Niederlage an, sondern sie [53] werden auch großen gefährlich und dadurch der Teichfischerei sehr nachtheilig. Zum Beweis für diese Behauptung erlaube ich mir, dem geneigten Leser eine alte Geschichte zu erzählen.

Vor einigen dreißig Jahren wurden im Frühjahr in dem Hainspitzer See bei Eisenberg mehrere Karpfen von 1 Pfund Gewicht und darüber gefunden, welchen die Augen und das Gehirn ausgefressen waren. Einigen von ihnen fehlte auch am Körper hier und da etwas Fleisch. Diese merkwürdige Erscheinung kam im Kahlaischen Wochenblatte zur Sprache und veranlaßt einen heftigen Streit zwischen zwei Gelehrten einer benachbarten Stadt, indem der Eine von ihnen behauptete, die Teichfrösche seien es, welche sich den Fischen auf die Köpfe setzten, ihnen die Augen auskratzten und das Gehirn ausfräßen. Dies wurde von denen geglaubt, bei welchen die Frösche überhaupt in schlechtem Rufe stehen. Diese geben nämlich dem unschuldigen Grasfrosche schuld, daß er den Flachs nicht nur verwirre, sondern auch ihn und den Hafer fresse. Auch unser alter ehrwürdiger Blumenbach wurde mit in den Streit gezogen, weil er in seiner Naturgeschichte sagt, die Frösche fräßen Fische, ja sogar Sperlinge. Der Gegner vertheidigte die Teichfrösche mit Geschick; allein ihr Ankläger war nicht so leicht aus dem Sattel zu heben. Er brachte die von der Haut gereinigten Knochen der Froschkinnladen in einer Abbildung zur Anschauung und suchte aus ihnen das Gefährliche der Teichfrösche zu beweisen. Endlich wurde auch ich ersucht, meine Stimme in diesem Streite abzugeben. Ich zeigte, um die Unschuld, den guten Namen und die Ehre der Frösche zu retten, die Unmöglichkeit des ihnen schuld gegebenen Verbrechens, da es ihnen gänzlich an Mitteln gebricht, dasselbe auszuführen; sie haben weder Nägel, um ein Auge auszukratzen, noch Zähne, die fähig wären, den ziemlich harten Kopfknochen eines großen Karpfen zu zerbeißen. Die Kinnladen und das Maul eines Frosches ähneln denen eines Ziegenmelkers. Wie dieser die Insecten wegschnappt und in seinen weiten Schlund versenkt, so fängt der Frosch die Insecten und kleineren Fische und verschluckt sie. Allein große Fische umzubringen, vermag er nicht. Ein Schultheiß der hiesigen Gegend behauptete zwar, beobachtet zu haben, daß ein Frosch einen großen Karpfen verzehrt habe; allein er mußte später gestehen, daß er den Frosch nur auf dem halbverfaulten Fische habe sitzen sehen.

So war denn die Unschuld der armen Frösche in das hellste Licht gestellt. Allein der Mörder der pfundigen Karpfen blieb unbekannt. Um nur etwas zu sagen, äußerte ich die Vermuthung, daß vielleicht die großen Wasserkäfer das Unheil angerichtet haben könnten, allein es war mir sehr unwahrscheinlich, und die Sache blieb im Dunkeln.

Ich wußte zwar, daß, wie oben bemerkt wurde, die Wasserspitzmäuse Fische fangen und ihren Laich begierig aufsuchen„ Ein Freund von mir in der Nachbarschaft bemühte sich sehr um die Forellenzucht, indem er diese künstlich aus Eiern in Kasten erzog. Hier hatte er oft mit Wasserspitzmäusen zu kämpfen. Er fand theils die Eier, theils die kürzlich ausgekrochenen Forellchen aufgezehrt, und kannte lange Zeit ihren Feind nicht, bis er eine Wasserspitzmaus bemerkte, welche durch eine sehr kleine Oeffnung unter dem Deckel des Kastens in denselben kroch und die Verwüstung anrichtete.

Auch hatte ich bei einer eingefangenen Wasserspitzmaus, welche ich lebendig besaß, die mörderische Natur derselben kennen gelernt. Die Gießkanne, in welche ich sie gesetzt hatte, war unten drei Zoll hoch mit Wasser bedeckt; ein Bretchen schwamm darin, damit die Maus einen trocknen Sitz habe. Auf dieses sprang sie, putzte sich und ruhte aus. Wenn Jemand in die Gießkanne hinein sah, flüchtete sie sich in die Röhre, in welcher sie so lange verweilte, bis sie sich außerhalb derselben für völlig sicher hielt. Ich fütterte sie mit Insecten aller Art. Einst warf ich ihr eine kürzlich getötete Ackermaus in ihr Behältniß, und sah mit Verwunderung, wie sie auf sie sprang, sich mit den Nägeln der Vorderfüße an sie festhielt, an den Seiten der Brust mit ihren scharfen Zähnen zu nagen anfing, und ihr in kurzer Zeit das Herz aus dem Leibe fraß. Auch das wußte ich, daß die Wasserspitzmäuse kleine hingeworfene Knochen von Tauben und anderen Vögeln wie die Hunde benagen. Dennoch glaubte ich nicht, daß sie es seien, welche große Fische mörderisch anfallen, bis mir der Beweis davon in die Hände kam.

Ein Bauergutsbesitzer des hiesigen Kirchspiels zieht in seinen Teichen schöne Fische und hatte im Herbste 1829 in den Brunnenkasten vor seinem Fenster, welcher wegen des warmen Quellwassers, das reichlich in ihn fließt, niemals zufriert, mehrere Karpfen gesetzt, um sie gelegentlich zu verspeisen. Der Januar 1830 zeigte eine Kälte von 22°, welche fast alle Bäche mit Eis bedeckte, eine bedeutende Strecke der Roda aber und jenen Brunnenkasten offen ließ. Eines Tages fand der Besitzer zu seinem großen Verdrusse einen Karpfen todt im Brunnenkasten, welchem die Augen und das Gehirn ausgefressen waren. Er warf den Fisch der Katze vor, und hatte nach einigen Tagen den Aerger, einen zweiten, auf ähnliche Weise zu Grund gerichteten anzutreffen. Auf diese Art verlor er mehrere Fische. Endlich bemerkte seine Frau, daß gegen Abend eine schwarze Maus an dem Kasten heraufkletterte, im Wasser herumschwamm, sich einem Karpfen auf den Kopf setzte, mit den Vorderfüßen sich an ihn festklammerte und, ehe sie im Stande war, das etwas zugefrorene Fenster zu öffnen, dem Fische die Augen ausgefressen hatte. Endlich war das Oeffnen des Fensters gelungen, und die Maus wurde zum Fliehen gezwungen, allein kaum hatte sie den Kasten verlassen, so wurde sie von einer vorüberschleichenden Katze gefangen, dieser wieder abgenommen und mir überbracht. Es ist unsere Wasserspitzmaus, und wird von mir mit einem Zettel, auf welchem ihr Verbrechen angemerkt ist, sorgfältig aufgehoben. So waren denn durch eine Frau die Mörderinnen der Karpfen im Hainspitzer See entdeckt, welche ohne ihre Aufmerksamkeit vielleicht heute noch unbekannt wären. Man sieht hieraus, wie wichtig es in Bezug auf die Naturwissenschaften ist, wenn auch gemeine Leute sich um das Betragen der Thiere bekümmern, was überall geschehen wird, wenn sie die nöthige Anleitung dazu erhalten. Ich kann mich rühmen, den Sinn für Naturbeobachtung nicht nur in dem hiesigen Kirchspiele, sondern auch in der ganzen Umgegend geweckt zu haben, was auch für mich von großem Nutzen gewesen ist und mir zu schönen Erfahrungen verholfen hat. –

Noch muß ich bemerken, daß die von mir aufbewahrte Wasserspitzmaus nicht die einzige war, welche jenen Brunnenkasten heimsuchte. Es kam eine und die andere nach ihr, was den Besitzer bewog, einen vergifteten Karpfenkopf in den Kasten zu legen und damit diese Spitzmäuse umzubringen. Es ist nun nicht unwahrscheinlich, daß diese kleinen Fischfeinde große Fische, besonders im Winter, anfallen, weil es ihnen in der kalten Jahreszeit an anderer Nahrung fehlt. Dafür spricht die eben erzählte Begebenheit und der Umstand, daß man im Frühlinge, als das Eis aufgethaut war, die getödteten Karpfen im Hainspitzer See fand. Doch verkenne ich nicht, daß es schwer zu begreifen ist, wie die Wasserspitzmäuse zu den im Winterlager befindlichen Karpfen gelangen und sie umbringen können. Vielleicht hat der genannte See, den ich nicht genau kenne, Stellen, welche im Winter nicht zufrieren und von den Karpfen, um luftfrischeres Wasser zu haben, aufgesucht werden. Ist dieses der Fall, dann wäre die Schwierigkeit sogleich hinweggeräumt. Jedenfalls verdient dieses luchsartige Morden der kleinen Mäuse genauer beobachtet zu werden. Ich erlaube mir, die geehrten Leser dieser Blätter dazu zu ermuntern.



Bilder aus dem Seeleben.

Ein tragisches Ereigniß hat in jüngster Zeit alle Gemüther erschüttert. Die Zerstörung des Hamburger Dampfschiffes „Austria“ durch Feuer hat eine so große Zahl von Opfern gefordert, wie selten der Untergang eines Schiffes. Die Trauerkunde hat durch die Presse eine so allgemeine Verbreitung gefunden und ist so vielfach und ausführlich besprochen, daß sie einer nochmaligen Wiederholung nicht bedarf. Zugleich hat jedoch diese traurige Veranlassung das allgemeine Interesse auf einen Gegenstand gelenkt, dem zwar in der Neuzeit öfter, als früher, die Aufmerksamen des Publicums zugewandt, der jedoch noch nicht so bekannt ist, als seine Wichtigkeit für das gemeinsame Vaterland verdient.

Dies ist die Schifffahrt Deutschlands, die in dem letzten Jahrzehnt einen so bedeutenden Aufschwung genommen und dadurch indirect alle Schichten der Bevölkerung mehr oder minder berührt hat. Deutschlands Handel zur See hat sich in jenem Zeitraume verdreifacht, eine Erscheinung, die einzig in der Welt dasteht. Seine Schiffe bedecken alle Meere und diese Thatsache läßt uns hoffen, daß unser Vaterland bald denjenigen Antheil am Welthandel nehmen [54] wird, den es nach seiner Industrie und seiner geographischen Lage zu fordern berechtigt ist.

Ein blühender Handel ist die Grundlage zu Wohlstand und Staatenglück; Dank der Regierung, welche eine Politik verfolgt, die auf Förderung des Handels, und zwar des Seehandels, bedacht ist. Eine solche Politik ist die einzig richtige.

Das deutsche Volk hat dies seit lange erkannt. Der hohe Enthusiasmus, welcher sich einst für die Gründung einer deutschen Seemacht zum Schutze des Handels überall kund gab, war ein Zeugniß dafür. Leider ist das Unterpfand einer deutschen Einigkeit schmachvoll zu Grunde gegangen und manche schöne Hoffnung damit zu Grabe getragen.

Doch der einmal angeregte Gedanke an eine Geltung Deutschlands zur See ist im Volke wach geblieben und die lebhafte Theilnahme, mit der es die Entwicklung der österreichischen und der jungen preußischen Marine verfolgt, zeigt, daß es von ihr die Verwirklichung des nationalen Wunsches erwartet, eine Hoffnung, die allem Anscheine nach nicht zu Schanden werden wird.

Bei diesem regen Interesse für Deutschlands maritime Beziehungen und das Seeleben im Allgemeinen dürfte es vielleicht auch unserm Leserkreise nicht unwillkommen sein, näher mit dem Elemente bekannt zu werden, das jene Beziehungen vermittelt, und einen Blick in die kleinen Welten zu werfen, die als Schiffe zu Tausenden auf den Fluthen des Oceans sich wiegen.

Es ist ein eigenes Leben am Bord eines Schiffes, so ganz verschieden von dem am Lande. Es besteht fast nur aus Mühseligkeiten, Entbehrungen und ist reich an trüben, aber desto ärmer an freudigen Wechselfällen. Trotzdem besitzt es einen unendlichen Reiz für den Seemann, der in ihm aufgewachsen ist und mit unsichtbaren Banden an sein wunderbares Element gefesselt zu sein scheint.

Fragt man den Seemann, was ihn mit solcher Zaubermacht zum trügerischen Meere zieht, so weiß er keine Antwort darauf zu geben. Es ist nicht das bloße Verweilen auf dem Schiffe, das einsame Leben am Bord, das aller Annehmlichkeiten, die unser irdisches Dasein verschönern, beraubt ist. Ebensowenig ist es Reiselust. Mit geringen Ausnahmen sieht kein Reisender weniger von fremden Ländern, die er besucht, als gerade der Seemann, da der strenge Dienst am Bord seine Gegenwart stets in Anspruch nimmt. Was kann es also anders sein, als das Meer selbst, das ruhelos wallende Meer mit seinen Schrecken, seinen Wundern, seinen Schönheiten, dessen Bild sich ihm mit unauslöschlichen Zügen tief in das Herz gräbt?

Ja, es ist schön, groß, erhaben, das Meer mit seinem tiefen Blau, dem Wiederscheine des Himmelsgewölbes, das sich in seinen Fluthen spiegelt. Es ist schön, das Meer, wenn es sich vor dem trunkenen Blicke aufrollt, ein Bild der Ewigkeit, an dessen Azurstirn die Zeit spurlos dahinzieht, ohne ihre Furchen darauf einzugraben. Es ist schön bei der Sonne goldenem Licht, wenn ihre Strahlen in seinen weiten blauen Schooß sich senken, dort Kühlung zu suchen vor der eigenen Gluth – wenn in linder Nacht der sanfte Schimmer des Mondes über seine Spiegelfläche zittert und der Sternenhimmel seine eigene Pracht in ihm bewundert – wenn es erglüht in feurigem Glanze und Millionen Funken in ihm sprühen. Wie groß, wie erhaben zeigt es sich in seinem Zorne, wenn es im Kampfe mit dem Erbfeinde die Wogen aufthürmt zu mächtiger Höhe, wenn sie kochend in weißem Schaume und donnernd zusammenbrechen, daß fast der Sturm davor erbangt! Ja, schön, groß, erhaben ist der Ocean in jeder Gestaltung. Ueberall bleibt er sich gleich, von des Nordens eisiger Küste bis zu des Südens ewigem Lenze, die er beide mit seinen Riesenarmen umfängt. Wer sollte ihn vergessen können? Wer nur einmal ihn erschaut, sehnt sich nach ihm zurück, wie viel mehr der Seemann, der seit frühester Jugend sich auf ihm gewiegt. Darum strebt er ihm, seiner Heimath, zu; darum sehnt er sich nach ihm, bis er, sein Grab geworden, mit kühlen Armen ihn umschließt und auf feuchtem Grunde ihn zum ewigen Schlafe bettet.

In solchen Umgebungen aufwachsend und lebend ist es natürlich, daß der Charakter des Seemannes sich auf andere Weise bildet, als bei den Bewohnern des Landes. Er gelangt zu schnellerer Reife, da der Ernst des Lebens ihn früher berührt. Er sieht mit kühner Ruhe den Gefahren in das Auge, da er sie täglich bekämpft und als Sieger über sie triumphirt. Er ist harmlos und vertrauend, da die Falschheit der Außenwelt ihn nicht täuscht und ansteckt. Ein Kind der Natur, fühlt er sich in ihrem Schooße am wohlsten; muthig und unverdrossen erträgt er die Beschwerden seines mühseligen Lebens und vermißt nicht die erkünstelten Reize desselben, die der übersättigte Genuß hervorruft.

Willst Du ihn kennen lernen, ihn begleiten auf seinem Wege; willst Du sehen, wie er lebt auf der schwankenden Nußschale, mit der er sich dem Oceane anvertraut, so folge mir. Lange habe auch ich auf dem Meere mich gewiegt und bin zum Manne gereift auf seinen Wellen. Was ich zu schildern versuchen will, sind Scenen aus unserem bewegten Leben, wie sie sich täglich dem Seemanns bieten.

I. Abfahrt.

Es war ein trüber, regnerischer Novembertag, so ein Tag, an dem man am liebsten im Zimmer sitzen bleibt. Auf den schlüpfrigen Straßen des sonst belebten D. war es daher auch ziemlich öde und die einzelnen Menschen, welche in Geschäften das Haus verlassen mußten, eilten so schnell als möglich, das gastliche Dach wieder zu gewinnen.

Nur am Quai des Hafens und im letzteren selbst ging es außergewöhnlich lebhaft her. Eine Menge Boote fuhren hin und her und beförderten Passagiere zwischen dem Ufer und einer Fregatte, die in der Mitte des Hafens seefertig lag. Ihr einer Anker war bereits gelichtet und sie mit Tauen an den Pfählen festgemacht. Das schöne Schiff, dessen schlanke Linien auch jedes nicht seemännische Auge erfreuten, hieß der „Seestern“, führte 50 Kanonen, die trotzig aus den halbgeöffneten Pforten schauten, und die blaue Flagge mit weißem Viereck, der blaue Peter, welcher am Vortopp, der obersten Spitze des Fockmastes, wehte, kündete den Bewohnern der Hafenstadt an, daß die Fregatte heute segeln wollte.

Auf ihrem Oberdeck sah man nur wenige Menschen. Die Mannschaft hatte Erlaubniß, bei dem Regenwetter hinunterzugehen, und außer dem Officier und einem halben Dutzend Cadetten der Wache, einigen Bootsmannsmaten vom Dienst und den Schildwachen an den Fallreepstreppen befand sich dort nur noch der erste Lieutenant. Er maß mit großen Schritten die Länge des Decks und schien in keiner rosenfarbenen Laune zu sein.

„Maas!“ wandte er sich jetzt an den Bootsmannsmat vom Hinterdeck, der sich eine Viertelstunde vergebens abmühte, die Gläser eines Fernrohres mit dem Zipfel seines nassen Halstuches zu reinigen.

„Herr Lieutenant!“ erwiderte dieser, mit seiner Sisyphusarbeit innehaltend, indem er ehrerbietig seinen Wachstuchhut lüftete.

„Ist die Gigh noch nicht in Sicht?“

„Nein, Herr Lieutenant!“

„Hol’ der Teufel die Gigh,“ brummte der Officier für sich und stampfte dabei unwillig mit dem Fuße. Die Gigh war das Boot des Capitains, dessen Ausbleiben allein das Segeln der Fregatte verzögerte.

„Zu Befehl,“ stimmte Maas bei, dem diese Phrase einem Vorgesetzten gegenüber sehr geläufig war. Der erste Lieutenant achtete nicht darauf und nahm seine Promenade wieder auf. Die Cadetten hatten es jedoch gehört und lachten, freilich nur ganz leise. Sobald der Vorgesetzte sich umdrehte, waren alle sechs kleinen Schelmengesichter wieder in die vorschriftsmäßige Dienstform gebracht. Auf Sr. Majestät Hinterdeck darf nicht gelacht werden. Arme Jugend, schon so früh wird Dir das Lachen verboten; als ob der Ernst des Lebens Dich nicht zeitig genug anhauchte!

Unten in der Batterie bietet sich den Blicken ein lebendigeres Bild. Die Batterie ist die nächste untere Etage einer Fregatte und wird so genannt, weil in ihr die meisten und schwersten Geschütze stehen, und sie die eigentliche artilleristische Stärke des Schiffes ausmacht. Hier bewegen sich eine Menge Menschen; es sind jedoch nicht alles „Blaujacken.“ Man sieht auch viele lange Röcke und hohe Hüte, die häufig ihren Eignern vom Kopfe fallen, weil sie nicht für die niedrigen Decksbalken berechnet sind. Auch bunte Kleider und Schürzen schimmern aus den verschiedenen Gruppen, die sich überall gebildet haben. Es sind Verwandte, Freunde und Bekannte vom Lande, die gekommen sind, ihren scheidenden Lieben ein letztes Lebewohl zu sagen. Ach, vielleicht ist es wirklich das letzte! Dieser Gedanke beschleicht wohl manches Herz, und manche Wimper, die im Kampfe mit Sturm und Wogen nicht gezuckt, erzittert jetzt beim Abschiede vom liebenden Mutterherzen, das in banger Ahnung schmerzlich sich zusammenzieht. Wird der theure Sohn wiederkehren, der jetzt so frisch und jugendkräftig vor ihr steht, den das treue Mutterauge seit der zartesten Kindheit behütet und der sich jetzt dem trügerischen Meere anvertraut? Gott allein weiß es; so mancher lebensfrohe Jüngling zog auf gleiche Weise hinaus, und seine Gebeine [55] ruhen fern von der Heimath an fremder Küste oder bleichen auf dem Meeresgrunde zwischen Muscheln und Korallen.

Doch nicht alle Gruppen sind von gleich schmerzlichen Gefühlen bewegt. Wie in der großen Welt da draußen, gehen auch in dieser kleinen Trauer und Freude neben einander her, und an Contrasten fehlt es auch hier nicht.

Dort sucht ein ehrsamer Schuhmachermeister vergebens nach einem lockern Matrosen, der seine Schuld nach beliebter Weise mit dem Vormarssegel bezahlen und die Quittung auf das Kielwasser schreiben will. Der lose Vogel hat sich im Wasserraum versteckt, und der forschende Gläubiger wird von den Cameraden des Schuldners von Pontius zu Pilatus geschickt, und erhält schließlich auf alle seine dringenden Fragen nach dem Verschwundenen die eine Antwort: „Ueber Bord,“ bis er, die Fruchtlosigkeit seines Suchens einsehend, den Rückzug über die Fallreep antritt und seufzend an das umsonst verausgabte Fahrgeld denkt.

Hier steht ein altes Mütterchen vor einem blühenden Knaben, der kürzlich als Schiffsjunge eingekleidet ist, aber bereits so keck und verwegen darein schaut, als habe er Gott weiß wie oft die Linie passirt. Die Großmutter gibt ihm gute Regeln auf den Weg und prägt ihm besonders ein, sich vor nassen Füßen zu hüten und nicht auf die Masten zu klettern. Der Enkel hört jedoch nur mit halbem Ohre auf die Ermahnungen und schielt beständig nach einem Korbe, den die alte Frau als Geschenk zu seinem nächstens eintretenden Geburtstage mitgebracht hat. Er mustert im Geiste den aus Kuchen und andern wohlschmeckenden Sachen bestehenden Inhalt und beschließt, mit Umgehung aller Kalenderordnung seinen auf den 2. December fallenden Geburtstag unmittelbar auf den heutigen 20. November folgen zu lassen. Obwohl er erst wenige Tage das Schiffsleben kennt, sagt ihm bereits sein Instinct, daß an Bord, wo ohnehin der Raum so beschränkt ist, dergleichen Gegenstände am sichersten im eigenen Magen aufgehoben sind. Vorn bei der Schiffsküche, der Kombüse, geht es etwas lauter her, als sonst die Schiffsordnung gestattet. Der Thierbändiger, wie die Schiffsjungen ihren als Viehwärter bestellten Cameraden betiteln, hat die Thür des Schweinestalles offen gelassen, und ein entwichenes Stück Schwarzwild, das durch die Batterie galoppirt und den Leuten zwischen den Beinen durchfährt, wird mit lautem Jubel verfolgt und wieder eingefangen. Der Thierbändiger erhält für dies Versehen von dem Koch, seinem speciellen Vorgesetzten, eine handgreifliche Ermahnung, die er sofort mit Zinsen an den eigentlichen Uebelthäter weiter gibt.

Unten in der Cadettenmesse, die an Backbordseite im hintern Zwischendeck gelegen ist und durch einen Abschlag von zwanzig Fuß Länge und sechs Fuß Breite gebildet wird, geht es gleichfalls lustig her. Ein langer Tisch und zwei zu dessen Seiten laufende Bänke lassen zwar für jeden Cadetten nur einen Sitzplatz von achtzehn Zoll Breite, jedoch liefert das Local den Beweis, daß auch in der kleinsten Hütte nicht nur Raum für ein liebendes Paar, sondern auch für das Vergnügtsein von einigen zwanzig Seecadetten sein kann. Einige der letztern sind schon öfter zur See gewesen, die meisten jedoch noch „grün“, d. h. sie haben noch kein Salzwasser gesehen. Diese blicken mit einer Art ehrfurchtsvoller Scheu auf die älteren Cameraden, die nicht verfehlen, durch Schilderungen von allen möglichen Erlebnissen sich mit einer Glorie zu umgeben. Zwar durchweben sie ihre Erzählungen, die fast nur von den verschiedenen Gefahren reden, aus denen sie das Schiff gerettet, mit allen möglichen technischen Ausdrücken und machen sie dadurch den Neulingen nur halb verständlich; aber das gibt der Sache gerade mehr Reiz. Eine Abschiedsbowle hat die jungen Leute in ihrer Kammer versammelt und bereits so auf ihre Geister eingewirkt, daß sich sämmtliche zwanzig an der Unterhaltung betheiligen, und diese dadurch ungemein lebendig wird. Plötzlich wird die Sitzung durch einen Sendboten des ersten Lieutenants und den Befehl unterbrochen, auf das Deck zu kommen. Hastig werden die Gläser geleert und die ganze Schaar begibt sich eilig zu dem strengen Vorgesetzten.

„Ich wollte Ihnen nur mittheilen, daß Sie in Zukunft sich in Ihrer Kammer etwas ruhiger zu verhalten haben,“ redet dieser sie an, „am Bord eines Kriegsschiffes muß stets die größte Ruhe herrschen. Bitte, sich danach zu richten; Sie können gehen.“

Alle beeilen sich, dem Befehle sofort nachzukommen und den Rest der Bowle zu vertilgen, doch das Schicksal ist ihnen nicht hold und mißgönnt ihnen die Freude. Im selben Augenblicke meldet der Bootsmannsmat die Gigh in Sicht und für die nächsten Stunden ist an kein ungestörtes Beisammensein zu denken.

„Wache an Deck, Fallreep,“ tönt das Commando des wachhabenden Officiers.

Die Gewehre und Helme der Seesoldaten rasseln, die Wache stürzt eilig auf das Deck, formirt sich und faßt das Gewehr an, scheinbar jedoch nicht mit dem gehörigen avec, denn man hört den Unterofficier leise fluchen: „Gott verd– mich, Kerls, was war mich das für ein Griff!“ Die Cadetten lachen wieder, aber leiser, wie vorher – der Capitain kommt.

Auf einen eigenthümlichen Ruf der Bootsmannspfeife springen vier hübsche Knaben, die Fallreepsjungen, durch die Luken herauf und postiren sich an die Treppe, um dem Ankommenden die Taue zu halten. Ihr kleidsamer Anzug sitzt ihnen wie angegossen und die Hüte mit langflatterndem Seidenbande sind keck auf dem Kopfe nach hinten geschoben. Maas, der Bootsmannsmat, wirft einen prüfenden Blick auf sie, zieht die Beinkleider in die Höhe und verzieht sein hartes, wettergebräuntes Gesicht zu einer schmunzelnden Grimasse. Dies ist ein Zeichen der Zufriedenheit mit dem Aussehen der Knaben, deren Seevater er ist, d. h. deren seemännische Erziehung ihm speciell übertragen ist.

Erster und wachehabender Officier haben den Hut aufgesetzt und den Säbel umgeschnallt, und stehen an der Fallreep. Alle übrigen Officiere und Mannschaften treten nach der entgegengesetzten oder Backbordseite des Schiffes, der Bootsmann pfeift die Seite und Capitain Tratsert, Befehlshaber Sr. Maj. Fregatte Seestern, betritt das Deck. Alles greift ehrerbietig an die Kopfbedeckung und begrüßt den König des kleinen schwimmenden Fahrzeuges.

Capitain Tratsert hat indessen wenig Königliches an sich, ist klein und mager von Figur. Neben der stattlichen großen Gestalt des ersten Lieutenants erscheint er sehr unvortheilhaft. Er wechselte mit Letzterem einige Worte und verschwand gleich darauf in seiner Cajüte. „Lassen Sie alle Mann aufpfeifen,“ wendete sich der erste Lieutenant an den Officier der Wache, indem er die Commandobank bestieg. Der Bootsmann lockt mit einem Signal seine Maten, welche sich an die Luken der verschiedenen Decke begeben, und ein schrillendes Sextett von drei langen Rollpfiffen, das in die entlegensten Winkel des Schiffes dringt, avertirt die Mannschaft. Eine Todtenstille folgt und Jeder lauscht. In einem Basse, der in der übrigen Welt seines Gleichen sucht, aber unerläßliche Eigenschaft eines guten Bootsmannes ist und deshalb bei den Seeleuten Bootsmannsbaß heißt, donnert das „Alle Mann auf, klar zum Manöver!“ in die Räume hinunter und findet ein Echo in den Bootsmannsmaten, die in den untern Verdecks die Befehle repetiren.

Jetzt folgt der Stille ein Gepolter und Summen und Lärmen, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen kann. Vierhundertfunfzig Paar Beine setzen sich plötzlich in Bewegung und stürmen die Treppen hinauf, um sich auf dem Oberdeck in Manöverdivisionen zu formiren. Nach zwei Minuten ist Alles oben und es herrscht abermals die größte Stille.

Bei „Alle Mann auf“ übernimmt stets der erste Officier das Commando und der Wachehabende begibt sich auf seine Station.

„Boote heißen, Fremde von Bord,“ ertönt es von der Commandobank. Die Bootsgasten springen in ihre Fahrzeuge, die übrigen Leute bemannen die Bootstaljeläufer und der Stabswachtmeister ermahnt die Fremden, je nach Alter und Geschlecht mehr oder minder höflich, das Schiff zu verlassen.

Die bittere Scheidestunde ist gekommen. Noch ein warmer Händedruck, ein seelenvoller Blick wird ausgetauscht mit den Lieben, und dann bleibt nur – die Erinnerung. Doch jetzt ist nicht die Zeit, trüben Gedanken nachzuhängen, die Boote werden an ihren Strähnen aufgeheißt und das Commando „Klar zum Untersegelgehen“ beschäftigt alle Gemüther. Das Gangspill wird bemannt, die Musik spielt eine heitere Weise und unter dem taklmäßigen Marsche der Matrosen um die Ankerwinde hebt sich die Kette Glied für Glied aus dem Wasser.

„Der Anker ist auf und nieder,“ meldet der Officier auf der Bank. Die Musik schweigt, die Winde steht still und die Segellöser, welche das jetzt folgende Commando schon kennen, haben sich bereits an den Wanten aufgestellt.

„Segel los,“ lautet der Befehl, und im Nu wimmeln die Wanten von Blaujacken. Sie klettern wie die Katzen in den Strickleitern empor, Einer sucht dem Andern zuvorzukommen; wagehalsig laufen sie, ohne sich anzuhalten, auf den Raaen hinaus und in anderthalb Minuten sind alle die sauber aufgerollten Segel von den flinken Burschen gelöst. Auf das Commando „Fallen“ rauschen [56] die schweren Segeltuchmassen hernieder, die Schooten werden hervorgeholt und die Raaen fliegen in die Höhe. Wo sich vor einem Augenblicke noch die schmalen Linien symmetrisch gestellter Raaen zeigten, bedecken jetzt ungeheuere Flächen von schneeweißer Leinwand Masten und Stengen. Die Segellöser sind aber längst wieder unten, das Gehen war ihnen zu langweilig, sie ließen sich an einzelnen Tauen herniedergleiten, nur die Toppsgasten, welche in den Marsen oder Mastkörben die Wache haben, sind oben geblieben. Die Raaen werden jetzt in’s Kreuz gebrasst, um das Schiff beim Loslassen des Ankers sogleich auf den richtigen Curs bringen zu können. Abermals ertönt die heitere Melodie der Musik, abermals der taktmäßige Marsch um das Spill, der Anker hebt sich langsam aus dem Grunde, und, dem Drucke der backgelegten Vordersegel nachgebend, fällt das Schiff allmählich ab. Als die Hintersegel füllen, werden die vorderen mit ihnen parallel gestellt; die bisher abtreibende Fregatte steht einen Augenblick still, dann kräuselt sich leichter Schaum vor ihrem Bug, das Kielwasser bildet eine gerade Linie und mit wachsender Schnelligkeit treiben die vom günstigen Winde geschwellten Segel das schöne Schiff durch die glatte Wasserfläche. Das ganze Manöver hat zehn Minuten gedauert.

Die Arbeit ruht einen Augenblick. Die Blicke wenden sich unwillkürlich dem verlassenen Ufer zu; dann schaart sich Alles um die Want an. Auf ein stummes Zeichen wimmelt es wieder in der Takelage von Matrosen, doch diesmal sind es nicht allein die Segellöser, sondern Alle, Alle, und sie entern ohne Commando auf. Ein donnerndes Hurrah erschallt aus den Kehlen; es ist der letzte Abschiedsgruß an die Heimath, an das geliebte Vaterland, dem man auf so lange Zeit Lebewohl sagt. Der erste Lieutenant rügt nicht das Aufentern ohne Befehl. Er stimmt nicht mit in den Hurrahruf, er hat kein liebendes Herz zurückgelassen, er steht ganz allein in der Welt, aber vielleicht ist’s gerade dies, was ihm eine Thräne in’s Auge treibt, die brennend und heiß über die gebräunte Wange rinnt.

Immer weiter entfernt sich das Schiff vom Ufer, pfeilschnell fliegen Felder und Auen vorüber. Das Wehen der weißen Tücher dauert noch fort, es bildet die letzte Brücke, über welche die Gedanken der durch das Meer Geschiedenen zu einander fliegen. Da senkt sich ein grauer Nebel herab und verhüllt grausam den letzten schimmernden Streifen der heimathlichen Küste.

Der Seestern hat die Mündung des Flusses erreicht. Sein schmutzig gelbes Wasser wird heller und mischt sich hier und dort mit grünen Streifen des nahen Meeres. Die Wellen umspülen tanzend und hüpfend den schlanken Bug der Fregatte, als wollten sie mit ihr schäkern. Doch die Stolze achtet nicht der schmutzigen Gesellen; majestätisch bahnt sie sich den Weg durch das Wasser und immer schneller rauscht sie dahin. Fast ist es, als zöge es sie mit Zaubergewalt zu den krystallenen Fluthen des Oceans, die dort in der Ferne im reinsten Smaragd und in den Strahlen der durchbrechenden Sonne erglänzen. Dort auf der freien, unbegrenzten Ebene des Meeres ist der Tummelplatz der stolzen Schönen, nicht aber in dem trüben eingezwängten Flusse.

„Segler voraus!“ ertönt der Ruf des Ausguck auf der Vormarsraa. Die Fernröhre richten sich auf das gemeldete Fahrzeug, das, kaum als ein weißer Punkt am Horizonte bemerkbar, schnell emporwächst und mit fliegender Fahrt der Fregatte entgegensteuert. Seine Bauart und die am Topp seines Fockmastes wehende Signalflagge bezeichnen das Lootsenboot. Es hat die Lootsenflagge der Fregatte erkannt und kommt, um den Lootsen abzuholen, der den „Seestern“ durch die Sandbänke in der Mündung des Flusses geleitet.

Das „Alle Mann klar zum Manöver!“ bringt Jedermann schnell auf seine Station. Die Untersegel werden eingenommen, die Raaen am Großmast gegen und die übrigen scharf an den Wind gebracht. Auf „Ruder in Lee“ dreht sich dies unter den Händen der steuernden Matrosen nach der bezeichneten Seite, und das Schiff folgt den Wirkungen desselben, indem es sich mit dem Vordertheile gegen den Wind dreht. Dieser kommt allmählich von der Seite ein und wird dadurch stärker. Die Fregatte legt sich auf die Seite und das Tauwerk reckt sich und knackt, als ob es seine Stärke probiren wollte. Jetzt trifft er von vorn auf die backgelegten Segel, der dadurch ausgeübte Druck hemmt die Fahrt und in wenigen Minuten liegt das Schiff beigedreht, d. h. es geht nicht mehr vorwärts, sondern treibt nur langsam leewärts ab. Das Lootsenboot ist längseit gekommen; der Lootse, umringt von einem Theile der Mannschaft, steht an dem Fallreep, und packt die noch in Eile geschriebenen Briefe in seinen wasserdichten Kleidersack. Mit flüchtigem Händedruck und dem seemännischen Gruße „Behaltene Reise“ springt er in das kleine Fahrzeug, das seitwärts abscheert, um der Fregatte Raum zum Manövriren zu geben.

„Braßt voll!“ erschallt die Stentorstimme des ersten Lieutenants durch das Sprachrohr, accompagnirt von den Pfeifen der Unterofficiere. Die Raaen fliegen herum, die backgelegten Segel füllen, das Schiff erhält Fahrt und fällt langsam auf seinen Curs. Bald schäumen die Wellen von Neuem vor seinem Bug und die blähenden Segel treiben es pfeilschnell von dannen. In der entgegengesetzten Richtung segelnd, verschwindet das Lootsenboot im Nebel, der sich zwischen der Fregatte und dem Land gelagert.

An Backbord taucht ein anderes Fahrzeug aus den Fluthen empor, doch es führt kein Segel und schwankt wie ein Gespenst auf dem bewegten Wasser. Es ist das Feuerschiff, das dort in offener See ankert und die Schiffe vor einer gefährlichen Untiefe warnt. Aengstlich flieht jedes Fahrzeug seine Nähe. Einsam und verlassen, ein verlorener Posten des Landes, schaukelt es sich auf den Wogen, zur Gesellschaft nur den Sturm und die Möven, die schreiend und flatternd seine kahlen Masten umkreisen.

Das Deck der Fregatte ist aufgeklart, Boote und Geschütze sind seefest gemacht, und für die übrig bleibende Arbeit ist die ganze Mannschaft nicht mehr erforderlich. Steuerbordswache, die eine Hälfte der Besatzung, wird gemustert, der Officier der Wache übernimmt den Befehl, und Backbordswache kann vier Stunden unter Deck gehen und der Ruhe pflegen.

Heute jedoch wird die Freizeit nicht zum Schlafen benutzt. Die Eindrücke der letzten Stunden sind noch zu frisch, die Erinnerungen noch zu neu, um ihnen nicht nachzuhängen und das volle Herz den Freunden gegenüber auszuschütten. Bald haben sich die Tischcameraden zusammengefunden und an der gemeinschaftlichen Bank Platz genommen. Ueberall sieht man plaudernde Gruppen, und in der Officier- und Cadettenmesse werden die unterbrochenen Abschiedsbowlen fortgesetzt. Nur ein alter Bootsmannsmat, sonst einer der heitersten Gesellschafter, geht einsam und sinnend in der Batterie auf und ab. Vergebens sucht sein Freund Maas den alten Leberecht aufzuheitern; es gelingt ihm nicht, den Schweigsamen zum Sprechen zu bringen.

„’S ist Freitag,“ murmelte er, als Maas ihn verlassen; „sie lachen darüber,“ setzte er kopfschüttelnd hinzu, „aber ich weiß es besser, Freitagsegeln bringt nimmer etwas Gutes.“




Blätter und Blüthen.

Mit Bezug auf den Artikel des Rechtsanwalt Thesmar in Cöln: „die Privat-Irrenanstalten“ geht uns die nachfolgende Erklärung zu, die wir ohne Randbemerkung abdrucken lassen. Wir müssen selbstverständlich es dem Verfasser erwähnten Artikels überlassen, den Beweis der Wahrheit für die in seinem Artikel angeführten Behauptungen beizubringen. D. Redact.     

Erklärung. Die unterzeichneten Aerzte der Stadt Bonn halten es für ihre Pflicht, zur Rechtfertigung ihres in Nummer 49 dieses Jahres dieser Zeitschrift hart angegriffenen, ehrenhaften Collegen Dr. Hertz hiermit die Erklärung abzugeben, daß sie nach gewissenhafter Prüfung der betreffenden Thatsachen die Ueberzeugung gewonnen haben, daß die daselbst genannte Frau Geheimräthin Egen als wirklich geisteskrank in die Anstalt des Herrn Dr. Hertz gekommen und während der ganzen Dauer ihres Aufenthaltes daselbst geisteskrank geblieben ist; daß sie ferner in diesem Zustande die Anstalt am 5. September 1856 verlassen hat und am 1. October desselben Jahres einer andern Irrenanstalt übergeben worden ist, worin sie gegenwärtig noch verweilt.

Betreffs der in demselben Aufsatze enthaltenen Verdächtigung gegen die Anstalt unseres würdigen und allgemein geachteten Collegen Herrn Dr. Richarz in Endenich bei Bonn können die Unterzeichneten, gestützt auf eigene Anschauung und Kenntniß dieser Anstalt, nicht umhin, mit voller Ueberzeugung zu erklären, daß sich diese Anstalt, gleich wie jene des Dr. Hertz, durch die humane und liebevolle Behandlung, sowie durch die vortreffliche Pflege und Beköstigung, welche den Kranken in derselben zu Theil wird, wahrhaft auszeichnet. Die Angaben über die Einnahme besagter Anstalt, wie sie in jenem Aufsatze zur Stütze der Verunglimpfungen angeführt wird, muß als maßlose Uebertreibung bezeichnet werden.

Dr. Binz, Dr. Böcker, königlicher Kreisphysikus, Dr. Claus,
Dr. Fleischer, Dr. Kalt, Dr. Klein, Dr. Lange, Dr. Leo,
Dr. Nettekoven, Sanitätsrath, Dr. Parow, Dr. Schäfer,
Dr. Schäffer, Dr. Ungar, Dr. Velten, Sanitätsrath, Dr. Vogel,
Dr. Wieler, Sanitätsrath, Dr. C. Wolff, Dr. H. Wolff, Geh.
  Sanitätsrath, Dr. Zartmann.

Bonn, am 13. December 1858.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es kreißen die Berge und gebären eine lächerliche Maus.
  2. Die Schleiereulen verschlucken sie ganz.