Buchbesprechungen: 1871–1918
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Volker Rößner und Helmut Hammerich, Die Familie Fuchs von Bimbach und
Dornheim im Deutschen Kaiserreich. Ein Lebensbild in Briefen aus dem
Nachlass des Reinold Frhr. Fuchs von Bimbach und Dornheim (1845–1903).
Unter Verw. von Vorarbeiten von Monica v. Deuster-Fuchs von Bimbach
und Dornheim und Wilhelm Pierau, [Würzburg:] Ges. für fränkische Geschichte (Stegaurach: Wiss. Kommissionsverl.) 2011, 1032 S. (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe IX: Darstellungen
aus der fränkischen Geschichte, 57), EUR 49,80 [ISBN 978-3-86652-957-1]
Die »Briefkultur« zählt seit jeher zu den kulturellen menschlichen Schlüsselerrungenschaften, und Briefe als normative Geschichtsquelle waren von »ganz außerordentlicher Bedeutung«: Die antiken »Armarna-Briefe« etwa eines Pharaos Echnaton († um 1334 v.Chr.) bildeten eine Art »Internationaler Korrespondenz« im
»Fruchtbaren Halbmond« in akkadischer Keilschrift auf Tontafeln. Kein Geringerer
als Johann Gustav Droysen († 1884) klassifizierte »die Briefe« quellenmäßig in seinem geschichtsphilosophisch bis in die Gegenwart beispiellos Maßstäbe setzenden
Werk »Grundriss der Historik« (1868) als der »pragmatische[n] Reihe« der Quellen zugehörig. Aus der Zeit des zweiten Deutschen Kaiserreichs liegt nun eine sehr
bedeutsame Briefsammlung vor, welche Volker Rößner und Helmut Hammerich
im Gefolge jahrelangen Sichtens und Transkribierens herausgegeben haben: den
Briefwechsel der fränkischen Familie Fuchs von Bimbach und Dornheim im Deutschen Kaiserreich aus der Zeit von September 1883 bis zum August 1905 (S. 965) –
eine wahrhafte Herkulesarbeit. Die tiefen Einblicke nicht nur in die Familiengeschichte derer von Fuchs, welche die Korrespondenz gewährt, nimmt in dem
opulenten Werk über 900 Seiten ein. Die erschöpfende Briefesammlung der Familie Fuchs von Bimbach und Dornheim lässt die bewegte Zeit des Bismarckreiches
und der wilhelminischen Epoche historiografisch in all ihren gesamtgesellschaftlichen Facetten nochmals aufleuchten, und auch der geschichtswissenschaftlich
nicht Vorgebildete kann sich den unwiederbringlichen Lebenswelten der Belle Époque kaum entziehen.
Reinold Freiherr Fuchs von Bimbach und Dornheim (1845–1903) war bayerischer Generalleutnant und Präses der preußischen Artillerie-Prüfungs-Kommission. Er wurde als Artillerie- und Munitionsexperte 1881 nach Berlin berufen, wo
er als Angehöriger der königlich preußischen Artillerie Prüfungskommission zum
Referenten für den Schweren 21-cm-Mörser bestellt wurde. Reinold Fuchs von
Bimbach firmierte auch als Meister der Technik des Schießens aus »gedeckter Stellung gegen verdeckt aufgestellte Ziele«. Tatsächlich stand die damalige deutsche
Waffenentwicklung ganz im Zeichen einer Option »Zwischen Beharren und Verändern«. Für eine »Neuorientierung der Artillerieverwendung« hatte sich schon
früh Hellmuth von Moltke d.Ä. ausgesprochen. Reinold Fuchs von Bimbach arbeitete auch an der Entwicklung von rauchfreiem Pulver. Wegen seiner hohen waffentechnischen Kompetenz avancierte Fuchs von Bimbach im Jahre 1895 zum Präses
der Artillerie-Prüfungs-Kommission und wurde für Kaiser Wilhelm II. unentbehrlich, sodass der Monarch im März 1903 ein »Abschiedsgesuch« des Generalleutnants ablehnte (S. 990).
Die Familie von Reinold Freiherr Fuchs indessen verbrachte die Sommerfrische
stets auf ihrem fränkischen Besitz, Schloss Burgpreppach, auch um dem mittlerweile seit 1890 in der Garnisons- und Domstadt Bamberg als Ulanenoffizier dienenden Sohn Otto Ernst (1871–1915) »nahe zu sein«. Die Briefedition lässt auch die
© ZMSBw, Potsdam, DOI 10.1515/mgzs-2014-0008
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deutsche Sozialpolitik – etwa die Arbeitslosenkrawalle in Berlin Ende Februar 1892
(S. 348) – sowie die Kolonialpolitik im Kaiserreich Revue passieren. Otto Ernst (Erl),
der sich als Freiwilliger zu dem internationalen Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxeraufstandes in China melden wollte, schreibt am 4. Juli 1900 an seine
Mutter Rosa: »Was sagst du zu meinen China-Plänen? Bitte sei nicht dagegen, ich
möchte auch einmal irgend etwas leisten und mich auszeichnen. Die Gefahr ist
auch nicht größer wie wo anders und unser Leben und Gesundheit p. ist überall
in Gottes Hand.« Im Januar erhielt Reinold Baron von Fuchs den Roten-Adler-Orden 1. Klasse, nachdem maßgeblich auf sein Betreiben hin das Feldgeschütz C/96
im Jahre 1900 mit dem Rohrrücklaufsystem der Firma Rheinmetall nachgerüstet
worden war. Der Briefwechsel, welcher ȟber 20 Lebensjahre einer Adelsfamilie
im Deutschen Kaiserreich exemplarisch widerspiegelt« (S. 966), findet sein Ende
mit dem Tod von Rosa Freifrau Fuchs von Bimbach und Dornheim am 5. August
1905. Zu Recht heißt es am Ende des »Buchklappentextes«: »Bei der Lektüre wird
die ›Welt von gestern‹ wieder lebendig.«
Rößner und Hammerich haben in ihrem voluminösen Werk alles darangesetzt,
ihren Lesern die wahrhaft komplexe Lebensgeschichte der fränkischen Adelsfamilie Fuchs von Bimbach und Dornheim im Zweiten Deutschen Kaiserreich im Gefüge ihrer bewegten Lebenswelten in Burgpreppach, Bamberg, Berlin und München nahezubringen. Eine Entstehungsgeschichte des Buches und eine Danksagung
an zahlreiche Personen und Institutionen leiten das Opus ein. Anschließend werfen die Autoren einen schlaglichtartigen Blick auf die Herkunft Reinold Fuchs von
Bimbachs, der laut einem Selbstzeugnis »eine der wichtigsten Stellungen der deutschen Armee« bekleidete, seinen »Weg nach Berlin« und auf die Familiengeschichte
derer von Fuchs im 19. Jahrhundert. Sodann stellt per se der »Briefwechsel« den
unangefochtenen Hauptteil des Werkes dar (S. 47–965). Sehr nützlich sind die Zwischentexte der Editoren, die einzelne Briefbündel historisch kontextualisieren. Ein
»Epilog« berichtet unter anderem vom weiteren Lebensschicksal der Kinder – Erl
starb im August 1915 »an den Folgen einer Blinddarmoperation, unwissend, was
seine Kameraden noch zu erleben haben werden«. Erl sollte auch tragischerweise
seine im September 1915 geborene Tochter Marie-Therese, genannt »Thesy«, nicht
mehr kennenlernen. Sodann runden eine übersichtliche Zeittafel, ein Glossar und
Abkürzungsverzeichnis sowie eine zehntafelige Genealogie dieses ganz hervorragende und wunderschön bebilderte Buch ab. Fast dreihundert, zum Teil ganzseitige Schwarzweiß- und Farbabbildungen, die behutsam zwischen die Briefe eingefügt wurden, illustrieren die Lebensumstände einer Soldatenfamilie im
19. Jahrhundert. Die Briefe, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, gewähren dem Leser einen unvermittelten Einblick in das Privatleben einer adeligen
Familie. Darüber hinaus bieten sie militärgeschichtlich relevante Erkenntnisse,
zeichnete doch Baron Fuchs für entscheidende Neuerungen der Artillerie, wie die
Einführung der Brisanzmunition oder das Schnellfeuergeschütz durch die Rohrrücklauftechnik, bis 1903 verantwortlich. Seine Zeilen über die zahlreichen dienstlichen Begegnungen mit den Kaisern Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II., den
Generalen Moltke d.Ä. und Schlieffen, sind lesenswerte Charakterskizzen.
Insgesamt trägt die Erschließung dieses spannenden Quellenbestandes aus Privatbesitz dazu bei, die politischen und militärischen Mentalitäten des deutschen
Adels im 19. Jahrhundert zu verstehen. Damit leistet der Band auch einen wichtigen Beitrag zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges.
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Die Weissagung des Reinold Freiherr Fuchs von Bimbach und Dornheim vom
5. Juni 1887 hat sich damit erfüllt: »Wenn einmal mein Nachlaß geordnet wird,
werde ich durch diese Insulten in ein schönes Licht gestellt« (S. 11).
Michael Peters
Heiko Herold, Reichsgewalt bedeutet Seegewalt. Die Kreuzergeschwader der
Kaiserlichen Marine als Instrument der deutschen Kolonial- und Weltpolitik 1885 bis 1901, München: Oldenbourg 2013, VIII, 472 S. (= Beiträge zur
Militärgeschichte, 74), EUR 44,80 [ISBN 978-3-486-71297-1]
Bis vor wenigen Jahren hat die historische Forschung zur Ära Tirpitz das Bild von
der Kaiserlichen Marine geprägt. Der Schlachtflottenbau ab 1898 und seine Bedeutung für den deutsch-britischen Flottenantagonismus, der schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wesentlich beigetragen habe, bestimmte den Fokus
und das Interesse der Historiker. Die Jahre von 1872 bis 1897, immerhin ein Vierteljahrhundert, führten selbst für Kenner der Materie ein bisweilen merkwürdig
ereignis- und konturloses Schattendasein und erschienen gemeinhin als »verlorene Jahre« (Tirpitz) vor dem oder für den Schlachtflottenbau. Diese Sicht auf die
Dinge beginnt sich erfreulicherweise zu wandeln. Die Marine der 1870er bis 1890er
Jahre gewinnt – auch vor dem aktuellen Hintergrund der Aufgaben der Deutschen
Marine – an Forschungsinteresse und reift zu einer eigenständigen Forschungsthematik. Freilich, die Anzahl einschlägiger Arbeiten ist zwar noch immer recht
übersichtlich, so gibt es etwa die Studie von Lawrence Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, oder die Arbeit von Dirk Sieg zur Ära Stosch; ihre Qualität jedoch ist hervorragend, und das ist ermutigend. Interessanterweise sind bislang die Flottengründungspläne der Kaiserlichen Marine jener Jahrzehnte nur wenig beleuchtet
worden, vielleicht weil sie weit hinter den Dimensionen der Ära Tirpitz zurückblieben und die Flotte in der Heimat nur langsam und ohne weitreichende politische und militärtechnische Implikationen wuchs. Dagegen rückt die Auslandstätigkeit der Kaiserlichen Marine in den Vordergrund. Denn im Rahmen des
Übergangs zum Kolonialismus ab 1883/84 und gemäß des »Neuen Kurses« bzw.
der »Weltpolitik« wilhelminischer Prägung war »etwas los« in Übersee. Der »Platz
an der Sonne« war gemäß allgemein zu beobachtender imperialer Rücksichtslosigkeit nicht ohne Gewaltanwendung gegen die indigene Bevölkerung bzw. ohne
Reibereien mit rivalisierenden Mächten zu haben. Neben der bereits 1981 erschienenen, grundlegenden Quellenedition von Willi A. Boelcke (So kam das Meer zu
uns) haben in den letzten Jahren etwa Gerhard Wiechmann, Ragnhild Fiebig-von
Hase, Cord Eberspächer, Terrell D. Gottschall oder Peter Overlack das Mosaikbild
der Auslandseinsätze deutscher Kriegsschiffe vor 1914 bereits mit vielen Steinchen
erkennbar zusammengefügt.
Die vorliegende Arbeit von Heiko Herold hat sich zum Ziel gesetzt, die Einsätze der verschiedenen Kreuzergeschwader der Kaiserlichen Marine einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Die an der Heinrich Heine-Universität in Düsseldorf entstandene Dissertation beschränkt sich dabei auf den Zeitraum von
1885–1901, da die Jahre zuvor etwa von Dirk Sieg bearbeitet wurden und die Jahre
danach eher der Verwaltung der Weltpolitik in Ostasien und der Südsee gewidmet waren. Die Studie arbeitet vor einem politischen, operationsgeschichtlichen
und marineadministrativen Hintergrund die »politisch-militärischen Praktiken
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zur Wahrung und Durchsetzung der deutschen Interessen in Übersee in der Phase
des Hochimperialismus« (S. 385) heraus. Im Mittelpunkt der Schilderung stehen
zunächst ad hoc zusammengewürfelte Kreuzerverbände, die, wie in Kamerun
1884/85, Aufstände gegen die neue deutsche Verwaltung gewaltsam zu »befrieden« und eine andauernde »Duftmarke« sowohl gegenüber den Einheimischen
vor Ort als auch gegenüber lauernden Konkurrenten zu setzen hatten. Diese ersten kolonialpolizeilichen Einsätze der Marine, die auch ein als belastend empfundenes Nachholbedürfnis gegenüber den Erfolgen des Heeres 1870/71 befriedigten,
werden detailliert untersucht und ausführlich quellenkritisch skizziert. Manche
Fehlinterpretation wird beseitigt, zeitgenössische Meldungen von Kolonialenthusiasten werden ihrer Propaganda entkleidet und die Abläufe in den korrekten historischen Rahmen geschoben.
Die Schwerpunkte in der Darstellung Herolds liegen auf dem sogenannten Fliegenden Kreuzergeschwader sowie der »Kreuzerdivision in Ostasien«, die ab 1897
als »Ostasiatisches Kreuzergeschwader« firmierte und 1914 ein wenig glorreiches
Ende fand. Das »Fliegende Kreuzergeschwader« diente von 1886 bis 1893 gemäß
britischem Beispiel als eine Art mobile Kolonialpolizei, deren Revier über die Welt
der deutschen Schutzgebiete weit hinausreichte. Die Funktion des Geschwaders
war vordringlich militärischer Natur, lediglich im Verein mit anderen Kolonialmächten, etwa anlässlich der Blockade der ostafrikanischen Küste 1888/89, blieb
seine Aufgabe, so Herold, politisch motiviert.
Der Nachfolgeverband, das »Ostasiatische Kreuzergeschwader«, war nach der
1897 erfolgten Besitzergreifung Kiautschous als Flottenstützpunkt – hier bietet Herold im Übrigen ein wahres Lesevergnügen an detaillierter Ereignisgeschichte –
»primär ein Instrument der wilhelminischen Weltpolitik«. Seine Aufgabe war »die
Wahrung und Durchsetzung der deutschen Interessen in Ostasien« (S. 385) und
der Südsee, also eher politischer Natur. »Polizeimissionen« gab es nach 1901 nur
wenige, so etwa auf Ponape 1910/11.
Die Geschichte der Kreuzergeschwader wäre nicht komplett, ginge Herold nicht
auf das minderwertige Schiffsmaterial ein, das die Kaiserliche Marine in Übersee
aufbieten konnte oder musste. Im Vergleich zu anderen Nationen waren die meisten Einheiten bis wenige Jahre vor Kriegsbeginn 1914 bemitleidenswert, manches
marode Schiff musste zu seinem Einsatzgebiet geschleppt werden. Kaiser Wilhelm II., ein Anhänger des Kreuzers und der Kreuzerdiplomatie, versuchte, diesen Umstand auszunutzen, und löste das »Fliegende Geschwader« 1893 sogar auf,
um gegenüber dem Reichstag eine »Kreuzernot« zu demonstrieren. Der Schuss
ging bekanntlich nach hinten los. Nun bewilligte das Parlament dem Monarchen
fast gar keine Schiffe mehr. Erst Tirpitz löste mit den Flottengesetzen die verfahrene Situation zugunsten der Marine und gegen das Etatrecht des Reichstages auf
– allerdings nicht in dem Sinne, wie der Kaiser dies beabsichtigte.
Heiko Herold hat ein lesenswertes Buch vorgelegt, dessen bedeutendster Beitrag die zusammenfassende Schilderung der militärischen »Arbeit« der Kreuzergeschwader im jeweiligen Rahmen marine- und machtpolitischer Prämissen darstellt. Das Buch beruht auf einer Überfülle nachgelassenen Quellenmaterials sowohl
der obersten Marinebehörden als auch der Marinebefehlshaber vor Ort. Man legt
das Werk nicht aus der Hand, ohne sich eine Fortführung bis 1914 unter Einschluss
der Arbeit der Stationäre im Auslandsdienst und der detachierten Schiffe zu wünschen.
Axel Grießmer
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Verena Moritz und Hannes Leidinger, Oberst Redl. Der Spionagefall, der Skandal, die Fakten, St. Pölten [u.a.]: Residenz Verl. 2012, 332 S., EUR 24,90 [ISBN
978-3-7017-3169-5]
Seit dem Werk des Journalisten und Schriftstellers Egon Erwin Kisch über die Spionageaffäre Oberst Redl, das heute gerade noch die Qualität einer Reportage genießt, waren es vor allem gedruckte und ungedruckte Memoiren, die in diesem
Fall Interesse erweckten und zu Rechtfertigungs- und Aufklärungsschriften mutierten: die Werke des Chefs des Evidenzbüros des Generalstabes der k.u.k. österreichisch-ungarischen Gesamten Bewaffneten Macht, so der offizielle Titel, Oberst
August von Urbanski und seines Nachfolgers im Weltkrieg, Generalmajor Maximilian Ronge. Danach konnte zum ausgezeichneten Fachbuch von Albert Pethö
(Agenten für den Doppeladler, München 2003) und zu ergänzenden Aufsätzen
desselben Autors gegriffen werden. Nunmehr liegt kein Sachbuch vor, sondern
eine zusammenfassende Studie, gegliedert gemäß den Angaben im Titel. Sie ist
gleichermaßen sachlich, spannend und seriös.
Der berüchtigte Spionagefall des k.u.k. Obersten Redl, bis 1912 stellvertretender
Leiter des Evidenzbüros, dann Chef des Generalstabes des österreichisch-ungarischen 8. (Prager Korps), konnte 1913 in Zusammenarbeit mit den militärischen
Geheimdiensten von Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich nur unvollständig aufgeklärt werden. Auch die Versuche von Schriftstellern, Militärexperten
und Historikern, Licht ins Dunkel der Affäre zu bringen, gelangen bis zum vorliegenden Buch nur unzureichend. Der mit dem Fall selbst am meisten beschäftigte
Maximilian Ronge behielt nach dem Ersten Weltkrieg immer noch Vieles an Fakten und Erklärungen für sich, um das Prestige der aufgelösten Donaumonarchie
nicht über die Maßen zu gefährden.
Im Kapitel »Skandal« halten sich Moritz und Leidinger wohltuend zurück, sparen aber nicht mit berechtigten, lesenswerten Hinweisen auf Milieu und Gesellschaft, die auch ihre profunde Literaturkenntnis aufzeigen. Redl wurde nicht erpresst, weil er homosexuell war, wie zum Beispiel ein amerikanischer Romancier
zu beweisen versuchte. Die Russen hatten keine Kenntnis von seinen sexuellen
Neigungen. Sein Motiv war Habgier zum Schaden der Armee und des Staates, die
ihm, der aus Ostgalizien (heute Ukraine) stammte, offenbar wenig bedeuteten.
Moritz und Leidinger recherchierten für ihre Darstellung in staatlichen und
vereinzelten privaten Archiven in Wien, Deutschland, Frankreich und Russland.
Verena Moritz beherrscht die russische Sprache und erhielt mit ihrem Koautor den
Zugang zu den nach 1989 freigegebenen Archivalien. Die russischen Akten boten
erstmalige und neue Erkenntnisse.
Fest steht: Redl hatte die Möglichkeit, in seiner Wohnung die Mobilisierungsanweisungen und die sogenannte Kriegs-Ordre de Bataille für den Ernstfall zu kopieren, dazu auch noch Festungspläne, um diese für hohe Geldsummen an Russland zu liefern. Er finanzierte dadurch seinen aufwendigen Lebensstil. Es handelte
sich um die entsprechenden Pläne für die Kriegsfälle Russland und Serbien, in geringerem Maße auch für Italien. Moritz und Leidinger fanden auch russische Berichte über die Zusammenkünfte der delegierten Geheimdienstoffiziere der Ententemächte in Russland, Großbritannien und Frankreich.
Daraus ergibt sich als militärisch-politisches Fazit: Die russische Heeresführung unter Großfürst Nikolajewitsch erfuhr von Redl, dass sich General Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf aus militärischen Gründen im Kriegsfall gleichzeitig
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gegen Serbien und Russland wenden wollte. Dazu kam noch, dass die Franzosen
den Russen mitteilen konnten, sie seien überzeugt, dass das Deutsche Reich zunächst den Schwerpunkt des Angriffs gegen Frankreich richten würde. Die Russen erhielten also auf diesem Wege sogar wertvollere Erkenntnisse, als wären sie
an den deutschen Aufmarschplan und die Abmachungen Österreich-Ungarns mit
Deutschland herangekommen.
Österreich-Ungarn bot Ende Juli 1914 gegen Serbien drei Armeen auf, gegen
Russland nur zwei. Man hoffte das Kunststück zuwege zu bringen, nach schneller Mobilisierung und zügigem Aufmarsch, Serbien rasch niederzuwerfen, um
dann vielleicht doch noch Russland zu Verhandlungen zu nötigen oder eben den
langsamen Aufmarsch der Russen zu stoppen.
Noch 1913 hatte die »R-Gruppe« in der Operationsabteilung des k.u.k. Generalstabes äußerst heftig gegen den Plan Conrads opponiert (so neueste Quellen,
die vom Rezensenten in seiner Herausgabe der Erinnerungen des Oberst Theodor
R.v. Zeynek publiziert wurden), nach denen ein mit dem deutschen Generalstab
nicht vereinbarter sogenannter zurückgezogener Aufmarsch ernsthaft erwogen
wurde. All dies erwies sich als falsch beziehungsweise nicht durchführbar.
Die russische Armee konnte also den vollen Kriegsplan A (Awstrija) einleiten:
den Versuch, das österreichisch-ungarische Heer, bestehend aus zunächst zwei,
dann drei Armeen, einzukreisen.
Alle weiteren Ereignisse der Einleitungsschlachten sind Kriegsgeschichte. Sie
entheben im Urteil der Nachwelt Feldmarschall Conrad nicht von dem schweren
Vorwurf, dass er seinen Grundsatz »Wir müssen an Schnelligkeit wettmachen, was
uns an Zahl fehlt«, zur Anwendung bringen wollte: auch wenn er dieses Motto –
in der Folge der ersten Auswertung des Falls Redl vorsichtigerweise – und überhaupt infolge der mangelhaften Rüstung und fehlenden Kriegserfahrung der
k.u.k. Armee – in der Planung zur Anwendung hätte bringen sollen. Diese schwerwiegende Kritik stammt nicht vom Rezensenten allein, sondern von einem prominenten Autor, dem Oberst im Generalstabskorps Max Ritter von Pitreich, der in
der Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs im
März 1945 (!) ein ausführliches Manuskript an schwer zugänglicher Stelle hinterlegen ließ, in dem er über die Schlacht bei Lemberg schrieb und unterstrich: »In
derartiger Zersplitterung angesetzt, wie es hier geschah, hätte kein Heer der Welt
bessere Erfolge zu erzielen vermocht. Es gibt aber auch in der Führung keine Genialität, die nicht die Grenzen des Möglichen erkennt und ihnen Rechnung trägt.
Was den Rückfall an der Marne begründete, war die Schwächung des rechten deutschen Flügels, was Tannenberg ausmachte, war die äußerste Kräftezusammenfassung auf einen einzigen engen Kampfraum. Einem Zerflattern, wie es das ö.-u.
Heer nach Kraft, Zeit und Raum erleben musste, konnte unmöglich ein Sieg beschieden sein.«
Noch eine Anmerkung: Nach dem Werk von Moritz und Leidinger über Redl
ist das neue Buch des österreichischen Generals und eminenten Nachrichtenexperten Otto J. Horak mit dem Titel: »Oberst a.D. Andreas Figl und der k.u.k. Radiohorch– und Dechiffrierdienst. Die ›Kryptographischen Erinnerungen‹« erschienen.
Es enthält ein wichtiges Detail zum Fall Redl. Dieser hatte auch den Friedens-Chiffrierschlüssel verraten. Den Autoren des vorliegenden Werkes konnte diese Tatsache nicht bekannt sein.
Peter Broucek
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Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Hrsg. von Bruno Cabanes
und Anne Duménil. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Mit
einem Vorw. von Gerd Krumeich, Darmstadt: Theiss 2013, 480 S., EUR 49,95
[ISBN 978-3-8062-2764-2]
Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Der deutsche Aufmarsch in ein kriegerisches
Jahrhundert. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Markus Pöhlmann, Harald Potempa
und Thomas Vogel, München: Bucher 2014, 384 S., EUR 45,00 [ISBN 978-37658-2033-5]
Oliver Janz, 14 – Der große Krieg, Frankfurt a.M., New York: Campus 2013,
415 S., EUR 24,99 [ISBN 978-3-593-39589-0]
Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs,
München: Beck 2014, 1157 S., EUR 38,00 [ISBN 978-3-406-66191-4]
Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin: Propyläen 2013, 587 S., EUR 26,99 [ISBN 978-3-549-07373-5]
Benjamin Ziemann, Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen: Klartext 2013, 276 S., EUR 22,95 [ISBN 978-3-8375-0887-1]
Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien [u.a.]: Böhlau 2013, 1222 S., EUR 45,00 [ISBN 9783-205-78283-4]
Mars. Kriegsnachrichten aus der Familie 1914–1918. Max Trimborns Rundbrief für seine rheinische Großfamilie. Hrsg. von Heinrich Dreidoppel, Max
Herresthal und Gerd Krumeich, Essen: Klartext 2013, 757 S., EUR 29,95
[ISBN 978-3-8375-0901-4]
Als der Verfasser im Sommer 2013 mit der Redaktion dieser Zeitschrift die Erstellung eines Literaturberichts über Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg vereinbarte, war erst ansatzweise absehbar, welche Flut an neuen Veröffentlichungen den
Buchmarkt im Gedenkjahr an den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs überschwemmen würde. Die ursprüngliche Dimension dieses Berichts
musste daher erheblich modifiziert bzw. auf einen kleinen Ausschnitt des Gesamtangebots reduziert werden. Anspruch auf Vollständigkeit oder auch nur auf Berücksichtigung aller relevanten Titel kann folglich nicht erhoben werden; der Auswahl haftet eine gewisse Willkür bzw. Zufälligkeit an, da sie jene Werke stärker
gewichtet, die im Herbst 2013 angekündigt oder sogar bereits erschienen waren.
Eine Besonderheit in mehrfacher Hinsicht stellt das ins Deutsche übersetzte,
2007 erschienene Werk der französischen Historiker Bruno Cabanes und Anne Duménil dar. Es handelt sich um einen großformatigen Bildband, bei dem jede Doppelseite als eine gleichwertige Einheit von Texten und meist farbigen, häufig erstmals abgedruckten Fotos usw. gestaltet ist. Die inhaltlichen Schwerpunkte
reflektieren die lange kulturhistorische und stark auf die Alltagsgeschichte ausgerichtete Tradition der französischen Weltkriegshistoriografie. In insgesamt 68 TextBild-Einheiten, gewidmet jeweils einem markanten Datum und dem damit verbundenen Ereignis (einsetzend mit dem 18. Oktober 1912, »Die Balkankriege«),
wird ein weiter thematischer und zeitlicher, bis etwa 1927/28 reichender Bogen gespannt. Bekannte Schlüsselereignisse militärischer und politisch-diplomatischer
Natur werden so mit den durch sie geprägten, häufig aber viel weniger beachteten Folgen für das Leben der Menschen verknüpft. Auf diese Weise entsteht ein
Panorama von primär auf (West-)Europa ausgerichteten Miniaturen, denen einige
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Abschnitte zum Kriegsgeschehen in den Kolonien und im Nahen Osten zur Seite
gestellt sind. Eingewoben in diese klassische Ereignisgeschichte sind Kapitel, die
den Alltag der vom Krieg betroffenen Soldaten und Zivilisten in den Mittelpunkt
rücken: Lebens- und Arbeitsbedingungen, Kriegswirtschaft, Verwundetenfürsorge,
aber auch der mentale Bereich und kulturelle Manifestationen des Konflikts, die
zwischen den Polen Kriegsbegeisterung und Friedenssehnsucht changierten. Besonders originell und deutschsprachigen Lesern weithin unbekannt sind die Ausführungen zu einer französischen satirischen Wochenschrift, über den Jargon der
Schützengräben und den Dadaismus.
So bereichernd die Vermittlung der französischen Sicht auf den Weltkrieg ist,
so liegt hierin zugleich die Hauptschwäche des Bandes. Wie sogar das diplomatische Vorwort von Gerd Krumeich einräumt, stehen keineswegs alle Aussagen außer Streit, ja manche Behauptungen (z.B. betreffend Kontinuitätslinien zur Behandlung der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, einseitig von den Deutschen
vorgenommene Zerstörungen auf dem westlichen Kriegsschauplatz u.a.) würden
Widerspruch geradezu herausfordern (S. 8 f.). Hinzu kommt, dass manche Kapitel (etwa jenes über die im Gesamtkontext irrelevante Gefangennahme Charles des
Gaulles, S. 180 ff.) nur für französische Leser von Interesse sein dürften. Ein echtes
Ärgernis sind die zahlreichen sprachlichen und inhaltlichen Übersetzungsfehler
sowie die gelegentliche französische Beschriftung von Landkarten (z.B. S. 54, 62
und 79). Irritierend ist der ständige Tempuswechsel zwischen Präsens und Präteritum und immer wieder zeigt sich, dass die Übersetzerin mit der deutschen Fachterminologie unzureichend vertraut ist (z.B. S. 147 f.: Stabsabteilungen statt Generalstäbe, S. 169: Durchmesser statt Kaliber u.a.). Sie verwechselt Millionen mit
Milliarden (S. 163) oder die Himmelsrichtungen, wenn sie deutsche Truppen »nur
noch 160 Kilometer östlich« (statt westlich) von Brest-Litowsk stehen lässt (S. 126).
Auf einer Landkarte (S. 320) findet sich ein »extremer Vormarsch der italienischen
Truppen«, Ostpreußen wird fälschlich nach dem Krieg »Polen zugeschlagen«
(S. 416) und der Londoner Vertrag von 1915 verspricht Italien die »Rückgabe« der
in Österreich-Ungarn gelegenen terre irredente, die niemals zum Königreich Italien gehört hatten (S. 316). Lemberg und Lodz werden irrig als eine Stadt (mit ihrem deutschen bzw. polnischen Namen) bezeichnet (S. 127), Polen kämpfen in verschiedenen Armeen »an der Ostküste« (S. 128, gemeint wohl Ostfront) und die
NS-Kriegsopferversorgung wird zu dem sinnlosen Begriff »Kriegsversorgung«
verstümmelt (S. 178). Manche Sätze ergeben von der Chronologie her keinen Sinn
(etwa S. 202 unten oder S. 94: Tod eines Soldaten am 23. April, Zitat desselben vom
25. April) oder sind unverständlich: »in der Champagne erleiden die Franzosen
70,7 Prozent der Gesamtverluste, die Briten in Neuve-Chapelle 55,3 Prozent. An
der Ostfront sind nach der Schlacht von Gorlice-Tarnów 70,5 Prozent der Gefallenen, Verwundeten und Vermissten Russen« (S. 147).
Trotz etlicher innovativer Abschnitte legt man den Band mit einiger Irritation
aus der Hand und kann ihn angesichts des sonst auf dem Buchmarkt zur Verfügung stehenden, sorgfältiger lektorierten Angebots nur eingeschränkt weiterempfehlen. Hier zeigen sich deutlich die Grenzen, die dem Transfer eines für das französische Publikum konzipierten Werkes in einen anderen Sprach- und Kulturraum
gesetzt sind.
Ungeachtet der anhaltenden Konjunktur kulturhistorischer Fragestellungen
wird bei einer von Wissenschaftlern des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegebenen Publikation nicht überra-
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schen, dass in ihr der Krieg selbst – verstanden als Kampfgeschehen an den Fronten
– ins Zentrum zurückgeholt und damit ein Beitrag zu einer zwar klassischen, aber
mit modernen Konzepten erweiterten Militärgeschichte geleistet wird. Ähnlich wie
der aus Frankreich stammende Band, verzichtet auch der nun zu besprechende
auf eine durchgehende Textierung; er löst diese vielmehr in 71 kürzere Artikel auf,
die in 14 Hauptartikel zu zentralen Themen der Kriegführung eingestreut sind.
Darüber hinaus werden auch zivile Komplexe wie Kriegswirtschaft, Heimat oder
Gedenken abgehandelt. Ein bilanzierender Ausblick auf das als Einheit interpretierte »Zeitalter der Weltkriege«, das wohl den eigenwilligen Untertitel legitimieren soll, beschließt neben den üblichen Registern und einer Auswahlbibliografie
den reich illustrierten Band. An ihm haben 30 Autoren beiderlei Geschlechts mitgearbeitet.
Was das Kampfgeschehen im eigentlichen Sinn betrifft, so stehen Schilderungen
der 26 wichtigsten Schlachten neben 31 knappen, aber aussagekräftigen Artikeln
zu den für den Ersten Weltkrieg typischen Waffen und Ausrüstungsgegenständen.
Die Abfolge ist jedoch so erratisch, dass eine Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite praktisch ausgeschlossen ist. Ob damit den Bedürfnissen einer breiten Leserschaft, an die sich der Band ausweislich seines Vorworts wendet, gedient ist,
darf man bezweifeln, weil durch die häppchenartige Präsentation der Texte jeglicher rote Faden verlorengeht und Zusammenhänge nicht dort aufgezeigt werden,
wo sie sich anbieten. Gleich zu Beginn folgt etwa mitten im Abschnitt »Politik« ein
Einschub über die Eroberung Lüttichs im August 1914, ohne dass der Kriegsausbruch zur Sprache gekommen wäre. Den Exkurs über Torpedos findet man nicht
etwa beim Seekrieg, sondern bei der Kriegswirtschaft; Erläuterungen zu Maschinengewehren und Handgranaten stehen nicht bei »Waffen des Landkrieges«, sondern im Kapitel über den Serbien-Feldzug von 1915 usw. Derartige unlogisch platzierte Einschübe, die viel besser zwischen die Großkapitel gepasst hätten,
unterbrechen ständig den Lesefluss, ohne dafür irgendeinen Vorteil einzutauschen.
Hinzu kommt noch, dass die gewählte Struktur zahlreiche Wiederholungen nach
sich zieht.
Sieht man von diesen ganz unnötigen Defiziten ab, so überzeugt der von Markus Pöhlmann, Harald Potempa und Thomas Vogel herausgegebene Band insbesondere durch sein ausgezeichnetes Bild- und Kartenmaterial. Ohne eine Gesamtdarstellung anzustreben, wird durch den militärgeschichtlichen Schwerpunkt
anschaulich vermittelt, was und wie dieser Krieg war. Bei aller Anerkennung der
Bedeutung der Heimatfront spielten sich doch die entscheidenden Vorgänge an
den Kampffronten zu Lande, zu Wasser und in der Luft ab. »Mit der Dauer geriet
die Front zu einem Biotop«, heißt es an einer Stelle treffend (S. 150). Leser, die leicht
verständliche, aber dennoch präzise Einblicke in dieses Biotop erwarten, sind mit
dem Band gut bedient.
Einen im Großen und Ganzen soliden, nicht allzu umfangreichen Überblick
über den Ersten Weltkrieg einschließlich seiner Vor- und Nachgeschichte legte
Oliver Janz schon Ende 2013 vor; sein Band richtet sich explizit an eine breitere Leserschaft und nicht an die Fachwelt, die – da sich das Werk ausschließlich auf Sekundärliteratur stützt – keine neuen Erkenntnisse erwarten darf. Forschungsdebatten greift Janz ebenso wenig auf wie er die von ihm verwendeten Schlüsselbegriffe
(z.B. »totaler Krieg« als Begriff und heuristisches Erklärungsmodell) problematisiert, sodass seine Darlegungen ziemlich konventionell wirken, was sich schon bei
der Schilderung des Kriegsausbruchs zeigt: Die Hauptverantwortung wird dem
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Deutschen Reich zugeschrieben, geringer fällt der Anteil Österreich-Ungarns aus,
über die übrigen Mächte wird nicht viel gesagt (S. 68 f.) und zur neuerdings wieder intensiver diskutierten Rolle Serbiens heißt es lapidar, in diesem Staat sei die
Verselbstständigung des Militärs am weitesten gegangen (S. 36). Ebenso in tradierten Bahnen bleibt die Datierung der »Kriegswende« (Kapitel 7) auf das Frühjahr 1917 (Implosion des Zarenreiches und Kriegseintritt der USA). Auch nicht
mehr allzu neu ist Janz‘ Ansatz, den Begriff Weltkrieg wörtlich zu nehmen und ihn
nicht auf die Westfront zu beschränken. So kommt bei ihm die Ostfront zu ihrem
Recht, aber auch das Geschehen auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten,
in Afrika sowie in den Kolonien, sodass der angekündigte transnationale Zugang
tatsächlich eingelöst wird. Manchmal wundert man sich freilich, wieviel Platz drittrangigen Themen (z.B. Japans Krieg im Pazifik, S. 141 ff.) eingeräumt wird, während auf der anderen Seite der deutsche U-Boot-Krieg nur sehr knapp und die Skagerrak-Schlacht überhaupt nicht erwähnt werden.
Somit bedingen gerade die Breite der Darstellung und die Vielfalt der aufgegriffenen Themen (ungeachtet des deutlichen Vorrangs einer klassischen Operationsgeschichte), dass der angestrebte Überblick häufig auf Details und damit auf
Nuancierungen verzichten muss. Die Sicht des Verfassers auf den Weltkrieg – dessen Auslösung, Führung und Beendigung – ist im Wesentlichen eine von oben. Gegenüber den Einschätzungen der Politiker und Generäle spielen die gelegentlich
zitierten Stimmen der »kleinen Leute« eine ganz sekundäre Rolle; sie treten vor
allem als Objekte, wenn nicht als Opfer der von anderen getroffenen Entscheidungen auf. So führt das Bestreben, alle relevanten Themen irgendwie einzubinden, zu mancher Schieflage und zu einer Abfolge, die den Leser mitunter mehr
verwirrt als aufklärt: Erörterungen über den Begriff »Weltkrieg« sind erst auf den
Seiten 133 ff. eingeschoben; das von Janz bezweifelte »Augusterlebnis«, also die
Frage nach den Stimmungen der Bevölkerung rund um den Kriegsausbruch, wird
gar erst ab Seite 180 angesprochen; die Haltung der Sozialdemokratie zum Krieg
1914 noch später (S. 195 ff.). Passagenweise nähert sich die Darstellung einem Parforceritt, so wenn etwa die intellektuelle Stimmung in Italien von der Zeit vor
Kriegsbeginn bis zum Herbst 1918 auf wenigen Seiten durchlaufen wird (S. 212 ff.)
und rund um die im Deutschen Reich geführten Kriegsziel- und Kriegsbeendigungsdiskurse die Friedensresolution des Reichstags von 1916 unerwähnt bleibt.
Auch der Weg zu den Waffenstillständen im Herbst 1918 wird so gerafft abgehandelt, dass der Leser nichts über Bulgarien erfährt, das als erster Staat der Mittelmächte zusammenbrach und damit eine Kettenreaktion auslöste, und er stattdessen plötzlich bei den Friedenskonferenzen landet, ohne zuvor so wichtige Etappen
wie den Umbruch in Österreich-Ungarn, den Thronverzicht Kaiser Karls und anderes mitgeteilt bekommen zu haben.
Diese Knappheit steht in einem merkwürdigen Kontrast zu den recht breiten
Darlegungen der Nachkriegsordnung und dem kürzeren Abschnitt »Trauer und
Erinnerung«, ein inzwischen obligatorischer Bestandteil sämtlicher Weltkriegsgeschichten. Das Unterkapitel über die in diversen Ländern errichteten Gefallenendenkmäler gehört zu den Glanzstücken des Buches. Man fragt sich nur, ob die an
und für sich begrüßenswerte Behandlung der Auswirkungen des Krieges, auch jener außerhalb Europas, bis ins Jahr 1958 fortgeführt werden muss (S. 345). So wird
dem Leser doch eine beachtliche, ab und zu sogar überbordende Themenfülle vorgesetzt, die noch schwerer zu verdauen sein dürfte, als das Buch auf klassische,
das Verständnis erleichternde Hilfsmittel wie Landkarten, Zeittafeln, Statistiken
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und Schaubilder völlig verzichtet; selbst den zahlreichen Abbildungen fehlt eine
Beschriftung.
Ebenfalls als Überblick angelegt, aber im Vergleich zu Janz den dreifachen
Raum einnehmend, präsentiert sich Jörn Leonhards »Büchse der Pandora«: ein nicht
nur vom Umfang her monumentales Werk, das keine bloße Synthese sein, sondern
auf eigene Forschungen seines Verfassers gestützte Deutungen des Weltkriegs bieten will. Nimmt man die bisher vorliegenden Rezensionen als Maßstab, so ist dieser Versuch einer Totalgeschichte auf sehr unterschiedliche Aufnahme gestoßen.
Wie nahezu alle Autoren, die sich jüngst mit dem Ersten Weltkrieg befasst haben,
operiert auch Leonhard mit dem Gewaltbegriff, konkret mit der Entfesselung von
»Gewalträumen«, ein Vorgang, welcher der im 19. Jahrhundert ziemlich erfolgreichen Einhegung von Krieg und Gewalt ein jähes Ende setzte – und eben die
Büchse der Pandora öffnete. Bei der Schilderung der langen Vorgeschichte des
Kriegsausbruchs verbindet der Verfasser klassische strukturelle Faktoren (Imperialismus, Wettrüsten u.a.) mit neueren Analysen der diplomatisch-militärischen
Großwetterlage vor und um 1914; insgesamt greift Leonhard hierbei bis ins 16. Jahrhundert zurück.
Für die folgenden mehr als vier Kriegsjahre wird der Stoff in fünf große, jeweils
einem Kalenderjahr entsprechende Abschnitte unterteilt, die mit (Zwischen-)
Bilanzen des für dieses Jahr Typischen bzw. der relevanten Veränderungen enden.
Auf drei Aspekte legt der Autor seine Schwerpunkte: die militärischen Entwicklungen, die Konsequenzen des Krieges für multiethnische Großreiche und deren
Gesellschaften sowie auf die Wandlungen der Kriegsdeutung(en). Betreffend das
Kampfgeschehen wählt Leonhard jedoch nicht den Weg klassischer Beschreibungen einzelner Schlachten; er interessiert sich vielmehr für die grundlegenden
Bedingungen der Kriegführung im Industriezeitalter. Im Hinblick auf den Charakter dieses stets als der erste moderne Krieg präsentierten Konflikts wartet der Verfasser mit der ebenso originellen wie diskutierenswerten These auf, dass man den
Ersten Weltkrieg als den letzten Krieg, der mit Konzepten und Techniken des
19. Jahrhunderts geführt wurde, verstehen müsse. Gerade das lange Fortwirken
archaischer Elemente habe es den Generalstäben auf allen Seiten so schwer gemacht, ihre noch aus der Vergangenheit herrührenden Erwartungen mit den ganz
anders gelagerten Erfahrungen des realen Krieges in Einklang zu bringen. Daraus
folgt, dass Leonhard jene Kriegsschauplätze am detailliertesten behandelt, auf denen die intensivsten Kämpfe stattfanden. Eine Globalgeschichte um jeden Preis
strebt er nicht an, weshalb die europäischen Großmächte (einschließlich des Osmanischen Reiches) klar im Zentrum stehen.
Die multiethnischen Staaten, die Leonhard für die Zeit vor 1914 als durchaus
stabil einstuft, haben es ihm dabei besonders angetan. Auf sie wirkte der Krieg am
intensivsten ein bzw. belastete ihre Gesellschaften stärker, als dies bei ethnisch homogenen Mächten der Fall war. Eigene Fehler, gepaart mit nationalen Sezessionsbewegungen und Eingriffen der Sieger, ließen diese Großreiche 1918 zerbrechen
und deren Wiederbelebung für die Zeitgenossen als praktisch undenkbar erscheinen. Damit verbunden ist Leonhards dritter Schwerpunkt: die Folgen des Krieges
und seine Deutungen. Wie schon das ganze Buch hindurch, rezipieren auch diese
Abschnitte weitgehend die Sichtweisen von Politikern, Generälen, Künstlern und
Intellektuellen, denen gegenüber sozial- und strukturgeschichtliche Perspektiven
in den Hintergrund treten.
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Nicht nur wegen seines Umfangs stellt der Band an den Leser hohe Ansprüche. Die Gliederung nach Kriegsjahren reißt immer wieder Zusammengehörendes
auseinander; die 46 Teilkapitel, welche die fünf großen Jahres-Abschnitte bilden,
stehen unverbunden nebeneinander und ähneln chronologisch angeordneten Essays zu einer Vielzahl einzelner Themen, deren inhaltlicher Bezug zueinander nur
schwer erkennbar ist. Leonhards Neigung, für ihn charakteristische Entwicklungen
begrifflich in Gegensatzpaaren zu verdichten, zeigt sich exemplarisch in den Kapitelüberschriften wie »Entgleisung und Eskalation«, »Stillstand und Bewegung«,
»Abnutzen und Durchhalten«, »Expansion und Erosion« oder »Plötzlichkeit und
Zerfall«, die per se nicht viel erklären. Die drei abschließenden, der Nachkriegsentwicklung gewidmeten Abschnitte verzichten hingegen auf derlei sprachliche
Extravaganzen. Mit dieser anspruchsvollen Arbeit werden am ehesten jene Leser
ihre Freude haben, die schon über einiges Vorwissen verfügen; für alle Übrigen
dürften die jedem Großkapitel und auch den meisten Unterabschnitten angefügten
Zusammenfassungen eine Hilfe zum besseren Eindringen in den gewaltigen Stoff
sein.
Ernst Piper, der als Biograf des NS-Ideologen Alfred Rosenberg bekannt geworden ist, legt mit »Nacht über Europa« eine – ausweislich des Untertitels – Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs vor und verspricht somit, die sich gerade rund
um diesen Konflikt rankende Vielzahl einschlägiger kulturhistorischer Spezialstudien in einer Gesamtdarstellung zu bündeln. Um das Ergebnis vorwegzunehmen:
Diesem hohen Anspruch kann die gleichwohl spannende und lesenswerte Arbeit
nicht vollauf gerecht werden. Dafür zeichnen mehrere Ursachen verantwortlich.
Wie immer man Kulturgeschichte definieren mag – und die gängigen Definitionen legen einen durchaus weiten Maßstab an: Dieses Buch behandelt viele Themen, die eindeutig nicht zur Kultur gehören, sondern – wenn solche Einteilungen
einen Sinn ergeben sollen – zur politischen und/oder militärischen Geschichte gezählt werden müssen. Piper gestaltet diese Passagen so breit, dass sie weit über
das hinausgehen, was zum Verständnis der Hintergründe der eigentlichen Kulturgeschichte unabdingbar ist. Wie man etwa die umfänglich geschilderten Kriegsgräuel – seien es die von den Deutschen 1914 in Belgien begangenen oder der
Völkermord der Türken an den Armeniern – sinnvoll unter Kulturgeschichte subsumieren kann, bleibt dem Rezensenten verschlossen.
Gegen den Anspruch einer Gesamtdarstellung spricht zudem, dass Pipers
Schwerpunkt ganz eindeutig auf dem Deutschen Kaiserreich liegt. Großbritannien,
Frankreich und Italien kommen in deutlich geringerem Umfang vor, ÖsterreichUngarn und Russland beinahe überhaupt nicht, von den kleineren am Krieg beteiligten Staaten ganz zu schweigen. Besonders sticht aber ins Auge, dass Pipers
Kulturbegriff mit jenem der Hochkultur zusammenfällt bzw. sich darauf reduziert.
Die Welt des Autors, die er souverän beherrscht, ist jene der über die Grenzen ihres
Heimatlandes hinaus, damals wie heute, bekannten Literaten, Künstler und Wissenschaftler, von denen viele in biografischen Skizzen vorgestellt werden, begleitet von zahlreichen Zitaten aus ihrem literarischen Schaffen, ihren Briefwechseln
etc. Erstaunlicherweise ist aber in dieser der Kulturgeschichte des Weltkriegs gewidmeten Arbeit alles vollkommen ausgeblendet, das man landläufig als Massenkultur bezeichnet, die sich doch erheblich von den elitären, wenn nicht abgehobenen und privilegierten Künstlerzirkeln unterscheidet. Diese Verengung setzt
sich bis in die Illustrationen fort, haben doch die meisten der 29 Farbbilder mehr
oder minder bekannte malerische Bearbeitungen des Krieges zum Gegenstand.
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Vor allem mit der geistigen Elite Deutschlands geht der Autor streng und
manchmal sogar unfair ins Gericht. Zu einseitig wird eine angeblich schon vor 1914
virulente, durch übersteigerten Nationalismus und Geringschätzung alles Fremden geprägte intellektuelle Landschaft gezeichnet, die der Vielfalt der kulturellen
Strömungen im Reich nur ansatzweise gerecht wird. Da verwundert es nicht, dass
die geistige Mobilmachung anhand der bekannten Beispiele wie des »Aufrufs an
die Kulturwelt« vom Oktober 1914 ziemlich schablonenhaft beschrieben wird,
wenngleich gerade dieses Buch vielfach belegt, dass derartige aus heutiger Sicht
bizarr anmutende Aussagen durchaus kein deutsches Spezifikum waren. In zwei
gelungenen Kapiteln wird das »Zerreißen der [künstlerischen und wissenschaftlichen] Netzwerke« der Vorkriegszeit, in denen deutsche Intellektuelle eine maßgebliche Rolle spielten, und das nachfolgende Einigeln in »Akademische[n] Schützengräben« analysiert – eine bedauerliche, lange nach 1918 nachwirkende
Entwicklung, die aber vor allem von Vertretern der Entente-Staaten vorangetrieben, ja ins Extreme gesteigert wurde – sehr zum Missfallen ihrer einstigen deutschen Kollegen, die an der konstatierten Fragilität der internationalen intellektuellen Netzwerke aus der Zeit vor 1914 keinen herausgehobenen Anteil hatten.
Selbst wenn man davon absieht, den selbstgesteckten hohen Anspruch dieses
Buches zum alleinigen Maßstab seiner Beurteilung zu machen, hinterlässt es einen
ambivalenten Eindruck. Pipers Stärke liegt im Erzählen; eigene Thesen stellt er
nicht auf. Folgerichtig sind die von ihm ausgebreiteten Befunde ebenso unspektakulär wie – wenigstens in Fachkreisen – weithin bekannt. Mit dem Thema vertraute
Leser finden nur selten Originelles und Neues; am besten gelingt dies im Kapitel
»Schweizer Exil«, das freilich erneut die in der Eidgenossenschaft lebenden, aus
ihren am Krieg beteiligten Ländern emigrierten Intellektuellen in einer friedensmäßigen, vom Weltkrieg nahezu unberührten Idylle präsentiert. Gelungen ist auch
der rund 50 Seiten lange Abschnitt »Die Lage des Judentums inmitten der Völker«,
der neben kulturell-geistigen Fragen die im Raum stehende Bildung eines jüdischen Staates in Palästina abhandelt.
So kann dieses gut lesbare, in einem angenehmen Stil und auf hohem sprachlichem Niveau verfasste Buch vor allem jenen empfohlen werden, die sich mit dem
Thema Kultur im Ersten Weltkrieg, verstanden als Hochkultur, erstmals vertraut
machen wollen. Sie finden in dieser Arbeit viele (an)sprechende Fallbeispiele und
auch weniger bekannte kulturelle Manifestationen aus dem Inferno eines Weltkonflikts, dessen geistige Folgen noch mindestens eine Generation lang nachwirkten,
wie das abschließende Kapitel über die fragmentierte kollektive Erinnerung an den
Weltkrieg überzeugend darlegt.
Von den Höhen der Kultur in die Niederungen der Gewalt herab steigt ein nicht
allzu umfangreicher, mit lediglich fünf Abbildungen versehener Band aus der Feder von Benjamin Ziemann, bei dessen Erörterung vorweg einige Worte über dessen Vorgeschichte am Platze sind. Erst bei genauer Lektüre der Endnoten stößt
man darauf, dass der Band nicht aus einem Guss entstanden ist, sondern auf
frühere Veröffentlichungen seines Autors zurückgreift. Sechs von neun Kapiteln
wurden bereits in Aufsatzform publiziert; diese Vorgeschichte reicht bis zur Mitte
der 1990er Jahre zurück. Dieser Umstand wird zwar nicht explizit kaschiert, aber
etwas entlegen mitgeteilt. Dem Gesamteindruck tut dies jedoch keinen Abbruch,
zumal die einzelnen Beiträge ein geschlossenes Ganzes ergeben und obendrein für
den Wiederabdruck überarbeitet wurden. Vor allem: Ziemann rückt ein wichtiges,
ja das wichtigste Thema rund um den Ersten Weltkrieg wieder ins Zentrum der
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Beschäftigung mit diesem Krieg, bei der mitunter der ausschlaggebende Aspekt –
nämlich Krieg als Töten und Getötetwerden – von der Bildfläche verschwand.
1995 prägte Michael Geyer das von Ziemann zitierte Diktum, Krieg sei die »Geschichte organisierter Tötungsgewalt«, gekoppelt mit der kollektiven Erinnerung
an die Toten (S. 10). Diese recht vage Definition weiterführend, bezeichnet Ziemann moderne Kriege sowie die in ihnen virulente Kriegsgewalt – und als deren
Paradigma den Ersten Weltkrieg – als »ein komplexes Aggregat von Strategien,
Handlungen und technischen Vorrichtungen, die im Wesentlichen auf die körperliche Verheerung des Gegners zielen« (S. 7). Typisch für das 20. Jahrhundert sei die
erstmals im Ersten Weltkrieg zu beobachtende, massive Einebnung der Grenze
zwischen ziviler/gesellschaftlicher und militärischer Gewaltorganisation. Als Folge
davon sei das massenhafte Töten zur »Routine einer tagtäglich ausgeübten Praxis«
geworden (S. 9), wobei das Militär als Organisation neuzeitlicher Staaten die technischen, personellen und institutionellen Ressourcen für dieses Töten bereitstellte
(S. 11). Ohne eine eigene, umfassende Erklärung für diese neuartigen Gewaltphänomene bieten zu wollen, will Ziemann diese doch anhand eines konkreten Anwendungsfalls untersuchen – eben des Ersten Weltkriegs, den er als »Laboratorium der Gewalt« versteht (S. 15). Dafür kennzeichnend waren Verlustzahlen in
bis dato unbekannter Größenordnung, millionenfache Verwundungen und, in Gestalt der Kriegsinvaliden, ein im öffentlichen Raum der Zwischenkriegszeit allerorten sichtbares Erbe des Krieges. Mit »Laboratorium« meint Ziemann freilich
auch, dass alle am Krieg beteiligten Streitkräfte, insbesondere die Landheere, genötigt waren, angesichts neuartiger und die Defensive begünstigender Kampfformen im industrialisierten Krieg innovative Formen von – vor allem offensiver
– Gewalt zu erproben.
Bei all dem geht es Ziemann nicht so sehr um die großen organisatorischen Zusammenhänge (wenngleich auch diese vielfach angesprochen werden), sondern
um ein Verständnis der Widersprüche im Leben und Handeln jener Soldaten, die
in Systemen der allgemeinen Wehrpflicht millionenfach aus der Mitte der Gesellschaft heraus in einen mörderischen, industrialisierten Krieg geschickt wurden.
Von entscheidender Bedeutung sei, so der Verfasser, ob dieses Millionenheer ehemaliger Zivilisten unter Zwang oder aus freiwilligem Konsens heraus agierte
(S. 25). Ältere Forschungen taten sich schwer zu erklären, was Soldaten überhaupt
dazu brachte, sich meist ohne erkennbaren Widerstand dem feindlichen Feuer und
damit dem eigenen Tod auszusetzen. Basierend auf einer minutiösen Auswertung
von Verluststatistiken, legt Ziemann dar, dass etwa im deutschen Heer lediglich
34 von 1000 Kriegsteilnehmern fielen; diese waren also entgegen einer verbreiteten
Behauptung gerade nicht dem sicheren Tod geweiht, ganz zu schweigen von den
Nischen, die der Dienst im Etappenraum oder in militärischen Dienststellen in der
Heimat eröffnete. Auch die technisch ausgefeilten Waffensysteme, die im Ersten
Weltkrieg zur Anwendung kamen, ermöglichten nicht per se ein effizienteres Töten des Gegners, waren doch etwa 329 Granaten nötig, um – statistisch gesehen –
einen deutschen Soldaten zu töten oder zu verwunden (S. 29). Ziemann legt allerdings auch dar, dass die Verlustquoten und damit das jeweilige individuelle Risiko
nach Alterskohorten, Kriegsschauplatz (Ost- oder Westfront) bzw. Zeitpunkt erheblich variierten.
Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen analysiert Ziemann
die den Ersten Weltkrieg kennzeichnende Gewalt bzw. und wohl treffender: Gewalteskalation anhand dreier Leitbegriffe, die auch die Großkapitel des Buches be-
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stimmen: Gewaltpraktiken, Gewaltverweigerung und Verarbeitung von Gewalt.
Auf allen drei Ebenen zieht der Autor eine Vielfalt von Quellen heran, die es ihm
erlauben, die kriegsbedingten Erfahrungen aller beteiligten Soldaten und deren
daraus resultierendes Handeln in den Blick zu nehmen. Weder die Erfahrungen
noch das Handeln werden über einen Leisten geschlagen, sondern vielfach differenziert. Eine solche Differenzierung legt schon – man denke an die oben referierten Verlustzahlen – der Umstand nahe, dass es im Krieg neben Räumen des Todes
solche des Überlebens gab. Aus dieser Spannweite resultierten divergierende Deutungsmuster und Diskurse über den Krieg und die Kriegserfahrungen, die noch
lange nach 1918 wirksam blieben und die Nachkriegsentwicklungen bestimmten.
Die Vielzahl und Vielfalt dieser Deutungen, so Ziemann, schließen jede eindimensionale Interpretation aus.
Als weithin bekanntes Beispiel für Kriegsdeutungen wendet sich Ziemann den
Anfang der 1920er Jahre unter dem Titel »In Stahlgewittern« publizierten Kriegstagebüchern Ernst Jüngers zu. Ein Abgleich des seit Kurzem edierten Originals mit
der veröffentlichten Fassung weist nach, dass Jüngers Erfahrungen während des
Krieges keinesfalls mit seinen späteren Neubewertungen bzw. Umdeutungen deckungsgleich waren. Insoweit sind auch die vielfältigen Sinnstiftungsversuche, die
meist um die Pole christlichen Glaubens und der Nation zirkulierten, in zeitgenössische und spätere zu differenzieren, wenngleich sich in der zweiten Hälfte und
vor allem im letzten Halbjahr des Krieges die Auffassung Bahn brach, für eine sinnlose Sache geopfert zu werden. Eine ältere These Wilhelm Deists über einen verdeckten Militärstreik im deutschen Heer im zweiten Halbjahr 1918 bestätigend,
legt Ziemann dar, dass Formen der zeitgenössisch als »Drückebergerei« apostrophierten Gewaltverweigerung wie die Simulation von Krankheiten, Selbstverstümmelungen, unerlaubte Entfernungen, Desertionen und Überlaufen zu Massenphänomenen geworden waren, wie auch die Flut dagegen gerichteter Direktiven der
Militärbürokratie belegt. Seltsam berührt lediglich, dass der Verfasser Begriffe wie
Desertion und Überlaufen, die nicht nur im Militärstrafrecht verschiedene Sachverhalte bezeichnen, synonym verwendet (S. 92 ff.). Gemeinsam hatten alle diese
Verweigerungsformen, dass sie auf einen Frieden um jeden Preis abzielten.
Im letzten Großkapitel wird die Gewaltverarbeitung nach Kriegsende untersucht. Es gelang den ihrer Eigendefinition nach »nationalen Verbänden«, eine »mediale Gewöhnung an Gewalt« (S. 170) zu bewerkstelligen und solcherart Krieg und
Heldentod zu verherrlichen. Freilich gab es auch die gegenläufige Entwicklung
vom frontbewährten Berufsoffizier zum Pazifisten, wie die Fallstudie zu Heinrich
Schützinger ausweist. Anschließend analysiert Ziemann noch zwei kriegskritische
bzw. pazifistische Romane, deren Bedeutung für den öffentlichen Diskurs allerdings in der Schwebe bleibt.
Gleichwohl bietet Ziemanns Arbeit, ungeachtet ihrer Beschränkung auf die
Westfront und auf die deutsche Seite, eine Vielzahl neuer und weiterführender
Einsichten, zu denen auch und vor allem gehört, dass sie eindimensionale Kontinuitätslinien von der alltäglichen Gewaltpraxis während des Ersten Weltkriegs zu
den Gewaltphänomenen der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs zurückweist. Im Weimarer Deutschland gab es, folgt man dem Verfasser, keine größere Gewaltbereitschaft als in den übrigen am Weltkrieg beteiligten Staaten; vieles
deutet sogar auf das Gegenteil hin (S. 160 ff.). Nicht ganz widerspruchsfrei wird
betont, dass die nationalen Jugendverbände der Weimarer Republik im Dienst der
Verherrlichung und Polarisierung der Kriegserinnerung gestanden hätten (S. 171).
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Dessen ungeachtet: Die Verzahnung quantifizierender und qualifizierender, auf
einem vielfältigen Mix von archivalischen Primärquellen beruhenden Zugängen
überzeugt restlos. Hinzu kommt, dass Ziemann in der Literatur anzutreffende Behauptungen wie jene über die umstandslose Tötung gegnerischer Kriegsgefangener ins Reich der Legende verweist (S. 72). Vielmehr war man sich im Ersten Weltkrieg, anders als im Zweiten, noch bewusst, dass auch auf der anderen Seite
Menschen kämpften, und verhielt sich dementsprechend.
Studien zu einzelnen am Weltkrieg beteiligten Staaten sind selten geworden.
Manfried Rauchensteiner legt zu Österreich-Ungarn ein mit rund 1200 Seiten wahrhaft monumentales Werk vor; es handelt sich um eine komplette Neubearbeitung
seiner 1993 erstmals erschienenen Arbeit »Der Tod des Doppeladlers«, die noch
mit etwas mehr als 700 Textseiten das Auslangen gefunden hatte. Die inzwischen
auch ins Englische übersetzte Neuausgabe wird wie ihre Vorgängerin wohl für etliche Jahre das Standardwerk zu Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg bleiben,
zumal sie mangels Konkurrenz eine Monopolstellung innehat. Das Buch stellt allerdings allein aufgrund seines enormen Umfangs und der auf nicht weniger als
90 Druckseiten ausgebreiteten Endnoten an das Durchhaltevermögen der Leser
außerordentlich hohe Anforderungen. Freilich schreibt Rauchensteiner, der bis zu
seiner Pensionierung 2005 das Heeresgeschichtliche Museum in Wien leitete, in
einem angenehmen, flüssig zu lesenden Stil, immer klar und präzise und ohne unnötige Aufgeregtheit.
Das Grundgerüst der Arbeit blieb seit 1993 im Wesentlichen unverändert, Rauchensteiner hat es allerdings durch den Einbau moderner Forschungskonzepte
(etwa jenes der »Sozialisierung der Gewalt«, S. 44) sowie durch eine stärkere Gewichtung wirtschafts-, alltags- und kulturhistorischer Perspektiven ausgeweitet.
Ein komplett neu eingefügter Abschnitt »Lager« (S. 835 ff.) über internierte Zivilisten behandelt darüber hinaus die Situation von Kriegsgefangenen in der Habsburgermonarchie sowie spiegelbildlich das Schicksal von k.u.k. Soldaten im gegnerischen Gewahrsam; diese Ergänzung reagiert unmittelbar auf den in den letzten
Jahren gewandelten Forschungsstand. Im Großen und Ganzen handelt es sich jedoch um eine auf weite Strecken gegenüber 1993 textgleiche, der klassischen Diplomatie-, Politik- und Militärgeschichte verpflichtete Arbeit, die ihre chronologisch angeordneten Gegenstände primär beschreibt und dann analysiert, ohne sie
in aufwändige theoretische Konzepte einzubetten. Dieser narrative Zugang zeigt
sich von der ersten Seite an, verzichtet das Buch doch ebenso auf eine Einleitung
wie auf eine Darlegung seiner Forschungsfragen. Grundlegende Modifikationen
der 1993 ausgebreiteten Befunde darf der Leser also nicht erwarten; vielleicht waren diese auch nicht erforderlich.
Hinsichtlich der Einschätzung der Rolle Österreich-Ungarns bei der Entfesselung des Weltkriegs stößt man jedoch auf Nuancen: Der Verfasser betont zwar nach
wie vor, in Wien habe man wohl einen großen Krieg als mögliche Folge des geplanten aggressiven Vorgehens gegen Serbien in Kauf genommen, darauf allerdings nicht hingearbeitet. Deutlich neubewertet ist hingegen die Rolle Kaiser Franz
Josephs, bei dem laut Rauchensteiner bis zum Tod des Monarchen im November
1916 alle Fäden zusammenliefen und der im Sommer 1914 die Entscheidungen
mehr oder minder allein traf, ohne von der sonst gerne in den Vordergrund geschobenen Clique von Kriegstreibern instrumentalisiert werden zu müssen (S. 127).
Nicht ganz im Einklang mit dieser These wird auf das nach dem Thronfolgermord
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und dem Wegfall der Nebenregierung des Erzherzogs Franz Ferdinand auftretende »gewaltige Machtvakuum« hingewiesen (S. 91 f.).
Trotz der erwähnten Schwerpunktsetzungen gibt es in diesem Werk kein relevantes Thema, das nicht gebührend Erwähnung findet. Alle Erzählstränge – nicht
nur die diplomatischen und militärischen, sondern auch die gesellschaftlichen und
sozioökonomischen – laufen mit einer gewissen Folgerichtigkeit auf die Auflösung
der Habsburgermonarchie zu. Für dieses Resultat des Krieges macht Rauchensteiner, stärker als früher, neben externen Faktoren hausgemachte innenpolitische Fehler, insbesondere beim Umgang der herrschenden Eliten mit den nicht-dominanten Völkerschaften des Reiches, verantwortlich. Die schon per se außerordentlich
drückenden Kriegslasten waren in Österreich-Ungarn im Vergleich mit anderen
kriegführenden Staaten besonders ungleich verteilt, was den inneren Zusammenhalt dieses Vielvölkerstaates langsam aber stetig untergrub. Selbst die dem Gesamtstaat explizit skeptisch gegenüberstehenden Völker, allen voran die Tschechen, neigten den klugen Argumenten des Verfassers zufolge nicht eo ipso zu
Verrat und Desertion, wie ihnen seitens deutschnationaler Heißsporne und nach
Sündenböcken suchender Generäle vorgeworfen wurde. Man trieb sie vielmehr
durch eigene Führungsfehler sowie die augenscheinliche Reformunfähigkeit geradezu in die Hände der Gegner. Mit anderen Worten: Die von der Staats- und Armeeführung befürchtete Ethnisierung der Loyalitätsmuster wurde so erst herbeigeführt. Gleichwohl unterstreicht dieses Buch, dass der durch die Sezession der
nicht-deutschen Völker ausgelöste Zusammenbruch bzw. Auseinanderfall des Reiches erst zu einem Zeitpunkt eintrat, als nach mehr als vierjährigem Krieg die personellen und materiellen Ressourcen der Donaumonarchie restlos erschöpft waren.
Auch in den dem eigentlichen Kriegsgeschehen gewidmeten Passagen, deren
Solidität bei der Person ihres Verfassers nicht überrascht, stößt man auf zahlreiche
innovative Gedanken und inspirierende Einsichten. Besonders gelungen ist eine
Mikrostudie über das Verhalten und den Kampfwert der habsburgischen Verbände
unter Berücksichtigung ihrer ethnischen Zusammensetzung, die unter der bezeichnenden Überschrift »Von Helden und Feiglingen« (S. 329 ff.) vorgestellt wird. Anders als Mannschaftssoldaten konnten Offiziere, die im Kampf physisch und/oder
psychisch versagt hatten, zwar auf eine vergleichsweise milde Behandlung hoffen,
dies galt jedoch nicht für die höheren Befehlshaber vom Divisionskommandeur
aufwärts, von denen bereits nach den ersten Rückschlägen 1914 Dutzende abgelöst wurden – mehr als in jeder anderen am Weltkrieg beteiligten Armee. Dem Ehrenkodex der Zeit entsprechend, blieben Suizide unter den Betroffenen nicht
aus.
Hier kann nur ein kleiner Ausschnitt der in 32 Kapiteln ausgebreiteten Themen- und Materialfülle Erwähnung finden. Treffend gelingt es Rauchensteiner, die
großen Linien nicht nur präzise zu zeichnen, sondern sie – aus seiner beeindruckenden Quellenkenntnis schöpfend – anhand von treffenden Beispielen zu veranschaulichen. Schade ist lediglich, dass der Band so spärlich bebildert ist; es gibt
bloß jeweils ein Foto am Beginn der 32 Kapitel. Die beiden am Anfang und am
Ende platzierten Landkarten des östlichen und südlichen Kriegsschauplatzes sind
unbrauchbar, da sie lediglich Orte verzeichnen und dies noch dazu mit den heutigen Namen, die im Text nicht verwendet werden. Leser, die mehr als 1000 Seiten
gediegener Fachprosa zu schätzen wissen und sich von gelegentlich vorkommenden, heute selten gewordenen Begriffen wie »Tragik« und »Schicksal« nicht
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irritieren lassen, kommen bei Rauchensteiner jedoch voll auf ihre Rechnung. Er
breitet eine immense Material- und Themenfülle aus, über deren Einordnung sich
der Leser eigene Gedanken machen mag, ja häufig machen muss, weil ihm der Verfasser seine Meinung nicht aufzwingt. Die Darstellung auch noch über das
Kriegsende hinauszuführen und die Folgen des Weltkriegs wenigstens skizzenhaft aufzuzeigen, hätte wohl den Umfang endgültig gesprengt.
Das abgelaufene Gedenkjahr hat neben einer Vielzahl an Monografien und
Sammelbänden auch neue Quelleneditionen hervorgebracht, wobei es sich überwiegend um Ego-Dokumente wie Sammlungen von Feldpostbriefen oder autobiografische Erinnerungen handelte. Ein eigenes Genre bildet die hier abschließend
vorzustellende Edition eines Familienrundbriefs, der auf an dessen »Redaktion«
übersandten Feldpostbriefen und sonstigen schriftlichen Mitteilungen beruhte. Mit
den damaligen technischen Mitteln in mehreren Dutzend Exemplaren vervielfältigt, wurden diese Kompilationen an die Mitglieder der weitverzweigten rheinischen großbürgerlichen Familie Trimborn verschickt. Initiiert hatte den mit
»Mars« betitelten Rundbrief der Kölner Zentrumspolitiker und Reichstagsabgeordnete Carl Trimborn (1854–1921), die durchaus professionell geleistete Redaktionsarbeit lag in den Händen seines Bruders Max. Carl Trimborns kurz nach Kriegsbeginn an seine vielköpfige Verwandtschaft, von der 30 Personen aktiv am Krieg
teilnahmen und sieben in ihm starben, gerichteter Appell, ihm kriegsrelevante
Neuigkeiten zwecks Zirkulation im Familienkreis einzusenden, fiel offenbar auf
fruchtbaren Boden, denn die Wiedergabe des Mars nimmt in der von Heinrich Dreidoppel, Max Herresthal und Gerd Krumeich herausgegebenen Edition nahezu
600 Druckseiten ein. Zwischen August 1914 und August 1918 wurden insgesamt
64 Ausgaben verschickt, schwerpunktmäßig in den beiden ersten Kriegsjahren
(1914: 23 Ausgaben, 1915: 24). Ab 1916 dünnte die Berichterstattung merklich aus
und die Abstände zwischen den einzelnen Nummern wurden länger. Zur Feder
griffen nicht nur Soldaten (fast alle im Felde stehenden Trimborns hatten Offizierränge inne), sondern auch ältere Familienmitglieder, die in den diversen Besatzungsverwaltungen (vor allem im nahen Belgien) eingesetzt waren. Auch Frauen
sind unter den Beiträgern des Mars zu finden.
Lässt man die unvermeidlichen Familieninterna außer Acht, so besticht die Edition durch ihren Themen- und Perspektivenreichtum. Obwohl sich Patriotismus
in den Reihen dieser großbürgerlichen Familie von selbst verstand, spiegeln die
im Originalton wiedergegebenen Einsendungen doch den Wandel von der anfänglichen Kriegseuphorie zur Ernüchterung – ein Vorgang, der allerdings nicht mit
Defätismus verwechselt werden darf und der eher in einen zähen Durchhaltewillen mündete. Wenngleich die dem Feldheer angehörenden Einsender wissen mussten, dass ihre Schilderungen auch von als zartbesaitet geltenden Damen gelesen
werden würden, nahmen sie bei ihren Ausführungen zum grausigen Geschehen
an den Fronten kein Blatt vor den Mund. Liest man die Mars-Ausgaben wie die
seinerzeitigen Adressaten in ihrer chronologischen Reihenfolge, so wird das groteske Nebeneinander von Banalitäten, Etappenidylle und Massensterben anschaulich.
Wo erforderlich, sind in den Quellen erwähnte Personen und Begebenheiten in
Fußnoten kommentiert; ein umfangreicher Anhang bietet weitere für das Verständnis wichtige Informationen, z.B. zu militärischen Jargon- und Fachausdrücken sowie Abkürzungen, zu den erwähnten Personen und deren Verwandtschaftsverhältnissen sowie zu den genannten topografischen Bezeichnungen. Man kann den
Buchbesprechungen: 1871–1918
205
Herausgebern zu der rundum gelungenen Edition dieses bislang einzig bekannten,
regelmäßig versandten Familienrundbriefs aus den Jahren des Ersten Weltkriegs
nur gratulieren. Es ist gerade die im Mars greifbare, subjektive und doch erstaunlich multiperspektivische Sicht auf den Krieg seitens von ihm direkt oder indirekt
Betroffener, welche die Darlegungen der Historiker bestens ergänzt.
Fasst man den Ertrag des schon 2013 voll einsetzenden Gedenkjahres an den
Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen, so sticht zuerst der gewaltige Umfang
des publizistischen Ausstoßes ins Auge. Weder große noch kleinere Verlage wollten
es sich nehmen lassen, entsprechende Schwerpunkte zu setzen und vor allem eine
eigene Gesamtdarstellung des Weltkriegs anzubieten. Die Leserschaft kann folglich zwischen kaum mehr als 100 Seiten langen Grundrissen und dickleibigen Monografien wählen oder in kleinteilig strukturierten, stark auf Abbildungen setzenden Sammelbänden schmökern. In dieser Bücherflut vermisst man aber neue,
innovative Ansätze und unkonventionelle Thesen, sieht man von jenen da oder
dort als provokativ empfundenen ab, die Christopher Clark in »Die Schlafwandler« aufgestellt hat. Dieser insgesamt überaus bescheidene wissenschaftliche Ertrag zeigt sich – bei aller Unterschiedlichkeit im Detail – auch in jenen Postulaten,
auf die kein Autor und kein Verlag verzichten: Durchgängig betont wird die globale Ausrichtung des eigenen Werkes und die heuristische Nützlichkeit des Gewalt-Paradigmas; keine noch so kurze Darstellung kommt ohne einen Abschnitt
zur Memorialkultur aus. Soweit es um historiografische Fortschritte geht, klaffen
Quantität und Qualität der Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg also deutlich
auseinander.
Martin Moll
Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London: Allen Lane 2012, XXIX, 697 S., £ 30.00 [ISBN 978-0-713-99942-6]
In seinem Buch greift Christopher Clark eine Thematik auf, die in den letzten Jahren verstärkt auf wissenschaftlichen Tagungen diskutiert wurde. Ich vermeide dabei die Behauptung, dass er den Weg zum Ersten Weltkrieg beschreibt. Es ist vielmehr die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, der er sich widmet. Dies macht einen
großen Unterschied, da bei anderen Autoren der Kriegsausbruch als unvermeidlich dargestellt wurde, bei Clark beginnt er zunächst als eine von vielen Krisen,
die sich durch Verkettung verschiedenster Umstände zu einer schwerwiegenden
auswächst. Obwohl der Band mit fast 700 Seiten nicht gerade die perfekte Lektüre
für unterwegs zu sein scheint, schreibt Clark flüssig und spannend. Der breite
Raum, der ihm zur Verfügung steht, ermöglicht es, dass er die Vielschichtigkeit,
die geschichtliche Abläufe stets charakterisiert, aufzeigen kann. Die Arbeit ist keine
Quellenstudie, sondern basiert auf Sekundärliteratur, Zeitschriften, Zeitungen und
gedruckten außenpolitischen Quellen. Alle wichtigen Arbeiten in deutscher, englischer und französischer Sprache fanden Berücksichtigung.
Leider allzuoft erschöpfen sich Publikationen zu dieser Thematik bereits im
deutsch-französischen Konflikt. Die allermeisten Arbeiten lassen die beteiligten
kleinen Nationalstaaten außen vor, womit diese zu bloßen Mitläufern ohne eigene
Politik verkommen und auch Österreich-Ungarn kaum Erwähnung findet. Dies ist
bei Clark nicht der Fall. Ausführlich geht er auf die politische, wirtschaftliche, soziale Lage und öffentliche Debatte etwa in Serbien ein. Auch Österreich-Ungarn
206
MGZ 73 (2014)
Buchbesprechungen
wird umfassend behandelt. Allerdings hätte der Autor den Vorgängen im Osmanischen Reich und den USA breiteren Raum widmen können.
Studien über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg widmeten sich bislang meist
nur einem Aspekt oder historischen Fachgebiet. Sie handeln etwa nur von den außenpolitischen Vorgängen, beschränken sich auf die soziale Lage oder handeln einen bestimmten Konflikt ab. Die Außenpolitik wird bei Clark nicht als Ursprung
aller Politik behandelt, sondern die Meinungsbildung, die der Politik vorausgeht,
wird als ein Zusammenspiel vieler Faktoren betrachtet. Darunter fallen Politiker,
Journalisten, Wissenschaftler, Militärs, Wirtschaftstreibende, ja selbst die regierenden Herrscherhäuser und deren Mitglieder – sie zusammen bilden die öffentliche Meinung und Überzeugung. Sie können in einem bestimmten Moment Politik maßgeblich beeinflussen.
Dass Clark sein Buch mit einem Kapitel über das 1903 in Belgrad begangene
Attentat am österreichfreundlichen serbischen König beginnt, hatte bereits eine
hitzige Debatte in den Medien und auf Konferenzen zur Folge, wurden daraus
doch Schlüsse auf den Ursprungsort des Krieges gezogen. Sicherlich sollte der Blick
gleich vorneweg vom Deutschen Reich und Frankreich auf einen anderen Schauplatz verlegt werden. Wer allerdings weiter liest, bemerkt, dass vom Autor nicht
beabsichtigt sein kann, Serbien als Anfangspunkt zu benennen, denn er stellt für
jedes Land Kriegstreiber/Provokateure und Beschwichtiger/deeskalierende Kräfte
vor. Es ist die These Clarks von den doves und den hawks, den Tauben und Falken,
die mich als Leserin zum Nachdenken gebracht hat. Für Clark war jedes Land beeinflusst von diesen zwei unterschiedlichen Stoßrichtungen, die abwechselnd entscheidend werden konnten. Clark zeigt auf, dass es unter den serbischen Politikern, Militärs und Journalisten ebenso Kriegstreiber gab wie den Frieden suchende
Personen. Dies hieß allerdings im Fall des serbischen Ministerpräsidenten Nikola
Pašić nicht, dass nicht trotzdem nationalistisch-expansionistische Ziele verfolgt
wurden. An Beispielen und Krisen zeigt Clark auf, dass es sich in Frankreich, dem
Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und dem Russischen Reich ebenso verhielt.
Clark stellt demnach nicht ein Land oder eine Seite als Kriegstreiber hin. Es
sind einzelne Personen, die gerade tonangebend sind, die Meinungen vorgeben,
entscheiden und handeln. Er zeigt auch, dass sowohl doves wie hawks unterschiedlichste Beweggründe für ihre Haltung aufwiesen: etwa wirtschaftlichen Profit oder
bessere Aussichten auf eine Wiederwahl; und dass es oft persönliche Motive waren, die sogar höchste Staatsmänner in ihren Entscheidungen und Haltungen gegenüber einzelnen Ländern beeinflussten, wie etwa den britischen König, der aufgrund eines unangenehmen Erlebnisses in der Kindheit die Deutschen ablehnte.
Einzelne Politiker griffen solche Ablehnungen und Bevorzugungen dann auf, um
sich beliebt und Karriere zu machen. Der Einfluss des persönlichen Charakterzugs
zeigte sich, laut Clark, auch beim deutschen Kaiser Wilhelm II., bei dem, ebenso
wie beim österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand, jeden Tag eine
neue Meinung zum selben Gegenstand erwartet werden konnte.
Maria Todorova bemerkt in ihrer Besprechung in The Times Literary Supplement
(18.1.2013), dass Clark erneut ein Balkan-Stereotyp vertrete. Ich meine, dass dem
nicht so ist. Clark findet auch in Frankreich und Großbritannien ausreichend Beispiele, in denen nach persönlicher Abneigung große Politik gemacht wird und
Gräueltaten aus politischer Opportunität unter den Teppich gekehrt werden
(Frankreichs Verhältnis zu Serbien nach dem Ersten Balkankrieg). Clark zeigt auch
Buchbesprechungen: 1871–1918
207
auf, dass es in jedem Land jederzeit Gruppen gab, die einem Krieg nicht negativ
gegenüberstanden.
Auch gab es nie die serbische, französische oder österreichisch-ungarische Politik, sondern sie war beeinflusst von einem Auf und Ab der Kräfte innerhalb eines
Landes. Abneigungen und Sympathien waren somit nicht festgefahren, sondern
wurden von Machtkämpfen bestimmt. In Frankreich gab es auch Stimmen für ein
Bündnis mit dem Deutschen Reich. Sie setzten sich bloß nicht durch. Clark zeigt
auch die Abhängigkeit der Meinungsbildner von ihren Parteigängern, vorherigen
Aussagen und der öffentlichen Meinung. Sie konnten nicht immer situationsbedingt handeln und einlenken, selbst wenn sie das wollten. Clarks Buch zeigt sehr
gut, wie politische (Entscheidungs-)Prozesse funktionier(t)en. Es ist grundsätzlich
zu empfehlen, auch wenn kleinere Unklarheiten auftauchen. So schreibt er etwa
von »Austrians«, die »suspicious« (S. 88) gegenüber den Serben aufgetreten wären. Hier wäre ein Hinweis im Hinblick auf die österreichisch-ungarische Staatsform für ein besseres Verständnis der weiteren Aussage nützlich gewesen. Meint
Clark damit die deutschsprachige Öffentlichkeit in der österreichischen Reichshälfte oder alle Bürger und somit auch die Tschechen und Kroaten? In ÖsterreichUngarn kann auf keinen Fall die eine Hälfte als deutsch bezeichnet werden und
die andere als ungarisch (S. 66).
Wie andere vor ihm handelt Clark die Krisen und Kriege vor 1914 ab. Er zeichnet anschaulich nach, wie bei diesen Krisen und kleineren kriegerischen Konflikten
aber stets zumindest auf einer Seite die doves die Oberhand gewannen. Ein Flächenbrand wurde somit stets vermieden. Im Juli 1914 überwogen für Clark schließlich die hawks, was die Staatenwelt in den Ersten Weltkrieg schlittern ließ. Um am
Schluss auf den für den Titel gewählten Begriff der Schlafwandler einzugehen: Dieser scheint nach der Lektüre eigentlich nicht angebracht, da die hawks alles andere
als irgendwo hinein trudelten. Im Gegenteil: Sie suchten den Konflikt und fanden
ihn schließlich.
Tamara Scheer
1914. Das andere Lesebuch zum 1. Weltkrieg. Unbekannte Dokumente der
österreichisch-ungarischen Diplomatie. Hrsg. von Rudolf Agstner, Münster
[u.a.]: LIT 2013, 251 S. (= Forschungen zur Geschichte des österreichischen
Auswärtigen Dienstes, 8), EUR 29,90 [ISBN 978-3-643-50530-9]
In seinem Vorwort schildert der Herausgeber Rudolf Agstner, wie es zum vorliegenden Buch kam: »Gesucht waren authentische Texte der k.u.k. Diplomatie des
Jahres 1914, die durch Schauspieler [bei Lesungen] vorgetragen werden könnten,
wenn möglich völlig unglaublich klingende Dokumente, ja geradezu ›kafkaeske‹
Berichte von k.u.k. Botschaftern, Gesandten und Konsuln des k.u.k. Ministeriums
des k.u.k. Hauses und des Äußern, Weisungen desselben an die k.u.k. Vertretungsbehörden im Ausland, Vorträge des k.u.k. Ministers des Äußern Leopold Graf
Berchtold an Seine Majestät den Kaiser, die seit bald hundert Jahren in verstaubten
Aktenschachteln geruht hatten« (S. 9). Wer sich an »Die letzten Tage der Menschheit« erinnert fühlt, trifft die Intention von Herausgeber und Verlag. Durch Umschlaggestaltung und Textzitate wird Karl Kraus die Referenz erwiesen (S. 12, 57,
79, 112, 141, 154, 163, 175). Den eigentlichen Inhalt bilden jedoch die Dokumente
208
MGZ 73 (2014)
Buchbesprechungen
aus dem Jahr 1914, aus denen Agstner ein facettenreiches Bild des diplomatischen
Betriebs Österreich-Ungarns komponiert.
Der Herausgeber ist selbst österreichischer Karriere-Diplomat und Verfasser
zahlreicher Monografien und Beiträge zur Geschichte des Auswärtigen Dienstes
sowie der Auslandsvertretungen der Habsburgermonarchie und der Republik Österreich. Zentraler Ausgangspunkt seiner bisherigen Forschungen zu ÖsterreichUngarn war das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und ihm entstammen auch fast alle
der hier aufgenommenen Dokumente. Schon seit den Aktenpublikationen der
Kriegs- und Zwischenkriegszeit sind die Bestände dieses Archivs zur Rekonstruktion der außenpolitischen Entscheidungsprozesse der letzten Friedensjahre und
des Sommers 1914 herangezogen worden. Darüber, wer, wann, wie und warum
welche der Weichen in diesem Entscheidungsprozess stellte, finden sich in diesem
»etwas anderen Lesebuch« denn auch kaum neue Quellen. Immerhin gibt es eine
bemerkenswerte Ausnahme: Die Ausschnitte aus dem Tagebuch des Konsularbeamten Heinrich Wildner, der von 1909 bis Januar 1914 zunächst noch das Konsulat in Belgrad leitete, um dann in der handelspolitischen Sektion des Außenministeriums am Wiener Ballhausplatz Dienst zu tun, bieten eine wertvolle Ergänzung
der Briefe und Memoiren von Schlüsselfiguren im Umfeld Berchtolds und in den
Botschaften Österreich-Ungarns.
Wie schon das Zitat aus dem Vorwort verdeutlicht, geht es Agstner aber eigentlich auch nicht darum, konkrete Schlüsselentscheidungen zu rekonstruieren und
zu bewerten, sondern eher darum, ein Stimmungsbild des auswärtigen Apparats
der Donaumonarchie zu zeichnen, das der Vielschichtigkeit und Vielfalt von Einstellungen, Aufgaben und Handlungsweisen der Akteure gerecht wird. Der Blick
auf die knapp sechs Monate vor dem Attentat von Sarajevo fällt verhältnismäßig
kurz aus; die Zeit von Anfang August bis Jahresende wird dagegen breiter dokumentiert. Wichtig sind die Ausgriffe über die Wochen der Julikrise hinaus in jedem
Fall, denn sie verdeutlichen, wie lange die Entwicklung im Frühjahr und Sommer
1914 offen schien, aber auch, wie stark dann ab August die Diplomaten in militärische Belange einbezogen wurden. Als eine Art Bilderbogen illustriert die erste
Hälfte der Dokumentensammlung die Mahnung, bei der Erforschung der Ursachen und Anlässe des Ersten Weltkriegs die Offenheit der Zukunft, der sich die
Zeitgenossen bei ihrem Handeln gegenüber sahen, nicht aus den Augen zu verlieren. Zusammenmontiert evozieren die Texte zudem eine surreale Atmosphäre –
auf den Spuren von Karl Kraus und damit ganz im Sinne des Herausgebers.
Günther Kronenbitter
Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des
Orients. Hrsg. von Wilfried Loth und Marc Hanisch, München: Oldenbourg
2014, 215 S., EUR 39,95 [ISBN 978-3-486-75570-1]
Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hat in diesen Tagen Konjunktur. Es gibt
jede Menge neue Bücher, in denen noch einmal das Grauen dieses Krieges erzählt
wird. Da ist viel Altbekanntes dabei, aber auch so manch Neues, etwa wenn deutlich gemacht wird, dass es ein Weltkrieg war, mit Kriegsereignissen an Schauplätzen, die in mancher Hinsicht auf lange Sicht »nachhaltiger« wirkten als an der Ost-,
West- oder Isonzofront. Das gilt insbesondere für den Nahen und Mittleren Osten,
mit dem sich der vorliegende Sammelband beschäftigt.
Buchbesprechungen: 1871–1918
209
Auf dem Höhepunkt der Julikrise 1914 erteilte Wilhelm II. die Anweisung, dass
»unsere Consuln in Türkei und Indien, Agenten etc. [...] die ganze Mohamedan[ische]
Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen [müssen]; denn wenn wir verbluten sollen, dann soll England
wenigstens Indien verlieren«. Der Chef des Generalstabes, Helmuth von Moltke,
bestätigte das umgehend: »Von höchster Wichtigkeit ist [...] die Insurrektion von
Indien und Ägypten, auch im Kaukasus. Durch den Vertrag mit der Türkei wird
das Auswärtige Amt in der Lage sein, diesen Gedanken zu verwirklichen und den
Fanatismus des Islam zu erregen.«
Gemeinsam mit den verbündeten Türken und mit einem Aufruf zum »Dschihad« sollte ein Aufstand in der islamischen Welt von Marokko bis Indien vor allem
gegen die britische Fremdherrschaft entfacht werden. Die wichtigsten deutschen
Akteure bei diesem Versuch waren Max von Oppenheim, Colmar Freiherr von der
Goltz, Rudolf Nadolny, Wilhelm Waßmuß und Fritz Klein. Marc Hanisch (Doktorand bei Wilfried Loth) beschäftigt sich mit dem bekannten Diplomaten und Orientalisten Max von Oppenheim (1860–1946), der bis 1914 sechzehn Jahre lang im
Orient tätig gewesen war – länger als jeder andere Mitarbeiter des Auswärtigen
Amts. Im Herbst 1914 legte er eine 132 Seiten umfassende »Denkschrift zur Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde« vor. Dem Historiker Fritz
Fischer diente später diese Denkschrift als weiterer Beweis für Deutschlands »Griff
nach der Weltmacht«. Schon Alexander Will hatte das zurückgewiesen (vgl. MGZ,
72, 2013, Heft 1). Hanisch bestätigt Wills Auffassung und weist nach, dass Oppenheims politisch-praktischer Einfluss eher gering war.
Der Militärhistoriker Bernd Lemke aus Potsdam untersucht die Aufstands- und
Eroberungspläne des Colmar von der Goltz (1843–1916), einem »Grenzgänger zwischen Orient und Okzident« (S. 58). Von 1883 bis 1895 war Goltz der Chef des Osmanischen Generalstabes; 1911 wurde er zum Generalfeldmarschall ernannt und
übernahm 1915 das Kommando über die 6. osmanische Armee und damit die Leitung der Kriegführung in Mesopotamien und Persien. Er war ein radikaler Feind
der Briten, verfolgte »globale Kriegspläne und begann mit einem Vorstoß nach Indien zu liebäugeln« (S. 43), was ihm den Vorwurf einbrachte, durch Zersplitterung
der Kräfte die eigentlichen Ziele der deutschen Kriegführung konterkariert zu haben. Goltz blieb umstritten: einerseits übte er nachhaltigen Einfluss auf das türkische Offizierkorps aus – mit Langzeitwirkung: entscheidende Erfolge konnten
die Briten bekanntlich erst im letzten Kriegsjahr erzielen. Andererseits ermutigte
er die osmanische Führung durch Schaffung spezieller kurdischer Kavallerie-Einheiten zumindest indirekt zu Massakern an den Armeniern. Lemke nennt Goltz
und Oppenheim in einem Atemzug: »Beide sind insgesamt gesehen gescheitert«
(S. 49).
Zeitweise erfolgreicher war Rudolf Nadolny (1873–1953) in Persien. 1914 waren russische Truppen ins Zentrum des Landes einmarschiert und hatten Teheran
umschlossen. Nationalpersische Kräfte riefen Ende 1915 eine Gegenregierung in
Kermanschah aus, bei der Nadolny ab 1916 als Gesandter tätig war. Er wollte dort
ein »kleines Muster-Persien« aufbauen – als strategische Verbindung nach Afghanistan und Indien. Von Anfang an gab es dabei Probleme mit dem türkischen Verbündeten und auch mit dem deutschen Botschafter an der Hohen Pforte, Richard
von Kühlmann. Mit der erfolgreichen britischen Offensive 1917 fand Nadolnys
Mission ihr abruptes Ende. Am 25. April 1917 wurde die Gesandtschaft offiziell
aufgelöst.
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MGZ 73 (2014)
Buchbesprechungen
Stefan Kreutzer, Doktorand an der Universität München, erzählt die Geschichte
von Wilhelm Waßmuß (1880–1931), dem »deutschen Lawrence«, wie ihn die Engländer nannten. Er leitete Ende 1914 eine Expedition nach Afghanistan, die den
Emir überzeugen sollte, mit einem Einfall in den Punjab einen Aufstand gegen die
Briten in Indien zu provozieren. Waßmuß blieb in Deutschland weitgehend unbekannt, obwohl er der Anführer des einzigen erfolgreichen Aufstandes gegen die
britische Besatzung in Persien bis 1918 war.
Ähnlich erfolgreich war Hauptmann Fritz Klein, wie Veit Veltzke, Direktor des
preußischen Museums Nordrhein-Westfalen in Wesel, in seinem Beitrag deutlich
macht. Mithilfe von Araberstämmen konnte Klein die türkische Irakfront stabilisieren, seine Leute sprengten britische Ölleitungen, in Westpersien wurde 1915 der
Durchbruch russischer Truppen nach Mesopotamien und damit die geplante Vereinigung mit den Briten verhindert.
»Im wilden Kurdistan« (so der Titel des Beitrages von Martin Kröger vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amts) war die »Aufwiegelung gegen unsere
Feinde« (so der Aktentitel im Auswärtigen Amt) nicht ganz so erfolgreich, weder
bei Sprengungen von russischen Erdölleitungen noch beim Entfachen eines muslimischen Aufstandes.
Vom viel zitierten »Heiligen Krieg« gegen deutsche Kriegsgegner im Nahen
Osten blieben wenig erfolgreiche Einsätze in Ägypten, Palästina und Syrien, die
Marc Hanisch in einem weiteren Beitrag beschreibt. Der Versuch, den Suezkanal
durch Versenkung eines Schiffes unpassierbar zu machen, scheiterte kläglich.
Alexander Will (Leipzig) bringt uns den österreichisch-ungarischen Militärbevollmächtigten in Konstantinopel näher: Feldmarschall Josef Pomiankowski. Er
war die Verkörperung der militärischen Präsenz Österreich-Ungarns im Osmanischen Reich. Von Zusammenarbeit mit den Deutschen konnte dabei keine Rede
sein. Will nennt als eigentlichen Grund für die österreichisch-ungarische Präsenz
»pro-österreichische und gegen Deutschland gerichtete Propaganda«. Dafür war
Pomiankowski der richtige Mann. Was bleibt? Es gab hochgesteckte Ziele auf deutscher Seite, aber es fehlten schlicht und einfach die Ressourcen. Ende 1917 war das
Osmanische Reich am Ende, am 9. Dezember zog der britische General Edmund
Allenby an der Spitze seiner Soldaten als Sieger in Jerusalem ein. Von nun an waren die Briten die Herren im Nahen Osten und verhielten sich auch so: sie gründeten willkürlich Staaten (Irak, Transjordanien), zogen willkürlich Grenzen und
hatten den Juden eine »nationale Heimstätte« in Palästina zugesichert. Damit waren die Probleme der nächsten Jahrzehnte vorprogrammiert. Sie sind bis heute
nicht gelöst.
Fazit: Ein hochinteressanter Band mit Beiträgen, die, anders als bei so manch
anderen Sammelbänden, weitgehend aus den Akten gearbeitet sind und eine faszinierende Lektüre bieten. Für eine Neuauflage wären eine Übersichtskarte – wer
kennt schon Buscher, Djerablus, Kerbela oder Kermanschah? – und ein Personenregister wünschenswert. Und ein Wunsch an den Verlag: bitte eine etwas größere
Schrift!
Rolf Steininger
Buchbesprechungen: 1871–1918
211
Stefan M. Kreutzer, Dschihad für den deutschen Kaiser. Max von Oppenheim
und die Neuordnung des Orients (1914–1918), Graz: Ares 2012, 191 S.,
EUR 19,90 [ISBN 978-3-902732-03-3]
In den zahlreichen Darstellungen über den Ersten Weltkrieg ist auf deutscher Seite
der Nahe Osten bislang eher zweitrangig behandelt worden. Im Vorfeld von
»100 Jahre Erster Weltkrieg« in diesem Jahr liegen jetzt aber drei Arbeiten vor, die
sich mit diesem Thema beschäftigen: von Alexander Will (Kein Griff nach der Weltmacht; vgl. MGZ, 72, 2013, Heft 1), Wilfried Loth/Marc Hanisch (Erster Weltkrieg
und Dschihad; vgl. MGZ, 73, 2014, Heft 1) und Stefan M. Kreutzer (und auf 80 Seiten auch Wolfgang G. Schwanitz [Islam in Europa]; vgl. MGZ, 72, 2013, Heft 2).
Ausgangspunkt für die Darstellung des Krieges im Nahen Osten ist zumeist die
Anweisung von Kaiser Wilhelm II. auf dem Höhepunkt der Julikrise 1914, dass für
den Fall eines Eingreifens Großbritanniens, »unsere Consuln in Türkei und Indien,
Agenten etc. [...] die ganze Mohamedan. Welt gegen dieses verhasste, verlogene,
gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen [müssen]; denn wenn
wir verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren« (Hanisch,
S. 13). Am 2. August schlossen Deutschland und das Osmanische Reich einen geheimen Vertrag, in dem sich Berlin zu militärischer Unterstützung verpflichtete
und Konstantinopel sich bereit erklärte, deutsche Offiziere in die Führung der türkischen Streitkräfte einzubinden.
Als Großbritannien am 4. August dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, gab
der Chef des Generalstabes, Helmuth von Moltke, die Order aus: »Von höchster
Wichtigkeit ist [...] die Insurrektion von Indien und Ägypten, auch im Kaukasus.
Durch den Vertrag mit der Türkei wird das Auswärtige Amt in der Lage sein, diesen Gedanken zu verwirklichen und den Fanatismus des Islam zu erregen« (Hanisch, S. 13). Gemeinsam mit den Türken und mit einem Aufruf zum Dschihad,
dem Heiligen Krieg, sollte ein Aufstand in der von Russen, Briten und Franzosen
beherrschten islamischen Welt von Marokko bis Indien entfacht werden.
Im Mittelpunkt aller Darstellungen steht fast immer Max von Oppenheim. Dieser legte Ende Oktober 1914 eine 136 Seiten umfassende »Denkschrift zur Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde« vor. Schon bei der Bewertung
dieser Denkschrift gehen die Meinungen auseinander. Während sie für Kreutzer
die »Blaupause« für die deutschen Revolutionierungsbemühungen darstellt (Kreutzer, S. 36), ist sie für Hanisch nur »›scheinbar‹ die Blaupause« (Hanisch, S. 14). Für
Schwanitz sieht alles noch ganz anders aus.
Wer war dieser Max von Oppenheim (1860–1946)? Er entstammte der einflussreichen Kölner Bankiersdynastie. Als er 16 Jahre alt war, schenkte man ihm eine
Ausgabe von »Märchen aus 1001 Nacht«, die seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollte. Der Orient ließ ihn nicht mehr los. 1892 zog er nach Kairo, mietete im
arabischen Teil ein Haus, lernte Arabisch und pflegte, anders als die übrigen Europäer in Kairo, engen Kontakt mit Einheimischen. Von Kairo aus unternahm er
Expeditionen an den Euphrat, nach Syrien und Mazedonien. Sein erster Versuch,
in den Auswärtigen Dienst aufgenommen zu werden, scheiterte: sein Name klinge
»zu semitisch«. Der zweite Versuch gelang: 1896 wurde er dem Generalkonsulat
in Kairo zugewiesen. 1910 quittierte er den Dienst. Bis dahin hatte er mehr als
500 Berichte an das Auswärtige Amt geschrieben und seinen Ruf als Orientexperte
gefestigt. In den folgenden zwei Jahren leitete er die Ausgrabungen der 3000 Jahre
alten aramäischen Tempelanlagen von Tell Halaf in Syrien, die er 1899 entdeckt
212
MGZ 73 (2014)
Buchbesprechungen
hatte. Die Funde dort machten den Hobbyarchäologen weltberühmt. Bei Kriegsausbruch meldete er sich in Berlin zum Dienst zurück.
In der angelsächsischen Historiografie ist das Urteil über ihn und die deutsche
Nahostpolitik eindeutig: Oppenheim gilt als »The Kaiser’s Spy«, die männliche
Mata Hari des Orients, und die deutsche Nahoststrategie als der perfide Versuch,
das britische Empire zu vernichten und an seiner Stelle ein deutsches Weltreich zu
errichten (Peter Hopkins, Donald M. McKale). Auch in der deutschen Geschichtsschreibung sah das bislang ähnlich aus, ausgehend von Fritz Fischers Einordnung
der Denkschrift. Er sah darin einen weiteren Beweis für Deutschlands »Griff nach
der Weltmacht«. Offensichtlich beeinflusst von dieser Interpretation, fällte der Nahostkenner Wolfgang G. Schwanitz ein vernichtendes Urteil über Oppenheim. Für
ihn ist er der »deutsche Vater des Heiligen Krieges« (Schwanitz, S. 104), der den
»armenischen Genozid rechtfertigte«; die Denkschrift somit ein »diabolischer Jihadplan« mit »tödlichen Dimensionen« (Schwanitz, S. 89) bis hin zum heutigen extremen Islamismus. Schwanitz zitiert die Aufforderung Oppenheims, Banden zu bilden, um überall »auf dem Lande die Engländer totzuschlagen« (Schwanitz, S. 92).
»Dieser deutsche Abu Jihad sah Terror, Boykott, Mob und politischen Mord vor«
(Schwanitz, S. 121).
Stefan M. Kreutzer, der an der Universität München u.a. Geschichte und Kultur des Nahen Orients sowie Turkologie studiert hat, sieht alles ganz anders. Er
zeichnet ein wohlwollendes, ja freundliches Bild von Oppenheim. Für ihn ist er
»kein demagogischer Agitator«, »kein agitatorischer Spion des Kaisers« (S. 42 f.),
sondern das genaue Gegenteil: lediglich ein »politisch interessierter, leidenschaftlicher Orientfan«. Seine Denkschrift verdeutliche demnach seine »liberale Seite,
seine Aufgeschlossenheit anderen Kulturen gegenüber und seinen Wunsch, diesen auf dem Weg in die Unabhängigkeit beizustehen« (S. 36). Oppenheim trieb
demnach auch »kein Hass gegen England oder eine andere Ententenation« (S. 45).
Kreutzer erwähnt dabei weder das o.g. Zitat bei Schwanitz noch den letzten Satz
der Denkschrift: »Das Eingreifen des Islam in den gegenwärtigen Krieg ist besonders für England ein furchtbarer Schlag. Tun wir alles, arbeiten wir vereint mit allen Mitteln, damit derselbe ein tödlicher wird.«
Kreutzer stellt zu Beginn seiner Arbeit die interessante Frage, ob die deutsche
Nahostpolitik im Ersten Weltkrieg möglicherweise »antiimperialistische Tendenzen
enthielt«, um das dann durchgehend zu bejahen. Oppenheim erkannte demnach
»die Gelegenheit für Deutschland, als Befreier der unterdrückten islamischen Nationen aufzutreten« (S. 47); seine Überlegungen seien von einem zu seiner Zeit »ungewöhnlich visionären, egalitären Freiheitsgedanken geprägt« gewesen (S. 49).
Kreutzer stellt zutreffend fest, es sei »mit Sicherheit ein ungewöhnlicher Gedankengang«, in der Außenpolitik des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg »antiimperialistische Wesenszüge« zu erkennen. Die deutsche Nahostpolitik unterscheide sich
aber »wesentlich von der sonst an den Tag gelegten imperialistischen Haltung«
(S. 167).
Kreutzer hat für seine Untersuchung auch Akten des Politischen Archivs des
Auswärtigen Amts in Berlin eingesehen. Seine These kann er damit aber nicht stützen. Und als ob er selbst an ihrem Gehalt zweifelt, räumt er am Ende auch ein:
»Selbst wenn die Freiheit der orientalischen Nationen nicht das Motiv des von Oppenheim initiierten und von Wilhelm II. geförderten deutschen Engagements im
Orient gewesen war, entfaltete es eindeutig eine antiimperialistische Wirkung«
(S. 169).
Buchbesprechungen: 1871–1918
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Fazit: Kreutzers interessante Darstellung endet leider mit Kriegsende 1918.
Über Max von Oppenheim kann man dennoch viel lernen; die unterschiedlichen
Wertungen werden bleiben; es wird wohl weiter über seine politische Arbeit – auch
über die zweite Denkschrift vom Juli 1940 – gestritten werden. (Lesen sollte man
dafür auch Lionel Grossman, The Passion of Max von Oppenheim, Cambridge
2013). Oppenheims Arbeit als Archäologe ist dagegen unbestritten. Sie kann seit
2011 im Pergamonmuseum Berlin bewundert werden.
Rolf Steininger
Leontij V. Lannik, Germanskaja voennaja élita perioda Velikoj vojny i revoljucii i »Russkij sled« v ee razvitii [Die deutsche militärische Elite in der Periode des Großen Krieges und der Revolution und die »russische Spur« in
ihrer Entwicklung], Saratov: Staatliche Universität Saratov 2012, 536 S.
[ISBN 978-5-7433-2473-6]
Russische Historikerinnen und Historiker aus der Provinz, v.a. Angehörige der
jungen Generation, hatten in der Vergangenheit Schwierigkeiten, auf ihre Werke
im Westen aufmerksam zu machen. Dabei existieren neben Moskau und St. Petersburg in einigen anderen Städten traditionsreiche historische Schulen wie in Tomsk,
Voronezh, Smolensk, Kazan oder Saratov. Der Saratover Schule ist auch der Autor
der hier vorgestellten Monografie, Leontij V. Lannik (Jahrgang 1984) zuzurechnen,
der im Augenblick als Dozent an der Saratover Staatlichen Akademie für Recht tätig ist.
Das vorliegende Buch versteht er als Werkstattbericht, der den Stand seiner laufenden Forschungen über die Entwicklung der deutschen militärischen Elite unmittelbar vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg wiedergeben soll. Angesichts seines Umfangs sollte man für das Buch etwas Zeit einplanen, man wird
dafür aber mit einer interessanten und anregenden Lektüre belohnt.
Nach einem kurzen, jedoch informativen Überblick über die Auseinandersetzungen in der Historiografie über die Ursachen und Geschichte des Ersten Weltkriegs und zur Elitenforschung betrachtet der Autor die Besonderheiten der Entwicklung und des sozialen Status der deutschen militärischen Elite am Vorabend
des Ersten Weltkriegs. Besonders weist er auf den Prozess der Zurückdrängung
der traditionell vorherrschenden Stellung des Adels im preußisch-deutschen Heer
hin. Allerdings ändere sich dieses Bild vom vorwiegend bürgerlichen Charakter
des unteren und mittleren Offizierkorps, wenn man die höheren Ränge betrachte.
Angesichts des strengen Prinzips des Dienstalters bei der Beförderung und der
Undurchlässigkeit für Aufsteiger dominierte hier weiterhin die Aristokratie. Wie
schon andere Forscher vor ihm (vgl. die Ausführungen von Holger Heinrich Herwig zum Marineoffizierkorps) bestätigt Lannik die These von der »Aristokratisierung« der bürgerlichen Offiziere. In den höchsten Rängen wie dem Generalstab
hatte 1914 noch die Generation der Sieger von Sedan das Sagen. Zu politischen
Fragen hielt sich das Offizierkorps zurück, angesichts der nationalistischen Hysterie in der Gesellschaft wurde das Ideal des apolitischen Militärs gepflegt.
Dann wendet sich Lannik dem Ersten Weltkrieg zu. Zunächst zeigt er die Veränderungen der sozialen Zusammensetzung des Offizierkorps auf. Die alte Schicht
der unteren und mittleren Kaderoffiziere verblutete auf den Schlachtfeldern und
wurde durch junge Leutnants ersetzt, die angesichts ihres Alters und ihrer Uner-
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fahrenheit oft keine Autorität bei ihren kampferprobten Untergebenen an der Front
besaßen. An der Spitze wurden 1914 viele ältere Offiziere aus dem Ruhestand reaktiviert; im Laufe des Krieges wurde die alte Elite jedoch überwiegend von jüngeren Aufsteigern, oft mit kurzer Karriere und mit bescheidenen Rängen, abgelöst. Der apolitische Offizier wich einem politisierten Typus, was der Autor
sinnfällig an dem Wechsel von Falkenhayn zu Ludendorff/Hindenburg nachweist.
Dabei unterstreicht er die Bedeutung des jüngeren Ludendorff in dem zuletzt genannten Gespann, der sich an die Spitze der Annexionisten stellte und durch Intrigen auch den zögerlichen Kanzler Bethmann Hollweg stürzte. Am Schluss des
Krieges stand, auch angesichts der Untätigkeit des Kaisers, die Militärdiktatur Ludendorffs. Nach der vernichtenden Niederlage der Deutschen an der Westfront im
September 1918 wurde Ludendorff aus dem Dienst entlassen und flüchtete kurz
darauf nach Schweden. Die Novemberrevolution, die anschließenden Wirren und
die Verkleinerung der Reichswehr durch den Versailler Vertrag überstand das nach
wie vor ganz überwiegend monarchistisch gesinnte Offizierkorps weitgehend unbeschadet. Seine Spitzen standen der neuen Republik ablehnend gegenüber; an die
Stelle des Eides auf den Kaiser trat nun für viele die Treue zum »ewigen Vaterland«.
Lannik kann überzeugend und ohne Redundanzen argumentieren. Interessant
sind auch seine während der ganzen Beschreibung an vielen Stellen zu findenden
Vergleiche mit der Situation im russischen Offizierkorps, das schließlich und
zwangsläufig ein anderes Schicksal erlitt als das deutsche. Von großer Anziehungskraft ist auch das lange Kapitel des Autors über die Herausbildung und Transformation des Russlandbildes der deutschen militärischen Elite im Verlaufe des Ersten Weltkriegs. In diesem Zusammenhang zeigt er richtig auf, dass von einer
traditionellen Russenfeindschaft in konservativen Kreisen Preußens und dem Deutschen Reich keineswegs gesprochen werden kann. Dies traf eher auf liberale Kreise
und die Sozialdemokratie zu, welche die zarische Despotie entschlossen ablehnten.
Erst mit den vermeintlichen und tatsächlichen russischen Gräueln in Ostpreußen
1914 trat eine Änderung ein. Auch mit dem Wechsel an der Spitze der Obersten
Heeresleitung wurde dann ein Prozess angestoßen, der zur Aufgabe von Hoffnungen auf einen Separatfrieden mit Russland führte und die Verlagerung der Ambitionen der Annexionisten auf die angeblich menschenleeren Räume im Osten
zur Folge hatte. Der Raubfrieden von Brest-Litowsk mit dem revolutionären Russland war die logische Konsequenz dieses Denkens. Die Hoffnungen auf eine große
Beute erfüllten sich für die deutschen Eroberer allerdings nicht. Nach 1918 kam es
dann auch in der deutschen militärischen Elite zu Überlegungen über ein gemeinsames Vorgehen mit Sowjetrussland gegen Polen, Frankreich und Großbritannien.
Am Ende weist Lannik darauf hin, dass vor dem Überfall auf die Sowjetunion am
22. Juni 1941 in der Wehrmacht Offiziere mit Erfahrung während des Ersten Weltkrieges in Russland eine große Rolle spielten.
Zum Schluss fasst Lannik seine Ergebnisse konzise zusammen. Allerdings ist
beim Umgang mit der Literatur ein großes Manko dieser ansonsten gelungenen
Darstellung zu konstatieren. Der Autor stützt sich neben sehr vielen westdeutschen
und englischsprachigen Untersuchungen auch auf einige teilweise wenig vertrauenerweckend erscheinende Titel aus der DDR und aus allen Perioden der Sowjetunion. Zum Teil diskutiert er die Desiderata der sozialistischen Forschung, oft aber
übernimmt er ihre Aussagen ungeprüft. Dies gilt vor allem für seine Ausführungen
über die Verbrüderungen an der Ostfront nach der Februarrevolution (S. 386 f.).
Bei der Abhandlung des Russlandbildes des deutschen Militärs sticht die fehlende
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Berücksichtigung der Bände des Wuppertaler Projekts von Lew Kopelew zu den
deutsch-russischen Fremdbildern ins Auge.
Eine Bemerkung Lanniks, dass es in bekanntem Maße richtig sei, von einem
vorsätzlichen Aufeinanderhetzen Russlands und Deutschlands durch die Hände
der französisch-englischen bürgerlichen Kreise und selbst durch die jüdischen Bankiers zu sprechen (S. 359 f.), ist sehr verstörend, angesichts seiner wiederholten
Wendung gegen jede Art von Antisemitismus handelt es sich dabei aber vermutlich eher um eine missverständliche Formulierungsweise.
Sieht man von den skizzierten Mängeln ab, ist das Buch durchaus ansprechend.
In einem flüssigen Stil geschrieben, vermag es durch seine Argumentation zu überzeugen. Es wäre zu wünschen, dass die Ergebnisse des jungen Saratover Historikers auch einem Publikum zugänglich gemacht werden, das über keine Russischkenntnisse verfügt.
Georg Wurzer
Luca Gorgolini, Kriegsgefangenschaft auf Asinara. Österreichisch-ungarische
Soldaten des Ersten Weltkriegs in italienischem Gewahrsam. Aus dem Italienischen übers. von Günther Gerlach, Innsbruck: Wagner 2012, 160 S.,
EUR 24,90 [ISBN 978-3-7030-0808-5]
Kriegsgefangenschaft gehört zu den wichtigen Untersuchungsgegenständen der
neueren Forschung zum Ersten Weltkrieg. Einem bislang kaum beleuchteten Aspekt des Themas widmet sich die Studie von Luca Gorgolini: dem Schicksal der
österreichisch-ungarischen Mannschaften und Offiziere, die in den ersten Kriegsmonaten in serbische Gefangenschaft gerieten, beim Rückzug der Serben im Herbst
1915 nach Albanien verschleppt und dann auf die italienische Insel Asinara gebracht wurden. Die Geschichte dieser Soldaten ist zugleich ein eindrückliches Beispiel für massenhaftes Leiden und Sterben abseits der Frontlinien. Von rund 60 000
bis 70 000 Gefangenen, die sich nach dem Scheitern der zweiten österreichisch-ungarischen Offensive Ende 1914 in serbischem Gewahrsam befanden, lebten bis zum
Herbst des Folgejahres etwa noch 35 000 bis 40 000. Hunger, Krankheiten und Misshandlungen hatten schon Zehntausende getötet, bevor die serbische Regierung
nach der Invasion der Mittelmächte im Herbst 1915 anordnete, die Überlebenden
zusammen mit den Resten der Streitkräfte Serbiens und Tausenden Zivilisten über
die Häfen Albaniens zu evakuieren. Zu Fuß unterwegs, ohne Schutz gegen die Witterung und ohne funktionierende Lebensmittelversorgung fielen diesem »Todesmarsch« viele der Gefangenen zum Opfer. Etwa 24 000 wurden schließlich um die
Jahreswende 1915/16 von Schiffen der Entente in Vlorë (italienisch: Valona) an Bord
genommen, um sie zur Gefängnisinsel Asinara vor der Nordwestküste Sardiniens
zu bringen. Auf der Überfahrt und in den ersten Monaten auf Asinara starben rund
7000 der Evakuierten. Ende April 1916 war gerade noch rund ein Viertel der Kriegsgefangenen am Leben.
Was den schmalen Band auszeichnet, ist der Versuch, die Umstände und den
Verlauf dieser humanitären Katastrophe inmitten eines katastrophalen Krieges so
genau und facettenreich wie möglich nachzuzeichnen. Zugleich wird das Schicksal der Kriegsgefangenen in den Kontext der politischen und militärischen Rahmenbedingungen gestellt. Auch macht Gorgolini klar, dass die österreichisch-ungarischen Truppen in den Serbienfeldzügen 1914 selbst durch Gewalttaten gegen
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Nicht-Kombattanten das Kriegsvölkerrecht missachtet hatten. Die oftmals brutale
Behandlung der Gefangenen durch Serbien muss auch vor diesem Hintergrund
gesehen werden. Gerade italienische Beobachter berichteten von Misshandlungen
und Tötungen österreichisch-ungarischer Kriegsgefangener, aber auch von den
Haupttodesursachen: Hunger und Krankheiten. Die Passagen über die Gefangenschaft in Serbien, den Marsch nach Albanien, das Warten auf die Einschiffung und
die Überfahrt sind eindrucksvolle Schilderungen von Elend und Hilflosigkeit, in
die auch die Tagebücher und Erinnerungen von Überlebenden einfließen. Als die
Gefangenen die Lager auf Asinara erreichten, waren sie noch keineswegs in Sicherheit: Innerhalb weniger Wochen starb fast ein Drittel an Krankheiten, zumeist an
Cholera oder an der Ruhr.
Die Schilderungen, die Gorgolini italienischen Quellen und einzelnen Aufzeichnungen von Kriegsgefangenen entnimmt, zeichnen ein Bild von Resignation und
Verzweiflung im Überlebenskampf der Inhaftierten. Untergebracht wurden die
Gefangenen zunächst meist in Zelten. Viele Soldaten waren nur ganz unzureichend
gekleidet und litten mitten im Winter unter Kälte und Nässe, vor allem aber
schwächten extremer Hunger und Durst ihre Gesundheit und machten sie anfällig für die grassierenden Krankheiten. Das italienische Militär war anfangs nicht
in der Lage, für die gefangenen Mannschaftssoldaten eine wenigstens annähernd
ausreichende Versorgung mit Nahrung und Trinkwasser zu gewährleisten. Die
rund 600 österreichisch-ungarischen Offiziere befanden sich dagegen in deutlich
komfortableren Umständen und waren, den kriegsvölkerrechtlichen Regelungen
entsprechend, von Arbeitspflichten befreit. Dass gerade deshalb Ego-Dokumente
von Offizieren kein authentisches Bild der Situation kriegsgefangener Mannschaften vermitteln können, betont Gorgolini daher mit Recht. Die seltenen Beispiele für Tagebücher von Soldaten sind deshalb besonders wertvolle Quellen, die
Gorgolini durch eine akribische Auswertung von italienischen Akten und Memoiren ergänzt. So gelingt es ihm, die Folgen von Hunger und Krankheit in den ersten Wochen auf Asinara anschaulich zu machen. Auch die Bedingungen des alltäglichen Lebens in den Gefangenenlagern auf der Insel nach dem Abebben der
Epidemien und der Stabilisierung der Versorgung zeichnet Gorgolini nach. Langeweile und das Leiden unter der Isolation, fernab der Heimat, waren nichts Außergewöhnliches. Auch die Erosion der Solidarität, Betrug und Diebstahl unter den
Gefangenen gehörten mit zu den typischen Erscheinungen des Lagerlebens, auf
Asinara kam aber die Sprengkraft nationaler Gegensätze hinzu. Österreich-Ungarns innere Konflikte wurden auch bei Gefangenenbefragungen deutlich, wenn
beispielsweise die extrem schlechte Behandlung tschechischer Soldaten durch deutsche wie ungarische Kameraden und Vorgesetzte zu Protokoll gegeben wurde.
Die Geschichte der Gefangenen von Asinara zeigt, wie unzureichend Italien
auf die humanitäre Aufgabe vorbereitet war, zehntausende Gefangene medizinisch
und mit Lebensmitteln zu versorgen. Durch Gorgolinis Studie wird deutlich, wie
schönfärberisch die 1929 publizierten Erinnerungen des Lagerkommandanten
Giuseppe Carmine Ferrari letztlich waren. Dank der vielen und auch vielfältigen
Quellen, auf die sich Gorgolini stützt, steht dem nun eine sehr viel präzisere Darstellung gegenüber. Dass die Quellenkritik manchmal etwas zu kurz kommt und
gelegentlich eine Straffung des Textes wünschenswert gewesen wäre, fällt kaum
ins Gewicht angesichts der Leistung, das Schicksal der »dannati dell’Asinara«, so
der italienische Originaltitel, umfassend zu untersuchen.
Günther Kronenbitter
Buchbesprechungen: 1871–1918
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Lothar Machtan, Prinz Max von Baden. Der letzte Kanzler des Kaisers. Eine
Biographie, Berlin: Suhrkamp 2013, 670 S., EUR 29,95 [ISBN 978-3-518-42407-0]
Die Kanzlerschaft des Prinzen Max von Baden währte nur 38 Tage, vom 3. Oktober bis zum 9. November 1918. Doch in diesen fünf Wochen erlebte das Deutsche
Reich einen tiefgreifenden politischen und sozialen Wandel, der gekennzeichnet
war durch das Ende des Ersten Weltkrieges und den Übergang von der Monarchie
zur Republik. Es waren diese Umbrüche seiner Regierungszeit, nicht sein eigenes
Handeln, die Max von Baden zu einer Figur von historischem Rang machten. Er
selbst war nur kurzzeitig Reichskanzler, aber allein die Tatsache, dass er in einem
entscheidenden Moment der deutschen Geschichte eine politische Schlüsselposition bekleidete, garantiert ihm die Aufmerksamkeit der Nachgeboren.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass bislang keine umfassende, wissenschaftlichen Standards genügende Biografie des letzten kaiserlichen Kanzlers
existierte. Diese Lücke hat Lothar Machtan nun geschlossen. Naturgemäß bildet
die Regierungszeit Max von Badens einen Schwerpunkt seines Buches, doch
Machtans Ziel ist weiter gesteckt: Am Beispiel seines hocharistokratischen Protagonisten will er »das Genrebild einer ganzen Epoche – im Stadium des Zerfalls ihrer politischen Leitkultur« zeichnen (S. 9). Dies gelingt ihm eindrucksvoll, obwohl
seine Arbeit durch den Umstand erschwert wurde, dass der Nachlass Max von Badens von seinen Nachkommen unter Verschluss gehalten wird. Machtan hat jedoch zahlreiche persönliche Dokumente aufgespürt, die Aufschluss über Leben
und Persönlichkeit des badischen Prinzen geben, so etwa die Korrespondenz mit
seinem Arzt und Vertrauten Axel Munthe, seiner Brieffreundin Cosima Wagner
und seinem Seelsorger Johannes Müller.
Prinz Max von Baden war ein deutscher Fürst und als solcher ein Angehöriger
jenes Herrscherstandes, der im Herbst 1918 fast lautlos aus der politischen Geschichte verschwand, die er jahrhundertelang mitgeprägt hatte. Als er am 10. Juli
1867 in eine Nebenlinie der badischen Herrscherdynastie geboren wurde, hatte er
ursprünglich keine Aussicht auf den Thron. Sein Leben änderte sich schlagartig
im Februar 1888 durch den unerwarteten Tod seines Vetters Prinz Ludwig, des badischen Thronfolgers. Von nun an ruhte die Thronfolge auf Max. Damit stand der
homosexuelle Prinz vor der Herausforderung, den Fortbestand der Dynastie durch
die Zeugung von standesgemäßem Nachwuchs sichern zu müssen. Dieser nahezu
unlösbare Widerspruch zwischen aristokratischen Normen, konservativem Familienbild und seinen eigenen sexuellen Präferenzen erzeugte eine zerrissene Persönlichkeit, die unter einem Gefühl der permanenten Überforderung litt. So war
auch die im Jahre 1900 geschlossene Ehe mit Prinzessin Marie Louise von Cumberland problematisch, zumal der erhoffte Nachwuchs zunächst ausblieb. Erst eine
Paartherapie des Sexualtherapeuten Axel Munthe verhalf schließlich zu zwei Kindern. Schon damals kursierten in Kreisen der Hocharistokratie Gerüchte, dass nicht
Max sondern Munthe der Vater der Kinder sei. Wilhelm II. höchstpersönlich zeigte
ein maliziöses Interesse daran, despektierliche Details aus dem Privatleben des badischen Prinzen zu streuen, was, wie noch zu zeigen sein wird, später eine enorme
politische Bedeutung erlangen sollte.
Politische Erfahrungen sammelte Prinz Max seit 1908 als Präsident der Ersten
Badischen Kammer. Er blieb jedoch weiterhin ein »Mann ohne politische Eigenschaften« und auch »ohne genuines Interesse an der Politik« (S. 203), ein Konservativer und überzeugter Monarchist mit einer tiefsitzenden Abneigung gegen De-
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mokratie und Parlamentarismus sowie ein Bewunderer Houston Stewart
Chamberlains, mit dem er intensiv korrespondierte. Seltsamerweise galt er seinen
Sympathisanten als ein liberaler Fürst, der politischen Reformen nicht feindlich
gegenüberstand. Diese Annahme beruhte, wie Machtan zeigt, auf einem »grandiosen Missverständnis« (S. 330). Doch es war gerade dieses Missverständnis, das die
weitere politische Karriere Max von Badens beförderte. Prinz Max avancierte vor
allem bei Fortschrittsliberalen und einem Teil der Mehrheitssozialdemokraten zu
einer Projektionsfigur, die mit maßlos überzogenen Erwartungen aufgeladen
wurde. Er selbst hätte wissen müssen, dass er diese Erwartungen niemals erfüllen
konnte, doch er tat nichts, um diesen Irrtum aufzuklären, denn er war zu diesem
Zeitpunkt bereits getrieben von dem Ehrgeiz, eine politische Rolle zu übernehmen.
Auf diese Weise hoffte er, doch noch ein heroisches Leben führen zu können. Diese
Motivation ist, wie Machtan darlegt, psychologisch nur vor dem Hintergrund des
beschädigten Privatlebens des Prinzen sowie seines Versagens als Generalstabsoffizier in den ersten Monaten des Ersten Weltkrieges zu erklären. In jedem Fall unternahm Max seit 1917 konkrete Schritte, um sich politisch zu profilieren und
wurde von seinen Unterstützern schließlich sogar als möglicher Kanzler ins Gespräch gebracht. Eine zentrale Rolle spielte hierbei Kurt Hahn, der spätere Gründer des Landschulheims Salem, der zu dieser Zeit in der Militärstelle im Auswärtigen Amt tätig war.
Wie aus der »fixen Idee« (S. 290) einer Kanzlerschaft nach anfänglichen Fehlschlägen politische Wirklichkeit werden konnte, gehört zu den bizarrsten Episoden der neueren deutschen Politikgeschichte. Ihre Darstellung ist ein Glanzstück
der Biografie. Denn Machtan zeigt, dass der Aufstieg des aristokratischen Außenseiters aus Süddeutschland nur vor dem Hintergrund der politischen Systemkrise
zu verstehen ist, in der das Deutsche Reich 1917/18 steckte. Anschaulich analysiert
er die Fragmentierung des Herrschaftssystems und die Selbstblockade der handelnden Akteure, durch die überhaupt erst jene politische Lücke geschaffen wurde,
in die Max von seinen Anhängern als politisch zweckdienlicher Kompromisskandidat hineinlanciert werden konnte.
Als Reichskanzler stand Max von Baden von Anfang an auf verlorenem Posten.
»Ich glaubte, fünf Minuten vor zwölf zu kommen, und bin fünf Minuten nach zwölf
gerufen worden«, schrieb er am 15. Oktober 1918 an seinen Onkel, den Großherzog Friedrich II. von Baden (S. 398). In der Tat war er zum »Konkursverwalter des
militärisch besiegten Reiches« (S. 377) bestellt worden. Gleichwohl versäumte er
es, die Öffentlichkeit über das Ausmaß der deutschen Niederlage und die fatale
militärische Lage aufzuklären. Und obwohl ihm spätestens nach der dritten Note
des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vom 25. Oktober klar war, dass
es ohne Abdankung Wilhelms II. keine Verhandlungen mit den Alliierten geben
würde, traute Max sich nicht, dem Kaiser diese unangenehme Wahrheit persönlich mitzuteilen. Denn er fürchtete, dieser könne ihn wegen seines Privatlebens desavouieren. In diesem Zusammenhang bietet Machtan eine neue Hypothese für
den mysteriösen Nervenzusammenbruch des Reichskanzlers am Abend des 1. Novembers an. Er vermutet, dass der Kollaps unmittelbar nach einem Telefonat mit
der Kaiserin Auguste Viktoria erfolgte, in dem diese ihm schwere Vorwürfe wegen seines »Verrats« an ihrem Gatten gemacht und womöglich mit Enthüllungen
über sein Privatleben gedroht habe. Zwar kann Machtan diese Hypothese mangels
eindeutiger Quellen nur auf Indizien stützen, sie würde jedoch erklären, warum
Max nach seinem Kollaps Selbstmordgedanken äußerte und mit starken Beruhi-