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Der beobachtende Leib

2023, Leib – Körper – Ethnographie: Erkundungen zum Leib-Sein und Körper-Haben

Arne Dreßler (2023): „Der beobachtende Leib“, in: Angelika Poferl, Norbert Schröer, Ronald Hitzler und Simone Kreher, (Hrsg.): Leib – Körper – Ethnographie: Erkundungen zum Leib-Sein und Körper-Haben, Essen: Oldib, S. 65–76.

In: Poferl, Angelika/Schröer, Norbert/Hitzler, Ronald/Kreher, Simone (Hrsg.): Leib – Körper – Ethnographie. Erkundungen zum Leib-Sein und KörperHaben. Essen: Oldib, 2023, S. 65–76. 4 Der beobachtende Leib Arne Dreßler 1. Existenzbefrcite Beobachtung In der deutschsprachigen Methodenliteratur steht der Name Anne H<rner da­ für, den Wert echter Teilnahme im Feld für die ethnographische Erkenntnis begründet und in der eigenen Forschung demonstriert zu haben. Honcr (1993) nannte den Erwerb von Mitspielkompetenz existenzielles En,�llgpnent. Damit verbindet sich die Forderung, dass „man das 1l1ema wenigstens für "' eine gewisse Zeit selber (alltags-)praktisch ,bearbeitet (ebd.: 245). Verallge­ meinert gesagt, könnte Forschung dann existenzielle Züge erhalten, wenn sie nicht bloß als kogniti\'eS Problemlösen betrieben wird, sondern die Forschen­ den ,mit Haut und Haaren' beansprucht. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, ob das Existenzielle auch bei der anderen Hälfte des alten Komposi­ tums der teilnehmenden Beobachtung - der Beobachtung -- eine Rolle spie­ len kann. Das einschlägige Schrifrtum bleibt dazu stumm. Dies verdeu dichen schon die Definition_en von Beobachtung in gängigen Überblickstcxten. So heißt es im jüngsten Einführungsbuch speziell zum Beobachten: ,,Die sozial- und verhalrenswissenschafrliche Beobachtung ist die systema­ tische Erfassung und Protokollierung von sinnlich oder apparativ wahr­ nehmbaren Aspekten menschlicher Handlungen und Reaktionen, solange diese nicht rein auf durch Forsche11de initiierte Kommunikation basieren oder in Form editierter Dokumente vorliegen." (Weischer & Gerau 2017, s. 17) 1 J 66 Der beobttchtende Leib Mit ihrem Fokus auf der Verquickung von Wahrnehmung und Vertextung sieht diese Definition nichts Existenzielles vor. Denn wer dies tut, unter wel­ chen Bedingungen und mit welcher Erfahrung, scheint vollkommen uner­ heblich. Diese Ausblendung der Perspektive der, beobachtenden Person für die Erkenntnis hat Tradition. Sie findet ihren ersten Ankerpunkt in der Frühphase der bundesrepublikanischen Rezeption empirischer Forschungsmethoden, als Rene König' (1956) der Beobachtung ins Stammbuch schrieb, sie müsse sich - in Abgrenzung zur historisch-existenziellen Soziologie der Weimarer Zeit mit ihrem spontanen und unmittelbaren Verständnisan­ spruch gegenüber der sozialen Welt - der Systematisier- und Kontrollierbarkeit unterwerfen. Entsprechend lautete die spätere De\'ise: Standardisierung (Friedrichs & Lüdtke 1977), also Objektivierung der Beobachtung. I n der Forschung hat sich das objektivistische Programm nicht durchgesetzt. Es bleibt aber eine mögliche Diskursposition, und sei es zum Zweck der Kri­ tik. Am stärksten soziologisiert wurde die Beobachtung von praxistbcoreti­ scher Seite, wie die folgende Definition zeigt: „Wir können unter Beobachtung [ ...J alle Formen der Wahrnehmung unter Bedingungen der Co-Präsem verstehen: also t1fle Sinneswrthrneh­ rnung en, die sich per Teilntthrne erschließen, wobei die Dauer der Teilnah­ me je nach Porschung variiert (aber nicht ausbleibt). Beobachten hiege dann die Nutzung der kompletten Körpersensorik des Forschers: das Rie­ chen, Sehen, Hören und Ertasten sozialer Praxis. Doch das ist noch nicht alles. Auch der soziale Sinn des Forschers, seine Eihigkeit zu verstehen, zu fokussieren, sich vertraut zu machen, fällt in die ihm zugeschriebene Auf­ nahmekapazidt." (Scheffer 2002: 353; Hervorheb. i. Orig.) Der Gewinn dieser Definition besteht darin, dass sie ausführt, worauf sich eine gelingende Beobachtung stützt. Angeführt werden nicht nur vier senso- �· rische Sinne des Körpers, sondern auch ein epistemisch bedeutsamer, aber wohl nicht leiblich gebundener Spürsinn. Obwohl das Ausspielen von dessen Fähigkeit ausdrücklich an die lernende Einfügung in Feldinteraktionen ge­ bunden wird, bleibt zugleich offen, welche Rolle hierbei die leibliche Erfah­ rung spielt. Der Text geht im Weiteren vielmehr darauf ein, wie das, was er Arne Dreßier 67 Beobachtbttrlceit nennt, herstellbar ist und wie die Sinnerschließunao des Beobachteten erfolgen kann. Existenzielles taucht dabei nicht auf. Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, einen existenziellen Bewg auch bei der Beobachtung aufzuweisen. Der Rahmen der folgenden Diskussion bildet ein methodologisches Forschungsprojekt, das ich Episternofogie der Ethnographie nenne. Seine Grundfrage lautet: Wie kommen Ethnographierende dazu, das­ jenige von ihrem Feld zu wissen, was sie schliefüich wissen? Wie bei den bis­ her vorgelegten Bausteinen für eine Epistemologie der Ethnographie (Drd�­ ler 2018, 2020) ist der Anknüpfungspunkt auch diesmal eine konkrete Feld­ forschungserfahrung. Anders als wvor führe ich sie diesmal aber explizit ein. 2. Der Feldforschungsfall Der Feldforschungsfall entstammt einer gröEeren moralsoziologischen For­ schung wm politischen Umgang mit Prostitution. Dafür habe ich unter an­ derem öffen diche D iskussionsveranstalrungcn beobachtet. Diejenige Vcran staltu ng, auf die ich mich nachfolgend beziehe, besclüftigtc sich mit dem Vorschlag, die Nachfrage nach sexuellen Diensten zu kriminalisieren (Dref�­ ler 2021). Meine Porschungsfo1ge zielte darauf, wie die Kriminalisierungsop­ tion durch die Veranstaltung moralisch aufgeladen wurde. Zu diesem Zweck habe ich zunächst das Veranstalcungsdispositiv in seinem räumlichen Arran­ gement und seiner zeitlichen Dramaturgie, darauf aufbauend dann die einge­ setzten Diskursstrategicn analysiert. Entscheidenden Anreil an der Erkennt­ nis hatte die affektive lnvol\'ierungskurve, wie ich sie bei anderen und an mir selbst wahrgenommen, d. h. beobachtet und erfahren, hatte. So zeigten sich entlang der Dramaturgie der Veranstaltung und abhängig vom Einsatz be­ stimmter Diskursstrategien nicht nur bei den übrigen 'feilnehmenden im Publikum prägnante Ausdruckszeichen der lnvo!Yierung, sondern auch bei mir zunehmend starke leibliche Regungen. Während die lnvolvierungskurve für das Publikum allmählich anstieg, wurde ich erst durch die letzte Rednerin, dann aber sehr stark mitgenommen. In der Figur einer Zeugin auftretend, hielt sie mit Bezug auf ihre eigene Gewalt­ und Missbrauchserfahrung ein flammendes Plädoyer gegen Prostitution. Mein Herz schlug stärker, mein Wahrnehmungsfeld zog sich zusammen, ich konnte die Stimme und den Atem der über Mikrofon verstärkten Rednerin 68 Der beobachtende Leib ganz nah spüren. Was sie sagte, schm erzte. Aber damit nicht genug. Auch das Schreiben des Feldprotokolls war auszehrend, und zwar nicht nur, weil ich mir vorgenommen hatte, die Argumentationsführung aller zu Wort Gekom­ menen so gut wie möglich anhand meiner Feldnotizen zu rekonstruieren und im Feldprotokoll festzuhalten (West 1996). Indem ich schrieb, durchlebte ich die Veranstaltung erneut. Abermals nahm ich an mir Zeichen leibliche r Jnvolvierung wahr. Ich schwitze und litt. Schließlich kam es dazu, dass ich im Verlauf der folgenden Tage weitere Empfindungsschübe hatte , zwar abgeschwächter, aber doch unerwartet. Rü­ ckblenden folgten. Schuldgefühle. Dann fingen meine Gedanken an zu krei­ sen. Dabei tauchte auch die Frage :i.uf, ob die letzte Redne rin in B ezug auf Prostitution vielleicht Recht hatte. Die Stoßrichtung der Frage überraschte mich sehr, stand sie doch quer zu meiner Forschungsfrage. Ganz im Fahr­ wasser der wissenssoziologisch gewendeten Soziologie sozialer Proble me ging es mir darum, wie Prostitution als Problem lwnstruiert und vermittelt wurde (Specror & Kirsuse 1977). Mit dem inhaltlichen Gehalt der Problemarisie­ rungen hatte ich mich dabei nicht zu befassen (vgl. ebd.: 96). Allein ihre Porm und Formung hatten mich zu interessieren. Die Analyse des empirischen Materials war mühsam und ansuengend. Ich schrieb mehrere Entwürfe, hatte Schwierigkeiten, eine Form de r Darstellung des Palls zu finden, arbeitete mich nebenher durch verschiedene rlliemen­ stränge der Literatur - typisch für eine noch immer suchende Fallbestim­ m ung (Dre füer 2020). Zudem konnte ich m eine F elde rfahrungen nie ganz abschütteln. Sie blieben mit dem Text, seinem Schreiben und Umschreiben ve rbunden. Ein Pfad durchs analytische Dickicht tat sich auf, als ich meine Erfahrungen direkt zum Thema machte, ihnen einen eigen en Abschnitt im Text widmete . Zwar hatte ich über sie bereits in frühen Textversionen be­ richtet. Sie tauchte n aber im mer nur neben anderem auf: Die Veranstaltung hatte das Publikum erfasst - und mich auch. lch traute mich nun, meine ei--, gene Erfahrung stärker in den Vordergrund zu rücken. Dafür versuchte ich, die Passagen des Feldprotokolls zu meinem Erleben immer wieder neu auszu­ l egen. Ich fand fünf Merkmal e der Inrnlvierung, die ich der Diskursstrategie des Emotionalisie rens zuordnete (vgl. Dreßler 2021: 116): A rne Dreßler • • • • • 63 Parallelität ihres Anhebens neben dem besteh enden kognitiven Fo­ kus, Leiblichkeit als ihr Äußerungsfeld, Hintergründigkeit ihrer Spannung, Diffusität ihrer Anbindung und Eigendynamik ihres Verlaufs. [n Auseinandersetzung mit der Li terarnr erkannte ich, dass hier wesentliche Merkmale von Affekt i m Spiel waren, und deutete das, was mit mir während de r Fe ldphase und danach passiert war, als eine Art moralischen Schock. Da­ bei war für mich nicht so sehr interessant und entsprechend nicht das Argu­ ment im Aufsatz, dass ich überh11upt reagierte. Das Wie, nicht das Wtti,tm in­ teressierte mich. Hierfür konzentrierte ich mich auf die nun aufscheinende Konstellation von Affekt, Kognit ion und moralischer Wertbindung und den sich ergebenden Sinnstifrungen. So konnte ich auch das, was ich bei anderen beobachtete, sehr vorsichtig und mit Bedacht - ich deutete unterschiedliche Rezeptionstypen an - in die Analyse einbeziehen und herausarbeiten, wie die Veranstaltung versucht hatte, die Anwesenden für die politische Eins rellung der Veransralrungsorganisator:innen zu rekrutieren. 3. Leib und Bewusstseinsfeld Wie könnte die Epistemologie der Ethnographie diese Feldforschu ngserfah­ rung aufschlid�en? Zentral für die Bemühungen um das Begreifen ethnogra­ phischer Erkenntnis ist das plünomcnologische Modell des Bewusstseinsfel­ des, mit dem Aron Curwitsch (1957/1964) die Kom plexitiit der Bedingun­ gen und Prozesse menschlicher Sinnbildung abzubilden suchte. Darin wird der Fokus des Bewusstse ins als "D1erna gefasst. Es zeigt sieb als der Sinn oder „ Bestim mungsgehalt" (Curwitsch 1929: 294) des je aktuellen Was. Während die übergeordnete Herausforderung der Ethnographie darin liegt, 'Di emen feldsensibel zu artikulieren (vgl. Dreßler 2018: 247), wirft de r Feldforschungs­ fall mit seinen para-intentionalen, vom Leib angestogenen Setzungen zwei Spezialfragen auf: Wie kommt e s im Feldmodell zum Wechsel von rHiemen? Und welche Roll e spielt dabei der Leib? 70 Der beobachtende Leib Themenwechsel verlaufen im Feldmodell stets selbstgesteuert. Auch wenn potenzielle Themen unterschiedlich stark reizen können, bleibt ihre Annah­ me doch ein Wahlakt (vgl. Gurwitsch 1957/1964: 367 f.). Gemäß ihrer Re­ zeptionsorientierung priorisiert die Beobachtung von allen Modi der An­ schauung die Wahrnehmung. Dabei unterscheidet sich das äußere vom inne­ ren Geschehen dadurch, dass sich letzteres zwar im eigenen Leib zeigt. Aber das Feldmodell sieht auch hierfür die 'foematisierun$ als Voraussetzung eines Was vor. Entsprechend ist der fokussierte Bezug auf den Leib nur als rwch­ trtigfiche Zuwendung möglich, also im Modus der Reflexion. Originäres Leibwissen in actu sieht das Feldmodell nicht vor. Zugleich sind 1l1erne11 im Feldmodell aber niemals selbstgenügsam gegeben. Vielmehr erscheinen sie immer mit Bezug auf einen Horizont an Relevan­ tem: dem thematischen Feld. Für den ethnographischen Erkenntnisgewinn ist das thematische Feld von großer Bedeutung (vgl. Dreßler 2018: 247; 2020: 49 f.): Es beinhaltet alle Bestände, die aktuell nicht .'.foema sind, aber mit ihm kontextuell zusarnrnenhfogen. Darunter finden sich vorherige The­ men der laufenden Beobachtung, ebenso vom Thema aufgerufene, mit der Forschungsfrage verbundene oder disziplinär für relevant gehaltene '01eorien. Je nach erfolgter thematisierender Durcharbeitung sind die Besfinde des the­ matischen Feld.es unterschied lich stark ausgearbeitet, mehr oder weniger von­ einander geschieden oder tniteinander integriert (vgl. Gurwitsch 1957/ 1964: 336 ff..). Ohne vorherige 'foematisierung können leibliche Regungen jedoch keine Kontextualit�it erlangen. Dies bedeutet indes nicht, dass Leiblichkeit im Feldmodell des Bewusstseins keinen Platz findet. Denn laut Gurwitsch (1985: 36) ist sie ein „ultimate and irriducible phenomenal darum for our consciousncss". Allerdings erschienen leibliche Gegebenheiten, wenn nicht als Thema, nur auf unkonkrete Weise: „dim, indistinct and indeterminate" (ebd.: 27). Zum anderen YOJlzögen sich leibliche Veränderungen gänzlich ohne Einfluss auf den 1l1ematisierungspro--,· zess nur als Nebengeschehen (Ygl. ebd.: 29), sogar unabhängig von der Inten­ sität leiblicher Regungen (vgl. ebd.). Deshalb wird Leiblichkeit vom Feldmo­ dell des Bewusstseins nirgendwo anders als an dessen Rand angesiedelt. Dort erscheint alles das, was keine Relevanzbeziehung zum 1hema unterhält. Da- A rne Dreß/er mit erhält Leibliches 71 denselben Status wie nicht-thematisierte Bestandteile des Wahrnehmungsfeldes. Zwar lässt sich darnit noch das Anheben leiblicher Regungen als Parallelphä­ nomen zur Beobachtung nachvollziehen (vgl. ebd.: 33). Gänzlich undenkbar bleibt aber, wie leibliche Empnndung die Themenfindung beeinflussen kann. Darin zeigt sich überd eutlich die kognitivistische Schlagseire des Feldmodells des Bewusstseins. Es ist Lester Embree (1981: 159) zuzustimmen, dass Gur­ wirsch dad urch in Schwierigkeiten gerät, A ffd<t und Praxis - beide verweisen unmittelbar auf Leiblichkeit - zu integrieren. Für die Ethnographie ist das Feldrnodell des Bewusstseins damit keinesfalls disqualifiziert, zielt sie doch --­ nicht in natürlicher, sondern gerade in theoretischer Einstellung - ausdrück­ lich auf Deutung, Konzeptualisierung und Versprachlichung. Aber das vom Feldforschungsfall aufgeworfene Problem nach der epistemischen Rolle des Leibes kann das Feldmodell des Bewusstseins tTflein nicht lösen. Dies hdt zur Suche nach einer passenden Ergiinzung ein. 4. Die Responsivität des Leibes Es ist interessant zu wissen, dass Curwitsch sein Verstiindnis vom Stellenwert des Leibes teils in kritischer Abgrenzung von Maurice Merleau-Ponty ausge­ ;ubeitet hat. Die Quellenlage hierzu ist jedoch dürftig. Kurz. vor einem mit Spannung erwarteten Vortrag, in dem Gurwitsch seine Kritik an der Vorstel­ lung ,,des Leibes als sujet de 1'1 connainrmce" (Metraux 1973: 4, zit. in Kastl 2021: 39; Hervorheb. i. Orig.) ausführen wollte, verstarb er. Zwar sind mitt­ lerweile Merleau-Pontys Lesenotizen von Gurwitschs Hauptwerk veröffent­ licht (Merleau-Ponty 1997). Aber sie markieren eher die innerphänomenolo­ gischen Problemstellungen, an denen sich Differenzen auftun, als sie auszu­ diskutieren. Die Epistemologie der Ethnographie könnte hier allzu leicht ihre angewandte Zielstellung aus den Augen verlieren. Es ist deshalb ratsamer, zu einem anderen Leibtheoretiker überzugehen, der nicht nur der Problemstel­ lung des Feldforschungsfalls nahe ist, sondern auch auf beiden, Gurwitsch und Merleau-Ponty, sowie weiteren aufbaut. Die Rede ist von Bernhard Waldenfcls. Für Waldenfels spricht, dass er den Leib insofern von Affektivität tio-ekenn­ r.cichnet siehe, als Beobachtende sich selbst in ihm spüren können (vgl. Wal- 72 Der beobachtende Leib denfels 2000: 39). Wie Gurwitsch geht Waldenfels aber davon au s, dass es nicht sinnvoll ist, den Leib subjektähnlich zu fassen, nur das Affektive mit dem Kognitiven zu vertauschen (vgl. ebd.: 43). Denn die Funktionsweise des Leibes unterscheide sich von der des Bewusstseins. Es werde vom Leib auch nicht überlagert, dieser stelle ihm vielmehr eine andere Kapazität bei. Gegen­ über der Gefahr eines introspektiven Selbstab schlusses rnacht Waldenfels schliefüich geltend, dass ,,[u]n sere leibliche Erfahrung [ . .. ] weit über die Er­ fah rung des Leibes hinausgehen" (Waldenfels 2006: 70; Hervorheb. i. Orig.) muss. Ihr Bezugsfeld erstrecke sieb auch auf die Welt, das Selbst und die An­ deren. Wie funktioniert dann leibliche Erfahrung? Lrnt Waldenfel s lauert hier die größte Verständnisschwierigkeit. Die Bezugnahme des Leibes stelle sich näm­ lich - anders als beim Bewusstsein - nicht so her, als würden Beobachtende ein Feldgeschehen direkt, unverzüglich und regelhaft erfasse\1d konfrontie-­ rcn. Vielmehr sei der Bezug insofern eher indirekt, zeiclich gedehnt und selbst ereionishaft tl)roduktiv, als sich hierbei sowohl die Beobachtenden als t> auch das Feldgeschehen wechseheitig bestimmen, und zwar erst in der leiblich-affektiven Antwort auf ein Gecroffensein, welche die Bestimmungen bzw. Sinnbildungen dann sichtbar mache: ,,Das Cetroffensein erzeugt rüc/1wirlzend seine Geschichte [ . . .]" (Waldenfels 2002: 59; Hervorheb. v. A D.). Dies erkbrt, warum ich bei meinem Feldforschungs fall in der Auslegung der unmittelh11 ren leiblichen Involvierung Schwierigkeiten hatte, das affektive Geschehen trennscharf auf einzelne Elemente des Feldgeschehens zuzurech­ nen, und warum s ieb die Sinnbildung im Fall selbst erst rwch und n11ch und dann inhaltlich übemtschend ergab. Waldenfels schreibt: ,, Das [thematische] Etwas gehört bereits zur deutenden Antwort auf das Ceschehen..Das Cetrof­ fen sein, das ähnlich zu verstehen ist wie das Ergriffensein, gehe dem Treffen von etwas [im Sinne seiner Bestimmung] voraus." (ebd.; Hinzufüg. v. A D.) Ereignisse, welche die Res ponsivität des Leibes herausfordern, nennt Wal--. denfels Wide,fahmisse. Ihm zufolge liefern gerade gewalcgesättigte Situatio­ nen wahrscheinliche Kandidaten für Widerfahrnisse: einmal natürlich bei selbst erfahrener Gewalt, die an der „Verletzlichkeit des leiblichen Selbst" (ebd.: 145) ansetzt, dann aber auch, ,,wenn ich die Gewalt gegen Dritte zu­ lass e, ohne in Grenzen meiner Möglichkeiten gegen sie einzuschreirnn" (ebd.: Arne Dreß/er 73 146). Genau letzteres ergab sich in meinem Feld, als die Rednerin ihre Ge­ walterfahrungen in der Prostitution auf drastischste Weise schilderte, ich ihr aber durch das Weiterverfolgen meiner Forschungsfrage symbolisch die Hilfe versagte. Aber nicht nur das : Auch die Rednerin selbst war in dem Moment leiblich hochgradig involviert, ja schien sich in ihrer Ansprache re-affizien zu haben, so dass sich das Ereignis ihrer Zeugenschaft auf Basis leihlicher Korre­ spondenz herstellte, als „Ko-Affektion" (ebd.: 163; Hervorheb. i. Orig.) zwi­ schen der mikrofonverstärkten Rednerin und mir als Beobachter, der ich sie vernahm. Wie bsst sich nun der Einfluss der Res ponsivität des Leibes im Feldmodell des Bewusstseins abbilden? Schon für Widerfohrnisse glaube Waldenfels nicht daran, dass sie s ich - zumindest in ihrem Vollzug - als 'Themen zeigen oder als solche überhaupt angemessen abbild bar sind (vgl. ebd.: 161 ). G�ilte dies auch für die Aftektiviriit des Leibes, erklärte es, wa rum ich mich trotz zu­ nehmender leiblicher lnvolvierung im Feld noch immer auf '01ematisierun­ gen gemäß meiner Forschungsfrage konzentrieren konnte. Zugleich hiilt Waldenfels aber eine nachtrdgliche Thematisierung von Widerfahrnissen für möglich, qualifiziert dies jedoch als eine sie eigentlich neutrttlisierende Zu­ gangsweise (vgl. ebd.: ] 56). Bezöge man diese Wirkung auch auf die leibliche Affektivität, wäre erkl:in, warum ich die Eigendynamik des mich später wie­ derhole überkommenden Affokts durch die „Erkundung der Erfah rung" (ebd.) in der Reflexion bremsen und schließlich einhegen konnte. Wenn also einerseits '01ematisierung mit leiblicher Affektivität in einem Konkurrenzverhältnis steht und andererseits der Rand im Feldmodell des Be­ wusstseins jede Einflussmöglichkeit versagt, d ann bleibt al s Auswirkungsort für leibliche Responsivität nur noch das thematische Feld. Ausgehend von meinem Feldforschungsfall schlage ich folgende Konzipierung vor: Affektive lnvolvierung produziert im thematischen Feld kognitive Oberschüsse und in­ stalliert so neue Pertinenzen (vgl. Drefüer 2018: 242), die aber in Sprumung zu den bisherigen stehen. Diese Spannungen müssen entweder, um sie igno­ rieren zu können, eingeklammert oder, um sie loszuwerden, über Reflexion aufgelöst werden. Beides ist anstrengend. Damit schließt sich der Kreis eth­ nographischer Erkenntnis, die aus der responsiven Leiblichkeit herausdrängt, 74 Der beobachtende Leib aber - affektiv g ebunden - zunächst unverstanden bleibt, bis sie schließlich und unter Mühen kognitiv eingeholt wird. 5. Existenzielles Beobachten In phänomenologischer Hinsicht ist eine „B�obachtungserfahrung" (Honer 1993: 245) tatsächlich von einer Teilnahmeerfahrung zu unterscheiden. Die Ausleuchtung des eingebrachten Feldforschungsfalls mit den Mitteln der Epistemologie der Ethnographie hat jedoch erbracht, dass es zu kurz greife, der Erfahrung aus dem Beobachten eine „Erfahrung der in Frage stehen den Th ematik von innen" ( ebd.; Hervorheb. i. Orig.) gänzlich abzusprechen. Auf manche Feldereignisse antwortet der Leib in dem ihm eigenen Register der Affektivität, und zwar auch unabhängig davon, was im Fokus der Beobach­ tung steht. Dieses Leihgeschehen, das auf Ereignisse im F eld reagiert, ,, die uns zustoßen, uns zuvorkomm en, uns anrühren und verletzen" (Waldenfels 2002: 9), verweist auf den ethischen Horizont von P eldforschung. Damit meine ich nicht die Forschungsethik, son dern die Möglichkeit, dass die un­ mittelbare Konfrontacion mit dem Beobachteten eine ethische Auseinander­ setzung in Gang setzt. Widerfahrnisse sind mit den existenziellen Spuren, die sie hinterlass en, Reizpunkte für das Ethische (vgl. ebd.: 129). Dass dem existenziellen Potential des Beobachtens bisher keine Aufmerksam­ keit geschenkt wurde, hängt eng mit der Ausblendung von Leib und Affekt bei der Diskussion der B eobachtung als Methode de r Datenerhebung zusam­ men. Eine frühere Beschäftigung mit beiden Aspekte n der Menschlichkeit hätte vermutlich die objektivistischen Kontrollbemühungen gegenüber je­ dem Aufscheinen von Subjektivität bei der B eobachtung nur verstärkt. Und in der Tat: Die Responsiviüt des Leibes als unser „leiblich verankertes Grundverhältnis zur Wirklichkeit" (Waldenfels 2000: 372) bringt, wie Wal­ denfels (2006: 73) schreibt, das ,,Ich [.. . ] von Anfang an ins Spiel". Diesem Hinweis auf die Ich-lnvolvierung im leiblichen Antworten fügt Waldenfelt' jedoch noch einen wichtig en Nachtrag an: ,,aber nicht als verantwortlicher Autor oder als Agent" (ebd.). Diese nachträgliche Qualifikation erklärt sich daraus, dass die leiblich-affektive Antwort nicht schon auf di e Merkmale des Selbst zurückfübrbar ist. Vie lmehr verbindet sich in ihr das Eigene, das die Beobachtenden mitbringen, mit dem Fremden, das aus dem Feld kommt. 75 A rne Dreßler Zudem w erden beide wechselseitig bestimmt. Denn Widerfabrnisse stellen produ!ctive Passagen dar, keine starren Subjekt-Obj ekt-Verhältnisse (vgl. Wal­ denfels 2002: 100). Daher kann die Einladung der reflexiven Ethnographie ,,ur Selbstbespiegelung (Davies 1998/2008) weder die einzige noch in allen P!illen die naheliegendste Umgangsweise mit der Responsivität des Leibes sein. Cerade die Erforschung von DispositiYen verlangt nach einer analytischen Alternative. Vorbereitet auf die Möglichkeit leiblich-affektiven Antwortens, dürfte sie dessen Auftreten nicht als Belastung des Forschungshandelns wer1cn, also der Beobachtung selbst wie des Schreibens darübe r. Vielmehr sollte sie aufmerksam abwarten, was an eigenstiindiger Sinnbildung aus dem Ant­ worten erwächst. Dabei stellen sich erweiterte Anforderungen an das ethno­ graphisch e Schreiben. So müsste von Beginn an gröfümöglichen Werr auf die B eschreibung leiblich-affektiver Erfah ru ng gel egt w erden. Auch ist zu er­ warten, dass das Schreiben nicht schon erledigt ist, wenn die Ereignisse im h:ld prntokolliert sind. Denn die Responsiviüt des Leibes entgrenzt das Feld dahingebend, dass ibm d ie Beobachtenden hinzugefügt werden. Die hierbei ('lltstehenden Erkenntnischancen und methodologisch en Herausf-<x<lerun<>en t> 1•,chen darauf zurück, dass nicht nur das Bewusstsein beobachtet, sondern .1uch der Leib. l .iteratur 1 lavies, Charlotre Aull (l J 998 2008). Reflexive Ethnography. A Guidc ro Researching Sclves and Othcrs. 2. AuH. Abingdon: Routlcdge. 1 lrcßler, Arnc (2018). Die Perrinem der Schliissclcrcignissc. Zur Struktur von Enr­ deckungsmomenren in der Feldfrirschung. In: Hitzler, Ronald & Klemm, Mat­ thias & Kreher, Simone & Pofrrl, Angelika & Schröer, Norbert (Hrsg.). Hernm­ schniiffcln - aufspüren - einfühlen. Ethnographie als 'hemckirrnclige' und rdk­ xive Praxis. Essen: Oldib, S. 239-249. 1 >n.:ßler, Arne (2020): Situative Evidenz. 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