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4
Der beobachtende Leib
Arne Dreßler
1. Existenzbefrcite Beobachtung
In der deutschsprachigen Methodenliteratur steht der Name Anne H<rner da
für, den Wert echter Teilnahme im Feld für die ethnographische Erkenntnis
begründet und in der eigenen Forschung demonstriert zu haben. Honcr
(1993) nannte den Erwerb von Mitspielkompetenz existenzielles En,�llgpnent.
Damit verbindet sich die Forderung, dass „man das 1l1ema wenigstens für
"'
eine gewisse Zeit selber (alltags-)praktisch ,bearbeitet (ebd.: 245). Verallge
meinert gesagt, könnte Forschung dann existenzielle Züge erhalten, wenn sie
nicht bloß als kogniti\'eS Problemlösen betrieben wird, sondern die Forschen
den ,mit Haut und Haaren' beansprucht. Im Folgenden gehe ich der Frage
nach, ob das Existenzielle auch bei der anderen Hälfte des alten Komposi
tums der teilnehmenden Beobachtung - der Beobachtung -- eine Rolle spie
len kann. Das einschlägige Schrifrtum bleibt dazu stumm. Dies verdeu dichen
schon die Definition_en von Beobachtung in gängigen Überblickstcxten. So
heißt es im jüngsten Einführungsbuch speziell zum Beobachten:
,,Die sozial- und verhalrenswissenschafrliche Beobachtung ist die systema
tische Erfassung und Protokollierung von sinnlich oder apparativ wahr
nehmbaren Aspekten menschlicher Handlungen und Reaktionen, solange
diese nicht rein auf durch Forsche11de initiierte Kommunikation basieren
oder in Form editierter Dokumente vorliegen." (Weischer & Gerau 2017,
s. 17)
1
J
66
Der beobttchtende Leib
Mit ihrem Fokus auf der Verquickung von Wahrnehmung und Vertextung
sieht diese Definition nichts Existenzielles vor. Denn wer dies tut, unter wel
chen Bedingungen und mit welcher Erfahrung, scheint vollkommen uner
heblich. Diese Ausblendung der Perspektive der, beobachtenden Person für
die Erkenntnis hat Tradition. Sie findet ihren ersten Ankerpunkt in der
Frühphase der bundesrepublikanischen Rezeption empirischer Forschungsmethoden, als Rene König' (1956) der Beobachtung ins Stammbuch schrieb,
sie müsse sich - in Abgrenzung zur historisch-existenziellen Soziologie der
Weimarer Zeit mit ihrem spontanen und unmittelbaren Verständnisan
spruch gegenüber der sozialen Welt - der Systematisier- und Kontrollierbarkeit unterwerfen. Entsprechend lautete die spätere De\'ise: Standardisierung
(Friedrichs & Lüdtke 1977), also Objektivierung der Beobachtung.
I n der Forschung hat sich das objektivistische Programm nicht durchgesetzt.
Es bleibt aber eine mögliche Diskursposition, und sei es zum Zweck der Kri
tik. Am stärksten soziologisiert wurde die Beobachtung von praxistbcoreti
scher Seite, wie die folgende Definition zeigt:
„Wir können unter Beobachtung [ ...J alle Formen der Wahrnehmung
unter Bedingungen der Co-Präsem verstehen: also t1fle Sinneswrthrneh
rnung en, die sich per Teilntthrne erschließen, wobei die Dauer der Teilnah
me je nach Porschung variiert (aber nicht ausbleibt). Beobachten hiege
dann die Nutzung der kompletten Körpersensorik des Forschers: das Rie
chen, Sehen, Hören und Ertasten sozialer Praxis. Doch das ist noch nicht
alles. Auch der soziale Sinn des Forschers, seine Eihigkeit zu verstehen, zu
fokussieren, sich vertraut zu machen, fällt in die ihm zugeschriebene Auf
nahmekapazidt." (Scheffer 2002: 353; Hervorheb. i. Orig.)
Der Gewinn dieser Definition besteht darin, dass sie ausführt, worauf sich
eine gelingende Beobachtung stützt. Angeführt werden nicht nur vier senso- �·
rische Sinne des Körpers, sondern auch ein epistemisch bedeutsamer, aber
wohl nicht leiblich gebundener Spürsinn. Obwohl das Ausspielen von dessen
Fähigkeit ausdrücklich an die lernende Einfügung in Feldinteraktionen ge
bunden wird, bleibt zugleich offen, welche Rolle hierbei die leibliche Erfah
rung spielt. Der Text geht im Weiteren vielmehr darauf ein, wie das, was er
Arne Dreßier
67
Beobachtbttrlceit nennt, herstellbar ist und wie die Sinnerschließunao des Beobachteten erfolgen kann. Existenzielles taucht dabei nicht auf.
Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, einen existenziellen Bewg auch bei der
Beobachtung aufzuweisen. Der Rahmen der folgenden Diskussion bildet ein
methodologisches Forschungsprojekt, das ich Episternofogie der Ethnographie
nenne. Seine Grundfrage lautet: Wie kommen Ethnographierende dazu, das
jenige von ihrem Feld zu wissen, was sie schliefüich wissen? Wie bei den bis
her vorgelegten Bausteinen für eine Epistemologie der Ethnographie (Drd�
ler 2018, 2020) ist der Anknüpfungspunkt auch diesmal eine konkrete Feld
forschungserfahrung. Anders als wvor führe ich sie diesmal aber explizit ein.
2. Der Feldforschungsfall
Der Feldforschungsfall entstammt einer gröEeren moralsoziologischen For
schung wm politischen Umgang mit Prostitution. Dafür habe ich unter an
derem öffen diche D iskussionsveranstalrungcn beobachtet. Diejenige Vcran staltu ng, auf die ich mich nachfolgend beziehe, besclüftigtc sich mit dem
Vorschlag, die Nachfrage nach sexuellen Diensten zu kriminalisieren (Dref�
ler 2021). Meine Porschungsfo1ge zielte darauf, wie die Kriminalisierungsop
tion durch die Veranstaltung moralisch aufgeladen wurde. Zu diesem Zweck
habe ich zunächst das Veranstalcungsdispositiv in seinem räumlichen Arran
gement und seiner zeitlichen Dramaturgie, darauf aufbauend dann die einge
setzten Diskursstrategicn analysiert. Entscheidenden Anreil an der Erkennt
nis hatte die affektive lnvol\'ierungskurve, wie ich sie bei anderen und an mir
selbst wahrgenommen, d. h. beobachtet und erfahren, hatte. So zeigten sich
entlang der Dramaturgie der Veranstaltung und abhängig vom Einsatz be
stimmter Diskursstrategien nicht nur bei den übrigen 'feilnehmenden im
Publikum prägnante Ausdruckszeichen der lnvo!Yierung, sondern auch bei
mir zunehmend starke leibliche Regungen.
Während die lnvolvierungskurve für das Publikum allmählich anstieg, wurde
ich erst durch die letzte Rednerin, dann aber sehr stark mitgenommen. In der
Figur einer Zeugin auftretend, hielt sie mit Bezug auf ihre eigene Gewalt
und Missbrauchserfahrung ein flammendes Plädoyer gegen Prostitution.
Mein Herz schlug stärker, mein Wahrnehmungsfeld zog sich zusammen, ich
konnte die Stimme und den Atem der über Mikrofon verstärkten Rednerin
68
Der beobachtende Leib
ganz nah spüren. Was sie sagte, schm erzte. Aber damit nicht genug. Auch das
Schreiben des Feldprotokolls war auszehrend, und zwar nicht nur, weil ich
mir vorgenommen hatte, die Argumentationsführung aller zu Wort Gekom
menen so gut wie möglich anhand meiner Feldnotizen zu rekonstruieren und
im Feldprotokoll festzuhalten (West 1996).
Indem ich schrieb, durchlebte ich die Veranstaltung erneut. Abermals nahm
ich an mir Zeichen leibliche r Jnvolvierung wahr. Ich schwitze und litt.
Schließlich kam es dazu, dass ich im Verlauf der folgenden Tage weitere
Empfindungsschübe hatte , zwar abgeschwächter, aber doch unerwartet. Rü
ckblenden folgten. Schuldgefühle. Dann fingen meine Gedanken an zu krei
sen. Dabei tauchte auch die Frage :i.uf, ob die letzte Redne rin in B ezug auf
Prostitution vielleicht Recht hatte. Die Stoßrichtung der Frage überraschte
mich sehr, stand sie doch quer zu meiner Forschungsfrage. Ganz im Fahr
wasser der wissenssoziologisch gewendeten Soziologie sozialer Proble me ging
es mir darum, wie Prostitution als Problem lwnstruiert und vermittelt wurde
(Specror & Kirsuse 1977). Mit dem inhaltlichen Gehalt der Problemarisie
rungen hatte ich mich dabei nicht zu befassen (vgl. ebd.: 96). Allein ihre
Porm und Formung hatten mich zu interessieren.
Die Analyse des empirischen Materials war mühsam und ansuengend. Ich
schrieb mehrere Entwürfe, hatte Schwierigkeiten, eine Form de r Darstellung
des Palls zu finden, arbeitete mich nebenher durch verschiedene rlliemen
stränge der Literatur - typisch für eine noch immer suchende Fallbestim
m ung (Dre füer 2020). Zudem konnte ich m eine F elde rfahrungen nie ganz
abschütteln. Sie blieben mit dem Text, seinem Schreiben und Umschreiben
ve rbunden. Ein Pfad durchs analytische Dickicht tat sich auf, als ich meine
Erfahrungen direkt zum Thema machte, ihnen einen eigen en Abschnitt im
Text widmete . Zwar hatte ich über sie bereits in frühen Textversionen be
richtet. Sie tauchte n aber im mer nur neben anderem auf: Die Veranstaltung
hatte das Publikum erfasst - und mich auch. lch traute mich nun, meine ei--,
gene Erfahrung stärker in den Vordergrund zu rücken. Dafür versuchte ich,
die Passagen des Feldprotokolls zu meinem Erleben immer wieder neu auszu
l egen. Ich fand fünf Merkmal e der Inrnlvierung, die ich der Diskursstrategie
des Emotionalisie rens zuordnete (vgl. Dreßler 2021: 116):
A rne Dreßler
•
•
•
•
•
63
Parallelität ihres Anhebens neben dem besteh enden kognitiven Fo
kus,
Leiblichkeit als ihr Äußerungsfeld,
Hintergründigkeit ihrer Spannung,
Diffusität ihrer Anbindung und
Eigendynamik ihres Verlaufs.
[n Auseinandersetzung mit der Li terarnr erkannte ich, dass hier wesentliche
Merkmale von Affekt i m Spiel waren, und deutete das, was mit mir während
de r Fe ldphase und danach passiert war, als eine Art moralischen Schock. Da
bei war für mich nicht so sehr interessant und entsprechend nicht das Argu
ment im Aufsatz, dass ich überh11upt reagierte. Das Wie, nicht das Wtti,tm in
teressierte mich. Hierfür konzentrierte ich mich auf die nun aufscheinende
Konstellation von Affekt, Kognit ion und moralischer Wertbindung und den
sich ergebenden Sinnstifrungen. So konnte ich auch das, was ich bei anderen
beobachtete, sehr vorsichtig und mit Bedacht - ich deutete unterschiedliche
Rezeptionstypen an - in die Analyse einbeziehen und herausarbeiten, wie die
Veranstaltung versucht hatte, die Anwesenden für die politische Eins rellung
der Veransralrungsorganisator:innen zu rekrutieren.
3. Leib und Bewusstseinsfeld
Wie könnte die Epistemologie der Ethnographie diese Feldforschu ngserfah
rung aufschlid�en? Zentral für die Bemühungen um das Begreifen ethnogra
phischer Erkenntnis ist das plünomcnologische Modell des Bewusstseinsfel
des, mit dem Aron Curwitsch (1957/1964) die Kom plexitiit der Bedingun
gen und Prozesse menschlicher Sinnbildung abzubilden suchte. Darin wird
der Fokus des Bewusstse ins als "D1erna gefasst. Es zeigt sieb als der Sinn oder
„ Bestim mungsgehalt" (Curwitsch 1929: 294) des je aktuellen Was. Während
die übergeordnete Herausforderung der Ethnographie darin liegt, 'Di emen
feldsensibel zu artikulieren (vgl. Dreßler 2018: 247), wirft de r Feldforschungs
fall mit seinen para-intentionalen, vom Leib angestogenen Setzungen zwei
Spezialfragen auf: Wie kommt e s im Feldmodell zum Wechsel von rHiemen?
Und welche Roll e spielt dabei der Leib?
70
Der beobachtende Leib
Themenwechsel verlaufen im Feldmodell stets selbstgesteuert. Auch wenn
potenzielle Themen unterschiedlich stark reizen können, bleibt ihre Annah
me doch ein Wahlakt (vgl. Gurwitsch 1957/1964: 367 f.). Gemäß ihrer Re
zeptionsorientierung priorisiert die Beobachtung von allen Modi der An
schauung die Wahrnehmung. Dabei unterscheidet sich das äußere vom inne
ren Geschehen dadurch, dass sich letzteres zwar im eigenen Leib zeigt. Aber
das Feldmodell sieht auch hierfür die 'foematisierun$ als Voraussetzung eines
Was vor. Entsprechend ist der fokussierte Bezug auf den Leib nur als rwch
trtigfiche Zuwendung möglich, also im Modus der Reflexion. Originäres
Leibwissen in actu sieht das Feldmodell nicht vor.
Zugleich sind 1l1erne11 im Feldmodell aber niemals selbstgenügsam gegeben.
Vielmehr erscheinen sie immer mit Bezug auf einen Horizont an Relevan
tem: dem thematischen Feld. Für den ethnographischen Erkenntnisgewinn
ist das thematische Feld von großer Bedeutung (vgl. Dreßler 2018: 247;
2020: 49 f.): Es beinhaltet alle Bestände, die aktuell nicht .'.foema sind, aber
mit ihm kontextuell zusarnrnenhfogen. Darunter finden sich vorherige The
men der laufenden Beobachtung, ebenso vom Thema aufgerufene, mit der
Forschungsfrage verbundene oder disziplinär für relevant gehaltene '01eorien.
Je nach erfolgter thematisierender Durcharbeitung sind die Besfinde des the
matischen Feld.es unterschied lich stark ausgearbeitet, mehr oder weniger von
einander geschieden oder tniteinander integriert (vgl. Gurwitsch 1957/ 1964:
336 ff..). Ohne vorherige 'foematisierung können leibliche Regungen jedoch
keine Kontextualit�it erlangen.
Dies bedeutet indes nicht, dass Leiblichkeit im Feldmodell des Bewusstseins
keinen Platz findet. Denn laut Gurwitsch (1985: 36) ist sie ein „ultimate and
irriducible phenomenal darum for our consciousncss". Allerdings erschienen
leibliche Gegebenheiten, wenn nicht als Thema, nur auf unkonkrete Weise:
„dim, indistinct and indeterminate" (ebd.: 27). Zum anderen YOJlzögen sich
leibliche Veränderungen gänzlich ohne Einfluss auf den 1l1ematisierungspro--,·
zess nur als Nebengeschehen (Ygl. ebd.: 29), sogar unabhängig von der Inten
sität leiblicher Regungen (vgl. ebd.). Deshalb wird Leiblichkeit vom Feldmo
dell des Bewusstseins nirgendwo anders als an dessen Rand angesiedelt. Dort
erscheint alles das, was keine Relevanzbeziehung zum 1hema unterhält. Da-
A rne Dreß/er
mit erhält Leibliches
71
denselben
Status wie nicht-thematisierte Bestandteile
des Wahrnehmungsfeldes.
Zwar lässt sich darnit noch das Anheben leiblicher Regungen als Parallelphä
nomen zur Beobachtung nachvollziehen (vgl. ebd.: 33). Gänzlich undenkbar
bleibt aber, wie leibliche Empnndung die Themenfindung beeinflussen kann.
Darin zeigt sich überd eutlich die kognitivistische Schlagseire des Feldmodells
des Bewusstseins. Es ist Lester Embree (1981: 159) zuzustimmen, dass Gur
wirsch dad urch in Schwierigkeiten gerät, A ffd<t und Praxis - beide verweisen
unmittelbar auf Leiblichkeit - zu integrieren. Für die Ethnographie ist das
Feldrnodell des Bewusstseins damit keinesfalls disqualifiziert, zielt sie doch --
nicht in natürlicher, sondern gerade in theoretischer Einstellung - ausdrück
lich auf Deutung, Konzeptualisierung und Versprachlichung. Aber das vom
Feldforschungsfall aufgeworfene Problem nach der epistemischen Rolle des
Leibes kann das Feldmodell des Bewusstseins tTflein nicht lösen. Dies hdt zur
Suche nach einer passenden Ergiinzung ein.
4. Die Responsivität des Leibes
Es ist interessant zu wissen, dass Curwitsch sein Verstiindnis vom Stellenwert
des Leibes teils in kritischer Abgrenzung von Maurice Merleau-Ponty ausge
;ubeitet hat. Die Quellenlage hierzu ist jedoch dürftig. Kurz. vor einem mit
Spannung erwarteten Vortrag, in dem Gurwitsch seine Kritik an der Vorstel
lung ,,des Leibes als sujet de 1'1 connainrmce" (Metraux 1973: 4, zit. in Kastl
2021: 39; Hervorheb. i. Orig.) ausführen wollte, verstarb er. Zwar sind mitt
lerweile Merleau-Pontys Lesenotizen von Gurwitschs Hauptwerk veröffent
licht (Merleau-Ponty 1997). Aber sie markieren eher die innerphänomenolo
gischen Problemstellungen, an denen sich Differenzen auftun, als sie auszu
diskutieren. Die Epistemologie der Ethnographie könnte hier allzu leicht ihre
angewandte Zielstellung aus den Augen verlieren. Es ist deshalb ratsamer, zu
einem anderen Leibtheoretiker überzugehen, der nicht nur der Problemstel
lung des Feldforschungsfalls nahe ist, sondern auch auf beiden, Gurwitsch
und Merleau-Ponty, sowie weiteren aufbaut. Die Rede ist von Bernhard
Waldenfcls.
Für Waldenfels spricht, dass er den Leib insofern von Affektivität tio-ekenn
r.cichnet siehe, als Beobachtende sich selbst in ihm spüren können (vgl. Wal-
72
Der beobachtende Leib
denfels 2000: 39). Wie Gurwitsch geht Waldenfels aber davon au s, dass es
nicht sinnvoll ist, den Leib subjektähnlich zu fassen, nur das Affektive mit
dem Kognitiven zu vertauschen (vgl. ebd.: 43). Denn die Funktionsweise des
Leibes unterscheide sich von der des Bewusstseins. Es werde vom Leib auch
nicht überlagert, dieser stelle ihm vielmehr eine andere Kapazität bei. Gegen
über der Gefahr eines introspektiven Selbstab schlusses rnacht Waldenfels
schliefüich geltend, dass ,,[u]n sere leibliche Erfahrung [ . .. ] weit über die Er
fah rung des Leibes hinausgehen" (Waldenfels 2006: 70; Hervorheb. i. Orig.)
muss. Ihr Bezugsfeld erstrecke sieb auch auf die Welt, das Selbst und die An
deren.
Wie funktioniert dann leibliche Erfahrung? Lrnt Waldenfel s lauert hier die
größte Verständnisschwierigkeit. Die Bezugnahme des Leibes stelle sich näm
lich - anders als beim Bewusstsein - nicht so her, als würden Beobachtende
ein Feldgeschehen direkt, unverzüglich und regelhaft erfasse\1d konfrontie-
rcn. Vielmehr sei der Bezug insofern eher indirekt, zeiclich gedehnt und
selbst ereionishaft
tl)roduktiv, als sich hierbei sowohl die Beobachtenden als
t>
auch das Feldgeschehen wechseheitig bestimmen, und zwar erst in der leiblich-affektiven Antwort auf ein Gecroffensein, welche die Bestimmungen
bzw. Sinnbildungen dann sichtbar mache: ,,Das Cetroffensein erzeugt rüc/1wirlzend seine Geschichte [ . . .]" (Waldenfels 2002: 59; Hervorheb. v. A D.).
Dies erkbrt, warum ich bei meinem Feldforschungs fall in der Auslegung der
unmittelh11 ren leiblichen Involvierung Schwierigkeiten hatte, das affektive
Geschehen trennscharf auf einzelne Elemente des Feldgeschehens zuzurech
nen, und warum s ieb die Sinnbildung im Fall selbst erst rwch und n11ch und
dann inhaltlich übemtschend ergab. Waldenfels schreibt: ,, Das [thematische]
Etwas gehört bereits zur deutenden Antwort auf das Ceschehen..Das Cetrof
fen sein, das ähnlich zu verstehen ist wie das Ergriffensein, gehe dem Treffen
von etwas [im Sinne seiner Bestimmung] voraus." (ebd.; Hinzufüg. v. A D.)
Ereignisse, welche die Res ponsivität des Leibes herausfordern, nennt Wal--.
denfels Wide,fahmisse. Ihm zufolge liefern gerade gewalcgesättigte Situatio
nen wahrscheinliche Kandidaten für Widerfahrnisse: einmal natürlich bei
selbst erfahrener Gewalt, die an der „Verletzlichkeit des leiblichen Selbst"
(ebd.: 145) ansetzt, dann aber auch, ,,wenn ich die Gewalt gegen Dritte zu
lass e, ohne in Grenzen meiner Möglichkeiten gegen sie einzuschreirnn" (ebd.:
Arne Dreß/er
73
146). Genau letzteres ergab sich in meinem Feld, als die Rednerin ihre Ge
walterfahrungen in der Prostitution auf drastischste Weise schilderte, ich ihr
aber durch das Weiterverfolgen meiner Forschungsfrage symbolisch die Hilfe
versagte. Aber nicht nur das : Auch die Rednerin selbst war in dem Moment
leiblich hochgradig involviert, ja schien sich in ihrer Ansprache re-affizien zu
haben, so dass sich das Ereignis ihrer Zeugenschaft auf Basis leihlicher Korre
spondenz herstellte, als „Ko-Affektion" (ebd.: 163; Hervorheb. i. Orig.) zwi
schen der mikrofonverstärkten Rednerin und mir als Beobachter, der ich sie
vernahm.
Wie bsst sich nun der Einfluss der Res ponsivität des Leibes im Feldmodell
des Bewusstseins abbilden? Schon für Widerfohrnisse glaube Waldenfels
nicht daran, dass sie s ich - zumindest in ihrem Vollzug - als 'Themen zeigen
oder als solche überhaupt angemessen abbild bar sind (vgl. ebd.: 161 ). G�ilte
dies auch für die Aftektiviriit des Leibes, erklärte es, wa rum ich mich trotz zu
nehmender leiblicher lnvolvierung im Feld noch immer auf '01ematisierun
gen gemäß meiner Forschungsfrage konzentrieren konnte. Zugleich hiilt
Waldenfels aber eine nachtrdgliche Thematisierung von Widerfahrnissen für
möglich, qualifiziert dies jedoch als eine sie eigentlich neutrttlisierende Zu
gangsweise (vgl. ebd.: ] 56). Bezöge man diese Wirkung auch auf die leibliche
Affektivität, wäre erkl:in, warum ich die Eigendynamik des mich später wie
derhole überkommenden Affokts durch die „Erkundung der Erfah rung"
(ebd.) in der Reflexion bremsen und schließlich einhegen konnte.
Wenn also einerseits '01ematisierung mit leiblicher Affektivität in einem
Konkurrenzverhältnis steht und andererseits der Rand im Feldmodell des Be
wusstseins jede Einflussmöglichkeit versagt, d ann bleibt al s Auswirkungsort
für leibliche Responsivität nur noch das thematische Feld. Ausgehend von
meinem Feldforschungsfall schlage ich folgende Konzipierung vor: Affektive
lnvolvierung produziert im thematischen Feld kognitive Oberschüsse und in
stalliert so neue Pertinenzen (vgl. Drefüer 2018: 242), die aber in Sprumung
zu den bisherigen stehen. Diese Spannungen müssen entweder, um sie igno
rieren zu können, eingeklammert oder, um sie loszuwerden, über Reflexion
aufgelöst werden. Beides ist anstrengend. Damit schließt sich der Kreis eth
nographischer Erkenntnis, die aus der responsiven Leiblichkeit herausdrängt,
74
Der beobachtende Leib
aber - affektiv g ebunden - zunächst unverstanden bleibt, bis sie schließlich
und unter Mühen kognitiv eingeholt wird.
5. Existenzielles Beobachten
In phänomenologischer Hinsicht ist eine „B�obachtungserfahrung" (Honer
1993: 245) tatsächlich von einer Teilnahmeerfahrung zu unterscheiden. Die
Ausleuchtung des eingebrachten Feldforschungsfalls mit den Mitteln der
Epistemologie der Ethnographie hat jedoch erbracht, dass es zu kurz greife,
der Erfahrung aus dem Beobachten eine „Erfahrung der in Frage stehen den
Th ematik von innen" ( ebd.; Hervorheb. i. Orig.) gänzlich abzusprechen. Auf
manche Feldereignisse antwortet der Leib in dem ihm eigenen Register der
Affektivität, und zwar auch unabhängig davon, was im Fokus der Beobach
tung steht. Dieses Leihgeschehen, das auf Ereignisse im F eld reagiert, ,, die
uns zustoßen, uns zuvorkomm en, uns anrühren und verletzen" (Waldenfels
2002: 9), verweist auf den ethischen Horizont von P eldforschung. Damit
meine ich nicht die Forschungsethik, son dern die Möglichkeit, dass die un
mittelbare Konfrontacion mit dem Beobachteten eine ethische Auseinander
setzung in Gang setzt. Widerfahrnisse sind mit den existenziellen Spuren, die
sie hinterlass en, Reizpunkte für das Ethische (vgl. ebd.: 129).
Dass dem existenziellen Potential des Beobachtens bisher keine Aufmerksam
keit geschenkt wurde, hängt eng mit der Ausblendung von Leib und Affekt
bei der Diskussion der B eobachtung als Methode de r Datenerhebung zusam
men. Eine frühere Beschäftigung mit beiden Aspekte n der Menschlichkeit
hätte vermutlich die objektivistischen Kontrollbemühungen gegenüber je
dem Aufscheinen von Subjektivität bei der B eobachtung nur verstärkt. Und
in der Tat: Die Responsiviüt des Leibes als unser „leiblich verankertes
Grundverhältnis zur Wirklichkeit" (Waldenfels 2000: 372) bringt, wie Wal
denfels (2006: 73) schreibt, das ,,Ich [.. . ] von Anfang an ins Spiel". Diesem
Hinweis auf die Ich-lnvolvierung im leiblichen Antworten fügt Waldenfelt'
jedoch noch einen wichtig en Nachtrag an: ,,aber nicht als verantwortlicher
Autor oder als Agent" (ebd.). Diese nachträgliche Qualifikation erklärt sich
daraus, dass die leiblich-affektive Antwort nicht schon auf di e Merkmale des
Selbst zurückfübrbar ist. Vie lmehr verbindet sich in ihr das Eigene, das die
Beobachtenden mitbringen, mit dem Fremden, das aus dem Feld kommt.
75
A rne Dreßler
Zudem w erden beide wechselseitig bestimmt. Denn Widerfabrnisse stellen
produ!ctive Passagen dar, keine starren Subjekt-Obj ekt-Verhältnisse (vgl. Wal
denfels 2002: 100). Daher kann die Einladung der reflexiven Ethnographie
,,ur Selbstbespiegelung (Davies 1998/2008) weder die einzige noch in allen
P!illen die naheliegendste Umgangsweise mit der Responsivität des Leibes
sein.
Cerade die Erforschung von DispositiYen verlangt nach einer analytischen
Alternative. Vorbereitet auf die Möglichkeit leiblich-affektiven Antwortens,
dürfte sie dessen Auftreten nicht als Belastung des Forschungshandelns wer1cn, also der Beobachtung selbst wie des Schreibens darübe r. Vielmehr sollte
sie aufmerksam abwarten, was an eigenstiindiger Sinnbildung aus dem Ant
worten erwächst. Dabei stellen sich erweiterte Anforderungen an das ethno
graphisch e Schreiben. So müsste von Beginn an gröfümöglichen Werr auf
die B eschreibung leiblich-affektiver Erfah ru ng gel egt w erden. Auch ist zu er
warten, dass das Schreiben nicht schon erledigt ist, wenn die Ereignisse im
h:ld prntokolliert sind. Denn die Responsiviüt des Leibes entgrenzt das Feld
dahingebend, dass ibm d ie Beobachtenden hinzugefügt werden. Die hierbei
('lltstehenden Erkenntnischancen und methodologisch en Herausf-<x<lerun<>en
t>
1•,chen darauf zurück, dass nicht nur das Bewusstsein beobachtet, sondern
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