GEFÜHLTE NÄHE
ZUR MEDIENGESCHICHTE VON TESTIMONIAL IMAGES
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
21: INQUIRIES INTO ART, HISTORY, AND THE VISUAL
#3-2023, S. 465–488
https://doi.org/10.11588/xxi.2023.3.99103
465
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
ABSTRACT: FELT PROXIMITY. ON THE MEDIA HISTORY OF
TESTIMONIAL IMAGES
How has digital communication changed expectations and percep
tions of proximity and distance? This article traces the media his
tory of a communication mode that relies on intimacy and testify
ing. By discussing the intrinsic relationship between platform-based
information and communication technologies and the attention
economy, the development of a communication mode of so-called
“presumed intimacy” is elaborated. Drawing on concepts from
celebrity studies and advertising, the transformation of spatio-tem
poral and social distance into felt proximity can be described in
more detail. In doing so, the article also stresses the role of images
in the fabrication of intimacy and takes selfies and selfie videos of
celebrities in the context of protest movements as an example. The
connection of protest culture, celebrification and testimonial images
demonstrates in a particular way how attention economies in digital
communication are structured.
KEYWORDS
Selfie; Intimität; Nähe; Digitale Kommunikation; Soziale Medien;
Zeug*innenschaft; Testimonial; Protestbewegungen; Prominente.
466
Gefühlte Nähe
I. Selfie-Videos von Prominenten in Protestbewegungen
In der Nacht des 20. Oktober 2020 ereignete sich in Lagos State,
Nigeria, die brutale Niederschlagung eines Protests an der Maut
stelle Lekki Toll Gate. Bereits seit drei Jahren demonstrierten
Nigerianer*innen unter dem Hashtag #EndSARS gegen Polizei
gewalt, als es zum sogenannten „Lekki Massaker“ kam, bei dem
Soldaten das Feuer auf die Protestierenden eröffneten und zahlrei
che Menschen starben. Am 23. Oktober postete die DJane Switch,
die an jenem Tag ebenfalls demonstriert hatte und zur Augen
zeugin wurde, ein Selfie-Video auf ihrem Instagram- und Twit
ter-Account.1 Das Video zeigt Oberkörper und Gesicht in Nahauf
nahme und leichter Untersicht, DJane Switch sitzt an einem Tisch
und spricht vermutlich in eine Webcam [Abb. 1]. Nur wenig ist von
dem Zimmer zu sehen, in dem sie sich befindet. Der Fokus ist auf
ihrem Gesicht; in den Blick fällt ein kleines Pflaster, das von einer
Verletzung zeugt. Sichtlich aufgelöst und um Worte ringend berich
tet sie von den Erlebnissen, unter deren Eindruck sie noch steht.
Sie berichtet von der Anwesenheit des Militärs und der Polizei, die
auf friedlich demonstrierende Bürger*innen geschossen hätten, und
präsentiert eine Sammlung von leeren Patronenhülsen als Beweis
stücke. Zwischendurch schließt sie die Augen, als würde sie die
Erinnerung heraufbeschwören, ihre Worte stocken, sie presst die
Lippen aufeinander und ist den Tränen nah.
Ohne Bilder des „Lekki Massakers“ in ihrem Videobericht
zu zeigen,2 gelingt es der Sprecherin, eine Nähe zum Geschehen
über räumliche und kulturelle Distanzen hinweg zu erzeugen. Dabei
dient die sichtbare Affektion als Schnittstelle zwischen Zuschauen
den und dem Vorgefallenen. DJane Switch kreiert ein sekundäres,
mediales Ereignis, indem sie uns lediglich an der reaktiven Affek
tion teilhaben lässt. Bei der Augenzeugin handelt es sich um eine
über die Landesgrenzen hinaus bekannte nigerianische Musikerin,
die mit bürgerlichem Namen Obianuju Catherine Udeh heißt und
auf Instagram 935.000 Follower hat.3
Bereits seit einigen Jahren kann man in den Sozialen Medien
beobachten, dass Prominente sich in Protestbewegungen engagie
ren und visuelle Botschaften posten. Mit Selfies und nun immer
öfter mit Selfie-Videos legen sie Zeugnis von ihren Einstellungen
und Erfahrungen ab und positionieren sich in öffentlichen Debat
ten, manchmal unter großem persönlichen Risiko. Sie nutzen dabei
ohne Frage ihre Bekanntheit und ihr Image, um Aufmerksamkeit
1
http://twitter.com/dj_switchahoIic (22.02.2022). Wir danken Tanja-Bianca Schmidt, die
uns auf dieses Fallbeispiel aufmerksam gemacht hat.
2
DJane Switch hatte auch während der Demonstrationen gefilmt und gestreamt. Suyin Hay
nes, She Livestreamed the Shooting of Peaceful Protesters in Lagos. Now in Exile, DJ
Switch Is Still Fighting for the Future of Nigeria, in: Time, 17.12.2020 (22.02.2022).
3
Stand Februar 2022 des Instagram-Accounts djswitch_ (22.02.2022).
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Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
[Abb. 1]
Standbilder aus dem Selfie-Video von DJ Switch, über den Twitter-Account @dj_switchaho
Iic gepostet am 23.10.2020 mit den Hashtags #LekkiMassacre #LekkiGenocide #EndSARS
(22.02.2022).
468
Gefühlte Nähe
auf Probleme und Missstände zu lenken. Doch durch welche Kom
munikationsmodi gelingt es hier, ein authentisches Bildzeugnis, ein
testimonial image, zu generieren? Wie wird trotz technischer Dis
tanz und der Unerreichbarkeit von berühmten Personen für die
Allgemeinheit eine gefühlte Nähe hergestellt? Und wie vermischen
sich unter dem Druck der Aufmerksamkeitsökonomien digitaler
Kommunikation Protestkultur, Celebrity-Kult und das Genre des
Selfies? Im Folgenden sollen die historischen Entwicklungslinien
aufgezeigt werden, die diese Form der Kommunikation hervorge
bracht haben.
II. Das Internet und die Entstehung einer neuen sozialen
Sphäre
Bereits Anfang der 1990er Jahre setzen die ersten Reflexionen über
den ambivalenten Einfluss internetbasierter Informations- und
Kommunikationstechnologien auf soziale Zusammenhänge, Wissen
und Kultur ein. Als eines der ersten Dokumente, das sich mit dem
Nutzen des Internets für die breite Öffentlichkeit auseinandersetzt,
gilt Howard Rheingolds The Virtual Community. Homesteading on the
Electronic Frontier von 1993.4 Neben drei Arten kollektiven Nutzens
– sozialer Nutzen, Wissenskapital und Gemeinschaftsgefühl – hebt
er auch die Tendenz zu panoptischer Machtkonzentration hervor,
indem „Leute mit wirtschaftlicher und politischer Macht einen Weg
finden, den Zugang zu den virtuellen Gemeinschaften zu kontrollie
ren“.5
Bereits Mitte der 1990er Jahre konzentriert sich Michael H.
Goldhaber auf diese dystopische Entwicklungstendenz des Inter
nets. Den Paradigmenwechsel, den das Internet einführt, setzt er
mit einem Wechsel der ökonomischen Form gleich.6 Goldhaber hält
es für einen Fehler, „Entwicklungen wie das Internet und das World
Wide Web in den Begriffen der herkömmlichen Ökonomie“7 zu
denken. Er schlägt stattdessen den Begriff der „Aufmerksamkeits
ökonomie“ vor. Diese funktioniere „ohne jede Form des Geldes und
ohne Markt oder von etwas, das diesem gleicht“.8 Darüber hinaus
4
Howard Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft, in: Tilman Baumgärtel (Hg.), Texte zur Theorie
des Internets, Ditzingen 2017, 104–118, hier 109; 117.
5
Ebd., 116, 110.
6
Michael H. Goldhaber, M. H. Goldhaber’s Principles of the New Economy, 23.08.1996
(22.02.2022); ders., Some Attention Apothegms, 15.08.1996 (22.02.2022); ders., The Attention
Economy and the Net, in: First Monday 2/4, 1997 (22.02.2022).
7
Michael H. Goldhaber, Die Aufmerksamkeitsökonomie und das Netz. Über das knappe
Gut der Informationsgesellschaft, in: Baumgärtel, Texte zur Theorie des Internets, 181–193,
hier 182.
8
Ebd., 183.
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Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
setze sie „eine völlig andere Lebensweise als die auf Routinen
begründete industrielle Existenz mit ihren Dichotomien zwischen
Arbeitsstätte und Heim, Arbeit und Spiel und Produktion und Kon
sum voraus“.9
Dass Goldhaber bereits eine ganze Produktionsweise mit ihren
Effekten auf die Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Pri
vatem im Blick hat, deckt sich mit zeitgleichen Reflexionen, die sich
auf die Transformation von Arbeit durch den seit den 1970er Jahren
anwachsenden Dienstleistungssektor beziehen.10
In den deutschen Diskurs hatte Georg Franck bereits 1989 den
Begriff der Aufmerksamkeit als „Energie“ eingeführt.11 In drei sei
nem Buch Die Ökonomie der Aufmerksamkeit (1998) vorausgehenden
Aufsätzen, veröffentlicht im Merkur, profiliert er den Begriff der
Aufmerksamkeitsökonomie und will damit eine allgemeine Trans
formation beschreiben, in der „Aufmerksamkeit“ als knapper Res
source eine wachsende Bedeutung zukommt, die auch eine Wäh
rungsfunktion übernehmen kann.12 Obwohl er diese Entwicklung
nicht ausschließlich auf das Internet bezieht, misst er der mit neuen
Kommunikationstechnologien einhergehenden „Entgrenzung der
Informationsflut“13 eine zentrale Rolle bei.
Mit der Markteinführung des Smartphones ab 2007 und dem
Ausbau des mobilen Internets hat sich der von Goldhaber und
Franck beschriebene Kampf um Aufmerksamkeit zunehmend glo
balisiert und weitet sich seitdem auf sämtliche kommunikative
Gefüge der Gesellschaft aus.14 Wie bei allen großen Medienrevo
lutionen zuvor gerät auch durch den Siegeszug des Internets das
Verhältnis von Sinn und Sinnen unter Evolutionsdruck, allerdings
etablieren sich einige Paradoxien, die den Charakter der öffentli
chen Kommunikation nachhaltig verändern und Erwartungen und
Wahrnehmungen von Nähe- und Distanzverhältnissen invertieren.
Jüngst hat das auch Jürgen Habermas festgestellt, der im Kontext
einer Sonderausgabe des Leviathan zu einer Revision seiner Thesen
9
Ebd.
10
Vgl. dazu etwa Maurizio Lazzarato, Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter
den Bedingungen des Postfordismus, in: Antonio Negri, Thomas Atzert, Paolo Virno und
Maurizio Lazzarato (Hg.), Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subver
sion, Berlin 1998, 39–53; oder Michael Hardt, Affektive Arbeit, in: Thomas Atzert und Jost
Müller (Hg.), Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu
Empire, Münster 2004, 175–189.
11
Georg Franck, Die neue Währung: Aufmerksamkeit. Zum Einfluß der Hochtechnik auf Zeit
und Geld, in: Merkur 486, 1989, 688–701, hier 699.
12
Franck, Die neue Währung; ders., Ein Kampf um Aufmerksamkeit, in: Merkur 574, 1997,
72–79; ders., Ökonomie der Aufmerksamkeit, in: Merkur 534–535, 1993, 748–761.
13
Ders., Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998, 66.
14
Michael Seemann, Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin
2021, 88.
470
Gefühlte Nähe
von 1962 zum Strukturwandel der Medienöffentlichkeit aufgefor
dert wurde. Ohne zwar eine faktische „Trennung der Öffentlichkeit
von den privaten Lebenssphären“ anzunehmen, stellt er in Rech
nung, dass die Sozialen Medien (= Web 2.0) „in Teilen der Bevöl
kerung die Wahrnehmung der Öffentlichkeit in der Weise verän
dert haben, dass die Trennschärfe zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘
und damit der inklusive Sinn von Öffentlichkeit verblasst“.15 Haber
mas hebt für den sich etablierenden Kommunikationsmodus hervor,
dass sich Nutzer*innen von Zensur befreit „an ein anonymes Publi
kum wenden und um dessen Zustimmung werben“16 können.
Habermas beschreibt in seinen Termini die Beziehung zwi
schen Influencer*innen und Follower*innen beziehungsweise Com
munity: Indem der hier gepflegte Kommunikationsmodus sich von
redaktionellen Pflichten entlastet, gleichzeitig aber den Kommu
nikationsrahmen einer privaten Sphäre verlassen kann, entsteht
eine neue, bisher unbekannte Sphäre, die er als eine „anonyme
Intimität“17 beschreibt. „Anonyme Intimität“ ist stärker noch als
die öffentliche Sphäre der Mediengesellschaft alten Typs wesent
lich dadurch gekennzeichnet, dass sich unter den Bedingungen des
Web 2.0 der Kampf um Aufmerksamkeitsressourcen verschärft.
Nicht nur haben wir es mit einem exponentiellen Zuwachs an Infor
mationen zu tun, sondern auch mit einem exponentiellen Zuwachs
möglicher Verbindungen. Informations-„Overload“ und Hyperkon
nektivismus treffen zudem auf automatisierte Mechanismen der
Hierarchisierung und Personalisierung, was wiederum eine Frag
mentierung zur Folge hat: „Durch Fragmentierung und Persona
lisierung unserer medialen Realität wird es immer schwieriger,
einen gemeinsamen Referenzraum aufrechtzuerhalten.“18 Der Sinn
spaltet sich in unterschiedliche Sinnzusammenhänge auf. Clemens
Apprich spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zusammen
bruch symbolischer Effizienz“19, da die gemeinsame soziale ,Wirk
lichkeit‘ auf immer kleinere gemeinsame Nenner schrumpft. „Die
Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenz
punkte und -systeme“, so Felix Stalder in Kultur der Digitalität,
„steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der
etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat, die
15
Jürgen Habermas, Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der
politischen Öffentlichkeit, in: Martin Seeliger und Sebastian Sevignani (Hg.), Ein neuer
Strukturwandel der Öffentlichkeit? (Sonderband Leviathan 37), Baden-Baden 2021, 470–500,
hier 496.
16
Ebd.
17
Ebd.
18
Clemens Apprich, Paranoia, in: Timon Beyes, Jörg Metelmann und Claus Pias (Hg.), Nach
der Revolution. Ein Brevier digitaler Kulturen, Duisburg 2017, 77–88, hier 84.
19
Ebd.
471
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
nicht darauf ausgerichtet sind, mit dieser Flut an Bedeutungsan
sprüchen umzugehen.“20
Eine zentrale Rolle spielen hier die kommerziellen Plattfor
men, die mit dem Web 2.0 ihren technoökonomischen Siegeszug
beginnen und zunehmend die New Economy – und damit auch
die herkömmlichen Massenmedien – unter Druck setzen. Denn
kommerziellen Plattformen ist eine Tendenz zur Monopolisierung
intrinsisch, wollen sie ökonomisch erfolgreich sein. Das Erfolgsmo
dell sämtlicher kommerzieller, digitaler Plattformen operiert mit
einem „Netzwerkeffekt“21: Ein solcher stellt sich ein, wenn die Nut
zung der Plattform durch eine kritische Masse an Nutzer*innen
erreicht ist, die Plattform also durch den Gebrauch Vieler einen
sogenannten Einflusseffekt erzeugt und sich dadurch als unumgeh
barer Standard universalisiert.22 Der individuelle Nutzungswert der
User*innen erhöht nun seinerseits den Traffic auf den Plattformen,
was den Nutzungswert der Plattform als Werbeplattform steigert
und schließlich den Marktwert der Plattformen in die Höhe treibt.
Kommerzielle, digitale Plattformen haben demnach ein ökono
misches Interesse an der persistenten Aufforderung zur Generie
rung und zum Teilen von Content. Der Kampf um Aufmerksamkeit
weitet sich so von einer Aufmerksamkeit, die sich noch vorrangig
auf die Rezeptionszeit der User*innen bezog, immer mehr auf deren
aktive Partizipation aus. Axel Bruns prägte den Begriff der Produ
sage23, um den sich verbreitenden Trend hin zu user*innengenerier
tem Content zu beschreiben. User*innengenerierter Content muss
sich in der Medienumwelt kommerzieller Plattformen, insofern
keine einheitlichen, übergreifenden und vor allem konsequenten
Regeln der Content-Erstellung vorherrschen (wie etwa auf Wikipe
dia) und damit keine transparente Content-Moderation stattfindet,
automatisch den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie anpas
sen, um entsprechend erfolgreich zu sein.24
20
Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016, 11.
21
Vgl. Seemann, Die Macht der Plattformen, 93–95.
22
David Singh Grewal, Network Power. The Social Dynamics of Globalization, New Haven,
CT/London 2009, 150–154.
23
Der Begriff schließt an den Begriff Prosument (Zusammensetzung aus Konsument und
Produzent) an und soll ausdrücken, dass User*innen im Web 2.0 immer auch als Produ
zent:innen adressiert werden. Vgl. Axel Bruns, Produsage. Towards a Broader Framework
for User-Led Content Creation, in: Ben Shneiderman (Hg.), Proceedings of 6th ACM SIG
CHI Conference on Creativity and Cognition 2007, New York 2007, 99–105; ders., Blogs,
Wikipedia, Second Life, and Beyond. From Production to Produsage, New York 2008.
24
Selbstverständlich gibt es je nach Land und sozialem Code unterschiedliche Regulierungen.
Im US-Kontext unterliegt beispielsweise sexueller Content zum Teil strengeren Regulie
rungen als verletzende Sprache und Androhung von Gewalt. Die Zensur und Regulierung
auf und durch die kommerziellen Plattformen selbst ist ein komplexes Feld. Vgl. zur Ein
führung in den Problembereich und für weiterführende Literatur Tanja Prokić und Elisa
beth Heyne (Hg.), Invective Gaze. Das digitale Bild und die Kultur der Beschämung, Bielefeld
2022.
472
Gefühlte Nähe
Mit dieser Entwicklung kommt es auch zu einer Nachah
mung professioneller Mittel der Aufmerksamkeitsdirektion. Um
Aufmerksamkeit zu erregen und (langfristig beziehungsweise wie
derholt) zu binden, liefert die Wahrnehmungspsychologie (insbe
sondere die Werbepsychologie) zahlreiche unterschiedlich überzeu
gende Modelle. Über die Tatsache, dass diese Strategien die Sinne
involvieren und adressieren, um Interessen hervorzurufen, Bedürf
nisse zu kreieren und entsprechend (Kauf-)Handlungen auszulösen,
scheint in allen Modellen Konsens zu bestehen. Weiterhin bleibt
das Problem des Priorisierens- und Selegierens auf der Seite der
Rezeption bestehen. Wie lässt sich entscheiden, welche Informatio
nen zuverlässig, vertrauensvoll und wahr sind?
Kommunikative Instanzen, die zwischen Inhalten und Adres
sat*innen vermitteln, etablierten sich in der Werbung unter dem
Begriff des Testimonials. Darunter sind Personen zu verstehen, die
bei der Zielgruppe Vertrauen herstellen sollen, um eine Werbebot
schaft emotional zu bestärken.25 Dabei steht die abstrakte Erzeu
gung eines Gefühls gegenüber konkreten Merkmalen oder Leistun
gen im Vordergrund. Im Begriff ist der Zeuge (lateinisch testis)
etymologisch erhalten geblieben. Die Person fungiert als Zeuge,
ihr Statement legt Zeugnis ab und soll überzeugen. Das Testimonial
kann unterschiedliche Funktionen erfüllen, etwa die Zuwendung
zur Kommunikation (Aufmerksamkeit), Imagetransfer von Testi
monial-Personen zur Marke oder Intensivierung der Positionierung
durch Beweiskraft.26 Insbesondere Prominente, die als Testimonial
fungieren (= Celebrimonial27), erhöhen die Beweiskraft und können
Image- und Persönlichkeitstransfereffekte auf die Marke erwirken.
Limor Shifman etwa gibt in ihrem Versuch zu erklären, was Inhalte
im Internet „viral“ werden lässt, als wesentlichen Faktor „Prestige“
an: „Wenn Sie eine Geschichte schreiben wollen, die zu einem
viralen Erfolg werden soll, dürfte es von Vorteil sein, wenn Ihr
Name Bill Gates oder Brad Pitt ist.“28 Wenn Prominente zu einer
Quelle des verbreiteten Contents werden, kann ihre Bekanntheit
die ansonsten mangelnden Kenntnisse über die Herkunft des Con
tents quasi kompensieren. Bereits Georg Franck illustriert seine
Thesen zur Aufmerksamkeitsökonomie mit der Erzeugung von
Attraktivität in der Werbung und dem Phänomen der Prominenz
als Selbstzweck. Mit Blick auf den Erfolg digitaler Netzwerke und
der Konjunktur an YouTube-Stars und Influencer*innen hat sich
25
Carsten Baumgarth, Markenpolitik, Wiesbaden 2008, hier 204.
26
Vgl. Henning Haase, Testimonial-Werbung, in: ders. und Karl-Fritz Koeppler (Hg.), Fort
schritte der Marktpsychologie, Bd. 4, Bonn 1986, 125–141; Carsten Baumgarth, Markenpolitik.
Markenwirkungen – Markenführung – Markencontrolling, Wiesbaden 2014; Karsten Kilian,
Was sind Testimonials?, in: Absatzwirtschaft 9, 2009, 86.
27
Hamish Pringle, Celebrity Sells, Chichester/Hoboken, NJ 2004.
28
Limor Shifman, Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter, Berlin 2014, 67.
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Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
sein Argument als äußerst hellsichtig erwiesen. Was er beschreibt,
ist eine Verschiebung von Macht hin zu Ruhm und von Reichtum
hin zu Prominenz.29 Ein Wandel, der etwa von Chris Rojek unter
dem Stichwort „Celebrification“30 beschrieben wurde. In der Erfor
schung von Celebrity Cultures rehabilitierte Rojek das Konzept der
„parasozialen Beziehung“, wie es Donald Horton und Richard Wohl
bereits 1957 für ihre Beobachtungen zur Massenkommunikation am
Beispiel des Broadcast Television eingeführt haben.31 Rojek prägte
hierfür den Begriff der „presumed intimacy“32, auf den wir uns im
Folgenden beziehen. Eine Kommunikation der gefühlten Nähe ist
die Lösung für das durch die Medienrevolution entstandene Pro
blem der Aufmerksamkeitsdiffusion und dem daraus resultierenden
Problem der individuellen Selektion und Priorisierung. Der von
Habermas beschriebene Wandel der öffentlichen Kommunikations
muster hin zu einer „eigentümlich anonyme[n] Intimität“33 kann
als eine Folge des allseitigen Einsatzes der Medienstrategien einer
„presumed intimacy“ verstanden werden.
III. Die Umwertung von Distanz in presumed intimacy
Im Zeitalter der Digitalisierung treten die Kommunikationsplattfor
men als Vermittlungsinstanz eines selbst produzierten Problems
auf: Einerseits antworten die Sozialen Medien auf die Bedarfslage
für das unentwegte (Wieder-)Herstellen von bereits etablierten
und neuen Verbindungen, andererseits produzieren sie allererst
einen strukturell überfordernden Hyperkonnektivismus. Die Sozia
len Medien sind, folgt man Niklas Luhmanns systemtheoretischem
Setting zur Beschreibung funktionaler Gesellschaften, eine Prob
lemlösung, das heißt Problem und Lösung zugleich. Sie versprechen
eine Lösung für ein selbst gemachtes Problem; das sich allerdings
graduell und schleichend naturalisiert. Ein zentraler Effekt des
durch Soziale Medien modifizierten Kommunikationsverhaltens ist
die scheinbare, gefühlte Nähe, die sich in den Kommunikations
prozessen trotz unterschiedlicher Distanzen – etwa raum-zeitliche,
kulturelle oder soziale – herzustellen vermag.
Selbstverständlich gilt diese Verschiebung des Verhältnisses
von Nähe und Ferne nicht ausschließlich für die Sozialen Medien.
29
Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, 10.
30
Chris Rojek, Celebrity, London 2001, 181.
31
Donald Horton und Richard R. Wohl, Mass Communication and Parasocial Interaction.
Observation on Intimacy at a Distance, in: Psychiatry 19/3, 1956, 215–229.
32
Chris Rojek, Presumed Intimacy. Parasocial Interaction in Media, Society and Celebrity Cul
ture, Cambridge 2016.
33
Habermas, Überlegungen und Hypothesen, 496.
474
Gefühlte Nähe
Theoretische und ästhetische Reflexionen über veränderte NäheFerne-Verhältnisse beziehen sich in der Geschichte immer wieder
auf den Zusammenhang von räumlichen Distanzen und der medi
alen Überwindung derselben. Bei Georg Simmel etwa stößt das
Leben in der Großstadt und die kognitive Herausforderung, die
die Bewerkstelligung des Lebens in derselben bedeutet, beispiels
weise eine Modifikation von Nähe- und Distanzverhältnissen zu
den räumlich Nächsten an. Die Großstadt dient dem Soziologen
immer wieder als Vergleichsmatrix für seine Frage nach den For
men der Vergesellschaftung. Besondere Aufmerksamkeit erhält in
diesem Kontext die Funktion des Fremden für Vergesellschaftungs
prozesse. In seinem berühmten Exkurs über den Fremden (1908)
macht Simmel einige Beobachtungen, die noch heute von Wert sind,
um Entwicklungen in der Online-Kommunikation zu beschreiben.
Das Fremdsein stellt für Simmel „eine ganz positive Beziehung,
eine besondere Wechselwirkungsform“34 dar. „Der Fremde“35 stehe
der Gruppe „mit der besonderen Attitüde des ,Objektiven‘ gegen
über“, weil er „nicht von der Wurzel her für die singulären Bestand
teile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist“.36
Mit der Objektivität „des Fremden“ ist nicht „Abstand und Unbe
teiligtheit“ verbunden, „sondern ein besonderes Gebilde aus Ferne
und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit“.37 Weil er nicht Teil
der Gruppe ist, werden ihm, so Simmel, „oft die überraschendsten
Offenheiten und Konfessionen, bis zu dem Charakter der Beichte,
entgegengebracht [...], die man jedem Nahestehenden sorgfältig
vorenthält“.38
Der Fremde verkörpert das der-Ferne-nahsein. Ein Verhält
nis, das sich medial als ausbeutbar erweist. In seinem eher unbe
kannten Text The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’
Radio Broadcasts (1943), der im Kontext seiner Mitarbeit im Prince
ton Radio Research Project des Soziologen Paul Lazarsfeld an der
Princeton und später an der Columbia University entstand, widmet
sich Theodor W. Adorno dem persuasiven Stil eines evangelikalen
Demagogen, der in den 1930er Jahren im Radio aktiv war. Adorno
beschreibt die rhetorischen Mittel, mit denen Thomas eine private
34
Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die
Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, 764–770, hier 765.
35
Simmel wählt nicht unüblich und folgenlos für sein Konzept vom Fremden als eine typi
sierende Sozialfigur das generische Maskulinum. Auf den idealisierenden und ausschlie
ßenden Rückkopplungseffekt dieser grammatikalischen Entscheidung soll hier mit dem
Hinweis einer durchaus kritischen Perspektivierung des „Othering“ in der Postkolonialen
Theorie verwiesen sein, vgl. dazu Stuart Hall, The Spectacle of the ‚Other‘, in: ders. (Hg.),
Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, 225–279.
36
Simmel, Exkurs über den Fremden, 766.
37
Ebd., 766–767.
38
Ebd., 767.
475
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
Sphäre des Vertrauens kreiert und dadurch den realen Abstand
(„the gap between person and person“) zwischen den Hörer*innen
und dem Sprecher überbrückt.39 Jenes veränderte Mediendispositiv
schafft also eine Reihe von Anschluss- und Verwertungsmöglich
keiten hinsichtlich der Affekte, die es zu mobilisieren vermag.
Der 1956 veröffentlichte Aufsatz Mass Communication and
Para-Social Interaction. Observations on Intimacy at a Distance von
Donald Horton und Richard Wohl beschäftigt sich ähnlich wie
Adornos Text mit dem Charakteristikum neuer Massenmedien wie
Radio, Fernsehen und Kino, die Illusion einer Face-to-Face-Ver
bindung mit den Performer*innen zu kreieren. Am Beispiel der
stark frequentierten Daily Shows im US-amerikanischen Fernse
hen beobachteten die Autoren nicht nur eine Aufforderung der
Schauspieler*innen oder Moderator*innen zur affektiven Interak
tion mit ihrem Publikum. Kommunikationssignale, die eine gesel
lige, freundschaftliche Nähe oder Intimität suggerierten und damit
in den privaten Raum des Wohnzimmers hinein eine so genannte
para-soziale Bindung erzeugen. Ihr Fokus liegt nun nicht mehr auf
den rhetorischen Mitteln, sondern sie haben explizit auch die tech
nischen Verfahren im Auge, die eingesetzt werden, um „Illusionen
von Intimität“40 zu erzeugen.
All diese Mittel werden genutzt, um die Shows als persönlich
keitsgeleitete zu etablieren: „These are sociability, easy affability,
friendship, and close contact – briefly, all the values associated
with free access to and easy participation in pleasant social inter
action in primary groups.“41 Während nach Horton und Wohl vor
allem die Medienpersona und ihre affektive Arbeit als Dreh- und
Angelpunkt der Show gilt,42 kann das nicht mehr für die Sozia
len Medien gelten. Denn vermeintliche, selektive Partizipation der
Zuhörer*innen oder Zuschauer*innen entwickelt sich zu einer fakti
schen Partizipation. In den Sozialen Medien kann jede*r bearbeiten,
produzieren und teilen: hier werden Nutzer*innen eben zu Produ
zent*innen (= ProdUser).43 Die Distanz wird damit zu einer zentralen
Kategorie, die Kommunikationsprozesse prägt: Eben nicht nur auf
39
„Not only does it refer to the most immediate interests of his listeners, but also it encom
passes the sphere of privacy of the speaker himself who seems to take his listeners into
his confidence and to bridge the gap between person and person.“ Theodor W. Adorno,
The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Radio Addresses, in: ders. (Hg.),
Soziologische Schriften I.1, Frankfurt a. M. 1975, 7–141, hier 7 (Übersetzung von Milli Wein
brenner: Theodeor W. Adorno, Die psychologische Technik in Martin Luther Thomas’
Rundfunkreden [1943], in: ders., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 8 2013,
360–483, hier 360).
40
Horton und Wohl, Mass Communication and Parasocial Interaction, 218.
41
Ebd., 218.
42
Ebd.
43
Bruns, Produsage, 99–105.
476
Gefühlte Nähe
Radio- oder Fernseh-Performer*innen und (ihre) Techniken zur
Überbrückung beschränkt, dehnt sie sich gewissermaßen auf sämt
liche Kommunikationsverhältnisse aus. Soziale Medien verwandeln
auch die nächsten Beziehungen in solche der Ferne und machen so
sichtbar, was jeder Kommunikation notwendig zu Grunde liegt, aber
im Kommunikationsprozess latent bleibt: Doppelte Kontingenz. Für
den Kommunikationsmodus gilt daher, dass faktische raumzeitliche,
kulturelle oder soziale Distanz von einer „vermeintlichen“ Distanz
nicht mehr zu unterscheiden ist, daher gilt es, sie generell durch
gefühlte Nähe zu überbrücken.
Es etablieren sich eine Vielzahl von Methoden, Formen und
Genres zur Herstellung gefühlter Nähe. So spielen unter den modi
fizierten Bedingungen digitaler Kommunikation emotive Kommuni
kationsoperatoren eine zentrale Rolle, um genau diese Umwertung
von vermeintlicher und faktischer Distanz in gefühlte Nähe zu
bewerkstelligen. Gala Rebane arbeitet das am Beispiel der EmojiIndustrie entsprechend anschaulich heraus. Gerade für die „ange
strebte und ersehnte emotionale Unmittelbarkeit“44 wirken Emojis
beziehungsweise Bilder der Abstraktion von Schrift entgegen.
Mit dem Entstehen solcher emotiver Kommunikationsoperato
ren wächst jedoch auch das Bedürfnis, sich durch eine immer prä
zisere Artikulation persönlicher Gefühle nahbar zu machen und
sich zu individualisieren. Der Konkurrenzdruck der Individuen
schwappt auf die Ebene der Genres, Modi, Formen und Symbole
über. Dasselbe Mediendispositiv, das reale Distanz in gefühlte Nähe
und reale Nähe in mediale Distanz transformiert, verwandelt Emp
fänger*innen in Publika. Und weil jede*r produzieren kann, stehen
letztlich alle in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit eines fluiden
Publikums. Die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Kommunika
tionsmuster verschieben sich unter diesem neuen medialen Para
digma, das „alle potentiellen Nutzer prinzipiell zu selbständigen
und gleichberechtigten Autoren“45 macht.
Chris Rojeks Konzept der presumed intimacy nun reagiert aus
gehend von seinen Studien zur Celebrity Culture der 1990er Jahre
auf den Umstand, dass es Medienpersonen trotz anonymer und
fluider Publika gelingt, den Eindruck einer intimen Bildschirm
freundschaft zu evozieren und die Publika entsprechend zu bin
den.46 Die Herstellung einer solchen intimen Sphäre zwischen
Medienpersona und Publikum, so betont auch Rojek, hat zwei zent
rale Dimensionen: Einerseits die rhetorische Dimension, in der
spezielle kommunikative Modi eingesetzt werden wie „wisecracks,
catch-phrases, deadpan jokes, off-the-cuff remarks, self-depreca
tion, sharing apparently private thoughts“ oder gar Enthüllungen
44
Gala Rebane, Emojis, Berlin 2021, 34.
45
Habermas, Überlegungen und Hypothesen, 478f.
46
Rojek, Presumed Intimacy, 7.
477
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
sowie emotionale Offenbarungen, die vor laufender Kamera pro
voziert werden.47 Der Begriff des „para-social confession“48 von
Barry King fasst diesen Aspekt der presumed intimacy sehr treffend.
Nicht in erster Linie das Bekenntnis selbst, sondern der vertraute
Kommunikationsrahmen, in dem sich das Bekenntnis vollzieht,
avanciert zur Ausdrucksform parasozialer Interaktion schlechthin.
Dieser Kommunikationsrahmen lässt sich durch verschiedene Mit
tel – Rhetorik, Mimik und Gestik, Inszenierung, Performance –
medial erzeugen und entsprechend verstärken. Andererseits kann
die räumliche oder mediale Dimension eine zentrale Rolle spielen.
So wurde im Set-Design des Fernsehens gezielt auf eine häusli
che Umgebung gesetzt, „potted plants, framed family photographs,
coffee tables, sofas, cushions, rugs and so on in order to convey
the impression that the studio is an extension of the home“49.
Im Mittelpunkt solcher Strategien steht die Kreation einer staged
authenticity.50 Visualität spielt bei der Intensitätssteigerung eine
zentrale Rolle; sie erhöht die Wahrscheinlichkeit der Identifikation
mit den Dargestellten respektive der Responsibilisierung für das
Dargestellte. So sind Bilder auch in der Lage, sich von der rheto
rischen Dimension der Sprache zu emanzipieren und sie gänzlich
zu ersetzen, insofern sie nicht nur zeigen können, was sie zeigen,
sondern auch zeigen können, wie sie zeigen, was sie zeigen.51 Indem
sie den Rahmen des Bekenntnisses sichtbar machen, beglaubigen
sie das Bekenntnis gleichzeitig. Die Celebrity-Culture der Medienge
sellschaft ab den 1990er Jahren perfektionierte das Spiel mit Bildern
als Komplizen einer vorgegebenen Intimität. Flüchtige verwackelte
Aufnahmen, Schlüsselloch-Perspektiven, Aufnahmen aus privaten
Räumen, Aufnahmen von (nackten) Hochschwangeren, Neugebore
nen, von intimen Momenten wie Hochzeiten oder Trauerfeiern ver
breiteten sich als neue Konvention und bereiteten damit den Boden
für einen iconic turn der Intimisierung von öffentlichen Kommuni
kationsmustern. Die Verbindung von Celebrification und Intimisie
rung der Öffentlichkeit52 hat seit Beginn der 2010er Jahre auch Ein
fluss auf Protestbewegungen und die Verbreitung von politischen
Statements gehabt. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusam
47
Ebd., 14–15.
48
Barry King, Stardom, Celebrity and the Para-Confession, in: Social Semiotics 18/2, 2008,
115–132.
49
Rojek, Presumed Intimacy, 14–15.
50
Dean MacCannell, The Ethics of Seightseeing, Berkley, CA 2011, 22–28.
51
Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2011,
221.
52
Vgl. dazu Elke Wagner, Intimisierte Öffentlichkeiten. Pöbeleien, Shitstorms und Emotionen auf
Facebook, Bielefeld 2019.
478
Gefühlte Nähe
menhang die Selfie-Kultur, in der es im Kontext von Protest zu
einer Verschiebung von Zeugnis (testimony) zu Testimonial kommt.
IV. Bilder im Digitalen. Zwischen testimony und testimonial
Unter den Bedingungen digitaler Kommunikation treten vor allem
die kommunikativen, verknüpfenden und bezeugenden Funktionen
von Bildern in den Vordergrund. Dies gilt in besonderem Maß
für die Selbstfotografie, die man in den Netzwerken teilt. Als Stell
vertreter der fotografierten Personen erzählen Selfies von aktuel
len Erlebnissen, von Orten, an denen man sich gerade aufhält,
von Personen, mit denen man zusammen ist. Jedes Selfie artiku
liert und kommuniziert somit ein ganzes Netzwerk von epheme
ren Relationen, als deren Kristallisationspunkt sich die dargestellte
Person inszeniert. In den Sozialen Medien geteilt, stellt das Selfie
eine Statusmeldung, eine Standortangabe und eine soziale Veror
tung dar. Zugleich ist der Selbstfotografie ein Zeigegestus inhärent.
Der ikonische ausgestreckte Arm, mit dem man die Kamera auf
sich selbst richtet, funktioniert als ein Selbstverweis und -zeug
nis. Damit erklärt sich auch, inwiefern Selfies im Netz Resonanz
fordern: Sie rufen Andere zum Bezeugen des eigenen Zeugnisses
auf. Selfies übernehmen die Affordanzfunktion von kommunikati
ven Operatoren wie Gefällt-mir-Buttons, @-Zeichen, Hashtags oder
Retweets. Sie etablieren eine Blicklinie vom Auge der Fotografier
ten zum Auge der Betrachtenden, die eine „unmittelbarste und
reinste Wechselbeziehung“53 simuliert: Diese baut Vertrauen, Auf
richtigkeit und Nähe auf. Selfies erfüllen außerdem eine phatische
Kommunikationsfunktion, indem sie Emotionen wie Anteilnahme,
Freude, Trauer etc. figurieren (und dies konkret und individuell,
nicht etwa generisch in Form von Emojis) und indem sie zu einer
emotiven Spiegelung auffordern.54 Durch ihre Betonung des Situ
ativen und Unmittelbaren, durch ihren Aufforderungs- und Zeug
nischarakter sowie ihre Affektivität konvertieren Selfies Distanz
in Nähe. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Intimisierung
privater und darüber hinaus öffentlicher Kommunikation. Der Ein
satz von Selfies in der öffentlichen Kommunikation belegt die von
Habermas konstatierte Modifikation öffentlicher Kommunikations
modi. So lässt sich darüber hinaus auch eine Politisierung von Bildund Affektökonomien in den Sozialen Medien ab den 2010er Jahren
beobachten.55 Dies wurde vor allem im Zuge des „Arabischen Früh
lings“ augenscheinlich, als die Welt gebannt die unzähligen Handy
53
Georg Simmel, Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders., Soziologie, 722–764, hier
723f.
54
Siehe Wolfgang Ullrich, Selfies, Berlin 2019.
55
Vgl. Kerstin Schankweiler, Bildproteste, Berlin 2019.
479
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
aufnahmen aus den Protesten in Tunesien, Ägypten und anderen
Ländern der „arabischen Welt“ über die Bildschirme flackern sah.
Interessanterweise spielen auch hier Selfies eine nicht unwesentli
che Rolle. Ihre Nutzung in diesen Zusammenhängen ist insofern
bemerkenswert, als dieses Genre zuvor kaum mit politischer Kultur
und sozialen Bewegungen in Verbindung gebracht wurde. Ganz im
Gegenteil wurde das Selfie eher mit narzisstischer Selbstdarstellung
assoziiert. Doch plötzlich nutzen Aktivist*innen aus Demonstrati
onen heraus den deiktischen und selbstversichernden Gestus des
Selfies: „Ich bin dabei! Hier und jetzt!“ Selfies werden zu Dokumen
ten der Aktualität, der Präsenz und der Dringlichkeit politischer
Handlungsmacht. Die oben beschriebene soziale Verortung wird
gleichzeitig zu einem politischen Statement. Mit diesen Selfies wird
also ein populäres Genre digitaler Bildkommunikation politisiert, es
findet eine Verschränkung von Populärkultur und politischer Praxis
statt.
Im „Jahr der Proteste“ 2011 entstehen und verbreiten sich
gleichzeitig sogenannte Selfie-Proteste in den Sozialen Medien, die
einen Transfer von Demonstrationen in den digitalen Raum bedeu
ten. Anstelle einer Straßendemonstration postet man vereinzelt
aus dem heimischen Wohnzimmer eine Protest-Nachricht, die mit
einem entsprechenden Hashtag zu einer gemeinschaftlichen Aktion
wird. Die Nähe und Co-Präsenz von Körpern in Straßendemons
trationen wird hier ersetzt durch digitale Bilder der Körper, die
einen dezentralen und verstreuten Protest auf Distanz etablieren,
der dennoch die Praktiken der Kundgebungen auf der Straße beibe
hält oder zitiert (zum Beispiel das Zeigen eines Protestplakats oder
eines Slogans).56
Als Beispiel soll hier der Selfie-Protest #BringBackOurGirls
aus dem Jahr 2014 dienen. Die Aktion reagierte auf die Massenent
führung von 276 Schülerinnen der Government Secondary School
in Chibok (Bundesstaat Borno) im Nordosten Nigerias durch die
islamistische Terrororganisation Boko Haram. Der Slogan „Bring
back our girls“ wurde zuerst von den Familien der entführten
Mädchen in Nigeria verwendet, um die Unterstützung der Regie
rung einzufordern. Der nigerianische Anwalt Ibrahim Musa Abdul
lahi schließlich verwendete ihn in einem Hashtag auf Twitter.
Das politische Hashtag weitete sich schnell zu einer Kampagne
mit Selfie-Protesten aus und wurde auf mehreren Plattformen
gestreut. #BringBackOurGirls tauchte innerhalb von drei Wochen
in 3,3 Millionen Tweets auf.
Limor Shifman hat darauf hingewiesen, dass Graswurzelaktio
nen wie die Selfie-Proteste durch die „Verknüpfung des Persönli
chen mit dem Politischen“57 charakterisiert sind. Diese besondere
56
Vgl. dies., Selfie-Proteste. Affektzeugenschaften und Bildökonomien in den Social Media,
in: Isabelle Busch, Uwe Fleckner und Judith Waldmann (Hg.), Nähe auf Distanz. Eigendyna
mik und mobilisierende Kraft politischer Bilder im Internet, Berlin 2020, 175–190.
57
Vgl. Shifman, Meme, 116.
480
Gefühlte Nähe
Form politischen Protests folgt einerseits einem festen Schema
(Selfie mit Protestschild), erlaubt andererseits aber auch eigene
Modifikationen und Variationen, das Einbinden einer ‚persönlichen
Note‘ durch die Selbstinszenierung, die Wahl des Hintergrunds
und des Bildausschnitts etc. Diese Beteiligung an kollektivem Han
deln bei gleichzeitigem Ausdruck von Individualität hat Shifman als
„vernetzten Individualismus“ bezeichnet.58 Andreas Reckwitz hat
die Sozialen Medien ebenfalls als zentrale Arena einer „Singulari
sierung“ des Sozialen identifiziert, die auch das Politische erfasst.59
Das Posten eines privaten Selfies, etwa aus der eigenen Wohnung,
bedeutet aber nicht nur eine Individualisierung, sondern zugleich
eine Intimisierung von Protest, für den die Grenzen zwischen Pri
vatheit und Öffentlichkeit nicht mehr eindeutig zu ziehen sind.
Die Kampagne #BringBackOurGirls zeichnete sich nun außer
dem dadurch aus, dass viele (vor allem US-amerikanische) Pro
minente – Popstars, Moderator*innen, Schauspieler*innen – sich
dafür engagierten und ihrerseits Protest-Selfies posteten [Abb. 2].
Dies mag der Grund dafür sein, warum #BringBackOurGirls
besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Kampagne vollzog
sich auch jenseits der Sozialen Medien im öffentlichen Raum; der
Slogan tauchte auf roten Teppichen auf, bei den Billboard Music
Awards in Las Vegas am 18. Mai, auf dem Film-Festival in Cannes
am selben Tag und wurde in TV-Shows in die Kamera gehalten.60
Sogar die damalige First Lady Michelle Obama beteiligte sich mit
einem Selfie aus dem Weißen Haus, das auf Twitter gepostet wurde
und circa 57.000 Retweets erhielt [Abb. 3]. Strenggenommen han
delt es sich bei dieser Fotografie nicht um ein Selfie, denn sie hat
es offensichtlich nicht selbst aufgenommen. Trotzdem funktioniert
das Bild als solches und wurde auf Twitter von Obama als „eigene“
Botschaft markiert: Der Tweet endete mit ihrem Kürzel „mo“ und
sollte signalisieren, dass nicht ihr Team, sondern sie selbst ihn ver
fasst hatte, dass diese Nachricht ihr also persönlich wichtig war. Auf
dem Foto schaut Michelle Obama mit einem betroffenen Gesichts
ausdruck direkt in die Kamera und hält mit beiden Händen ein
weißes Blatt Papier, auf dem handschriftlich mit schwarzem Stift
„#Bring Back Our Girls“ notiert wurde. Ihre Mimik, sowie der
Eindruck einer ethischen Anrufung unmittelbar Folge leistenden
Körperhaltung soll die Atmosphäre der Betroffenheit und Fürsorge
erwecken.61 Sie befindet sich in einem repräsentativen Raum des
Weißen Hauses, der jedoch wohnlich eingerichtet ist. Hinter ihr
58
Ebd., 35.
59
Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Ber
lin 2019.
60
Einen Überblick bietet: Celebrities Join Worldwide Calls to #BringBackOurGirls,
Theirworld, 20.05.2014 (22.02.2022).
61
Vgl. Rojek, Presumed Intimacy, 45.
481
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
[Abb. 2]
Von links oben nach rechts unten: Irina Shayk, #BringBackOurGirls, 12.05.2014, Facebook;
Sean Combs alias P. Diddy, 15.05.2014, Repost über das Instagram Profil der Kampagne
bringbackourgirls, Salma Hayek bei den Filmfestspielen in Cannes, 17.05.2014, Foto: Vit
torio Zunino Celotto/Film Francais/WireImage © Getty Images; David Cameron und
Christiane Amanpour bei CNN; Christiane Amanpour und David Cameron in der Andrew
Marr Show, 11.05.2014, Foto: Jeff Overs © BBC Photo Archive (alle Links 22.02.2022).
482
Gefühlte Nähe
[Abb. 3]
Mit diesem Selfie beteiligte sich Michelle Obama an der Kampagne #BringBackOurGirls.
Michelle Obama, #BringBackOurGirls, 07.05.2014, www.wikimedia.org, gemeinfrei
(22.02.2022).
483
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
steht an der Wand ein geöffneter Sekretär mit Schreibtischlampe
und abgerücktem Stuhl, so als wäre sie soeben nach dem Schreiben
der Botschaft dort aufgestanden. In der Inszenierung des ProtestSelfies lassen sich eine Reihe von Intimisierungsstrategien festma
chen: Die Kamera ist nahe an dem fotografierten Körper und vor
allem an das Gesicht herangerückt, so dass uns die dargestellte
Person am Bildschirm quasi Auge in Auge gegenübersteht (wie es
freilich für das Genre der Selfies generell gilt). Die Situierung in
einem nicht öffentlichen Innenraum, der normalerweise nur weni
gen Menschen vorbehalten ist, suggeriert einen intimen Einblick in
die Privatsphäre. Schließlich vermittelt die Schreibszene, vor allem
in Verbindung mit der Handschrift, Authentizität sowie Unmittel
barkeit, ein Gefühl des Hier und Jetzt, denn die Handlung scheint
gerade erst stattgefunden zu haben. Beim Publikum kreiert diese
deiktische Geste den Eindruck „that something is being done“.62 In
der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie greift auch in der Kam
pagne #BringBackOurGirls die oben beschriebene Celebrification,
durch die die Verbindung von Popkultur und politischer Praxis
noch weiter auf die Spitze getrieben wird. Hier entsteht ein neues
Genre: das Protest-Testimonial.63 Der Funktion von Testimonials
in der Werbung entsprechend soll dieses für Protestaktionen Auf
merksamkeit generieren und ein positives Image übertragen.
Wie Celebrification und Intimisierung mittels Selfies in Protest
kommunikation Einzug gehalten haben, belegen zahlreiche Fotos
und Videos. Ein weiteres früheres Beispiel ist ein Selfie-Video der
bekannten liberianisch-amerikanischen Moderatorin und Fotogra
fin Shoana Cachelle, die sich im Oktober 2014 in der Kampagne
#IamALiberianNotAVirus positionierte [Abb. 4].64 Das Hashtag
war im Zuge des Protests gegen die Stigmatisierung von Westafri
kaner*innen während der Ebola-Epidemie, die auch die Diaspora
ergriff, eingesetzt worden. Das Video entstand in einem privaten
Wohnzimmer, im Hintergrund ist ein Sofa mit Kissen, eine Lampe
auf einem Tischchen und ein Bild an der Wand zu sehen. Davor
steht Cachelle und berichtet von der Diskriminierung ihrer Toch
ter in der Schule, wobei ein Close-up auf ihr Gesicht erfolgt.
Die Emotionalität des Betroffenheitsberichtes wird durch einge
blendete Schrift („Hurt and Upset“) sowie unterlegte Klaviermusik
noch gesteigert. Auch Cachelle hält, wie in Selfie-Protesten üblich,
ein Protestschild mit dem Slogan der Kampagne in die Kamera.
62
Ebd., 51.
63
Die Literaturgeschichte kennt mit dem in den 1960er bis in die 1990er in der lateinameri
kanischen Literatur beheimateten Testimonio ein ähnliches Genre: Eine Person von den
Rändern der Gesellschaft (Guerillera-Kämpfer*innen, Verarmte, Bauern und Bäuerinnen)
erzählt aus der Ich-Perspektive von Ungerechtigkeiten und macht damit auf politische
Missstände aufmerksam. Vgl. dazu Ulrich Mücke, Testimony/Testimonio, in: Martina
Wagner-Egelhaaf (Hg.), Handbook of Autobiography/Autofiction, Berlin 2019, 669–674.
64
Shoana Cachelle, I AM A LIBERIAN, NOT A VIRUS, 13.10.2014 (22.02.2022), 01:51; vgl.
auch Schankweiler, Bildproteste, 9–10.
484
Gefühlte Nähe
[Abb. 4]
Standbild des Videos I AM A LIBERIAN, NOT A VIRUS von Shoana Cachelle, hochgela
den am 13.08.2014 (22.02.2022), 01:51, 00:46.
485
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
Ihr Selfie-Video unterscheidet sich dadurch, dass sie, anders als
Obama, nicht nur ihre Solidarität zeigt und eine Forderung stellt,
sondern aus der Perspektive einer Betroffenen beziehungsweise der
Mutter einer Betroffenen spricht.
Dies gilt in gesteigertem Maße auch für das eingangs beschrie
bene Video von DJane Switch, die als direkte Augenzeugin der
Missachtung von Menschenrechten spricht. Switch war bei den
Ereignissen, über die sie berichtet, selbst anwesend, hat mit ande
ren Aktivist*innen protestiert und war realer Gefahr ausgesetzt.
Sie spricht aus einer Position der direkten Betroffenheit, so dass
ihr Video Testimony und Testimonial in besonderer Weise vereint.
Authentizität vermittelt sich hier gerade durch die Amateurästhetik
und vermeintliche Spontanität – im Vergleich zum Obama-Selfie
und dem Video von Cachelle wirkt es spontan und schlicht.
Inwiefern Protest-Testimonials glaubwürdig sind oder nicht
und wie sie zu bewerten sind kann nur im Einzelfall entschieden
werden. Doch gerade Aktionen wie #BringBackOurGirls werden
als fehlgeleitet kritisiert, wie ein Artikel der nigerianisch-amerika
nischen Journalistin Jumoke Balogun mit dem Titel „Dear World,
your Hashtags Won’t #BringBackOurGirls“65 exemplarisch deut
lich macht.
Die Depolitisierung, die Balogun anspricht, entspringt einem
der Testimonial-Strategie inhärentem Risiko. Ist das Testimonial
zum Beispiel nicht glaubhaft, kann sich für das beworbene Produkt
oder die beworbene Marke der sogenannte „Pinocchio-Effekt“ ein
stellen: Das heißt, der zu erwartende positive Werbeeffekt kehrt
sich um und die Unglaubwürdigkeit des Testimonials überträgt sich
auf das beworbene Produkt. Außerdem kann es zu einem umge
kehrten Übertragungseffekt, dem sogenannten „Vampir-Effekt“,
kommen, indem das gewählte Testimonial durch die Werbung eine
Bühne erhält, die dem Testimonial mehr Aufmerksamkeit als dem
beworbenen Produkt verschafft. Beide Risiken spielen auch eine
zentrale Rolle bei Selfie-Protesten wie #BringBackOurGirls: Durch
die ungerichtete Zirkulationskraft, die spreadibility66 der Selfies
bleibt unscharf, für wen oder was das Aufmerksamkeitskapital nun
eigentlich generiert wird. Profitieren die beteiligten Celebrities von
ihrer Partizipation und akkumulieren soziales Kapital oder stellen
sie ihr soziales Kapital einer Sache zur Verfügung? Folgt man Chris
Rojek, der davon ausgeht, dass die Verletzlichen einer Gesellschaft
abhängig sind von einer visuellen Darstellung, um bei Betrach
ter*innen eine entsprechende Identifikation zu erwirken, dann ver
folgen die Selfies eine fehlgeleitete Visualisierungsstrategie. Präsent
sind die von Boko Haram entführten Mädchen allein im Schrift
65
Jumoke Balogun, ‘Dear World, your Hashtags Won’t #BringBackOurGirls’. Jumoke Balo
gun for Compare Afrique, Part of the Guardian Africa Network, in: The Guardian,
09.05.2014 (22.02.2022).
66
Henry Jenkins, Sam Ford und Joshua Green, Spreadable Media. Creating Value and Meaning
in a Networked Culture, New York 2013.
486
Gefühlte Nähe
zug, ihre körperliche Anwesenheit wird in die Mimik und Gestik
der nur emotionalen Zeug*innen verlagert. Den Betrachter*innen
der Selfies bleibt nur eine sekundäre Ebene der Betroffenheit,
die Adressat*innen mit geteilten Werten voraussetzt. Die Respon
sibilisierung, die die Selfies mobilisieren sollen, droht in das kriti
sche Korrelat einer Interpassivierung umzukippen. Robert Pfaller
schlägt das Konzept der Interpassivität als eine Form der Kunstre
zeption vor, in der das Kunstwerk die Rezipierenden in die Lage
versetzt, ihr „Genießen“ von vornherein an das Kunstwerk zurück
zu delegieren, als eine Form der risikolosen Beteiligung, „als Abwe
senheit von Interaktivität“, als „negative Größe“ der Interaktivität.67
Die Selfies erlauben es den Protestierenden beziehungsweise Parti
zipierenden – mit den kritischen Worten Slavoj Žižeks – „authen
tisch“ zu leiden und trotzdem das wohltemperierte Leben entspannt
fortzusetzen.68
Jene gefühlte Nähe, die es herzustellen gilt, bleibt dann eben
nur ein Gefühl, die räumliche Distanz bleibt hingegen bewahrt.
Politische Agency wird zu einer Frage der ,Imagency‘, das heißt
einer imaginierten, an die Bilder adressierten Agency.
Tanja Prokić ist Vertretungsprofessorin für Neuere deutsche Lite
ratur und Medien an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün
chen. Ihr Schwerpunkt in Visual Culture Studies liegt auf Filmtheo
rie, Theorien des Blicks sowie auf visuellen Praxeologien der digita
len Kultur. Zuletzt erschien in diesem Forschungskomplex rund um
digitale Plattformkultur der Band Invective Gaze. Das digitale Bild
und die Kultur der Beschämung (mit Elisabeth Heyne, Bielefeld 2022).
In ihrer Habilitationsschrift Die Literarische Moderne und das Neue
Sehen (Leiden 2023) widmet sie sich den Austausch- und Über
setzungsprozessen von Visualität (in Film, Fotografie, Diagramm,
Werbung, Theater) und Literarizität. In ihrem aktuellen Projekt ent
wickelt sie eine neue Rezeptionstheorie für die konvergenten Medi
enkulturen des 21. Jahrhunderts.
Kerstin Schankweiler ist Professorin für Bildwissenschaft im glo
balen Kontext an der Technischen Universität Dresden. Sie ist
Autorin des Buches Bildproteste (Berlin 2019), das in der Reihe Digi
tale Bildkulturen im Wagenbach Verlag erschienen ist und 2021 in
die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufge
nommen wurde. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes Image Testi
monies. Witnessing in Times of Social Media (London 2019) und des
Special Issues der Zeitschrift Parallax zum Thema „Affective Wit
67
Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008, 103; vgl. auch ders. (Hg.), Inter
passivität. Studien über delegiertes Genießen, Wien 2000; ders., Das Kunstwerk, das sich
selbst betrachtet, der Genuß und die Abwesenheit, in: ders., Interpassivität, 49–84.
68
Slavoj Žižek, Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität, in: Pfaller, Inter
passivität, 13–32.
487
Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler
nessing“ (2020). Gemeinsam mit Verena Straub leitet sie seit Januar
2022 an der TU Dresden das DFG-Forschungsprojekt „Bildproteste
in den Sozialen Medien“.
488