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GEFÜHLTE NÄHE ZUR MEDIENGESCHICHTE VON TESTIMONIAL IMAGES Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler 21: INQUIRIES INTO ART, HISTORY, AND THE VISUAL #3-2023, S. 465–488 https://doi.org/10.11588/xxi.2023.3.99103 465 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler ABSTRACT: FELT PROXIMITY. ON THE MEDIA HISTORY OF TESTIMONIAL IMAGES How has digital communication changed expectations and percep­ tions of proximity and distance? This article traces the media his­ tory of a communication mode that relies on intimacy and testify­ ing. By discussing the intrinsic relationship between platform-based information and communication technologies and the attention economy, the development of a communication mode of so-called “presumed intimacy” is elaborated. Drawing on concepts from celebrity studies and advertising, the transformation of spatio-tem­ poral and social distance into felt proximity can be described in more detail. In doing so, the article also stresses the role of images in the fabrication of intimacy and takes selfies and selfie videos of celebrities in the context of protest movements as an example. The connection of protest culture, celebrification and testimonial images demonstrates in a particular way how attention economies in digital communication are structured. KEYWORDS Selfie; Intimität; Nähe; Digitale Kommunikation; Soziale Medien; Zeug*innenschaft; Testimonial; Protestbewegungen; Prominente. 466 Gefühlte Nähe I. Selfie-Videos von Prominenten in Protestbewegungen In der Nacht des 20. Oktober 2020 ereignete sich in Lagos State, Nigeria, die brutale Niederschlagung eines Protests an der Maut­ stelle Lekki Toll Gate. Bereits seit drei Jahren demonstrierten Nigerianer*innen unter dem Hashtag #EndSARS gegen Polizei­ gewalt, als es zum sogenannten „Lekki Massaker“ kam, bei dem Soldaten das Feuer auf die Protestierenden eröffneten und zahlrei­ che Menschen starben. Am 23. Oktober postete die DJane Switch, die an jenem Tag ebenfalls demonstriert hatte und zur Augen­ zeugin wurde, ein Selfie-Video auf ihrem Instagram- und Twit­ ter-Account.1 Das Video zeigt Oberkörper und Gesicht in Nahauf­ nahme und leichter Untersicht, DJane Switch sitzt an einem Tisch und spricht vermutlich in eine Webcam [Abb. 1]. Nur wenig ist von dem Zimmer zu sehen, in dem sie sich befindet. Der Fokus ist auf ihrem Gesicht; in den Blick fällt ein kleines Pflaster, das von einer Verletzung zeugt. Sichtlich aufgelöst und um Worte ringend berich­ tet sie von den Erlebnissen, unter deren Eindruck sie noch steht. Sie berichtet von der Anwesenheit des Militärs und der Polizei, die auf friedlich demonstrierende Bürger*innen geschossen hätten, und präsentiert eine Sammlung von leeren Patronenhülsen als Beweis­ stücke. Zwischendurch schließt sie die Augen, als würde sie die Erinnerung heraufbeschwören, ihre Worte stocken, sie presst die Lippen aufeinander und ist den Tränen nah. Ohne Bilder des „Lekki Massakers“ in ihrem Videobericht zu zeigen,2 gelingt es der Sprecherin, eine Nähe zum Geschehen über räumliche und kulturelle Distanzen hinweg zu erzeugen. Dabei dient die sichtbare Affektion als Schnittstelle zwischen Zuschauen­ den und dem Vorgefallenen. DJane Switch kreiert ein sekundäres, mediales Ereignis, indem sie uns lediglich an der reaktiven Affek­ tion teilhaben lässt. Bei der Augenzeugin handelt es sich um eine über die Landesgrenzen hinaus bekannte nigerianische Musikerin, die mit bürgerlichem Namen Obianuju Catherine Udeh heißt und auf Instagram 935.000 Follower hat.3 Bereits seit einigen Jahren kann man in den Sozialen Medien beobachten, dass Prominente sich in Protestbewegungen engagie­ ren und visuelle Botschaften posten. Mit Selfies und nun immer öfter mit Selfie-Videos legen sie Zeugnis von ihren Einstellungen und Erfahrungen ab und positionieren sich in öffentlichen Debat­ ten, manchmal unter großem persönlichen Risiko. Sie nutzen dabei ohne Frage ihre Bekanntheit und ihr Image, um Aufmerksamkeit 1 http://twitter.com/dj_switchahoIic (22.02.2022). Wir danken Tanja-Bianca Schmidt, die uns auf dieses Fallbeispiel aufmerksam gemacht hat. 2 DJane Switch hatte auch während der Demonstrationen gefilmt und gestreamt. Suyin Hay­ nes, She Livestreamed the Shooting of Peaceful Protesters in Lagos. Now in Exile, DJ Switch Is Still Fighting for the Future of Nigeria, in: Time, 17.12.2020 (22.02.2022). 3 Stand Februar 2022 des Instagram-Accounts djswitch_ (22.02.2022). 467 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler [Abb. 1] Standbilder aus dem Selfie-Video von DJ Switch, über den Twitter-Account @dj_switchaho Iic gepostet am 23.10.2020 mit den Hashtags #LekkiMassacre #LekkiGenocide #EndSARS (22.02.2022). 468 Gefühlte Nähe auf Probleme und Missstände zu lenken. Doch durch welche Kom­ munikationsmodi gelingt es hier, ein authentisches Bildzeugnis, ein testimonial image, zu generieren? Wie wird trotz technischer Dis­ tanz und der Unerreichbarkeit von berühmten Personen für die Allgemeinheit eine gefühlte Nähe hergestellt? Und wie vermischen sich unter dem Druck der Aufmerksamkeitsökonomien digitaler Kommunikation Protestkultur, Celebrity-Kult und das Genre des Selfies? Im Folgenden sollen die historischen Entwicklungslinien aufgezeigt werden, die diese Form der Kommunikation hervorge­ bracht haben. II. Das Internet und die Entstehung einer neuen sozialen Sphäre Bereits Anfang der 1990er Jahre setzen die ersten Reflexionen über den ambivalenten Einfluss internetbasierter Informations- und Kommunikationstechnologien auf soziale Zusammenhänge, Wissen und Kultur ein. Als eines der ersten Dokumente, das sich mit dem Nutzen des Internets für die breite Öffentlichkeit auseinandersetzt, gilt Howard Rheingolds The Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier von 1993.4 Neben drei Arten kollektiven Nutzens – sozialer Nutzen, Wissenskapital und Gemeinschaftsgefühl – hebt er auch die Tendenz zu panoptischer Machtkonzentration hervor, indem „Leute mit wirtschaftlicher und politischer Macht einen Weg finden, den Zugang zu den virtuellen Gemeinschaften zu kontrollie­ ren“.5 Bereits Mitte der 1990er Jahre konzentriert sich Michael H. Goldhaber auf diese dystopische Entwicklungstendenz des Inter­ nets. Den Paradigmenwechsel, den das Internet einführt, setzt er mit einem Wechsel der ökonomischen Form gleich.6 Goldhaber hält es für einen Fehler, „Entwicklungen wie das Internet und das World Wide Web in den Begriffen der herkömmlichen Ökonomie“7 zu denken. Er schlägt stattdessen den Begriff der „Aufmerksamkeits­ ökonomie“ vor. Diese funktioniere „ohne jede Form des Geldes und ohne Markt oder von etwas, das diesem gleicht“.8 Darüber hinaus 4 Howard Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft, in: Tilman Baumgärtel (Hg.), Texte zur Theorie des Internets, Ditzingen 2017, 104–118, hier 109; 117. 5 Ebd., 116, 110. 6 Michael H. Goldhaber, M. H. Goldhaber’s Principles of the New Economy, 23.08.1996 (22.02.2022); ders., Some Attention Apothegms, 15.08.1996 (22.02.2022); ders., The Attention Economy and the Net, in: First Monday 2/4, 1997 (22.02.2022). 7 Michael H. Goldhaber, Die Aufmerksamkeitsökonomie und das Netz. Über das knappe Gut der Informationsgesellschaft, in: Baumgärtel, Texte zur Theorie des Internets, 181–193, hier 182. 8 Ebd., 183. 469 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler setze sie „eine völlig andere Lebensweise als die auf Routinen begründete industrielle Existenz mit ihren Dichotomien zwischen Arbeitsstätte und Heim, Arbeit und Spiel und Produktion und Kon­ sum voraus“.9 Dass Goldhaber bereits eine ganze Produktionsweise mit ihren Effekten auf die Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Pri­ vatem im Blick hat, deckt sich mit zeitgleichen Reflexionen, die sich auf die Transformation von Arbeit durch den seit den 1970er Jahren anwachsenden Dienstleistungssektor beziehen.10 In den deutschen Diskurs hatte Georg Franck bereits 1989 den Begriff der Aufmerksamkeit als „Energie“ eingeführt.11 In drei sei­ nem Buch Die Ökonomie der Aufmerksamkeit (1998) vorausgehenden Aufsätzen, veröffentlicht im Merkur, profiliert er den Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie und will damit eine allgemeine Trans­ formation beschreiben, in der „Aufmerksamkeit“ als knapper Res­ source eine wachsende Bedeutung zukommt, die auch eine Wäh­ rungsfunktion übernehmen kann.12 Obwohl er diese Entwicklung nicht ausschließlich auf das Internet bezieht, misst er der mit neuen Kommunikationstechnologien einhergehenden „Entgrenzung der Informationsflut“13 eine zentrale Rolle bei. Mit der Markteinführung des Smartphones ab 2007 und dem Ausbau des mobilen Internets hat sich der von Goldhaber und Franck beschriebene Kampf um Aufmerksamkeit zunehmend glo­ balisiert und weitet sich seitdem auf sämtliche kommunikative Gefüge der Gesellschaft aus.14 Wie bei allen großen Medienrevo­ lutionen zuvor gerät auch durch den Siegeszug des Internets das Verhältnis von Sinn und Sinnen unter Evolutionsdruck, allerdings etablieren sich einige Paradoxien, die den Charakter der öffentli­ chen Kommunikation nachhaltig verändern und Erwartungen und Wahrnehmungen von Nähe- und Distanzverhältnissen invertieren. Jüngst hat das auch Jürgen Habermas festgestellt, der im Kontext einer Sonderausgabe des Leviathan zu einer Revision seiner Thesen 9 Ebd. 10 Vgl. dazu etwa Maurizio Lazzarato, Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus, in: Antonio Negri, Thomas Atzert, Paolo Virno und Maurizio Lazzarato (Hg.), Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subver­ sion, Berlin 1998, 39–53; oder Michael Hardt, Affektive Arbeit, in: Thomas Atzert und Jost Müller (Hg.), Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire, Münster 2004, 175–189. 11 Georg Franck, Die neue Währung: Aufmerksamkeit. Zum Einfluß der Hochtechnik auf Zeit und Geld, in: Merkur 486, 1989, 688–701, hier 699. 12 Franck, Die neue Währung; ders., Ein Kampf um Aufmerksamkeit, in: Merkur 574, 1997, 72–79; ders., Ökonomie der Aufmerksamkeit, in: Merkur 534–535, 1993, 748–761. 13 Ders., Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998, 66. 14 Michael Seemann, Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021, 88. 470 Gefühlte Nähe von 1962 zum Strukturwandel der Medienöffentlichkeit aufgefor­ dert wurde. Ohne zwar eine faktische „Trennung der Öffentlichkeit von den privaten Lebenssphären“ anzunehmen, stellt er in Rech­ nung, dass die Sozialen Medien (= Web 2.0) „in Teilen der Bevöl­ kerung die Wahrnehmung der Öffentlichkeit in der Weise verän­ dert haben, dass die Trennschärfe zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ und damit der inklusive Sinn von Öffentlichkeit verblasst“.15 Haber­ mas hebt für den sich etablierenden Kommunikationsmodus hervor, dass sich Nutzer*innen von Zensur befreit „an ein anonymes Publi­ kum wenden und um dessen Zustimmung werben“16 können. Habermas beschreibt in seinen Termini die Beziehung zwi­ schen Influencer*innen und Follower*innen beziehungsweise Com­ munity: Indem der hier gepflegte Kommunikationsmodus sich von redaktionellen Pflichten entlastet, gleichzeitig aber den Kommu­ nikationsrahmen einer privaten Sphäre verlassen kann, entsteht eine neue, bisher unbekannte Sphäre, die er als eine „anonyme Intimität“17 beschreibt. „Anonyme Intimität“ ist stärker noch als die öffentliche Sphäre der Mediengesellschaft alten Typs wesent­ lich dadurch gekennzeichnet, dass sich unter den Bedingungen des Web 2.0 der Kampf um Aufmerksamkeitsressourcen verschärft. Nicht nur haben wir es mit einem exponentiellen Zuwachs an Infor­ mationen zu tun, sondern auch mit einem exponentiellen Zuwachs möglicher Verbindungen. Informations-„Overload“ und Hyperkon­ nektivismus treffen zudem auf automatisierte Mechanismen der Hierarchisierung und Personalisierung, was wiederum eine Frag­ mentierung zur Folge hat: „Durch Fragmentierung und Persona­ lisierung unserer medialen Realität wird es immer schwieriger, einen gemeinsamen Referenzraum aufrechtzuerhalten.“18 Der Sinn spaltet sich in unterschiedliche Sinnzusammenhänge auf. Clemens Apprich spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zusammen­ bruch symbolischer Effizienz“19, da die gemeinsame soziale ,Wirk­ lichkeit‘ auf immer kleinere gemeinsame Nenner schrumpft. „Die Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenz­ punkte und -systeme“, so Felix Stalder in Kultur der Digitalität, „steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat, die 15 Jürgen Habermas, Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit, in: Martin Seeliger und Sebastian Sevignani (Hg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? (Sonderband Leviathan 37), Baden-Baden 2021, 470–500, hier 496. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Clemens Apprich, Paranoia, in: Timon Beyes, Jörg Metelmann und Claus Pias (Hg.), Nach der Revolution. Ein Brevier digitaler Kulturen, Duisburg 2017, 77–88, hier 84. 19 Ebd. 471 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler nicht darauf ausgerichtet sind, mit dieser Flut an Bedeutungsan­ sprüchen umzugehen.“20 Eine zentrale Rolle spielen hier die kommerziellen Plattfor­ men, die mit dem Web 2.0 ihren technoökonomischen Siegeszug beginnen und zunehmend die New Economy – und damit auch die herkömmlichen Massenmedien – unter Druck setzen. Denn kommerziellen Plattformen ist eine Tendenz zur Monopolisierung intrinsisch, wollen sie ökonomisch erfolgreich sein. Das Erfolgsmo­ dell sämtlicher kommerzieller, digitaler Plattformen operiert mit einem „Netzwerkeffekt“21: Ein solcher stellt sich ein, wenn die Nut­ zung der Plattform durch eine kritische Masse an Nutzer*innen erreicht ist, die Plattform also durch den Gebrauch Vieler einen sogenannten Einflusseffekt erzeugt und sich dadurch als unumgeh­ barer Standard universalisiert.22 Der individuelle Nutzungswert der User*innen erhöht nun seinerseits den Traffic auf den Plattformen, was den Nutzungswert der Plattform als Werbeplattform steigert und schließlich den Marktwert der Plattformen in die Höhe treibt. Kommerzielle, digitale Plattformen haben demnach ein ökono­ misches Interesse an der persistenten Aufforderung zur Generie­ rung und zum Teilen von Content. Der Kampf um Aufmerksamkeit weitet sich so von einer Aufmerksamkeit, die sich noch vorrangig auf die Rezeptionszeit der User*innen bezog, immer mehr auf deren aktive Partizipation aus. Axel Bruns prägte den Begriff der Produ­ sage23, um den sich verbreitenden Trend hin zu user*innengenerier­ tem Content zu beschreiben. User*innengenerierter Content muss sich in der Medienumwelt kommerzieller Plattformen, insofern keine einheitlichen, übergreifenden und vor allem konsequenten Regeln der Content-Erstellung vorherrschen (wie etwa auf Wikipe­ dia) und damit keine transparente Content-Moderation stattfindet, automatisch den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie anpas­ sen, um entsprechend erfolgreich zu sein.24 20 Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016, 11. 21 Vgl. Seemann, Die Macht der Plattformen, 93–95. 22 David Singh Grewal, Network Power. The Social Dynamics of Globalization, New Haven, CT/London 2009, 150–154. 23 Der Begriff schließt an den Begriff Prosument (Zusammensetzung aus Konsument und Produzent) an und soll ausdrücken, dass User*innen im Web 2.0 immer auch als Produ­ zent:innen adressiert werden. Vgl. Axel Bruns, Produsage. Towards a Broader Framework for User-Led Content Creation, in: Ben Shneiderman (Hg.), Proceedings of 6th ACM SIG­ CHI Conference on Creativity and Cognition 2007, New York 2007, 99–105; ders., Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond. From Production to Produsage, New York 2008. 24 Selbstverständlich gibt es je nach Land und sozialem Code unterschiedliche Regulierungen. Im US-Kontext unterliegt beispielsweise sexueller Content zum Teil strengeren Regulie­ rungen als verletzende Sprache und Androhung von Gewalt. Die Zensur und Regulierung auf und durch die kommerziellen Plattformen selbst ist ein komplexes Feld. Vgl. zur Ein­ führung in den Problembereich und für weiterführende Literatur Tanja Prokić und Elisa­ beth Heyne (Hg.), Invective Gaze. Das digitale Bild und die Kultur der Beschämung, Bielefeld 2022. 472 Gefühlte Nähe Mit dieser Entwicklung kommt es auch zu einer Nachah­ mung professioneller Mittel der Aufmerksamkeitsdirektion. Um Aufmerksamkeit zu erregen und (langfristig beziehungsweise wie­ derholt) zu binden, liefert die Wahrnehmungspsychologie (insbe­ sondere die Werbepsychologie) zahlreiche unterschiedlich überzeu­ gende Modelle. Über die Tatsache, dass diese Strategien die Sinne involvieren und adressieren, um Interessen hervorzurufen, Bedürf­ nisse zu kreieren und entsprechend (Kauf-)Handlungen auszulösen, scheint in allen Modellen Konsens zu bestehen. Weiterhin bleibt das Problem des Priorisierens- und Selegierens auf der Seite der Rezeption bestehen. Wie lässt sich entscheiden, welche Informatio­ nen zuverlässig, vertrauensvoll und wahr sind? Kommunikative Instanzen, die zwischen Inhalten und Adres­ sat*innen vermitteln, etablierten sich in der Werbung unter dem Begriff des Testimonials. Darunter sind Personen zu verstehen, die bei der Zielgruppe Vertrauen herstellen sollen, um eine Werbebot­ schaft emotional zu bestärken.25 Dabei steht die abstrakte Erzeu­ gung eines Gefühls gegenüber konkreten Merkmalen oder Leistun­ gen im Vordergrund. Im Begriff ist der Zeuge (lateinisch testis) etymologisch erhalten geblieben. Die Person fungiert als Zeuge, ihr Statement legt Zeugnis ab und soll überzeugen. Das Testimonial kann unterschiedliche Funktionen erfüllen, etwa die Zuwendung zur Kommunikation (Aufmerksamkeit), Imagetransfer von Testi­ monial-Personen zur Marke oder Intensivierung der Positionierung durch Beweiskraft.26 Insbesondere Prominente, die als Testimonial fungieren (= Celebrimonial27), erhöhen die Beweiskraft und können Image- und Persönlichkeitstransfereffekte auf die Marke erwirken. Limor Shifman etwa gibt in ihrem Versuch zu erklären, was Inhalte im Internet „viral“ werden lässt, als wesentlichen Faktor „Prestige“ an: „Wenn Sie eine Geschichte schreiben wollen, die zu einem viralen Erfolg werden soll, dürfte es von Vorteil sein, wenn Ihr Name Bill Gates oder Brad Pitt ist.“28 Wenn Prominente zu einer Quelle des verbreiteten Contents werden, kann ihre Bekanntheit die ansonsten mangelnden Kenntnisse über die Herkunft des Con­ tents quasi kompensieren. Bereits Georg Franck illustriert seine Thesen zur Aufmerksamkeitsökonomie mit der Erzeugung von Attraktivität in der Werbung und dem Phänomen der Prominenz als Selbstzweck. Mit Blick auf den Erfolg digitaler Netzwerke und der Konjunktur an YouTube-Stars und Influencer*innen hat sich 25 Carsten Baumgarth, Markenpolitik, Wiesbaden 2008, hier 204. 26 Vgl. Henning Haase, Testimonial-Werbung, in: ders. und Karl-Fritz Koeppler (Hg.), Fort­ schritte der Marktpsychologie, Bd. 4, Bonn 1986, 125–141; Carsten Baumgarth, Markenpolitik. Markenwirkungen – Markenführung – Markencontrolling, Wiesbaden 2014; Karsten Kilian, Was sind Testimonials?, in: Absatzwirtschaft 9, 2009, 86. 27 Hamish Pringle, Celebrity Sells, Chichester/Hoboken, NJ 2004. 28 Limor Shifman, Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter, Berlin 2014, 67. 473 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler sein Argument als äußerst hellsichtig erwiesen. Was er beschreibt, ist eine Verschiebung von Macht hin zu Ruhm und von Reichtum hin zu Prominenz.29 Ein Wandel, der etwa von Chris Rojek unter dem Stichwort „Celebrification“30 beschrieben wurde. In der Erfor­ schung von Celebrity Cultures rehabilitierte Rojek das Konzept der „parasozialen Beziehung“, wie es Donald Horton und Richard Wohl bereits 1957 für ihre Beobachtungen zur Massenkommunikation am Beispiel des Broadcast Television eingeführt haben.31 Rojek prägte hierfür den Begriff der „presumed intimacy“32, auf den wir uns im Folgenden beziehen. Eine Kommunikation der gefühlten Nähe ist die Lösung für das durch die Medienrevolution entstandene Pro­ blem der Aufmerksamkeitsdiffusion und dem daraus resultierenden Problem der individuellen Selektion und Priorisierung. Der von Habermas beschriebene Wandel der öffentlichen Kommunikations­ muster hin zu einer „eigentümlich anonyme[n] Intimität“33 kann als eine Folge des allseitigen Einsatzes der Medienstrategien einer „presumed intimacy“ verstanden werden. III. Die Umwertung von Distanz in presumed intimacy Im Zeitalter der Digitalisierung treten die Kommunikationsplattfor­ men als Vermittlungsinstanz eines selbst produzierten Problems auf: Einerseits antworten die Sozialen Medien auf die Bedarfslage für das unentwegte (Wieder-)Herstellen von bereits etablierten und neuen Verbindungen, andererseits produzieren sie allererst einen strukturell überfordernden Hyperkonnektivismus. Die Sozia­ len Medien sind, folgt man Niklas Luhmanns systemtheoretischem Setting zur Beschreibung funktionaler Gesellschaften, eine Prob­ lemlösung, das heißt Problem und Lösung zugleich. Sie versprechen eine Lösung für ein selbst gemachtes Problem; das sich allerdings graduell und schleichend naturalisiert. Ein zentraler Effekt des durch Soziale Medien modifizierten Kommunikationsverhaltens ist die scheinbare, gefühlte Nähe, die sich in den Kommunikations­ prozessen trotz unterschiedlicher Distanzen – etwa raum-zeitliche, kulturelle oder soziale – herzustellen vermag. Selbstverständlich gilt diese Verschiebung des Verhältnisses von Nähe und Ferne nicht ausschließlich für die Sozialen Medien. 29 Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, 10. 30 Chris Rojek, Celebrity, London 2001, 181. 31 Donald Horton und Richard R. Wohl, Mass Communication and Parasocial Interaction. Observation on Intimacy at a Distance, in: Psychiatry 19/3, 1956, 215–229. 32 Chris Rojek, Presumed Intimacy. Parasocial Interaction in Media, Society and Celebrity Cul­ ture, Cambridge 2016. 33 Habermas, Überlegungen und Hypothesen, 496. 474 Gefühlte Nähe Theoretische und ästhetische Reflexionen über veränderte NäheFerne-Verhältnisse beziehen sich in der Geschichte immer wieder auf den Zusammenhang von räumlichen Distanzen und der medi­ alen Überwindung derselben. Bei Georg Simmel etwa stößt das Leben in der Großstadt und die kognitive Herausforderung, die die Bewerkstelligung des Lebens in derselben bedeutet, beispiels­ weise eine Modifikation von Nähe- und Distanzverhältnissen zu den räumlich Nächsten an. Die Großstadt dient dem Soziologen immer wieder als Vergleichsmatrix für seine Frage nach den For­ men der Vergesellschaftung. Besondere Aufmerksamkeit erhält in diesem Kontext die Funktion des Fremden für Vergesellschaftungs­ prozesse. In seinem berühmten Exkurs über den Fremden (1908) macht Simmel einige Beobachtungen, die noch heute von Wert sind, um Entwicklungen in der Online-Kommunikation zu beschreiben. Das Fremdsein stellt für Simmel „eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform“34 dar. „Der Fremde“35 stehe der Gruppe „mit der besonderen Attitüde des ,Objektiven‘ gegen­ über“, weil er „nicht von der Wurzel her für die singulären Bestand­ teile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist“.36 Mit der Objektivität „des Fremden“ ist nicht „Abstand und Unbe­ teiligtheit“ verbunden, „sondern ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit“.37 Weil er nicht Teil der Gruppe ist, werden ihm, so Simmel, „oft die überraschendsten Offenheiten und Konfessionen, bis zu dem Charakter der Beichte, entgegengebracht [...], die man jedem Nahestehenden sorgfältig vorenthält“.38 Der Fremde verkörpert das der-Ferne-nahsein. Ein Verhält­ nis, das sich medial als ausbeutbar erweist. In seinem eher unbe­ kannten Text The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Radio Broadcasts (1943), der im Kontext seiner Mitarbeit im Prince­ ton Radio Research Project des Soziologen Paul Lazarsfeld an der Princeton und später an der Columbia University entstand, widmet sich Theodor W. Adorno dem persuasiven Stil eines evangelikalen Demagogen, der in den 1930er Jahren im Radio aktiv war. Adorno beschreibt die rhetorischen Mittel, mit denen Thomas eine private 34 Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, 764–770, hier 765. 35 Simmel wählt nicht unüblich und folgenlos für sein Konzept vom Fremden als eine typi­ sierende Sozialfigur das generische Maskulinum. Auf den idealisierenden und ausschlie­ ßenden Rückkopplungseffekt dieser grammatikalischen Entscheidung soll hier mit dem Hinweis einer durchaus kritischen Perspektivierung des „Othering“ in der Postkolonialen Theorie verwiesen sein, vgl. dazu Stuart Hall, The Spectacle of the ‚Other‘, in: ders. (Hg.), Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, 225–279. 36 Simmel, Exkurs über den Fremden, 766. 37 Ebd., 766–767. 38 Ebd., 767. 475 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler Sphäre des Vertrauens kreiert und dadurch den realen Abstand („the gap between person and person“) zwischen den Hörer*innen und dem Sprecher überbrückt.39 Jenes veränderte Mediendispositiv schafft also eine Reihe von Anschluss- und Verwertungsmöglich­ keiten hinsichtlich der Affekte, die es zu mobilisieren vermag. Der 1956 veröffentlichte Aufsatz Mass Communication and Para-Social Interaction. Observations on Intimacy at a Distance von Donald Horton und Richard Wohl beschäftigt sich ähnlich wie Adornos Text mit dem Charakteristikum neuer Massenmedien wie Radio, Fernsehen und Kino, die Illusion einer Face-to-Face-Ver­ bindung mit den Performer*innen zu kreieren. Am Beispiel der stark frequentierten Daily Shows im US-amerikanischen Fernse­ hen beobachteten die Autoren nicht nur eine Aufforderung der Schauspieler*innen oder Moderator*innen zur affektiven Interak­ tion mit ihrem Publikum. Kommunikationssignale, die eine gesel­ lige, freundschaftliche Nähe oder Intimität suggerierten und damit in den privaten Raum des Wohnzimmers hinein eine so genannte para-soziale Bindung erzeugen. Ihr Fokus liegt nun nicht mehr auf den rhetorischen Mitteln, sondern sie haben explizit auch die tech­ nischen Verfahren im Auge, die eingesetzt werden, um „Illusionen von Intimität“40 zu erzeugen. All diese Mittel werden genutzt, um die Shows als persönlich­ keitsgeleitete zu etablieren: „These are sociability, easy affability, friendship, and close contact – briefly, all the values associated with free access to and easy participation in pleasant social inter­ action in primary groups.“41 Während nach Horton und Wohl vor allem die Medienpersona und ihre affektive Arbeit als Dreh- und Angelpunkt der Show gilt,42 kann das nicht mehr für die Sozia­ len Medien gelten. Denn vermeintliche, selektive Partizipation der Zuhörer*innen oder Zuschauer*innen entwickelt sich zu einer fakti­ schen Partizipation. In den Sozialen Medien kann jede*r bearbeiten, produzieren und teilen: hier werden Nutzer*innen eben zu Produ­ zent*innen (= ProdUser).43 Die Distanz wird damit zu einer zentralen Kategorie, die Kommunikationsprozesse prägt: Eben nicht nur auf 39 „Not only does it refer to the most immediate interests of his listeners, but also it encom­ passes the sphere of privacy of the speaker himself who seems to take his listeners into his confidence and to bridge the gap between person and person.“ Theodor W. Adorno, The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Radio Addresses, in: ders. (Hg.), Soziologische Schriften I.1, Frankfurt a. M. 1975, 7–141, hier 7 (Übersetzung von Milli Wein­ brenner: Theodeor W. Adorno, Die psychologische Technik in Martin Luther Thomas’ Rundfunkreden [1943], in: ders., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 8 2013, 360–483, hier 360). 40 Horton und Wohl, Mass Communication and Parasocial Interaction, 218. 41 Ebd., 218. 42 Ebd. 43 Bruns, Produsage, 99–105. 476 Gefühlte Nähe Radio- oder Fernseh-Performer*innen und (ihre) Techniken zur Überbrückung beschränkt, dehnt sie sich gewissermaßen auf sämt­ liche Kommunikationsverhältnisse aus. Soziale Medien verwandeln auch die nächsten Beziehungen in solche der Ferne und machen so sichtbar, was jeder Kommunikation notwendig zu Grunde liegt, aber im Kommunikationsprozess latent bleibt: Doppelte Kontingenz. Für den Kommunikationsmodus gilt daher, dass faktische raumzeitliche, kulturelle oder soziale Distanz von einer „vermeintlichen“ Distanz nicht mehr zu unterscheiden ist, daher gilt es, sie generell durch gefühlte Nähe zu überbrücken. Es etablieren sich eine Vielzahl von Methoden, Formen und Genres zur Herstellung gefühlter Nähe. So spielen unter den modi­ fizierten Bedingungen digitaler Kommunikation emotive Kommuni­ kationsoperatoren eine zentrale Rolle, um genau diese Umwertung von vermeintlicher und faktischer Distanz in gefühlte Nähe zu bewerkstelligen. Gala Rebane arbeitet das am Beispiel der EmojiIndustrie entsprechend anschaulich heraus. Gerade für die „ange­ strebte und ersehnte emotionale Unmittelbarkeit“44 wirken Emojis beziehungsweise Bilder der Abstraktion von Schrift entgegen. Mit dem Entstehen solcher emotiver Kommunikationsoperato­ ren wächst jedoch auch das Bedürfnis, sich durch eine immer prä­ zisere Artikulation persönlicher Gefühle nahbar zu machen und sich zu individualisieren. Der Konkurrenzdruck der Individuen schwappt auf die Ebene der Genres, Modi, Formen und Symbole über. Dasselbe Mediendispositiv, das reale Distanz in gefühlte Nähe und reale Nähe in mediale Distanz transformiert, verwandelt Emp­ fänger*innen in Publika. Und weil jede*r produzieren kann, stehen letztlich alle in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit eines fluiden Publikums. Die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Kommunika­ tionsmuster verschieben sich unter diesem neuen medialen Para­ digma, das „alle potentiellen Nutzer prinzipiell zu selbständigen und gleichberechtigten Autoren“45 macht. Chris Rojeks Konzept der presumed intimacy nun reagiert aus­ gehend von seinen Studien zur Celebrity Culture der 1990er Jahre auf den Umstand, dass es Medienpersonen trotz anonymer und fluider Publika gelingt, den Eindruck einer intimen Bildschirm­ freundschaft zu evozieren und die Publika entsprechend zu bin­ den.46 Die Herstellung einer solchen intimen Sphäre zwischen Medienpersona und Publikum, so betont auch Rojek, hat zwei zent­ rale Dimensionen: Einerseits die rhetorische Dimension, in der spezielle kommunikative Modi eingesetzt werden wie „wisecracks, catch-phrases, deadpan jokes, off-the-cuff remarks, self-depreca­ tion, sharing apparently private thoughts“ oder gar Enthüllungen 44 Gala Rebane, Emojis, Berlin 2021, 34. 45 Habermas, Überlegungen und Hypothesen, 478f. 46 Rojek, Presumed Intimacy, 7. 477 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler sowie emotionale Offenbarungen, die vor laufender Kamera pro­ voziert werden.47 Der Begriff des „para-social confession“48 von Barry King fasst diesen Aspekt der presumed intimacy sehr treffend. Nicht in erster Linie das Bekenntnis selbst, sondern der vertraute Kommunikationsrahmen, in dem sich das Bekenntnis vollzieht, avanciert zur Ausdrucksform parasozialer Interaktion schlechthin. Dieser Kommunikationsrahmen lässt sich durch verschiedene Mit­ tel – Rhetorik, Mimik und Gestik, Inszenierung, Performance – medial erzeugen und entsprechend verstärken. Andererseits kann die räumliche oder mediale Dimension eine zentrale Rolle spielen. So wurde im Set-Design des Fernsehens gezielt auf eine häusli­ che Umgebung gesetzt, „potted plants, framed family photographs, coffee tables, sofas, cushions, rugs and so on in order to convey the impression that the studio is an extension of the home“49. Im Mittelpunkt solcher Strategien steht die Kreation einer staged authenticity.50 Visualität spielt bei der Intensitätssteigerung eine zentrale Rolle; sie erhöht die Wahrscheinlichkeit der Identifikation mit den Dargestellten respektive der Responsibilisierung für das Dargestellte. So sind Bilder auch in der Lage, sich von der rheto­ rischen Dimension der Sprache zu emanzipieren und sie gänzlich zu ersetzen, insofern sie nicht nur zeigen können, was sie zeigen, sondern auch zeigen können, wie sie zeigen, was sie zeigen.51 Indem sie den Rahmen des Bekenntnisses sichtbar machen, beglaubigen sie das Bekenntnis gleichzeitig. Die Celebrity-Culture der Medienge­ sellschaft ab den 1990er Jahren perfektionierte das Spiel mit Bildern als Komplizen einer vorgegebenen Intimität. Flüchtige verwackelte Aufnahmen, Schlüsselloch-Perspektiven, Aufnahmen aus privaten Räumen, Aufnahmen von (nackten) Hochschwangeren, Neugebore­ nen, von intimen Momenten wie Hochzeiten oder Trauerfeiern ver­ breiteten sich als neue Konvention und bereiteten damit den Boden für einen iconic turn der Intimisierung von öffentlichen Kommuni­ kationsmustern. Die Verbindung von Celebrification und Intimisie­ rung der Öffentlichkeit52 hat seit Beginn der 2010er Jahre auch Ein­ fluss auf Protestbewegungen und die Verbreitung von politischen Statements gehabt. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusam­ 47 Ebd., 14–15. 48 Barry King, Stardom, Celebrity and the Para-Confession, in: Social Semiotics 18/2, 2008, 115–132. 49 Rojek, Presumed Intimacy, 14–15. 50 Dean MacCannell, The Ethics of Seightseeing, Berkley, CA 2011, 22–28. 51 Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2011, 221. 52 Vgl. dazu Elke Wagner, Intimisierte Öffentlichkeiten. Pöbeleien, Shitstorms und Emotionen auf Facebook, Bielefeld 2019. 478 Gefühlte Nähe menhang die Selfie-Kultur, in der es im Kontext von Protest zu einer Verschiebung von Zeugnis (testimony) zu Testimonial kommt. IV. Bilder im Digitalen. Zwischen testimony und testimonial Unter den Bedingungen digitaler Kommunikation treten vor allem die kommunikativen, verknüpfenden und bezeugenden Funktionen von Bildern in den Vordergrund. Dies gilt in besonderem Maß für die Selbstfotografie, die man in den Netzwerken teilt. Als Stell­ vertreter der fotografierten Personen erzählen Selfies von aktuel­ len Erlebnissen, von Orten, an denen man sich gerade aufhält, von Personen, mit denen man zusammen ist. Jedes Selfie artiku­ liert und kommuniziert somit ein ganzes Netzwerk von epheme­ ren Relationen, als deren Kristallisationspunkt sich die dargestellte Person inszeniert. In den Sozialen Medien geteilt, stellt das Selfie eine Statusmeldung, eine Standortangabe und eine soziale Veror­ tung dar. Zugleich ist der Selbstfotografie ein Zeigegestus inhärent. Der ikonische ausgestreckte Arm, mit dem man die Kamera auf sich selbst richtet, funktioniert als ein Selbstverweis und -zeug­ nis. Damit erklärt sich auch, inwiefern Selfies im Netz Resonanz fordern: Sie rufen Andere zum Bezeugen des eigenen Zeugnisses auf. Selfies übernehmen die Affordanzfunktion von kommunikati­ ven Operatoren wie Gefällt-mir-Buttons, @-Zeichen, Hashtags oder Retweets. Sie etablieren eine Blicklinie vom Auge der Fotografier­ ten zum Auge der Betrachtenden, die eine „unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung“53 simuliert: Diese baut Vertrauen, Auf­ richtigkeit und Nähe auf. Selfies erfüllen außerdem eine phatische Kommunikationsfunktion, indem sie Emotionen wie Anteilnahme, Freude, Trauer etc. figurieren (und dies konkret und individuell, nicht etwa generisch in Form von Emojis) und indem sie zu einer emotiven Spiegelung auffordern.54 Durch ihre Betonung des Situ­ ativen und Unmittelbaren, durch ihren Aufforderungs- und Zeug­ nischarakter sowie ihre Affektivität konvertieren Selfies Distanz in Nähe. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Intimisierung privater und darüber hinaus öffentlicher Kommunikation. Der Ein­ satz von Selfies in der öffentlichen Kommunikation belegt die von Habermas konstatierte Modifikation öffentlicher Kommunikations­ modi. So lässt sich darüber hinaus auch eine Politisierung von Bildund Affektökonomien in den Sozialen Medien ab den 2010er Jahren beobachten.55 Dies wurde vor allem im Zuge des „Arabischen Früh­ lings“ augenscheinlich, als die Welt gebannt die unzähligen Handy­ 53 Georg Simmel, Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders., Soziologie, 722–764, hier 723f. 54 Siehe Wolfgang Ullrich, Selfies, Berlin 2019. 55 Vgl. Kerstin Schankweiler, Bildproteste, Berlin 2019. 479 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler aufnahmen aus den Protesten in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern der „arabischen Welt“ über die Bildschirme flackern sah. Interessanterweise spielen auch hier Selfies eine nicht unwesentli­ che Rolle. Ihre Nutzung in diesen Zusammenhängen ist insofern bemerkenswert, als dieses Genre zuvor kaum mit politischer Kultur und sozialen Bewegungen in Verbindung gebracht wurde. Ganz im Gegenteil wurde das Selfie eher mit narzisstischer Selbstdarstellung assoziiert. Doch plötzlich nutzen Aktivist*innen aus Demonstrati­ onen heraus den deiktischen und selbstversichernden Gestus des Selfies: „Ich bin dabei! Hier und jetzt!“ Selfies werden zu Dokumen­ ten der Aktualität, der Präsenz und der Dringlichkeit politischer Handlungsmacht. Die oben beschriebene soziale Verortung wird gleichzeitig zu einem politischen Statement. Mit diesen Selfies wird also ein populäres Genre digitaler Bildkommunikation politisiert, es findet eine Verschränkung von Populärkultur und politischer Praxis statt. Im „Jahr der Proteste“ 2011 entstehen und verbreiten sich gleichzeitig sogenannte Selfie-Proteste in den Sozialen Medien, die einen Transfer von Demonstrationen in den digitalen Raum bedeu­ ten. Anstelle einer Straßendemonstration postet man vereinzelt aus dem heimischen Wohnzimmer eine Protest-Nachricht, die mit einem entsprechenden Hashtag zu einer gemeinschaftlichen Aktion wird. Die Nähe und Co-Präsenz von Körpern in Straßendemons­ trationen wird hier ersetzt durch digitale Bilder der Körper, die einen dezentralen und verstreuten Protest auf Distanz etablieren, der dennoch die Praktiken der Kundgebungen auf der Straße beibe­ hält oder zitiert (zum Beispiel das Zeigen eines Protestplakats oder eines Slogans).56 Als Beispiel soll hier der Selfie-Protest #BringBackOurGirls aus dem Jahr 2014 dienen. Die Aktion reagierte auf die Massenent­ führung von 276 Schülerinnen der Government Secondary School in Chibok (Bundesstaat Borno) im Nordosten Nigerias durch die islamistische Terrororganisation Boko Haram. Der Slogan „Bring back our girls“ wurde zuerst von den Familien der entführten Mädchen in Nigeria verwendet, um die Unterstützung der Regie­ rung einzufordern. Der nigerianische Anwalt Ibrahim Musa Abdul­ lahi schließlich verwendete ihn in einem Hashtag auf Twitter. Das politische Hashtag weitete sich schnell zu einer Kampagne mit Selfie-Protesten aus und wurde auf mehreren Plattformen gestreut. #BringBackOurGirls tauchte innerhalb von drei Wochen in 3,3 Millionen Tweets auf. Limor Shifman hat darauf hingewiesen, dass Graswurzelaktio­ nen wie die Selfie-Proteste durch die „Verknüpfung des Persönli­ chen mit dem Politischen“57 charakterisiert sind. Diese besondere 56 Vgl. dies., Selfie-Proteste. Affektzeugenschaften und Bildökonomien in den Social Media, in: Isabelle Busch, Uwe Fleckner und Judith Waldmann (Hg.), Nähe auf Distanz. Eigendyna­ mik und mobilisierende Kraft politischer Bilder im Internet, Berlin 2020, 175–190. 57 Vgl. Shifman, Meme, 116. 480 Gefühlte Nähe Form politischen Protests folgt einerseits einem festen Schema (Selfie mit Protestschild), erlaubt andererseits aber auch eigene Modifikationen und Variationen, das Einbinden einer ‚persönlichen Note‘ durch die Selbstinszenierung, die Wahl des Hintergrunds und des Bildausschnitts etc. Diese Beteiligung an kollektivem Han­ deln bei gleichzeitigem Ausdruck von Individualität hat Shifman als „vernetzten Individualismus“ bezeichnet.58 Andreas Reckwitz hat die Sozialen Medien ebenfalls als zentrale Arena einer „Singulari­ sierung“ des Sozialen identifiziert, die auch das Politische erfasst.59 Das Posten eines privaten Selfies, etwa aus der eigenen Wohnung, bedeutet aber nicht nur eine Individualisierung, sondern zugleich eine Intimisierung von Protest, für den die Grenzen zwischen Pri­ vatheit und Öffentlichkeit nicht mehr eindeutig zu ziehen sind. Die Kampagne #BringBackOurGirls zeichnete sich nun außer­ dem dadurch aus, dass viele (vor allem US-amerikanische) Pro­ minente – Popstars, Moderator*innen, Schauspieler*innen – sich dafür engagierten und ihrerseits Protest-Selfies posteten [Abb. 2]. Dies mag der Grund dafür sein, warum #BringBackOurGirls besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Kampagne vollzog sich auch jenseits der Sozialen Medien im öffentlichen Raum; der Slogan tauchte auf roten Teppichen auf, bei den Billboard Music Awards in Las Vegas am 18. Mai, auf dem Film-Festival in Cannes am selben Tag und wurde in TV-Shows in die Kamera gehalten.60 Sogar die damalige First Lady Michelle Obama beteiligte sich mit einem Selfie aus dem Weißen Haus, das auf Twitter gepostet wurde und circa 57.000 Retweets erhielt [Abb. 3]. Strenggenommen han­ delt es sich bei dieser Fotografie nicht um ein Selfie, denn sie hat es offensichtlich nicht selbst aufgenommen. Trotzdem funktioniert das Bild als solches und wurde auf Twitter von Obama als „eigene“ Botschaft markiert: Der Tweet endete mit ihrem Kürzel „mo“ und sollte signalisieren, dass nicht ihr Team, sondern sie selbst ihn ver­ fasst hatte, dass diese Nachricht ihr also persönlich wichtig war. Auf dem Foto schaut Michelle Obama mit einem betroffenen Gesichts­ ausdruck direkt in die Kamera und hält mit beiden Händen ein weißes Blatt Papier, auf dem handschriftlich mit schwarzem Stift „#Bring Back Our Girls“ notiert wurde. Ihre Mimik, sowie der Eindruck einer ethischen Anrufung unmittelbar Folge leistenden Körperhaltung soll die Atmosphäre der Betroffenheit und Fürsorge erwecken.61 Sie befindet sich in einem repräsentativen Raum des Weißen Hauses, der jedoch wohnlich eingerichtet ist. Hinter ihr 58 Ebd., 35. 59 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Ber­ lin 2019. 60 Einen Überblick bietet: Celebrities Join Worldwide Calls to #BringBackOurGirls, Theirworld, 20.05.2014 (22.02.2022). 61 Vgl. Rojek, Presumed Intimacy, 45. 481 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler [Abb. 2] Von links oben nach rechts unten: Irina Shayk, #BringBackOurGirls, 12.05.2014, Facebook; Sean Combs alias P. Diddy, 15.05.2014, Repost über das Instagram Profil der Kampagne bringbackourgirls, Salma Hayek bei den Filmfestspielen in Cannes, 17.05.2014, Foto: Vit­ torio Zunino Celotto/Film Francais/WireImage © Getty Images; David Cameron und Christiane Amanpour bei CNN; Christiane Amanpour und David Cameron in der Andrew Marr Show, 11.05.2014, Foto: Jeff Overs © BBC Photo Archive (alle Links 22.02.2022). 482 Gefühlte Nähe [Abb. 3] Mit diesem Selfie beteiligte sich Michelle Obama an der Kampagne #BringBackOurGirls. Michelle Obama, #BringBackOurGirls, 07.05.2014, www.wikimedia.org, gemeinfrei (22.02.2022). 483 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler steht an der Wand ein geöffneter Sekretär mit Schreibtischlampe und abgerücktem Stuhl, so als wäre sie soeben nach dem Schreiben der Botschaft dort aufgestanden. In der Inszenierung des ProtestSelfies lassen sich eine Reihe von Intimisierungsstrategien festma­ chen: Die Kamera ist nahe an dem fotografierten Körper und vor allem an das Gesicht herangerückt, so dass uns die dargestellte Person am Bildschirm quasi Auge in Auge gegenübersteht (wie es freilich für das Genre der Selfies generell gilt). Die Situierung in einem nicht öffentlichen Innenraum, der normalerweise nur weni­ gen Menschen vorbehalten ist, suggeriert einen intimen Einblick in die Privatsphäre. Schließlich vermittelt die Schreibszene, vor allem in Verbindung mit der Handschrift, Authentizität sowie Unmittel­ barkeit, ein Gefühl des Hier und Jetzt, denn die Handlung scheint gerade erst stattgefunden zu haben. Beim Publikum kreiert diese deiktische Geste den Eindruck „that something is being done“.62 In der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie greift auch in der Kam­ pagne #BringBackOurGirls die oben beschriebene Celebrification, durch die die Verbindung von Popkultur und politischer Praxis noch weiter auf die Spitze getrieben wird. Hier entsteht ein neues Genre: das Protest-Testimonial.63 Der Funktion von Testimonials in der Werbung entsprechend soll dieses für Protestaktionen Auf­ merksamkeit generieren und ein positives Image übertragen. Wie Celebrification und Intimisierung mittels Selfies in Protest­ kommunikation Einzug gehalten haben, belegen zahlreiche Fotos und Videos. Ein weiteres früheres Beispiel ist ein Selfie-Video der bekannten liberianisch-amerikanischen Moderatorin und Fotogra­ fin Shoana Cachelle, die sich im Oktober 2014 in der Kampagne #IamALiberianNotAVirus positionierte [Abb. 4].64 Das Hashtag war im Zuge des Protests gegen die Stigmatisierung von Westafri­ kaner*innen während der Ebola-Epidemie, die auch die Diaspora ergriff, eingesetzt worden. Das Video entstand in einem privaten Wohnzimmer, im Hintergrund ist ein Sofa mit Kissen, eine Lampe auf einem Tischchen und ein Bild an der Wand zu sehen. Davor steht Cachelle und berichtet von der Diskriminierung ihrer Toch­ ter in der Schule, wobei ein Close-up auf ihr Gesicht erfolgt. Die Emotionalität des Betroffenheitsberichtes wird durch einge­ blendete Schrift („Hurt and Upset“) sowie unterlegte Klaviermusik noch gesteigert. Auch Cachelle hält, wie in Selfie-Protesten üblich, ein Protestschild mit dem Slogan der Kampagne in die Kamera. 62 Ebd., 51. 63 Die Literaturgeschichte kennt mit dem in den 1960er bis in die 1990er in der lateinameri­ kanischen Literatur beheimateten Testimonio ein ähnliches Genre: Eine Person von den Rändern der Gesellschaft (Guerillera-Kämpfer*innen, Verarmte, Bauern und Bäuerinnen) erzählt aus der Ich-Perspektive von Ungerechtigkeiten und macht damit auf politische Missstände aufmerksam. Vgl. dazu Ulrich Mücke, Testimony/Testimonio, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Handbook of Autobiography/Autofiction, Berlin 2019, 669–674. 64 Shoana Cachelle, I AM A LIBERIAN, NOT A VIRUS, 13.10.2014 (22.02.2022), 01:51; vgl. auch Schankweiler, Bildproteste, 9–10. 484 Gefühlte Nähe [Abb. 4] Standbild des Videos I AM A LIBERIAN, NOT A VIRUS von Shoana Cachelle, hochgela­ den am 13.08.2014 (22.02.2022), 01:51, 00:46. 485 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler Ihr Selfie-Video unterscheidet sich dadurch, dass sie, anders als Obama, nicht nur ihre Solidarität zeigt und eine Forderung stellt, sondern aus der Perspektive einer Betroffenen beziehungsweise der Mutter einer Betroffenen spricht. Dies gilt in gesteigertem Maße auch für das eingangs beschrie­ bene Video von DJane Switch, die als direkte Augenzeugin der Missachtung von Menschenrechten spricht. Switch war bei den Ereignissen, über die sie berichtet, selbst anwesend, hat mit ande­ ren Aktivist*innen protestiert und war realer Gefahr ausgesetzt. Sie spricht aus einer Position der direkten Betroffenheit, so dass ihr Video Testimony und Testimonial in besonderer Weise vereint. Authentizität vermittelt sich hier gerade durch die Amateurästhetik und vermeintliche Spontanität – im Vergleich zum Obama-Selfie und dem Video von Cachelle wirkt es spontan und schlicht. Inwiefern Protest-Testimonials glaubwürdig sind oder nicht und wie sie zu bewerten sind kann nur im Einzelfall entschieden werden. Doch gerade Aktionen wie #BringBackOurGirls werden als fehlgeleitet kritisiert, wie ein Artikel der nigerianisch-amerika­ nischen Journalistin Jumoke Balogun mit dem Titel „Dear World, your Hashtags Won’t #BringBackOurGirls“65 exemplarisch deut­ lich macht. Die Depolitisierung, die Balogun anspricht, entspringt einem der Testimonial-Strategie inhärentem Risiko. Ist das Testimonial zum Beispiel nicht glaubhaft, kann sich für das beworbene Produkt oder die beworbene Marke der sogenannte „Pinocchio-Effekt“ ein­ stellen: Das heißt, der zu erwartende positive Werbeeffekt kehrt sich um und die Unglaubwürdigkeit des Testimonials überträgt sich auf das beworbene Produkt. Außerdem kann es zu einem umge­ kehrten Übertragungseffekt, dem sogenannten „Vampir-Effekt“, kommen, indem das gewählte Testimonial durch die Werbung eine Bühne erhält, die dem Testimonial mehr Aufmerksamkeit als dem beworbenen Produkt verschafft. Beide Risiken spielen auch eine zentrale Rolle bei Selfie-Protesten wie #BringBackOurGirls: Durch die ungerichtete Zirkulationskraft, die spreadibility66 der Selfies bleibt unscharf, für wen oder was das Aufmerksamkeitskapital nun eigentlich generiert wird. Profitieren die beteiligten Celebrities von ihrer Partizipation und akkumulieren soziales Kapital oder stellen sie ihr soziales Kapital einer Sache zur Verfügung? Folgt man Chris Rojek, der davon ausgeht, dass die Verletzlichen einer Gesellschaft abhängig sind von einer visuellen Darstellung, um bei Betrach­ ter*innen eine entsprechende Identifikation zu erwirken, dann ver­ folgen die Selfies eine fehlgeleitete Visualisierungsstrategie. Präsent sind die von Boko Haram entführten Mädchen allein im Schrift­ 65 Jumoke Balogun, ‘Dear World, your Hashtags Won’t #BringBackOurGirls’. Jumoke Balo­ gun for Compare Afrique, Part of the Guardian Africa Network, in: The Guardian, 09.05.2014 (22.02.2022). 66 Henry Jenkins, Sam Ford und Joshua Green, Spreadable Media. Creating Value and Meaning in a Networked Culture, New York 2013. 486 Gefühlte Nähe zug, ihre körperliche Anwesenheit wird in die Mimik und Gestik der nur emotionalen Zeug*innen verlagert. Den Betrachter*innen der Selfies bleibt nur eine sekundäre Ebene der Betroffenheit, die Adressat*innen mit geteilten Werten voraussetzt. Die Respon­ sibilisierung, die die Selfies mobilisieren sollen, droht in das kriti­ sche Korrelat einer Interpassivierung umzukippen. Robert Pfaller schlägt das Konzept der Interpassivität als eine Form der Kunstre­ zeption vor, in der das Kunstwerk die Rezipierenden in die Lage versetzt, ihr „Genießen“ von vornherein an das Kunstwerk zurück zu delegieren, als eine Form der risikolosen Beteiligung, „als Abwe­ senheit von Interaktivität“, als „negative Größe“ der Interaktivität.67 Die Selfies erlauben es den Protestierenden beziehungsweise Parti­ zipierenden – mit den kritischen Worten Slavoj Žižeks – „authen­ tisch“ zu leiden und trotzdem das wohltemperierte Leben entspannt fortzusetzen.68 Jene gefühlte Nähe, die es herzustellen gilt, bleibt dann eben nur ein Gefühl, die räumliche Distanz bleibt hingegen bewahrt. Politische Agency wird zu einer Frage der ,Imagency‘, das heißt einer imaginierten, an die Bilder adressierten Agency. Tanja Prokić ist Vertretungsprofessorin für Neuere deutsche Lite­ ratur und Medien an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün­ chen. Ihr Schwerpunkt in Visual Culture Studies liegt auf Filmtheo­ rie, Theorien des Blicks sowie auf visuellen Praxeologien der digita­ len Kultur. Zuletzt erschien in diesem Forschungskomplex rund um digitale Plattformkultur der Band Invective Gaze. Das digitale Bild und die Kultur der Beschämung (mit Elisabeth Heyne, Bielefeld 2022). In ihrer Habilitationsschrift Die Literarische Moderne und das Neue Sehen (Leiden 2023) widmet sie sich den Austausch- und Über­ setzungsprozessen von Visualität (in Film, Fotografie, Diagramm, Werbung, Theater) und Literarizität. In ihrem aktuellen Projekt ent­ wickelt sie eine neue Rezeptionstheorie für die konvergenten Medi­ enkulturen des 21. Jahrhunderts. Kerstin Schankweiler ist Professorin für Bildwissenschaft im glo­ balen Kontext an der Technischen Universität Dresden. Sie ist Autorin des Buches Bildproteste (Berlin 2019), das in der Reihe Digi­ tale Bildkulturen im Wagenbach Verlag erschienen ist und 2021 in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufge­ nommen wurde. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes Image Testi­ monies. Witnessing in Times of Social Media (London 2019) und des Special Issues der Zeitschrift Parallax zum Thema „Affective Wit­ 67 Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008, 103; vgl. auch ders. (Hg.), Inter­ passivität. Studien über delegiertes Genießen, Wien 2000; ders., Das Kunstwerk, das sich selbst betrachtet, der Genuß und die Abwesenheit, in: ders., Interpassivität, 49–84. 68 Slavoj Žižek, Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität, in: Pfaller, Inter­ passivität, 13–32. 487 Tanja Prokić & Kerstin Schankweiler nessing“ (2020). Gemeinsam mit Verena Straub leitet sie seit Januar 2022 an der TU Dresden das DFG-Forschungsprojekt „Bildproteste in den Sozialen Medien“. 488