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Rosa’s Welt

2017, Soziologische Revue

OLDENBOURG Soziologische Revue 2017; 40(2): 177–184 Symposium Rosa’s Welt Symposiumsbeitrag zu: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp 2016, 815 S., gb., 34,95 € Besprochen von Prof. Dr. Manfred Prisching: Institut für Soziologie, Universität Graz, E ˗ Mail: manfred.prisching@uni-graz.at DOI 10.1515/srsr-2017-0026 Schlüsselwörter: Resonanz, Romantik, Zeitdiagnose, Entfremdung, Beschleunigung Die „Resonanz“ ist ein ehrgeiziges Projekt, nicht nur wegen des Buchumfanges. Es ist das Projekt, uns das Wesen des Menschen, seine (gelingende oder misslingende) Beziehung zur Welt und seine Situierung in dieser Spätmoderne in toto zu erklären – also eigentlich: eine Protosoziologie, eine Gesamtsoziologie und eine Zeitdiagnose zu entwerfen. Die Protosoziologie, mit der die Einstimmung erfolgt, setzt bei grundlegenden Welterfahrungen des Individuums an, im Sinne einer phänomenologischen, sozialkonstruktivistischen Soziologie, die an manche Klassiker erinnert; Rosa interessiert sich bei dieser Grundlegung aber mehr für die körperlichen Weltbeziehungen (bis hin zu den Gerüchen) und für Emotionen (bis hin zur Konstatierung verbreiteter Angst). Er arbeitet die drei Komponenten der Persönlichkeit heraus: erstens die psychoemotionale Grundierung unserer Weltbeziehung (als Teil der Persönlichkeit), zweitens die kognitiv-evaluative Landkarte, drittens das Repertoire der starken Wertungen (die Definitionen dessen, worauf es im Leben ankommt) (236ff.) – wenn man vereinfacht: Gefühl, Wissen, Werte. Immer wieder wird dabei die Frage umkreist: Fühlt man sich „in der Welt getragen“ oder „in die Welt geworfen“? Diese Frage ist die essentielle. Das Essentielle Die „Resonanz“ ist ein umfassendes Projekt. Das Etikett soll wohl so etwas wie einen neuen Grundbegriff für die Soziologie bereitstellen. Der Begriff wird sich wohl zugleich (als „Resonanzgesellschaft“) in die Reihe jener Etiketten einreihen, mit denen sich die Spätmoderne selbst (mehr oder weniger erfolgreich) zu Leibe 178 Manfred Prisching OLDENBOURG zu rücken pflegt. Worum geht es im Leben: Sinn? Erlebnis? Glück? Rosa meint: Die Menschen wollen „Resonanz“. Das klingt origineller, als es ist; denn man wird von Hartmut Rosa daran erinnert, dass der Begriff in der Sozialpsychologie recht üblich ist und auch anderweitig schon verwendet wurde; die Begriffe „Gestimmtheit“ oder „Responsivität“ meinen Ähnliches. Doch Rosa hat den Begriff soziologisch enorm ausgeweitet. Resonanz bedeutet: eine gelingende Weltbeziehung, Verbundenheit mit und Offenheit gegenüber anderen Menschen und Dingen (53), eine andere, zufriedenstellende Art des In-der-Welt-Seins; im „Einklang“ sein mit sich und der Welt. Rosa überzieht die Metapher ein wenig: Ich und die Welt, das soll ein „rhythmisches Aufeinandereinschwingen“ sein (55); und er meditiert über die technologisch-physikalischen Ähnlichkeiten solcher Schwingungen. Das ist überflüssig. Gegenstück ist jedenfalls die Repulsion: Die Welt fühlt sich feindselig an. Sie antwortet nicht mehr. Man hat keine innere Beziehung zu ihr. Man fühlt sich fremd, ausgestoßen, abgelehnt. Im modernen Vokabular würden viele sagen: „Exklusion“. – Die Welt wird demgemäß zwischen den beiden Kategorien Attraktion und Repulsion aufgespannt. Auf der einen Seite haben wir die Orientierung auf Vernunft, Instrument, Rationalität, Berechnung, Fixierung, Kontrolle und Effizienz bzw. (schon stärker wertend und ins Zeitdiagnostische driftend) auf Ressourcenverbrauch und Steigerungslogik, auf Wachstum und „Tretmühle“ – das ist die negative Seite, sie trägt zur Resonanz nicht bei, ja, verhindert sie. Die andere Seite sind positive Weltbeziehungen auf den Resonanzachsen: Wohlgefühl, Beheimatung, Einbettung, Zuhause-Sein, gelingende Beziehung, Zufriedenheit; also das fundamentale Gefühl: Im Grunde, alles in allem, ist die Welt in Ordnung. In der Spätmoderne haben wir möglicherweise ein Problem auf beiden Seiten der Weltbeziehung: bei der Person und bei der Welt. Einerseits wird die stabile Identitätsbildung schwierig – wie sollte das unter diesen Umständen (es fällt einem ein: Patchwork-Identität, Identitäts-Stress, Narzissmus und so weiter) auch anders sein? Andererseits wird die Welt so chaotisch, „dass in der Kakophonie keine Frequenz oder Stimme auszumachen ist, welche einen ‚Anspruch‘ zu erheben vermöchte oder ein Resonanzverhältnis aufzubauen erlaubte“ (192) (und es fällt einem ein: Unübersichtlichkeit, Liquidität, Postmoderne, Hybridität, Nihilismus und so weiter). Freilich ist die Resonanz-Kategorie schwer definierbar. Jemand fühlt sich gut dabei, wenn eine Welt gestaltet ist, in der seine wesentlichen Werte verwirklicht sind – denn das Gegenteil wäre schwer vorstellbar. Der Selbstinterpretationsprozess wird von starken Wertungen geleitet, und diese sind es, „welche die Beziehung zwischen den Subjekten und der Welt [...] bestimmen, weil sie definieren, worauf es jeweils ankommt und damit welche Bedeutung und Relevanz die Dinge OLDENBOURG Rosa’s Welt 179 und insbesondere die Seins- und Handlungsmöglichkeiten haben“ (226f.). „Resonanzerfahrungen [...] stellen sich (nur) in Weltbegegnungen ein, bei denen starke und schwache Wertungen (oder Bewertung und Begehrung) momenthaft übereinstimmen bzw. wo beide Dimensionen unseres normativen Bezogenseins zugleich angesprochen werden und sich in einer Balance befinden“ (231). Vielleicht gehört es aber zur Weltauffassung eines bestimmten Akteurs, dass er gerne die Juden liquidieren oder Muslime vertreiben würde. Dann würde er sich mit Pogromen recht wohlfühlen. Aber da weiß der Autor, dass dies eben nicht das „richtige“ Resonanzgefühl wäre, sondern dass es sich in Wahrheit, obwohl die Akteure es selbst nicht wissen, um einen Ausdruck von Repulsion handelt. Es ist die interaktive, kooperative Wertrealisierung und Weltgestaltung, die allein als „resonant“ zählen darf. Damit wird Resonanz unversehens zu einer schwer fassbaren Angelegenheit, weil die Realisierung der eigenen Werte des Beobachters jeweils in die Resonanzkategorie hineindefiniert werden kann, während die Realisierung anderer Werte, die für einen mitteleuropäischen Intellektuellen unerfreulich sind, als Repulsion kategorisiert wird, obwohl das die handelnden Personen nicht wissen und nicht in dieser Weise empfinden. Schließlich kann man auch beim Blick auf ein paar Jahrhunderte europäischer oder globaler Geschichte annehmen, dass es verschiedene Resonanzkonzepte gegeben haben mag – nicht in dem Sinne, dass die Menschen nicht immer nach Resonanz begierig waren, wohl aber dürften sie unterschiedliche soziale Gegebenheiten als „resonant“ erfahren haben. Das Problem, in welcher Weise Resonanz mehr sein kann (oder soll) als die Konstatierung des Wohlfühlens von Individuen, scheint mir nicht ganz gelöst. Rosa würde sagen: Es geht um positive Interaktion, um das Ernstnehmen des anderen, um Respekt und Anerkennung – nur in diesem Falle handelt es sich um Resonanz, deshalb ist Resonanz beim Vorliegen von Menschenvernichtung oder -vertreibung nicht gegeben. Aber in dieser Forderung steckt natürlich schon wieder europäische Befangenheit, die nicht akzeptieren kann, dass sich jemand, der Ungläubige „vernichtet“, im Einklang mit seinem Gott und seiner Aufgabe in der Welt fühlen kann. Das Romantische Hinter der „Resonanz“ steckt ein romantisches Projekt. Es ist jene Romantik, wie sie schon immer als Aufklärungskritik gegenwärtig war, wie sie im deutschen Idealismus vorhanden war und im frühen 19. Jahrhundert entfaltet wurde, wie sie sich auch bei Marx findet, bei den romantischen Elementen im Faschismus, auch bei Adorno und Horkheimer, in der grün-alternativen Bewegung und bei man- 180 Manfred Prisching OLDENBOURG chen gegenwärtigen Bestsellerautoren aus der Wirtschaftssoziologie – und wie sie genau genommen bei allen Klassikern schon gegenwärtig ist. Deshalb kann Hartmut Rosa auch einen Streifzug durch die ganze Soziologiegeschichte unternehmen. Und er hat schon Recht, dass es angemessen ist, das Bewusstsein der beiden Komponenten, die einander konterkarieren oder ergänzen, wieder zu betonen: Es ist ein Unterschied zwischen der Weltbeherrschung und der Weltanverwandlung. Rosa packt diese ganze Ideenschiene, die in unterschiedlicher Begrifflichkeit abgehandelt worden ist, in seinem Resonanzbegriff zusammen, und das hat seine Plausibilität – und es bedeutet ja nicht, dass Herder insgesamt mit Marcuse gleichgesetzt wird. Weltbeherrschung ist instrumentelle Vernunft, oft gekoppelt mit Kategorien wie Verdinglichung oder Entfremdung, und es muss gegen manche Gefühligkeit betont werden, dass uns diese instrumentelle Vernunft ein großartiges Leben beschert hat: lange Lebenserwartung, haltbare Hüftgelenke, Buchdruck, Antibiotika, Smartphones. Rosa will diese Vorzüge nicht leugnen; aber die „Resonanz“ stellt eben die Frage nach dem guten oder gelingenden Leben. Das „gelingende Leben“ erschöpft sich nicht in soliden Zahnplomben und Nike-Sportschuhen. Die Frage ist in den Sozialwissenschaften ein wenig unmodern geworden, sie wurde einerseits an die Philosophie, andererseits an die Psychologie abgetreten, und wenn sie in diesen Disziplinen hin und her gewälzt wird, interessiert sich das „Publikum“ für solche Überlegungen. Den SoziologInnen ist die Frage irgendwie peinlich geworden, obwohl viele von ihnen mitten im Lob der „Wertfreiheit“ die ungeniertesten Werturteile äußern, während die Frage des „Gelingens“ den Menschen „da draußen“ ziemlich wichtig ist. Solche Diskrepanzen könnten den Verdacht erhärten, dass die Soziologie für das Weltverständnis jenseits der eigenen ZunftgenossInnen weniger anbietet, als sie es könnte. (Neuerdings wird das wieder einmal unter dem Titel „public sociology“ diskutiert.) Rosa ist näher am Puls der Zeit. Das Zeitdiagnostische Die „Resonanz“ ist ein zeitdiagnostisches Projekt, weil die zahlreichen Beispiele, an denen Hartmut Rosa seine Überlegungen erläutert, aus dem Leben, aus diesem, dem spätmodernen Leben gegriffen sind. Und natürlich knüpft die Resonanz an den von ihm bereits ausgiebig erörterten Befund allgemeiner Beschleunigung an und baut diese in ein größeres Gebilde ein. Weltanverwandlung braucht Zeit, Kontinuität, Gewöhnung; und Beschleunigung verhindert sie. In der Spätmoderne entsteht deshalb eine bewusste Entfremdung von den Dingen: „Sie dürfen uns nicht berühren, sonst könnten wir sie nicht mehr entsorgen und ersetzen, und OLDENBOURG Rosa’s Welt 181 sie vermögen uns nicht mehr zu berühren, weil für den Prozess der Anverwandlung nicht genügend Zeit zur Verfügung steht“ (392). Das Problem resultiert aus einem grundsätzlichen Dilemma: Die Moderne kann sich nur dynamisch stabilisieren, und ihr kulturelles Programm zielt auf Reichweitenexpansion. In meiner Formulierung: more growth, more choice, no limits. Aber mit dem Wachstum funktioniert es nicht mehr gut; übertriebene Wahlmöglichkeiten sind belastend; die Fiktion von Grenzenlosigkeit ist dumm. Ich wüsste nicht, wie man Rosas Befund, dass dieses Dynamik-Konzept langfristig nicht funktionieren kann, widersprechen sollte. Man mag freilich die zentrale Perspektive des Buches nicht unbedingt als große Neuheit empfinden. Das ist seit Jahrhunderten ein Thema. Aber es ist – gerade im Blick auf den Soziologiebetrieb – keineswegs überflüssig, die beiden Stränge in Erinnerung zu rufen: einerseits all das Rational-Technisch-Instrumentelle, das uns Lebensstandard und Lebenserwartung beschert hat, andererseits das Romantisch-Emotionelle, jene Komponenten, die in der „vernünftigen Soziologie“ oft als „Residuen“ abgetan werden. Die Soziologie hat einen bias: Sie versteht sich selbst als aufklärerisch, als Wissenschaft muss sie das auch sein – aber es scheint ihr der Sinn für die erwähnten Gestimmtheiten und Stimmungsbedürfnisse ihres Objekts weithin verloren gegangen zu sein. Auch emotional turn oder affective turn oder sonstige Turnereien helfen nicht viel. Ebenso wenig ist es hilfreich, in postmodern-dekonstruktivistischer Perspektive alles nur in Fluktuierend-Widersprüchlich-Hybrides aufzulösen und das großartig zu finden. Das lässt sich genießerisch feuilletonisieren, aus der Perspektive des gesicherten Seminarraumes; aber die Menschen, mit denen sich die Soziologie beschäftigen soll, reagieren auf den Ratschlag, sie sollten doch das Chaos, in dem sie letzten Endes ihre Jobs verlieren, wunderbar finden, nicht immer mit Begeisterung. Rosa ist da näher an der empirischen Wirklichkeit als andere. Das Normative Hartmut Rosa hat nun ein Problem, das man aus öffentlichen Vorträgen gut kennt. Die Anfrage nämlich, die lautet: Herr Rosa, das war ja eine durchaus überzeugende Analyse, aber wo bleibt ihre Lösung? Was sollen wir tun? Die meisten Menschen sind nicht damit zufrieden, dass man sich auf die wissenschaftliche Analyse zurückzieht und darüber hinaus auf „Politik“ oder „Gesellschaft“ verweist (was immer auch damit gemeint sein mag), vielleicht gar sich mit Verweis auf Wissenschaftlichkeit der Antwort entschlägt. Doch Rosa hätte sich besser vor der Beantwortung der Frage drücken sollen, wenn man einen Blick in sein Kapitel XV wirft. Seine erste Lösung: Wirtschaftsdemokratie – was immer er 182 Manfred Prisching OLDENBOURG sich darunter vorstellen mag, vielleicht so etwas wie die zusammengebrochene jugoslawische Rätedemokratie. Da könnte man sich bei einschlägigen Studien kundig machen, warum das Modell schiefgelaufen ist. Zweitens Verstaatlichung der zentralen Infrastruktur, einschließlich der Banken. Da müsste man wohl mehr an Analyse beibringen. Drittens ein garantiertes, voraussetzungsloses Grundeinkommen. Immerhin soll dieses durch eine globale Erbschaftssteuer finanziert werden, eine Forderung, die sicherstellt, dass wir uns die nächsten hundert Jahre darüber den Kopf nicht mehr zerbrechen müssen. Und viertens ein neues Politiksystem, von dem er (mit Recht) hinzufügt, dass er sich selbst darunter nichts vorstellen kann. Kurz und gut: Das Kapitel hätte man weglassen können, es wirkt nach den vielen subtilen Erörterungen recht hanebüchen. Zudem betreffen die Vorschläge meines Erachtens eher die rationale Seite der Gesellschaft, also jene Leistungs- und Gewährleistungsfähigkeit der modernen Gesellschaft, die überhaupt nicht das Aufleben von Resonanz garantiert – schließlich wurde schon ein paar hundert Seiten vorher festgestellt, dass die Resonanz durch Unverfügbarkeit gekennzeichnet ist (295). Die Wahrheit ist: Wir haben keine Ahnung, was zu tun wäre; und ein paar flauschige Utopieelemente tun es nicht. Das Handwerkliche Das Resonanzbuch setzt bei klassischen Fragestellungen an, aber es hat einen großen Vorzug: Es rekonstruiert nicht noch einmal systematisch alle Klassiker, um sie (wie nicht ganz unüblich) für die eigene Theorie geschmeidig herzurichten. Natürlich müssen sie alle durchdekliniert werden, Kierkegaard, Nietzsche, Durkheim, Lukacs; Webers Rationalisierung und Simmels Blasiertheit, Fromms Konformismus und Honneths Respektproblem. Doch Rosa geht in den ersten Kapiteln geradewegs auf die eigene Frage und die eigene Antwort los, und die großen Geister kommen erst an passender Stelle ins Spiel, um das Argument zu stützen. Tatsächlich ist das Resonanz-Argument ja so weit gefasst, dass sich wirklich alle schon einmal mit Ähnlichem befasst haben. Rosa bedient sich aber auch aus anderen Materialien: aus der Sekundärliteratur; aus aktuellen Publikationen aus Nachbarfächern wie Psychologie und Neurowissenschaft; er sammelt Findlinge aus dem alltäglichen Sprachgebrauch, durchaus passend, wenn man meint, dass Redewendungen und Sprachgebrauch nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, sondern dass die Sprache etwas mit dem Leben zu tun hat; er greift auf fiktive Literatur zurück, aber auch auf Texte aus der Gebrauchskultur, etwa aus Punk, Rock, Heavy Metal. Das ist ebenso erhellend wie amüsant, und Rosa gehört erfreulicherweise in die Gruppe jener Soziologen, die keine sprachästhetischen Analphabeten sind. OLDENBOURG Rosa’s Welt 183 Wir wissen jedoch auch, dass in den Sozialwissenschaften immer alles mit allem zusammenhängt, sodass man sich gedanklich bei einigem Einfallsreichtum immer weiterturnen könnte. Irgendwann muss man die Stopptaste drücken. Ab dem Kapitel XII wird es ohnehin schon ein bisschen zettelkastenartig, und möglicherweise wäre es insgesamt ein wenig kürzer gegangen als mit 800 Seiten – auch die „Beschleunigung“ hat uns seinerzeit ja schon einen „Ziegel“ von fast 600 Seiten beschert. Wir nehmen mit Demut zur Kenntnis, dass Hartmut Rosa im Zuge der Produktion dieses Buches ohnehin ein paar zu lang geratene Kapitel in kürzere Einzelbücher ausgekoppelt hat. Doch wenn wir erwartungsvoll dem nächsten Buch entgegenblicken, wäre der Autor doch zu fragen: Könnten wir uns vielleicht dann auf 400 Seiten einpendeln? Man hat es auch nach dieser Strecke bereits verstanden. Das Anwendbare Die „Resonanz“ ist ein zeitgemäßes Buch, der Resonanzbegriff trifft existenzwichtige Verhältnisse und Stimmungen der Gegenwart. Ich möchte deshalb ein Beispiel skizzieren, welches Rosa selbst nicht durchspielt: die links- und rechtspopulistischen Strömungen in Europa, Brexit, Trumpismus. Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Man kann über den Niedergang der amerikanischen Industrie reden, auf Einkommenspolarisierung verweisen, auf Enttäuschungen dieser oder jener Art – aber man tut sich schwer, wenn man ähnliche Phänomene in Polen und in den USA, in Griechenland und in Großbritannien zu erklären hat. „Resonanz“ ist zumindest eine Chiffre, die besser zu passen scheint als die „Verkrustung des politischen Establishments“. Empfinden die Menschen ein Resonanzdefizit, welches durch die Migrationssituation verstärkt wird? Können wir – mit Rosas Hilfe – ein paar Argumente in diese Richtung betrachten? Man kann den „europäischen Verdruss“, die um sich greifende pauschale Aversion gegen Politik, die den Aufstieg autoritärer Parteien befördert, auch die amerikanische Krise, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Wahl einer skurrilen Gestalt gefunden hat, plausibel als „Resonanzproblem“ schildern, wenn man empirische Befunde besichtigt, also aktuelle Diskurse, Plakate, Äußerungen, Bilder. Die Leute haben erstens das Gefühl, dass ihre Wertewelt in Konfusion geraten ist. In der turbulenten Welt ist nicht nur der schützende normative Baldachin hinweggetragen worden, viel schlimmer: Nichts gilt mehr. Man weiß in konkreten Situationen und Problemlagen nicht mehr, was man meinen soll und sagen darf (nicht einmal zwischen den Geschlechtern). Zweitens empfinden die Menschen einen Verlust von Gemeinschaftlichkeit, Heimatlichkeit, Zugehörigkeit und Normalität: Alles löst sich auf. Das vertraute Ambiente verschwindet, man 184 Manfred Prisching OLDENBOURG befindet sich in einer „fremden“ Welt, in der man steigenden Aufwand betreiben muss, um nur den Kopf über Wasser halten zu können. Drittens ist die Welt unüberschaubar-komplex geworden: Man kennt sich nicht mehr aus. Alles, was zu regeln ist, verheddert sich in Gesetzen und Bürokratien. Jede Expertise hat eine Gegenexpertise. Die „Welt der Selbstverständlichkeit“ wird zu einer Welt der allseitigen Irritationen. Viertens schwinden damit auch die (handfesten und gefühlten) Sicherheiten: Fortschritt wackelt. Jobs sind unsicher. Pension ist unabsehbar. Wirtschaftskrise kann jederzeit durchschlagen. Terror droht. Die Flüchtlingskrise wirkt in allen diesen Bereichen als Katalysator: Welche Werte? Immer mehr Fremde in der Gemeinschaft? Noch ein Komplexitätszuwachs? Zusatzaufwand zu unseren Lasten? Genau diese Konstellation kann man als „Resonanzverlust“ bezeichnen: Da ist rundherum nur noch Chaos, in dem man sich selbst nicht mehr finden oder verorten kann, in dem es keine Haltepunkte mehr gibt, in dem alle Vertrautheiten dahinschwinden: Werte, Gemeinschaft, Durchblick, Sicherheit. Eine Zeitlang kann dieses Vakuum durch Wohlstands- und Fortschrittsversprechen übertüncht werden – aber auch dieses Versprechen wankt in diesen Jahren und lässt die aufgeschobene Verunsicherung „hochkochen“. Die Autoritären (ob in Regierung oder Opposition) versprechen nun die einfachen Lösungen für diese Komponenten: (1) „Unsere“ (europäischen, nationalen) Werte müssen wieder gelten. Wer das infrage stellt, soll „heimgehen“. Ausweisen. Deportieren. (2) „Unsere“ Heimat muss wieder uns gehören. Wir lassen uns das nicht wegnehmen. Grenzen dicht machen. Mauern bauen. (3) „Unser“ starker Führer wird alle Gordischen Knoten durchschlagen und den Weg weisen. Arbeitsplätze heimholen. Männer stärken. (4) Mit politischer „Durchschlagskraft“ (und wenn man erst die Ausbeuter, Unterhöhler und Abzocker hinausgeworfen haben wird) wird man die alte Sicherheit wiederherstellen. Das Land stark machen. – Dass diese Versprechungen illusionär sind, ist nicht von Belang. Aber wenn man diese Situation resonanztheoretisch interpretiert, dann ist sie nicht zu lösen durch die üblichen Ratschläge: Man muss „es“ den Menschen besser erklären. Man muss die Vorteile Europas herausstellen. Man muss die heimische Arbeitslosigkeit senken und Einkommenspolarisierung vermeiden. Das alles ist nützlich, spielt aber auf der anderen Achse, der Achse moderner Rationalität. Es löst nicht das Problem, dass sehr viele Menschen das Gefühl haben, in dieser Welt fremd geworden zu sein. Die Fremdheit produziert Angst und Wut. Sie schlagen um sich, auch wenn sie sich dabei selbst verletzen. Es geht um Weltbild, Weltsicht, Lebensweise. Es sei eingestanden: Ich habe keine Lösung für das Problem. Auch Hartmut Rosa hat keine Lösung für das Problem. Aber wir können das Modell der Resonanz, das er in aller Umfassendheit und Vagheit dargestellt hat, auf das beherrschende Politikthema der Gegenwart gut anwenden. Das spricht für das Buch.