OLDENBOURG
Soziologische Revue 2017; 40(2): 177–184
Symposium
Rosa’s Welt
Symposiumsbeitrag zu: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp 2016, 815 S., gb., 34,95 €
Besprochen von Prof. Dr. Manfred Prisching: Institut für Soziologie, Universität Graz,
E ˗ Mail: manfred.prisching@uni-graz.at
DOI 10.1515/srsr-2017-0026
Schlüsselwörter: Resonanz, Romantik, Zeitdiagnose, Entfremdung, Beschleunigung
Die „Resonanz“ ist ein ehrgeiziges Projekt, nicht nur wegen des Buchumfanges.
Es ist das Projekt, uns das Wesen des Menschen, seine (gelingende oder misslingende) Beziehung zur Welt und seine Situierung in dieser Spätmoderne in toto
zu erklären – also eigentlich: eine Protosoziologie, eine Gesamtsoziologie und
eine Zeitdiagnose zu entwerfen. Die Protosoziologie, mit der die Einstimmung
erfolgt, setzt bei grundlegenden Welterfahrungen des Individuums an, im Sinne
einer phänomenologischen, sozialkonstruktivistischen Soziologie, die an manche
Klassiker erinnert; Rosa interessiert sich bei dieser Grundlegung aber mehr für die
körperlichen Weltbeziehungen (bis hin zu den Gerüchen) und für Emotionen (bis
hin zur Konstatierung verbreiteter Angst). Er arbeitet die drei Komponenten der
Persönlichkeit heraus: erstens die psychoemotionale Grundierung unserer Weltbeziehung (als Teil der Persönlichkeit), zweitens die kognitiv-evaluative Landkarte, drittens das Repertoire der starken Wertungen (die Definitionen dessen,
worauf es im Leben ankommt) (236ff.) – wenn man vereinfacht: Gefühl, Wissen,
Werte. Immer wieder wird dabei die Frage umkreist: Fühlt man sich „in der Welt
getragen“ oder „in die Welt geworfen“? Diese Frage ist die essentielle.
Das Essentielle
Die „Resonanz“ ist ein umfassendes Projekt. Das Etikett soll wohl so etwas wie
einen neuen Grundbegriff für die Soziologie bereitstellen. Der Begriff wird sich
wohl zugleich (als „Resonanzgesellschaft“) in die Reihe jener Etiketten einreihen,
mit denen sich die Spätmoderne selbst (mehr oder weniger erfolgreich) zu Leibe
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zu rücken pflegt. Worum geht es im Leben: Sinn? Erlebnis? Glück? Rosa meint:
Die Menschen wollen „Resonanz“. Das klingt origineller, als es ist; denn man wird
von Hartmut Rosa daran erinnert, dass der Begriff in der Sozialpsychologie recht
üblich ist und auch anderweitig schon verwendet wurde; die Begriffe „Gestimmtheit“ oder „Responsivität“ meinen Ähnliches. Doch Rosa hat den Begriff soziologisch enorm ausgeweitet.
Resonanz bedeutet: eine gelingende Weltbeziehung, Verbundenheit mit und
Offenheit gegenüber anderen Menschen und Dingen (53), eine andere, zufriedenstellende Art des In-der-Welt-Seins; im „Einklang“ sein mit sich und der Welt.
Rosa überzieht die Metapher ein wenig: Ich und die Welt, das soll ein „rhythmisches Aufeinandereinschwingen“ sein (55); und er meditiert über die technologisch-physikalischen Ähnlichkeiten solcher Schwingungen. Das ist überflüssig.
Gegenstück ist jedenfalls die Repulsion: Die Welt fühlt sich feindselig an. Sie
antwortet nicht mehr. Man hat keine innere Beziehung zu ihr. Man fühlt sich
fremd, ausgestoßen, abgelehnt. Im modernen Vokabular würden viele sagen:
„Exklusion“. – Die Welt wird demgemäß zwischen den beiden Kategorien Attraktion und Repulsion aufgespannt. Auf der einen Seite haben wir die Orientierung
auf Vernunft, Instrument, Rationalität, Berechnung, Fixierung, Kontrolle und
Effizienz bzw. (schon stärker wertend und ins Zeitdiagnostische driftend) auf
Ressourcenverbrauch und Steigerungslogik, auf Wachstum und „Tretmühle“ –
das ist die negative Seite, sie trägt zur Resonanz nicht bei, ja, verhindert sie. Die
andere Seite sind positive Weltbeziehungen auf den Resonanzachsen: Wohlgefühl, Beheimatung, Einbettung, Zuhause-Sein, gelingende Beziehung, Zufriedenheit; also das fundamentale Gefühl: Im Grunde, alles in allem, ist die Welt in
Ordnung.
In der Spätmoderne haben wir möglicherweise ein Problem auf beiden Seiten
der Weltbeziehung: bei der Person und bei der Welt. Einerseits wird die stabile
Identitätsbildung schwierig – wie sollte das unter diesen Umständen (es fällt
einem ein: Patchwork-Identität, Identitäts-Stress, Narzissmus und so weiter) auch
anders sein? Andererseits wird die Welt so chaotisch, „dass in der Kakophonie
keine Frequenz oder Stimme auszumachen ist, welche einen ‚Anspruch‘ zu erheben vermöchte oder ein Resonanzverhältnis aufzubauen erlaubte“ (192) (und es
fällt einem ein: Unübersichtlichkeit, Liquidität, Postmoderne, Hybridität, Nihilismus und so weiter).
Freilich ist die Resonanz-Kategorie schwer definierbar. Jemand fühlt sich gut
dabei, wenn eine Welt gestaltet ist, in der seine wesentlichen Werte verwirklicht
sind – denn das Gegenteil wäre schwer vorstellbar. Der Selbstinterpretationsprozess wird von starken Wertungen geleitet, und diese sind es, „welche die Beziehung zwischen den Subjekten und der Welt [...] bestimmen, weil sie definieren,
worauf es jeweils ankommt und damit welche Bedeutung und Relevanz die Dinge
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und insbesondere die Seins- und Handlungsmöglichkeiten haben“ (226f.). „Resonanzerfahrungen [...] stellen sich (nur) in Weltbegegnungen ein, bei denen starke
und schwache Wertungen (oder Bewertung und Begehrung) momenthaft übereinstimmen bzw. wo beide Dimensionen unseres normativen Bezogenseins zugleich angesprochen werden und sich in einer Balance befinden“ (231). Vielleicht
gehört es aber zur Weltauffassung eines bestimmten Akteurs, dass er gerne die
Juden liquidieren oder Muslime vertreiben würde. Dann würde er sich mit Pogromen recht wohlfühlen. Aber da weiß der Autor, dass dies eben nicht das „richtige“
Resonanzgefühl wäre, sondern dass es sich in Wahrheit, obwohl die Akteure es
selbst nicht wissen, um einen Ausdruck von Repulsion handelt. Es ist die interaktive, kooperative Wertrealisierung und Weltgestaltung, die allein als „resonant“ zählen darf. Damit wird Resonanz unversehens zu einer schwer fassbaren
Angelegenheit, weil die Realisierung der eigenen Werte des Beobachters jeweils
in die Resonanzkategorie hineindefiniert werden kann, während die Realisierung
anderer Werte, die für einen mitteleuropäischen Intellektuellen unerfreulich sind,
als Repulsion kategorisiert wird, obwohl das die handelnden Personen nicht
wissen und nicht in dieser Weise empfinden. Schließlich kann man auch beim
Blick auf ein paar Jahrhunderte europäischer oder globaler Geschichte annehmen, dass es verschiedene Resonanzkonzepte gegeben haben mag – nicht in dem
Sinne, dass die Menschen nicht immer nach Resonanz begierig waren, wohl aber
dürften sie unterschiedliche soziale Gegebenheiten als „resonant“ erfahren haben.
Das Problem, in welcher Weise Resonanz mehr sein kann (oder soll) als die
Konstatierung des Wohlfühlens von Individuen, scheint mir nicht ganz gelöst.
Rosa würde sagen: Es geht um positive Interaktion, um das Ernstnehmen des
anderen, um Respekt und Anerkennung – nur in diesem Falle handelt es sich um
Resonanz, deshalb ist Resonanz beim Vorliegen von Menschenvernichtung oder
-vertreibung nicht gegeben. Aber in dieser Forderung steckt natürlich schon
wieder europäische Befangenheit, die nicht akzeptieren kann, dass sich jemand,
der Ungläubige „vernichtet“, im Einklang mit seinem Gott und seiner Aufgabe in
der Welt fühlen kann.
Das Romantische
Hinter der „Resonanz“ steckt ein romantisches Projekt. Es ist jene Romantik, wie
sie schon immer als Aufklärungskritik gegenwärtig war, wie sie im deutschen
Idealismus vorhanden war und im frühen 19. Jahrhundert entfaltet wurde, wie sie
sich auch bei Marx findet, bei den romantischen Elementen im Faschismus, auch
bei Adorno und Horkheimer, in der grün-alternativen Bewegung und bei man-
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chen gegenwärtigen Bestsellerautoren aus der Wirtschaftssoziologie – und wie sie
genau genommen bei allen Klassikern schon gegenwärtig ist. Deshalb kann
Hartmut Rosa auch einen Streifzug durch die ganze Soziologiegeschichte unternehmen. Und er hat schon Recht, dass es angemessen ist, das Bewusstsein der
beiden Komponenten, die einander konterkarieren oder ergänzen, wieder zu
betonen: Es ist ein Unterschied zwischen der Weltbeherrschung und der Weltanverwandlung. Rosa packt diese ganze Ideenschiene, die in unterschiedlicher
Begrifflichkeit abgehandelt worden ist, in seinem Resonanzbegriff zusammen,
und das hat seine Plausibilität – und es bedeutet ja nicht, dass Herder insgesamt
mit Marcuse gleichgesetzt wird.
Weltbeherrschung ist instrumentelle Vernunft, oft gekoppelt mit Kategorien
wie Verdinglichung oder Entfremdung, und es muss gegen manche Gefühligkeit
betont werden, dass uns diese instrumentelle Vernunft ein großartiges Leben
beschert hat: lange Lebenserwartung, haltbare Hüftgelenke, Buchdruck, Antibiotika, Smartphones. Rosa will diese Vorzüge nicht leugnen; aber die „Resonanz“
stellt eben die Frage nach dem guten oder gelingenden Leben. Das „gelingende
Leben“ erschöpft sich nicht in soliden Zahnplomben und Nike-Sportschuhen. Die
Frage ist in den Sozialwissenschaften ein wenig unmodern geworden, sie wurde
einerseits an die Philosophie, andererseits an die Psychologie abgetreten, und
wenn sie in diesen Disziplinen hin und her gewälzt wird, interessiert sich das
„Publikum“ für solche Überlegungen. Den SoziologInnen ist die Frage irgendwie
peinlich geworden, obwohl viele von ihnen mitten im Lob der „Wertfreiheit“ die
ungeniertesten Werturteile äußern, während die Frage des „Gelingens“ den Menschen „da draußen“ ziemlich wichtig ist. Solche Diskrepanzen könnten den Verdacht erhärten, dass die Soziologie für das Weltverständnis jenseits der eigenen
ZunftgenossInnen weniger anbietet, als sie es könnte. (Neuerdings wird das
wieder einmal unter dem Titel „public sociology“ diskutiert.) Rosa ist näher am
Puls der Zeit.
Das Zeitdiagnostische
Die „Resonanz“ ist ein zeitdiagnostisches Projekt, weil die zahlreichen Beispiele,
an denen Hartmut Rosa seine Überlegungen erläutert, aus dem Leben, aus
diesem, dem spätmodernen Leben gegriffen sind. Und natürlich knüpft die Resonanz an den von ihm bereits ausgiebig erörterten Befund allgemeiner Beschleunigung an und baut diese in ein größeres Gebilde ein. Weltanverwandlung braucht
Zeit, Kontinuität, Gewöhnung; und Beschleunigung verhindert sie. In der Spätmoderne entsteht deshalb eine bewusste Entfremdung von den Dingen: „Sie dürfen
uns nicht berühren, sonst könnten wir sie nicht mehr entsorgen und ersetzen, und
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sie vermögen uns nicht mehr zu berühren, weil für den Prozess der Anverwandlung nicht genügend Zeit zur Verfügung steht“ (392). Das Problem resultiert aus
einem grundsätzlichen Dilemma: Die Moderne kann sich nur dynamisch stabilisieren, und ihr kulturelles Programm zielt auf Reichweitenexpansion. In meiner
Formulierung: more growth, more choice, no limits. Aber mit dem Wachstum funktioniert es nicht mehr gut; übertriebene Wahlmöglichkeiten sind belastend; die
Fiktion von Grenzenlosigkeit ist dumm. Ich wüsste nicht, wie man Rosas Befund,
dass dieses Dynamik-Konzept langfristig nicht funktionieren kann, widersprechen sollte.
Man mag freilich die zentrale Perspektive des Buches nicht unbedingt als
große Neuheit empfinden. Das ist seit Jahrhunderten ein Thema. Aber es ist –
gerade im Blick auf den Soziologiebetrieb – keineswegs überflüssig, die beiden
Stränge in Erinnerung zu rufen: einerseits all das Rational-Technisch-Instrumentelle, das uns Lebensstandard und Lebenserwartung beschert hat, andererseits
das Romantisch-Emotionelle, jene Komponenten, die in der „vernünftigen Soziologie“ oft als „Residuen“ abgetan werden. Die Soziologie hat einen bias: Sie
versteht sich selbst als aufklärerisch, als Wissenschaft muss sie das auch sein –
aber es scheint ihr der Sinn für die erwähnten Gestimmtheiten und Stimmungsbedürfnisse ihres Objekts weithin verloren gegangen zu sein. Auch emotional turn
oder affective turn oder sonstige Turnereien helfen nicht viel. Ebenso wenig ist es
hilfreich, in postmodern-dekonstruktivistischer Perspektive alles nur in Fluktuierend-Widersprüchlich-Hybrides aufzulösen und das großartig zu finden. Das lässt
sich genießerisch feuilletonisieren, aus der Perspektive des gesicherten Seminarraumes; aber die Menschen, mit denen sich die Soziologie beschäftigen soll,
reagieren auf den Ratschlag, sie sollten doch das Chaos, in dem sie letzten Endes
ihre Jobs verlieren, wunderbar finden, nicht immer mit Begeisterung. Rosa ist da
näher an der empirischen Wirklichkeit als andere.
Das Normative
Hartmut Rosa hat nun ein Problem, das man aus öffentlichen Vorträgen gut
kennt. Die Anfrage nämlich, die lautet: Herr Rosa, das war ja eine durchaus
überzeugende Analyse, aber wo bleibt ihre Lösung? Was sollen wir tun? Die
meisten Menschen sind nicht damit zufrieden, dass man sich auf die wissenschaftliche Analyse zurückzieht und darüber hinaus auf „Politik“ oder „Gesellschaft“ verweist (was immer auch damit gemeint sein mag), vielleicht gar sich mit
Verweis auf Wissenschaftlichkeit der Antwort entschlägt. Doch Rosa hätte sich
besser vor der Beantwortung der Frage drücken sollen, wenn man einen Blick in
sein Kapitel XV wirft. Seine erste Lösung: Wirtschaftsdemokratie – was immer er
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sich darunter vorstellen mag, vielleicht so etwas wie die zusammengebrochene
jugoslawische Rätedemokratie. Da könnte man sich bei einschlägigen Studien
kundig machen, warum das Modell schiefgelaufen ist. Zweitens Verstaatlichung
der zentralen Infrastruktur, einschließlich der Banken. Da müsste man wohl mehr
an Analyse beibringen. Drittens ein garantiertes, voraussetzungsloses Grundeinkommen. Immerhin soll dieses durch eine globale Erbschaftssteuer finanziert
werden, eine Forderung, die sicherstellt, dass wir uns die nächsten hundert Jahre
darüber den Kopf nicht mehr zerbrechen müssen. Und viertens ein neues Politiksystem, von dem er (mit Recht) hinzufügt, dass er sich selbst darunter nichts
vorstellen kann. Kurz und gut: Das Kapitel hätte man weglassen können, es wirkt
nach den vielen subtilen Erörterungen recht hanebüchen. Zudem betreffen die
Vorschläge meines Erachtens eher die rationale Seite der Gesellschaft, also jene
Leistungs- und Gewährleistungsfähigkeit der modernen Gesellschaft, die überhaupt nicht das Aufleben von Resonanz garantiert – schließlich wurde schon ein
paar hundert Seiten vorher festgestellt, dass die Resonanz durch Unverfügbarkeit
gekennzeichnet ist (295). Die Wahrheit ist: Wir haben keine Ahnung, was zu tun
wäre; und ein paar flauschige Utopieelemente tun es nicht.
Das Handwerkliche
Das Resonanzbuch setzt bei klassischen Fragestellungen an, aber es hat einen
großen Vorzug: Es rekonstruiert nicht noch einmal systematisch alle Klassiker,
um sie (wie nicht ganz unüblich) für die eigene Theorie geschmeidig herzurichten.
Natürlich müssen sie alle durchdekliniert werden, Kierkegaard, Nietzsche, Durkheim, Lukacs; Webers Rationalisierung und Simmels Blasiertheit, Fromms Konformismus und Honneths Respektproblem. Doch Rosa geht in den ersten Kapiteln
geradewegs auf die eigene Frage und die eigene Antwort los, und die großen
Geister kommen erst an passender Stelle ins Spiel, um das Argument zu stützen.
Tatsächlich ist das Resonanz-Argument ja so weit gefasst, dass sich wirklich alle
schon einmal mit Ähnlichem befasst haben. Rosa bedient sich aber auch aus
anderen Materialien: aus der Sekundärliteratur; aus aktuellen Publikationen aus
Nachbarfächern wie Psychologie und Neurowissenschaft; er sammelt Findlinge
aus dem alltäglichen Sprachgebrauch, durchaus passend, wenn man meint, dass
Redewendungen und Sprachgebrauch nicht völlig aus der Luft gegriffen sind,
sondern dass die Sprache etwas mit dem Leben zu tun hat; er greift auf fiktive
Literatur zurück, aber auch auf Texte aus der Gebrauchskultur, etwa aus Punk,
Rock, Heavy Metal. Das ist ebenso erhellend wie amüsant, und Rosa gehört
erfreulicherweise in die Gruppe jener Soziologen, die keine sprachästhetischen
Analphabeten sind.
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Wir wissen jedoch auch, dass in den Sozialwissenschaften immer alles mit
allem zusammenhängt, sodass man sich gedanklich bei einigem Einfallsreichtum
immer weiterturnen könnte. Irgendwann muss man die Stopptaste drücken. Ab
dem Kapitel XII wird es ohnehin schon ein bisschen zettelkastenartig, und möglicherweise wäre es insgesamt ein wenig kürzer gegangen als mit 800 Seiten – auch
die „Beschleunigung“ hat uns seinerzeit ja schon einen „Ziegel“ von fast 600
Seiten beschert. Wir nehmen mit Demut zur Kenntnis, dass Hartmut Rosa im Zuge
der Produktion dieses Buches ohnehin ein paar zu lang geratene Kapitel in
kürzere Einzelbücher ausgekoppelt hat. Doch wenn wir erwartungsvoll dem
nächsten Buch entgegenblicken, wäre der Autor doch zu fragen: Könnten wir uns
vielleicht dann auf 400 Seiten einpendeln? Man hat es auch nach dieser Strecke
bereits verstanden.
Das Anwendbare
Die „Resonanz“ ist ein zeitgemäßes Buch, der Resonanzbegriff trifft existenzwichtige Verhältnisse und Stimmungen der Gegenwart. Ich möchte deshalb ein Beispiel skizzieren, welches Rosa selbst nicht durchspielt: die links- und rechtspopulistischen Strömungen in Europa, Brexit, Trumpismus. Die Welt scheint aus
den Fugen zu geraten. Man kann über den Niedergang der amerikanischen Industrie reden, auf Einkommenspolarisierung verweisen, auf Enttäuschungen dieser
oder jener Art – aber man tut sich schwer, wenn man ähnliche Phänomene in
Polen und in den USA, in Griechenland und in Großbritannien zu erklären hat.
„Resonanz“ ist zumindest eine Chiffre, die besser zu passen scheint als die „Verkrustung des politischen Establishments“. Empfinden die Menschen ein Resonanzdefizit, welches durch die Migrationssituation verstärkt wird? Können wir –
mit Rosas Hilfe – ein paar Argumente in diese Richtung betrachten?
Man kann den „europäischen Verdruss“, die um sich greifende pauschale
Aversion gegen Politik, die den Aufstieg autoritärer Parteien befördert, auch die
amerikanische Krise, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Wahl einer skurrilen
Gestalt gefunden hat, plausibel als „Resonanzproblem“ schildern, wenn man
empirische Befunde besichtigt, also aktuelle Diskurse, Plakate, Äußerungen,
Bilder. Die Leute haben erstens das Gefühl, dass ihre Wertewelt in Konfusion
geraten ist. In der turbulenten Welt ist nicht nur der schützende normative
Baldachin hinweggetragen worden, viel schlimmer: Nichts gilt mehr. Man weiß in
konkreten Situationen und Problemlagen nicht mehr, was man meinen soll und
sagen darf (nicht einmal zwischen den Geschlechtern). Zweitens empfinden die
Menschen einen Verlust von Gemeinschaftlichkeit, Heimatlichkeit, Zugehörigkeit
und Normalität: Alles löst sich auf. Das vertraute Ambiente verschwindet, man
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befindet sich in einer „fremden“ Welt, in der man steigenden Aufwand betreiben
muss, um nur den Kopf über Wasser halten zu können. Drittens ist die Welt
unüberschaubar-komplex geworden: Man kennt sich nicht mehr aus. Alles, was
zu regeln ist, verheddert sich in Gesetzen und Bürokratien. Jede Expertise hat eine
Gegenexpertise. Die „Welt der Selbstverständlichkeit“ wird zu einer Welt der
allseitigen Irritationen. Viertens schwinden damit auch die (handfesten und
gefühlten) Sicherheiten: Fortschritt wackelt. Jobs sind unsicher. Pension ist unabsehbar. Wirtschaftskrise kann jederzeit durchschlagen. Terror droht. Die
Flüchtlingskrise wirkt in allen diesen Bereichen als Katalysator: Welche Werte?
Immer mehr Fremde in der Gemeinschaft? Noch ein Komplexitätszuwachs? Zusatzaufwand zu unseren Lasten?
Genau diese Konstellation kann man als „Resonanzverlust“ bezeichnen: Da
ist rundherum nur noch Chaos, in dem man sich selbst nicht mehr finden oder
verorten kann, in dem es keine Haltepunkte mehr gibt, in dem alle Vertrautheiten
dahinschwinden: Werte, Gemeinschaft, Durchblick, Sicherheit. Eine Zeitlang
kann dieses Vakuum durch Wohlstands- und Fortschrittsversprechen übertüncht
werden – aber auch dieses Versprechen wankt in diesen Jahren und lässt die
aufgeschobene Verunsicherung „hochkochen“. Die Autoritären (ob in Regierung
oder Opposition) versprechen nun die einfachen Lösungen für diese Komponenten: (1) „Unsere“ (europäischen, nationalen) Werte müssen wieder gelten. Wer
das infrage stellt, soll „heimgehen“. Ausweisen. Deportieren. (2) „Unsere“ Heimat
muss wieder uns gehören. Wir lassen uns das nicht wegnehmen. Grenzen dicht
machen. Mauern bauen. (3) „Unser“ starker Führer wird alle Gordischen Knoten
durchschlagen und den Weg weisen. Arbeitsplätze heimholen. Männer stärken.
(4) Mit politischer „Durchschlagskraft“ (und wenn man erst die Ausbeuter, Unterhöhler und Abzocker hinausgeworfen haben wird) wird man die alte Sicherheit
wiederherstellen. Das Land stark machen. – Dass diese Versprechungen illusionär
sind, ist nicht von Belang. Aber wenn man diese Situation resonanztheoretisch
interpretiert, dann ist sie nicht zu lösen durch die üblichen Ratschläge: Man muss
„es“ den Menschen besser erklären. Man muss die Vorteile Europas herausstellen.
Man muss die heimische Arbeitslosigkeit senken und Einkommenspolarisierung
vermeiden. Das alles ist nützlich, spielt aber auf der anderen Achse, der Achse
moderner Rationalität. Es löst nicht das Problem, dass sehr viele Menschen das
Gefühl haben, in dieser Welt fremd geworden zu sein. Die Fremdheit produziert
Angst und Wut. Sie schlagen um sich, auch wenn sie sich dabei selbst verletzen.
Es geht um Weltbild, Weltsicht, Lebensweise.
Es sei eingestanden: Ich habe keine Lösung für das Problem. Auch Hartmut
Rosa hat keine Lösung für das Problem. Aber wir können das Modell der Resonanz, das er in aller Umfassendheit und Vagheit dargestellt hat, auf das beherrschende Politikthema der Gegenwart gut anwenden. Das spricht für das Buch.