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INHALT
EDITORIAL
129
AUFSÄTZE
130
Tabea Lurk: Zwischen Wissensrepräsentation und Wissenslücke?
130
Joachim Kemper, Jörg Fischer, Katharina Hasenfratz, Thomas Just, Jana Moczarski und Andrea
Rönz: Archivische Spätzünder? Sechs Web 2.0-Praxisberichte
136
Janusch Carl und Andreas Rutz: Bits und Bytes statt Pergament und Papier? Das digitale Historische
Archiv Köln und die Zukunft des Kölner Stadtarchivs im Web 2.0
143
Philipp Müller: Die fehlende Eingabe. Zur Geschichte der Archivbenutzung und ihrer Regulierung
im 19. Jahrhundert
153
ARCHIVTHEORIE UND PRAXIS
160
Ein EAD-Profil für Deutschland. EAD(DDB) als Vorschlag für ein gemeinsames Austauschformat deutscher Archive . Die
Archive der Mitglieder des Westnordischen Rates am Beispiel von Färöer und Island . Stasi-Karteien. Eine Herausforderung
nicht nur für den Historiker . Neue Norm DIN ISO 16245 für Verpackungen erschienen
TAGUNGSBERICHTE
170
Usability of the archives of the International Tracing Service (ITS) . Lebendige Vergangenheit. Der landeskundlich-historische
Film im Archiv . „Digital Preservation Summit 2011“ . Digitale Registraturen – Digitale Archivierung. 16. Archivwissenschaftliches
Kolloquium der Archivschule Marburg . Zwischen Literaturbetrieb und Forschung . 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung
von Unterlagen aus digitalen Systemen“ in Ludwigsburg . Archivierung von geographischen Informationen im digitalen Zeitalter
LITERATURBERICHTE
189
MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES LANDESARCHIVS NRW
205
Was gehört in ein EAD-Profil für Archivportale?
205
Stand und Perspektiven des Portals „Archive in NRW“ nach dem Relaunch
208
MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA
210
„Nichtamtliche Überlieferung“: 14. Brandenburgischer Archivtag 2011
210
82. Deutscher Archivtag Köln (26. bis 29. September 2012)
211
SPA-Tagung in Weimar
212
PERSONALNACHRICHTEN
214
NACHRUFE
218
KURZINFORMATIONEN UND VERSCHIEDENES
221
VORSCHAU/IMPRESSUM
223
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
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EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Digitalisierung der Welt hat das Meer der Information in einen reißenden Ozean verwandelt. Die Archive (jedenfalls die meisten von
ihnen) wissen inzwischen, dass sie untergehen werden, wenn sie versuchen, in diesem Ozean an ihrer Position zu verharren. Sie haben
deshalb (mehr oder weniger mutig) ihre Segel nach dem Wind gestellt und Fahrt aufgenommen auf der Reise in die virtuelle Welt.
Das vorliegende Themenheft versucht eine exemplarische Bestandsaufnahme. Am Anfang stehen grundsätzliche Überlegungen von
Tabea Lurk, die aus medientheoretischer Perspektive die Referenz- und Vernetzungsstrukturen bei archivischen Erschließungsinformationen einerseits und im Internet (vor allem im Web 2.0) andererseits miteinander vergleicht. Nicht alle archivischen Informationen sind
in der ursprünglichen und fachlich gebotenen Struktur webfähig. Hier liegt sicher ein Grund, warum der ein oder andere Archivkapitän
das Meer der virtuellen Information momentan noch eher mit der kleinen Jolle als mit dem mächtigen Fünfmaster beschifft. Welches
Potential die Öffnung gegenüber dem Internet in seinen neuesten Ausbaustufen bietet, zeigen sechs Fallstudien zur archivischen Nutzung von sozialen Netzwerken. Die Präsenz in Facebook – oder anderen Netzwerken – führt, richtig genutzt, zu einer Verbesserung der
Öffentlichkeitsarbeit und Außenwahrnehmung der Archive; der Aufwand dafür ist überschaubar. Was es bedeutet (oder bedeuten kann),
das Prinzip des Web 2.0 über die Öffentlichkeitsarbeit hinaus auch in Kernbereiche archivischer Arbeit voranzutreiben, zeigen Janusch
Carl und Andreas Rutz am Beispiel des digitalen Historischen Archivs Köln (DHAK). Mit etwa 260.000 Archivgutdigitalisaten, die
inzwischen von Nutzerinnen und Nutzern in das Projekt eingebracht wurden, und einem virtuellen Forschungsnetzwerk ist das DHAK
ein Pilotprojekt im Bereich der – kollaborativen – Archivarbeit im Internet und zugleich ein Testfall, auf dessen Grundlage sich Chancen
und Grenzen einer inhaltlich weiterführenden Nutzung des Web 2.0 für die Archive insgesamt besser prognostizieren lassen.
Auf ihrer Reise in die virtuelle Welt haben die Archive sicher noch ein großes Stück Weg vor sich. Sie werden diesen Weg leichter
zurücklegen, wenn sie kooperieren und ihre Strategie abstimmen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist jetzt vollzogen mit der
Entwicklung eines national einheitlichen EAD-Austauschformats für Erschließungsinformationen für das geplante „Archivportal-D“ im
Rahmen der „Deutschen Digitalen Bibliothek“ (DDB). Das Proil wird im vorliegenden Heft erstmals vorgestellt.
Wie lange es letztlich dauert, bis alle archivische Information, Erschließungsdaten und das Archivgut selbst in digitale Formen überführt, online abrufbar und vielleicht im Sinne des Web 2.0 auch interaktiv nachnutzbar und kommentierbar ist, lässt sich gegenwärtig
nicht absehen. Die Vision, dass im Jahr 2100 diese Aufgabe geleistet sein wird, galt bis vor Kurzem als ambitioniert. Unter Ressourcengesichtspunkten ist sie es auch. Betrachtet man allerdings die Dynamik der technischen Entwicklung und vor allem die rasante Veränderung der archivischen Nutzererwartungen, dann dürfte sich womöglich die Zukunft der Archive in der virtuellen Welt schon auf eine
viel kürzere Frist entscheiden.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.
Diefenbacher,
Herzlichst, Andreas Pilger, Michael
ch
us, Ulrich Soénius und Martina Wie
Clemens Rehm, Wilfried Reiningha
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
130
AUFSÄTZE
ZWISCHEN
WISSENSREPRÄSENTATION
UND WISSENSLÜCKE?
von Tabea Lurk
Der folgende Text betrachtet aus einer medientheoretischen, also
nicht archivinhärenten Perspektive Prozesse bei der Bereitstellung
archivarischer Ressourcen im Internet und vergleicht diese mit
wissensorientierten Nutzungsformen im Netz, die gewöhnlich
mit Stichworten wie „Web 2.0“ oder „social media“ assoziiert
werden. Nach einer knappen Einstimmung, die gezielt zwei
nahezu gegensätzliche Erfahrungen zweier anerkannter Archive
im Umgang mit Wikipedia referiert, rücken Nutzungsformen
und Kontextualisierungsstrategien in den Vordergrund, welche
teilweise automatisiert in digitalen Arbeits- und Forschungsumgebungen angewandt werden. Von besonderem Interesse ist dabei
die – bisher höchstens fragmentarisch zu beantwortende – Frage,
was mit Informationen auf dem Weg zum Wissen passiert; wie
also Aufwertungs-, Memorierungs- und Vermittlungsmechanismen konkret funktionieren.
RÜCKBLENDE
Anlässlich der Konferenz „INS NETZ GEGANGEN. Neue Wege
zum kulturellen Erbe“ stellte Oliver Sander, der Leiter des Referats B6 (Bildarchiv) des Bundesarchivs (BArch),1 Mitte November
2011 in der Deutschen Kinemathek zu Berlin ein Kooperationsprojekt zwischen dem BArch und der Wikimedia vor,2 bei dem
zwischen 2008 und 2010 ca. 100.000 historische Fotograien des
BArch der Wikimedia zur Verfügung gestellt wurden.3 Unter
dem Titel „Irrwege im Netz?“ geriet dabei der Verkauf von ca.
3.000 Fotograien durch einige Nutzer (Täter) ins Visier. Die
Themenwahl war vermutlich von den Organisatoren der Tagung
gewünscht worden, denn alle Beiträge dieser Nachmittagssektion haben – die anglo-amerikanische Tradition der Erfolgsgeschichte invertierend – über das Scheitern oder zumindest die
Schattenseiten bei der Bereitstellung von digitalem Archiv- und
Kulturgut im Internet berichtet. Bereits im Konzept zur Tagung
hieß es: „Unstrittig ist, dass das Netz, ursprünglich ein Zwitter
aus Wissenschaft und Militärstrategie, eine Dynamik entwickelte,
welche inzwischen in die Bereiche der Ökonomie und der Kultur
eindrang, sie iniltrierte.“4
Eine andere Kooperation zwischen Wikipedia und dem Staatsarchiv Sigmaringen des Landesarchivs Baden-Württemberg hat
Franz-Josef Ziwes im Archivar (2010/2) vorgestellt. Hierbei wurARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
den Personeneinträge der Wikipedia zur Bewertung von Personalakten im Rahmen der Übernahmekassation hinzugezogen. Wie
Ziwes schreibt, bringe zwar „[d]er Zettelkasten eines Historikers,
der sich für eine bestimmte Zeitschicht einer bestimmten Region
interessiert, […] zwangsläuig andere Ergebnisse als das elektronische Fachverfahren einer staatlichen Bibliotheksverwaltung
oder gar die Personenartikel einer digitalen und vernetzten ‚Free
Content’-Enzyklopädie, die tagtäglich von tausenden Autoren
weltweit unabhängig voneinander verändert und erweitert“
werde, hervor, aber die Kombination bewährter archivarischer
Methoden mit neuen Wissensquellen berge auch ein nicht zu
unterschätzendes Potenzial. So kommt Ziwes weiter zu dem Ergebnis: „Der digitale Abgleich kann die archivfachliche Vorbereitung und Umsetzung der Bewertung nicht ersetzen. Er kann sie
aber nachhaltig unterstützen.“5
Wie die beiden Beispiele zeigen, erscheint es wenig sinnvoll,
pauschal über das Verhältnis von „klassischem Archiv“ und „dem
Internet“ oder Web 2.0-Phänomenen zu sprechen;6 erst eine Nahsicht auf konkrete Anwendungen und Nutzungsverhältnisse weist
Chancen und Risiken bei der Bereitstellung archivarischer Ressourcen im Internet oder der Nutzung webbasierter Wissensquellen im Kontext archivarischer Arbeitspraktiken aus.7 Wenn der
folgende Text dennoch eine medientheoretische Warte einnimmt,
möchte er weder berichten noch zu konkretem Handeln motivieren. Er interessiert sich vielmehr für jene grundlegenden Analogien und Differenzen, die sich im Spannungsfeld zwischen dem
Archiv, als einem tradierten Wissensspeicher und Repräsentanten
klassischer Wissensordnungen, und kollaborativen Phänomenen
und Prozessen im Internet entfalten. Dabei rücken vor allem jene
Mechanismen in den Blick, durch die Inhalte auf dem Weg zum
Wissen in sog. Web 2.0-Angebote generiert, vernetzt, aufbewahrt,
(re-)kontextualisiert und, wie die jüngere politische Praxis zeigt,
mitunter zäh verhandelt werden.8
Im Folgenden geht es entsprechend um die mediale Semantik
von netzbasierten Kommunikationsprozessen, deren Wissensgenerierung Analogien zu archivarischen Arbeitsschritten aufweist.
Denn heute stellt sich nicht mehr so sehr die Frage, wie Archivalien „ins Netz“ eingebracht werden können und warum dies
sinnvoll oder notwendig scheint.9 Sondern es geht eher darum,
wie nachhaltige Qualitäts- und, sagen wir einmal, präventive Res-
131
Stadtarchiv Karlsruhe: Einbettung von Archivalien im
Online-Findbuch (Kapitelübersicht).
Neben der hierarchischen Navigation über das Register des
Online Findbuchs besteht die Möglichkeit zur Volltextsuche
oben rechts.
pektsicherungen für archivarische Ressourcen und tradierte Wissensrepräsentationen im Web 2.0 aussehen können. Denn gemäß
dem Phasenraster zur Internetnutzung, das der Historiker Peter
Haber entwickelt hat, gilt unser besonderes Interesse jener letzten
(aktuellen) Phase, die sich durch eine „konsequente Nutzung von
Hypertext, Multimedia und Interaktion“ auszeichnet.10
SOCIAL MEDIA ZWISCHEN DISTRIBUTION, APPLIKATION UND NUTZUNG
So sehr die Rede vom Internet als einem weitgehend „freien“ und
„offenen Raum“ auch suggeriert, dass Wissen, Information(en)
und deren digitale Repräsentationen quasi unkontrollierbar im
abstrakten Datenraum luktuierten, so verkürzt erweist sich diese
Vorstellung bei näherer Betrachtung. Denn zunächst einmal
besitzen Inhalte und Informationen stets eine exakte Adresse
(URL) und sind als Objekte mithin (ein-)eindeutig lokalisierbar.
Ferner treten Archivalien stets in speziischen Rahmungen, d. h.
eingebettet in klar deinierten Kontexte auf – seien es nun institutionsspeziische Websites, Archiv-Repräsentationen bei externen
Web-Services (z. B. Facebook) oder auch als Einzelobjekte in
einem extern bereitgestellten Narrativ eingebettet (z. B. einem
Wikipedia-Artikel).11
1
2
3
4
5
6
7
8
Rahmung und Objektidentität
Während äußere Rahmungen Archivalien – nicht nur im WebUmfeld – als solche ausweisen und ganz grundlegend zu ihrem
inhaltlichen Verständnis und mithin der späteren Nutzung
beitragen, was innerhalb der Abbildungen exemplarisch anhand
der Einbettung/Repräsentation von Archivalien in ein OnlineFindbuch, ein Online-Stadtlexikon und eine Online-Archivausstellung angedeutet ist, haftet den archivierten Objekten selbst
eine doppelte Identität an.
Zur phänomenologisch wahrnehmbaren Erscheinung als Objekt,
die gleichsam als (audio-) visuell erfahrbarer Oberlächencharakter im (OCRten) Text , im (gescannten/fotograierten) Bild oder
innerhalb metadatentechnisch aufbereiteter Datenpakete (z. B.
einer Statistik) in Erscheinung tritt, kommt bei digital(isiert)en
Archivalien eine zweite Identitätsschale hinzu, die als „digital“
bezeichnet werden könnte. Diese wird automatisch generiert und
kann Angaben zur Herkunft der Archivalie, ihren historischen
9
10
11
Oliver Sander: Das Digitale Bildarchiv des Bundesarchivs. In: Archivar 61
(2008) H. 1. S. 20-25.
Der Beitrag kann auch auf YouTube angesehen werden. Vgl. NN: Ins Netz
gegangen – Dr. Oliver Sander: Die Kooperation des Bundesarchivs mit Wikimedia. Im Internet unter: www.youtube.com/watch?v=zLFp5kEEaCo (aufgerufen am 08.02.2012).
Sander erläutert die Vor- und Nachteile dieser Kooperation detailliert in seinem Archivar-Aufsatz: Ebd.: „Der Bund mit Wiki“ – Erfahrungen aus der
Kooperation zwischen dem Bundesarchiv und Wikimedia. In: Archivar 142
(2010) H. 2. S. 158-162.
Paul Klimpel: Ins Netz gegangen – Neue Wege zum kulturellen Erbe. Eine
Konferenz des Internet & Gesellschaft Collaboratory, der Deutschen Kinemathek, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Wikimedia Deutschland
am 17. und 18. November in Berlin. Im Internet unter: ins-netz-gegangen.org/
konzept/ (aufgerufen am 08.02.2012).
Franz-Josef Ziwes: Wikipedia und Co. statt Sisyphus? Konventionelle und
digitale Hilfsmittel zur qualitativen Bewertung von Personalakten. In: Archivar 63 (2010) H. 2. S. 175-178, hier S. 178.
Zur Begriffsbestimmung und Erklärung zentraler Web 2.0-Phänomene vgl.
Peter Haber, Jan Hodel: Geschichtswissenschaft und Web 2.0. Eine Dokumentation, Basel 2011 (=The hist.net Working Paper Series; 2). Im Internet
unter www.histnet.ch/repository/hnwps/hnwps-02.pdf (aufgerufen am
05.03.2012)
Verkürzte Darstellungen degradieren leicht zum polemischen Schlagabtausch. Zwar fördern auch Stimmungsbilder typische Sorgen zu Tage, deren
Befremden die Arbeit von „Archiven an der Schwelle zum Netz“ sichtlich
lähmen kann. Aber sie sagen wenig über jene Schnittstellen aus, die ähnlich
den Eingangsbeispielen zwischen Archiv und wissensorientierter „social
media“ denkbar sind.
Die hier angeführten Beispiele hat der Informatiker Jürgen Enge am Institut
für digitales Gedächtnis der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG) in Kooperation mit Archivpartnern realisiert. Sie wurden gewählt,
weil sie die Arbeit an der Schnittstelle zwischen Archiv und Netz insofern
neutral adressieren, als die Lösungen forschungsgestützte Dienstleistung
jenseits von Eigeninteressen darstellen. Weitere Informationen siehe: www.
hfg.edu/index.php/De:gedaechtnis:projekte (aufgerufen am 19.03.2012).
„Digitale Unterlagen bieten keinen Grund mehr für pessimistische oder
euphorische Zukunftsvisionen, sie werden ebenso nüchtern wie ihre konventionellen Geschwister bewertet, übernommen und archiviert.“ Christina
Keitel: Digitale Archivierung beim Landesarchiv Baden-Württemberg. In:
Archivar 63 (2010) H. 1. S. 19-26, hier S. 26.
Peter Haber beschreibt die erste Phase als eine der Informationsbeschaffung
(bis Mitte der 1990er Jahre). Es folgt die Nutzung des Internets als Distributionskanal bevor mit dem Web 2.0 die Nutzerinteraktion an Bedeutung
gewinne. Hg. v. Collaboratories. Das Schreiben der Geschichte im Vernetzten
Zeitalter. In: .hist 2006. Geschichte im Netz: Praxis, Chancen, Visionen- Hg. v.
Daniel Burckhardt, Rüdiger Hohls und Claudia Prinz, Historisches Forum
10. 2007. Teilband II, S. 315-318, hier S. 316.
Auch wenn der berühmte Medientheoretiker Lev Manovic in seiner viel diskutierten Abhandlung „Database as symbolic form“ (2001 in Ebd.: The Language of New Media, hier Kapitel 5) – in der Tradition Ernst Cassirer („Philosophie der symbolischen Formen“, 1923-29) und Erwin Panofsky („Die
Perspektive als symbolische Form“, 1927) – erklärt, dass die Produkte der
neuen Medien weniger Geschichten erzählten, als vielmehr Kompilationen
von Objekten darstellten, stellt die Einbindung datenbanktechnisch erfasster
Objekte in übergeordnete Narrative eine der grundlegenden Voraussetzungen für die nachhaltige Überlieferung (historischen) Wissens dar s. u.
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132
AUFSÄTZE
Archivalien des Stadtarchivs Karlsruhe eingebettet in
interaktive Archivkarten, die in Echtzeit aus der Datenbank
generiert werden (http://eaa.hfg.edu/archive). Durch Anklicken einzelner Karten kann die Ressource ausgewählt
und vergrößert auf der Karte sowie im Hintergrund angeschaut werden. Der Pfeil links dient dem Weiterblättern, die
schwarzen Suchkarten (Lupensymbol links) am Ende des
Stapels enthalten vordefinierte Abfragen.
sowie inhaltlichen Kontext sowie ihrer (Bitstream-)Integrität
(Prüfsumme) enthalten.12 Die digitale Identität ist daher für die
spätere Bestimmung der Authentizität des Objektes von Bedeutung. Hinzu kommt, wie Christian Keitel, Referatsleiter und stellv.
Abteilungsleiter des Landesarchivs Baden-Württemberg betont:
„Digital übernommene Archivalien erfordern […] eine höhere
Datensicherheit und andere Prozesse zum Erhalt der Authentizität als vom Archiv vorgenommene Scans von ihren analogen
Geschwistern.“13
Neben sicherheitstechnischen Merkmalen zur Authentizitätssicherung oder der Gewährleistung von Revisionssicherheit können bei der Erzeugung der digital generierten Identitätsschale(n)
auch Aspekte berücksichtigt werden,14 wie sie die digitale Quellenkritik vorschlägt.15
Insgesamt zeigt sich, dass neben der Sorgfalt bei der Erfassung
der Archivalien für die spätere Qualitätssicherung vor allem jene
Systematik eine entscheidende Rolle spielt, welche die Struktur der analogen Wissensordnungen ins Digitale überträgt. Im
Idealfall werden die historisch tradierten Sinnstrukturen mit den
digitalen Abbildrelationen so in Einklang gebracht, dass fachspeziische Wissensmuster und das implizite Wissen bereits von der
Erfassungssystematik aufgenommen werden. So kann am ehesten
sichergestellt werden, dass implizite Informationen (z. B. Nachbarschaften, Sequenzfolgen von Archivalien, Rekto- und Verso-Informationen oder auch lose, konvolutsbedingte Zusammenhänge)
als Metadateneintrag explizit gemacht werden. Werden Aspekte
dieses impliziten Wissens beim Transfer vom Analogen ins Digitale nicht abgebildet, treten Wissenslücken auf und die klassische
Ordnungsstruktur droht zu zerbrechen.16
Einbindung archivarischen Ressourcen durch Metatags im
GAMA-Wiki. Resultat siehe: http://wiki.gama-gateway.eu/
index.php/Guided_tour_:_Selected_works_for_visually_impaired_persons.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
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Die hierbei implizit angesprochenen Rahmungen oder Kontextualisierungen können nicht nur dazu beitragen, die Archivalien
in einer webbasierten Umgebung als solche, z. B. innerhalb ihrer
archivarischen Ordnungsstruktur, zu erkennen und tradierte Wissensmodelle zu dechiffrieren, sondern sie können auch Aspekte
der (Vor-)Bildung der Nutzer mit einschließen.17
Dynamische Referenz- und Vernetzungsstrukturen
Aus einem medientheoretischen Blickwinkel fallen im Umgang
mit Archivalien im Netzzusammenhang zwei Tendenzen besonders auf: Erstens werden Archivalien heute immer seltener „fest“
als Objekte (z. B. Image-Datei) in Websites eingebunden, sondern
vielmehr dynamisch aus Datenbanken abgefragt und über DOI
(Digital Object Identiier) identiiziert und referenziert, was das
Versprechen der langfristigen Verfügbarkeit beinhaltet. Neben
der (archivarischen) Ressource können auch die beschreibenden
Metadaten direkt aus dem digitalen Findbuch abgerufen werden.
So können Aktualisierungen/Sperrungen etc. ohne Anpassung
der Weboberlächen vorgenommen werden.
Zweitens kommen bei der Einbindung immer häuiger semantisch konnotierte Verknüpfungsverfahren, sog. Metatags,
zum Einsatz, welche Begriffe, Textpassagen oder Objekte nicht
mehr nur graisch, sondern explizit inhaltlich markieren und so
zusätzlich zur reinen Referenz eine semantische Hyperstruktur
erzeugen. Während diese Hyperstruktur bei der Überführung
genuin digitaler Objekte in das Archiv nicht nur weitere Navigations- oder Rechercheoptionen eröffnet und dazu beitragen kann,
Hintergrundinformation wie etwa Begriffsklärungen, klassische
Indizes oder andere semantische Strukturen (z. B. Registratur)
automatisch zu generieren und bereitzustellen, bleibt bei bereits
erfassten Archivalien eine semantische Differenz zwischen der
Ersterfassung und späteren Verwendungszusammenhängen
bestehen.18 Diese Hyperstruktur liegt dabei gleichsam quer zum
eigentlichen Narrativ und kann als Meta-Ordnung den Blick für
jene Nutzungszusammenhänge öffnen, die das Agieren in sozialen Netzwerken ganz grundlegend kennzeichnen.
12
13
14
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16
17
18
Nutzungszusammenhänge und Benutzerinteraktion
Nutzungszusammenhänge und ihr Verhältnis zur Information
können als die grundlegenden Elemente betrachtet werden, die
im Kontext von „wissensorientierter social media“ besonders relevant erscheinen.19 Bereits 2005 hatte Tim O’Reilly in seiner breit
rezipierten Abhandlung „What Is Web 2.0?“ sieben grundlegende
Merkmale hervorgehoben, welche die Nutzungsbedingungen
des sog. Web 2.0 von den früheren Verwendungszusammenhängen des Internets abgrenzen.20 Zentral sind seitdem Aspekte der
Zusammenarbeit (Kollaboration), der gemeinsamen Intelligenz
sowie die wachsende Bedeutung von Information(en) als qualitatives und quantitatives Kapital des Netzes.
Auch im Hinblick auf den archivarischen Kontext erscheinen die
dialogische Verhandlung von Inhalten und die gemeinsame Wissensproduktion bemerkenswert. Zwar mögen einzelne Artikulationsformen, bedingt durch die genutzten Kommunikationsformate
(Wikis, Blogs, Informationsservices, Community-Plattformen
etc.), formal ein Stück weit durch diese Technologien geprägt
sein.21 Dennoch zeichnen sich die im Web 2.0 praktizierten
kommunikativen Prozesse durch ein hohes Maß an Transparenz,
19
20
21
Standards zur Eincodierung entsprechender Informationen in das digitale Archivobjekt sind formatspeziisch und reichen von EXIF und IPTC für
Bildmaterial, ID3 oder ID3v2 für Audiodaten, MPEG-4 Atoms für Videomaterial bis hin zu selbst bestimmten, sichtbaren oder unsichtbaren Wasserzeichen, die allerdings nicht auf AIPs angewandt werden sollten.
Christian Keitel: Digitale Archivierung beim Landesarchiv Baden-Württemberg. In: Archivar 63 (2010) H. 1. S. 19-26, hier S. 23.
Mangelnde Sicherungsvorkehrungen stellen neben unzureichendem technischen Knowhow die vielleicht größte Gefahr für die historische Überlieferung dar.
Zur digitalen Quellenkritik vgl. Jan Hodel, Peter Haber: Quellenkritik,
Geschichtslernen und „Digitale Historische Methode”, 2009. Im Internet unter weblog.hist.net/archives/3105 (aufgerufen am 06.03.2012). Die
digitale Quellenkritik bezieht dabei auch die klassischen Bewertungsmechanismen von Web 2.0 Technologien mit ein, wie z. B. die Referenzierung durch weitere Nutzer oder Kontexte, die im Sinne der äußeren und inneren Quellenkritik die Echtheit der Quelle plausibilisieren.
Mittlerweile gibt es zudem eine ganze Reihe von medienwissenschaftlichen,
aber auch geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, die Aspekte der
Qualitäts- und Selbstkontrolle (Christoph Neuberger: Onlinejournalismus:
Veränderungen – Glaubwürdigkeit – Technisierung. Eine Sekundäranalyse bisheriger Forschungsergebnisse und wissenschaftlicher Analysen. In:
Media Perspektiven, 3/2003. Im Internet unter: www.media-perspektiven.
de/uploads/tx_mppublications/03-2003_Neuberger.pdf), der Glaubwürdigkeit [Vgl. Patrick Rössler, Werner Wirth (Hg.): Glaubwürdigkeit im Internet. Fragestellungen, Modelle, empirische Befunde. München 1999; Lisa
Sonnabend: Das Phänomen Weblogs – Beginn einer Medienrevolution?
München 2005, hier Kapitel 4. Im Internet unter www.netzthemen.de/sonnabend-weblogs; Searchfactory (Pseudonym): Authentizität und Glaubwürdigkeit im Internet, Blogeintrag 2006. Im Internet unter: recherchenblog.ch/
index.php/weblog/authentizitaet_und_glaubwuerdigkeit_im_internet/],
des Vertrauens und weiterer Aspekte zur Authentizitätssicherung im Internet untersucht haben. Alle Quellen zuletzt aufgerufen am 19.12.2012.
Dieses Phänomen, das nicht selten mit der geringen oder variierenden Erfassungstiefe korreliert, tritt bei der webbasierten Bereitstellung z. B. gescannter
Bildnachlässe sehr viel greifbarer und tendenziell als Wissenslücke in Erscheinung als in analogen Verzeichnissen von Repertorien. Gerade deshalb
tritt in nahezu jeder Diskussion zur Bereitstellung archivarischer Ressourcen
das Argument mangelnden Personals auf den Plan.
Jenseits der Frage des niederschwelligen Zugangs, der im Archivzusammenhang bisher eine eher untergeordnete Rolle spielt, seien hier die arbeitstechnische Einbindung von Youtube-Videos auf Websites Dritter oder auch nur
das Zitieren von Wikipedia-Artikeln oder das Fortschreiben von Blogeinträgen erwähnt, die Quellmaterialien nicht zuletzt deshalb gerne referenzieren,
weil das praktische Wissen hierzu gemeinsam mit den Ressourcen bereitgestellt wird (vgl. hierzu den Wikipedia-Link links auf jeder Seite: „Seite
zitieren“ etc.). Im Archivkontext besteht im Hinblick auf die Bereitstellung
äquivalenter Referenzierungstechniken teilweise noch Entwicklungspotential.
Ich danke Herrn Dr. Andreas Pilger für den Hinweis, dass die Grenze zwischen dem ursprünglichen Entstehungszusammenhang (d. h. der archivarischen Ordnungsstrukturen) und der neuen Kontextualisierungen hier
ggf. unscharf wird. Ferner weist er darauf hin, dass die Einbindung einer
Verzeichnungseinheit in ein Findbuch insofern nicht auf einer Stufe mit der
Einordnung eines Archivale in ein digitales Lexikon stehe, als im Findbuch
die ursprüngliche Ordnung erkennbar bleiben muss, die bei jeder weiteren
Verwendung der Archivale sichtbar / erkennbar bleibt, während das Lexikon eine neue Ebene offeriere, insofern semantische Verknüpfungen oder
Zuordnungen hinzukommen.
Zur sozio-kulturellen Verankerung von Web 2.0-Technologien und „sozialer
Software“ vgl. Geert Lovink: Netzkritik. Materialien zur Internet-Debatte,
Berlin 1997; Ebd.: Zero Comments, Elemente einer kritischen Internetkultur, Bielefeld 2007 sowie z. B. Vanessa Diemand: Geschichte wahren Web
2.0. In: Ebd., Michael Mangold, Peter Weibel (Hg.): Weblogs, Podcasting und
Videojournalismus. Neue Medien zwischen demokratischen und ökonomischen Peotenzialen, Karlsruhe 2007.
„Services, not packaged software, with cost-effective scalability. Control
over unique, hard-to-recreate data sources that get richer as more people
use them. Trusting users as co-developers. Harnessing collective intelligence.
Leveraging the long tail through customer self-service. Software above the
level of a single device. Lightweight user interfaces, development models,
AND business models” Tim O’Reilly: What Is Web 2.0? Design Patterns and
Business Models for the Next Generation of Software (2005). Im Internet
unter: www.preilly.de/artikel/web20.html(abgerufen am 06.03.2012).
Gemeint sind hier z. B. die Beschränkung von Tweets (= 1 Kurznachricht, die
über Twitter versandt wird) auf 140 Zeichen, Formatierungskonventionen
oder auch die graische Gestaltung der historischen Abfolge von Blogeinträgen.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
134
AUFSÄTZE
Selbst-Referenz und angewandtem Dokumentarismus aus. Mehr
noch als bei klassischen Websites werden hier Informationen
durch (graische) Systematiken so aufbereitet, dass eine Identiikation der Absender/Autoren, des konkreten Erscheinungsorts
(Zitierfähigkeit!) und des exakten Entstehungsdatums direkt
möglich sind. Die mediengestützte Service-Leistung besteht,
anders formuliert, unter anderem darin, eine Infrastruktur zur
Verfügung zu stellen, in der Aussagen leicht und transparent auf
Objekte oder vorherige Inhalte bezogen und im eigenen Narrativ
referenzierend eingebunden werden können.22 Daten, Inhalte
und ihre diskursive Verhandlung sind somit stets Bestandteil
eines aktiven Nutzungszusammenhangs, den sie nicht nur selbst
fortschreiben, sondern der auch für Dritte jederzeit nachvollziehbar bleibt.23
Eben diese Art des Kontextes ist schon immer Betrachtungsgegenstand der wissenschaftlichen Rekonstruktion historischer
Sachverhalte – nur dass diesmal der Prozess der Kontexterzeugung in situ durch eine Nutzer- und Wissensgemeinsaft kollektiv
erbracht24 und von einem externen Dienstleister dokumentiert
wird.25 Dass auch hierbei „blinde Flecken“ und Wissenslücken
entstehen können oder die tradierten Zugangsbarrieren verschoben statt ganz aufgehoben werden, liegt in der Natur der Sache
und sollte bei den neu entstandenen Wissensparadigmen nicht
in Abrede gestellt werden. Spannender scheint es, zu klären,
inwiefern die Web 2.0-basierten Prozesse Analogien aufweisen zu
genuin archivarischen Prozessen wie etwa der Erschließung, Verzeichnung und Referenzierung in Metastrukturen (Repertorien;
Registraturen), der späteren Aufindung und Kontextualisierung
oder ggf. auch der Neubewertung und Kassation.26
Web 2.0 Technologien im Einsatz
Während die initiale Festschreibung der Provenienz, die Erfassung der Titel, der (Akten-)Laufzeiten und die Inhaltsvermerke
(semantisches Tag oder Volltext) von Web 2.0-Technologien
automatisch erfasst und dokumentiert werden, zeichnet sich in
Bereichen wie der Signaturensystematik sowie der systematischen
Ablage nach archivarischen Registraturen ggf. ein Entwicklungsbedarf der bisherigen out-of-the-box Software-Produkte ab. Für
andere Aspekte wie die Überlieferung des personengebundenen
Wissens der Archivare, die implizite Erfahrung der Historiker
und Wissenschaftler, die Dokumentation von Nutzungszusammenhängen oder auch Prozesse bei der Neubewertung von Akten,
scheint eine Betrachtung von Web 2.0-basierten Memorierungstechnologien durchaus lohnend – und zwar sowohl, was die
implizite Dokumentation (Logiles, Benutzerproile) als auch was
explizite Austauschformate (Sideboard-artige Blogs, Annotationen, Foren, offene oder redaktionelle Kommunikationsnischen
etc.) betrifft.27 Sollten einzelne Archive tatsächlich beginnen, in
ausgewählten Feldern Web 2.0-Technologien als archivarische
Tools einzusetzen, würde die Differenz zwischen den archivarischen Ressourcen, deren Lebenszyklus abgeschlossen ist, und der
nutzungsbedingten Kommunikation, die im Sinne des „künstlichen Lernens“ kontinuierlich weitergeschrieben wird, erneut
an Bedeutung gewinnen. Zwar werden diese Anwendungen stets
auf speziische Archivalien-Klassen beschränkt bleiben und eher
Wertmaßstäbe anwenden, wie sie in Arbeitsprozessen im Umfeld
archivarischer Nachlässe und Spezialinventare vorkommen, aber
gerade der Dokumentationsbedarf, der sich durch den Fortgang der Geschichte ereignet, scheint neue Handlungsoptionen
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
durch Web 2.0 Technologien eröffnen zu können.28 Bislang sind
Überlegungen zu möglichen Synergien zwischen Web 2.0-artigen
Memorierungsleistungen und dem Dokumentationsbedarf zur
Erfassung des impliziten Wissens dem Bereich der Spekulation
verschrieben.
WEB 2.0 HEUTE … UND MORGEN?
Wie eine ganze Reihe an jüngeren Fachpublikationen belegt, die
sich der Nutzung von Web 2.0-Diensten wie Wikipedia (OnlineEnzyklopädie), Flickr (Online-Bildportal), Facebook (Community-Portal) und anderen Services durch anerkannte Archive
widmen und diese sehr fundiert fachlich einordnen,29 beschränkt
sich der Austausch zwischen den Archiven und dem Internet
bislang vor allem auf zwei gegenläuige Hauptachsen: Entweder
speisen Archive ihre Inhalte ins Netz ein, wobei die Bereitstellung
von archivarischen Inhalten genau genommen von jenen Inhalten unterschieden werden müsste, die aus werbestrategischen
Gründen (Einladungen, Informationen, Newsletter etc.) ins Netz
eingespeist und über partizipative Social-media-Organen wie Facebook oder Twitter vertrieben werden.30 Oder Archive bedienen
sich, gleichsam in Gegenrichtung, der informatischen Grundlagen
oder Daten, die z. B. unter CC-Lizenzen (cc-by-sa) von den Web
2.0-Diensten zur Verfügung gestellt werden. Eher selten werden
hingegen die archivarischen Konsequenzen diskutiert, die sich
aus der Teilhabe z. B. öffentlich-rechtlicher, kommunaler, Landesoder Bundeseinrichtungen an sozialen Netzwerken mittelfristig
im Sinne der Archivierungsplicht von Mitteilungen ergibt.
Medientheoretisch wird es interessant bleiben, zu beobachten,
ob technologische Hilfsmittel der Web 2.0-Familie künftig auch
archivinhärent zum Einsatz kommen. Dann gerieten jenseits der
Informations-Distribution vor allem Nutzungsformen stärker in
den Blick, die sich am Verhalten von Netizens orientierten.31
Während in den bisherigen Diskussionen die Ängste vor Plagiaten, Missbrauch und mithin dem Kontrollverlust über die verwaltete Information eine relativ große Rolle spielen, wird der Gefahr
durch organisierte Manipulation gerade im Hinblick auf digitale
Daten bisher in der öffentlichen Debatte wenig Platz eingeräumt,
obwohl im Netz längst, pointiert formuliert, gilt: Nur die Verbreitung von Inhalten kann ein dauerhaftes Überleben (unverfälschter) Informationen sichern. Da viele Diskussionen noch nicht zu
Ende geführt sind und einige nicht einmal ernsthaft begonnen
haben, wird es auch in Zukunft spannend bleiben, zu beobachten, in welche Richtung sich die Archive bewegen werden und wie
sich dabei ihr Verhältnis zu Web 2.0 Technologien verschiebt.
BETWEEN KNOWLEDGE
KNOWLEDGE GAP?
REPRESENTATION
AND
Based on a media-theoretical perspective, the article reflects on the
meaning of so called web 2.0 technologies in relation to archiving
techniques. It is interested in basic similarities and differences that
appear at the threshold between the archive and collaborative
processes – associated with web 2.0 phenomena. While the archive
represents a traditional knowledge store, based on historically grown
135
structures of memory, web 2.0 technologies tend toward (selfdocumenting) contextualization, which generates knowledge partly
gained through the traces of usage or user interaction. Particular
attention is given to different aspects and levels of contextualization
– accounting for both technical aspects as well as semantic ones.
Prof. Tabea Lurk M.A.
Hochschule der Künste Bern
KuR - Konservierung und Restaurierung
Dozentin für Digitale Konservierung
Leitung KuR-ArtLab
Fellerstrasse 11, CH-3027 Bern
Tel.: +41 (0)31 848 38 75
E-Mail: Tabea.Lurk@hkb.bfh.ch
25
26
27
28
22
23
24
Während die Einbindung von YouTube-Videomaterialen als durchaus
populär betrachtet werden kann und z. B. Blog-Kommentare stets an ihre
Quellreferenz gebunden sind, wären entsprechende Referenzierungsoptionen technisch auch für archivarische Ressourcen denkbar. Allerdings müsste
dann das „How to?“ zur Einbindung (z. B. via vordeiniertem I-Frame-Element) direkt auf den Websites erklärt werden – ähnlich wie sich Hilfestellungen für die fachlich korrekte Zitation z. B. bei Wikipedia sowohl für ganze Artikel (Link: „Seite zitieren“) als auch für einzelne Bilder direkt auf den
entsprechenden Unterseiten angeboten werden.
Zudem besteht bei Blog-Systemen häuig die Möglichkeit, sog. RSS-Feeds
(Really Simple Syndication – also Kurznachrichten) zu abonnieren, die das
automatische informieren über ein speziisches Thema übernehmen.
Vgl. z. B. Jochen Gläser: Wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften: die
soziale Ordnung der Forschung, Frankfurt 2006.
29
30
31
Im Hinblick auf archivarische Ressourcen wäre tendenziell darauf zu achten, dass die Dateninhaber zumindest regelmäßige Datenabzüge der Nutzerinteraktionen bekämen, wenn sie nicht selbst als Dienstanbieter auftreten
wollen. Andernfalls könnte es relativ schnell zu Informationsverlusten kommen.
Im Hinblick auf die Kassation kann das Ranking oder Absinken von Aussagen angeführt werden, das beim Ausbleiben von Referenzierungen und der
damit einhergehenden „Irrelevanz“ gleichgesetzt wird. Dass derartige Vorgänge im Archiv-Kontext einer wissenschaftlichen Gegenprüfung (z. B. automatisierte Wiedervorlage) unterbreitet werden sollten, erscheint evident.
Selbstverständlich müssen auch hier datenschutzrechtliche und persönlichkeitsrechtliche Standards eingehalten werden.
Dieses Phänomen wird unter dem Begriff der „Archivalien zweiter Ordnung“
diskutiert. Archivalien zweiter Ordnung bilden eine beschreibende Metadatenhülle (digitale Spur), die sich in dem Moment um die historische Ressource
legt, in dem die einstige Beschreibung bzw. die ehemalige Ansetzung „historisch“ geworden ist und ihre primäre Bedeutung nurmehr primär als Quelle
fungiert. Während die Quellenangaben als solche mitgeführt werden, werden die Objekte neu oder modiiziert beschrieben (vgl. z. B. die Bildreferenzen
der BArch-Bilder auf Wikipedia). Die ursprüngliche Ansetzung wird nicht
verändert oder gar gelöscht, sondern als historisches Dokument aufbewahrt.
Aber Archivalien zweiter Ordnung führen als (abgeleitete) Quelle nicht nur
die ursprüngliche Ansetzung mit, sondern können in einem eigens hierfür
bereitgestellten Container algorithmische Metadaten enthalten, welche Aspekte des Verwendungszusammenhangs dokumentieren. Vgl. Jürgen Enge,
Tabea Lurk: Digitale Archivsysteme 2.0? Dokumentation. Erhaltung. Ereignis. In: Kulturelle Überlieferung Digital. Sammelband, Hg. v. Zentrum für
Angewandte Kulturtechniken Karlsruhe, KIT-Press Karlsruhe 2011, S. 93-117,
hier 111-116.
Neben diversen Aufsätzen im Archivar oder dem Archiv-Blog Archivalia
(archiv.twoday.net) sei hier z. B. der Sammelband genannt: Thomas Aigner,
Stefanie Hohenbruck et al. (Hg.): Archive im Web – Erfahrungen, Herausforderungen, Visionen, St. Pölten 2011.
Vgl. z. B.: Social Media and Web 2.0 at the National Archives, im Internet:
www.archives.gov/social-media/ (aufgerufen am 10.03.2012).
Netizens bewegen sich gleichsam schwellenlos im Netz, speisen ihr Wissen
als Gegenstand kollektiver Wissensproduktion, -relektion und -reproduktion in vernetzte Wissenscluster ein und machen es so sichtbar und erfahrbar.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
136
AUFSÄTZE
ARCHIVISCHE SPÄTZÜNDER?
SECHS WEB 2.0PRAXISBERICHTE
Katharina Hasenfratz,
von Joachim Kemper, Jörg Fischer,
Andrea Rönz
Thomas Just, Jana Moczarski und
„Social Media ist so groß, dass man es nicht mehr ignorieren
kann. Groß hier im Sinne der Aufmerksamkeitsbündelung. Social
Media ist so groß, dass man es als gegenwärtigen Entwicklungsstand des gesamten Internet betrachten muss.“1
Sind die deutschen (respektive: deutschsprachigen) Archive im internationalen Vergleich und im Gesamtkontext der neuen Medien
eigentlich Spätzünder? Diese grundsätzliche Frage kann von den
Autoren dieses Beitrags und vermutlich auch vom eben zitierten
bekannten Blogger Sascha Lobo kaum abschließend beantwortet
werden – wohl aber diejenige nach der Rolle der (digitalen) „sozialen Medien“ in den deutschen Archiven. Sie kann ohne weiteres
unter die Rubrik „fast keine Rolle“ bis „gar keine Rolle“ eingeordnet werden. Wohl sind die Anwendungen und Prinzipien des
so genannten „Web 2.0“ schon seit Jahren in aller Munde. Aber:
Soziale Netzwerke wie Facebook, Media-Sharing-Portale aller Art,
Podcasts und vieles mehr (insbesondere „normale“ Weblogs oder
Mikroblogging-Dienste wie Twitter) werden von der deutschen
Archivcommunity extrem selten institutionell verwendet. Im
Gegensatz dazu stehen einige auf Facebook aktive oder auch
Archivthemen „twitternde“ bzw. bloggende Archivarinnen und
Archivare, von denen stellvertretend nur Thomas Wolf (Siegen,
seit kurzem auch mit Weblog „siwiarchiv“ – Blog der Archive
im Kreis Siegen-Wittgenstein) und Klaus Graf (Aachen, u. a.
Weblog „Archivalia“) genannt seien.2 Bezogen auf einen größeren
Kontext bleibt die archivische digital-soziale Entwicklung samt
Fachdiskussion hierzulande, aber auch z. B. in Österreich und
der Schweiz erheblich hinter „Trendsettern“ wie den Niederlanden, Skandinavien oder eben dem anglo-amerikanischen Raum
zurück. Der engagierte Appell von Mario Glauert auf dem Deutschen Archivtag in Regensburg im Jahr 20093 brachte zunächst
nur wenig sichtbare Ergebnisse. Im Jahr 2010 erschien eine erste
deutschsprachige Monographie zum Thema, eine von Susann
Gutsch erstellte Diplomarbeit (FH Potsdam). Auch in einer jüngeren Transferarbeit der Archivschule Marburg (Bastian Gillner)
steht das Thema Web 2.0 im Mittelpunkt.4
Der Frage der praktischen Umsetzung von Web 2.0 in den
Archiven hierzulande ist nun der vorliegende Beitrag gewidmet. Während die genannten Veröffentlichungen von Glauert,
Gutsch und Gillner eher den Charakter eines Appells hatten bzw.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
notgedrungen auf erfolgreiche und beachtenswerte auswärtige
Beispiele hinweisen mussten, werden seit einiger Zeit auch im
deutschsprachigen Archivwesen Versuche unternommen, den
Begriff Archiv 2.0 mit Leben zu erfüllen. Im Folgenden werden
kurze Erfahrungsberichte/Zwischenberichte fünf deutscher
Kommunalarchive (Amberg, Frankfurt am Main, Heilbronn,
Linz am Rhein und Speyer) sowie des Österreichischen Staatsarchivs vorgestellt. Sämtliche Archive sind bereits seit Anfang des
Jahres 2011 oder teils noch länger im sozialen Netzwerk Facebook
präsent und/oder verwenden z. B. den Mikroblogging-Dienst
Twitter. Auskunft gegeben wird (Stand: Dezember 2011/Februar
2012) nicht nur über die praktische Umsetzung und Inhalte des
Web 2.0-Einsatzes, sondern auch über Motive, Arbeitsaufwand,
Potentiale und „Ergebnisse“. Die Beiträge geben die Sicht des
jeweiligen Archivs und ihrer in den sozialen Medien tätigen Mitarbeiter wieder. Sie sollen, bei aller (und oftmals unbegründeter)
Skepsis der Materie gegenüber, Mut machen, sich auch archivisch
mit Web 2.0 zu befassen. Die vertretenen kleineren und größeren
Archive5 gehen in erster Linie neue Wege der Öffentlichkeitsarbeit
und Kommunikation mit den „Kunden“. Andere Anwendungsmöglichkeiten (wie kollaborative Erschließung, Crowdsourcing,
Tagging, Archiv-Weblogs usw.) werden derzeit eher ausnahmsweise durchgespielt, sind aber bei einem Blick auf das westeuropäische oder amerikanische Archivwesen keineswegs Off-Topic.
Die für soziale Netzwerke typischen „Likes“ und Fans/Follower
stehen zwar noch deutlich hinter den Statistiken anderer Archive
zurück (die Hauptfanpage der überhaupt sehr Web 2.0-afinen US
National Archives hat derzeit über 18.000 Fans6), dürften aber in
der Tendenz und nach vergleichsweise kurzer Beschäftigung mit
Web 2.0-Anwendungen deren archivische Relevanz und Verwendbarkeit allemal unterstreichen.
Kurzum: Vieles ist in Sachen Web 2.0 noch zu klären, gewisse
Fragen (wie die nach der Langzeitspeicherung) sollten immer
im Blick gehalten werden, Schwächen oder die zahlreichen
Modiizierungen der einzelnen Anwendungen sollten als solche
erkannt und intern kommuniziert werden. Soziale Netzwerke wie
Facebook, Dienste wie Twitter, Blogs, Wikis, Media-Sharing-Seiten
usw. gehören mittlerweile zum Alltag vieler Internetnutzer, ja sie
können problemlos als „gegenwärtiger Entwicklungsstand des
137
gesamten Internets“ betrachtet werden.7 Es zeugt von Realitätsverlust, die sozialen Medien vollständig zu ignorieren. Sie sind, wie
Susann Gutsch prägnant formuliert, nicht die Zukunft, sondern
bereits die Gegenwart – auch für Archive.8
STADTARCHIV AMBERG9
Seit Mai 2010 existiert eine Facebook-Seite des Stadtarchivs
Amberg. Anfänglich kaum mehr als ein Experiment und vom
Vorstand des Hauses unter kritischem Stirnrunzeln zunächst nur
akzeptiert, „weil es nichts kostet“, hat sich die Seite inzwischen
etabliert. Bei inzwischen 103 „Likes“ aus der Region, dem gesamten Bundesgebiet, aber auch aus dem Ausland konnten wir uns in
der Zeit vom 16.10.2011 bis zum 14.11.2011 über 4.529 „Post Views“
freuen, d. h. die von uns eingestellten Nachrichten und geteilten
Links wurden in diesem Zeitraum mehr als viereinhalbtausend
Mal aufgerufen – und zwar sowohl von Personen, die unsere Seite
gut inden („Likes“), als auch von solchen, die nur zufällig über
eine unserer Neuigkeiten gestolpert sind.
Wir wollen vor diesem Hintergrund zunächst die Beweggründe,
die uns am Anfang motiviert haben, Teil der Zuckerberg-Community zu werden, kurz erläutern, um im Anschluss einige aus
unserer Sicht grundsätzliche Überlegungen zur Diskussion des
Themas beizusteuern.
Natürlich hat das Stadtarchiv Amberg eine eigene Seite im Web
1.0. Als ein Teil des ofiziellen Internetauftritts der Kommune
muss diese selbstverständlich gewissen Normen entsprechen, die
durch die Corporate Identity (CI) der Stadtverwaltung vorgegeben sind. Im Rahmen der Entwicklung dieser CI konnten die
Mitarbeiter des Stadtarchivs zwar durchaus eigene Vorstellungen
einbringen, letztlich aber mussten natürlich auch wir „nehmen,
was man kriegt“ und damit zufrieden sein. Auch wenn dies
bisweilen zu Verstimmungen geführt haben mag, handelt es sich
hierbei doch letztlich um ein ästhetisches Problem, das man unter
dem Stichwort „Geschmackssache“ ablegen und im Wesentlichen
vergessen kann.
Um einiges unangenehmer war der Aspekt, dass das Stadtarchiv
selbst keine – wie ursprünglich einmal geplant – redaktionellen
Kompetenzen bei der Gestaltung seiner „eigenen“ Seite erhielt,
was, im Hinblick auf zusätzliche Softwarelizenzen, auch eine
Geldfrage gewesen sein mag. Die Veröffentlichung von Inhalten
im Internet erfolgt vielmehr ausschließlich über die städtische
Pressestelle und kann sich bisweilen bis zu zwei Wochen hinziehen. Eine zeitnahe Kommunikation, gerade von kurzfristigen
Änderungen im Veranstaltungsbereich oder etwa von eingeschränkten Nutzungsmöglichkeiten aufgrund von Erkrankungen
und dgl., ist und war auf diesem Wege natürlich nicht möglich.
Facebook war also für uns zunächst und vor allem ein Weg, in
eigener Verantwortung auf gute und weniger gute Neuigkeiten
hinzuweisen und diese mit einem Mausklick veröffentlichen zu
können. Erst an zweiter Stelle kam die Idee, durch die Verwendung unseres Archivmaskottchens Johann Nepomuk Wischmeier
das Stadtarchiv als eigene „Trademark“ zu etablieren – ein gelungenes Experiment, halten doch viele, gerade junge Nutzer die
iktive Figur für „total knufig“, was nicht zuletzt das doch immer
noch etwas „staubige“ Image des Archivs deutlich aufgepeppt
hat.
Wie so oft wenn man sich mit etwas Neuem beschäftigt, fallen
die eigentlich interessanten Aspekte erst ins Auge, wenn man
„mittendrin statt nur dabei“ ist. So fand zum einen eine mittler-
weile doch sehr umfangreiche und auch sehr gewinnbringende
Vernetzung mit Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland
statt, die von uns als menschlich angenehm und in der Sache
nützlich empfunden wird. Zum anderen erhalten wir – je nach
Beitrag unterschiedlich – hohe Rückmeldungen zu unseren
Mitteilungen oder sogar eigene Beiträge unserer „Freunde“ (um
den Begriff der „Likes“ zu vermeiden), die nicht nur anregend
sind, sondern auch ein klares Zeichen dafür, dass unsere Arbeit
angenommen und interessiert verfolgt wird.
Nur durch den täglichen Umgang mit dem Web 2.0 wurde uns
wirklich klar, warum die Begriffe „Consumer“ und „Prosumer“
so wichtig sind: War das traditionelle Internet, das „Web 1.0“,
noch eine Plattform, in der einige – vergleichsweise – wenige
Anbieter zunächst reichlich statische Informationen an eine explosionsartig anwachsende Zahl von Konsumenten (Consumer)
weitergaben, so hat sich der ehedem passive Konsument inzwischen zu einem aktiven Teilnehmer im Datenstrom gemausert,
der aktiv Inhalte einstellt (wie banal diese bisweilen auch immer
sein mögen) bzw. vorhandene Inhalte erweitert. Die konkrete
Interaktion mit Leuten, die sich aktiv mit unserer Arbeit auseinandersetzen, war vor dem Web 2.0 beinahe ausschließlich auf
den klassischen Archivar-Benutzer-Dialog beschränkt, abgesehen
von unregelmäßig stattindenden Ausstellungen oder Präsentationen, die sich im Allgemeinen dadurch auszeichnen, dass die
„üblichen Verdächtigen“ teilnehmen, deren positive oder negative
Haltung dem Archiv gegenüber ohnehin bekannt ist. Das Ausmaß
der Beteiligung – gerade auch im Zusammenhang mit online
präsentierten Bildquellen oder Hinweisen auf den Abschluss von
Projekten – war von uns so nicht erwartet worden.
Man mag die Entwicklung vom „Consumer“ zum „Prosumer“
sehen wie man will. Dass damit neben neuen Möglichkeiten auch
neue Probleme entstanden sind und weitere entstehen werden,
ist offensichtlich – man denke nur an den Datenschutz oder an
spektakuläre und medienwirksame Polizeieinsätze bei ausufernden Überraschungspartys. Um eine Feststellung kommt man
aber nicht herum: Als Archivare haben wir die Aufgabe, auch und
gerade diese Prozesse zu dokumentieren, sie so abzubilden, dass
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Sascha Lobo: Unignorierbar – die schiere Größe der sozialen Medien. Online unter: http://saschalobo.com/2011/10/13/unignorierbar%e2%80%93%c2%a0die-schiere-grose-der-sozialen-medien (aufgerufen
am 4.12.2011).
http://archiv.twoday.net; www.siwiarchiv.de.
Druckversion: Mario Glauert: Archiv 2.0. Vom Aufbruch der Archive zu
ihren Nutzern. In: Archive im digitalen Zeitalter. Überlieferung – Erschließung – Präsentation. Hg. v. Heiner Schmitt. Neustadt a. d. Aisch 2010 (=
79. Deutscher Archivtag in Regensburg. Tagungsdokumentation zum Deutschen Archivtag 14), S. 43-54.
Susann Gutsch: Web 2.0 in Archiven. Hinweise für die Praxis. Potsdam 2010
(= Veröffentlichungen der Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken im Brandenburgischen Landeshauptarchiv 8); Bastian Gillner:
Jenseits der Homepage. Zur archivischen Nutzung von Web 2.0-Anwendungen. Marburg 2011 (= Transferarbeit im Rahmen der Laufbahnprüfung für
den höheren Archivdienst an der Archivschule Marburg, 44. WK). Online
unter: www.archivschule.de/uploads/Ausbildung/Transferarbeiten/Transferarbeit_BastianGillner.pdf (abgerufen am 4.12.2011).
Es sei daneben noch auf die Existenz weiterer institutioneller Web 2.0-Präsenzen im Bezugsgebiet hingewiesen, beispielsweise der Stadtarchive Mannheim und Bielefeld, des Universitätsarchivs Düsseldorf oder auch des Niedersächsischen Landesarchivs; auch der VdA verfügt mittlerweile über einen
eigenen Facebook-Auftritt.
www.facebook.com/usnationalarchives (abgerufen am 4.12.2011).
Lobo (Anm. 1).
Gutsch (Anm. 4), S. 125.
Facebook-Page: www.facebook.com/pages/Stadtarchiv-Amberg/1198908513
72886?ref=ts; Homepage: www.amberg.de/?id=192.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
138
AUFSÄTZE
Twitter-Account des Instituts
für Stadtgeschichte Frankfurt
am Main
kommende Generationen von Archivbenutzern dank unserer
Arbeit ein seriöses Bild dieses beginnenden 21. Jahrhunderts erarbeiten können. Dies umso mehr, da auch immer mehr Behörden
das Internet zur Erfüllung ihrer hoheitlichen Aufgaben nutzen
(durchaus nicht nur die Finanzbehörden). Wer außer uns sollte
dies sonst leisten? Die Situation ist einmalig. 1996 schrieb die Süddeutsche Zeitung: „78 Prozent aller Bundesbürger wissen nicht,
um was es sich beim Internet überhaupt handelt“10; inzwischen
sind indige Köpfe dabei, das „Semantische Web“ (das Web 3.0)
ans virtuelle Tageslicht zu bringen. Nach dem Consumerweb und
dem Prosumerweb soll diese nächste Stufe die nur uns Menschen
verständlichen abstrakten Informationen so strukturieren, dass
sie maschinenlesbar und -verwertbar werden; angesichts der
unfassbaren Datenmassen im Web ein logischer Schritt.
Das Web 1.0 und Web 2.0 existieren friedvoll nebeneinander: Betulich altmodisch-statische Internetauftritte (auch von Archiven)
neben ausgeklügelt interaktiven Seiten der Social Media, deren
Betreiber iPods nutzen, um ihre Auftritte in Echtzeit zu aktualisieren, Vernetzungen mit FlickR, Twitter und anderen Plattformen
inklusive – eine Situation, die man überspitzt formuliert mit
dem friedvollen Nebeneinander von hochgezüchtetem Hornvieh
und Brontosaurus vergleichen könnte. Vor dem Hintergrund der
beschriebenen Entwicklungen kann wohl festgestellt werden,
dass der sichere Umgang mit den zeitgemäßen Möglichkeiten
des Datenaustauschs jetzt und in der Zukunft eine unabdingbare
Kernkompetenz der Archive und somit der Archivare darstellt
und weiterhin darstellen wird. Ein sicherer Umgang mit diesen
sich ständig weiter entwickelnden Techniken kann am einfachsten durch die aktive Teilnahme und Mitgestaltung der Archive
erreicht werden.
INSTITUT FÜR STADTGESCHICHTE
11
FRANKFURT AM MAIN
Das Institut für Stadtgeschichte (ISG), das kürzlich sein 575.
Jubiläum feierte, sieht sich in einer langen Tradition als Geschichtsbewahrer und Forschungsstätte, als städtische Kulturinstitution ist es sich selbstverständlich auch seiner Rolle als aktiver
Geschichtsvermittler bewusst. Besonders in den letzten Jahren
unter der Leitung von Evelyn Brockhoff12 verstärkte das Institut
seine Aktivitäten im Bereich des kulturellen Dialogs mit Benutzern und Besuchern. Dabei schrieb es sich auf die Fahnen, auch
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
„untypische“ Archivnutzer zu einem Besuch zu animieren, wobei
ihm zugute kommt, dass es mitten in der Stadt im architektonisch
reizvollen Karmeliterkloster untergebracht ist. Mit Ausstellungen,
Führungen, Lesungen, Vorträgen, der beliebten Reihe „Frankfurter Erzählcafé“, in der Zeitzeugen aus der Vergangenheit der
Stadt berichten, und Konzerten hat das ISG im Laufe der Zeit ein
vielfältiges Kulturprogramm etabliert, das den Kreis der historisch und kulturell interessierten Bürgerinnen und Bürger ständig
erweitert.
Dabei spielt natürlich die Kommunikation eine große Rolle.
Schon seit 2000 betreibt das ISG eine eigene Webseite, unter
deren Adresse auch in der Archivdatenbank direkt recherchiert
und bestellt werden kann. Ein Link führt auf den Opac der institutseigenen Bibliothek. Darüber hinaus informiert die Webseite
über Veranstaltungen, Sonderausstellungen und Terminänderungen. Die aktuell vor einem Relaunch stehende Webseite ist
gut besucht, hat aber bis jetzt keine interaktive Komponente
vorzuweisen. Ein Newsletter13, der stilistisch in Richtung eines
Blogs geht (unmittelbare Reaktionen auf der Seite sind jedoch
nicht möglich) und seit 2003 die Mitarbeiter mit Berichten über
besondere Bestände oder einzelne Akten zu Wort kommen lässt,
ist als erster Schritt in Richtung Web 2.0. zu werten. Im Laufe
des Jahres wird die Webseite komplett überarbeitet, dabei nach
zeitgemäßen Kriterien gestaltet, wozu auch die weitgehende Barrierefreiheit gehört, sowie dem schon seit einiger Zeit eingeführten neuen Corporate Design des Instituts angeglichen zu werden.
Eine Neuerung wird dort auch ein Twitterbutton sein, der zum
Account des ISG führt.
Das Institut twittert seit dem 27. August 2010 und war damit das
erste deutschsprachige Archiv mit einem Twitteraccount. Die
Initiative dazu ging aus vorbereitenden Gesprächen zur Ausstellung „Was die Welt bewegt – Arthur Schopenhauer in Frankfurt
am Main“ hervor. Twitter sollte als Begleitmedium der Ausstellung ausprobiert werden. Als Vorbild diente die umfangreiche
Begleitung der Ausstellung „@bsolut privat“ des Museums für
Kommunikation Frankfurt, die in einem Blog14 über mehrere Monate alles rund um die Entstehung und den Lauf der Ausstellung
postete und über die Kommentarfunktion auch von den Bloglesern kommentiert werden konnte. Die Leitungsebene und die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit waren von der leichten und direkten
Handhabung eines solchen Accounts begeistert. Zunächst ging
es darum, versuchsweise online zu gehen, um die Reaktionen auf
139
ein solches Angebot zu erkunden. Regelmäßig wurde über den
Ausstellungsaufbau und das Begleitprogramm in Wort und Bild
berichtet. Anfangs übernahm das Twittern zumeist die Leiterin
der Restaurierung, da zusätzlich besonders aus der Werkstatt
interessante Fotos zu posten waren. Im Laufe der Zeit klinkte
sich die Abteilung „Öffentlichkeitsarbeit“ immer mehr in die
zumeist täglichen Updates ein, so dass eine Zweiteilung entstand:
Die Restaurierung berichtete meist aus der Werkstatt oder von
Fachtagungen, die PR-Abteilung wies auf Veranstaltungen hin,
resümierte die Besuchszahlen von vergangenen Aktivitäten im
Haus oder verlinkte auf aktuelle Medienberichterstattung zum
ISG. Schnell wurden andere User auf den Account aufmerksam,
so dass die Nutzerzahl kontinuierlich auf die heute erreichten
mehr als 370 Follower anstieg.
Da das Institut über einen abwechslungs- und umfangreichen
Kalender verfügt, gibt es stets Themen zum Twittern. Besonders
schön ist es aber immer, wenn wirkliche Interaktion stattindet,
z. B. wenn Fragen der Bestandserhaltung zu lösen sind oder kurzfristige Programmänderungen weitergegeben werden können. Als
wir uns danach erkundigten, was die User besonders gern bei uns
lesen, wurden zumeist die mit Fotos illustrierten Tweets genannt.
Außerdem wünschen sie sich mehr Informationen aus dem
Archivalltag, z.B. welche Bestände gerade verzeichnet werden.
Wir hoffen, dass wir mit der Webseitenverknüpfung auch andere
Kollegen motivieren können, verstärkt über dieses ergänzende
Medium zu kommunizieren. Es vermittelt unserer Meinung nach
die menschliche, persönliche Seite einer Institution und kann
genutzt werden, um schnell und unmittelbar Informationen zu
streuen. Unser Ziel ist es, regelmäßig einen lebendigen Einblick
in die Aktivitäten des ISG zu geben. Selbstverständlich sollen die
Meldungen seriöser Natur sein, was jedoch nicht bedeutet, dass
manche Tweets nicht auch mit einem Augenzwinkern verbunden
sein können. Hinzuzufügen ist, dass auf diesem Weg auch sehr
freundliche Kontakte zu anderen twitternden Archiven entstehen
und man sich durch das Verfolgen und Retweeten gegenseitig
auf interessante Sachverhalte aufmerksam machen kann. Was
als Experiment begonnen hatte, ist inzwischen eine lebendige
und selbstverständliche Ergänzung der Institutskommunikation
geworden. Twitter oder Facebook muss keine zeitaufwändige
Maßnahme sein, wir haben aber festgestellt, dass regelmäßig
aktualisiert werden sollte, da ein lange ruhender Account ein
negatives Bild transportiert. Auch die aktive Interaktion mit den
Usern sollte man nicht abbrechen lassen. Das erfordert, regelmäßig bei Twitter Antworten und Reaktionen abzurufen, um auf
dem Laufenden zu bleiben und auftretende Fragen oder direkte
Nachrichten möglichst zeitnah zu beantworten. Denn nur ein
lebendiger Account wird wahrgenommen und trägt zur positiven
Außenwirkung des Instituts für Stadtgeschichte in Frankfurt am
Main bei.
STADTARCHIV HEILBRONN15
Das Stadtarchiv Heilbronn wird derzeit zum neuen Haus der
Stadtgeschichte umgebaut; ein Anlass, um seit Frühjahr 2011 in Social Media Präsenz zu zeigen! Ziel ist es, während der einjährigen
Umbauphase die Besucher über den aktuellen Stand der Bauarbeiten zu informieren, die Ausstellungsplanung multimedial zu
begleiten sowie einen regen Austausch mit historisch Interessierten
stattinden zu lassen. Eröffnet wird das neue Haus der Stadtgeschichte Heilbronn im Otto-Rettenmaier-Haus am 28. Juli 2012.
Die ersten Erfahrungen mit dem virtuellen Medium „Facebook“
wurden in einem Zeitraum von acht Monaten untersucht und
dokumentiert. Obwohl das Engagement noch jung ist, verfolgten
bereits im Herbst 2011 über 160 Fans die Aktivitäten des Hauses
und leiteten teils selbst Dialoge in die Wege. Die Facebook-Seite
„Haus der Stadtgeschichte“ versteht sich als eine gelungene
Kombination zwischen Sender- und Friend-Aktivitäten: Einerseits
möchten die Heilbronner über ihr Archiv informieren (senden),
andererseits aber auch einen intensiven Kontakt (Freundschaft)
mit den Besuchern plegen.
Wöchentlich werden Fotos über die neuesten Aktivitäten in und
um das Haus der Stadtgeschichte gepostet. Der Besucher kann
somit den Umbau hautnah mit verfolgen: Vom Ausräumen der
Ausstellungsräume, der Eröffnung einer Interimsausstellung
über den Abriss der Außenwände und den Wiederaufbau etc.
Vordergründig ist dabei weniger die Bilderanzahl (ca. 20/Monat),
sondern eher das breite Spektrum an Interessenten, welche die
Fotoalben anschauen. Über 800 Klicks und Interaktionen durch
ein „Gefällt mir“, einen Kommentar oder eigenen Post erfolgen
so pro Album.
Das reale Erlebnis der Ausstellung zur Heilbronner Stadtgeschichte bleibt jedoch einzigartig und soll durch Social Media
keinesfalls ersetzt, sondern vielmehr ergänzt werden. Daher posten die Heilbronner leißig weiter über den Umbau des Archivs
und iebern der Eröffnung des neuen Haus der Stadtgeschichte
am 28. Juli 2012 freudig entgegen.
Die Nutzung der Web-2.0-Medien gerade für die Außendarstellung wird im Hinblick auf die Vorbereitung der Neueröffnung
weiter intensiviert. Die Einrichtung eines Blogs als zentrale Verteilerstelle für Inhalte und eine Weiterleitung nach Twitter sowie in
weitere soziale Netzwerke stehen an und werden die traditionelle
Öffentlichkeitsarbeit wohl dauerhaft ergänzen.
Im Bereich der historischen Bildungsarbeit setzt das Stadtarchiv
Heilbronn bislang nur wenige Elemente des Web 2.0 ein; bei der
Präsentation des archivischen Kernbereichs der Erschließung und
Verzeichnung bleibt die (noch längst nicht klassische) Onlinedatenbank das Mittel der Wahl. Aber die Experimentierphase ist
noch nicht zu Ende!
STADTARCHIV LINZ AM RHEIN16
Das Stadtarchiv Linz am Rhein nimmt in diesem Vergleich eine
gewisse Sonderrolle ein, denn es muss sich zwar hinsichtlich der
10
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15
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SZ Nr. 189 vom 17./18.08.1996.
Twitter-Account: www.twitter.com/#!/isg_frankfurt.
Evelyn Brockhoff, Attraktive Geschichtsvermittlung als archivisches Marketing. Das Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main. In: Archivar 63
(2010), S. 277-284.
www.stadtgeschichte-ffm.de/aktuelles/newsletter_archiv/newsletter_archiv.
html.
http://tagwerke.twoday.net/.
Nachweise: Facebook-Page www.facebook.com/stadtgeschichte.heilbronn;
Homepage www.stadtarchiv-heilbronn.de/; Virtuelles Haus der Stadtgeschichte Heilbronn http://haus.stadtgeschichte-heilbronn.de/; Blog des
Stadtarchivs: http://eichgasse1.wordpress.com/.
Nachweise: www.facebook.com/StadtarchivLinzRhein; www.twitter.com/
Archiv_LinzRh; https://plus.google.com/106703708061960160966, VanityURLs bietet Google aus Sicherheitsgründen nicht an. Homepage: www.
stadtarchiv.linz.de.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
140
AUFSÄTZE
Facebook-Seite des Stadtarchivs Linz am Rhein (Ausschnitt)
Qualität und Quantität seiner Bestände wahrlich nicht verstecken, wird aber als kommunales Archiv einer kleinen Stadt nur
an einem Tag pro Woche und von nur einer Person betreut. Um
dennoch eine größtmögliche Benutzerfreundlichkeit zu gewähren, wählten Stadt und Archiv vor einigen Jahren den Schritt
ins World Wide Web. 2005 wurden nahezu alle Findbücher des
Archivs digitalisiert und als Datenbank online gestellt. Auf einer
eigenen Homepage können die Nutzer so bereits von Zuhause
aus in den Beständen recherchieren und bis zu zehn Archivalien
vorbestellen, die dann zu einem gewünschten Termin ausgehoben
werden. Auch schriftliche und telefonische Anfragen können so
natürlich sehr viel schneller beantwortet werden.
Obwohl das Stadtarchiv Linz am Rhein durch die Internetpräsenz sowie durch regelmäßige Publikationen zur Stadtgeschichte
in der Öffentlichkeit vertreten ist und auch gut frequentiert wird,
fällt doch immer wieder auf, wie viele Menschen sich unter einem
Archiv und dessen Aufgaben wenig oder nichts vorstellen können.
Gleichzeitig steht das Stadtarchiv Linz wie viele Archive in Zeiten
angespannter Haushaltslagen unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Um gleichsam Unwissenden wie Kritikern einen
Eindruck von der Bedeutung eines − ihres Stadtarchivs zu vermitteln, die Leidenschaft für das Geschichts- und Archivwesen nach
außen zu transportieren, das Archiv über Linz hinaus bekannt
zu machen, mit anderen Archivaren, Archiven und kulturellen
Institutionen in Kontakt zu kommen und Erfahrungen auszutauschen, ist das Stadtarchiv seit dem 1. März 2011 auf Facebook mit
einer eigenen Seite vertreten, die (Stand Mitte Dezember 2011) gut
200 Personen und gut 80 anderen Archiven, Museen, Vereinen
und weiteren Institutionen „gefällt“. Die Personen stammen aus
19 überwiegend europäischen Ländern, die meisten aus Deutschland, aber auch Übersee ist mit Mexiko, Japan und Südkorea
vertreten. Den prozentual größten Anteil stellen Personen im Alter
zwischen 25 und 54 Jahren, Nutzer zwischen 13 und 17 Jahren
sind mit insgesamt nur 3 % eher spärlich vertreten.
Im Schnitt wird etwa jeden zweiten Tag ein neuer Pinnwandeintrag erstellt. Das regelmäßige Befüllen der Seite wird allerdings
dadurch erschwert, dass es außerhalb des wöchentlichen Öffnungstags des Archivs praktisch nur in der Freizeit der ansonsARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
ten freiberulich tätigen Archivbetreuerin stattinden kann. An
den Öffnungstagen wird daher immer im Voraus geplant, mit
welchen Beiträgen die Seite in der kommenden Woche bestückt
werden soll und das entsprechende Material zusammengestellt.
Der Zeitaufwand beläuft sich insgesamt auf etwa drei bis vier
Stunden pro Woche. Fester Bestandteil der Pinnwandeinträge ist
die monatliche Rubrik „Daten aus der Linzer Stadtgeschichte“,
die ein historisches Ereignis als Text mit Bild(ern) in Form einer
Notiz vorstellt. Ebenso regelmäßig werden Alben mit Fotos aus
dem Bildarchiv oder auch kurze Filme zu einem bestimmten
Thema veröffentlicht, außerdem Eindrücke aus dem Archivalltag
wie die Bearbeitung von Anfragen, das Vorbereiten von Ausstellungen oder die Arbeit an einer Publikation. Da die Erfahrung
aus der täglichen Archivarbeit zeigt, dass gerade Laien besonders
auf Bildmaterial ixiert sind und dementsprechend auch das
Feedback auf bebilderte Pinnwandeinträge in der Regel deutlich höher ist, wird den meisten Beiträgen mindestens ein Foto
beigefügt. Neben eigenen Beiträgen werden außerdem regelmäßig
Pinnwandeinträge verwandter Facebook-Seiten geteilt, wie etwa
Porträts von Linzer Persönlichkeiten, Veranstaltungen aus dem
Bereich Geschichte und Kultur, Pressemitteilungen oder Fernsehbeiträge. Des Weiteren werden thematisch ähnliche Facebook-Seiten vorgestellt oder auch Online-Portale wie das Portal Rheinische Geschichte, Monasterium oder die Regesta Imperii verlinkt.
Die Beiträge auf der Pinnwand wurden bis Mitte Dezember 2011
gut 150.000 Mal aufgerufen, gut 1.000 Nutzer hinterließen dabei
ein Feedback, überwiegend in Form eines „Gefällt mir“-Klicks,
seltener, aber dennoch regelmäßig auch in Form eines Kommentars, immer wieder werden die Beiträge auch auf anderen
Facebook-Seiten geteilt.
Angespornt durch die positive Resonanz unterhält das Stadtarchiv Linz am Rhein seit Anfang Dezember 2011 auch jeweils eine
Seite auf Twitter und Google+. Aus Zeitgründen sind die Beiträge
hier jedoch größtenteils mit jenen auf der Facebook-Seite des
Archivs identisch, was jedoch insofern unproblematisch ist, als
der Aufbau von Google mit der Möglichkeit, Proilbeiträge zu
erstellen, zu kommentieren oder zu teilen, sehr stark dem des
Konkurrenten Facebook ähnelt. Auch die Personen und Institutionen in den „Kreisen“ der Stadtarchiv-Seite auf Google+ sind
größtenteils mit jenen auf Facebook identisch, wenn auch bislang
in zahlenmäßig (deutlich) kleinerem Rahmen. So war zum Start
der Seite auf Google+ erst ein deutschsprachiges Archiv, das
Archiv der TU Aachen, in diesem sozialen Netzwerk vertreten.
Obwohl es für eine Beurteilung der Aktivitäten auf Google+ und
Twitter noch zu früh ist, fällt das Fazit des Web 2.0-Experiments
des Stadtarchivs Linz am Rhein schon allein aufgrund der ausschließlich guten Erfahrungen rund um den Facebook-Auftritt
äußerst positiv aus. Auf dem Weg zu den gesteckten Zielen konnte
bereits ein großes Stück zurückgelegt werden.
ÖSTERREICHISCHES STAATSARCHIV17
Das Österreichische Staatsarchiv ist seit dem Herbst 2010 auf
Facebook vertreten. Der Anlass für die Gestaltung einer eigenen Facebook-Seite war die Tagung „Archive im Web“18, bei der
man eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Referate über
Facebook verbreiten wollte. Nun ist das Österreichische Staatsarchiv im Internet bereits seit 1995 mit einer eigenen Homepage
vertreten. Die aktuelle Homepage wurde 2006 gelauncht und
sollte im nächsten Jahr einer Neugestaltung unterzogen werden.
141
Diese Neugestaltung sollte dann auch Angebote wie RSS Feeds,
Twitter- und Facebook-Implementierung enthalten.
Die Facebook-Seite wird derzeit von einer Person exklusiv
betreut, der Zeitaufwand dafür liegt im Schnitt bei unter zwei
Stunden pro Woche, ist also durchaus vertretbar. Die Reaktionen der Benutzer auf die Facebook-Seite des Österreichischen
Staatsarchivs sind generell sehr positiv. Stand Februar 2012 hat die
Seite knapp mehr als 460 Fans und ist damit derzeit die größte
deutschsprachige Facebook-Seite eines Archivs. Das Österreichische Staatsarchiv promotet via Facebook hauptsächlich seine
umfangreiche Veranstaltungsschiene „Aus der Werkstatt der Forschung“ und die in Zusammenarbeit mit dem in Wien ansässigen
Simon Wiesenthal Institut veranstalteten „Wiesenthal Lectures“.
Dies sehr erfolgreich, über Facebook erreichen wir Personenkreise, die sonst nicht auf Veranstaltungen des Österreichischen
Staatsarchivs aufmerksam werden. Statistisch gesehen setzen sich
die „Fans“ der Facebook-Seite zu 48 % aus Frauen und zu 50 %
aus Männern zusammen. Bei der Länderverteilung liegt Österreich klar vor Deutschland, danach folgen die Slowakei, die Tschechische Republik und interessanterweise Dänemark. Neben der
Promotion von Veranstaltungen wird Facebook genutzt, um einerseits Inhalte der Homepage des Österreichischen Staatsarchivs
zu promoten, Hinweise auf interessantes Archivgut vorzustellen,
andererseits aber auch, um Änderungen in den Öffnungszeiten
des Archivs und eventuelle Schließtage auch über diesen Kanal zu
verbreiten. Dass dieser „Vertriebsweg“ von Information funktioniert, beweist der am 1. Dezember 2011 auf die Facebook-Seite
gestellte Eintrag über die Weihnachtswünsche des ehemaligen
libyschen Diktators Gaddai an den damaligen österreichischen
Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger aus dem Jahr 197819.
Nur einen Tag später fand diese Meldung Eingang in einen
Bericht der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“. Der
Journalist hatte von diesem Eintrag über das Internet erfahren
und dann eine Glosse dazu verfasst20. Der Gaddai-Eintrag war
sicherlich der bis jetzt am meisten beachtete Eintrag auf unserer
Facebook-Seite. Hier hat das Österreichische Staatsarchiv durch
die Natur seiner Bestände sicherlich Vorteile, wir können aus einem unermesslichen Fundus schöpfen, der einen großen Teil der
historischen Ereignisse der letzten Jahrhunderte abdeckt.
Neben Facebook sind wir bemüht, archivische Inhalte auch in
der Wikipedia unterzubringen. Bei Personen, Gebäuden etc., wo
das Staatsarchiv über wichtiges Material (meistens Nachlässe bzw.
Herrschaftsarchive) verfügt, werden in der Wikipedia Links in die
Archivdatenbank gesetzt, um Wikipedia-Nutzern die Recherche
zu erleichtern. Dies ist in sofern von Bedeutung, da Wikipedia
bereits von 24 % aller Internetnutzer für die Erstrecherche verwendet wird21. Derzeit nicht bedient wird der Microblogdienst
„Twitter“. Die Entscheidung darüber wird wohl einer Neudeinition der Öffentlichkeitsarbeit vorbehalten sein.
Die Erfahrungen mit dem Facebook Auftritt des Österreichischen
Staatsarchivs sind bis jetzt sehr positiv. Man sollte nicht übersehen, dass die Kommunikation via Facebook nicht nur nach außen
wirkt, sondern auch sehr stark nach innen. MitarbeiterInnen, die
ebenfalls auf Facebook vertreten sind, lesen mit großem Interesse
die Eintragungen des Österreichischen Staatsarchivs, dies führt
zu Diskussionen im Haus, die durchaus fruchtbar sein können.
Facebook kann also auch ein Mittel der internen Kommunikation
sein.
Wie Katharina M. Bergmayr geschrieben hat, erfordert „die
Teilnahme im social media-Bereich […] einen erhöhten personel-
len Initialaufwand, um die eigene Institution gut und sinnvoll zu
positionieren. Unumgänglich ist auch die kontinuierliche Plege
und Moderation der Auftritte, da sich andernfalls kein Mehrwert
für Bibliotheken und Archive ergeben würde“22. Dem ist nichts
hinzuzufügen.
STADTARCHIV SPEYER23
Seit dem Frühjahr 2011 kommuniziert das Stadtarchiv Speyer mit
seinen Nutzern über eine institutionelle Facebook-Seite („Fanpage“) und den Mikroblogging-Dienst Twitter. Das Archivteam
arbeitet daneben mit einem Slideshare-Account, der der unkomplizierten und effektiven Präsentation und Verbreitung von
PPT-Folien und anderen Dokumenten dient. Ein derzeit noch
kleiner archivischer Account bei Flickr existiert ebenso wie ein
eigener Wikipedia-Artikel zum Stadtarchiv. Die Entwicklung von
Google+ als Konkurrenz zu Facebook wird derzeit mit Interesse
beobachtet. Mit den „digital-sozialen“ Diensten des Archivs sind
in der Regel zwei Mitarbeiter des Archivs insgesamt ca. zwei bis
drei Stunden pro Woche beschäftigt. Dies dürfte, zumal bei einer
regelmäßigen (täglichen) „Fütterung“ von Facebook und Twitter,
verdeutlichen, dass die Web 2.0-Aktivitäten des Archivs „nebenbei“ erfolgen. Voraussetzung dafür ist eine gute Vernetzung in der
Online-Community.
Das Stadtarchiv ist seit März 2011 als Teilnehmer an einem Pilotprojekt der Speyerer Stadtverwaltung im Web 2.0 aktiv. Seitdem
sind die Pressestelle der Stadt (mit der Facebook-Hauptseite
„Stadt Speyer“) sowie die Touristinformation, die Stadtbibliothek
und das Stadtarchiv in den sozialen Medien aktiv. Seit kurzem
wird mit der Facebook-Seite „Verkehrsentwicklungsplan“ auch
ein konkretes Bürgerbeteiligungsprojekt getestet. Die FacebookFanpage der Stadt Speyer hat derzeit bereits über 1.600 Fans,
Touristinformation und Stadtbibliothek liegen jeweils bei über
150 Freunden.
Das Engagement im Web 2.0 hat für das Stadtarchiv einen Quantensprung in der öffentlichen Wahrnehmung bedeutet. Dies gilt
für die interessierte regionale Öffentlichkeit ebenso wie für die
verbesserte archivisch-fachliche Wahrnehmung des Stadtarchivs.
Eine Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit und Außenwahrnehmung: Dies war ein Motiv, um in den sozialen Medien aktiv zu
werden: Das transparente, offene Stadtarchiv 2.0 wird als solches
wahrgenommen. Gleichzeitig wächst damit aber auch das Bedürfnis unserer „Kunden“ nach Interaktion und Kommunikation
(primär via Facebook, abgestuft auch bei Twitter).
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Nachweise: Facebook-Page https://www.facebook.com/oesterreichisches
staatsarchiv; Homepage: http://oesta.gv.at.
Thomas Aigner/Stephanie Hohenbruck/ThomasJust/Joachim Kemper (Hg.),
Archive im Web. St. Pölten 2011.
http://oesta.gv.at/site/cob__45795/5164/default.aspx, abgerufen am 17.01.2012.
http://derstandard.at/1322531780287/Einserkastl-rau-Der-Rat-des-Colonels,
abgerufen am 17.01.2012.
www.bitkom.org/de/presse/70864_66538.aspx , abgerufen am 17.01.2012.
Katharina M. Bergmayr, Digital sozial = Chancen und Herausforderungen
sozialer Netzwerke für Bibliotheken und Archive, in: Aigner u. a. (Anm. 18),
32-37, hier 35.
Nachweise: www.facebook.com/Speyer.Stadtarchiv; www.twitter.com/#!/
Speyer_Archiv; www.slideshare.net/StadtASpeyer; www.lickr.com/photos/
stadtarchiv_speyer/sets/; http://de.wikipedia.org/wiki/Stadtarchiv_Speyer.
Homepage des Stadtarchivs: www.speyer.de/de/bildung/bibliotheken/stadtarchiv.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
142
AUFSÄTZE
„Dashboard“ für Facebook-/Twitter-Nutzung (Stadtarchiv Speyer)
Die Facebook-Beiträge umfassen sämtliche Aspekte der archivischen Arbeit und Praxis. Hinweise auf Veranstaltungen und
nicht zuletzt exemplarische Archivalien- und Fotopräsentationen
zu bestimmten Themen oder Ereignissen. „Live-Fotos“ aus der
Archivarbeit und ergänzende Berichte (z. B. zu Bestandsarbeiten,
Neuerwerbungen, Archivführungen, Umbauarbeiten im Lesesaal/
Magazin usw.) haben sich als besonders effektiv erwiesen, um die
anscheinend geheimnisvolle „Aura“ eines Archivs überwinden zu
helfen. Im März 2011 ist das Stadtarchiv auf Facebook gestartet.
Es wurde, wenn man das niedrige Web 2.0-Einstiegsniveau im
deutschen Archivwesen zugrunde legt, einiges erreicht: Der
Account des Archivs hat derzeit (Ende Februar 2012) knapp 500
„Fans“ aus 20 Staaten, Tendenz steigend. Die Zahl der Beitragsaufrufe liegt bei weit über 500.000, wobei in vielen Fällen
„Feedback“ erfolgte (durch Kommentare oder die typischen „Gefällt mir“-Klicks). Altersmäßig dominieren die ca. 25 bis 55 Jahre
alten Personen; die von Facebook statistisch erfasste Gruppe
„55+“ umfasst immerhin noch ca. 15 % der Fans.
Aktiv „getwittert“ wird im Stadtarchiv seit Mitte Januar 2011.
Twitter erlaubt bekanntlich nur eine sehr begrenzte Zeichenzahl
für seine Nachrichten, die Bedienung und die rasche Umsetzung
sind aber umso einfacher. Während bei Facebook ein bis zwei
„Posts“ pro Arbeitstag maximal geschrieben werden, können
über Twitter wesentlich mehr Tweets in das Netz gestellt werden.
Die Inhalte orientieren sich teilweise an Facebook, es können
allerdings weit mehr kurze Informationen über das, was „gerade
jetzt“ im Archiv passiert oder an was ganz aktuell gearbeitet wird,
präsentiert werden. Das Archivteam versucht, via Twitter auch auf
Tagungen präsent zu sein und über die entsprechende Veranstaltung bzw. die Vorträge „live“ zu berichten. Derzeit hat das Archivteam über 3.000 Tweets geschrieben oder die Tweets anderer
Personen und Einrichtungen weiter verbreitet („retweetet“). Das
Archiv hat über 300 „Follower“, die die archivischen Nachrichten
lesen und ihrerseits gegenüber ihren Followern weiter verbreiten
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
können. Um ein Medium wie Twitter richtig zu nutzen, sind möglichst interessante und prägnante Tweets erforderlich. Es versteht
sich von selbst, dass die „Sprache“ eines Archivs in den sozialen
Medien generell nicht dermaßen „amtlich“ sein sollte und darf,
wie sie (leider) in der Vorstellung breiter Bevölkerungskreise
wohl erwartet wird. Die Tweets und Facebook-Posts werden von
den Archivmitarbeitern in der Regel deutschsprachig verfasst,
aufgrund des internationalen Zuschnitts der Fans/Follower und
besonders bei Diskussionen und Kommentaren wird aber auch
davon zugunsten englischer Texte abgewichen. Sehr bedauerlich
ist, dass Twitter in Deutschland (im Gegensatz zur Situation im
europäischen Ausland) nur von ganz wenigen Archiven genutzt
wird. Als stark informatorisch geprägtes Netzwerk erscheint der
Mikroblogging-Dienst vielfach archivisch gesehen noch zielgruppenrelevanter als andere soziale Netzwerke und Anwendungen.
Die Erfahrungen mit dem Slideshare-Auftritt des Archivs sind
bislang sehr positiv. Slideshare bietet bereits in seiner kostenlosen
Variante komfortable Möglichkeiten für die Präsentation von
PPT-Folien oder auch Volltexten (PDF). Das Archiv ist bestrebt,
viele Referate der Vortragsreihe „Mittwochabend im Stadtarchiv“
auch über Slideshare zu dokumentieren. Andererseits werden
aber auch die durch die Archivmitarbeiter an anderen Orten
gehaltenen Vorträge dokumentiert. Über eine einfache Vernetzung
mit Facebook und Twitter besteht die Möglichkeit, regelmäßig
und effektiv auf neue Uploads hinzuweisen.
Schließlich noch ein Blick auf das Teilen und Veröffentlichen von
Fotos: Seiten wie Flickr bieten nicht nur die Möglichkeit, rasch
zu einer ansprechenden digitalen Fotopräsentation zu kommen,
sondern auch Möglichkeiten zum Teilen und Kommentieren
von Fotos – auch für Archive. Derzeit nutzt das Stadtarchiv
Flickr nur sporadisch bzw. für kleine „Fotoalben“: Neben einer
virtuellen Ausstellung zur Geschichte des Stadtarchivs („…der
stat briefe mit laden zu ordenen“), die im August 2011 auch in
konventioneller Form im Speyerer Rathaus gezeigt wurde, stehen
143
kleine thematische Fotosammlungen im Mittelpunkt. Diese und
namentlich zukünftige Fotopräsentationen sollen auch durch
nutzergenerierte Informationen ergänzt bzw. angereichert werden.
Die Fotos des Archivs werden unter der Creative-CommonsLizenz CC BY-NC-SA 3.0 veröffentlicht (Namensnennung; nicht
kommerziell; Weitergabe unter gleichen Bedingungen). Da die
kostenfreie Flickr-Variante durch gewisse Beschränkungen eher
für den privaten Gebrauch geeignet scheint, ist das Stadtarchiv
auf das geringfügig kostenplichtige FlickrPro umgestiegen.
Die Erfahrungen des Stadtarchivs Speyer im sozialen Netzwerk
Facebook sowie mit den anderen genannten Anwendungen sind
insgesamt sehr positiv. Ein „Archiv 2.0“ ist freilich ein „Plänzchen“, das geplegt und nicht selten auch verteidigt werden
will. Über die kleinen und großen Probleme sowie vielfachen
Neuerungen der sozialen Medien (Facebook!) sollte man sich als
Anwender immer informieren und auf dem Laufenden halten;
nicht jedem neuen „Follower“ auf Twitter sollte man unbedingt
auch selbst folgen.
LATE-COMING ARCHIVES? SIX PRACTICAL EXPERIENCE REPORTS FROM THE WEB 2.0
For quite some time now, German-speaking archives have tried to
open up new means of communication and public relations by using
Web 2.0-based applications. In this article, five German municipal
archives (Amberg, Frankfurt, Heilbronn, Linz, Speyer) and the
National Archives of Austria inform about the practical realization
and contents of their activities on the social networks Facebook
or Google+ or the microblogging service Twitter. They also report
about their motivation, effort, potential and first results.
Dr. Joachim Kemper
Stadtarchiv Speyer
Johannesstraße 22a, 67346 Speyer
Tel. 06232-14-2242
Joachim.Kemper@stadt-speyer.de
BITS AND BYTES STATT
PERGAMENT UND PAPIER?
DAS DIGITALE HISTORISCHE
ARCHIV KÖLN UND DIE ZUKUNFT
DES KÖLNER STADTARCHIVS
IM WEB 2.0
tz
von Janusch Carl und Andreas Ru
1. EINLEITUNG
Im ersten Handbuch zum Thema „EDV und Archiv“ im deutschsprachigen Raum, das seinerzeit noch maschinenschriftlich
vervielfältigt wurde, schreibt Horst Romeyk Mitte der 1970er
Jahre einleitend:
„Die Entwicklung der Datenverarbeitung in den letzten Jahren,
ihre umfassende Verwendung im öffentlichen Leben, haben auch
Archive mit ihrem Einsatz konfrontiert. Unabhängig davon, ob
es sich nun dabei um Fragen des Prestiges, d. h. der Fortschritt-
lichkeit, oder darum handelt, ob mit der EDV ein hervorragendes
arbeitspraktisches Hilfsmittel gegeben ist, muß der Archivar von
zwei Aspekten ausgehen: Dies ist zum einen die Anwendung
der EDV in der öffentlichen Verwaltung, die Entstehung eines
neuartigen Registraturgutes und damit alle Fragen hinsichtlich
seiner Bewertung, Übernahme, Erschließung und Lagerung.
Dies ist zum andern die unmittelbare Anwendung der EDV zur
Erledigung einzelner unverbundener oder aber komplexer archivarischer Aufgaben. Während das letztere nicht notwendigerweise
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
144
AUFSÄTZE
archivarische Initiativen bedingen muß, wird das erstere mit einer
gewissen Zwangsläuigkeit auf die Archive zukommen.“1
Mit der Frage nach dem archivarischen Umgang mit elektronischen Daten aus der Verwaltung und der nach dem Einsatz
von EDV im Archiv selbst spricht Romeyk die beiden zentralen
Aspekte an, die die archivwissenschaftliche Diskussion der
vergangenen Jahrzehnte geprägt haben.2 Wie in allen Bereichen
des öffentlichen und privaten Lebens sind PCs auch aus dem Archivalltag nicht mehr wegzudenken.3 Insbesondere die elektronische Erschließung und Dokumentation, die Retrokonversion von
Findmitteln sowie die Bereitstellung von Bestandsübersichten,
Findbüchern und Archivalien im Internet haben die Arbeit auf
Seiten der Archive und der im Archiv forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer Weise dynamisiert, die in
den 1970er Jahren kaum abzuschätzen war.4 Auch die von Romeyk
prophezeite „Zwangsläuigkeit“, mit der Archive aufgrund neuartiger Verfahren in den öffentlichen Verwaltungen mit elektronischer Datenverarbeitung konfrontiert werden würden, ist in aller
Dringlichkeit eingetreten, und sie bleibt angesichts immer neuer
technologischer Entwicklungen ein Dauerthema. Allerdings
scheinen Lösungen für die viel beschworene „Ewigkeit“ angesichts der hinreichend bekannten Probleme – Speichermedien,
Formate, Langzeitsicherung – noch nicht in Sicht.5
Die jüngste Herausforderung der EDV im archivischen Bereich
ist das Web 2.0. Das herkömmliche Internet, das kommunikationstheoretisch im Wesentlichen nach dem Sender-EmpfängerModell funktioniert, lässt sich noch problemlos in die bisherige
archivische Praxis einordnen, bei der das Archiv Informationen
zu seinen Beständen in Form von Findmitteln sowie die Archivalien im Original in einem Lesesaal bereitstellt. Auf diese Weise
wird nicht nur die Qualität der Findbucheinträge sichergestellt,
sondern auch der Zugang zu den Quellen aufgrund bestimmter
Verzeichnungsstandards und -routinen vorgegeben und damit
eingeschränkt. Ob die Findmittel analog oder digital eingesehen
werden und ob Archivalien im Original vor Ort oder als hochauflösendes Digitalisat im Netz bereitgestellt werden, ist in diesem
Zusammenhang unerheblich.6 Denn in jedem Fall fungiert das
Archiv als Bereitsteller von Informationen, die es selbst generiert
(Findmittel) und verwaltet (Archivalien), während der Lesesaalbesucher oder Online-User diese Informationen liest, exzerpiert,
„konsumiert“, aber seinerseits keine Möglichkeit hat, sie anzureichern und damit die Kommunikation gleichsam umzudrehen.
Im Web 2.0 dagegen erhält die Kommunikation zwischen Archiv
und Öffentlichkeit eine völlig neue Qualität: Aufgrund ihrer
jeweiligen Spezialkenntnisse zu einzelnen Materien und Beständen könnten Nutzerinnen und Nutzer Findmittel korrigieren und
im Sinne einer Tiefenerschließung verfeinern – man denke nur an
die zahlreichen Amtsbuchserien mit ihren unzähligen Materien,
zu denen herkömmliche Findmittel in der Regel nur die Laufzeiten angeben und die dementsprechend von der Forschung nicht
oder nur unter großem Aufwand herangezogen werden.7 Darüber
hinaus könnte die kollaborative Arbeit im Web 2.0 aber auch bei
den Archivalien selbst ansetzen, indem einzelne Stücke transkribiert, kommentiert, verlinkt oder auch – bei Verunordnung oder
mangelnder Verzeichnung – neu geordnet und verzeichnet würden. Die intime Archiv- und Quellenkenntnis, die sich Einzelne
über Jahre und Jahrzehnte erarbeitet haben, könnte so dauerhaft
gesichert und anderen zugänglich gemacht werden, anstatt in
privaten Zettelkästen zu schlummern und im schlimmsten Fall
verloren zu gehen. Schließlich basiert das Web 2.0 nicht nur auf
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
dem Austausch von Wissen, sondern auch von virtuellen Gütern,
die User ins Netz einstellen und mit anderen teilen. In diesem
Sinne könnten Nutzerinnen und Nutzer die Bestände eines Archivs ergänzen und erweitern, etwa durch digitalisierte Fotos und
Dokumente jeglicher Art aus ihrem persönlichen Besitz.
Voraussetzung der genannten Aktivitäten sind von den Archiven
betriebene Plattformen und entsprechende Web 2.0-Tools, die
die Mitarbeit seitens der Nutzerinnen und Nutzer ermöglichen,
sowie personelle Ressourcen, um diesen Prozess redaktionell zu
begleiten. Denn die Hoffnung, dass eine wie auch immer geartete
Schwarmintelligenz ein sich selbst regulierendes System erschafft,
ist eher trügerisch. Zugleich werden trotz Redaktion und Moderation notwendigerweise gewisse Abstriche bei der Einheitlichkeit
von Verzeichnungen, der Normierung von Transkriptionen, der
durchgängigen Qualität von Kommentierungen usw. gemacht
werden müssen, um die Nutzerinnen und Nutzer nicht in ihrem
Engagement durch Überregulierung zu entmutigen.
Derzeit beinden sich die Archive noch in einem intensiven
Diskussionsprozess, ob es sich bei dieser neuen Volte der technologischen Entwicklung um eine Katastrophe handelt, die noch
abzuwenden sein könnte, oder – um mit Romeyk zu sprechen
– um eine „Zwangsläuigkeit“, der nicht mehr zu entrinnen ist.
Und es gibt die – aus Benutzersicht – erfreulichen Stimmen, die
sich aktiv an der Entwicklung von kollaborativen Nutzungsmöglichkeiten von Archiven und Quellen im Netz beteiligen.8 Einen
wichtigen Schritt in diese Richtung hat das Projekt „monasterium.net“ gemacht, das zurzeit mehr als 220.000 Urkunden aus
über 50 europäischen Archiven für eine kollaborative Erschließung (Beschreibung, Regestierung, Transkription, Personen- und
Ortsindex, Literaturhinweise) bereitstellt.9 Einen anderen, vom
Gesamtbestand eines einzelnen Archivs ausgehenden Ansatz
verfolgt „Das digitale Historische Archiv Köln“ (DHAK), dessen
Entstehungsgeschichte, Entwicklungsstand und Perspektiven mit
Blick auf die digitale Zukunft des Kölner Stadtarchivs im Folgenden vorgestellt werden sollen.10
2. GRÜNDUNG UND ERSTE KLICKS
Die Gründung des DHAK war eine Tat der trotzigen Hoffnung.
Der Magazinturm des Historischen Archivs der Stadt Köln
(HAStK) war am 3. März 2009 im Zusammenhang mit dem Bau
der Nord-Süd-Bahn eingestürzt, zwei Menschen in angrenzenden
Gebäuden waren mit in den Tod gerissen worden. Besucher und
Mitarbeiter des Archivs hatten sich dank rechtzeitiger Warnung
retten können, doch fast alle Archivalien waren in der Baugrube
versunken.11 Lediglich die Stücke, die sich im Keller des benachbarten Verwaltungsgebäudes befunden hatten, konnten rasch und
weitgehend unbeschädigt geborgen werden. Nicht vom Einsturz
betroffen waren zudem die externen Magazine. Auch in den
folgenden Tagen und Wochen wurden neben Akten und Aktenresten mit den unterschiedlichsten Schadensbildern immer wieder
nahezu unversehrte Archivkartons aus den Trümmern gerettet.
Doch zunächst ging die Öffentlichkeit vom Schlimmsten, dem
vollständigen Verlust der Bestände, aus. Die enormen Kräfte, die
beim Einsturz allein durch das Gewicht der Betonplatten wirkten,
ließen zunächst wenig Hoffnung. Hinzu kam, dass sich die Baugrube schnell mit Grund- und Regenwasser füllte.12
Die Idee, in dieser Situation ein neues, ein digitales Stadtarchiv im
Internet aufzubauen, kam von Lisa Dieckmann, Sabine Scheele
und Holger Simon von prometheus – Das verteilte digitale Bildar-
145
Das DHAK im November 2009
1
2
3
4
5
6
Horst Romeyk: EDV und Archive. Ein Ratgeber. Düsseldorf masch. o.J.
[1975] (= Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes NordrheinWestfalen E/2), S. 11. Eine zweite, überarbeitete und nunmehr gedruckte Auflage erschien Siegburg 1981.
Die gängigen Einführungen in die Archivarbeit behandeln das Thema erstaunlicherweise nur am Rande und mit gehöriger Skepsis, vgl. etwa Sabine
Brenner-Wilczek, Gertrude Cepl-Kaufmann, Max Plassmann: Einführung
in die moderne Archivarbeit. Darmstadt 2006, S. 38, 57, 63, 99 f.; Martin
Burkhardt: Arbeiten im Archiv. Paderborn u. a. 2006, S. 91-94, 101, 107; Eckhart G. Franz: Einführung in die Archivkunde. Darmstadt 72007, S. 65 f., 90
f., 120. Offensichtlich besteht erheblicher Nachholbedarf, aktuelle Entwicklungen im Archivbereich über den engeren Kreis der Fachleute hinaus zu
kommunizieren. Recht ausführlich dagegen Peter Worm: Neue Informationstechnologien und Archive. In: Norbert Reimann (Hrsg.): Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste. Münster 22008, S. 219-237.
Umso mehr schmunzelt man heute über die durchaus ernst gemeinte Frage von Hartmut Weber: Der Computer im Archiv – zeitgemäße Arbeitshilfe
oder modische Spielerei? In: Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen 40 (1987), Sp. 485-504; oder auch die sehr grundsätzlichen Ratschläge zum Umgang mit PCs von Arie Nabrings: Der Einsatz des PersonalComputers (PC) im Archiv. In: Dieter Kastner (Hrsg.): Archivgesetzgebung
und PC im Archiv. Köln/Bonn 1989 (= Landschaftsverband Rheinland – Archivberatungsstelle. Archivhefte 21), S. 89-94.
Vgl. zu unterschiedlichen integrierten Fachinformationssystemen Gerald
Maier, Thomas Fritz (Hrsg.): Archivische Informationssysteme in der digitalen Welt. Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. Stuttgart 2010 (=
Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A/23).
So auch Angelika Menne-Haritz: Digitalisierung und Onlinestellung von
Archivgut im Bundesarchiv. Ziele, Verfahren und Werkzeuge. In: Katrin
Wenzel, Jan Jäckel (Hrsg.): Retrokonversion, Austauschformate und Archivgutdigitalisierung. 14. Archivwissenschaftliches Kolloquium der Archivschule Marburg. Marburg 2010 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg
– Institut für Archivwissenschaft 51), S. 291-317, hier S. 291 f.
Zum aktuellen Diskussionsstand bezüglich Online-Findmitteln und Digitalisierung von Archivgut vgl. u. a. Wenzel/Jäckel (Anm. 5); Heiner Schmitt
(Red.): Archive im digitalen Zeitalter. Überlieferung – Erschließung – Präsentation. 79. Deutscher Archivtag 2009 in Regensburg. Fulda 2010 (= Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 14); außerdem Frank M.
Bischoff, Marcus Stumpf: Digitalisierung von archivalischen Quellen. DFGRundgespräch diskutiert fachliche Eckpunkte und Ziele einer bundesweiten Digitalisierungskampagne. In: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 64
(2011), S. 343-346; sowie mit Blick auf Köln Andreas Berger: Digitalisierung
– Zukunft des Archivs? In: Bettina Schmidt-Czaia, Ulrich S. Soénius (Hrsg.):
Gedächtnisort. Das Historische Archiv der Stadt Köln. Köln/Weimar/Wien
2010, S. 84-95; Ulrich Fischer: Zum Stellenwert der Retrokonversion im Rahmen der Katastrophenbewältigung. Das Beispiel des Stadtarchivs Köln. In:
Wenzel/Jäckel (Anm. 5), S. 79-107.
7
8
9
10
11
12
Dieser Form des „crowdsourcing“, also der Auslagerung von Arbeiten auf
möglichst viele Interessierte, wird gegenwärtig auf archivischer Seite noch
mit erheblicher Skepsis begegnet, vgl. etwa Bischoff/Stumpf (Anm. 6), S.
344; Robert Kretzschmar u. a.: Die Rolle der Archive im digitalen Zeitalter.
In: Schmitt (Anm. 6), S. 225-248, hier S. 240-248. Vgl. dagegen für Großbritannien das Projekt „Your Archives“ der National Archives, das Nutzerinnen
und Nutzern seit 2007 ermöglicht, „to contribute their knowledge of archival sources held by The National Archives and other archives throughout the
UK.“, yourarchives.nationalarchives.gov.uk (aufgerufen am 5.3.2012).
Vgl. etwa Mario Glauert: Archiv 2.0. Vom Aufbruch der Archive zu ihren
Nutzern. In: Schmitt (Anm. 6), S. 43-56; Susann Gutsch: Web 2.0 in Archiven. Hinweise für die Praxis. Potsdam 2010 (= Veröffentlichungen der Fachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken im Brandenburgischen Landeshauptarchiv 8).
www.monasterium.net (aufgerufen am 5.3.2012); vgl. hierzu zuletzt Karl
Heinz: Monasterium.net – Auf dem Weg zu einem europäischen Urkundenportal. In: Theo Kölzer, Willibald Rosner, Roman Zehetmayer (Hrsg.): Regionale Urkundenbücher. St. Pölten 2010 (= NÖLA. Mitteilungen aus dem
Niederösterreichischen Landesarchiv 14), S. 139-145; Joachim Kemper: Das
virtuelle Urkundenarchiv „Monasterium“. Bayerische Urkunden im internationalen Kontext. In: Wenzel/Jäckel (Anm. 5), S. 361-378; sowie in einem
größeren Kontext Georg Vogeler: Digitale Urkundenbücher. Eine Bestandsaufnahme. In: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 56 (2010), S. 363-392, hier S. 379 f.
www.historischesarchivkoeln.de (aufgerufen am 5.3.2012); vgl. hierzu bereits
Andreas Rutz: Ein digitaler Lesesaal für die Geschichte der Stadt Köln. Das
digitale Historische Archiv Köln. In: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 69-75;
ders.: Das digitale Historische Archiv Köln (www.historischesarchivkoeln.
de). Soforthilfe für die Forschung und virtuelle Rekonstruktion der Kölner
Bestände. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 73 (2009), S. 451 f.; Berger (Anm.
6), S. 91-93.
Die Bestände des HAStK umfassten vor dem Einsturz ca. 52.000 Urkunden,
10.000 Testamente, 23 Kilometer laufende Akten, 800 Nachlässe und Sammlungen, 204.000 Karten und Pläne, 38.500 Plakate und unzählige Fotos. Zu
verschiedenen Aspekten der Archivgeschichte vgl. jetzt Bettina SchmidtCzaia (Hrsg.): Das Schatzhaus der Bürger mit Leben erfüllt. 150 Jahre Überlieferungsbildung im Historischen Archiv der Stadt Köln. Köln 2011 (= Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 98).
Zum Archiveinsturz und seinen Konsequenzen vgl. insb. Bettina SchmidtCzaia, Ulrich Fischer, Max Plassmann: Zum Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln. In: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 62 (2009), S.
148-152; Johannes Kistenich: Phasen der Bergung und Erstversorgung des
Archivguts aus dem Historischen Archiv der Stadt Köln. In: Ebd., S. 305313; Wilfried Reininghaus, Andreas Pilger (Hrsg): Lehren aus Köln. Dokumentation der Expertenanhörung „Der Kölner Archiveinsturz und die
Konsequenzen“. Düsseldorf 2009 (= Veröffentlichungen des Landesarchivs
Nordrhein-Westfalen 25); Schmidt-Czaia/Soénius (Anm. 6).
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146
AUFSÄTZE
chiv für Forschung und Lehre e.V.13 Die Kunsthistoriker entwickelten das DHAK unmittelbar nach dem Einsturz innerhalb von vier
Tagen als offene, frei zugängliche Plattform, zu der jeder beitragen
konnte. Ziel war es, als Ersatz für den unermesslichen kulturellen
Verlust möglichst viele Reprographien von Kölner Archivalien zu
sammeln, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Zuge
ihrer Forschungen im HAStK in den vergangenen Jahrzehnten
angefertigt und in ihren Unterlagen verwahrt hatten. Hinsichtlich
der Form dieser „Zweitüberlieferung“ wurden keinerlei Einschränkungen vorgenommen, denn im Zweifel kann auch eine
schlechte Kopie, ein Schwarzweiß-Foto oder selbst ein Exzerpt
zur Rekonstruktion der Bestände beitragen. Da nicht jeder über
einen Scanner oder eine Digitalkamera verfügt, bot das DHAK
von Anfang an auch die Möglichkeit, anstelle von Uploads
lediglich Hinweise auf vorhandene Abschriften oder Fotokopien
einzutragen. Bei Bedarf können diese Unterlagen zu einem späteren Zeitpunkt seitens des HAStK digitalisiert und online gestellt
werden. Zwar fehlt einer solchen Überlieferung notwendigerweise
„die archivalische Aura“,14 aufgrund des befürchteten Ausmaßes
der Katastrophe stellte sie jedoch die einzige Alternative zum
Totalverlust des Kölner Archivguts dar.
Drei Tage nach der Online-Stellung der Seite und dem ersten
Aufruf an die wissenschaftliche Öffentlichkeit zur Beteiligung am
digitalen Wiederaufbau des Kölner Stadtarchivs15 stiegen Manfred
Groten und Andreas Rutz von der Abteilung für Rheinische
Landesgeschichte des Bonner Instituts für Geschichtswissenschaft in das Projekt ein und ergänzten die bildwissenschaftliche
und informationstechnologische Erfahrung von prometheus
um Kompetenzen im Bereich der Geschichts- und Archivwissenschaft.16 Ende März wurde mit Janusch Carl ein Mitarbeiter
für die Redaktion und Moderation der Plattform eingestellt.
Prometheus und die Abteilung für Rheinische Landesgeschichte
schlossen im April 2009 einen Kooperationsvertrag mit dem
HAStK, der einerseits den Upload von Reprographien auf eine
rechtlich sichere Grundlage stellt und andererseits die längerfristige Zusammenarbeit des „digitalen“ mit dem „analogen“ Stadtarchiv regelt. Unterstützt wurde das DHAK von Beginn an von
zahlreichen Institutionen aus den Bereichen Archiv, Restaurierung, Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte, nicht zuletzt
dem Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V., dem
Verband der Restauratoren e. V., dem Verband der Historikerinnen
und Historiker Deutschlands e. V. sowie dem Verband Deutscher
Kunsthistoriker e. V. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich zudem
mehrere hundert Nutzerinnen und Nutzer (über 400 bis Juni
2009) registriert und damit ihre Unterstützung für das Projekt
erklärt. Im Mai wurde das DHAK für den Grimme Online Award
nominiert und gehörte damit zu den innovativsten Internetangeboten des Jahres 2009 in Deutschland.17
3. WEB 2.0 IM ARCHIV
Das DHAK basierte von Anfang an auf der Idee des Web 2.0,
wobei zunächst nur ein einfacher Upload von Bilddateien in unterschiedlichen Formaten (JPEG, GIF, PDF, DOC oder RTF) und
die Angabe von Basisdaten möglich war. Mit der vollständigen
Abbildung der Archivtektonik des HAStK und einem komplexeren Upload-Formular wurde es dann möglich, die hochgeladenen
Reprographien unmittelbar dem jeweiligen Bestand bzw. der
betreffenden Verzeichnungseinheit zuzuordnen und die Beschreibung des Archivales im Sinne eines Findbuchs zu differenzieren.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Das Upload-Formular beinhaltet derzeit folgende Kategorien:
Zuordnung zur Archivsystematik, Titel, Datierung, Beschreibung/
Zusatzinformation, Informationen zur Vorlage sowie Rechtlicher
Hinweis. Die Einträge werden jeweils nach der Online-Stellung
redaktionell überprüft und gegebenenfalls korrigiert und ergänzt.
Gerade zu Beginn des Projektes zeigte sich eine rege Bereitschaft,
Reprographien von Kölner Archivalien im DHAK verfügbar zu
machen. Bereits einen Monat nach Gründung hatte der „Digitale
Lesesaal“ über 1.000 Einträge, zwei Monate später (im Juni 2009)
über 2.700. Der quantitative Zuwachs hielt im Laufe des ersten
Jahres an, wobei gerade die Digitalisierung von Mikroilmen von
einzelnen Nutzerinnen und Nutzern sowie von verschiedenen
in- und ausländischen Forschungseinrichtungen zu einer erheblichen Vergrößerung des Bildbestands beitrug. Bis November
2009 wurden so 5.000 und bis Februar 2010 sogar 10.000 Einträge
erreicht. Bei der Digitalisierung von Nutzerkopien wurde das
DHAK von der Deutschen Fotothek Dresden18 und dem Arbeitsbereich Digitale Dokumentation im Institut für Kunstgeschichte
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz19 unterstützt. Unter
anderem wurden folgende größere Sammlungen in den „Digitalen Lesesaal“ eingestellt: ein Konvolut von Digitalfotos aus
den Beständen 10 (Ratsprotokolle), 30 (Verfassung und Verwaltung), 95 (Zunft), 101 (Schreinsbücher) und 120 (Zivilprozesse)
von Franz-Josef Arlinghaus, Bielefeld (über 6.700 Einträge); 17
Verzeichnungseinheiten aus Beständen verschiedener geistlicher Institutionen von der Arbeitsstelle für Mittelhochdeutsche
Grammatik an der Universität Bonn (über 800 Einträge); der
Liber Iuventutis und der Liber Senectutis des Kölner Ratsherrn
Hermann Weinsberg (Best. 7030, Nr. 49 und 50) von der Bonner
Abteilung für Rheinische Landesgeschichte (über 1.300 Einträge);
der komplette Nachlass Jakob Ignaz Hittorffs (Best. 1053) von
der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln (über 1.700 Einträge). Hinzuweisen ist auch auf die dem DHAK vom Institut de
recherche et d’histoire des textes (CNRS) in Paris zur Verfügung
gestellten digitalisierten Mikroilme von Kölner Handschriften
(über 5.000 Digitalisate). Insgesamt stammen die meisten der von
den Nutzerinnen und Nutzern hochgeladenen Reprographien aus
dem „Alten Archiv“, also aus den Beständen vor 1815. Hinzu kommen Eintragungen in der Abteilung „Archivische Sammlungen
und Selekte“, insbesondere bei Handschriften und Karten, sowie
verschiedene Einträge in der Abteilung „Nachlässe und Sammlungen“. Die „Städtische Überlieferung nach 1815“ ist dagegen
mit gerade einmal 155 Einträgen nur marginal vertreten.
Ein Jahr nach dem Einsturz wurden im DHAK auch die ersten
digitalisierten Mikroilme aus der Sicherungsverilmung des
HAStK eingestellt. Diese waren im Rahmen eines Projekts des
Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
(BBK) seit 1961 entstanden.20 90.000 Bilder aus den Beständen
7010 (Handschriften [Wallraff]) und 7020 (Handschriften [W*])
ließen die 100.000er-Marke im „Digitalen Lesesaal“ erreichen.
Inzwischen inden sich dort über 260.000 Einträge, was vor
allem auf das Einstellen weiterer digitalisierter Mikroilme des
Archivs zurückzuführen ist. Selbst drei Jahre nach dem Einsturz,
im Frühjahr 2012, stellen auch Nutzerinnen und Nutzer noch
Reprographien in das DHAK ein. Mittelfristig sollen die etwa
6.100 digitalisierten Mikroilme des HAStK mit insgesamt ca.
8 Millionen Bildern vollständig in das DHAK aufgenommen
werden. Den Schwerpunkt der Verilmungen bildet das „Alte
Archiv“, das zu großen Teilen abgelichtet wurde. Es fehlt freilich
ungeordnetes sowie nach Abschluss von Bestandsverilmungen
147
hinzugekommenes Material. Zu einem wesentlich kleineren Teil
liegen auch Sicherungsverilmungen der Bestände des 19. Jahrhunderts sowie – zu einem noch kleineren Teil – des 20. Jahrhunderts
vor („Städtische Überlieferung nach 1815“). Ähnliches gilt für die
Abteilung „Nachlässe und Sammlungen“, während die „Archivischen Sammlungen und Selekte“ zumindest in der Gruppe der
Handschriften mehr oder weniger vollständig verilmt worden
sind.21 Ergänzt wird dieses Material künftig durch Digitalisate
der geretteten Originale. Die Digitalisierung erfolgt im Zuge der
Restaurierung, so dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt Quantität
und Qualität der Digitalisate noch nicht abzuschätzen sind. Sie
werden jedoch – so ist zumindest zu hoffen – die digitalisierten
Reprographien von Kölner Archivalien nach und nach vervollständigen und gegebenenfalls auch ersetzen. Vielfach wird aber
ein Nebeneinander von Kopien und digitalisierten Originalen
sinnvoll sein, um unterschiedliche Erhaltungszustände vor und
nach dem Einsturz zu dokumentieren und für die Wissenschaft
verfügbar zu halten.
Die Retrokonversion der Findmittel des HAStK wurde ebenso
wie die Digitalisierung der Sicherungsverilmungen von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft inanziert, für Letztere stellte
auch das Land Nordrhein-Westfalen Mittel bereit. Zusammen
bilden diese Maßnahmen die zentrale Grundlage für die weitere
Entwicklung des DHAK. Ohne Online-Findmittel wären die Digitalisierung und das Online-Stellen der Sicherungsverilmungen
wie künftig auch von Digitalisaten der restaurierten Originale
weder sinnvoll noch möglich. Gleiches gilt für den Ausbau der
Web 2.0-Funktionalitäten, die nur auf der Basis der archivischen
Findmittel und einer substantiellen Zahl von Digitalisaten
erfolgen kann. Das Online-Stellen der Sicherungsverilmungen
macht aus dem DHAK eine attraktive Forschungsplattform,
die genügend Material umfasst, um zumindest für die Zeit vor
1815 auch ohne direkten Zugriff auf die originalen Archivalien
intensive Forschungen zur Kölner Geschichte durchführen zu
können.22 Die von Nutzerinnen und Nutzern sowie Institutionen
hochgeladenen Kopien aus dem „Alten Archiv“ sind teilweise
von besserer Qualität und beinhalten auch farbige Abbildungen,
teilweise schließen sie aber auch Lücken im Mikroilmbestand
des HAStK.23 Für das 19. und 20. Jahrhundert ist diese von Nutzerseite generierte Überlieferung von unschätzbarem Wert,24 denn
einerseits liegen nur wenige Sicherungsverilmungen vor und
andererseits ist noch nicht abzusehen, ob, wann und in welchem
Zustand die Originale wieder zur Verfügung stehen werden.
Geplant ist, in diesem Bereich durch weitere Aufrufe und gezieltes
Kontaktieren von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die
zu diesen Jahrhunderten gearbeitet haben, weitere Reprographien
zu akquirieren. Gleiches gilt für die „Nachlässe und Sammlungen“, für die mit den Nachlassgebern und Depositaren Kontakt
aufzunehmen wäre.
Beim Eintragen „ihrer“ Archivalien zeigten die Nutzerinnen und
Nutzer in der Regel eine hohe Archivkompetenz, der größte Teil
war korrekt zugeordnet bzw. bezeichnet. Selbstverständlich gab
es auch fehlerhafte Eintragungen, eine Korrektur war jedoch fast
immer möglich. Sensibelster Punkt und damit auch Quelle der
meisten Fehler war gerade zu Beginn des Projekts die Zuordnung
der Digitalisate zur richtigen Verzeichnungseinheit. Dies resultierte vor allem aus dem Umstand, dass zunächst noch nicht alle
Verzeichnungseinheiten im „Digitalen Lesesaal“ abgebildet waren
und damit auch nicht zur Auswahl standen. Inzwischen sind
aufgrund der fortgeschrittenen Retrokonversionsmaßnahmen des
HAStK in der Abteilung „Altes Archiv“ und bei den Handschriften fast alle Verzeichnungseinheiten vorhanden. Da hier noch immer die meisten Uploads erfolgen, ist die größte Fehlerquelle somit behoben. In den Abteilungen „Städtische Überlieferung nach
1815“ und „Nachlässe und Sammlungen“ fehlen großteils die
Verzeichnungseinheiten. Sie werden jedoch sukzessive über den
Datenabgleich mit dem HAStK nachgetragen. Teilweise hatten die
Nutzerinnen und Nutzer zunächst auch Schwierigkeiten mit dem
Upload der Dateien selbst. Mittlerweile wurde die Eingabemaske
jedoch soweit vereinfacht, dass dieses Problem ebenfalls weitgehend behoben ist. Kleinere Fehler ergeben sich mitunter bei der
Datierung und Beschreibung der Uploads, was auf mangelnde
Kenntnisse der jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer zurückzuführen ist. In jedem Fall ist eine redaktionelle Überprüfung und
gegebenenfalls Nachbearbeitung der nutzergenerierten Inhalte
weiterhin und dauerhaft notwendig.
Ein weiteres Web 2.0-Feature des DHAK war von Beginn an das
„Netzwerk“. Hier können Nutzerinnen und Nutzer ihre Forschungsprojekte zu Kölner Themen eintragen und Bestände und
Akten vermerken, auf die sie für ihre Arbeit dringend angewiesen
sind. Die Projekte reichen von genealogischen Forschungen über
Staats- und Magisterarbeiten bis hin zu Promotionsvorhaben
sowie Aufsatz- und Buchprojekten. Das Netzwerk ermöglicht
einerseits die Kontaktaufnahme der Nutzerinnen und Nutzer
untereinander, andererseits gibt die konkrete Nachfrage nach
Archivalien dem HAStK Anhaltspunkte für die Priorisierung
bei Digitalisierung und Restaurierung. Auch in diesem Bereich
wurden unmittelbar nach dem ersten Online-Stellen der Seite
besonders viele Einträge vorgenommen. Dass danach die Zahl der
Neuzugänge stark zurückgegangen ist, zeigt den tiefen Einschnitt,
den der Archiveinsturz in der Erforschung und Erforschbarkeit
der Kölner Geschichte hinterlassen hat. Hier neue Wege aufzuzeigen, ist eine der Herausforderungen, der sich Wissenschaft und
Archiv in den kommenden Jahren intensiv widmen müssen.
Nur bei der Registrierung und im „Netzwerk“ wurden bislang
Missbrauch durch Werbung bzw. Spam festgestellt. Um dies zu
13
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23
24
www.prometheus-bildarchiv.de (aufgerufen am 5.3.2012).
Wolfgang Ernst: ∆t → o, oder: Der Einbruch des Realen in die symbolische
Ordnung von Gedächtnis. Eine medienarchäologische Reaktion auf den
Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln am 3. März 2009. In: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 25-38, hier S. 36.
www.historischesarchivkoeln.de/downloads/Aufruf.pdf (aufgerufen am 5.3.
2012).
www.landesgeschichte.uni-bonn.de (aufgerufen am 5.3.2012).
www.grimme-institut.de/html/index.php?id=918 (aufgerufen am 5.3.2012).
www.deutschefotothek.de (aufgerufen am 5.3.2012).
www.kunstgeschichte.uni-mainz.de/399.php (aufgerufen am 5.3.2012).
www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Kulturgutschutz/Sicherungsverilmung/sicherungsverilmung_node.html (aufgerufen am 8.3. 2012).
Vgl. die Liste der verilmten Bestände, www.archive.nrw.de/kommunalarchive/kommunalarchive_i-l/k/Koeln/BilderKartenLogosDateien/Verilmte_Best_nde.pdf (aufgerufen am 5.3.2012).
Zu den Konsequenzen des Archiveinsturzes für die Forschung vgl. Manfred
Groten: Forschungen zur rheinischen Geschichte. In: Schmidt-Czaia/Soénius (Anm. 6), S. 151-158; Marita Blattmann: Forschungen zur mittelalterlichen
Geschichte. In: Ebd., S. 158-169; Gerd Schwerhoff: Frühneuzeitforschung. In:
Ebd., S. 170-180; Ralph Jessen: Kölngeschichte – Stadtgeschichte – Zeitgeschichte. In: Ebd., S. 181-197.
Vgl. etwa die hervorragende Qualität der von einer Nutzerin eingestellten
320 Urkundendigitalisate im Best. 234 (Katharina, Deutscher Orden).
So ist beispielsweise Bestand 650 (Armenverwaltung) nicht mikroverilmt,
im DHAK liegen 59 Einträge aus diesem Bestand vor.
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148
AUFSÄTZE
Das Netzwerk im DHAK
vermeiden, wurde eine Sicherung implementiert, die seither
jede weitere Störung durch Spam-Programme verhindert hat.
Dennoch ist auch im Bereich des Netzwerkes eine redaktionelle
Überprüfung notwendig. Insgesamt ist für die Redaktion der
Neueinträge im „Digitalen Lesesaal“ und im „Netzwerk“ sowie
für die Betreuung von Nutzerinnen und Nutzern ein Aufwand
von ein bis zwei Stunden täglich anzusetzen. Zur Vereinfachung
dieser Arbeit sind die am häuigsten gestellten Fragen unter dem
Menüpunkt FAQs zusammengefasst und beantwortet. Bei den
täglich eingehenden Anfragen geht es nicht nur um das DHAK
und seine Funktionen. Die Emailadresse info@historischesarchiv
koeln.de hat sich vielmehr zu einer zentralen Kontaktadresse des
HAStK entwickelt. Hier erkundigen sich Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler nach einschlägigen Beständen in Köln und
deren Zugänglichkeit oder bitten um konkrete Hilfestellung bei
speziellen Forschungsfragen und -problemen, Bürgerinnen und
Startseite des DHAK seit Juni 2011
Bürger suchen nach Informationen über verstorbene Ahnen,
Schüler und Studenten fragen nach Praktikumsplätzen, auch Stellengesuche oder Angebote zur Mitarbeit am Wiederaufbau gehen
hier ein. All diese Anfragen spiegeln nicht zuletzt die Bedeutung
des DHAK für die Außenwahrnehmung des HAStK wider.
4. GEGENWÄRTIGER ENTWICKLUNGSSTAND
Im Juni 2011 wurde das DHAK einem aufwändigen Redesign
unterzogen und präsentiert sich seitdem optisch und technisch
in neuem Gewand. Auf der Startseite werden die Nutzerinnen
und Nutzer im Bereich „Informationen“ begrüßt. Unter der
Überschrift „Zum ersten Mal im Archiv?“ inden diejenigen, die
bislang noch keinerlei Erfahrungen mit Archivarbeit haben und
sich ganz grundsätzlich über die Institution „Archiv“ informieren
Informationsseite des DHAK „Zum ersten Mal im Archiv?“
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Der digitale Lesesaal
wollen, erste Hinweise zu Archiven im Allgemeinen und zum
HAStK im Besonderen. Eine zweite Informationsebene verbirgt
sich hinter der Rubrik „Stöbern und Forschen“, wo die beliebtesten, schönsten und bedeutendsten Archivalien des aktuellen
Online-Bestands präsentiert werden. Außerdem werden die
Suchfunktion und die in der Datenbank hinterlegten Metadaten
erläutert. Hinweise zur Geschichte des HAStK und zum DHAK
ergänzen in zwei weiteren Informationsebenen das Angebot.
Neben den „Informationen“ bietet das DHAK drei weitere
Bereiche. Zum einen wird das oben bereits beschriebene „Netzwerk“ weitergeplegt. Daneben tritt der Bereich „Patenschaften“,
über den seit November 2009 Restaurierungspatenschaften für
Archivalien des HAStK vermittelt werden. In preislich gestaffelten Kategorien werden hier beschädigte Urkunden, Akten und
Handschriften und die jeweils notwendigen Restaurierungsmaßnahmen anschaulich mit Bildmaterial vorgestellt.25 Interessierte können so ganz gezielt ein Stück auswählen und eine
Patenschaft übernehmen, die nach Abschluss der Restaurierung
auf dem Schutzdeckel des Archivales und in der Patenliste des
DHAK veröffentlicht wird. Kernstück des DHAK ist schließlich
der „Digitale Lesesaal“. Aufbau und Präsentation entsprechen
weitgehend den Empfehlungen des IT-Ausschusses der Archivreferentenkonferenz von 2010.26 Die vollständige Archivtektonik ist
in einer auffaltbaren Baumstruktur auf der linken Bildschirmseite
abgebildet. Entsprechend der Klassiikation werden hier grundsätzlich alle Bestände des Archivs angezeigt und zwar auch solche,
von denen noch keine Digitalisate eingestellt wurden. Über die
Baumstruktur erreichbar sind die Bestandsbeschreibungen und
die Findbücher des Archivs, soweit sie in elektronischer Form
vorliegen. Es handelt sich dabei um exakt dieselben Daten, die
auch im nordrhein-westfälischen Archivportal „archive.nrw“
einsehbar sind und die in regelmäßigen Abständen vom HAStK
aktualisiert werden.27 Als Quelle dient die archivinterne Datenbank „Acta Pro“, der Import der SAFT-XML-Dateien in die
MySQL-Datenbank des „Digitalen Lesesaals“ funktioniert über
eine XSL-gestützte Routine.28 Die Bestandsbeschreibungen und
Findbucheinträge werden im DHAK auf der rechten Bildschirmseite angezeigt, es fehlt allerdings noch eine Druckfunktion, um
einzelne oder mehrere Findbucheinträge für die analoge Verwendung auszudrucken. Ebenfalls auf dieser Seite indet sich das zu
den einzelnen Verzeichnungseinheiten vorhandene Bildmaterial.
Bei Thumbnail-Ansichten (Vorschau) und der ersten Vergrößerungsstufe bleiben die Baumstruktur auf der linken Seite und die
Findbuchangaben auf der rechten Seite zusammen mit dem Digitalisat sichtbar. In der nächsten Vergrößerungsstufe öffnet sich
der DFG-Viewer und ermöglicht die Arbeit mit dem Archivale am
Bildschirm.29
Einen zweiten Zugang zu den Findbüchern und Digitalisaten
bietet neben der Baumstruktur die Suchfunktion. Durch die Integration des Suchfeldes in jede Seite des DHAK ist die einfache
Suche von allen Bereichen aus nutzbar. Zusätzlich existiert im
„Digitalen Lesesaal“ eine erweiterte Suche, mit der neben der
Volltextsuche gezielt in den Kategorien Titel, Signatur, Laufzeit
und Inhalt recherchiert werden kann. Die Suche greift auf die
Metadaten zurück, die bei den Bilddateien im DHAK hinterlegt
sind. Grundsätzlich beinhaltet das Metadatengerüst Signatur,
Laufzeit, Betreff oder Titel, kurze Inhaltsangabe, Archivgutart
(z. B. Urkunde oder Sachakte), Überlieferungsform (z. B. Mikro-
25
26
27
28
29
Vgl. zu den in Köln notwendigen Restaurierungsmaßnahmen grundlegend
Ulrich Fischer, Nadine Thiel, Imke Henningsen: Zerrissen – verschmutzt
– zerknickt. Die Restaurierung und Konservierung des Gesamtbestandes
des Historischen Archivs der Stadt Köln – Sachstand und Perspektiven. In:
Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 64 (2011), S. 15-28; außerdem Franz
Verscharen, Gisela Fleckenstein, Andreas Berger: Was restaurieren wir zuerst? Priorisierungsmatrix für die Restaurierung und Zusammenführung
der Bestände beim Wiederaufbau des Historischen Archivs der Stadt Köln.
In: Ebd., S. 29-32.
Vgl. Beate Dorfey: Erschließungsinformation im Internet. Empfehlungen
zur Weiterentwicklung der Präsentation im Netz. In: Archivar. Zeitschrift
für Archivwesen 63 (2010), S. 56-59.
www.archive.nrw.de (aufgerufen am 5.3.2012).
Vgl. zu SAFT-XML internet.archivschule.uni-marburg.de/SAFT/doku.php
(aufgerufen am 5.3.2012).
Vgl. zum DFG-Viewer www.dfg-viewer.de (aufgerufen am 5.3.2012).
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150
AUFSÄTZE
ilm) sowie gegebenenfalls den Sperrvermerk. Bei umfangreicheren Akten sind die Seiten- bzw. Folioangaben nicht als Metadaten
hinterlegt, sie inden sich in der Regel auf den Stücken und damit
auf den Bildern selbst, so dass eine korrekte Zitierung möglich
ist. Die Anordnung der Bilder einer Akte in der richtigen Reihenfolge erfolgt über die den Bildern einer Verzeichnungseinheit
zugeordneten laufenden Nummern. Alle Metadaten werden in
METS-Dateien gespeichert,30 die entsprechenden Informationen
werden im DHAK direkt bei den Bildern angezeigt. Mit der Optimierung der Datenbank des DHAK im Zuge des Relaunchs hat
sich die Geschwindigkeit der Anzeige von Digitalisaten deutlich
erhöht, auch die Suchanfragen werden spürbar schneller verarbeitet. In seiner jetzigen Form ist das DHAK in der Lage, mehrere
Millionen Bilder zu verwalten und online verfügbar zu machen.
Das HAStK hat sich hinsichtlich der Langzeitsicherung der
Digitalisate für die Norm PDF/A entschieden.31 Diese wurde
speziell für die Langzeitarchivierung elektronischer Dokumente
deiniert und legt verschiedene Eigenschaften der PDF-Datei
fest, die sicherstellen sollen, dass das Bild auch in Zukunft noch
problemlos elektronisch lesbar und damit darstellbar ist. Im
„Digitalen Lesesaal“ des DHAK werden die Digitalisate jedoch
im JPEG-Format präsentiert.32 Das bedeutet, dass die vom Archiv
gelieferten Daten zunächst umgewandelt werden müssen. Eine
solche Umwandlung ist aufwändig und muss stichprobenartig
überprüft werden, um Qualitätsverluste zu vermeiden. Sie ist
aber aus Gründen der besseren Nutzbarkeit von JPEG-Dateien im
Internet im Hinblick auf die Dateigröße und damit die Ladezeit
der Dateien unabdingbar. Die ursprünglichen, auf den internen
Servern des HAStK gespeicherten PDF/A-Dateien bleiben von der
Umwandlung selbstverständlich unberührt.
Mit der massenweisen und auf Vollständigkeit zielenden Digitalisierung von Mikroilmen und Originalen und deren Bereitstellung im DHAK weicht das HAStK entscheidend von der bislang
üblichen Herangehensweise der deutschen staatlichen und
kommunalen Archive ab. Bisherige Versuche beschränkten sich
auf einzelne herausragende, viel benutzte Bestände, etwa Personenstandsunterlagen, NS-Akten oder Großformate, und zielten
nicht auf die Online-Präsentation der Gesamtheit der Bestände
eines Archivs.33 Auch beim Vorzeigeprojekt der 1990er Jahre, dem
Stadtarchiv Duderstadt, wurden lediglich Teile des Bestands mit
insgesamt 77.500 Bildern digitalisiert und online gestellt.34 Dass
hier künftig neue Wege beschritten werden sollen, zeigte das vom
Landesarchiv NRW angeregte DFG-Gespräch zu diesem Thema
im Jahr 2011.35 Die Bedenken sind gleichwohl weiterhin groß,
wenngleich auf Seiten der Archive immer stärker gesehen wird,
dass die Ansprüche der Nutzerinnen und Nutzer seit längerem im
Wandel begriffen sind und die Online-Präsentation von Archivalien in der heutigen Informationsgesellschaft kein Avantgardeprojekt mit ungewissem Nutzen darstellt.36 Es ist freilich der
Kölner Sondersituation geschuldet, dass eine Digitalisierung in
diesem Umfang inanziell und personell überhaupt möglich ist.
Durch die Verbindung der ursprünglich als Nothilfe gedachten
Initiative von prometheus und Rheinischer Landesgeschichte
mit den Retrokonversions- und Digitalisierungsmaßnahmen des
HAStK ist eine innovative Plattform entstanden, der quantitativ
und qualitativ, aber auch hinsichtlich der engen Kooperation von
Archiv und Forschung Pilotfunktion zukommt.
Für die Nutzerinnen und Nutzer des Kölner Stadtarchivs ist das
DHAK seit dem Einsturz die zentrale Anlaufstelle. Im Jahr 2009
wurde die Seite aufgrund der Aktualität der Ereignisse besonders
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häuig besucht, täglich riefen 200 bis 250 User insgesamt etwa
2.000 bis 3.000 Seiten auf. Inzwischen haben sich diese Zahlen aufgrund der nachlassenden medialen Präsenz des HAStK
deutlich verringert, bewegen sich aber gemessen an den Besucherzahlen analoger Lesesäle immer noch auf einem bemerkenswert
hohen Niveau. Im Januar und Februar 2012 besuchten täglich
über 70 Personen die Seite des DHAK und riefen etwa 500 Seiten
auf. Dabei ist eine zeitliche Verteilung der Besuche hauptsächlich
zwischen 8 und 23 Uhr festzustellen. Unter der Woche sind es täglich über 80 Nutzerinnen und Nutzer, am Wochenende immerhin
knapp 50. Dies verdeutlicht die Vorteile der zeitlichen Unabhängigkeit einer Webpräsenz gegenüber den festen Nutzungszeiten in
einem Lesesaal.
Es ist anzunehmen, dass die Zugriffszahlen in den kommenden
Jahren parallel zur Einstellung von immer mehr Digitalisaten steigen werden und Forschung an Kölner Archivalien dauerhaft vor
allem digital stattinden wird. Denn zum einen wird die Restaurierung der geborgenen Archivalien Jahrzehnte in Anspruch nehmen,
so dass Originale erst nach und nach wieder einsehbar sind.37 Zum
anderen ist das DHAK fester Bestandteil des dreistuigen Nutzungskonzepts des HAStK im Sinne eines „Bürgerarchivs“.38 Ganz
in diesem Sinne wurde beim DHAK auf die intuitive Benutzbarkeit
besonderer Wert gelegt. Grundsätzlich orientiert sich das Portal
an den Zugänglichkeitsrichtlinien der W3C-Empfehlungen zur
Barrierefreiheit.39 Im Nutzungskonzept des Stadtarchivs steht das
DHAK an erster Stelle. Es bietet einerseits einen komfortablen Einstieg in die Beschäftigung mit Kölner Archivalien. Andererseits ist
es für viele Nutzerinnen und Nutzer wahrscheinlich auch die erste
Begegnung mit dem Kölner Archiv oder sogar mit Archiven allgemein. Diesem Umstand wird mit den bereits genannten Informationsseiten Rechnung getragen. Die online im „Digitalen Lesesaal“
gewonnenen Erkenntnisse können in einem zweiten Schritt im
Archiv anhand der höher aulösenden PDF/A-Digitalisate vertieft
werden. Gegenüber der Online-Recherche hat die Arbeit vor Ort
vor allem den Vorteil, dass hier eine unmittelbare Betreuung durch
das Archivpersonal gewährleistet ist. Wenn es für eine bestimmte
Fragestellung nicht ausreicht, den Text eines Archivales zu erfassen,
sondern etwa Beschreibstoff, Schrift, Siegel, Lagenstruktur usw.
untersucht werden müssen, erfolgt dies im dritten Schritt am Original, sofern dieses bereits wieder verfügbar ist. Das Arbeiten mit
den Digitalisaten bleibt freilich vorerst meist nicht nur die erste,
sondern auch die einzige Option.
5. PERSPEKTIVEN
Der gegenwärtige Entwicklungsstand des DHAK ist hinsichtlich der technischen Möglichkeiten und der Bedürfnisse von
Forschung und Archiv nur ein erster Meilenstein. Geplant ist,
das Portal mittelfristig in zwei Bereichen, der Präsentation der
Archivalien und der (kollaborativen) Arbeitsmöglichkeiten im
„Digitalen Lesesaal“, weiter zu verbessern und zu erweitern. Beide
Aspekte sind unmittelbar miteinander verknüpft, denn nur eine
optimale, das heißt die aktuellen technischen Möglichkeiten nutzende Anzeige gewährleistet eine sinnvolle virtuelle Forschung
an den Kölner Beständen. Umgekehrt soll den Nutzerinnen und
Nutzern die Gelegenheit gegeben werden, die eigenen Ideen und
Ergebnisse im Netz zu ixieren und mit denen anderer zusammenzuführen.
In Bezug auf den vom DHAK verwendeten DFG-Viewer sind
verschiedene Anpassungen und Verbesserungen der Anzeige-
151
möglichkeiten geplant. Hierzu gehört zunächst die stufenlose
Vergrößerung und Verkleinerung des Bildmaterials, bislang sind
diese Operationen nur zweistuig durchführbar. Auch das Drehen
eines Digitalisats ist mitunter notwendig, um etwa Randnotizen
und Vermerke oder von mehreren Seiten beschriebene Blätter
lesen zu können. Zusätzlichen Erkenntnisgewinn versprechen
die Invertierung sowie die Option einer Infrarotansicht. Darüber
hinaus ist die individuelle Optimierung der Bilder im Browser erstrebenswert, insbesondere mit Blick auf die variierende
Qualität und damit Lesbarkeit der digitalisierten Mikroilme
und den Erhaltungszustand der digitalisierten Originale. Hier
bietet sich insbesondere das stufenlose Verändern von Kontrast
und Helligkeit an. Neben der Verbesserung der Anzeige ist eine
Retrievalfunktion für gedruckte Quellen wünschenswert. Dabei
werden Querverbindungen bzw. Links zwischen gleichen Worten
geschaffen, so dass z. B. innerhalb eines Dokuments per Klick
alle Stellen mit dem gleichen Ortsnamen angezeigt werden. Bei
handschriftlichen Quellen dürfte dies freilich auf längere Sicht
nicht realisierbar sein. Unerlässlich ist schließlich – auch in einer
virtuellen Forschungsumgebung! – die Möglichkeit des Ausdrucks eines Ausschnitts, einer Seite oder vollständigen Akte.
Neben der Präsentation der Archivalien ist künftig der Bereich
der (kollaborativen) Arbeitsmöglichkeiten auszubauen. Kernstück
dieses Bereichs wird der „Digitale Arbeitsplatz“, der den Nutzerinnen und Nutzern als persönlicher Schreibtisch zur Verfügung
steht. Registrierte Besucher des DHAK können hier alle für sie interessanten Digitalisate als Favoriten speichern und entsprechend
ihren Forschungsprojekten organisieren, also etwa thematische
Ordner und Unterordner einrichten und darin die betreffenden
Akten, Faszikel oder Einzelseiten ablegen. Eine Kommentarfunktion erlaubt es, zu einzelnen Bildern und Verzeichnungseinheiten
oder auch ganzen Ordnern und Unterordnern Notizen zu machen, Transkriptionen und Übersetzungen anzufertigen, Literaturhinweise zu speichern oder auch Verweise auf zugehörige oder
thematisch verwandte Archivalien im DHAK oder in anderen
Archiven anzulegen. Darüber hinaus sollen die Nutzerinnen und
Nutzer aber auch eigene Fotos oder Kopien aus anderen Archiven
in ihrem persönlichen Bereich hochladen können, um so das für
ihre Arbeit notwendige Material an einem Ort virtuell zusammenzubringen.
Als persönlicher Bereich ist der „Digitale Arbeitsplatz“ nur dem
einzelnen Wissenschaftler zugänglich. Denkbar ist aber auch,
dass eine Forschergruppe einen solchen Arbeitsplatz gemeinsam
nutzt, um ihre Quellenarbeit kollaborativ zu organisieren. Sofern
die Beteiligten dies wünschen, könnten nach dem Abschluss eines
Projekts oder gegebenenfalls schon früher die zunächst nur im
persönlichen Bereich abgelegten Daten oder ein Teil derselben
für die allgemeine Öffentlichkeit freigeschaltet werden. Auf diese
Weise würde das über Jahre gesammelte, hochspezialisierte
Wissen für die künftige Forschung gesichert und könnte weiter
genutzt, ergänzt und bearbeitet werden. Besonders lohnenswert
scheint dies mit Blick auf Transkriptionen und Übersetzungen zu
sein, wie schon das oben genannte Projekt „monasterium.net“
seit einigen Jahren erfolgreich vorführt. Nach und nach würden
so umfangreichere Textcorpora entstehen, die zunächst zwar noch
nicht den Ansprüchen an wissenschaftliche Editionen genügten,
aber zumindest als Lesehilfen und für Volltextsuchen nützlich
sein könnten. Ein Abgleich mit dem Original wäre in jedem Fall
durch die virtuelle Nähe des entsprechenden Digitalisats möglich. Die Transkriptionen könnten zudem eine Grundlage bieten,
um gegebenenfalls tatsächlich Editionen anzufertigen und im
DHAK zur Verfügung zu stellen.
Ein weiterer Bereich, der sich besonders für die Nachnutzung und
die kollaborative Vervollständigung anbietet, ist die Anlage von
Verweisen auf Literatur zu einzelnen Archivalien oder diesbezüglichen Themenkomplexen sowie die Verlinkung von Stücken
innerhalb des DHAK und mit Archivalien in anderen Archiven.
Hierdurch entstünde ein zunehmend komplexeres Verweisnetz,
das vielfältige Wege durch das Kölner Archiv und die rheinische
und europäische Archivlandschaft aufzeigte, vergleichbar mit
umfangreichen Anmerkungsapparaten im Printmedium, aber mit
dem Vorteil des direkten Zugriffs auf die verlinkten Dokumente.
Ein dritter und letzter Bereich für die kollaborative Generierung
von Wissen ist die Verzeichnung von Personen und Orten, die
in den Archivalien begegnen, um längerfristig einen alternativen
Zugriffsweg auf das Quellenmaterial im Sinne eines Registers
zu erhalten. Gerade bei Personen ist dies jedoch nicht unproblematisch, da Menschen gleichen Namens mitunter nur schwer
voneinander zu unterscheiden sind.
Während Kommentare, Transkriptionen und Übersetzungen sowie umfängliche Verweissysteme und Indexierungen ein Ergebnis
der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einzelnen Archivalien oder Beständen sind, bietet sich in der Kölner Sondersituation eine weitere, weitaus speziellere Möglichkeit zur Erprobung
des Web 2.0 an, nämlich das Zuordnen nicht identiizierter Stücke
zu einem Bestand und schließlich zu einer Verzeichnungseinheit.
Neben den massiven Schäden an der materiellen Substanz der
Archivalien sind die Kölner Bestände durch den Archiveinsturz in
weiten Teilen verunordnet. Vor der Zusammenführung, Restaurierung und Bereitstellung müssen die Stücke daher zunächst in ei-
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
Vgl. zu diesem Standard www.loc.gov/standards/mets/ (aufgerufen am
5.3.2012).
Vgl. zu diesem Format www.digitalpreservation.gov/formats/fdd/fdd000318.
shtml (aufgerufen am 5.3.2012).
Vgl. zu diesem Format www.digitalpreservation.gov/formats/fdd/fdd000017.
shtml (aufgerufen am 5.3.2012).
Vgl. für NRW Johannes Kistenich: Archivgutdigitalisierung im Rahmen der
Bestandserhaltung. Die Praxis im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. In:
Wenzel/Jäckel (Anm. 5), S. 339-360, hier S. 347-351; außerdem Wolf-Rüdiger
Schleidgen: Pixel contra Mikroiche. Erfahrungen mit neuen Formen der
Nutzung von Archivgut im Nordrhein-Westfälischen Personenstandsarchiv
Rheinland. In: Wolf-Rüdiger Schleidgen, Verena Kinle (Hrsg.): Zwischen
Tradition und Innovation. Strategien für die Lösung archivischer Aufgaben
am Beginn des 21. Jahrhunderts. Siegburg 2002 (= Veröffentlichungen der
staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen E/8), S. 247-271.
www.archive.geschichte.mpg.de/duderstadt/dud-d.htm (zur Zeit nicht erreichbar).
Vgl. den Bericht von Bischoff/Stumpf (Anm. 6).
Noch kaum in das Blickfeld der deutschen Archive gerückt sind dagegen soziale Dienste wie Facebook, YouTube, Flickr, Twitter usw., vgl. hierzu Gutsch
(Anm. 8); Marta Nogueira: Archives in Web 2.0. New Opportunities. In: Ariadne 63 [30.04.2010], URL: www.ariadne.ac.uk/issue63/nogueira/ (aufgerufen am 5.3.2012); Kate Theimer: Web 2.0 tools and strategies for archives and
local history collections. London 2010.
Eine ständig aktualisierte Liste der im Original einsehbaren Bestände indet
sich demnächst unter www.historischesarchivkoeln.de/hastk/03.
Zum Nutzungskonzept vgl. Berger (Anm. 6), S. 88-90; Max Plassmann,
Bettina Schmidt-Czaia, Claudia Tiggemann-Klein: Das Historische Archiv
der Stadt Köln als Bürgerarchiv. Nutzungsmöglichkeiten für Wissenschaft,
Familienforschung, Schulen und eine historisch interessierte Öffentlichkeit.
In: Geschichte in Köln 58 (2011), S. 229-241, hier insb. S. 235-239.
www.w3c.de/Trans/WAI/webinhalt.html#Guidelines (aufgerufen am 5.3.2012).
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
152
AUFSÄTZE
nem aufwändigen Verfahren identiiziert werden. Nach bisherigen
Erfahrungen gelingt dies in einem ersten Schritt durch Archivpersonal und Hilfskräfte in den bundesweit 20 Asylarchiven bei
ca. 30-40 Prozent der Archivalien, da diese etwa Signaturen oder
andere äußere Merkmale aufweisen, die eine sichere Zuordnung
erlauben. In einem zweiten Schritt versuchen sich an den noch
strittigen Stücken Mitarbeiter und Ehemalige des Historischen
Archivs der Stadt Köln. Noch fehlen diesbezüglich zwar belastbare Zahlen, es ist jedoch mit einer Erfolgsquote von abermals
30-40 Prozent zu rechnen. Demnach wären 20-40 Prozent der
geborgenen und restaurierten Stücke auch nach diesen zeit- und
arbeitsintensiven Maßnahmen noch nicht sicher identiiziert. Um
hier zu positiven Ergebnissen zu gelangen, muss auf die fachliche
Kompetenz und die spezialisierten Kenntnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zurückgegriffen werden, die sich
über Jahre und Jahrzehnte mit den Kölner Beständen beschäftigt
haben. Darüber hinaus besitzen auch die Nachkommen vieler
Nachlassgeber und Depositare spezielles Wissen und können bei
einer virtuellen Rekonstruktion der betreffenden Bestände von
großer Hilfe sein. Die aktive Beteiligung der genannten Personenkreise ist freilich nur mit einer entsprechenden Web 2.0-Anwendung zu erzielen.
In diesem Sinne soll eine „Rekonstruktions-Werkstatt“ in das
DHAK integriert werden, um kollaborativ den Wiederaufbau
des Archivs voranzutreiben. Nicht identiizierte Stücke werden in
den Asylarchiven nach Möglichkeit fotograiert und im DHAK
verfügbar gemacht. Die Identiizierung erfolgt schrittweise, indem
die Stücke zunächst von den Nutzerinnen und Nutzern anhand
eines Merkmalkatalogs beschrieben und dann automatisiert
mit vergleichbaren Stücken in Verbindung gebracht werden, bis
am Ende eine Zuordnung zu einem Bestand und schließlich
einer Verzeichnungseinheit erfolgt. Der „Werkzeugkasten“ zur
Beschreibung erfasst zum einen äußere Merkmale, also etwa
Beschreibstoff, Layout, Abmessungen oder Wasserzeichen,
darüber hinaus Beschädigungen wie z. B. Fragmentierung, Verschmutzungen oder Tintenfraß und schließlich archivische und
vorarchivische Ordnungsmerkmale, u. a. Foliierung, Paginierung,
Altsignaturen, Aktenzeichen usw. Zum anderen helfen innere
Merkmale wie Textsprache, Datierung, Personennamen, Orte,
Ereignisse etc. bei der Identiizierung, wenngleich die Automatisierung der Zuordnungen hier weitaus schwieriger ist, da die
Informationen heterogener und weniger standardisiert abfragbar
sind. Die „Rekonstruktions-Werkstatt“ muss die komplexen
Arbeitsschritte bei der Identiizierung möglichst intuitiv erlauben.
Sie stellt Merkmallisten, Beispielabbildungen und Beschreibungen zur Verfügung und bietet einen Übungsbereich zum Erlernen
des Tools und zum Testen der eigenen Kompetenz. Im Sinne der
kollaborativen Arbeit sollte auch die Möglichkeit gegeben werden,
Identiizierungsversuche anderer Nutzer zu beurteilen, um so das
Gesamtergebnis durch möglichst viele unterschiedliche Kompetenzen immer weiter zu verbessern. In einem letzten Schritt
erfolgt das Überprüfen der einzelnen Zuordnung durch das
HAStK und die Übernahme der Ergebnisse in die archivinterne
Datenbank zwecks weiterer Verwendung bei der Bestandszusammenführung und der Restaurierung. Parallel zur Entwicklung
der vorgestellten kollaborativen Arbeitsmöglichkeiten ist das
Nutzerproil auszubauen. Bislang werden hier nur Name, Ort
und gegebenenfalls die Institution abgefragt. Der persönliche
Bereich sollte mit einer Art Visitenkarte versehen werden, die
unter anderem die differenzierte Darstellung eigener ForschungsARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
projekte ermöglicht und damit die interne Vernetzung befördert.
Bislang können sich die Nutzerinnen und Nutzer untereinander
lediglich über eine anonymisierte E-Mail-Adresse kontaktieren.
Hier wäre anzusetzen, um etwa direkte Nachrichten zwischen
den Mitgliedern oder Kommentare auf anderen Nutzerproilen zu
ermöglichen. Für alle Bereiche der Web 2.0-Funktionalitäten gilt
natürlich, dass eine sorgfältige redaktionelle Betreuung erfolgen
muss. Diese beinhaltet sowohl eine Überprüfung der generierten
Daten als auch Hilfestellung für alle Nutzerinnen und Nutzer bei
technischen Fragen.
6. FAZIT
Wie bereits bei der Expertenanhörung zum Kölner Archiveinsturz und seinen Konsequenzen am 24. Juni 2009 festgestellt
wurde, ist das DHAK für den Wiederaufbau des HAStK unverzichtbar.40 Angesichts eines auf Jahre und Jahrzehnte nicht im
Original verfügbaren Archivbestands bietet die Präsentation
von digitalisierten Reprographien und restaurierten Originalen
im Internet die einzige Möglichkeit, Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern Zugang zu den Kölner Quellen zu verschaffen
und damit die künftige Erforschung der Geschichte der Stadt
sowie ihrer rheinischen und europäischen Verlechtungen zu
gewährleisten. Die bestehenden und geplanten Web 2.0-Anwendungen stellen darüber hinaus eine neue Qualität der Archivbenutzung dar, die in deutschen Archiven so bislang noch nicht
existiert. Damit kommt dem DHAK Pilotfunktion im Bereich
der (kollaborativen) Archivarbeit im Internet zu. Ein wichtiges
kölnspeziisches Element stellt in diesem Zusammenhang die
geplante „Rekonstruktions-Werkstatt“ für verunordnete Archivalien dar, die für die Zusammenführung und Restaurierung der
Kölner Archivbestände von erheblicher Bedeutung ist. Aufgrund
der in den meisten Archiven vorhandenen ungeordneten (Rest-)
Bestände ist auch hier eine Nachnutzung der zu entwickelnden
Technik denkbar.
Vor dem Hintergrund des Archiveinsturzes und der beschriebenen Entwicklung des DHAK deutet die im Titel formulierte
Alternative von „Bits and Bytes statt Pergament und Papier“ eine
gleichsam „zwangsläuige“ Zukunftsperspektive für das HAStK
an. Nutzerinnen und Nutzer des Kölner Stadtarchivs werden
künftig bei ihrer Arbeit vor allem mit Digitalisaten im „Digitalen
Lesesaal“ und nur bei speziellen Fragen und intensiverem Beratungsbedarf mit den hoffentlich wieder verfügbaren Originalen
vor Ort arbeiten. Das mag aus Sicht der herkömmlichen Archivpraxis eine trübe Aussicht sein, für die Nutzerinnen und Nutzer
bricht damit aber eine neue Zeit an, die einen schnellen Zugang
zu den Archivalien unabhängig von Öffnungszeiten und dem
eigenen Wohnort ermöglicht. Ganz zu schweigen von den substantiellen Verbesserungen der Nutzung durch die beschriebenen
Web 2.0-Anwendungen. Sie stellen freilich auch für das Archiv
selbst einen erheblichen Mehrwert dar, zumal ihm diese Form
der Präsenz im Internet eine Öffentlichkeit verschafft, die in einem analogen Lesesaal nie zu erreichen wäre. Diese weitgehende
Verlagerung der Benutzeraktivitäten ins Internet hat zwangsläuig
Konsequenzen für die Rolle von Archivarinnen und Archivaren.
Neben die anhand von „Pergament und Papier“ entwickelten
und seit einigen Jahren auch auf „Bits and Bytes“ übertragenen
archivischen Kernaufgaben im Umgang mit Verwaltungsschriftgut
tritt mit dem Web 2.0 die Herausforderung, die kollaborative Forschung an den Archivbeständen im Internet zu moderieren und
153
redaktionell zu begleiten. Der klassische Typus des Historikerarchivars wird aufgrund der damit zunehmenden Vernetzung von
Archiv und Forschung künftig also wieder stärker gefragt sein.41
40
41
BITS AND BYTES INSTEAD OF PERGAMENT AND PAPER. THE DIGITAL HISTORICAL ARCHIVE COLOGNE AND
THE FUTURE OF COLOGNE‘S MUNICIPAL ARCHIVE IN
THE WEB 2.0
After its collapse in march 2009, the Historical Archive of the City
of Cologne seeks new ways of restoring its historical documents and
presenting them to the public. Web 2.0-technology offers different possibilities in this particular situation. In addition to presenting digitized
microfilm, user’s copies and restored originals, the Digital Historical
Archive Cologne is planning to provide virtual desks for researchers to
organize their joint projects online, to develop a collaborative tool for
identifying severely damaged historical documents, and to intensify
communication between researchers, archivists and the general public.
Future research on the history of Cologne will thus become digital.
Reininghaus/Pilger (Anm. 12), S. 37-47.
Vgl. zum Berufsbild Marcus Stumpf (Hrsg.): Beruf und Berufsbild des Archivars im Wandel. Münster 2008 (= Westfälische Quellen und Archivpublikationen 25); Karsten Uhde (Hrsgg.): Berufsbild im Wandel. Aktuelle Herausforderungen für die archivarische Ausbildung und Fortbildung. Beiträge
des 9. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg.
Marburg 2005 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg – Institut
für Archivwissenschaft 43).
Dr. Andreas Rutz
Janusch Carl M. A.
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Institut für Geschichtswissenschaft
Abteilung für Rheinische Landesgeschichte
Am Hofgarten 22, 53113 Bonn
Tel. 0228-739766
E-Mail: info@historischesarchivkoeln.de
DIE FEHLENDE EINGABE
ZUR GESCHICHTE DER
ARCHIVBENUTZUNG UND IHRER
REGULIERUNG IM
19. JAHRHUNDERT
von Philipp Müller
1
EINLEITUNG
Im April 1824 legte der Vorsteher des Bayerischen Geheimen
Staatsarchivs, Dr. Joseph von Fink (1770-1843), „Einige Ideen über
die nähere Verbindung der königlichen Archive mit der königlichen Akademie der Wissenschaften“ vor.2 Dem Historiker und
Archivvorsteher Fink war an einer Zusammenarbeit zwischen
den Königlichen Archiven Bayerns und der Akademie der
Wissenschaften in München gelegen, um die Archive „generell
der wissenschaftlichen Forschung zu öffnen”.3 Finks Idee erfuhr
zuletzt keine politische Unterstützung. König Maximilian I.
Joseph (*1756 - †1825; 1799-1825) lehnte den von Fink eingebrach-
ten Vorschlag ab. Bezeichnenderweise mangelte es dem Vorschlag
des Archivvorstehers im Vorfeld der Ablehnung durch den König
auch an der Unterstützung der Mitglieder der Akademie der
1
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Archivaren des
Bayerischen Hauptstaatsarchivs München, insbesondere bei Archivrätin
Dr. Caroline Gigl und Archivoberrat Gerhard Fürmetz M. A., für ihre Unterstützung während meiner Archivrecherchen in München bedanken. Nicht
zuletzt danke ich dem University College London und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die inanzielle Unterstützung meiner Forschungen.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
154
AUFSÄTZE
Wissenschaften. Der Haupteinwand gründete in der originären
Bestimmung des Archivs als einer der Regierung dienenden
staatlichen Behörde. Wie der Jurist und Staatsrat Georg Karl von
Suttner (1763-1836) darlegte: „die erste und wesentlichste Bestimmung der Archive ist [...] die Bewahrung der Urkunden als Behelfe zur Vertretung der staats- und privatrechtlichen Verhältnisse:
sie gehören als unmittelbar der obersten Regierungsbehörde und
eine Kompetenz über selbe kann nicht wohl einem anderen blos
wissenschaftlichen Institute mit anvertraut werden.”4
Suttners Bestimmung der Funktion des Archivs beruhte auf der
frühneuzeitlichen politischen Theorie und Praxis der arcana
imperii.5 Ihr zufolge waren die staatlichen Archive ein integraler
Bestandteil der Staatsverwaltung und unmittelbar dem Souverän bzw. der Staatsregierung unterstellt. Wohlweislich getrennt
von der Öffentlichkeit verwahrten Archive die „bestgehüteten
Staatsgeheimnisse”6 und schirmten auch das politische Handeln
der Regierung ab. Darüber hinaus versorgten die Archive ihre
Regierungen und anderen Behörden der Staatsverwaltung mit
Informationen, etwa zu iskalischen und territorialen Ansprüchen des Staates, und unterstützten hierbei die gegenwärtige Regierung. Vor allem aber halfen staatliche Archive, die aktuellen
rechtlichen Verhältnisse zu bewahren und sicherten hierdurch
die langfris-tige Existenz des Staates. Archive waren eine zentrale
Stütze des Rechtsfriedens und trugen damit nicht unwesentlich
zur Wohlfahrt des Landes bei. In diesem regierungspolitischen
und staatsrechtlichen Zusammenhang war eine Benutzung
staatlicher Archive zu historischen Zwecken nicht vorgesehen.
Vielmehr erscheint vor dem Hintergrund der staatlichen Aufgabenbestimmung der Archive und ihrer wesentlichen Voraussetzung, der Geheimhaltung,7 die uns heute vertraute wissenschaftliche Archivbenutzung geradezu als eine contradictio in adjecto.
Ganz im Gegensatz zu unserer heutigen Vorstellung vom Archiv
als einer Einrichtung historischer Forschung waren staatliche
Archive zunächst weder als Stätten für historische Studien
vorgesehen, noch funktionierten sie als solche. Wie der Archivar Joachim Prochno bereits 1944 pointiert feststellte, ignoriert
die geläuige Vorstellung vom Archiv als einer „Hilfsstelle für
gelehrte Forschung” die wesentliche „Aufgabe des Archivs als
eine Behörde”.8 Es ist aber gerade die Konzeption des Archivs als
einer dem Imperativ des Forschens verplichteten Einrichtung,
welche unser Verständnis der Geschichte und des Wandels
dieser Einrichtung prägt. Im Rückblick wird die Einrichtung
der Vergangenheit an dem heutigen Ideal, dem „historischen
Archiv”,9 gemessen. Folglich wird die Geschichte der Archive
entlang der Modernisierung staatlicher Archive entwickelt und
im Hinblick auf das moderne telos, „das historische Archiv”,
erzählt; etwaige Abweichungen vom Imperativ historischer
Forschung werden als deizitär begriffen und folglich als Mängel
des Archivs gefasst.10
Nicht weniger voraussetzungsreich sind medientheoretische
Konzeptionen des Archivs. In ihrer Studie „Akten. Medientechnik und Recht“ widmet sich die Rechtswissenschaftlerin
Cornelia Vismann einer zentralen Vorsaussetzung juristischer
Anschauungen und Begriffe, der Machart und Zirkulation von
Akten. Gelegentlich setzt sie darin die Einrichtung der Archive
mit Staat und Geschichte kurzerhand gleich, etwa dann, wenn
Cornelia Vismann den Staatskanzler Hardenberg als „Minister
über die Geschichte Preußens” tituliert, „nachdem 1810 sämtliche
Archive in der Staatskanzlei zentralisiert zusammengefasst sind”.11
„Staat”, „Archiv” und „Geschichte” koinzidieren und „der Staat“
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
erscheint schließlich als das zentrale Agens in der Herstellung
historischen Wissens.12 Im Hinblick auf die letztgenannte Position
muss daran erinnert werden, dass zunächst kein institutioneller
Zusammenhang zwischen staatlichen Archiven und historischer
Forschung vorliegt. Und auch das in diesem Zusammenhang
verwendete Beispiel, die Reform des preußischen Archivwesens
durch Hardenberg, erweist sich als wenig geeignet, bedenkt man
allein den Abbruch des Ansatzes zur Archivreform durch den frühen Tod des Staatskanzlers im Jahr 1822 und die Parallelexistenz
verschiedener Archiveinrichtungen und Überlieferungsbestände
der preußischen Regierung für weite Zeiträume im 19. Jahrhundert.13 Hinsichtlich beider angeführten Positionen ist anzuführen,
dass weder institutionell noch konzeptionell die Bestände der
staatlichen Archive in Akten aufgegliedert waren, welche auf der
einen Seite von der Regierung und ihren Behörden beansprucht
wurden, und solche, welche der historischen Forschung zu überlassen waren. Die Staatsregierung verfügte über ihre Akten im
zweifachen Sinne: als Produzent der Akten waren sie ihr Eigentum und waren zweckgerecht von der Verwaltung einzusetzen;
ferner kontrollierte die Regierung auch die Zirkulation der Akten
über die Grenzen der arcana hinaus. Vor diesem regierungspolitischen und rechtlichen Hintergrund ist folglich danach zu fragen,
unter welchen Bedingungen ein historisches Studium der Akten
in staatlichen Archiven mit den vorrangigen Sicherheitsinteressen
vereinbar war. In den Worten von Dietmar Schenk ist danach
zu fragen, unter welchen Voraussetzungen im 19. Jahrhundert
staatliche Archive eine „historische Einstellung”14 zu formulieren
vermochten.
Der vorliegende Beitrag untersucht, wie historisches Interesse
an den Beständen staatlicher Archive kommuniziert und unter
welchen Umständen Zugriff auf die Bestände der Königlichen
Bayerischen Archive gewährt wurde.15 Als Fallbeispiel dient
das erfolglose Gesuch zur Archivbenutzung des Schriftstellers
Alessandro Volpi. Vor dem Hintergrund seines Interesses an der
Geschichte von Tyrol wollte Volpi in den staatlichen Archiven
Bayerns aufbewahrte Akten einsehen. Erst kürzlich hatte er zur
Geschichte Tyrols beigetragen, indem er die Memorie storiche
über Andrea Hofer, o la sollevazione del tirolo del 1809 ediert
hatte.16 Von dieser Veröffentlichung und ihrer offenkundigen antinapoleonischen Stoßrichtung erfuhren die bayerischen Staatsbeamten nichts, als Alessandro Volpi im Jahr 1857 sein Studium
der Geschichte Tyrols in den bayerischen Archiven vertiefen
wollte. Der Misserfolg seiner Bemühungen um Zugang zu den
bayerischen Archiven hatte vielmehr andere Gründe; das Fehlen
einer schriftlichen „Eingabe um Benützung des Archivs” (Rudhardt 4.12.1857). Das Scheitern seines Gesuchs liefert Aufschluss,
wie angesichts der regierungspolitischen Funktionsbestimmung
staatlicher Archive eingehende Gesuche von der Staatsverwaltung geprüft wurden und welche Begriffe, Vorrausetzungen
und Sensibilitäten das Prüfungsverfahren leiteten. Die Analyse
richtet sich daher auf einen politischen Kommunikationsprozess,
indem die Grenze zwischen der Arkansphäre des Staates und der
(öffentlichen) historischen Forschung verhandelt wurde, und legt
hierbei eine wesentliche Bedingung historischer Archivrecherche
im 19. Jahrhundert frei.17
ARCHIVBENÜTZUNGSGESUCHE
Im Gegensatz zu den Vorschlägen des Vorstehers des Geheimen
Staatsarchivs, Dr. Joseph von Fink, waren staatliche Archive und
155
ihre Bestände für sogenannte Private im 19. Jahrhundert keineswegs offen und frei zugänglich. Obzwar politische Veränderungen
im frühen 19. Jahrhundert, von den Zeitgenossen als eine „Öffnung der Archive” bezeichnet,18 die Möglichkeit schuf, das Aktenstudium in staatlichen Archiven zu beantragen, musste zunächst
jedwedes Interesse durch Außenstehende am arkanen Wissen des
Staates eine administrative Prüfung passieren.
Zunächst und vor allem anderen mussten historische Forscher,
ob Gelehrte oder nicht, um Erlaubnis für die Benutzung der Archive fragen. Während die Französische Revolution im Zuge des
Gesetzes vom 7 Messidor Jahr II (i. e. 25. Juni 1795) jedem Bürger
der Republik zumindest theoretisch das Recht einräumte, die in
den Archiven verwahrten Akten einsehen zu dürfen, kamen die
Untertanen in den Monarchien Mitteleuropas nicht umhin, zunächst ihren Souverän um Archivbenützung zu bitten.19 Folglich
waren Forscher, ob diese nun an einer Abschrift, einem Exzerpt
oder an dem Studium des Materials in loco archivi interessiert
waren, dazu verplichtet, formal ihr Anliegen den Staatsbehörden
mitzuteilen. Im Herbst 1857 tat der Schriftsteller und Forscher
Dottore Alessandro Volpi genau dies: Während der ihm gewährten Audienz mit dem Bayerischen König und anderen Mitgliedern der Wittelsbachschen Dynastie trug Volpi sein Anliegen
König Maximilian II. Joseph (*1811 - †1864;1848-1864) vor, indem
er direkt den König um die Erlaubnis der Archivbenutzung bat.
Volpi war weder der erste noch der letzte, der sich Eintritt in die
Arkansphäre des Bayerischen Staates erhoffte. Erstmalig richtete der Priester Hellerberg im Jahr 1804 an die Staatsbehörden
ein Gesuch, in dem er um die Prüfung einer mittelalterlichen
Urkunde bat. In den folgenden Jahren sollten noch weitere Gesuche bei den Behörden eintreffen. Bezeichnend ist, dass dieses
anfängliche Interesse an den Beständen staatlicher Archive nicht
auf politische Initiativen von Seiten der Regierung antwortete.
Vielmehr artikulierte sich in den Archivbenutzungsgesuchen der
Wunsch der Teilhabe am Staat und seinem Wissen,20 lange bevor
die Gründung Historischer Vereine unter der Oberaufsicht des
Bayerischen Staates in den dreißiger Jahren erfolgte.21 Eingedenk
der unabdingbaren Voraussetzungen des Quellenstudiums,
wie etwa die Ressource Zeit oder die erforderlichen Kenntnisse
des Lesens und Schreibens, mag es wenig überraschen, dass zu
Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst nur sehr wenige historisches Interesse an den Beständen der Archive anmeldeten. In den
folgenden Jahren nahm die Zahl der Gesuchsteller zu und viele
von Ihnen waren keineswegs professionelle Historiker,22 sondern
historische Forscher wie der Priester Hellerberg, der das Privileg
der Bildung genossen hatte, oder anderweitig mit Verwaltungsgeschäften vertraute Forscher. Diese historischen Forscher klopften
buchstäblich an die Tore der staatlichen Archive, und es war erst
6
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15
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19
20
2
3
4
5
Zit. n. Reinhard Heydenreuter: Archive zwischen Staatsräson und Geschichtswissenschaft. Zur bayerischen Archivgeschichte zwischen 1799
und 1824. In: Mitteilungen für die Archivplege in Bayern (1992) Sonderheft
9, S. 20-54, hier S. 31.
Ebd., S. 30.
Ebd., S. 32.
Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit.
21
22
Stuttgart 1979, S. 130-133; Ernst H. Kantorowicz: Mysteries of the State. An
Absolutist Concept and Its Late Mediaeval Origins. In: Selected Studies.
Locust Valley/NY 1965, S. 381-399; Herfried Münckler: Die Begründung
der Staatsräson in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, S. 167-168;
Michael Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur
Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990, S. 37; Michael
Stolleis: Die Idee des souveränen Staates in Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens. In: Der Staat (1996) Sonderheft 11, S. 63-85, hier
S. 82-83.
Münckler (Anm. 5), S. 239.
Hölscher (Anm. 5), S. 133; Bernhard Wegener: Der geheime Staat: Arkantradition und Informationsfreiheitsrecht, Stuttgart 2006.
Joachim Prochno: Zur Archivgeschichtsschreibung. In: Archiv für Kulturgeschichte 32 (1944), S. 288-293, hier S. 288.
Dietmar Schenk: Kleine Theorie des Archivs. Stuttgart 2008, S. 19, S. 26.
Siehe hierzu auch die kritischen Anmerkungen von Wilfried Reininghaus
in: ders., Archivgeschichte. Umrisse einer untergründigen Subdisziplin. In:
Archivar 61 (2008), H. 4, S. 352-360. Hinsichtlich der Geschichte von Geschichtsschreibung und -wissenschaft im 19. Jahrhundert siehe auch den Essay: Philipp Müller, Geschichte machen. Überlegungen zu lokal-speziischen
Praktiken in der Geschichtswissenschaft und ihren epistemischen Konsequenzen. Ein Literaturbericht, Historische Anthropologie 12 (2004) 3, S. 415433.
Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt am Main
2000, S. 247.
Ebd., S. 245. Zur Kritik an der Rede vom Archiv siehe auch: Peter Melichar,
Tote und lebendige Archive. Ein Begriff, seine Verwendungen und Funktionen. In: Zeitschrift für Österreichische Geschichtswissenschaften 18 (2007)
2, S. 129-144; Schenk (Anm. 9), S. 11 f.
Johanna Weiser: Geschichte der Preußischen Archivverwaltung und ihrer
Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945. Köln 2000, S. 5-20; siehe hierzu auch Johanna Regina
Aberle: Geschichte des Geheimen Ministerialarchivs in Berlin (1838-1874).
Zum Schicksal der Registraturen des Generaldirektoriums in Preußen nach
1806. Diss. Humboldt Universität Berlin 2000.
Schenk (Anm. 9), S. 26.
Siehe zur Geschichte der Bayerischen Archive: Fritz Zimmermann: Die
strukturellen Grundlagen der bayerischen Zentralarchive bis zum Ausgang
des 18. Jahrhunderts. In: Archivalische Zeitschrift 58 (1962), S. 44-94; Hermann Rumschöttel: Die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns.
In: Archivalische Zeitschrift 80 (1997), S. 1-36; Walter Jaroschka: Von Montgelas’ Archivreform zum modernen Zentralarchiv. In: Mitteilungen für die
Archivplege in Bayern 31 (1989), S. 5-8; Albrecht Liess: History of Reorganisation and Rearrangement of the Holdings of the State Archives in Bavaria.
In: Archivalische Zeitschrift 84 (2001), S. 123-153; allgemein zur Archivgeschichte siehe: Reininghaus (Anm. 10).
Alessandro Volpi, Andrea Hofer, o la sollevazione del tirolo del 1809. Memorie storiche di Girolamo Andreis. Milano 1856.
Die Fallstudie beruht unter anderem auf der Analyse der folgenden Akten
des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München: BayHStA MA 72203 und
BayHStA MInn 41944, diese enthalten folgende in der Analyse berücksichtigte Schrifstücke: BayHSta MA 72203 Schreiben von König Max II., 26.11.1857
(Abk. Max 26.11.1857); Schreiben des Außenministers, Ludwig v.d. Pfordten,
an König Max II., 16.12.1857 (Abk. Pfordten 16.12.1857). BayHSta MInn 41944
Kopie des Königs‘ Schreiben 26.11.1857; Schreiben von Pfordten, 27.11.1857
(Abk. Pfordten 27.11.1857); Gutachten des Direktors des Allgemeinen Reichsarchivs, Georg Th. Rudhardt, 4.12.1857 (Abk. Rudhardt 4.12.1857); Abschrift
des Artikels der Neuesten Nachrichten 29.11.1857 (Abk. Neueste Nachrichten 29.11.1857).
BayHStA MA 72004/6, 19.12.1821, vgl. auch Helga Fiechtner: Die Öffnung des
Preußischen Geheimen Staatsarchivs für die wissenschaftliche Forschung
im 19. Jahrhundert. Diss. Potsdam 1958.
Siehe hierzu Michel Duchein: The History of European Archives and the
Development of the Archival Profession in Europe. In: American Archivist
55 (1992) H. 1, S. 14-25, hier S. 17-18, 21; Philipp Müller: Doing Historical Research in the Early Nineteenth Century. Leopold Ranke, the Archive Policy,
and the Relazioni of the Venetian Republic. In: Storia della Storiograia 56
(2009), S. 80-103, hier S. 81-82; Peter Wiegand: Etappen, Motive, und Rechtsgrundlagen der Nutzbarmachung staatlicher Archive: Das Beispiel des sächsischen Hauptstaatsarchivs 1834-1945. In: Archivalische Zeitschrift 91 (2009),
S. 9-56.
André Holenstein: Introduction. Empowering Interactions. Looking at
Statebuilding from Below. In: Empowering Interactions. Political Cultures
and the Emergence of the State in Europe 1300-1900, hg. v. André Holenstein/Wim Blockmann/Jon Mathieu. Burlington/VT 2009, S. 1-31, hier S. 2528.
Georg Kunz: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in
den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000,
S. 65-67; Gabriele Clemens: Sanctus Amor Patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert,
Tübingen 2004, S. 309.
Stefan Berger: Professional and Popular Historians. 1800 – 1900 – 2000. In:
Popular History 1800 – 1900 – 2000, hg. v. Barbara Korte/Sylvia Paletschek.
Bielefeld 2012 (im Druck).
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
156
AUFSÄTZE
im Jahre 1812, als König Max I. seine Archivare anwies, „jedem
Freunde der vaterländischen Geschichte in seinen Forschungen
an die Hand zu gehen”.23
DIE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG
In Reaktion auf die eingehenden Gesuche entwickelte die Regierung und ihre Verwaltung ein Prüfungsverfahren, das sich sowohl
auf das Anliegen des Gesuchs als auch den Gesuchsteller selbst
richtete. Aus der Sicht der Staatsbeamten war die Einsichtnahme
in das Wissen der Regierung ein prekärer Akt, der die arcana
imperii und das ihnen zugrundeliegende Prinzip, die Geheimhaltung, zu untergraben drohte. Das Prüfungsverfahren hatte folglich
die politische Integrität der Arkansphäre zu gewährleisten und
wurde entlang älterer administrativer Traditionen wie etwa der
Archivbenutzung in Rechtssachen24 entwickelt und berücksichtigte selbstredend die offenkundigen iskalischen und rechtlichen
Interessen des Staates.
Es war gleichwohl diese von der Staatsregierung konstituierte
administrative Schwelle, die Dottore Alessandro Volpi nicht zu
passieren vermochte. Zu Beginn erschien seine Bitte um die
Benutzung der Archive durchaus aussichtsreich zu sein. Wie das
Münchner Blatt, die Neuesten Nachrichten, berichtete, wurde
der Besucher während der Audienz des König und seiner Familie
„huldvollst aufgemuntert”(Neueste Nachrichten 29.11.1857), mit
seinen Studien fortzufahren. Zu guter Letzt scheiterte Volpis
Antrag. Trotz der anfänglich positiven Aufnahme seines historischen Interesses lehnte König Max II. auf der Grundlage der von
Regierung und Verwaltung erarbeiteten Vorschläge das Gesuch
des Schriftstellers ab. Zwei Probleme stellten sich unmittelbar im
Fall Volpi ein. Erstens ließ die vorgebrachte Bitte die erforderliche
Klarheit vermissen; weder die Identität des Gesuchstellers noch
dessen Forschungsthema waren klar erkennbar. Ferner hatte Volpi
seine mündlich vorgebrachte Bitte nicht mit einer schriftlich
verfassten „Eingabe” (Rudhardt 4.12.1857) über sein Anliegen
unterstützt; der schriftliche Antrag war conditio sine qua non in
einem politischen Kommunikationsprozess, in dem Gesuchsteller
und Staatsregierung die Grenze der arcana und der Öffentlichkeit
bestimmen mussten.
Im Anschluss an die Audienz teilte Max II. seiner Regierung mit,
dass „Dr Volpi aus Mailand, welcher gegenwärtig an einer Geschichte von Tÿrol arbeitet, [...] Mich um Erlaubnis gebeten [hat],
die hiesigen Archive hierfür benützen zu dürfen” (Max 26.11.1857).
Der König fuhr fort, eine „gutaechtliche Aeusserung” in dieser
Sache anzufordern, und leitete hiermit die Prüfung des von
Volpi persönlich vorgelegten „Gesuchs” (ebd.) ein. Angesichts
der Autorschaft des „Handschreiben” (Pfordten 28.11.1857;
ders. 16.11.1857) wurde der Befehl schnell in Umlauf gebracht und
die einfache Anmerkung „Cito” (Max 26.11.1857) am rechten Rand
des Schriftstücks drängte die Staatsbeamten zu einer raschen
Erledigung des Anliegens ihres „Allergnädigsten König und
Herr” (Rudhardt 4.12.1857). Am nächsten Tag unterrichtete der
Außenminister Ludwig von der Pfordten (1811-1880) das Innenministerium, welches endlich die dringliche Angelegenheit dem ihm
untergeordneten Königlichen Allgemeinen Reichsarchiv übermittelte. Wenige Tage später antwortete der Archivdirektor, Dr. Georg
Thomas Rudhardt (1792-1860), seinen Vorgesetzten, indem er in
einem mehrseitigen Bericht das vorliegende Gesuch prüfte und
bewertete.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
DER GESUCHSTELLER
Rudhardt hatte Rechtswissenschaften studiert, vermochte
aber mit Erfolg seine Karriere zu befördern, indem er sich auf
geschichtswissenschaftliche Studien spezialisierte. Seine auf
Archivrecherchen basierende Forschungen und Studien trugen
zu zeitgenössischen Fragen des noch jungen Königreichs Bayerns
bei. Die offensichtliche politische Bedeutung seiner historischen
Arbeit, die hierbei zuteil gewordene Anerkennung und nicht
zuletzt seine doppelte Expertise in den Rechtswissenschaften und
in der Geschichte machten ihn zu einem geeigneten Kandidaten
für die Leitung des Allgemeinen Reichsarchivs.
Der 1848 ernannte Archivdirektor war unter anderem auch für
die Begutachtung der eingehenden Archivbenutzungsgesuche
zuständig. Die eingehenden Gesuche waren zunächst auf die
„Persönlichkeit des Petenten” (Rudhardt 4.12.1857) zu prüfen.
Verständlicherweise wünschte die Staatsverwaltung, genau zu
wissen, wer um Eintritt in die Arkansphäre bat, und folglich überprüften die leitenden Archivbeamten die Identität und den Charakter des „Bittsteller[s]” (ebd.), bevor dem Gesuch stattgegeben
werden konnte. Rudhardt versuchte daher, persönliche Details
über den „Dr Volpi aus Mailand” (Max 26.11.1857) zu ermitteln.
Seine Versuche, die wirklichen Interessen und die möglichen
Motive für Volpis Gesuch in Erfahrungen zu bringen, scheiterten
jedoch daran, dass sich die Identität des Gesuchstellers nicht
sicherstellen ließ. Auf Anfrage bei der Königlichen Polizeidirektion in München erfuhr Rudhardt, dass der Petent „Alexander
Volpi heißt, Dr. der Medizin ist, in Trient geboren wurde, im
Alter von 36 Jahren steht, verehlicht und katholischer Religion
ist” (Rudhardt 4.12.1857). Für seine Recherche nahm Rudhardt
auch einen „ziemlich lobrednerisch gehaltenen Artikel” (ebd.)
zur Hand, der einige Tage zuvor in den „Neuesten Nachrichten“
veröffentlicht worden war. Vergeblich versuchte er mehr über die
Schriften des angeblich „bekannte(n) Schriftsteller(s)” (Neueste
Nachrichten 29.11.1857) herauszuinden und griff hierzu auf die
Kataloge der nahegelegenen Königlichen Hof- und Staatsbibliothek zurück, die wie das Reichsarchiv im selben Gebäude in der
Ludwigstraße untergebracht war. Das Ergebnis seiner Recherchen
präsentierte schließlich mehr als einen Dottore Volpi: „Zwar
kennt die italienische Literatur einen Guiseppe di Volpi, der zu
Mailand ein Manuale die Technologia generale 1854.80 herausgegeben; aber keinen dieses Namens, der sich mit geschichtlichen Studien abgegeben, und in der Historie als Schriftsteller
aufgetreten wäre.” (Rudhardt 4.12.1857). Zuletzt musste auch das
vorgebrachte Interesse an Literatur und Geschichte in Zweifel
gezogen werden, da der Schriftsteller und Forscher Volpi sich dem
Vorstand der Hof- und Staatsbibliothek noch nicht vorgestellt
hatte (ebd.). Die Unklarheiten über Volpis Person waren Anlass,
an den Gründen für sein Interesse an den arcana zu zweifeln. Da
seine Identität verdächtig erschien, war auch die Wahrhaftigkeit
seiner Forschungsabsicht fragwürdig.
Archivare und andere Staatsbeamte bedienten sich verschiedener
Quellen, um sich von den genuinen historischen Absichten zu
überzeugen und das notwendige „Vertrauen” (Rudhardt 4.12.1857)
in einen Gesuchsteller zu fassen. Die Reputation eines Gelehrten,
die Erfahrungen der Archivverwaltung mit einem Benutzer in
loco archivi, die veröffentlichten Studien und die darin manifestierten Anschauungen oder auch das lokal-speziische Wissen
über eine Person, all dies vermochte einen Gesuchsteller vertrauenswürdig erscheinen lassen. Wie anhand der Bemühungen Rud-
157
hardts in der Sache Volpi erkennbar wird, wurde jedwedes greifbare Mittel in Anspruch genommen, um das persönliche Proil
des Gesuchstellers erkennbar werden zu lassen. Der offenkundige
Mangel an eindeutigen und die Person des Schriftstellers Volpi
aufklärenden Informationen gereichte dem Petenten schließlich
zum Nachteil. Dies iel umso schwerer ins Gewicht, als Volpi nicht
dem bayerischen Untertanenverband angehörte; er kam aus dem
Ausland. Aus dem Ausland angereiste Forscher galten als Subjekte
einer fremden Regierung und folglich auch in Archivsachen als
„fremd[e] Gelehrt[e]” (Pfordten 16.12.1857). Die Staatsverwaltung
ließ in ihrem Bemühen, die Arkansphäre abzuschirmen, noch
mehr Vorsicht obwalten, um etwaig nur vorgetäuschte Versuche
der Einsichtnahme in das geheime Staatswissen von vornherein
zu vereiteln. Um schließlich doch das erforderliche Vertrauen zu
verdienen, waren verschiedene Mittel zur Hand: Ausgestattet mit
Empfehlungsschreiben vermochten ausländische Forscher, die
Bedenken der Staatsbeamten auszuräumen. Ein anderes Mittel,
um den Status des fremden Gelehrten zu überwinden, war etwa
die diplomatische Vermittlung durch die Regierungsvertretungen vor Ort, die Gesandtschaften, oder die Empfehlung seitens
wissenschaftlicher Vereinigungen. Auffällig ist, dass es Volpi an
all diesen Mitteln mangelte; weder die Österreichische Gesandtschaft in München vermittelte stellvertretend sein Anliegen noch
irgendeine andere Assoziation oder Vereinigung.
DER FORSCHUNGSGEGENSTAND
Neben den Unklarheiten über Volpis Person erwies sich das Gesuch des Schriftstellers noch in anderer Hinsicht als uneindeutig:
der „Gegenstand seiner Arbeit” (Rudhardt 4.12.1857) und dessen
Verknüpfung mit einer nicht weiter speziizierten Zeitperiode. Die
wenigen vorliegenden Indizien verwiesen darauf, dass Volpi sich
doch für „die neuere und neueste Geschichte von Tÿrol” (ebd.)
interessierte. Die Verbindung des Gegenstandes mit dem auf die
Moderne gerichteten Aktenstudium lief jedoch Gefahr, ein weniger günstiges Kapitel der jüngeren Geschichte des Bayerischen
Staates zu berühren.
Gemäß den Angaben des „allerhöchsten Handschreiben seiner
Majestät des Königs“ (Pfordten 27.11.1857) bat Alessandro
Volpi, seine Studien zur „Geschichte Tÿrols“ (Max 26.11.1857)
zu vertiefen. Obzwar das Anliegen unverfänglich scheint, ist
anzumerken, dass die politische Verwicklung Bayerns mit diesem
in den nordöstlichen Alpen liegenden Gebiet sowohl in der
„ältesten Zeit“ (Pfordten 27.11.1857) als auch der Gegenwart lag.
Angesichts des Mangels an weiteren Hinweisen griff Rudhardt
auf den in den Neuesten Nachrichten publizierten Artikel zurück (vgl. Rudhardt 4.12.1857). Dem war zu entnehmen, dass Volpi
„die interessante Geschichte Bayerns, Frankreichs und Österreichs vom Beginn 1793-1815, bezüglich Tyrols, bearbeitet“, und er
beabsichtige, „Belege und Notizen in Betreff der Napoleonischen
Kriege zu sammeln“ (Neueste Nachrichten 29.11.1857). Bereits
vor den ausgreifenden Recherchen Rudhardts hatte die Staatsregierung angesichts des potentiellen Interesses an der modernen
Geschichte Bedenken anzumelden. In seinem Schreiben vom
27. November 1857 unterrichtete der Außenminister, Ludwig von
der Pfordten, das Innenministerium, „daß die Gewährung des
in Mitte liegenden Gesuchs zu beantragen sein dürfte, soweit die
Benützung des Archivs auf Akten und Urkunden, welche Tÿrol
betreffen, von der ältesten Zeit bis zur ersten Abtretung Tÿrols an
Oesterreich, eingeschränkt bleibt, aber auf die neuere Geschichte,
namentlich vom Füssener Frieden /: 1745 :/ angefangen sich nicht
erstreckt“ (Pfordten 27.11.1857).
Neuere und jüngste historische Entwicklungen und Themen
waren für die Staatsregierung in der Tat eine sensible Angelegenheit. Entwicklungen und politische Ereignisse der modernen
Geschichte waren nach wie vor verknüpft mit der Gegenwart.
Diese Verknüpfung mit dem gegenwärtigen politischen Status
quo lag ohne jeden Zweifel in Volpis Fall vor. Das Interesse an
der eher jüngeren Zeitperiode erwies sich für die Staatsbeamten
als schwierig, da es an ein sensibles Thema rührte. (vgl. Rudhardt 4.12.1857). Das Herzogtum „Tyrol war bekanntlich von 1803
bis 1814 dem Königreiche Bayern einverleibt“ (Pfordten 16.12.1857).
Anders gesagt: Tyrol ward erst gewonnen und später wieder
verloren. Mehr noch: „Was sich in dieser Periode, namentlich bei
der Insurrection Tyrols im Jahre 1809 begeben hat“ (ebd.), bot
reichlich Anlass, den Bayerischen Staat zu kompromittieren. Die
rezenten Ereignisse verwiesen auf die beschränkte Reichweite
politischer Macht des seinerzeit in Entstehung begriffenen neuen
bayerischen Staates; ihre Geschichte vermochte auch noch in
der Gegenwart das Ansehen des Bayerischen Königreichs zu
schädigen.
Über fünf Jahrzehnte zuvor, im Anschluss an den Dritten Koalitionskrieg gegen Frankreich, schlug Napoleon seinem loyalen
Verbündeten, der bayerischen Monarchie, Tyrol zu und überantwortete ihr damit die politische Kontrolle über das Herzogtum.
Tyrol, traditionelles Kernland der österreichischen Monarchie,
erwies sich jedoch in der Hand der bayerischen Regierung als
unbotmäßig. Politische Reformen, welche die bayerische Staatsregierung in München ersonnen hatte, brachten die Bevölkerung Tyrols gegen die neue Regierung auf und untergruben
das wenige, was München an Autorität in der Region hatte; aus
der anfänglichen Unzufriedenheit entwickelte sich schließlich
ein Aufstand. Obzwar die Bayerische Armee sich bemühte, die
Kontrolle wiederherzustellen, gelang die Niederschlagung des
Tyroler Aufstands erst mit Hilfe der französischen Armee. Für
Bayern war zu diesem Zeitpunkt der politische Schaden nicht
mehr rückgängig zu machen. Die erwiesene politische Unfähigkeit hatte zur Folge, dass 1810 Südtirol der bayerischen Regierung
entzogen wurde, und 1815 unterstand das gesamte Herzogtum
wieder der Kontrolle Österreichs. Für Bayern endete der Tyroler
Aufstand mit Gebietsverlust und einer militärischen Niederlage.
Wichtiger ist aber, dass der Aufstand vor allem die Grenzen der
Reformen demonstrierte, die vom bayerischen Staat zu Beginn
des 19. Jahrhunderts in die Wege geleitet wurden. Die Annahme,
23
24
Verweis auf das Dekret des Königs vom 21.4.1812: BayHStA MInn 41361
Schreiben 15.5.1826.
Siehe hierzu Michael Clanchy: From Memory to Written Record. England
1066-1307. Malden Mass. 1993 [1973]; Gady Algazi: Ein gelehrter Blick ins
lebendige Archiv. Umgangsweisen mit der Vergangenheit im fünfzehnten
Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 266 (1998) H. 2, S. 317-357, hier S.
344-348, S. 349; Michaela Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 1736 bis 1780. Göttingen 1998,
S. 79-81; Yann Potin: L’État et son Trésor: La science des archives à la in du
Moyen Âge. In: Actes de la recherche en sciences sociales 133 (2000), S. 48-52,
hier S. 52.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
158
AUFSÄTZE
dass eine rationalisierte Form der Regierung in dem neu erworbenen Territorium einfach zu implementieren sei, entpuppte sich als
eine Machtfantasie, die allein an der Reißtafel der Politik Geltung
beanspruchen konnte.
Auch fünfzig Jahre später, als Volpi sein Anliegen der bayerischen
Regierung vorbrachte, hatten die leitenden Staatsbeamten den
Aufstand von Tyrol und die wirkungsvolle Zurückweisung der
bayerischen Herrschaft nicht vergessen. Ganz im Gegensatz
zu den medientheoretischen Annahmen von Wolfgang Ernst
erweist sich historisches Wissen hier nicht als ein Epiphänomen
des Archivs, als apriori jedweder historischer Erkenntnis.25 Die
Geschichtsvorstellung der für das Archivwesen zuständigen Verwaltungsbeamten – und folglich ein politischer und staatsloyaler
Geschichtsbegriff – hatte auf entscheidende Weise Anteil an den
administrativen Überlegungen über die jeweilige Archivbenutzung – und folglich auch an dem, was den Forschenden schließlich zur „Quelle”26 werden konnte. Aufgrund des kompromittierenden Potentials dieses Kapitels der Geschichte Neu Bayerns war
jedwede historische Forschung in dieser Sache – unabhängig von
der Frage der vorliegenden Akten (vgl. hierzu Rudhardt 4.12.1857)
– mit ihren möglichen skandalösen Enthüllungen gänzlich
unerwünscht.
DIE FEHLENDE EINGABE
Volpis Bitte mangelte es an politischer Unterstützung und sein
Gesuch wurde schließlich abgelehnt. Angesichts der Unklarheiten
über die Person des Gesuchstellers und seiner Motive wie auch
angesichts der politischen Sensibilität des gewählten Gegenstandes unterstützte keine der im Prozess der Entscheidungsindung
involvierten amtlichen Stellen sein Gesuch. Rudhardt argumentierte, dass dem Schriftsteller Volpi die Akteneinsicht im Allgemeinen Reichsarchiv nicht gewährt werden sollte, „da er, wenn
nicht andere Momente, die größeres Vertrauen in ihm erregen,
zu Tage treten, bis jetzt dieses Vertrauen schwerlich zu verdienen
scheint.” (Rudhardt 4.12.1857). In ähnlicher Weise argumentierte
Ludwig von der Pfordten hinsichtlich der Benutzung des dem
Außenministerium unterstehenden Geheimen Staatsarchivs.
Im Rückgriff auf die von Rudhardt vorgebrachten Argumente
kam der Außenminister in seinem Antrag an den König zu dem
Schluss, dass „aus politischen Gründen [das Geheime Staatsarchiv] nicht zugänglich gemacht werden [könnte]“: „was urkundlich in den Archiven oder Registraturen vorhanden ist, trägt noch
ein so neues Datum, daß hier die Geschichtsforschung eines
fremden Gelehrten, zumal eines oesterreichischen, nicht wohl
Platz greifen kann” (Pfordten 16.12.1857). Zwei Tage später zeigte
König Max II. sein Einverständnis mit dem Vorschlag der Regierung, indem er den vorgelegten Ministerialantrag signierte (ebd.).
Der Mangel an Information über Volpis Bitte gründete hauptsächlich in der Ermangelung eines verwaltungstechnischen Mittels,
das die Voraussetzung eines jeden Gesuchs war: die schriftliche
„Eingabe” (Rudhardt 4.12.1857): Im Hinblick auf Volpis in dieser
Hinsicht abweichenden Form des Gesuchs – er hatte seine Bitte
nur mündlich vorgebracht –, merkte Rudhardt an: „Den besten
Anhaltspunkt zur Abgabe eines Gutachtens über Volpi würde
wohl die Vorlage von dessen Eingabe um Benutzung des Archivs
bilden, weil [...] irgend ein Motiv, weßhalb er sich gerade diesen
geschichtlichen Gegenstand gewählt, zu entnehmen wäre: allein
diese Eingabe liegt leider nicht vor” (ebd.). Die Bitte zur Benutzung der Archive wurde gewöhnlich in einem Gesuchsschreiben
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
übermittelt, in dem wesentliche Details zum Antragsteller und
dem Forschungsgegenstand enthalten waren. Während Rudhardt
expressis verbis den Mangel eines schriftlichen Antrags in diesem
besonderen Fall anmerkte, ging der Außenminister über diese
Irregularität hinweg: In seinem Antrag an den König unterstellte
Ludwig von der Pfordten, dass jedwedes Interesse an der jüngsten
Geschichte Tyrols als eine politische Gefahr für den bayerischen
Staat und seine Interessen zu erachten sei (Pfordten 16.12.1857).
Rudhardt konnte offenbar jedoch nicht umhin, das Fehlen der
schriftlichen Eingabe in Erwägung zu ziehen und zu relektieren.
Obzwar er die Ablehnung von Volpis Gesuch für angemessen
hielt und sie auch vorschlug, ließen seine Überlegungen dem „Petenten” (Rudhardt 4.12.1857) eine letzte Möglichkeit offen: Rudhardt wies auf „andere Momente” hin, welche die wahren Motive
des Gesuchstellers zu erklären helfen mochten (ebd.). Um es
präziser zu fassen: Eine nachgereichte schriftliche Eingabe könne
endlich die notwendigen Details nachliefern, um doch noch das
Vertrauen von Regierung und Archivverwaltung zu gewinnen.
Die Erwägung Rudhardts relektiert die herausragende Rolle,
welche die schriftliche Eingabe in dem administrativen Prüfungsverfahren der Regierung spielte. Die Eingabe war ein administratives Medium; ein Medium, das die Staatsbeamten mit für
die Ermittlung der „Wahrheit” (ebd.) wesentlichen Details über
des Gesuchstellers Motive zur Archivbenutzung versorgte. Ob
diese Informationen sich auf den Forschungsgegenstand bezogen,
auf die zu untersuchende Zeitperiode oder sogar auf einzelne
einzusehende Akten und Urkunden, all dies verhalf ihnen, das
Anliegen des Gesuchstellers zu konturieren, und ermöglichte ihnen zugleich, jedwedes historische Interesse am geheimen Wissen
des Staates zu überwachen.
ZUSAMMENFASSUNG
Der Zugang zu staatlichen Archiven und die Verfügbarkeit von
Archivmaterialien waren im Wesentlichen abhängig von der
erfolgreichen Kommunikation zwischen Gesuchsteller und dem
Souverän bzw. der Staatsregierung. Wie das Gesuch Volpis und
vor allem sein Scheitern zeigt, war die schriftliche Eingabe eine
conditio sine qua non in einer etablierten Verständigung mit
den Staatsbehörden. Archivbenutzungsgesuche beruhten auf der
frühneuzeitlichen Tradition der Supplikation, mit Hilfe derer Behörden ein spezielles Anliegen, zum Beispiel die Aufhebung einer
Regel, vorgetragen und um die Genehmigung einer Abweichung
oder Ausnahme von der ofiziellen Regelung gebeten wurde.27 Auf
dieselbe Art und Weise baten historisch Forschende in ihren an
den Souverän gerichteten Gesuchen um die zeitlich begrenzte und
punktuelle Aufhebung der strengen Regeln der arcana imperii,
wenn sie um die Benutzung der Archive baten. Auf der Grundlage des vorgebrachten Anliegens und seiner Speziika prüften
die verschiedenen amtlichen Stellen die möglichen Gefahren,
die hieraus für den Staat erwachsen könnten, und entschieden
zuletzt, ob und in welchem Ausmaß dem Gesuch stattgegeben
werden sollte oder auch nicht; die Benutzung der staatlichen
Archive war schließlich kein Recht, das einem per se zustand.
Vielmehr handelte es sich um eine Gunst, die der Souverän und
seine Regierung gewährten, und diese auch nur unter bestimmten
Bedingungen.
Obzwar das Scheitern Volpis wesentlichen Aufschluss liefert, ist
der Mangel an Erfolg nicht notwendig repräsentativ für die Archivpolitik Bayerns in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu diesem
159
Zeitpunkt war Geschichte schon längst ein bereits etabliertes und
auch intensiviertes politisches Mittel, um den politischen und
sozialen Zusammenhalt des Königreichs zu fördern;28 die wissenschaftliche Nutzung der staatlichen Archive wurde von der Regierung anerkannt und auch politisch unterstützt. Mehr noch: Die
politische Relexion der Archivbenutzung zu wissenschaftlichen
Zwecken fand die Berücksichtung in den Plänen (1832) für das
neue Gebäude des Allgemeinen Reichsarchivs: Der 1843 eröffnete
Gebäudekomplex in der Ludwigstrasse bot Leseräume für Besucher, welche Akten oder Urkunden des Archivs einsehen wollten.29
Anders gesagt: Im Jahr 1857 verfehlte die Bitte des Schriftstellers
Volpi schlichtweg eine wesentliche administrative Anforderung
für Archivbenutzungsgesuche und folglich vermochte diese
nicht, die von der Regierung etablierte administrative Hürde zu
nehmen. Volpis Scheitern bietet gleichwohl exemplarischen Aufschluss über die Geschichte von Archivbenutzung und illustriert
die offenkundigen und leitenden Vorstellungen eines administrativen Prüfungsverfahrens. Die Prüfung der Gesuche war ein
hervorstechendes Merkmal historischer Archivrecherche im
19. Jahrhundert und es ist bezeichnend, dass politisch-historische
Vorstellungen von Geschichte der darin involvierten Akteure – die
Mitglieder der Regierung und die Vorsteher der Archive – Anteil
an der Beurteilung der Gesuche hatten. Angesichts der fehlenden
schriftlichen Eingabe waren die Bayerischen Behörden nicht in
der Lage, eine befriedigende verwaltungstechnische „Wahrheit”
(Rudhardt 4.12.1857) zu Volpi und seinen Geschichtsinteressen zu
ermitteln. Eingedenk der möglichen Gefahren ließen die Beamten
bei der Prüfung der eingehenden Gesuche Vorsicht walten; die
historischen Forschungsinteressen mit den Sicherheitsinteressen
des Staates abgleichen zu können, war für die Genehmigung
eines Archivbenutzungsgesuchs zwingend erforderlich und
erwies sich als ein probates zur Überwachung der Akteneinsicht
zu historischen Zwecken. Auf diese Weise und von Fall zu Fall
wurde die Grenze zwischen der Arkansphäre des Staates und der
Öffentlichkeit beständig neu deiniert, modiiziert und verstärkt.
Schließlich vermochte hierbei der Eindruck einer „Öffnung der
Archive” entstehen. Gleichwohl ging diese Form der „Öffnung”
mit Beschränkungen einher oder, wie in Volpis Fall, gelegentlich
auch mit der Schließung der Archive.
LA DEMANDE MANQUANTE
Le texte se consacre au thème de l‘usage historique des archives au
XIXème siècle. Prenant l‘exemple d‘une demande de consultation
échouée dans les archives bavaroises, l‘article étudie les conditions
d‘accès aux archives et les communications autour de ce sujet.
Dr. Philipp Müller
University College London
Gower Street
London WC1E 6BT
United Kingdom
E-Mail: philipp.mueller@ucl.ac.uk
Georg August Universität Göttingen
Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte
Humboldtallee 19, D-37073 Göttingen
25
26
27
28
29
Vgl. anders Wolfgang Ernst: Im Namen von Geschichte. Sammeln − Speichern − Er/zählen, München 2003, S. 25-45, hier S. 35, S. 44, S. 45.
Siehe zum Quellenbegriff: Michael Zimmermann: Quelle als Metapher.
Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen Selbstverständlichkeit. In: Historische Anthropologie 5 (1997), H. 2, S. 268-287.
André Holenstein: „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des
Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Margrafschaft Baden(-Durlach), Bd. 1.
Epfendorf 2003, S. 282-304; Gerd Schwerhoff: Das Kölner Supplikenwesen
in der frühen Neuzeit. Annäherungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit. In: Köln als Kommunikationszentrum, hg.
v. Gerd Schwerhoff/Georg Mölich, Köln 2000, S. 473-496, hier S. 479, S. 489.
Hans-Michael Körner: Staat und Geschichte im Königreich Bayern, 18061918. München 1982, S. 202; Clemens (Anm. 21), S. 307 ff.; Kunz (Anm. 21),
S. 65.
Wilhelm Volkert: Zur Geschichte des Bayerischen Hauptstaatsarchivs 18431944. In: Archivalische Zeitschrift 73 (1977), S. 131-148, hier S. 133.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
160
ARCHIVTHEORIE
UND PRAXIS
EIN EAD-PROFIL FÜR
DEUTSCHLAND. EAD(DDB) ALS
VORSCHLAG FÜR EIN GEMEINSAMES
AUSTAUSCHFORMAT DEUTSCHER
ARCHIVE
Angesichts der voranschreitenden Digitalisierung archivischer
Arbeitsumgebungen ist es in vielen Archiven mittlerweile eine
Selbstverständlichkeit, Bestände elektronisch auf der Basis
archivischer Erschließungssoftware zu verzeichnen. Gleichzeitig
steigt die Zahl der Online-Portale, in denen Archive ihre Erschließungsdaten einstellen und präsentieren; außerdem sind diese
Portale zunehmend miteinander vernetzt und dienen zum Teil als
Aggregatoren für wiederum andere Portale. Daher verwundert es
nicht, dass die Frage nach einem Standard-Austauschformat für
archivische Erschließungsdaten ebenfalls an Bedeutung gewonnen hat.1
Vor dem Hintergrund des Aufbaus der „Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB)“2 und der geplanten Entwicklung eines
„Archivportals-D“ wurde dieses Thema daher in einer ad-hocArbeitsgruppe deutscher Archive und archivischer Einrichtungen
behandelt und ein EAD-Proil erarbeitet, das als gemeinsames
Lieferformat für digitale Erschließungsinformationen aus Archiven an Informationssysteme dienen kann.
WARUM AUSTAUSCHFORMATE?
Austauschformate für archivische Metadaten dienen dem Austausch von Erschließungsinformationen zwischen (archivischen)
Einrichtungen, Dienstleistern oder Informationssystemen. Sie
müssen in der Lage sein, die verschiedenen Verzeichnungselemente wie z. B. Titel, Laufzeit oder Enthält-Vermerk korrekt wiederzugeben und Kontextinformationen und hierarchische Gliederung
von Tektonik und Bestand darzustellen. In Deutschland sind
bisher insbesondere zwei Formate im Gebrauch: Das „StandardAustauschFormaT (SAFT)“3 und „Encoded Archival Description
(EAD)“4. Da EAD innerhalb Deutschlands und international
weit verbreitet ist und seine Verwendung die Interoperabilität mit
anderen (inter-)nationalen Portalprojekten verbessern kann, bietet
es sich als Standardaustauschformat für archivische Erschließungsdaten in besonderem Maße an.
WAS IST EAD?
Bei „Encoded Archival Description“, kurz EAD, handelt es sich
um einen internationalen, von der Library of Congress herausgegebenen XML-Standard zur Beschreibung mehrstuiger archivischer Erschließungsinformationen. Ursprünglich in den Jahren
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
1993-1995 an der University of California, Berkeley entstanden,
wurde und wird EAD unter maßgeblicher Mitwirkung der
Society of American Archivists und mittlerweile auch durch eine
internationale Arbeitsgruppe, das Technical Subcommittee, weiterentwickelt.5 Derzeit gültig ist die Version aus dem Jahr 2002.
Mit Hilfe von EAD können Strukturen und Beziehungen
verschiedener Verzeichnungselemente abgebildet und somit
Beständeübersichten und archivische Findmittel hierarchisch dargestellt werden. Dadurch ist es möglich, gerade die für archivische
Erschließungsinformationen besonders charakteristischen und
wichtigen hierarchischen Zusammenhänge adäquat weiterzugeben.
EAD setzte sich zunächst in der englischsprachigen Welt durch,
hat sich in den vergangenen Jahren aber auch in Europa etabliert
und ist mittlerweile weltweit als Standard anerkannt. Beispielsweise kommt es auch im Archivportal Europa zum Einsatz, das
derzeit in den Projekten APEnet bzw. APEX entwickelt wird.6
VERWENDUNG VON EAD IN DEUTSCHLAND UND NOTWENDIGKEIT FÜR EIN
GEMEINSAMES EAD-PROFIL
EAD bietet große Spielräume für die Verwendung und Interpretation von Elementen, Attributen und Werten. Daher haben sich
beim praktischen Einsatz des Standards unterschiedliche Varianten oder auch sog. Proile herausgebildet. EAD-Proile deinieren
die Nutzung einzelner EAD-Tags in einer standardisierten Weise
unter Zugrundelegung einer bestimmten Erschließungspraxis.
Verschiedene Ausprägungen von EAD ergeben sich beispielsweise aus den Unterschieden zu den Verzeichnungstraditionen
im angloamerikanischen Raum, aber auch aus dem ungleichen
Verständnis und den bestehenden Erschließungsgewohnheiten
der Archivverwaltungen in Deutschland. Entsprechend existieren
unterschiedliche EAD-Varianten in einzelnen Einrichtungen, aber
auch für übergreifende Projekte wie das BAM-Portal7, das Portal
„SED-/FDGB-Netzwerk“8, das DFG-Projekt „Retrokonversion
archivischer Findmittel“9 und das schon genannte Archivportal
Europa.
Allen Kooperationen und Berührungspunkten zum Trotz und
ungeachtet der bewussten Anstrengungen, diese EAD-Varianten
kompatibel zu halten, ließen sich bestehende Unterschiede nie
161
vollständig ausräumen, so dass in der Zusammenarbeit mit
anderen Einrichtungen und Projekten stets Aufwände anfallen,
wenn Dateien einer EAD-Ausprägung in ein anderes EADFormat überführt, d. h. gemappt und konvertiert werden müssen.
Um solche Arbeitsaufwände künftig zu minimieren, wurde vor
dem Hintergrund der Errichtung der „Deutschen Digitalen
Bibliothek“ und in Verbindung mit dem geplanten Aufbau eines
„Archivportals-D“ die Initiative unternommen, ein einheitliches
Datenformat auf der Basis von EAD zu deinieren.
Ziel der „Deutschen Digitalen Bibliothek“, die 2012 online gehen
wird, ist es, als zentrales Portal das kulturelle Erbe und Wissen
Deutschlands zugänglich zu machen und zugleich als Aggregator
den nationalen Beitrag zur Europeana10 bereitzustellen. Digitalisate und Erschließungsinformationen aus Bibliotheken, Archiven,
Museen, Einrichtungen des Denkmalschutzes, Mediatheken und
wissenschaftlichen Instituten werden hier in einem überregionalen und spartenübergreifenden Portal zusammengeführt und gemeinsam präsentiert.11 Als interdisziplinärer Zugang zu Kulturgut
und wissenschaftlicher Information kann die DDB allerdings den
archivspartenspeziischen Anforderungen an fachgerechte Visualisierung und Recherche digitaler Information nicht voll gerecht
werden. Deshalb soll mit dem „Archivportal-D“ eine spartenspeziische Sicht als Teilprojekt der DDB entwickelt und eng mit
ihr verzahnt werden. Das „Archivportal-D“ erfüllt also innerhalb
der DDB die Anforderungen an archivspeziische Recherche und
Präsentation und ermöglicht es Archivnutzern, deutschlandweit
nach Erschließungsinformationen und digitalisiertem Archivgut zu suchen. Für die Realisierung dieses Vorhabens haben das
Landesarchiv Baden-Württemberg, das Landesarchiv NordrheinWestfalen, das Sächsische Staatsarchiv, die Archivschule Marburg
und FIZ Karlsruhe als technischer Betreiber der „Deutschen
Digitalen Bibliothek“ im Februar 2012 einen Drittmittelantrag bei
der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht.
Die Entwicklungen im Umfeld von DDB, Europeana und “Archivportal-D” wurden zum Anlass genommen, ein konsensfähiges
EAD-Proil unter Einbeziehung weiterer Standards zu deinieren,
das von der Archivwelt in Deutschland gemeinsam getragen
wird. Insbesondere soll die Datenbereitstellung an die „Deutsche
Digitale Bibliothek“ und dadurch auch an das geplante „Archivportal-D“ auf Grundlage des gemeinsamen Austauschformats
erfolgen und somit die Integration archivischer Erschließungsdaten in diese Systeme standardisiert und erleichtert werden. Auf
diese Weise ist die Möglichkeit einer homogenen Konvertierung
nach CIDOC-CRM12 gegeben, dem gemeinsamen Zielformat der
„Deutschen Digitalen Bibliothek“ für Daten aller Sparten. Ziel
ist es aber auch, deutschen Archiven ein Format vorzuschlagen,
in dem über diesen konkreten Anwendungsfall hinaus Erschließungsinformationen generell an übergreifende Informationssysteme und Portale geliefert werden können und das sich so gewissermaßen zum deutschen Standardformat für den Austausch
archivischer Daten entwickeln könnte. Das hat den Vorteil, dass
man ein Austauschformat für alle Portale besitzt, die man aus
den einzelnen Archiven „bedienen“ will. So könnten die Erschließungsdaten etwa in einem Standardformat an ein Regionalportal
übergeben werden, das in Zukunft seinerseits Aggregator für die
DDB und das „Archivportal-D“ sein kann. Das Austauschformat
wird damit ein Instrument der Arbeitsvereinfachung, denn der
Zusatzaufwand für die Präsenz eines Archivs in mehreren Portalen wird über die Nutzung eines Standards und die sich daraus
ergebenden Möglichkeiten der Aggregation minimiert.
Aus diesen Gründen wurde bei seiner Ausarbeitung besonders
auf Kompatibilität zu den bisher in einzelnen Archiven gebräuchlichen EAD-Ausprägungen, zum EAD-Proil des DFG-Projekts
zur Retrokonversion archivischer Findmittel und auch zum Archivportal Europa geachtet.
ENTWICKLUNG VON EAD(DDB)
Ende 2010 wurde eine vom Landesarchiv Baden-Württemberg
koordinierte ad-hoc-Arbeitsgruppe („EAD-AG“) ins Leben
gerufen. In mehreren Arbeitssitzungen und im Umlaufverfahren
erarbeiteten Vertreterinnen und Vertreter mehrerer staatlicher
und kommunaler Archive sowie der Archivschule Marburg mit
Beteiligung der IT-Ausschüsse von ARK und BKK daraufhin
ein solches gemeinsames EAD-Proil, das in Anlehnung an den
zunächst vorrangigen Einsatz als archivisches Lieferformat für die
„Deutsche Digitale Bibliothek“ „EAD(DDB)“ genannt wurde.13
Dieser Entwurf erfuhr in den darauf folgenden Monaten noch
einige Anpassungen, die beispielsweise durch Testmappings
von Echtdaten auf das neue Proil und durch erste Arbeiten am
konzeptionellen Mapping des EAD(DDB)-Proils auf das schon
genannte DDB-Datenmodell CIDOC-CRM notwendig wurden.
Vor kurzem wurde EAD(DDB) nun von der EAD-AG in einer
ersten Version verabschiedet.
DAS EAD(DDB)-PROFIL
In dieser Version 1 umfasst das EAD(DDB)-Proil Elementesets
für Erschließungsinformationen auf den Stufen Archiv, Beständetektonik, Bestand und Findbuch mit Klassiikation. Diese
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Vgl. dazu zuletzt Retrokonversion, Austauschformate und Archivgutdigitalisierung. Beiträge zum 14. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der
Archivschule. Hg. v. Katrin Wenzel u. Jan Jäckel. Marburg 2010 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 51). V. a. die Aufsätze im Abschnitt
„Austauschformate“, S. 163-250.
Projektseite: www.deutsche-digitale-bibliothek.de, vgl. auch Anm. 12.
„Deutsche Digitale Bibliothek“ und DDB sind vorläuige Arbeitsnamen. Bei
allen genannten URLs erfolgte der letzte Zugriff am 28.02.2012.
Vgl. www.archivschule.de/forschung/retrokonversion-252/vorstudien-undsaft-xml/.
Informationen, Tag Library, DTD und Schema unter www.loc.gov/ead, deutsche Übersetzung der Tag Library unter www.daoind.de/.
Vgl. www.loc.gov/ead/eaddev.html.
Das Projekt APEnet endete am 15.01.2012, das Nachfolgeprojekt APEX hat
am 01.03.2012 begonnen. Projektwebseite: www.apenet.eu/, Portal: www.archivesportaleurope.eu/Portal/index.action.
www.bam-portal.de.
www.bundesarchiv.de/sed-fdgb-netzwerk/.
www.archivschule.de/forschung/retrokonversion-252/retrokonversion-archivischer-indmittel.html.
www.europeana.eu/portal/.
Weitere Informationen auf der Projektseite www.deutsche-digitale-bibliothek.de/ und unter www.landesarchiv-bw.de/web/52723. Vgl. auch Gerald
Maier: Europeana und „Deutsche Digitale Bibliothek“ – Sachstand und Perspektiven für die Archive. In: Archive im Web – Erfahrungen, Herausforderungen, Visionen / Archives on the Web – Experiences, Challenges, Visions.
Hg. v. Thomas Aigner u. a. St. Pölten 2011. S. 40-55.
CIDOC Conceptual Reference Model, siehe www.cidoc-crm.org/.
Vertreten waren EAD-Fachleute aus folgenden Einrichtungen: Archivschule
Marburg, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Historisches Archiv der
Stadt Köln, Landesarchiv Baden-Württemberg, Landesarchiv NordrheinWestfalen, Landeshauptarchiv Koblenz, LWL-Archivamt für Westfalen,
Sächsisches Staatsarchiv, Stadtarchiv Bamberg. Die Arbeiten wurden zudem
von Mitarbeitern des APEnet-Projekts im Bundesarchiv unterstützt.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
162
ARCHIVTHEORIE
UND PRAXIS
Inhalte werden in Anlehnung an das Stufenmodell von ISAD(G)
strukturiert abgebildet.
Entsprechend der in vielen archivischen Informationssystemen
üblichen Trennung zwischen Beständeübersicht und Findmitteln ist das Proil ebenfalls in zwei Modelle aufgeteilt, in der die
Informationen zu den unterschiedlichen Erschließungsstufen
gesondert ausgegeben werden („Tektonik-EAD“ für die Gruppierung der Bestände eines Archivs bis hin zu einer knappen
Bestandsbeschreibung, „Findbuch-EAD“ für ausführlichere Informationen zu einem Bestand sowie das Findbuch mit Klassiikation und einzelnen Verzeichnungseinheiten bis hin zum Verweis
auf Digitalisate). Die einzelnen EAD-Dateien verweisen aufeinander, so dass sie stets miteinander in Verbindung gebracht werden
können. Die separate Übermittlung der Erschließungsinformationen zur Ebene Tektonik und zur Ebene Findbuch/Bestand bringt
den Vorteil mit sich, dass Informationen zu einzelnen Findmitteln
ersetzt werden können, ohne dass zugleich die Tektonik-Datei
erneut bereitgestellt werden muss, und dass der Dateiumfang
geringer und die Performanz höher bleiben.
Um die Hürden für eine Datenbereitstellung möglichst niedrig zu
halten, besteht das Proil nur aus wenigen Plichtelementen, bietet
aber mit optionalen Tags zahlreiche Möglichkeiten zur Anreicherung der Informationen. Vorgesehen sind beispielsweise optionale
Felder wie Umfang, Sprache, Provenienz oder Zugangsbeschränkung. Weiterhin besteht die Möglichkeit, Indizes für Personen,
Orte und Sachen abzubilden und von jeder Erschließungseinheit
auf zugehörige Digitalisate in einem Präsentationssystem zu verlinken. Dabei ist EAD(DDB) METS-anschlussfähig. Die genauen
Speziikationen für die diesbezüglichen Formate werden in der
EAD-AG derzeit entwickelt.
AUSBLICK
Ein solches Metadatenproil als abgeschlossen zu bezeichnen,
wäre in Anbetracht des raschen Wandels und der laufenden
Fortentwicklungen in diesem Themenkomplex unbesonnen.
Gerade weil sich die DDB noch im Aufbau beindet und das
„Archivportal-D“ erst im Planungsstadium, ist einleuchtend, dass
auch EAD(DDB) als deren archivisches Lieferformat noch nicht
als inal betrachtet werden kann. Bedarf für eine Weiterentwicklung könnte auch dadurch entstehen, dass verschiedene Literaturarchive und nachlassführende Bibliotheken Interesse daran
bekundet haben, ebenfalls EAD(DDB) zu nutzen. Da eine solche
Kooperation für alle Beteiligten nur gewinnbringend sein kann,
ist eine gemeinsame Prüfung hinsichtlich der Eignung des Proils
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
zur Beschreibung von Nachlass- und Autografensammlungen
geplant. Außerdem wird gegenwärtig im internationalen Rahmen an einer Nachfolgeversion von „EAD 2002“ gearbeitet, die
im Hinblick auf die Kompatibilität Änderungen an EAD(DDB)
notwendig machen könnte.
Gleichwohl wird das EAD(DDB)-Proil nun in seiner ersten Version der interessierten Fachwelt zugänglich gemacht: den Archiven
und archivischen Einrichtungen, den Betreibern (archivischer)
Internet-Portale, den Herstellern von Erschließungsprogrammen
und allen weiteren archivischen Dienstleistern. Die Vertreter
der EAD-AG setzen darauf, dass mehr und mehr Schnittstellen
an dieses EAD-Proil angepasst werden. Denn wenn das Proil verstärkt Verbreitung indet, kann der Mehraufwand beim
Austausch und der Bereitstellung von Erschließungsinformationen dauerhaft reduziert und somit Datenlieferungen deutlich
vereinfacht werden. Natürlich können in Archiven auch weiterhin
unterschiedliche (EAD-)Proile bei der Präsentation von Daten in
eigenen Online-Systemen verwendet werden. Für den Austausch
archivischer Daten über einzelne Archivverwaltungen hinweg
aber besteht nun mit EAD(DDB) die Chance, in Deutschland ein
gemeinsames Austausch- und Lieferformat für archivische Information zu etablieren.
Ulrich Fischer, Köln/Sigrid Schieber, Wiesbaden/Wolfgang Krauth/
Christina Wolf, Stuttgart
Genauere Informationen und alle relevanten Dokumente
zum EAD(DDB)-Proil inden Sie unter:
http://www.landesarchiv-bw.de/ead
163
DIE ARCHIVE DER MITGLIEDER DES
WESTNORDISCHEN RATES
AM BEISPIEL VON FÄRÖER UND
ISLAND
1985 wurde der Westnordische Rat gegründet und erhielt 1997
seinen gegenwärtigen Namen. Die drei Mitgliedsländer, Island,
Grönland und Färöer arbeiten in diesem Rat auf parlamentarischer Ebene in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Kultur
zusammen. Obwohl zwei der Mitgliedsländer, Grönland und
Färöer, Teil des dänischen Königreiches sind, ist keines der Länder Mitglied in der EU. Interessant ist die rechtliche Stellung der
Färöer und Grönlands, die „gleichberechtigte Nationen“ unter
dem Dach der dänischen Krone sind und ein Mitbestimmungsrecht im Bereich Außenpolitik besitzen. Die Mitgliedsländer des
Westnordischen Rats teilen eine mehr oder weniger gemeinsame
Geschichte und gemeinsame wirtschaftliche Interessen.
Diese besonderen Umstände der Staatlichkeit und der internationalen Zusammenarbeit wirken sich auch auf den Archivbereich in
diesen Ländern aus. Aus diesem Grunde sollen an dieser Stelle die
Nationalarchive von Island und Färöer unter Berücksichtigung
ihrer Besonderheiten kurz vorgestellt werden.
I. FÄRÖER (FØROYAR)
Färöer ist vulkanischen Ursprungs und liegt im Nordatlantik
zwischen Island, Schottland und Norwegen auf 62° nördlicher
Breite und 7° westlicher Länge. Der Archipel besteht aus 779
Inseln mit einer Fläche von ca. 1.396 qkm. Bedingt durch die Lage
am Golfstrom (Wassertemperatur Jahresdurchschnitt 7,7°C) ist
das Klima trotz der nördlichen Lage mild (Temperatur Jahresdurchschnitt 6,5°C), jedoch sehr wechselhaft und sehr feucht
(1.284 mm Jahresniederschlag an 209 Niederschlagstagen).
Vermutlich im 7. Jahrhundert siedelten erstmals irische Mönche
auf den „Schafsinseln“. Die Hauptbesiedlung durch norwegische
Wikinger fand im 9. Jahrhundert statt. Im Jahre 999 wurde Färöer christianisiert, 1538 erfolgte die Reformation und gegenwärtig
sind ca. 84 % der Färinger Mitglieder der evangelisch-lutherischen Staatskirche. Seit 1035 gehörte der Archipel zu Norwegen.
1298 entstand mit dem „Schafsbrief“ des norwegischen Königs
eine rechtliche Fundierung färöerischer Eigenständigkeit. Bis
heute ist das Dokument im Selbstverständnis der Färinger die
Grundlage ihrer eigenständigen Nation. Im Zuge der Personalunion zwischen Dänemark und Norwegen 1380 wurde Färöer
dänisch, was es auch nach dem Frieden von Kiel 1814 blieb. Erst
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die mündlich
tradierte Sprache der Färöer verschriftlicht. Es entstand eine
zunächst kulturelle und später auch politische Nationalbewegung
auf Färöer. Im Zweiten Weltkrieg wurde die politische Autonomie unter der Verwaltung britischer Besatzungstruppen weiter
ausgebaut und die 1946 durchgeführte Volksabstimmung über
die volle Souveränität mündete in die Autonomiegesetze von 1948.
Gegenwärtig ist Färöer eine in der dänischen parlamentarischen
Monarchie „gleichberechtigte Nation“ mit Selbstverwaltung und
einem Mitbestimmungsrecht in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik (Vertrag von Fámjin 2005). Das Staatsoberhaupt ist
die dänische Königin, vertreten durch einen Reichsombudsmann.
Bis Ende des 18. Jahrhunderts lebten ca. 5.000 Einwohner auf dem
Archipel. Die Einwohnerzahl verzehnfachte sich in den folgenden
200 Jahren und liegt heute bei gut 48.000. Färöer gliedert sich
in 30 Kommunen – in der Hauptstadt Torshavn leben ca. 12.000
Färinger. Hauptwirtschaftszweige sind Fischerei, Fischzucht und
Tourismus. In Färöer gibt es drei Gymnasien, eine Universität,
eine Musikschule, eine Fischereihochschule und eine pädagogische Hochschule.
II. DAS NATIONALARCHIV DER FÄRÖER
Noch vor der ofiziellen Unabhängigkeit 1948 trafen Dänemark
und Färöer 1932 eine erste Vereinbarung über die Führung eines
eigenen Archivs. Die Färöer betreffenden Unterlagen sollten
auf den Inseln verbleiben und nicht nach Dänemark verbracht
werden. Eine Ausnahme bildeten die in dänischer Regierungsverantwortung entstandenen Unterlagen. 1972 bezog das Archiv
Magazinräume und einen Lesesaal im naturkundlichen Museum
und Ende der 1980er Jahre wurde nahe an diesem Standort ein
Verwaltungsgebäude errichtet. Seit 1990 werden auch die Unterlagen dänischer Provenienz mit der Ausnahme der militärischen
Überlieferung im färöerischen Nationalarchiv aufbewahrt.
Das Archiv beindet sich in Torshavn und hat acht Mitarbeiter: Einen Direktor, eine weitere Wissenschaftlerin und sechs
Assistenten und Mitarbeiter des technischen Dienstes. Das lange
Zeit als eigenständige Verwaltungseinheit existierende Archiv
wurde 2011 mit Bibliothek und Museum in einer Organisation
zusammengefasst. Das Nationalarchiv übernimmt die Unterlagen
der dänischen Autoritäten, der färöerischen Regierung sowie der
Stadt- und Kommunalverwaltungen. Lediglich die Stadt Klaksvik unterhält ein eigenes Stadtarchiv und auf der weit im Süden
gelegenen Insel Suðuroy wird zur Zeit ein Kommunalarchiv
aufgebaut.
In den Magazinen des Archivs wird ca. fünf km Archivgut aufbewahrt. Es gibt zwei Magazine: Eines in der Nähe der Archivverwaltung – dies enthält zwei km der am häuigsten benutzten
Unterlagen – und ein weiteres Magazin mit drei km Unterlagen
ebenfalls in Torshavn. Lediglich das kleinere Magazin ist klimatisiert. Zu bemerken ist, dass das Klima in Färöer im Bereich
Temperatur problemlos, im Bereich Luftfeuchtigkeit jedoch
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
164
ARCHIVTHEORIE
UND PRAXIS
problematisch ist. Zurzeit besteht keine Möglichkeit fachgerechte
Restaurierungsarbeiten durchzuführen.
Die Übernahmequote des Archivs ist sehr hoch. Aufgrund der
Geschlossenheit und der engen Kontakte der Bevölkerung untereinander ist es schwierig, Unterlagen in großem Stil zu kassieren
– der Übernahmedruck ist groß. Auch die starke Betonung der
jungen Nationalstaatlichkeit verlangt als Grundlage eine reiche
Überlieferung. Über 30 % der staatlichen und kommunalen
Verwaltungsunterlagen sowie der privaten Überlieferung und ca.
10 % der Ministerialüberlieferung werden aus den Registraturen
übernommen. Zweifelsohne eine Besonderheit des Archivs ist der
vom Archivleiter verhängte Übernahmestopp von Unterlagen aus
der staatlichen Verwaltung. Das Nationalarchiv weigert sich Unterlagen zu übernehmen, solange die Regierung nicht ausreichend
Räumlichkeiten für eine Archivierung zur Verfügung stellt.
Zur Erschließung des Archivgutes arbeitet das Nationalarchiv
neben den klassischen Findmitteln auch mit einer Datenbank, in
der ca. zwei km der Überlieferung erschlossen sind. Auf der Internetseite des Nationalarchivs werden Online-Findmittel angeboten
und im Lesesaal existiert eine umfassende genealogische Kartei.
Zur Ausstattung des Lesesaals gehören auch ein Readerprinter
und ein Kopierer. Der größte Teil der Überlieferung im Archiv
ist in dänischer Sprache abgefasst. Die Entwicklung der eigenständigen Schriftsprache Färöers führte jedoch dazu, dass die
neueren Archivalien, aber auch die daraus in der Heimatsprache
entstehenden wissenschaftlichen Arbeiten vor allem von Menschen verstanden werden können, die färingisch, isländisch oder
norwegisch lesen können.
Das älteste Dokument im Nationalarchiv ist ein Depositum aus
der königlichen Bibliothek in Schweden. Es handelt sich um ein
Gesetzbuch aus dem 13. Jahrhundert in dem sich der sogenannte
„Schafsbrief“ beindet. Auf Kalbshaut geschrieben inden sich
hier die Wurzeln der Entwicklung zur färöerischen Unabhängigkeit.
2011 wurde die regelmäßig alle drei Jahre stattindende Tagung
der Archive der Westnordischen Staaten in Färöer abgehalten.
Seit knapp zehn Jahren indet im Nationalarchiv ein nachhaltiger
Modernisierungsprozess statt, dessen Ziel es ist, das Archiv an
den gegenwartsnahen Anforderungen auszurichten:
– Seit 2003 werden jährlich Wechselausstellungen eingerichtet
und „archive-awarness-days“ durchgeführt, um das Archiv im
Bewusstsein der Öffentlichkeit stärker zu verankern.
– Seit 2005 führt das Archiv regelmäßig Seminare für die färingische Verwaltung durch, um vor allem die Problematik der
Übernahme von „digital-born-records“ in den Verwaltungsbehörden bekannt zu machen. Zu diesem Zweck wurden zudem
zahlreiche Berichte für die Zentralverwaltung verfasst.
– Seit 2006 besitzt das Archiv das Aufsichtsrecht über die Registraturen der öffentlichen Verwaltung und führt regelmäßige
Behördenbesuche durch.
– Seit 2007 arbeitet das Archiv, inanziert von der „Genetic Resource Bank“ des Gesundheitsministeriums an einer genealogischen Datenbank für die vergangenen 200 Jahre.
– Seit 2008 wurden zwei Internetseiten eingerichtet (www.
history.fo und www.archives.fo); einerseits zur Präsentation
von häuig nachgefragten Archivalien und andererseits um
die Kommunikation mit den Nutzern und der Verwaltung zu
verbessern.
– Ebenfalls seit 2008 werden nach und nach alle Archivalien in
einer aus Norwegen stammenden Archivdatenbank elektronisch erfasst.
Dieses Jahr wird das Archiv 80 Jahre alt – für die Färinger sicher
ein Grund zu feiern.
Der Schafsbrief von 1298,
ältestes Archivale im Nationalarchiv
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III. ISLAND
Die größte Vulkaninsel der Erde, nahe am Polarkreis ca. zwischen
63° und 66° nördlicher Breite sowie 13° und 24° westlicher Länge
gelegen, beindet sich auf dem Mittelatlantischen Rücken sowohl
auf der Nordamerikanischen als auch auf der Eurasischen Platte.
Auf 103.125 qkm leben ca. 320.000 Isländer. Damit ist Island der
am dünnsten besiedelte Staat Europas. Abhängig vom warmen
Irmingerstrom (ein Arm des Golfstromes) an der Südküste und
dem kalten Grönlandstrom an der Nordost- und Südwestküste
sind die klimatischen Verhältnisse auf Island verschieden. Im
Norden ozeanisch kühl und an der Südküste ausgeglichener und
milder. In der Hauptstadt Reykjavik herrscht eine Jahresdurchschnittstemperatur von 5°C bei monatlichen Durchschnittstemperaturen zwischen 11°C und 0°C.
Im 9. Jahrhundert fand die Landnahme aus Norwegen stammender Wikinger statt. Es entwickelte sich zunächst ein oligarchisches Herrschaftssystem mit einem sogenannten Althing. Im
Jahr 1000 wurde das Christentum zur Staatsreligion, der alte
germanische Glaube durfte jedoch weiter praktiziert werden. Seit
1262 gehörte Island zu Norwegen und zwischen 1380 und 1944
stand es unter dänischer Herrschaft. In der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts erlangten die Isländer mehr und mehr Unabhängigkeit von Dänemark. Diese Entwicklung setzte sich Anfang des 20.
Jahrhunderts fort und führte 1918 zur Souveränität Islands, jedoch
mit dem dänischen König als Staatsoberhaupt. Unter britischer
bzw. amerikanischer Besatzung beschlossen die Isländer schließlich 1944 ihre Unabhängigkeit und Island wurde eine parlamentarische Republik.
Island ist in acht Regionen unterteilt, diese gliedern sich in 22
Kreise/Regierungsbezirke und 20 kreisfreie Gemeinden. Die
unterste Verwaltungsebene bilden die 79 Gemeinden. Von den
ca. 320.000 Isländern leben beinahe 120.000 im Ballungsraum
Reykjavik. Bedeutende Wirtschaftszweige sind die Fischereiindustrie, die Metallindustrie – z. B. Aluminiumverhüttung – und der
Tourismus.
IV. DAS NATIONALARCHIV ISLANDS
Im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen der Isländer wurde
das Nationalarchiv am 3. April 1882 gegründet und zunächst in
der Kathedrale in Reykjavik untergebracht. 1900 gelangte es in
das Parlamentsgebäude, 1908 in ein neues Archiv- und Bibliotheksgebäude und 1987 schließlich in das leer stehende Gebäude
einer Eisfabrik im Laugavegur. Der erste ofizielle Archivar wurde
im Jahr 1900 eingestellt. Dieses Jahr wird das Nationalarchiv also
130 Jahre alt.
Gegenwärtig arbeiten zwischen 25 und 30 Mitarbeiter im Archiv,
das ca. 30 km Archivgut aufbewahrt. Die Überlieferung beginnt
im 12. Jahrhundert. 1986 wurden im Gesetz Nr. 66 die Aufgaben
des Archivs festgelegt. Vor allem übernimmt das Archiv Unterlagen aus der Staatsverwaltung und staatlichen Institutionen 30
Jahre nach ihrer Entstehung. Unterlagen der Regional-, Kreis- und
Kommunalverwaltungen werden grundsätzlich in den entsprechenden Regional-, Kreis- oder Kommunalarchiven verwahrt.
Diese unterliegen ebenfalls den Bestimmungen des Archivgesetzes. Die Kreis- und Kommunalüberlieferung von Reykjavik ist im
Nationalarchiv untergebracht, das grundsätzlich Unterlagen der
untergeordneten Verwaltungsebenen als Depositum übernehmen kann, wenn keine Regional-, Kreis- oder Kommunalarchive
Der Verwaltungsleiter des isländischen Nationalarchivs Bjarni Þórðarson mit Dr.
Helge Kleifeld vom Archiv des Instituts für Zeitgeschichte vor dem Haupteingang
das Nationalarchivs in Reykjavik
existieren. Darüber hinaus beindet sich auch die kirchliche Überlieferung im Nationalarchiv. Eine zusätzliche Aufgabe des Archivs
ist die Entwicklung und Überwachung eines einheitlichen
Dokumenten-Managementsystems der staatlichen Verwaltung
und die Beratung der Behörden auf diesem Gebiet.
Das Nationalarchiv ist unterteilt in fünf Abteilungen:
– Verwaltung, Finanzwesen und Personal
– Erschließung und Forschung
– Beratung und Betreuung von staatlichen Behörden und Institutionen bei der Registratur- und Dokumentenverwaltung
– Übernahme elektronischer Unterlagen und Publikationen
– Benutzungsservice
Das Nationalarchiv publiziert nicht nur seine Findmittel, sondern
auch wissenschaftliche Arbeiten und bietet zahlreiche dieser
Informationen zusätzlich online an. Intensiv beschäftigt sich das
isländische Nationalarchiv mit der Übernahme elektronischer
Unterlagen und Datenbanken und lehnt sich dabei an die Erfahrungen an, die auf diesem Gebiet in Dänemark gemacht worden
sind. Im Rahmen der Archivierung der Sendungen des staatlichen
Fernsehens und Radios wird der Direktor des Nationalarchivs
beratend tätig. Im Nationalarchiv beindet sich eine große Restaurierungswerkstatt, in der das Archivgut fachgerecht restauriert
werden kann.
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ARCHIVTHEORIE
UND PRAXIS
Eine Besonderheit des isländischen Nationalarchivs ist seine
Verankerung im Staatsapparat. Das Nationalarchiv ist eine
unabhängige Verwaltungsorganisation unter der Aufsicht des
Ministeriums für Bildung und Kultur. Der Direktor des Nationalarchivs wird auf Vorschlag des Ministers ernannt. Der Minister
muss jedoch vorher einen in Island eigens berufenen „Archivverwaltungsrat“ in seine Entscheidung einbeziehen. Ähnlich wird
bei der Einstellung von Archivaren verfahren. Diese ernennt der
Minister auf Vorschlag des Direktors des Nationalarchivs, der
wiederum vorher den Archivverwaltungsrat hören muss. Dieser
Rat setzt sich folgendermaßen zusammen: Der Direktor des
Nationalarchivs ist geborenes Mitglied. Ein Mitglied wird vom
Historischen Institut der Universität Island vorgeschlagen, ein
weiteres wählen die fest angestellten Mitarbeiter des Nationalarchivs. Ein Mitglied wird vom Minister für Bildung und Kultur
bestimmt, der alle Mitglieder des Rates für vier Jahre ernennt.
Der Minister bestimmt auch den Vorsitzenden. Der Rat trifft
seine Entscheidungen mit einfacher Mehrheit, bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden. Aufgabe des
Rates ist es, die Geschäfte des Nationalarchivs zu beaufsichtigen,
grundlegende Richtlinien für die Archivarbeit zu entwickeln
und die Finanzverwaltung des Archivs zu kontrollieren. Diese
für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Konstellation bietet
eine – wenn auch nur beschränkte – Möglichkeit der Mitsprache
der Mitarbeiter des Archivs und mit der Universität auch einer
unabhängigen Institution bei Personalangelegenheiten und in der
übergeordneten Archivpolitik. Sie ist ein die Unabhängigkeit des
Archivs gegenüber der Exekutive fördernder Faktor und somit ein
Instrument der Demokratisierung des staatlichen Archivwesens
in Island.
Helge Kleifeld, München
STASI-KARTEIEN
EINE HERAUSFORDERUNG NICHT NUR
1
FÜR DEN HISTORIKER
39 Millionen Karteikarten in 3.900 Karteien2 sind in den Beständen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) überliefert.
Allein die Zahl ist ein Indiz dafür, wie wichtig Karteien für die
Arbeit der Staatssicherheit waren. Mehrere Dienstanweisungen
und Richtlinien formalisierten zunehmend detailliert und strenger, wie solche Karteien anzulegen und zu führen waren.3 Formal
betrachtet, befand sich die Staatssicherheit in einer ähnlichen
Bredouille wie der heutige Historiker: Wie sich in der Fülle der
Informationen effektiv zurechtzuinden, ohne Wesentliches zu
übersehen? Karteien waren bis zum Ende der DDR das wichtigste Hilfsmittel der Staatssicherheit zur Orientierung im eigenen
Dokumenten- und Datenbestand.
Bildhaft ausgedrückt gleicht der reine Papierbestand der Staatssicherheit elektronischen Dateien, die entformatisiert wurden.
Übrig bleibt eine amorph anmutende Sammlung von Daten, denen der Historiker und Archivar nur mühsam eine innere Logik
und Struktur abringen kann. Die Karteien ermöglichen es, eine
innere Ordnung in dieser Datensammlung auszumachen. Nicht
umsonst verweist die ehemalige Stasiführung nicht ohne Stolz
darauf, dass es ihr im Jahr 1989/90 gelungen sei, die Aktenzugänge über Findhilfsmittel zu erschweren, wenn schon die Aktenvernichtung zum Teil misslungen war.4
Wenn die Karteien eine dermaßen wichtige Funktion für das
Dokumentationsgeschäft der Staatssicherheit hatten, stellen sie
in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung nicht nur für den
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Historiker dar. Sie sind deutlich „mehr“ als Findmittel, denen
Karteien bis heute üblicherweise zugeordnet werden.5 Jenseits
archivfachlicher Debatten der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte6 sind
diese Karteien neben dem Findmittelaspekt auch unter dem Inhaltsaspekt und dem Evidenzaspekt zu analysieren. Keiner dieser
Aspekte darf vernachlässigt oder verabsolutiert werden, wenn man
die Arbeitsweise des MfS rekonstruieren und einschätzen will.
Nicht alle der erwähnten Karteien haben die gleiche Bedeutung
für das Informationsverarbeitungssystem der Staatssicherheit.
Manche sind Arbeitskarteien, mehr oder minder Zettelkästen
von einzelnen Ofizieren oder kleineren Diensteinheiten. Solche
Arbeitshilfen können allenfalls für Spezialfragen nützlich sein.
Anders sieht es mit solchen Karteien aus, die gleichsam das
zentrale Nervensystem des MfS bildeten.7 Zum Beispiel die VSHKartei, die Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei.
Die VSH-Kartei wurde Mitte der 70er Jahre eingeführt, 1980
weiterentwickelt bzw. stärker formalisiert und diente bis zum
Ende der DDR als Hauptstütze der Informationsverarbeitung der
Staatssicherheit. Basis ist die Suchkarte im DIN-A6-Format, die
sogenannte F 401. Diese Personenkarte enthielt auf der Vorderseite einige Personengrunddaten wie Name, Vorname, Geburtsdatum. Auf der rechten Seite inden sich Hinweise auf weiterführende Informationen.
Zirka zwei Drittel dieser Karteikarten8 verweisen auf sogenanntes
ZMA-Material, relativ gering formalisierte Personendossiers in
167
der Zentralen Materialablage (ZMA), einer Registratur in den
Diensteinheiten. Andere Einträge konnten auf Erfassungen in der
Zentralen Personendatenbank (ZPDB) hinweisen, die seit den
80er Jahren angelegt wurde, desgleichen auch Einträge in SOUD,
dem Datenverbund der staatssozialistischen Geheimdienste.9 Derlei Einträge verweisen auf den primären Sinn dieser Suchkartei
als Findhilfsmittel. Die Rückseite dieser Kartei enthält Kurzeinträge zur betreffenden Person, die der Kartei führenden Stelle von
unterschiedlichen Diensteinheiten übermittelt wurden. Datum,
Dokumentennummer und Diensteinheit erlaubten es, Zusatzinformationen anzufordern. Diese Form der Datenkomprimierung
ermöglichte eine erste Kurzeinschätzung zur Person, quasi „auf
einen Blick“. Die Stasi sprach von „Vorverdichtung“, die ihr ein
rationelleres Arbeiten beim Zusammenstellen von Inhalten ermöglichen sollte. Auch heute kann eine derartige „Stasi-Kurzvita“
den Einstieg in ein Thema erleichtern oder ist gar der einzige
Anhaltspunkt, falls die eigentlichen Ausgangsinformationen nicht
mehr überliefert sind.
Über diesem Inhaltsaspekt sollte jedoch nicht übersehen werden,
dass die Einzelinformationen, insbesondere die Hinweise auf
den Absender, wertvolle Hinweise über das Zusammenspiel von
Überwachungsofizieren und ihren Auswertern mit den verschiedenen Diensteinheiten enthalten. Der „Informationsluss“, also
die Frage, wie ermittelte Informationen zuverlässig dorthin gelangten, wo sie für die geheimpolizeiliche Arbeit benötigt wurden,
war eines der Dauerthemen der leitenden Auswerter der Staatssicherheit. Heute gehört die Frage nach der Fähigkeit von Datenerhebung, Datenintegration und -auswertung zu den wichtigsten
Parametern, wenn man sich mit der Frage der lächendeckenden
Überwachung, ihrer Effektivität und Efizienz beschäftigen will. 10
Allein die Zahl der Such- und Hinweiskarteikarten einer Diensteinheit ist schon ein Indiz für den Verfolgungseifer der jeweiligen
Struktureinheit der Staatssicherheit. Manche dieser Karteien sind
voluminös. Zum Beispiel umfasst die VSH der Abteilung VIII, die
für Observationen zuständig war, HA VIII/AKG ca. 98,00 lfm.11
Entsprechend dem Umrechnungsstandard der BStU, 4.000 Karteikarten pro lfm, wären das ca. 392.000 Karteikarten.
Die VSH war als Karteikartensystem konzipiert, das nicht nur den
personenbezogenen, sondern auch den sachbezogenen Einstieg in
die Recherche erlaubte. Dabei halfen Sichtlochkarteikarten. Diese
Karten im DIN-A4-Format wiesen mit Hilfe eines numerischen
Rasters bis zu 7.000 Lochfelder aus. Diese wurden mit einem
Handbohrer gestanzt, wobei jedes Loch für eine Person stand,
die in der VSH-Kartei erfasst war. Jede Karteikarte entsprach
inhaltlichen Merkmalen – sogenannten Deskriptoren – die in
einem Rahmenkatalog festgelegt waren. Auf einen Blick ließ und
lässt sich noch heute pro Sichtlochkarteikarte feststellen, wie viel
Spionagefälle, Grenzdurchbrecher oder Polittouristen o. ä. bei der
jeweiligen Diensteinheit registriert waren.
Nähere Angaben zur jeweiligen Person inden sich auf der Dokumentenkarteikarte, ebenfalls im DIA-A4-Format. Die Dokumentenkartei war nach den Feldnummern der Sichtlochkartei geordnet. Anders als die Sichtlochkartei verweist sie nicht primär auf
Sachverhalte, sondern auf die dazugehörigen Personen. Neben
den Personengrunddaten, die eine Beziehung zur VSH-Kartei herstellten, enthielt die Rückseite der Dokumentenkartei wesentlich
ausführlicher als die Suchkartei vorverdichtete Informationen aus
unterschiedlichen Diensteinheiten zu unterschiedlichen Anlässen.
Diese Personenauskunft ist so ausführlich, dass sie die Aktenlektüre fast entbehrlich macht. Dieses war schon damals der
wesentliche Sinn des VSH-Komplexes. Die Informationsarbeit des
MfS sollte effektiviert werden, die Daten „ständig zugriffsbereit“
und „zur unmittelbaren Unterstützung“ des eigenen und anderen
Bereiches bereit sein.12
Der VSH-Komplex ermöglichte somit Recherchen nach einzelnen
Personen aufgrund von quasi kriminalistischen Hinweisen als
auch die statistische wie textliche Auswertungen nach Sachverhaltkomplexen im Rahmen der geheimpolizeilichen Analytik des
MfS. Wegen der inhaltlich reichhaltigen und multiplen Nutzungsmöglichkeiten galten Karteien als im MfS als Teil des „Speichers“.
Der Anklang an die heutige Datenbanksprache ist keineswegs
zufällig. Die Analogie ist – wenn auch auf unterschiedlichen
Informationsverarbeitungsstufen – evident. Auch heute könnten
sich Historiker und Sozialwissenschaftler solcher Speicher, der
Karteien, bedienen, wenn sie Aufschluss über die Arbeitsweisen
der Staatssicherheit, Informationen über Personen und Sachverhalte oder weitergehende Informationen suchen. Die BStU-interne
Recherche basiert teilweise heute noch auf solchen Karteien. Da
die elektronische Fassung der zentralen Personenkartei F16 in
der Wende vernichtet wurde, werden in der BStU kurioserweise
die zentralen Vorgänge bis heute mit einer manuellen Recherche
begonnen.
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Kurzfassung eines Vortrages von 2010/11, der mehrfach unter dem Titel „Von
Kerloch – und anderen Karteien – zur Entwicklung der Überwachungssysteme des MfS“ gehalten wurde.
BStU (Hg.), 9. Tätigkeitsbericht, Berlin 2009 S. 37 ff.
Ein Beispiel ist die Dienstanweisung DA 2/81 zur einheitlichen Gestaltung
der Erfassung und Überprüfung von Personen und Objekten, der Registrierung von Vorgängen und Akten sowie der Archivierung politisch-operativen
Schriftgutes in den Abteilungen XI; zit. nach BStU (Hg.), Grundsatzdokumente, S. 384-396; Engelmann, Roger, Zum Wert der MfS-Akten In: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen
der SED-Diktatur in Deutschland“ Band VIII / Baden-Baden 1995, S. 243296; Genauere Angaben zu den Karteien auch in den Tätigkeitsberichten
der BStU und auf deren Archiv-Internetseiten unter www.BStU.de.
Grimmer, Reinhard/Irmler, Werner/Opitz, Willi/Schwanitz, Wolfgang (Hg.),
Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Berlin 2003 Bd. 2, S. 32; Booß,
Christian, Von der Stasi-Erstürmung zur Aktenöffnung. Konlikte und Kompromisse im Vorfeld der Deutschen Einheit. In: DA 2 (2011) / www.bpb.de.
Rauschenbach, Petra, Die Retrokonversion von konventionellen Findmitteln
im Bundesarchiv. In: Menne-Haritz, Angelika/Hofmann, Rainer, Archive
im Kontext. Festschrift für Prof. Dr. Hartmut Weber zum 65. Geburtstag.
Düsseldorf 2010. S. 271-280; Auch die Tätigkeitsberichte der BStU subsumieren Karteien in der Regel unter den Findmittelbegriff. BStU (Hg.), 9. TB
(Anm. 2), S. 37 f.
Kretzschmar, Robert, Die „neue archivische Bewertungsdiskussion“ und
ihre Fußnoten. Zur Standortbestimmung einer fast zehnjährigen Kontroverse. In: Archivische Zeitschrift 82 (1999), S. 7-40; Menne-Haritz, Angelika,
Das Provenienzprinzip – ein Bewertungssurrogat? Neue Fragen einer alten
Diskussion. In: Der Archivar 47 (1994), Sp. 229-252; Kretzschmar, Robert,
Spuren der Vergangenheit. Archivische Überlieferungsbildung im Jahr 2000
und die Möglichkeiten einer Beteiligung der Forschung. In: Der Archivar 53
(2000), H. 3, S. 215-222.
Booß, Christian, Überblick über die Bestände zur Westarbeit des MfS in
den Archiven der BStU. Zum Informationsverarbeitungssystem des MfS. MS
2009, in: http://c-booss.de.tl/Akten-zur-MfS_Westarbeit.htm. Inzwischen
ist zu diesem Thema ein weiterer Aufsatz erschienen: Bluhm, Ralph/Lucht,
Roland, Der Schlüssel zur Macht. Karteien und andere Findmittel zu den
Überlieferungen der Staatssicherheit. In: Archivar 64 (2011), H. 4, S. 414-426.
So die Schätzung des ZAIG Chefs Irmler 1987 in: Süß, Walter, Die Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt der DDR. Berlin 2009, S. 47.
Die Einträge wurden als ZAIG 5 registriert entsprechend der erfassenden
Diensteinheit.
Demnächst: Booß, Christian, Der Sonnenstaat des Erich Mielke. In: ZfG
(2012).
Laut Auskunft des BStU Archivreferates AR 2 von 2010.
DA 1/80, hier S. 328 f.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
168
ARCHIVTHEORIE
UND PRAXIS
Besonders fruchtbringend für die Analyse der internen Informationsverarbeitung des MfS erscheint es, wenn man den VSH-Komplex in den Kontext anderer Informationsverarbeitungsstufen
des MfS stellt. Es zeigt sich, dass es eine Stufenfolge von Karteikartensystemen gab, die für die Weiterverarbeitung der Informationsverarbeitung stehen. Mit Gründung des MfS wurden die
Urkarteien des MfS etabliert. Die niedrigen Ordnungszahlen wie
F 16, für Form(ular) 16, F 22, F 77, F 78, F 80 verweisen auf deren
frühe Entstehung. Das waren Karteien, in denen verwaltungsmäßig aufgebauten Vorgänge nach Personen, Registriernummern,
Decknamen, Straßen oder Objekten nachgewiesen und aufgefunden werden konnten. Solche Vorgänge, sei es zur Anwerbung von
Informanten, zur Überwachung von Personen und Objekten oder
zur Strafverfolgung, erinnern an die Aktenführung der klassischen Verwaltung, etwa einer Verwaltung für Inneres oder der
Polizei. Die F 16 (Personenkartei) und F 22 (Vorgangskartei) wurden in der Abteilung XII des Ministeriums zentral geführt, schon
um Doppelerfassungen auszuschließen, Primärzuständigkeiten
festzuhalten und den Überblick zu wahren. Derartige Karteien
werden daher als zentrale Karteien bezeichnet.
In diesem vergleichsweise schwerfälligen, wenig differenzierten
System waren „nur“ vergleichsweise wenige Menschen registriert, ca. 5 Millionen über die gesamte Laufzeit des MfS.13 Mitte
der 60er Jahre, auf dem Höhepunkt der Kybernetikdebatte der
DDR, mit der man hoffte, das Zeitalter perfekter wirtschaftlicher
aber auch sozialer Steuerung einleiten zu können, begann die
Stasi ihre Informationsverarbeitungssysteme entscheidend zu
modernisieren. Dazu dienten Kerblochkarteikarten im DIN-A4Format. Sie sollten, wie auch später der erwähnte VSH-Komplex,
die zahllosen diffusen Arbeitskarteien in den Diensteinheiten
ablösen. Die Kerbungen am Rande dieser Karteikarte ließen, wie
später der VSH-Komplex, eine differenziertere Recherche nach bestimmten Personen oder Tatbestandsmerkmalen zu. Seit den 60er
Jahren baute das MfS auch verschiedene Datenbanken auf. Bis
zum Ende der DDR waren es Datenbanken für Spezialfragen, die
die Karteikartensysteme des MfS ergänzten, aber nicht ersetzten.
Selbst als die ersten zentralen Datenbanken entstanden, wurden
die Dateneinträge kurioserweise noch auf Karteikarten nachgewiesen, z. B. ZPDB- und SOUD-Einträge.
Jüngste Recherchen haben gezeigt, dass gegen Ende der DDR
über 1 Millionen DDR-Bürger in der ZPDB erfasst war.14 In der
VSH-Kartei war gegen Ende der DDR immerhin die Hälfte aller
DDR-Bürger erfasst.15
Dies versetzt den Historiker im Prinzip auch heute in die Lage,
die Qualität von elektronischen Datenbanken des MfS mit Hilfe
der technologisch, geringerwertigen manuellen Informationsverarbeitungssysteme zu rekonstruieren. Auf Grund der Zerstörung
der elektronischen Datenträger des MfS im Frühjahr 1990 gibt es
bis heute keine genauere Vorstellung von der Fähigkeit des MfS,
Daten aus der Masse der Daten herauszuiltern und zusammenzuführen und für die Überwachung einzusetzen.
Erst die Analyse der aufeinanderfolgenden Informationsverarbeitungsstufen der Staatssicherheit – vom behäbigen Vorgangsnachweis zur Integration von Massendaten aus Datenbanken und den
entwickelten Karteikartensystemen – erlaubt Rückschlüsse auf
die Entwicklung der Überwachungstätigkeit der Staatssicherheit
der DDR. Die Frage nach der Überwachungsfähigkeit bzw. der
Totalerfassung der Bevölkerung ist nach wie vor eine zentrale,
dennoch nicht befriedigend beantwortete. Sie bleibt eine Herausforderung auch für den Archivar, der die Karteien in einer Form
zugänglich halten sollte, die die Beantwortung solcher Fragen
zulässt.
Christian Booß, Berlin
13
14
15
So die Zahl laut Vernichtungsprotokoll der elektronischen Fassung der zentralen Personenkartei vom Februar 1990. Kowalczuk, Ilko-Sascha, Endspiel.
Berlin 2009 S. 517. Die heutige F 16 umfasst laut Auskunft des BStU-Archivbereiches AR 2 noch 5,1 Millionen Karteikarten.
Kowalczuk (Anm. 13), S. 517.
So die Schätzung des ZAIG Chefs Irmler 1987 in: Süß (Anm. 8), S. 47.
NEUE NORM DIN ISO 16245 FÜR
VERPACKUNGEN ERSCHIENEN
Im Mai 2012 ist eine neue DIN-Norm erschienen, die
Anforderungen an Verpackungen für Archivgut zusammenstellt.
Der Text ist die deutsche Übersetzung der bereits seit Dezember
2009 gültigen internationalen Norm ISO 16245 und trägt
den Titel: „Information und Dokumentation – Schachteln,
Archivmappen und andere Umhüllungen aus zellulosehaltigem
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Material für die Lagerung von Schrift- und Druckgut aus Papier
und Pergament“.
Um sicherzustellen, dass am Markt angebotene Verpackungen
tatsächlich alterungsbeständig sind, greifen Archive bei
der Beschaffung gern auf Normen zurück, in denen die
entsprechenden Anforderungen formuliert sind. In Ermangelung
169
einer Norm für Verpackungen wurde bisher meist mit der Norm
DIN ISO 9706 gearbeitet, die alterungsbeständige Schreib- und
Druckpapiere deiniert. Es gab bei der Anwendung allerdings
manchmal Probleme, weil für Verpackungen und Beschreibstoffe
eben unterschiedliche Eigenschaften wichtig sind. Die jetzt
verfügbare Norm DIN ISO 16245 ist qualitativ etwas ganz
Neues und soll als Handwerkszeug für die Beschaffung von
Archivschachteln, -mappen, -umschlägen etc. dienen. Sie geht weit
über eine simple Materialbeschreibung hinaus – so berücksichtigt
sie etwa auch die Konstruktion einer Schachtel sowie die
eingesetzten Klebstoffe, Metallteile und Farben.
Für Schachteln, also der sog. Außenverpackung von Archivgut,
können laut DIN ISO 16245 alternativ zwei Typen (A oder B) von
Pappe verwendet werden:
Typ A ist Pappe, die nachweislich alle chemischen Anforderungen
der bekannten DIN ISO 9706 erfüllt. Dies sind ein neutraler bzw.
leicht alkalischer pH-Wert zwischen 7,5 und 10,0, eine minimale
alkalische Reserve entsprechend 2 % Calciumcarbonat und
eine maximale Kappazahl von 5 (damit wird ein Höchstwert an
unerwünschten oxidierbaren Substanzen wie dem im Holzschliff
enthaltenen Lignin sichergestellt). Pappen des Typs A sind daher
ligninfrei und dürfen auch ohne zusätzliche Innenverpackung in
direktem Kontakt zum Archivgut eingesetzt werden.
Eine qualitativ schwächere, aber meist etwas preiswertere Pappe
vom Typ B unterscheidet sich vom Typ A ausschließlich durch die
fehlende Begrenzung der Kappazahl bzw. des Lignins: Pappen
des Typs B sind chemisch nicht beständig. Die Norm lässt solche
Pappen zum Verpacken von Archivgut unter der Bedingung zu,
dass das Archivgut in Typ B-Schachteln durch einen zusätzlichen
Umschlag oder eine Mappe geschützt wird. Auch für diese sog.
Innenverpackung deiniert die Norm bestimmte Anforderungen,
u. a. die Ligninfreiheit.
Zur Unterscheidung der beiden Typen soll jede Schachtel deutlich
mit „ISO 16245 – A“ bzw. „ISO 16245 – B“ bezeichnet werden.
Abgesehen von diesen Materialanforderungen schreibt
DIN ISO 16245 für alle Schachteln, egal ob Typ A oder B,
weitere Untersuchungen vor, deren Ergebnisse ebenfalls in
einem Prüfbericht zu dokumentieren sind. Dies sind das
Wasseraufnahmevermögen (maximaler Cobb-Wert von 25),
das Öffnungsverhalten (mindestens 300-faches Öffnen und
Schließen) und die Festigkeit bei Stauchbelastung (Mindestwert
20 kPa). Farbige Schachteln müssen zusätzlich einen Test auf
Ausbluten der Farbe bei Wassereinwirkung bestehen. Schließlich
gibt die Norm noch Hinweise für die Verwendung von
Klebstoffen und mechanischen Verbindungselementen.
Die Anforderungen an die Innenverpackungen, also an
Archivmappen und -umschläge, folgen dem Gesamtkonzept
sinnvoll aufeinander abgestimmter Außen- und
Innenverpackungen. Chemisch muss das hierfür verwendete
Papier bzw. der Karton konform mit DIN ISO 9706 sein,
also dem Typ A der Schachtel entsprechen: Für pH-Wert,
alkalische Reserve und maximale Kappazahl sind die
oben genannten Werte vorgegeben. Mechanisch soll das
Material eine Mindestgrammatur von 100 g/qm und eine
Mindestdoppelfalzzahl von 1,9 (Schopper-Tester) bzw. 1,7
(MIT-Tester) aufweisen. Man erkennt hier deutlich, dass die
Verpackungsnorm inhaltlich von der Norm für Beschreibstoffe
DIN ISO 9706 abweicht, die statt der Doppelfalzzahl den
Durchreißwiderstand prüfen lässt. Selbstverständlich müssen
farbige Mappen und Umschläge auch einen Test auf Ausbluten
bei Wassereinwirkung bestehen.
Die neue Norm wurde – auch schon vor der Übernahme ins
deutsche Normenwerk – von Anbietern auf dem deutschen Markt
aufgenommen. Inzwischen sichern die meisten Firmen für ihre
Produkte die Konformität mit ISO 16245 zu. Dies wertet der
zuständige Normausschuss NABD 14 beim DIN als Erfolg für
seine Arbeit, denn nur Normen, die auch genutzt werden, sind
sinnvoll.
Die Kunden in den Archiven sollten allerdings berücksichtigen,
dass eine einfache Information „Produkt entspricht Norm
XY“ allein nicht sehr aussagekräftig ist. Es ist immer hilfreich,
sich vom Anbieter den Prüfbericht nach DIN ISO 16245, Ziffer
6, vorlegen zu lassen bzw. das Bestehen der vorgeschriebenen
Prüfungen im Einzelnen zusichern zu lassen. Dies gilt analog
auch für andere Normen, wie etwa bei der Papierbeschaffung die
DIN ISO 9706.
Während der Einführungsphase der Norm durch die
Veröffentlichung eines Normentwurfs im Jahr 2011 wurde von
einigen Anbietern kritisiert, dass die Festigkeitsprüfung jedes
einzelnen Schachteltyps und -formats zu teuer würde. Es ist in
der Tat so, dass das Ergebnis des in der Norm vorgeschriebenen
Stauchtests nicht nur vom Material, sondern auch von der
Konstruktion und Größe der Schachtel abhängt. Je größer
die Grundläche einer liegenden Schachtel, desto mehr
Belastung muss sie aushalten. Diese Anforderung ist allerdings
verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Archivschachteln
häuig übereinander gestapelt werden und die untere unter der
Last der darüber liegenden nicht zusammenbrechen soll. Der
Normausschuss trug den vorgetragenen Bedenken dadurch
Rechnung, dass im neuen nationalen Vorwort vorgeschlagen
wird, auf die Festigkeitsprüfungen von (nach Länge, Breite und
Höhe) kleineren Schachteln eines bestimmten Konstruktionstyps
verzichtet werden kann, wenn das Bestehen des Stauchtests für
eine große Schachtel dieses Typs aus identischem Material im
Prüfbericht nachgewiesen wurde. Die genannten Schachteln
dürfen dann alle die Bezeichnung „ISO 16245 – A“ bzw. „ISO
16245 – B“ tragen.
Die Realisierung der Norm DIN ISO 16245 ist ein großer
Fortschritt in den Bemühungen der Archive um die präventive
Konservierung ihrer Bestände. Die Norm ist beim Beuth Verlag
Berlin erhältlich. Die Entwurfsfassung (hier fehlt allerdings das
Nationale Vorwort der jetzt erschienenen endgültigen Version)
ist enthalten in der dritten Aulage des Praxishandbuchs
„Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken“,
herausgegeben von Rainer Hofmann und Hans-Jörg Wiesner
(Beuth Verlag 2011), S. 89-99.
Anna Haberditzl, Ludwigsburg
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
170
Tagungsberichte
USABILITY OF THE ARCHIVES OF
THE INTERNATIONAL TRACING
SERVICE (ITS)
Tagung “Usability of the Archives of the International Tracing Service (ITS)” am 10. und 11.
Oktober 2011 in Bad Arolsen
Die Nutzbarkeit und Nutzbarmachung der im Archiv des Internationalen Suchdienstes (ITS) hinterlegten Dokumente war
das Thema einer Konferenz am 10. und 11. Oktober 2011 in Bad
Arolsen. Daran nahmen 14 Archivare und Historiker aus Belgien,
Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten teil. Darunter waren Vertreter
des belgischen und des französischen Nationalarchivs, der Wiener
Library (London), des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD), der Gedenkstätte Yad Vashem und des US
Holocaust Memorial Museum (USHMM). Diese Institutionen
besitzen bereits digitale Komplettkopien der ITS-Sammlungen
oder sollen sie demnächst erhalten. Deshalb erstreckte sich das
Konferenzthema nicht nur auf die Verhältnisse und Arbeiten in
Bad Arolsen, sondern auch auf die der Institutionen, die die digitalen Kopien im Ausland verwahren und dort ebenfalls zugänglich machen.
Im Mittelpunkt der ersten Sektionssitzung standen methodische
Fragen der Erschließung als dem ersten Schritt zur Zugänglichkeit von Archivgut.
Karsten Kühnel vom ITS leitete seinen Vortrag über mögliche
Prinzipienkonkurrenzen bei der Erschließung des ITS-Archivs
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
mit einer knappen Gegenüberstellung des Pertinenz- und Provenienzprinzips ein und reklamierte dabei die Schaffung von
Transparenz durch den Gesamtbestand eines Archivs als höchstes
Ziel archivischer Erschließung. Er betonte die Archivwürdigkeit
der im ITS über die Jahrzehnte seiner Existenz aufgebauten Pertinenzordnung der Bestände, machte aber zugleich deutlich, dass
sich eine sinnvolle Erschließung auf die Erhellung der Entstehungszusammenhänge des Archivguts konzentrieren müsse. Das
verlange die Anwendung des Provenienzprinzips bei der Erschließung. Die gleichzeitige Beachtung ursprünglicher Kontexte und
der Neukontextualisierung im ITS erfordere eine mehrschichtige
Erschließung, die – in Anlehnung an Terry Cook – Archivbestände als Komplexe von Beziehungsgemeinschaften zwischen Dokumenten, Akten, Akteuren, Kompetenzen und Prozessen transparent mache. Die Erschließung werde somit zum maßgebenden
Vorgang, um Bestände als solche zu deinieren und abzugrenzen.
Die Eindeutigkeit der Zuordnung eines Archivale zu genau einem
Bestand sei aufgehoben. Dieses Modell lasse sich im ITS in der
Praxis umsetzen, da die Sammlungsbestände nahezu komplett digitalisiert sind. Die provenienzorientierte Bestandsbildung könne
daher ausschließlich virtuell erfolgen und somit eine parallele
171
Struktur neben der realiter bestehenden Pertinenzordnung abbilden.
Peter Horsman (Universität Amsterdam) schloss nahtlos mit
seinem Vortrag unter dem Titel „Wrapping Records in Narratives“
an. Er wies auf die verminderte Bedeutung der physischen Akkumulation von Archivalien zu Archivbeständen hin und betonte
ebenfalls die Funktion der Erschließung als bestandsdeinierenden
Prozess. Die Diskussion der Beziehung von Kontext und Provenienz führte er tiefer, indem er ein Vierdomänenmodell entwickelte,
das sich aus Kontextinformation in Bezug auf die Organisation,
die Funktionen, die Aktenführung („Documenting“) und die
Schriftgutverwaltung („Recordkeeping system“) zusammensetzt.
Horsman vermittelte den Kontext als Desiderat für eine Beschreibung, die nicht Provenienzkriterien untergeordnet ist, sondern mit
ihnen operiert. So sieht er als Hauptunterschied zur klassischen
Form des Provenienzprinzips die Loslösung von einer nur oder
doch vorwiegend eindimensionalen Verzeichnung und den Wandel von der Herstellung einer absoluten Ordnung der Bestände
zu einer „interpretation through description“. Dass die Loslösung
von einer eindimensionalen Sicht auf die Archivalien geradezu
notwendig sei, illustrierte er mit Hilfe von Dokumenten aus dem
Archiv des Niederländischen Roten Kreuzes. Anhand des einfachen, aber aussagekräftigen Beispiels von Registrierkarten des niederländischen Judenrats, der von den deutschen Besatzungsbehörden eingesetzt worden war und bis 1943 wirkte, zeigte Horsman,
wie Unterlagen ihren ursprünglichen Kontext verlieren (Dekontextualisierung) und mit einem neuen verknüpft werden (Rekontextualisierung) können, und welche Relevanz diese Prozesse für ihre
Erschließung und Nutzung haben können. Die Karteien wurden
nach deren Erlangung durch das Rote Kreuz von dessen Mitarbeitern neu strukturiert und für Suchdienstzwecke umgenutzt.
Nach dem Bekanntwerden weiterer zu den registrierten Personen
in Bezug stehenden Unterlagen wurden die Karten vom Roten
Kreuz fortgeführt und mit Querverweisen zu Akten und anderen
Informationsquellen versehen. Das Ergebnis sind Konglomerate
von Einträgen vielschichtiger Herkunft und Entstehungszusammenhänge. Es wurde an diesem Beispiel klar, wie unverzichtbar
eine gleichgewichtete Erschließung aller aufgefundenen Überlieferungsschichten sein kann, um erheblichen Informationsverlust
zu vermeiden. Ein hier anschließender Punkt seiner Ausführungen
war die Bedeutung narrativer Elemente bei der Erschließung, insbesondere um Beständen gegebenenfalls durch Gruppenbeschreibungen hinreichend gerecht zu werden. Die Repräsentation der
Faktoren kontextorientierter und gestufter Erschließung fasste er
abschließend in einem graphischen Metadatenmodell zusammen,
deren Elemente er mit den Erschließungsstandards ISDAF, ISAAR,
ISAD und ISDIAH komplementierte.
Der Vortrag von Petra Links (NIOD) vermittelte die wachsende
Bedeutung des Provenienzprinzips in der Arbeit des NIOD, dessen Sammlungen zum Teil nach dem Pertinenzprinzip aufgebaut
worden waren. Hier seien es vor allem externe Herausforderungen
gewesen, die zu einer verstärkten Hinwendung zu einer ISAD(G)gerechten Verzeichnungspraxis und zur Beachtung weiterer internationaler Erschließungsstandards führten. Exemplarisch nannte
sie die Anforderungen des künftigen Archiv- und Forschungsportals EHRI („European Holocaust Research Infrastructure“).
Sigal Arie-Erez (Yad Vashem) konzentrierte sich auf Aspekte des
Nutzerverhaltens und deren Rückkopplung auf die Erschließungspraxis im Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Die
Bedeutung des Internet als Standard-Rechercheplattform spielte
in ihrem Beitrag eine zentrale Rolle. Dabei sei es die Frage nach
der Ausführlichkeit, mit der Archivbestände im Netz präsentiert
werden müssten, die die Praxis in den unterschiedlichen Archiven
noch unterschiedlich beantworte, wie sich in der Diskussion
zeigte.
Die zweite Sektionssitzung führte die Anwesenden am Nachmittag
in das Gebiet der archivischen Terminologie. Eine einheitliche und
standardisierte Terminologie der Archive sei eine Voraussetzung
für Nutzerfreundlichkeit, Offenheit und Transparenz der Archive,
konstatierte ITS-Vizedirektor Djordje Drndarski einleitend.
In seinem Beitrag über „Archival Terminology within the Framework of Archival Identiication and Description at the Belgian
State Archives“ brach Philip Strubbe eine weitere Lanze für das
Provenienzprinzip als Grundlage bei der Abgrenzung von Archivbeständen und erläuterte anschließend die Termini „Sub-fond“,
„Section“, „Category“, „Series“ und „Unit“, entsprechend der
Hierarchie in der Erschließungspraxis der belgischen Staatsarchive.
Karsten Uhde (Archivschule Marburg), der in seiner Funktion
als Vertreter des ICA-SAE eingeladen worden war, präsentierte
das Projekt des ICA-SAE für die Erstellung eines elektronischen
vielsprachigen Wörterbuchs der archivischen Terminologie und
zeigte einige Beispiele der Schwierigkeiten mehrsprachiger Internetseiten hinsichtlich eindeutigen archivischen Begriflichkeiten
anhand des Online-Auftritts des Internationalen Suchdienstes.
Daran schloss das Referat von Jens Zirpins (ITS) an, der Diskrepanzen der klassischen Archivterminologie und der internen
terminologischen Tradition des Internationalen Suchdienstes
erläuterte und in den historischen Kontext stellte. Sein Beitrag
schaffte in präziser, knapper Form Klarheit auf einem Gebiet,
das im vergangenen Jahr mehrmals in öffentlichen Foren für
Missverständnisse hinsichtlich der Arbeit des ITS gesorgt hatte.
Unmissverständlich war das Bekenntnis des ITS, künftig noch
stärker als bisher mit den archivfachlichen Standardbegriffen
zu arbeiten. Hierfür soll ein dreisprachiges Glossar erarbeitet
werden, das eventuell noch kursierende unzulängliche Begriffe
im ITS verbindlich ersetzen soll. Der Internationale Archivrat und
das Bundesarchiv boten dabei ihre Unterstützung an.
Am nächsten Tag befassten sich die Teilnehmer in der dritten
Sektionssitzung mit dem Thema der Nutzung und Zugänglichkeit der ITS-Bestände.
Der Beitrag von Suzanne Brown-Fleming (USHMM) zeigte das
große Engagement des US Holocaust Memorial Museum und die
vielfältigen Möglichkeiten bei der Auswertung und Nutzung der
digitalisierten ITS-Bestände für die akademische Ausbildung. Dabei hob sie die Workshops für junge Forscher hervor, die in den
vergangenen Jahren in Bad Arolsen und Washington stattfanden.
Diane Afoumado (USHMM) erläuterte die Nutzung der gleichen
Unterlagen für personenbezogene Nachforschungen im „Holocaust Survivors and Victims Resource Center“ des USHMM.
In seinem zweiten Konferenzbeitrag ging Philip Strubbe auf die
Nutzungsmöglichkeiten der 2009 erhaltenen digitalen Kopie der
ITS-Sammlungen im belgischen Generalstaatsarchiv ein. Sein
Beitrag erregte auch deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil das
Archiv bislang die weltweit einzige Einrichtung unter den Empfängern von Komplettkopien der ITS-Sammlungen ist, die die
Daten als XML-Files mittels webbasierter Präsentationstechnik
zugänglich macht und nicht die im ITS genutzte Datenbanksoftware mit übernommen hat.
Zum Abschluss wurden die Nutzungsmöglichkeiten im Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen von Sebastian Schönemann
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
172
Tagungsberichte
(ITS) vorgestellt. Vizedirektor Drndarski teilte den Anwesenden
mit, dass der ITS die bisher geltende Regelung für die Herausgabe von Kopien an Forscher aufhebe und weiter liberalisiere. Der
Internationale Ausschuss für den Internationalen Suchdienst hat
den Entwurf auf seiner Sitzung im vergangenen November in
Paris inzwischen in Kraft gesetzt.
Karsten Kühnel/Djordje Drndarski, Bad Arolsen
Die meisten der Konferenzbeiträge sind auf der Homepage
des ITS, teilweise in Form von Abstracts, veröffentlicht.
Dort indet sich auch ein Tagungsbericht, der sich mehr auf
die Wiedergabe der Diskussionen richtet und daher zum
vorliegenden als Ergänzung anzusehen ist (http://goo.gl/
LgbSi; oder: www.its-arolsen.org/de/startseite/aktuelles/
index.html?expand=5591&cHash=5eb21bff1f).
LEBENDIGE VERGANGENHEIT.
DER LANDESKUNDLICHHISTORISCHE FILM IM ARCHIV
FACHTAGUNG DES ARBEITSKREISES
FILMARCHIVIERUNG AM 17. UND 18.
NOVEMBER 2011 IN MÜNSTER
Mehr als 90 interessierte Besucher folgten Mitte November
der Einladung des LWL-Medienzentrums für Westfalen in den
Plenarsaal des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL)
nach Münster. Die zweitägige Fachtagung verfolgte die Ziele,
neue Netzwerke zwischen ilmsichernden Institutionen zu
knüpfen sowie bereits bestehende Kooperationen auszubauen.
Noch unerfahrene Filmarchivare konnten sich über das bereits
gesammelte Wissen informieren.
Ausgerichtet wurde die Veranstaltung in enger Zusammenarbeit
mit dem Arbeitskreis Filmarchivierung NRW und der
Unterstützung des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend,
Kultur und Sport NRW. Der Arbeitskreis Filmarchivierung
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
NRW besteht seit nunmehr zwei Jahrzehnten und umfasst
rund ein Dutzend Vertreter verschiedener Archivarten aus
Nordrhein-Westfalen, die sich um die Bewahrung der ilmischen
Überlieferung im Land sorgen. Dafür indet ein regelmäßiger
Austausch zwischen den Einrichtungen statt und wird die
Öffentlichkeit durch Fachtagungen und Veröffentlichungen
für das Thema sensibilisiert. Als Gründungsmitglied des
Arbeitskreises hatte das Filmarchiv des LWL-Medienzentrums
ein besonderes Anliegen für die Ausrichtung der Tagung, da diese
Einrichtung in Westfalen-Lippe als Fachpartner für kommunale
Archive, Vereine und Privatpersonen agiert: Hier können die
historischen Filmdokumente aus dem Landesteil sachgerecht
173
Ruth Schiffer, Filmreferentin
des Ministeriums für Familie,
Kinder, Jugend, Kultur und
Sport des Landes NRW hält
das Grußwort
und kostenfrei gelagert, Ansichtskopien auf DVD erstellt und
die Inhalte über eine textbasierte Datenbank der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden. In seinem Sammlungskonzept
spielt insbesondere der oft vernachlässigte Amateurilm eine
bedeutende Rolle – doch (Amateur-)Filme über WestfalenLippe liegen nicht zwangsläuig in Westfalen-Lippe, sondern
beinden sich vielmehr in der ganzen Republik und im Ausland.
Darum sollte unter dem Oberbegriff des „landeskundlichen
Films“ die Tagung insbesondere der Vernetzung über das
Bundesland NRW hinaus dienen und außerdem aufzeigen,
mit welchen Aufgabenfelder sich ilmhaltende Einrichtungen
auseinandersetzen müssen, um als Fachpartner wahrgenommen
zu werden und erfolgreich handeln zu können.
Ruth Schiffer, Filmreferentin des Ministeriums, sprach das
Grußwort zur Tagung und verwies auf die gute Zusammenarbeit
im Bundesland NRW. Zur Zeit fördere das Land NRW den
Substanzerhalt von historischen Filmdokumenten mit jährlich
100.000 Euro, so dass bereits viele wertvolle Filme bewahrt und
der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden konnten.
Einleitend überlegte Jeanpaul Goergen, Filmwissenschaftler aus
Berlin, in seinem Eröffnungsvortrag „Von der Lokalaufnahme
zum Europailm: Filmgeschichte und Landeskunde“, dass es die
Kategorie „landeskundlicher Film“ nicht unbedingt gebe, sondern dass der landeskundliche Film vielmehr in den Augen des
Betrachters entstehe und dieser vor allem eine Art und Weise sei,
Filme zu betrachten.
DIE ARBEIT DER LANDESKUNDLICHEN FILMARCHIVE IM LÄNDERVERGLEICH
Am Anfang der Archivarbeit steht die Auswahl der zu bewahrenden Filmdokumente. Dirk Jachomowski(Landesilmarchiv im
Landesarchiv Schleswig-Holstein) betonte die besondere Wertigkeit von Amateurilmen mit institutioneller Anbindung. Ein
Beispiel: Der ehemalige Mitarbeiter der Wasserbaubehörde, der
fachkundig über eine gewisse Zeitspanne von Deichbau, Schleusen und Sturmluten berichtete.
Die nächsten Schritte sind Erschließung und Sicherung. Reiner
Ziegler (Landesilmsammlung Baden-Württemberg) konnte
berichten, dass die eigene Filmbewahrung von der guten Vernetzung zum SWR proitiere. So sei ein Großteil des Filmbestandes bereits heute digitalisiert und über die Datenbank FESAD
erschlossen.
Gastgeber Volker Jakob (Filmarchiv im LWL-Medienzentrum
für Westfalen) verwies auf die Notwendigkeit und hauseigene
Praxis, Filmquellen nicht nur zu bewahren, sondern in Form von
Editionen anschließend wieder der Öffentlichkeit zur Verfügung
zu stellen.
Eine andere sinnvolle Form der Nutzung von Filmdokumenten
ist die pädagogische, so Diethelm Knauf (Bremer Landesilmarchiv) und verwies dabei auf die zunehmende Bedeutung von
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
174
Tagungsberichte
Bildungspartnerschaften und außerschulischen Lernorten.
Seine eingehende Bildanalyse an dem Beispiel „Kaiserbesuch
in Bremen“ offenbarte beispielhaft die Gefahren vorschneller
Verknüpfungen im Kopf des Betrachters, die von den Machern
zwar eindeutig intendiert, faktisch aber nicht immer nachzuweisen seien. Am Abend wurden Filmbeispiele aus dem Bremen der
1920er-Jahre, dem Ruhrgebiet in den 1950ern und Hannover zur
Aufbruchszeit um 1970 gezeigt.
HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN VERSCHIEDENER ARCHIVTYPEN
Hans Hauptstock (Westdeutscher Rundfunk, Abteilung
„Dokumentation und Video“) berichtete von der Datenbank
des hauseigenen Archivs, über die der Bestand gut
erschlossen sei und den Redakteuren ein schneller Zugriff
auf Klammerteile gewährleistet würde. Als Produktionsarchiv
des Fernsehprogramms besitze das WDR-Archiv einen
umfangreichen und einzigartigen NRW- speziischen Video- und
Filmbestand.
Kleine landeskundliche Archive können über Arbeitsbedingungen
wie beim WDR nur staunen. Arie Nabrings (Archivberatungsund Fortbildungszentrum des Landschaftsverbandes Rheinland)
führte aus, dass die Bewahrung von Filmdokumenten gemessen
an der Vielzahl ilmführender Kultureinrichtungen im Rheinland
noch einen vergleichsweise geringen Stellenwert besitze. Die
Dokumentation der Filmüberlieferung voranzutreiben, die
Bestandserhaltung zu fördern und Archive bzw. Besitzer von
Filmen für den Erhalt zu sensibilisieren, blieben auch weiterhin
die zentralen Herausforderungen.
Dass diese nicht auf Filmarchive in kommunaler Trägerschaft
beschränkt sind, zeigte sich beim Beitrag von Jens Murken
(Landeskirchliches Archiv der Ev. Kirche von Westfalen). Er
stützte seinen Bericht auf eine kleine Erhebung, die er im
Vorfeld bei 65 kirchlichen und diakonischen Archiven angestellt
hatte. Nach Auswertung der Rückläufe resümierte Murken,
dass Filmarchivierung zwar als relevant, aber nicht als zentral
eingestuft werde – was zugleich ein Spiegelbild der Bestände
darstelle, die verhältnismäßig klein, sehr heterogen von Inhalt
und Trägern und kaum erschlossen seien. Das Potential dieser
Quellengattung sei jedoch groß: kirchliche Feiern im Dorf,
Festumzüge, Einweihungen und Versammlungen. Perspektivisch
hielt er die Bemühungen der evangelische Landeskirche im
Bereich Filmarchivierung noch für ausbaufähig: Denkbar wäre
ein zentrales Filmarchiv, notwendiger aber sei zunächst, die vielen
ehrenamtlichen Helfer für die Thematik zu sensibilisieren und
fortzubilden sowie Netzwerke auszubauen.
Wie ein solches Netzwerk aussehen kann, zeigte das Beispiel
der Stadt Rheine mit einer besonderen Kooperation zwischen
Stadtarchiv und dem ehrenamtlichen Engagement von Bürgern,
namentlich Thomas Gießmann (Stadtarchiv in Rheine) und
Heinz Schulte, Initiator des Filmmuseums Metropoli in Rheine.
Heinz Schulte und seine Filmfreunde sichten und digitalisieren
Filmschätze ihrer Heimatstadt und fertigen für das Stadtarchiv
Ansichtskopien auf DVD an. Auf diese Weise wurden bereits über
100 DVDs mit Filmbeiträgen an das Stadtarchiv abgegeben. Im
Gegenzug erhielten die Filmfreunde einen Teil ihrer Aufwände
erstattet und könnten sich der Wertschätzung der Stadt und
aller Bewohner gewiss sein, denn sie seien für einen Teil der
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Stadtgeschichte verantwortlich, wodurch ihrer ehrenamtlichen
Arbeit ein hoher Sinn vermittelt würde.
EIN BLICK ÜBER DIE LANDESGRENZEN: FILMARCHIVIERUNG AUF BUNDES- UND EUROPAEBENE
Martina Werth-Mühl (Bundesarchiv-Filmarchiv) erläuterte,
dass sich ihre Einrichtung nur mit ausgewählten regionalen
Dokumenten beschäftigen könne, die entweder prägend
oder beispielhaft für den Bund seien. Insofern sei eine enge
Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Landesebene schon
allein deshalb wünschenswert, damit wertvolle Filmdokumente
aus der Region nicht verloren gingen.
Harry Romijns Bericht über das Groninger Archiv belegte,
wie hoch der Stellenwert ist, der den ilmischen Quellen in
den Niederlanden eingeräumt wird. So sei eine Mehrzahl der
Bestände sehr gut erschlossen und viele Filme im Internet
präsent. Das ist in Deutschland bisher nur selten der Fall und die
erfreuliche Ausnahme von der Regel.
Viviane Thill (Centre national de l’audiovisuel, Luxemburg)
beschrieb die für deutsche Verhältnisse ebenfalls ungewöhnliche
Praxis, dass das gesamte Fernsehmaterial, das von
luxemburgischen TV-Gesellschaften produziert wurde, akquiriert
würde. Interessant auch die archivinterne Übereinkunft, keine
Videoformate zu übernehmen, wohl wissend, dass hier eine
Überlieferungslücke ab den 1980er-Jahren drohe.
DER LANDESKUNDLICHE FILM IM
ARCHIV – BESTANDSAUFNAHME UND
ZUKUNFTSVISIONEN
Nach mehreren Jahren intensiver Filmarchivarbeit liegt eine
große Schwierigkeit damals wie heute in der Akquise der
Filmarchivalien. Die Dokumente fallen in der Regel nicht
als behördliche Abgabe an ein Archiv, sondern müssen aktiv
eingeworben werden. Jede ilmbewahrende Stelle muss deshalb
versuchen, zahlreiche Netzwerke aufzubauen, um den Kontakt
zu potentiellen Filmgebern oder vermittelnden Instanzen zu
halten und dort für das Thema zu sensibilisieren. Die erste
Kassationswelle indet bereits bei den potentiellen Filmgebern
selbst statt, die sich zumeist nicht vorstellen können, dass ihre
Privataufnahmen für andere Menschen zu anderen Zeiten
interessant werden könnten.
Genauso wichtig sind Kooperationspartner, wenn es um
die Digitalisierung von Filmdokumenten und Speicherung
in Datenbanken geht. Hier bietet sich die Zusammenarbeit
mit Filmemachern an, seien es nun professionell
arbeitende Laien oder Fachmänner aus Sendeanstalten und
Filmproduktionsirmen.
Eine weitere Herausforderung betrifft den Umgang mit
VHS-Filmen, über den jetzt entschieden werden muss. Für
den exponentiellen Anstieg von Amateuraufnahmen nach
Einführung der Videobandkassette sollten schnellstmöglich
Archivierungskonzepte entwickelt werden. Diese können dann
sogar richtungsweisend sein für die folgende und noch einmal
hochgradig angestiegene Welle der digitalen Amateuraufnahmen
mit Mobiltelefon und Digitalkamera.
175
Darüber hinaus gilt es aber auch, keine Ressourcen im
Alltagsgeschäft zu verschwenden, in dem durch Unkenntnis
beispielsweise Mehrfachkopien archiviert und digitalisiert
werden – eine Vernetzung zumindest der größeren Filmarchive
im Lande ist darum sinnvoll. Dazu gesellt sich abschließend
noch ein weiteres Argument: Ein Großteil der Amateurilme,
die landeskundliche Bilder aufgezeichnet haben, beindet sich
gewissermaßen im falschen Archiv, z. B. dann, wenn es sich um
Reiseaufnahmen handelt. Hier könnte ein Austausch regionaler
Archive untereinander wahre Schätze für die Region zu Tage
fördern.
Und solche Schätze müssen zum Beispiel in Form von
Filmeditionen oder aber pädagogisch für den Schulunterricht
aufgearbeitet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Denn nur dann ist das Filmarchiv eine Kultur(-stiftende)
Einrichtung.
Die Beiträge einiger Referenten sind ausformuliert oder in
Form von Präsentationsfolien über die Homepage des LWLMedienzentrums abrufbar: www.lwl.org/LWL/Kultur/LWLLMZ/Bild_Film_Tonarchiv/Tagung_Filmarchiv
Mareen Kappis/Ralf Springer, Münster
„DIGITAL PRESERVATION SUMMIT
2011“
GLOBALES GIPFELTREFFEN ZUR
DIGITALEN LANGZEITARCHIVIERUNG
Der internationale, spartenübergreifende Austausch über aktuelle Fragen der digitalen Bestandserhaltung war das Thema des
„Digital Preservation Summit“, der am 19. und 20.10. vergangenen
Jahres in Hamburg stattfand. Der Einladung des Veranstalters
Goportis, der als Leibniz Bibliotheksverbund Forschungsinformation für den Erhalt digitaler Medien und als Partner des Kompetenznetzwerks nestor proiliert ist, waren insgesamt rund 100
Fachleute aus dem Bibliothekswesen, aus Archiven und sonstigen
Institutionen des „Digital Heritage“ gefolgt, um in vier Arbeitssitzungen praktische Erfahrungen und Zukunftsperspektiven der
digitalen Langzeitarchivierung zu diskutieren.
Nach der Eröffnung des zweitägigen Treffens durch Klaus Tochtermann, Direktor der Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften, der die aktuelle und künftige Herausforderung an die
Bewahrung von Wissen skizzierte. setzten sich die Tagungsteilnehmer in zwei thematischen Blöcken mit den Problemen und
Lösungsmöglichkeiten der digitalen Bestandserhaltung auseinander. Der erste Tag legte dabei den Fokus auf die notwendigen Vorbereitungen für die digitale Langzeitarchivierung: „Getting ready
for Digital Preservation“. Am zweiten Tag wurde der Schwerpunkt
auf „Ingesting Digital Materials“ gelegt, d. h. auf den Weg, wie
digitale Informationen in ein Langzeitarchiv gelangen können.
Die beiden Vortragsblöcke wurden am Nachmittag des ersten
Tages mit praxisbezogenen Workshops ergänzt, in denen Vertreter
der beiden Kooperationspartner von Goportis – nestor und die
Open Planet Foundation (OPF) – bereits erprobte Werkzeuge und
„Anleitungen“ der digitalen Langzeitarchivierung vorstellten und
mit den Teilnehmern diskutierten.
Abgerundet wurde die Veranstaltung durch eine Podiumsdiskussion, in der u. a. die Keynote-Speaker sowie Vertreter der
Kooperationspartner unter der Moderation von Inge Angevaare
(Dutch Digital Preservation Coalition) die langfristigen HerausARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
176
Tagungsberichte
Keynote-Speaker Adam Farquhar von der British Library
(Foto: Hanseshot)
forderungen und Perspektiven der digitalen Langzeitarchivierung
diskutierten.
In seiner Keynote „Future Imperfect“ zum Thema des ersten
Tages „Getting ready for Digital Preservation“ verdeutlichte Adam
Farquhar (British Library), Leiter der Abteilung „Digital Scholarship“ der British Library und einer der Gründer der Open Planets
Foundation, wo aus seiner Sicht die digitale Langzeitarchivierung
derzeit steht. Demnach seien in den letzten fünf Jahren viele
Institutionen – vornehmlich die größeren Bibliotheken und
Archive – vom Experimental- zum Produktivbetrieb übergegangen. Angesichts einer höchst dynamischen Weiterentwicklung
technischer wie kommunikativer Strukturen, die kontinuierlich
neue, dringend zu lösende Herausforderungen hervorbrächten,
sei es jedoch wichtig, bestehende Werkzeuge weiter zu entwickeln und vor allem in ihrer Anwendung zu verstetigen. Dazu
bedürfe es qualiizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
gerade in kleineren Institutionen oftmals fehlten. Die Rekrutierung geeigneter Spezialisten und die fachliche Qualiizierung
von Quereinsteigern erschienen unter diesem Gesichtspunkt als
mindestens ebenso große Herausforderungen wie die inanzielle
Bewirtschaftung technischer Systeme − Herausforderungen, deren
Bewältigung durch die Vernetzung und einen offenen Informationsaustausch innerhalb der Community unterstützt, aber nicht
vollständig bewältigt werden könnte. Den Herausforderungen
von dynamischen Inhalten und Formaten, den Datenmengen, der
Archivierung multimedialer Objekte und der Zusammenführung
der Vielzahl parallel entwickelter Projekte könne nur durch die
Zusammenarbeit von Facharchivaren und IT-Spezialisten begegnet werden. Ebenso wichtig sei ein intensiver Erfahrungsaustausch, bei dem es nicht nur um Erfolgsberichte gehe, sondern in
dem insbesondere auch über das gesprochen werden müsse, was
nicht oder nicht gut funktioniert („share what works and what
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
doesn’t work“). Die Heterogenität des Themas werde schon daran
deutlich, dass nicht unbedingt eine einheitliche Deinition von
digitaler Langzeitarchivierung existiere. Dabei wies Farquhar darauf hin, was digitale Langzeitarchivierung nicht sei: nämlich die
Auswahl oder Beschaffung digitaler Inhalte, die Dokumentation
des Web oder die Digitalisierung analoger Inhalte.
In den folgenden Vorträgen wurden einzelne Aspekte und Projekte auf dem Weg zu einem digitalen Langzeitarchiv aufgegriffen.
Angela Dappert (Digital Preservation Coalition, „Risk Assessment
of Digital Holdings“) hob dabei die Bedeutung eines relektierten
Risiko-Managements hervor und gab einen kritischen Überblick
über die vorhandenen Analyseansätze und vorhandene Tools.
Inge Angevaare (Dutch Digital Preservation Coalition) referierte
über die hohe Bedeutung selbstrelektierter Handlungsrichtlinien
digitaler Archive, die eine unverzichtbare Grundlage zielgerichteten wie transparenten Agierens seien. Danach folgten einige
Beispiele aus der Praxis. So stellte Natalie Walters (Wellcome
Library London) die migrationsbasierte, nutzungsorientierte Bestandserhaltungsstrategie einer großen Wissenschaftsbibliothek
vor, während Matthias Töwe (ETH-Bibliothek Zürich) die breit
angelegten Bemühungen einer Hochschulbibliothek schilderte,
die Bestandserhaltungsbedürfnisse von Produzenten und von
Forschungsdaten adäquat in eine Bestandserhaltungsstrategie
umzusetzen. Einen deutlichen Fokus auf organisatorische Aspekte beim Aufbau eines digitalen Repositoriums legte Bohdana
Stoklasova (Czech National Digital Library, „Contextual Selection
of Holdings and the Need for Organisational Changes“). Sie schilderte ausführlich die Umstrukturierungsbedarfe und die internen
Widerstände bei der Etablierung notwendiger neuer Arbeitsstrukturen. Den Abschluss des ersten Themenblocks bildete dann
der Beitrag von Steve Knight (National Library of New Zealand,
„National Digital Heritage Archive (NDHA)“). Am Beispiel des
177
NDHA als Kooperationsprojekt zwischen Nationalbibliothek und
Nationalarchiv skizzierte er den hohen vor der Einrichtung eines
digitalen Langzeitarchivs notwendigen Planungsaufwand. Dabei
sei es notwendig, sich seiner eigenen strategischen wie fachlichen Ziele bewusst zu sein, ein geeignetes Geschäftsmodell zu
wählen, eine relektierte Entscheidung zum Einsatz technischer
Komponenten zu treffen („Build or Buy?“) und ein realistisches
Einführungs- und Entwicklungsszenario zu entwickeln. Knights
abschließender Aufruf „Think before you act!“ mutete zwar
trivial an (erst zu denken und dann zu handeln, empiehlt sich
schließlich in vielen Lebenslagen), war aber als Bekenntnis zum
Primat der Fachlichkeit angesichts fortschreitender Tendenzen zu
rein informationstechnisch dominierten Bestandserhaltungsstrategien an dieser Stelle durchaus angebracht.
Der Nachmittag startete mit verschiedenen Workshops. Bram van
der Werf (Open Planets Foundation, „The Importance of Preservation Planning“) stellte das Planungswerkzeug „PLATO“ vor, das
zwar über komplexe Konigurationsmöglichkeiten verfügt, sich jedoch auf Grund seiner sperrigen Handhabbarkeit im praktischen
Einsatz bislang nicht durchsetzen konnte. Ebenfalls dem Thema
„Werkzeuge“ war der Workshop von Bill Roberts (Niederländisches Nationalarchiv) gewidmet, der sich mit „Format-Tools and
Registries as an Eco-system“ befasste. Richard Wright (BBC, „Preservation and Access for Audio and Video“) präsentierte ausführlich die Digitalisierungsstrategien der BBC, während Jens Ludwig
(Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) und Reinhard
Altenhöner (Deutsche Nationalbibliothek) Fragen der Ingest-Vorbereitung, des Data Managements sowie der Preservation Policies
behandelten. Christian Keitel (Landesarchiv Baden-Württemberg)
schließlich stellte die Entwurfsfassung des nestor-Leitfadens zur
digitalen Bestandserhaltung vor. Mit dem Leitfaden unternimmt
nestor den vielversprechenden Versuch, verschiedene theoretische
Ansätze und Modelle zur digitalen Bestandserhaltung in ein
spartenübergreifendes, konsistentes und praxistaugliches Vorgehensmodell zusammenzuführen.
Der folgende Themenblock am zweiten Veranstaltungstag befasste sich mit der Übernahme, dem „Ingest“, digitalen Materials. In
seiner Einführung setzte sich Seamus Ross (University of Toronto), mit dem „Ingest-Prozess heterogener Typen digitaler Objekte
von heterogenen Organisationen“ auseinander. Der Ingest-Prozess
beginne damit, von den Produzenten digitale Objekte zu erhalten, die idealerweise einem zuvor deinierten Arbeitsablauf folgen,
fehlerfrei sind und im Einklang mit den „Policies“ der archivierenden Organisation stehen. Ein so abgestimmtes Vorgehen im
Ingest-Prozess bedeute u. a.: Wahl eines geeigneten „TransportMediums“, digitale Objekte liegen in einem abgestimmten Format vor sowie ein Vorhandensein vollständiger Metadaten zu den
digitalen Objekten. In der Realität könnten diese Vorgaben, die
die digitale Langzeitarchivierung erleichtern, von den „Produzenten“ meist kaum erfüllt werden. Sie stellten die digitalen Inhalte
oftmals in speziellen Formaten, unterschiedlichen Versionen
und unvollständig zur Verfügung, da sie ihre Daten aus inhaltlichen Gesichtspunkten heraus produzierten. Eine nachträgliche
Bearbeitung sei oftmals für die Produzenten zu aufwendig oder
technisch nicht möglich. Oftmals liege der Fehler aber auch in
Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Produzent und Archiv.
So obliege die Nachbearbeitung denjenigen, die die Inhalte archivieren sollen. Insbesondere die Kommunikation zwischen Produzenten und Archiven stelle eine wichtige Herausforderung für die
Zukunft dar. Hinzu komme, dass die derzeit zur Verfügung ste-
henden Werkzeuge für die Identiizierung und Analyse digitaler
Inhalte einer stetigen Weiterentwicklung bedürfen. Eine weitere
Hürde bestehe in den oftmals fehlenden „Policies“, so dass nicht
transparent sei, welche Anforderungen bezüglich der Langzeitarchivierung an die Formate und Objekte gestellt würden. Nach
diesem eher pessimistischen Blick auf die Sachlage beim IngestProzess nannte Seamus Ross jedoch auch einige erfolgversprechende Ansätze in Form von Referenz-Projekten und Fallstudien,
z. B. NDIIPP (National Digital Information Infrastructure and
Preservation Program, Library of Congress) tools and services
directory.
Der sehr substanzreichen Einführung schlossen sich verschiedene Berichte aus der archivischen Praxis an. So knüpfte Richard
Wright (BBC, „Ingest & Metadata for Audiovisual Materials“)
an seinen Beitrag des Vortags an, bevor Adrian Brown (Parliamentary Archives London) die beim britischen Parlamentsarchiv
eingesetzten Identiizierungs- und Validierungstools vorstellte
und Esa-Pekka Keskitalo (National Library Finland) die Digitalisierungsstrategie der innischen Nationalbibliothek präsentierte.
Zwei unterschiedliche archivische Akzessionssysteme stellten
danach Luis Faria (Portugiesisches Nationalarchiv) sowie Tarvo
Kärberg (Estnisches Nationalarchiv) vor. Das in Portugal verwendete System RODA basiert auf Fedora und ist ein modular aufgebautes Open Source-Produkt. Fachlich, so Faria, erfülle RODA
alle einschlägigen archivfachlichen Standards und könne derzeit
METS-SIPs mit PDF/A, WAV, Video-DVD sowie ein speziisches
XML-Format für Datenbankinhalte verarbeiten. Ein Modul zum
Langzeiterhalt für RODA sei geplant, aber noch nicht realisiert
worden. Einen anderen Weg zur Datenübernahme schlägt das
estnische Nationalarchiv ein. Zur SIP-Bildung für elektronische
Akten aus verschiedenen DMS-Systemen kommt hier das selbst
entwickelte Tool UAM („Universal Archiving Module“, Freeware) zum Einsatz, das u. a. Primärdaten konvertiert, strukturiert, validiert und Metadaten extrahiert. Im Archiv, so Kärberg,
erfolge dann die Bewertung des angelieferten Materials sowie
die Übernahme in den Langzeitspeicher mit Hilfe des Ingestmoduls „Kleio“. Zum Abschluss des Themenblocks legte Michelle
Lindlar (Deutsche Zentralbibliothek für Medizin) den Fokus
auf das erforderliche „Miteinander“ bei der digitalen Langzeitarchivierung. Lindlar stellte den Ingest-Prozess im Rahmen des
Goportis-Pilotprojekts vor, in dem über rund anderthalb Jahre
die Anforderungen an ein System der digitalen Langzeitarchivierung festgelegt und ausgewählte Ingest-Prozesse getestet wurden.
„Collaboration is the key to success“ war die Quintessenz aus
diesem gemeinsamen Projekt, da die digitale Langzeitarchivierung durchaus Synergien bei der Planung und Durchführung
digitaler Inhalte bietet.
Ein Resümee der Tagung wurde im Rahmen der Podiumsdiskussion gezogen. Demnach gebe es zwar in den letzten Jahren
enorme Fortschritte auf dem Gebiet der digitalen Langzeitarchivierung, die Erkenntnisse seien jedoch auf viele Einzelprojekte
verteilt. Somit sei der Erfahrungsaustausch der Expertinnen und
Experten untereinander von großer Bedeutung. Es gelte herauszuinden, was funktioniert und was nicht, und darum, von Pilotanwendungen zu etablierten Systemen zu gelangen. Große Probleme
ergäben sich hierbei aus der Vielfalt und Komplexität des zu bewältigenden Materials sowie aus der schlichten Menge an Daten.
Eine weitere Herausforderung bilde die Aus- und Weiterbildung
der zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ziel sollte es
zudem sein, das vorhandene Wissen zu sammeln und aktiv ausARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
178
Tagungsberichte
Interaktivität kennzeichnete
die Sessions des Digital Preservation Summit
(Foto: Hanseshot)
zutauschen. Die Vereinigungen auf nationaler (nestor) und internationaler Ebene (OPF) bildeten hierfür eine gute Ausgangsbasis.
Aus archivfachlicher Perspektive war der hervorragend organisierte und für deutsche Verhältnisse außergewöhnlich hochkarätig
besetzte Goportis Preservation Summit 2011 ein wichtiger Schritt
in eine richtige Richtung. Weitere Schritte der Archive, vor allem
ein breiter als bisher aufgestelltes Engagement in den einschlägigen Netzwerken und Projekten, sollten folgen, will die deutsche
Archiv-Community nicht perspektivisch Gefahr laufen, den Anschluss an den spartenübergreifenden Dialog und internationalen
Austausch nur noch punktuell und durch das überdurchschnittliche Engagement Einzelner halten zu können.
Birte Lindstädt, Köln/Christoph Schmidt, Münster
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Das Programm des Summits sowie die Abstracts und Präsentationen zu den einzelnen Beiträgen sind online verfügbar unter www.digitalpreservationsummit2011.de.
Über Goportis
Goportis ist der Name des Leibniz-Bibliotheksverbundes
Forschungsinformation bestehend aus den drei Deutschen
Zentralen Fachbibliotheken TIB (Technische Informationsbibliothek, Hannover), ZB MED (Deutsche Zentralbibliothek für Medizin, Köln/Bonn) und ZBW (Deutsche
Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften – LeibnizInformationszentrum Wirtschaft, Kiel/Hamburg). Das Ziel
von Goportis ist es, durch anwendungsorientierte, fachunabhängige Forschung den wissenschaftlichen Arbeitsprozess zu unterstützen. Weitere Informationen unter www.
goportis.de.
179
DIGITALE REGISTRATUREN –
DIGITALE ARCHIVIERUNG
16. ARCHIVWISSENSCHAFTLICHES
KOLLOQUIUM DER ARCHIVSCHULE
MARBURG
Dass die Archivierung digitalen Schriftguts zu den größten Herausforderungen der Archivarszunft gehört, scheint sich mittlerweile weitestgehend herumgesprochen zu haben. Abgesehen von
Landesarchiven und Institutionen vergleichbarer Größenordnung,
die seit geraumer Zeit daran sind, ihre elektronischen Archive
aufzubauen, geraten Fragen digitaler Archivierung zunehmend
in den Blickwinkel kleinerer und mittlerer Archive. Diese standen
im Mittelpunkt des 16. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums,
das die Archivschule Marburg am 29. und 30. November 2011 in
bewährter Weise in den Räumlichkeiten der Evangelischen Stadtmission Marburg veranstaltete. Der folgende Bericht kann nur
einen allgemeinen Überblick über den Verlauf der Tagung bieten;
eine Publikation der Beiträge ist aber in Vorbereitung.
Nach Grußworten von Irmgard Christa Becker, Leiterin der
Archivschule Marburg, und Egon Vaupel, Oberbürgermeister der
Universitätsstadt Marburg, veranschaulichte Alison North (London) in ihrem Eröffnungsvortrag die internationale Dimension
des Tagungsthemas. Als Vertreterin der Wirtschaft, die ihre berufliche Karriere in den 1970er Jahren mit der Schriftgutverwaltung
auf Ölplattformen begonnen hatte, rannte sie mit ihrem Plädoyer
für ein präventives Records Management, das in den Wirtschaftsprozess des Unternehmens eingegliedert ist, bei den Tagungsteilnehmern offene Türen ein. Records Management und Archive
versteht North als zwei Seiten derselben Medaille, die angesichts
des Konzepts eines „records continuum“ Hand in Hand gehen
müssten – bei analogem wie bei digitalem Schriftgut. Besonders
anschaulich war ihr zugespitzter Vergleich des Records Managements in verschiedenen Ländern. Während sie, zum Großteil
aufgrund eigener Erfahrung, Australien als Vorreiter, Frankreich
als traditionell und die afrikanischen Länder als transparent bezeichnete, hielt sie ihr Heimatland Großbritannien eher für einen
„follower“ der Entwicklungen, wobei man sich gerne Konzepte
von anderswoher ausleihe. Das Records Management in Deutschland, das in ihrer Präsentation fehlte, schätzte sie auf Nachfrage
am ehesten als noch in seiner Entstehung begriffen ein.
Die erste Sektion nach der Mittagspause widmete sich unter
der Moderation von Dominik Haffer (Archivschule Marburg)
digitalen Registraturen in Kommunalarchiven. Lösungen für
elektronische Akten und Geschäftsprozesse sollten dabei anhand
von Beispielen aus Städten unterschiedlicher Größenordnung
vorgestellt werden. Ludwig Brake (Stadtarchiv Gießen) berichtete
über aktuelle Schwierigkeiten beim Übergang zur elektronischen
Schriftgutverwaltung. Seiner Beobachtung zufolge zeige die
Entwicklung der letzten Jahre, dass die Bedeutung der Schriftgutverwaltung in der Verwaltung abgenommen habe, was nicht
zuletzt der Aulösung zentraler Organisationseinheiten geschuldet
sei. Dafür könne man nun aber zunehmend auf die IT-Abteilung
als Verbündeten setzen. Dem IT-Spezialist in der Verwaltung sei
mit der Umstellung auf elektronische Akten ebenso an einheitlichen, geordneten Abläufen gelegen wie dem Archivar. Stephanie
Goethals (Stadtarchiv Pfungstadt) schloss sich daran mit ihrem
Erfahrungsbericht aus Pfungstadt an, wo als Pilotprojekt eine
elektronische Dienstregistratur im Stadtarchiv gestartet wurde.
Sie lieferte ein anschauliches Beispiel dafür, wie Archive bei
der Umstellung auf elektronische Aktenführung als Vorreiter
innerhalb der kommunalen Verwaltung auftreten können. Die
Wichtigkeit dieser Rolle betonte auch Walter Bauernfeind (Stadtarchiv Nürnberg). Er berichtete über Anfangsschwierigkeiten und
zog eine Zwischenbilanz nach drei Jahren E-Akte in der Stadt
Nürnberg. Bauernfeind betonte die gemeinsamen strategischen
Interessen von IT und Archiv sowie die Fachkompetenz des
Archivars für die Schriftgutverwaltung. Er stellte aber auch klar,
dass Beratung für die Verwaltung durch das Archiv nur dann
fruchtbringend sei, wenn man auch selbst mit einem Dokumentenmanagementsystem arbeite. Zugleich äußerte er sich skeptisch
gegenüber Sonderlösungen für einzelne Fachverfahren, die nicht
in ein Dokumentenmanagementsystem eingebunden sind.
Die zweite Sektion, die Irmgard Christa Becker (Archivschule
Marburg) leitete, stand unter dem Motto „Zwischen Registratur und Archiv“ und umfasste Anwendungen für Schnittstellen
zwischen Verwaltung und Archiv. Peter Worm (LWL-Archivamt
Münster) präsentierte Ansätze zur Sicherung der elektronischen
Einwohnermelderegister. Dabei liege das Hauptproblem im
Spannungsverhältnis zwischen melderechtlicher Löschvorschrift
und archivrechtlicher Aufbewahrungsplicht. Konkret vorgestellt
wurde dabei die Möglichkeit, löschplichtige Meldedaten in ein
elektronisches Zwischenarchiv zu übernehmen und später mit
dem ursprünglichen Datensatz wieder zusammen zu führen. Ute
Schiedermeier (Siemens AG München) berichtete über die Archivierung digitaler Daten durch das „Siemens Historical Institute“,
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
180
Tagungsberichte
die bereits seit 1993 praktiziert werde. Als problematisch erweise
sich dabei unter anderem das Fehlen zentraler Registraturen innerhalb des Unternehmens. Aber auch hier im Wirtschaftsbetrieb
konnte die kleine und wenig beachtete Abteilung „Archiv“ eine
Vorreiterrolle einnehmen: Die seit 2004 verwendete Archivsoftware ist zum Standard für alle irmeninternen Registraturen
geworden. Einen weiteren grenzüberschreitenden Blick nach dem
Einführungsvortrag ermöglichte anschließend Martin Kaiser
(KOST Bern). Er stellte Schritte zur digitalen Archivierung am
Beispiel der kantonalen Gebäudeversicherung vor. Die dort
enthaltenen Unterlagen liefern die detailliertesten Informationen
zu sämtlichen Gebäuden im Kanton Bern seit Beginn des 19.
Jahrhunderts. Als attraktive Lösungen zur Langzeitarchivierung
der digitalen Daten nannte er das Mieten von Speicherplatz
sowie Blackbox- und File-Sharing-Lösungen, wie sie das Konzept
der am Schweizerischen Bundesarchiv angesiedelten „Koordinierungsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer
Unterlagen“ (KOST) vorsieht.
Die dritte Sektion, die am folgenden Vormittag stattfand, war
nun der digitalen Archivierung im engeren Sinne gewidmet.
Moderiert von Karsten Uhde (Archivschule Marburg) wurden
Modelle für die Archivierung digitaler Aufzeichnungen präsentiert. Den Anfang machten dabei Manfred Peter Heimers und
Armin Grädler (beide Stadtarchiv München), die aus Sicht des
Archivars und des Informatikers einen ausführlichen Werkstattbericht zur Einführung der elektronischen Langzeitarchivierung
der Stadt München lieferten. Angesichts von rund 130 Registraturen innerhalb einer Verwaltung mit 33.000 Mitarbeitern zeigte
sich besonders deutlich der hohe organisatorische Aufwand, der
mit einer systematischen Umstellung auf elektronische Aktenführung verbunden ist. Konkret geht es derzeit um die Projekte
WIM (Wohnen in München) und IDA (Integriertes DV-System
für die Ausländerbehörde München), aus denen bald die ersten
Archivabgaben zu erwarten sind. Heimers visiert dabei eine
erste Bewertung vor der unmittelbaren Datenübernahme an.
Eine Unterbringung sämtlicher Erschließungsdaten innerhalb
des jeweiligen Archival Information Packages (AIP) sei in diesem
Verfahren allerdings nicht möglich.
Eine integrierte Lösung strebt im Gegensatz zu letzterem Christian Keitel (Landesarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart) an.
Er stellte in seinem Vortrag unter dem Titel „Das Rad zweimal
erinden?“ drei Kooperationsangebote des Digitalen Magazins
des Landesarchivs (DIMAG) vor. Während eine Entwicklungspartnerschaft, wie sie bereits mit Kollegen in München und
Wiesbaden praktiziert werde, unter Landesarchiven möglich sei,
richteten sich die Optionen einer Support- oder einer MagazinPartnerschaft vor allem an die in der Tagung vornehmlich angesprochenen kleineren Archive, die sich nicht in der Lage sehen,
ein eigenes digitales Archiv aufzubauen. Die Angebote klangen in
den Ohren des Publikums durchaus vielversprechend, wenngleich
die Leistungen und Aufwendungen des kleineren Partners im
konkreten Fall einer ausführlicheren Erläuterung bedürften.
Abermals einen Blick über den Tellerrand des deutschen Ar-
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
chivwesens hinaus lieferte Heinrich Berg (Wiener Stadt- und
Landesarchiv), dessen heimische Verwaltungstradition keinen
Aktenplan, sondern stattdessen ein Numerus-Currens-System
kennt. Wenngleich der elektronische Akt (ELAK) bereits 1998 in
Österreich eingeführt wurde, beindet sich das digitale Archiv, das
beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist, noch in seiner Implementierungsphase – digitale Akten wurden seitens des Stadt- und
Landesarchivs bislang noch nicht übernommen.
Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion zum
Thema „Vom Baustein zum Fertighaus – Wie sieht die digitale Archivierung der Zukunft aus?“. Dabei wurden unter reger
Beteiligung des Publikums vielfältige und spannende Fragen
aufgeworfen – eine allseits befriedigende Antwort auf die Leitfrage durfte man freilich nicht erwarten. Steffen Schwalm (BearingPoint Berlin) stellte ausführlich zum Teil bewusst provokante
Thesen in den Raum, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Langzeitspeicherung elektronischer Daten
in der Verwaltung und elektronische Archivierung im Archiv
seien im Grunde genommen dasselbe bzw. – in Anknüpfung an
North – zwei Seiten derselben Medaille. Die Diskutanten auf dem
Podium gingen auf vielfältige Aspekte des Themas ein: Walter
Bauernfeind erläuterte unter anderem die Kategorie digitalen
Sammlungsguts und die damit verbundenen Schwierigkeiten der
Deinition. Irmgard Christa Becker betonte, dass Records Management und die Archivierung elektronischer Unterlagen in der
Ausbildung von Archivaren zukünftig einen höheren Stellenwert
einnehmen müssten und einnehmen werden. Christian Keitel
äußerte die Ansicht, dass für jedes Archiv erst mit dem Nachweis von archivreifen und archivwürdigen digitalen Unterlagen
gegenüber den Archivträgern stichhaltig begründet werden könne,
weshalb man in die digitale Archivierung einsteigen müsse.
Zudem legte er Wert auf die Feststellung, dass die Perspektive
der künftigen Benutzung stets im Mittelpunkt der Überlegungen
stehen müsse.
Ziel des Kolloquiums war es vornehmlich, konkrete Lösungsansätze vorzustellen. Dies wurde durchaus umgesetzt. Dennoch
standen am Ende so manchem Teilnehmer mehr Fragezeichen ins
Gesicht geschrieben als am Anfang. Das Thema digitaler Archivierung erweist sich mehr denn je als komplex – nicht nur, aber
ganz besonders für kleinere und mittlere Archive. Clemens Rehm
(Landesarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart) warf aus dem
Publikum heraus die Frage in die Raum, in welcher Form und
an welcher zentralen Stelle ein künftiger Austausch zur digitalen
Archivierung – etwa nach dem Muster der Koordinierungsstelle
Retrokonversion an der Archivschule Marburg oder der KOST in
Bern – institutionalisiert werden könne. Eine konkrete Lösung
hierfür konnte das Kolloquium nicht bieten. Dennoch hat es zur
weiteren fachinternen Sensibilisierung für das Thema beigetragen
und die nächsten Schritte nach vorn auf einem mitunter noch
beschwerlichen Weg gewiesen.
Markus Seemann, Marburg
181
ZWISCHEN LITERATURBETRIEB
UND FORSCHUNG
REGIONALE LITERATURARCHIVE HEUTE
Fachtagung „Zwischen Literaturbetrieb und Forschung.
Regionale Literaturarchive
heute“ aus Anlass des 10-jährigen Bestehens des Westfälischen Literaturarchivs (WLA)
am 1. und 2. Dezember 2011
im LWL-Archivamt für Westfalen in Münster
Die Fachtagung aus Anlass des 10-jährigen Bestehens des
Westfälischen Literaturarchivs (WLA) am 1. und 2. Dezember
2011 im LWL-Archivamt für Westfalen in Münster hatte das Ziel,
Selbstverständnis, Aufgaben und Nutzen regionaler Literaturarchive zu relektieren.1 Um zukunftsweisende Fachkonzepte
erarbeiten zu können, müssen die Archive nicht nur untereinander im intensiven Austausch stehen, sondern auch mit den
Literaturschaffenden und den Nutzern, im anspruchsvollsten Fall
der Literatur- bzw. Editionswissenschaft. Das Gespräch zwischen
diesen Gruppen herzustellen und die Diskussion im Hinblick auf
die Erwartungen an die Arbeit regionaler Literaturarchive voran
zu bringen, waren Hauptanliegen der Tagung.
Eröffnet wurde sie von der LWL-Kulturdezernentin, Barbara
Rüschoff-Thale, die an den Gründungsakt 2001 mit der symbolischen Übergabe des Nachlasses von Ernst Meister erinnerte2 und
den Standort des WLA im Kontext der Bemühungen des Landschaftsverbandes um die Kultur und für die Menschen in Westfalen umriss. Der LWL verfolgt konsequent das Ziel, das „Literaturland Westfalen“ weiter zu stärken3; sichtbar wurde dies zuletzt in
der Beteiligung an einer öffentlich-rechtlichen Stiftung für Burg
Hülshoff, dem Geburtsort Annette von Droste-Hülshoffs; neben
dem Ausbau eines Droste-Museums und -Forschungszentrums
könnte dort perspektivisch ein überregionales Literaturzentrum
entstehen.
An zwei herausragenden literarischen Repräsentanten, der Droste
und Ernst Meister, thematisierte Rüschoff-Thale den Begriff des
„Westfälischen“, lange Zeit Wertmaßstab für die regionale Literaturproduktion und -rezeption. Sie zitierte Ernst Meister aus seiner
1
2
3
Informationen zum Westfälischen Literaturarchiv unter www.lwl.org/
LWL/kultur/Archivamt/literaturarchiv, www.lwl.org/LWL/kultur/liko/
literaturarchiv und www.archive.nrw.de/weitereArchive/kulturarchiveNRW/WestfaelischesLiteraturarchiv; die Tagung wurde organisiert in
Zusammenarbeit der LWL-Literaturkommission und des LWL-Archivamts, das Programm kann abgerufen werden unter www.lwl.org/LWL/
kultur/liko/tagungen.
Vgl.: Archivplege in Westfalen-Lippe, H. 56, April 2002, S. 2-25.
Vgl. das Projekt „Kultur in Westfalen“ mit der AG Literatur als einem fachlichen Knotenpunkt: www.lwl.org/LWL/kultur/kultur-in-westfalen.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
182
Tagungsberichte
Ansprache auf dem Westfalentag 1957, wo ihm der Annette-vonDroste-Preis verliehen worden war. Meister bekennt sich darin
durchaus zu seiner Herkunft aus Hagen-Haspe, entwickelt aber
– werkbezogen – ein komplexeres Verständnis von Regionalität:
Erst im Wechselverhältnis mit seinen Lesern, den Freunden seiner
Gedichte entsteht der Kontext, in dem seine Literatur beheimatet
ist.4
Als Leiter des LWL-Archivamtes führte Marcus Stumpf in das
Tagungsthema ein und formulierte zentrale Fragen für eine
Standortbestimmung regionaler Literaturarchive: Wer forscht in
Literaturarchiven? Wer sind die Zielgruppen von Literaturarchiven? Welche Erschließungsmaßstäbe gelten für Literaturarchive
und inwieweit nehmen diese Bezug auf Literaturproduzenten
und Archivnutzer?
Zu vergegenwärtigen ist dabei auch die Sonderstellung von
Literaturarchiven und das besondere Aufgabenspektrum des
Literaturarchivars: Sein Berufsbild ist nicht bestimmt von
Vorgaben und rechtlichen Bindungen, die die Arbeitsabläufe in
Behörden- und Körperschaftsarchiven prägen. Bei persönlichen
Vor- und Nachlässen ist archimedischer Punkt seiner Tätigkeit
die Individualität des Autors, dessen Werk- und Lebensspuren
aufzubewahren und für die Forschung zu erschließen sind; neben
facharchivarischen Gesichtspunkten, etwa der Respektierung des
Provenienzprinzips, gelten für seine Arbeit immer auch bibliothekarische und forschungsbezogene Maßstäbe.5
Die Tagung wird in Beiträgen von Literaturwissenschaftlern, von
Autoren, aus archivwissenschaftlicher Perspektive und aus je
regional unterschiedlicher Proilierung und Positionierung von
Literaturarchiven eine zukunftsorientierte Standortbestimmung
unternehmen.
„Braucht die Literaturwissenschaft regionale Literaturarchive?“
fragte Hartmut Steinecke, Emeritus der Universität Paderborn
und Vorstandsmitglied der LWL-Literaturkommission für Westfalen. Dabei rekurrierte er zunächst auf persönliche Erfahrungen aus dem von ihm auch für eine Werkedition6 gegründeten
Jenny-Aloni-Archiv an der Universität Paderborn. Für die meisten
Literaturwissenschaftler spiele die Nutzung von regionalen
Literaturarchiven jedoch eine eher geringe Rolle, aus methodengeschichtlichen Gründen und auch wegen des lange Zeit
geringgeschätzten Forschungspotentials von Regionalliteratur.7
Die eigene Hinwendung zur Literatur in der Region beschrieb
Steinecke an drei Projekten, die er in den 1980er Jahren an der
Universität Paderborn begründet bzw. von ihr aus initiiert hatte:
1. eine Schriftsteller-Gastdozentur, die als ständige Einrichtung
das literarische Leben in der Region bereichert; 2. das „Projekt
Corvey“, durch das die Fürstliche Bibliothek Corvey mit einem
bedeutenden Bestand deutscher und englischer Romane aus dem
ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erschlossen wurde; 3. die Begegnung mit dem Werk und der Schriftstellerpersönlichkeit Jenny
Alonis, aus der sowohl eine Werkausgabe als auch die Übernahme ihres Nachlasses erwuchsen.
Aus dem Impuls, sich über das Aloni-Projekt hinaus auch mit
anderen jüdischen Schriftstellern aus Westfalen zu befassen,
entstand Ende der 90er Jahre das Forschungsvorhaben „Jüdische
Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Westfalen“. Von Anfang
an hat die Literaturkommission das Projekt und den Aufbau
einer Datenbank gefördert (www.juedischeliteraturwestfalen.de),
in der über 400 Autoren nachgewiesen sind.
Einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Literaturwissenschaftlern und Literaturarchiven standen lange auch strukturelle
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Mängel in der regionalen Nachlassplege entgegen. Hauptprobleme der Literaturarchive waren die Zufälligkeit ihres Entstehens
und ihrer Sammelgebiete; mangels personeller und inanzieller
Möglichkeiten reagierten sie häuig nur und warben zu wenig
um Autoren und deren Überlieferungen. Diese Deizite veranlassten die Literaturkommission, sich aktiv an einer Verbesserung
der Nachlasssituation in Westfalen zu beteiligen und mit der
Kooperationsbereitschaft für ein Westfälisches Literaturarchiv im
LWL-Archivamt für Westfalen auch institutionell zu verankern.
Erst auf dieser Basis kann nachhaltig ein Austausch zwischen
Archiv und Wissenschaft bewirkt werden, unabhängig von Gremien wechselnder Zusammensetzung und deren unterschiedlich
ausgeprägtem Forschungsinteresse an Regionalliteratur.
In einer ersten Tagungssektion „Proile, Bestände, Netzwerke“
sprach Eva Maaser, Landesvorsitzende des Verbandes deutscher
Schriftsteller NRW, über die Erwartungen von Autorinnen und
Autoren an regionale Literaturarchive. Sie wertete dazu einen
Erhebungsbogen aus, in dem sie Verbandsmitglieder befragte zu deren Umgang mit der eigenen Überlieferung und der
Zusammenarbeit mit Archiven. Bemerkenswert war, dass keiner
der Befragten auf die Aufbewahrung von Werkunterlagen ganz
verzichtete; besondere Anforderungen für das Archiv erwachsen
jedoch aus zunehmend digitalen Unterlagen und entsprechend
hybriden Überlieferungen. Der Kontakt mit einem regionalen
Literaturarchiv wurde nur von wenigen gesucht oder gar geplegt;
hier ist das Archiv in der Plicht, aktiver auf Autorinnen und
Autoren zuzugehen und sie für Fragen ihres Nachlasses zu sensibilisieren.8
Jochen Grywatsch, wissenschaftlicher Referent der LWL-Literaturkommission und zuständig für das WLA, fragte nach Möglichkeiten der Systematisierung der Überlieferungsbildung: „Die
Balance von Strategie und Zufall. Überlegungen zum Dokumentationsproil des Westfälischen Literaturarchivs“. Da Autoren oder
ihre Erben über die eigenen Überlieferungen frei disponieren
können, ist der Zufallsfaktor bei der Erwerbung von literarischen
Beständen hoch. Neben dem Provenienzprinzip bilden Dokumentationsproile gerade auch in einem Überlieferungsbereich
ohne rechtlich geregelte Zuständigkeiten eine wichtige zweite Säule. In der archivischen Fachdiskussion waren Begriff und Ansatz –
Festlegung von inhaltlichen Zielen für die Überlieferungsbildung
– nicht unumstritten. Die aktuelle Diskussion zum Dokumentationsproil wird vor allem geführt von den Kommunalarchiven,
deren Bundeskonferenz 2008 eine Arbeitshilfe verabschiedet hat.9
Erarbeitet wurde ein ganzheitliches Konzept zur Überlieferungsbildung und ein archivisches Steuerungsinstrument, mit dessen
Hilfe die lokale Lebenswelt dokumentiert werden kann. Eine 2011
vom Rheinischen Literaturarchiv (RLA) veranstaltete Kooperationstagung mit dem WLA diskutierte solche Dokumentationsdispositive auch für kulturelle Überlieferungen.10
Das Sammlungsproil des WLA ist schon dadurch qualiiziert,
dass es vor allem auf die Gegenwartsliteratur gerichtet ist. Für
eine weitere Schärfung dieses Proils entwickelte Grywatsch ein
Schema zur „Kategorisierung des literarischen Lebens in der
Region“, das die Fragestellungen aktueller Regionalliteraturforschung berücksichtigt und die drei großen Bereiche Produktion,
Distribution, Rezeption untergliedert und systematisiert. Entsprechend diesem Raster sind konkrete Ziele der Dokumentation zu
benennen, Grade der Dokumentationswürdigkeit festzulegen,
Bestände einzuwerben, wobei in Absprache mit Archivkollegen
auch eine Überlieferungsbildung im Verbund stattinden kann.
183
Michael Peter Hehl, Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg
Der Nutzen aus einer systematisierten Überlieferungsbildung ist
vielfältig: die Übernahme erfolgt stringenter und mit nachvollziehbaren – nach außen darstellbaren – Kriterien, was sowohl
den Kontakt mit den Autoren als auch den Austausch mit den
Wissenschaftlern erleichtert.
Sabine Brenner-Wilczek, Leiterin des Heinrich-Heine-Instituts in
Düsseldorf, stellte ein Vortragsmanuskript zur Verfügung: „Mit
schönen Buchstaben auf Papier? Herausforderungen und Chancen der ‚modernen‘ Bestandsbildung“. Sie wies zunächst hin
auf die Entstehung des Heinrich-Heine-Instituts aus einer über
200-jährigen Bibliothekstradition in Düsseldorf, mit etwa 65 Prozent des weltweit bekannten Heine-Bestandes und einer neueren
Handschriftenabteilung, dem Rheinischen Literaturarchiv.
Dieses befragte 2005 Autorinnen und Autoren aus dem gesamten
Bundesgebiet zu ihrer Arbeitsweise sowie zu ihren Erfahrungen
mit Archiven. Ein wichtiges Ergebnis war, dass neben herkömmlichen Manuskripten die Möglichkeiten der elektronischen
Speichermedien intensiv genutzt werden.11 Beispielhaft für eine
zunehmend hybride Überlieferung ist der Nachlass des Lyrikers
und Performancekünstlers Thomas Kling, in dem umfangreiche
Werkmaterialien und Korrespondenzen auf Festplatten, Disketten und CD-ROM zu erfassen und zu sichern waren.12 Neben
dem einzelnen Autor und seinem Werk werden zunehmend die
lokalen und regionalen literarischen Netzwerke wichtig: In zwei
Projekten des Heine-Instituts wurde eine Rekonstruktion bzw.
eine Erfassung des literarischen Lebens und seiner Infrastruktur
unternommen und online zur Verfügung gestellt: 1. in einer Datenbank zur rheinischen Literatur- und Kulturgeschichte, zugänglich über das gemeinsame Portal der Düsseldorfer Kulturinstitute
„d:kult online“; 2. einem Nachweis von literarischen Beständen
in rheinischen Kommunal- und Privatarchiven (www.rheinischeliteraturnachlaesse.de).
Um die Überlieferungsbildung zu systematisieren, sind auch
für Kulturarchive Dokumentationsproile zu erstellen. Für das
RLA schlug Enno Stahl die Entwicklung eines Schemas von
unterschiedlichen Dokumentationsgraden für den Produktions-,
Distributions- und Rezeptionsbereich von Literatur vor.13 Eine
katasterhafte Vorab-Erfassung relevanter Archivbestände und Registraturbildner ist daraus ableitbar, u. a. mit der Konsequenz, das
Sammlungsinteresse verstärkt auf Autorengruppen, literarischkulturelle Gesellschaften, Literatur- und Kulturzeitschriften, Verlagsarchive zu richten. Dringend geboten ist dabei der Verbund
mit anderen Archiven, Bibliotheken und Dokumentationsstellen.
4
5
6
7
8
9
10
11
Abdruck in: Westfalenspiegel, Jg. 6, 1957, H. 10, S. 22.
Vgl. dazu Bernhard Fischer: Der Literaturarchivar, in: Beruf und Berufsbild
des Archivars im Wandel. Im Auftrag des LWL hrsg. v. Marcus Stumpf. Münster 2008 (Westfälische Quellen und Archivpublikationen; Bd. 25), S. 207212.
Jenny Aloni. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. v. Friedrich
Kienecker/Hartmut Steinecke. Paderborn [u. a.] 1990-1997.
Zur Regionalliteraturforschung und deren Neupositionierung vgl.: Martina
Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Region – Literatur – Kultur. Regionalliteraturforschung heute. Bielefeld 2001 (Veröffentlichungen der LWL-Literaturkommission für Westfalen; Bd. 2).
Das Rheinische Literaturarchiv bietet in Zusammenarbeit mit Archivkollegen seit 2006 Fortbildungs- und Informationsveranstaltungen an: „Wohin
mit dem ganzen Papier?“
Abgedruckt in: Archivar, Jg. 62, H. 2, 2009, S. 122-131.
„Dokumentationsproil kultureller Überlieferungen“, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf, 30.6./1.7.2011; vgl. den Tagungsbericht in: Archivar 64 (2011),
H. 4, S. 442-444.
Die Ergebnisse der Befragung sind veröffentlicht in: www.literatur-archivnrw.de/magazin.
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184
Tagungsberichte
Bei einem regional zentrierten Vorgehen können RLA und WLA
als Service-Instanzen zwischen der lokalen und der nationalen
Ebene vermitteln.
Michael Peter Hehl, wissenschaftlicher Leiter des Literaturarchivs
Sulzbach-Rosenberg, sprach unter dem Motto „Möglichkeiten
der Region“ zu Konzeption, Proil und Positionierung des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg / Literaturhaus Oberpfalz. Die
Archivgründung geht zurück auf Walter Höllerer, der 1977 die
Herausgeber-Korrespondenz der Zeitschrift „Akzente“ seiner
Heimatstadt Sulzbach schenkte und diese Schenkung an die Einrichtung eines eigenen Archivs knüpfte. Von Anfang an bestand
eine institutionelle Kooperation mit der Universität Regensburg;
ebenso war das Archiv aber auch vor Ort als kultureller Veranstaltungsort geplant, denn sein Gründer Walter Höllerer bewertete regionale Strukturen sehr hoch. Die Provinz sei eine Möglichkeit und durch die Hinwendung zur Region – mit der modernen
Literatur als Gegendiskurs – könne der Provinzbegriff stärker
gemacht werden.
Die regionalen Bestände im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg
– Mundartdichtung aus Nordostbayern, der Oberpfalz und dem
angrenzenden Tschechien (Egerland) – stehen in einem fruchtbaren Spannungsfeld zu Provenienzen und Sammlungsstücken
mit Anspruch auf überregionale Bedeutung, also vor allem zum
Nachlass Walter Höllerer und zu Materialien der „Gruppe 47“,
der Höllerer als Autor zugehörte.
Das Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg wird überregional
wahrgenommen und ist entsprechend vernetzt: es ist Mitglied in
der „ALG“ (Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und
Gedenkstätten), im „AsKI“ (Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute), bei „KOOP-LITERA“, einem Kompetenz-Netzwerk
für Nachlässe und Autographen. Den lokalen und regionalen
Verlechtungen entspricht eine institutionelle Förderung auf
kommunaler, Bezirks- und Landesebene. Durch die Kooperation
mit der Universität Regensburg können zudem weitere projektbezogene Mittel eingeworben werden.
Eine zweite Tagungssektion „Präsentation, Vermittlung, Nutzung“
eröffnete Stephanie Jordans (RWTH Aachen) mit ihrem Beitrag:
„Der Nachlass Ernst Meisters und das Konzept der textkritischen
und kommentierten Ausgabe seines lyrischen Werkes“. Im Jahr
2000 wurde eine Arbeitsstelle eingerichtet, um den Nachlass
Ernst Meisters zu erschließen und eine kritische Studienausgabe zum lyrischen Werk vorzubereiten. Die Ordnungs- und
Erschließungsarbeiten orientierten sich an dem „Memorandum
für die Ordnung und Katalogisierung von Nachlässen und
Autographen“ des Deutschen Literaturarchivs Marbach, das eine
Klassiikation nach Werkmanuskripten, Korrespondenzen und
dokumentarischen Materialien vorsieht und in der Regel eine
Einzelblatterschließung und Siglierung empiehlt. Parallel zu den
Erschließungsarbeiten richtete die Arbeitsstelle eine Homepage
ein (http://ema.germlit.rwth-aachen.de), deren nicht öffentlicher
Teil sukzessiv um die Module und Datenbanken erweitert wurde,
die aus der Erschließung resultierten: Digitalisate von Werkmanuskripten, Briefdatei, biographische Daten, Bestandverzeichnis
Bibliothek und Findbuch Lyrik. Für die Edition wurde in Abstimmung mit Reinhard Meister, dem Inhaber der Rechte am Werk
seines Vaters, und dem Wallstein Verlag, Göttingen, das Konzept
einer Studienausgabe entwickelt, die die Textprozesse nicht
vollständig darstellt, jedoch einen kritisch revidierten Text enthält
auf der Basis der Erstdrucke sowie einen textkritischen Apparat
mit ausgewählten Zeugnissen der Textgenese. Die Ausgabe wird
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
ergänzt durch den elektronischen Teil auf der Homepage der
Ernst Meister-Arbeitsstelle, der nach Abschluss der Edition über
ein Passwort abrufbar ist; sie nähert sich damit den Ansprüchen
einer historisch-kritischen Werkausgabe an. Das 2001/2002 begründete Editionsteam wurde von der Aachener Arbeitsstelle aus
geleitet und hatte Partner in Frankreich und den Niederlanden.
Institutionelle Förderer waren v. a. die NRW-Stiftung, Düsseldorf;
der LWL, Münster; der Deutsche Literaturfonds, Darmstadt und
die RWTH Aachen. Zum 100. Geburtstag Ernst Meisters am 3.
September 2011 wurde die Ausgabe vorgelegt.14 Die Herausgabe
der nachgelassenen und im Selbstverlag gedruckten Gedichte
sowie der Arbeiten in anderen literarischen Gattungen – Hörspiele, Theaterstücke, erzählende Prosa, Essay – ist in einer zweiten
Abteilung vorgesehen. Im Kontext der Werkausgabe entstanden
ein Materialienbuch und eine Chronik Ernst Meister, beide aus
dem Nachlass erarbeitet.15
Sikander Singh, Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass
(einer Einrichtung der Universität des Saarlandes) wollte die wissenschaftlichen (Nutzer-) Interessen an seinen Archivbeständen
darstellen, musste jedoch kurzfristig absagen. Steffen Stadthaus,
wissenschaftlicher Volontär der LWL-Literaturkommission,
übernahm stattdessen dankenswerterweise einen Beitrag „Am
Beispiel Gustav Sack – Literaturvermittlung vor Ort“, in dem er
ein Ausstellungs- und Editionsprojekt der Literaturkommission
anlässlich des 125. Geburtstages des expressionistischen Dichters vorstellte.16 Sowohl für die Ausstellung als auch für die erste
vollständige und textkritisch überarbeitete Werkausgabe war der
Nachlass Gustav Sacks im Deutschen Literaturarchiv Marbach
ausgewertet worden. Im Rahmen von „Ruhr 2010“ wurde die
Ausstellung auch in Sacks Geburtsort Schermbeck gezeigt, wo die
biographischen Bezüge zum Autor weitgehend vergessen oder mit
tradierten Vorurteilen belegt waren.
Walter Gödden, Geschäftsführer der LWL-Literaturkommission
für Westfalen, stellte das Proil der 1998 begründeten Literaturkommission als einer wissenschaftlichen Institution zwischen
Grundlagenforschung und populärer Vermittlung vor. Die
Kommission führte als wichtigstes Projekt zunächst das „Westfälische Autorenlexikon“ fort; das 2002 abgeschlossene Lexikon
mit biobibliographischen Artikeln zu über 2.000 Autoren der
Jahrgänge 1750 bis 195017 ist auch als Datenbank verfügbar (www.
autorenlexikon-westfalen.lwl.org) und wird seitdem ständig
aktualisiert und um jüngere Autoren erweitert.
Die LWL-Literaturkommission, die sich in Abstimmung mit
Vorstand und Mitgliederversammlung ihr Arbeitsprogramm
selbst gibt, ist Teil und wichtiger Impulsgeber eines gut funktionierenden Netzwerkes westfälischer Literatur und Kultur: So
entstand in Zusammenarbeit mit der Universität Paderborn die
Datenbank „Jüdische Schriftsteller in Westfalen“. Kooperation
indet auch statt mit literarischen Gesellschaften in Westfalen, für
die die Literaturkommission eine Arbeitsgemeinschaft koordiniert. Zusammen mit der Peter-Hille-Gesellschaft betrieb sie eine
Forschungsstelle an der Universität Paderborn, deren Archiv sie
nach Abschluss der Projektziele übernahm.18
Neben ihrer Schriftenreihe und dem Periodikum „Literatur in
Westfalen. Beiträge zur Forschung“ setzt die Literaturkommission konsequent auch auf neue Medienformate: Eine CD-Reihe
enthält „Tonzeugnisse zur westfälischen Literatur“; ein Portal
„Bibliothek Westfalica“ (www.bibliothek-westfalica.lwl.org) bietet
Online-Lesebücher zu inzwischen 27 Autorinnen und Autoren.
Ein wichtiger Arbeitsbereich der Literaturkommission ist die
185
Droste-Forschung; die ehemalige Arbeitsstelle der Historischkritischen Ausgabe der Werke und Briefe der Annette von DrosteHülshoff mit einer Spezialbibliothek und einem Handschriftenarchiv (Kopien bzw. Fotograien/Verilmungen) hat die Kommission
1999 übernommen und damit die Droste-Forschung dauerhaft
institutionell verankert.
Seit 2001 hat sich die Wirksamkeit der Literaturkommission
sowohl für die literarische Nachlassplege (Gründung des WLA)
als auch die Präsentation und Vermittlung von Zeugnissen regionaler Literatur bedeutend erweitert: Das von der Kommission
konzipierte und wissenschaftlich betreute „Museum für westfälische Literatur“ hat sich zu einem Publikumsmagneten entwickelt
und setzt Maßstäbe hinsichtlich einer modernen, multimedialen Aufbereitung. Neben der ständigen Ausstellung werden in
Sonderausstellungen aktuelle Forschungs- und Editionsprojekte
visualisiert.19 Eine Erweiterung des Aufgabenspektrums der Literaturkommission wird mit der Gründung einer Stiftung für Burg
Hülshoff verbunden sein und die Entwicklung von Museumsund Ausstellungskonzepten umfassen.
Ute Pott, Direktorin des Gleimhauses Halberstadt, stellte das vielfältige Spektrum der Bildungsarbeit in einem der ältesten deutschen Literaturmuseen vor. Das Wohnhaus des Dichters Johann
Ludwig Gleim wurde bereits 1861/62 von einer Familienstiftung
für die Einrichtung einer Gedenkstätte erworben. Hier lebte und
arbeitete Gleim als Domsekretär des früheren Bistums Halberstadt und legte eine bedeutende Sammlung von Korrespondenzen
und Autographen an, eine historische Bibliothek, eine Graphiksammlung sowie eine von ihm selbst beauftragte Porträtgalerie
seiner Freunde und Förderer.
Das Gleimhaus wird heute getragen von einem Förderkreis,
inanziell unterstützt vom Land Sachsen-Anhalt und der Stadt
Halberstadt. Als eine von insgesamt zwanzig Institutionen in den
neuen Bundesländern wurde es in ein „Blaubuch“ der Bundesregierung als „kultureller Gedächtnisort mit besonderer nationaler
Bedeutung“ aufgenommen.20
Für das Bundesland Sachsen-Anhalt leitet das Gleimhaus auch
ein Netzwerk zur Literatur des 18. Jahrhunderts und koordiniert
die literarische Nachlassplege.
In dem weitgehend original erhaltenen Wohnhaus Gleims mit
seinen wertvollen Sammlungen hat die Bildungs- und Vermittlungsarbeit hohe Priorität. Die Bildungsarbeit ist zum einen eng
verknüpft mit Forschung zur Literatur- und Kulturgeschichte des
18. Jahrhunderts, wissenschaftliche Tagungen werden veranstaltet, Workshops für Nachwuchswissenschaftler angeboten,
eine Landesinitiative „Sachsen-Anhalt und das 18. Jahrhundert“
wird wissenschaftlich betreut. Zum anderen indet vor Ort eine
intensive Zusammenarbeit mit den Schulen statt, es gibt Praxisseminare für Schüler (und Studenten), die mit den originalen
Handschriften arbeiten; orientiert am Handschriftenbestand des
Gleimhauses wird auch mit Erfolg versucht, auf die schulischen
Curricula Einluss zu nehmen.
Dem Gleimhaus scheint in seinem großen Arbeitsspektrum –
Museum, Archiv, Bibliothek, Forschungszentrum21 – die Vermittlung der verschiedensten Interessen und wissenschaftlich-fachlichen Ansprüche gelungen zu sein.
„Schreibraum 2.0 – Neue Anforderungen für Literaturarchive?“
war das Thema des Abschlussgesprächs, das Bernd Kortländer,
Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf, und Vorstandsmitglied der
Literaturkommission, mit zwei jüngeren Autoren aus NRW, Oliver
Uschmann und Christoph Wenzel, führte. Ausgangspunkt war die
Erfahrung, dass das Internet als Publikationsplattform und die
„Social Networks“ als Kommunikationsräume von immer mehr
Menschen genutzt, auch von Schriftstellern adaptiert werden;
diese Entwicklungen könnten die Arbeit von Literaturarchiven
künftig grundlegend verändern.
Aus den Erfahrungen mit der Nachlasserschließung des Lyrikers
Thomas Kling berichtete Kortländer zunächst von den Möglichkeiten, auch weitgehend nur elektronisch gespeicherte Textprozesse zu erschließen und zu sichern. Ähnlich wie bei Kling entsteht
auch bei Uschmann und Wenzel eine hybride Werküberlieferung,
wobei der Anteil von handschriftlichen Textfassungen bei beiden
(erstaunlich) hoch ist; vor allem bei Christoph Wenzel, der lyrische Texte schreibt und eine Literaturzeitschrift herausgibt.22 Das
literarische „Handwerkszeug“ ist beiden Autoren sehr wichtig
und wird für sie nicht ersetzt durch den interaktiven Schreibraum
des Web 2.0; Oliver Uschmann gibt seine Schreiberfahrungen
auch in Universitätsseminaren weiter. Befragt nach ihrer Afinität zu Literaturarchiven, bekennen beide, dass ihnen zunächst
die Textproduktion und deren Vermittlung an ein Publikum
wichtiger ist; Archive sollten aber stärker auf Autoren zugehen,
sie beratend begleiten, um auch elektronische Schreibprozesse zu
sichern und zu dokumentieren. Bernd Kortländer gab mit dem
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
Vgl. Alena Scharfschwert: „Dichter sind mitunter Sondergänger“. Lesespuren bei Thomas Kling, in: Sichtungen. Archiv, Bibliothek, Literaturwissenschaft. Internationales Jahrbuch des Österreichischen Literaturarchivs. Jg.
12/13, Wien 2011, S. 426-429; sowie: Thomas Kling und seine Bücher. Lesespur und Spurenleser, in: Heine-Jahrbuch, Jg. 50, 2011, S. 208-213.
Vgl. seinen Beitrag „Übernahme literarischer Bestände. Prolegomena zu einer Systematisierung“ (Tagung „Dokumentationsproile kultureller Überlieferungen“, 2011), veröffentlicht in: www.literatur-archiv-nrw.de/sonderausstellung sowie in: Archivar 65 (2012), H. 1, S. 48-53.
Ernst Meister: Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. Hrsg. v.
Axel Gellhaus/Stephanie Jordans/Andreas Lohr. Bde. 1-5. Göttingen 2011.
Ernst Meister – Perspektiven auf Werk, Nachlaß und Textgenese. Ein Materialienbuch. Hrsg. v. Karin Herrmann/Stephanie Jordans. Göttingen 2009;
Ernst Meister. Eine Chronik. Aus dem Nachlaß erarbeitet von Karin Herrmann/Stephanie Jordans unter Mitarbeit von Dominik Loogen. Göttingen
2011.
Gustav Sack – Ein verbummelter Student. Enfant terrible und Mythos
der Moderne. Hrsg. v. Walter Gödden/Steffen Stadthaus [Begleitband zu
einer Ausstellung im Museum für Westfälische Literatur Haus Nottbeck,
27.8.2010-9.1.2011]. Bielefeld 2010 (Veröffentlichungen der LWL-Literaturkommission für Westfalen; Bd. 45); Gustav Sack. Gesammelte Werke. Hrsg.
v. Walter Gödden/Steffen Stadthaus. Bielefeld 2011 (Veröffentlichungen der
LWL-Literaturkommission; Bd. 47 = Reihe Texte Bd. 20).
Westfälisches Autorenlexikon. Im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe hrsg. und bearb. v. Walter Gödden/Iris Nölle-Hornkamp. 4 Bde.
Paderborn 1993-2002.
Vor allem einer Neuausgabe der Werke und kommentierten Briefausgabe:
Peter Hille (1854-1904) - Werke zu Lebzeiten nach den Erstdrucken und
in chronologischer Folge. Hrsg. v. Walter Gödden unter Mitarbeit v. Wiebke Kannengießer/Christina Riesenweber. T. 1 (1876-1889). T. 2 (1890-1904).
Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der LWL-Literaturkommission für
Westfalen, Reihe Texte; Bd. 5); Peter Hille – Sämtliche Briefe. Kommentierte
Ausgabe. Hrsg. und bearb. v. Walter Gödden/Nils Rottschäfer. Bielefeld 2010
(Veröffentlichungen der LWL-Literaturkommission für Westfalen, Reihe
Texte; Bd. 18).
2012 ist das Museum für seine innovativen Literaturvermittlungskonzepte
von der ALG (Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Literaturmuseen Deutschlands) mit dem Hartmut-Vogel-Preis ausgezeichnet
worden.
Paul Raabe: Kulturelle Leuchttürme. Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen [ein Blaubuch nationaler Kultureinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland]. 1. Aul. Leipzig 2002.
In einem modernen Erweiterungsbau hat das Gleimhaus auch eine Restaurierungswerkstatt und berät landesweit bei Papierkonservierung und Restaurierung.
[SIC] – Zeitschrift für Literatur. Hrsg. v. Christoph Wenzel/Daniel Ketteler.
Aachen, 2005 ff.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
186
Tagungsberichte
Hinweis auf den schon gut eingeführten Autorenworkshop „Wohin mit dem ganzen Papier?“23 sowohl Gesprächsrunde als auch
Auditorium die Zuversicht, dass die Literaturarchive sich diesen
Herausforderungen stellen.
Die Tagung förderte mit Erfolg den Austausch zwischen Literaturschaffenden, Literaturarchivaren und Bibliothekaren, Literatur- und Editionswissenschaftlern: in den Diskussionen zu den
Vorträgen und Präsentationen sowie im Podiumsgespräch schärfte sich das Anforderungsproil für ein regionales Literaturarchiv,
das auch auf veränderte Schreibprozesse und Nutzererwartungen
reagieren und diesen gerecht werden kann.
Begleitend zum Tagungsprogramm gab es eine Lesung mit Oliver
Uschmann und Christoph Wenzel im Cuba Nova in Münster, wo
als ein eingespieltes „Format“ regelmäßig Poetry Slams stattinden.
Eleonore Sent, Dinslaken
23
Vgl. Anm. 8.
16. TAGUNG DES ARBEITSKREISES
„ARCHIVIERUNG VON
UNTERLAGEN AUS DIGITALEN
SYSTEMEN“ IN LUDWIGSBURG
Zur 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 13. und 14. März 2012 kamen
rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Ludwigsburg.
Vertreter von Archiven, Beratungsstellen und Firmen aus dem
deutschsprachigen Raum diskutierten über aktuelle Projekte und
Erfahrungen. Die 20 Kurzvorträge in fünf Sektionen befassten
sich mit Kosten, Übernahme, Systemen und Tools, Objektarten
sowie Grundsätzen und Perspektiven der Archivierung digitaler
Unterlagen. Ein Vortrag aus Österreich musste kurzfristig abgesagt werden, wird aber, so die Auskunft der Veranstalter, in die
geplante Publikation aufgenommen.
Eingerahmt wurde die Veranstaltung von einem Grußwort des
Präsidenten des einladenden Landesarchivs, des Landesarchivs
Baden-Württemberg, Robert Kretzschmar, und einer Diskussion
über die Notwendigkeit einer deutschen KOST (Koordinationsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen)
nach Schweizer Vorbild. Wie gewohnt lag der Fokus zum einen
auf Erfahrungsberichten, zum anderen auf offenen Fragen,
Fehleranalysen und Herausforderungen. Damit behielt die Veranstaltung ihre Funktion als Austauschplattform von aktuellen
Entwicklungen und Erfahrungen bei.
Programme und Präsentationen sind, wie für viele der vorigen
Tagungen, über die Webseite des Staatsarchivs des Kanton St.
Gallen (www.staatsarchiv.sg.ch/home/auds.html) abrufbar. Daher
werden hier nicht die Beiträge referiert, sondern Grundzüge der
Vorträge und Diskussionen wiedergegeben.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Zur Kostenfrage liegen mittlerweile einige Erfahrungen mit
externen Dienstleistern sowie Partnern in der eigenen Verwaltung
(IT-Dienste) vor, die miteinander verglichen werden können. Dies
erleichtert die Planungen für künftige Projekte, sofern Archive die
Wahl zwischen verschiedenen Anbietern haben. Im Hinblick auf
die eigenen Personalkosten gelingt es selten, genügend zusätzliche
Stellen für die anstehenden Aufgaben zu erhalten; das Beispiel
Hessen ermutigt aber dazu, die Bedarfe konsequent in die Haushaltsverhandlungen einzubringen.
Nach der Mittagspause wurde zunächst die Übernahme aus
einem Fachverfahren und danach die praktische Gestaltung
von Aussonderungsschnittstellen aus einem DMS vorgestellt.
Gesprochen wurde auch über das künftige Organisationskonzept
elektronische Verwaltungsarbeit sowie die persönlichen Erfahrungen von Archivaren, die neu in diesen Bereich einsteigen. In
der Diskussion wurde nach der Übernahme auf Akten- oder
Vorgangsebene, der Eintragung der Bewertungsentscheidung ins
System und der Auswirkung des neuen Organisationskonzepts
auf bestehende Standards gefragt. In diesem Zusammenhang
wurde angeregt, auf der 17. Tagung des Arbeitskreises 2013 anlässlich von 15 Jahren DOMEA auch einen kritischen Rückblick auf
die Erfahrungen in der Behördenberatung zu wagen.
Auf dem Gebiet der Systeme und Tools wurden verschiedene
Speichermöglichkeiten vorgestellt, u. a. Silent Cubes, sowie besondere Unterlagentypen wie digitale Urkunden und Grundakten.
Auch in dieser Sektion wurden Kosten, die Zusammenarbeit mit
187
externen Dienstleistern, Bewertung und Aussonderungsschnittstellen angesprochen. Gefragt wurde auch nach Rechtssicherheit,
Datenschutz bzw. Archivgesetzen und der Zugriffsgeschwindigkeit. In diesem Bereich wurden auch Kooperationen von Kunden
der Firmenallianz HP/SER bzw. Nutzern des DIMAG Entwicklungsverbunds vorgestellt.
In der Sektion Objektarten warf die E-Mail-Archivierung viele
Detailfragen auf: z. B. zum Umgang mit verschiedenen Dateiformaten, Anhängen, einer weitgehend unstrukturierter Ablage im
Posteingang etc. Der Arbeitskreis diskutierte über die Erfahrungen bzw. Ansätze zur Archivierung von Geobasisdaten (vgl.
hierzu auch Bericht zur EuroSDR Arbeitsgruppe Data Archiving in diesem Heft) und die Archivierung von audiovisuellen
Unterlagen, die aus Gründen der Bestandserhaltung digitalisiert
werden müssen (Archive des BStU, Landtag NRW, Landesarchiv
Baden-Württemberg). Andere, wie das Landesarchiv NRW, steigen
gerade ein. Aber auch Details kamen zur Sprache. Zur Formaterkennung und -validierung digitaler Unterlagen generell riet die
Vertreterin der KOST, unbedingt einen anderen Dienstleister als
den Anbieter der zu validierenden Programme mit der Kontrolle
zu beauftragen.
In der letzten Sektion, Grundsätze und Perspektiven, stellte die
Runde fest, dass Übernahmen oft in kürzeren Abständen als bei
analogen Unterlagen stattinden müssten, etwa jährlich, und dass
zusätzlich zu Aussonderungsbestimmungen praktikable Lösungen für die Arbeitsteilung zwischen Behörden und Archiven
gefunden werden müssen. Die Beratungsfunktion der Archive
könnte den Behörden hier zahlreiche Hinweise geben. Bei der
Bildung von SIPs, hieß es aus dem Beispiel Basel-Stadt auf Nachfrage, würden die Metadaten der Behörde komplett übernommen,
ins AIP dagegen von dort nur ein kleiner Teil. Hier sprachen sich
manche Teilnehmer aus Sicherheitsgründen dezidiert für eine
Aufstellung der Server innerhalb der Archivgebäude aus. Zum
Abschluss der Vorträge appellierte Christian Keitel noch einmal
an das Publikum, den nestor-Leitfaden zur Digitalen Bestandserhaltung zu kommentieren. In der Runde schien allgemein
Zustimmung zu dessen Inhalt zu herrschen.
Der Meinungsaustausch über die Frage, ob ein deutsches Äquivalent zur schweizerischen KOST eingerichtet solle, war rege.
Der Vorschlag ging dahin, eine Einrichtung zu schaffen, die sich
speziell aus archivischer Perspektive der Frage der Archivierung
digitaler Unterlagen widmet; in Ergänzung zu „nestor“ (Kompetenz-Netzwerk Langzeitarchivierung), das spartenübergreifend
auch bibliothekarische, universitäre und museale Belange berücksichtigt. Als Konsens ist festzuhalten, dass eine Diskussion im
breiteren Kreis über die Frage lohnt. Als Anregungen kamen von
verschiedenen Seiten folgende Punkte:
– die Frage der Aufgaben und Funktionen. Dies wurde hier nicht
näher diskutiert.
– ein zentraler Standort oder mehrere dezentrale Standorte.
Dazu gab es divergierende Meinungen.
– Soll es überhaupt ein „deutsches“ Gremium sein oder eins für
deutschsprachige Einrichtungen?
– Wie soll es mit dem Schweizer Vorbild vernetzt sein? Assoziiert
oder eigenständig?
– Wer inanziert es? Diese Frage kam häuig mit verschiedenen
Vorschlägen und Bedenken.
Als vorläuiges Ergebnis wurde festgehalten, dass aus der Runde
keine Zustimmung für eine spartenspeziische KOST kam, also
etwa eine nur für Wirtschaftsarchive etc.
Als praktikabler Weg, um solche Fragen zu klären, wurde angeregt, ein Forum zu schaffen, um die Arbeit der KOST, die außer
den wenigen Experten v. a. in dieser Runde kaum bekannt sei,
breiter bekannt zu machen. Dazu sollten auch Referenzbeispiele
aus der Arbeit von KOST benannt werden. Christian Keitel stellte
eine eintägige Veranstaltung im Juni oder Juli dazu in Aussicht,
die ebenfalls vom Landesarchiv Baden-Württemberg ausgerichtet
werden würde.
Wegen der zahlreichen direkten Nachfragen zu Einzelthemen
erübrigte sich die Abschlussdiskussion. Die Veranstalter dankten
allen Beteiligten für die Durchführung, die Teilnehmer lobten
die Organisatorinnen und Organisatoren, v. a. Christian Keitel
und Kai Naumann, für Themen, Räume, Technik und Logistik
einschließlich der Verplegung.
Die nächste Tagung des AK AUdS indet in der ersten Märzhälfte
2013 in Dresden statt.
Ragna Boden, Düsseldorf
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
188
Tagungsberichte
ARCHIVIERUNG VON
GEOGRAPHISCHEN INFORMATIONEN
IM DIGITALEN ZEITALTER
AKTIVITÄTEN DER EURO-SDRARBEITSGRUPPE DATA ARCHIVING
Bis vor einigen Jahren war die übliche Vorgehensweise, geographische Daten zu archivieren, Papierkarten zu erfassen und im
Magazin einzulagern. Der Wandel, der durch die Digitalisierung
der Welt auch in Archiven Einzug hält, betrifft natürlich auch
Geodaten. Heute liegt der größte Teil von geographischen Informationen nur noch digital vor, es werden kaum noch analoge Karten
hergestellt. Diese Veränderung zeigt sich besonders deutlich im
Aussterben des Berufes des Kartographen. Auf diese Veränderung
müssen Archive weltweit heute reagieren, um die Datenerhaltung
für die Generation von morgen zu sichern. Die EuroSDR Arbeitsgruppe Data Archiving, die im November 2010 aufgebaut wurde,
hat es sich zum Ziel gemacht, sich den neuen Anforderungen zu
stellen, die durch die Digitalisierung im Bereich Geodaten entstanden sind.
Die Arbeitsgruppe ist Teil des EuroSDR (European Spatial Data
Research Network) und setzt sich zusammen aus Mitgliedern unterschiedlicher Berufsgruppen: Archivare, Informatiker, Personen
aus dem Bereich Datenqualitätsmanagement, Systembetreuer,
Forscher und Mitarbeiter staatlicher Vermessungsbehörden. In
bisher vier Workshops wurden verschiedene Aspekte der digitalen
Archivierung von Geodaten erörtert. Diese sind unter anderem die
Abhängigkeiten zwischen Datensätzen, Metadaten, Webservices,
komplexe Datenmodelle sowie die Abhängigkeit der Nutzer von
spezialisierter Software zum Abrufen und Verwenden der Daten.
Seit Februar diesen Jahres kann die erste Veröffentlichung der
Arbeitsgruppe online eingesehen werden: GI+100 Langzeiterhaltung digitaler geographischer Informationen – 16 grundlegende, von
staatlichen Vermessungsbehörden und Archiven vereinbarte Prinzipien.1 Das wichtigste Ziel, das mit diesem Dokument verfolgt
wird, ist das Erreichen einer einheitlichen Erhaltungsstrategie für
geographische Informationen, denn es ist wichtig die „Daten jetzt
zukunftssicher zu machen, um nachhaltige, langfristig verfügbare
Quellen zu erschaffen.“ Die Archive sollen diesem Ziel durch die
16 vereinbarten Prinzipien näher gebracht werden, die sich unter
anderem mit dem Aufbewahrungszeitraum, der Erhaltungsstrategie, Datenmigration und -emulation, Datensicherung, Benutzerfreundlichkeit, Datenformaten und Metadaten beschäftigen.
Der letzte Workshop der Arbeitsgruppe, der im März 2012 in Ludwigsburg stattfand, beschäftigte sich vor allem mit der Verbreitung
und Weiterentwicklung der 16 Prinzipien. Zwei Punkte erwiesen
sich dabei als wichtig – sowohl für die Arbeitsgruppe als auch für
die Archive, die sich zukünftig an diesen 16 Prinzipien orientieARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
ren könnten. Zum einen ist für eine Weiterentwicklung natürlich
vor allem die Rückmeldung von Unbeteiligten wesentlich. Die
Arbeitsgruppe begrüßt jede Form von Anregung und Kritik, die sie
über den Inhalt des Dokuments erhält. Daher ist jeder aufgerufen,
GI+100 zu studieren und von der auf der Website der Arbeitsgruppe gebotenen Möglichkeit des Kommentierens Gebrauch zu
machen. Der zweite Punkt, der in naher Zukunft umgesetzt werden
soll, ist es, im Teilnehmerkreis die bisher nur in der Theorie vorliegenden Prinzipien anzuwenden, um so Erfahrungen zu sammeln
und die besten Vorgehensweisen festzustellen. Durch diese beiden
Maßnahmen, das Auswerten von Feedback zu dem Dokument
und die Anwendung der Prinzipien, soll GI+100 angepasst und
verbessert werden.
Zusammengefasst besteht der Konsens des vierten Workshops
darin, die geeigneten Vorgehensweisen zur langfristigen Archivierung von Geodaten zu bestimmen sowie diese zu teilen und
zu veröffentlichen. Auf diese Weise hofft die Arbeitsgruppe, die
Voraussetzungen für eine zukunftssichere Quellenerhaltung für
die Generation von morgen zu schaffen.
Daniela Lederer, Heilbronn
1
http://www.eurosdr.net/archiving das Dokument kann sowohl im Englischen Original als auch in der deutschen Übersetzung eingesehen werden.
Bisher gehören der Arbeitsgruppe Teilnehmer aus Deutschland (BW, BY), Finnland, Frankreich, Großbritannien, Norwegen, Schweden und der Schweiz an. Weitere Teilnehmer für
die Arbeitsgruppe können sich gerne bewerben.
Das Papier GI+100 steht bis Juni 2012 allen Interessierten
zur Kommentierung offen. Alle Kontaktdaten sowie die
Veröffentlichungen können unter www.eurosdr.net/archiving
gefunden werden.
LITERATURBERICHTE
80 JAHRE ARCHIVBERATUNG IM RHEINLAND
Hrsg. vom Landschaftsverband Rheinland. Red.: Wolfgang Schaffer und Peter K. Weber. Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH, Bonn 2009. 128 S., einige Abb., kart. 16,90 €.
ISBN 978-3-7749-3634-8 (Archivhefte 38)
Aufgrund des Beschlusses des Rheinischen Provinziallandtages
vom 5. März 1929 wurde zum 1. April 1929 in der damals in
Düsseldorf ansässigen Zentralverwaltung des Rheinischen
Provinzialverbandes eine Archivberatungsstelle für die
Rheinprovinz eingerichtet. Beispielgebend hierfür, so Arie
Nabrings im Vorwort des vorliegende Bandes, der anlässlich
des 80-jährigen Jubiläums der Archivberatung im Rheinland
erschien, war Westfalen, wo bereits zwei Jahre zuvor eine
Archivberatungsstelle etabliert worden war.
In einem ersten grundlegenden Beitrag („80 Jahre Archivberatung
im Rheinland – Alte Aufgaben – neue Herausforderungen“,
S. 11-47) stellen Hans Budde und Peter K. Weber in
programmatischer Form die wichtigsten Felder aktueller
Archivberatung vor. Dabei werden jeweils die Arbeitsgebiete
der Archivberatungsstelle in ihrer historischen Entwicklung
beschrieben, Aufgabenerweiterungen der letzten Jahre benannt
und neue bzw. zukünftige Schwerpunkte der Arbeit identiiziert.
Differenziert nach Archivsparten werden Strategie und
Beratungstätigkeiten skizziert, wobei das gesamte Spektrum zur
Sprache kommt: Kommunale Archivberatung, Archivplege in
Kirche-, Wirtschafts- und Kultureinrichtungen, Adelsarchivplege.
Daneben haben Archivtagungen, die Mitwirkung der
Archivberatungsstelle in der Fachausbildung und der
historischen Bildungs- und archivischen Öffentlichkeitsarbeit, vor
allem aber – dafür steht programmatisch die Umbenennung des
Amtes zum LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum im
Jahr 2008 – die Fort- und Weiterbildung einen immer größeren
Stellenwert gewonnen.
Als wichtigste Zukunftsaufgabe wird im Weiteren die
Durchsetzung archivischer Mindeststandards benannt und
anhand der konkreten Arbeitsfelder präzisiert: Dazu zählen
eine systematisierte Überlieferungsbildung durch Erarbeitung
von Dokumentationsproilen, Bestandserhaltung auf
Grundlage von integrativen Bestandserhaltungskonzepten und
Schadenskatastern, Konzepte zur Übernahme elektronischer
Unterlagen, aber auch die Historische Bildungsarbeit, deren
Intensivierung in vielen Kommunen (wenn auch sicher nicht in
allen) von Kommunalpolitik und Verwaltung durchaus gefordert
und gefördert wird.
Im zweiten Beitrag des Bandes („Vom Archiv der Provinzialstände
der Rheinprovinz zum Archiv des LVR“, S. 49-61) zeichnet
Wolfgang Schaffer die Geschichte des LVR-Archivs nach, was
alleine deshalb schon wichtig und der Lektüre wert ist, weil
die Archive der Landschaftsverbände einen – immer noch zu
wenig bekannten und unterschätzten –, dabei sehr bedeutenden
Quellenfundus zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in der Region darstellen.
Im dritten Abschnitt unternimmt es Hanns Peter Neuheuser,
noch einmal systematisch zehn Felder der archivischen
Arbeit und damit zugleich archivplegerische und letztlich
archivpolitische Herausforderungen zu beschreiben
(„Nichtstaatliche Archivberatung als Grundsatzaufgabe. Bilanz
und Perspektive“, S. 63-85): Dazu zählen die Begleitung von
Archivgesetznovellen (bei Erscheinen des Bandes stand die
189
Novellierung des NRW-Archivgesetzes unmittelbar bevor)
und anderer die Archive betreffenden Gesetzgebungsverfahren,
die Etablierung betriebswirtschaftlicher Instrumente im
Archivmanagement, die Durchsetzung von Standards in der
Bestandserhaltung, aber auch und gerade bei der Bewertung
und Erschließung, die Archivierung elektronischer Unterlagen
und – Dauerthema der Archivberatung: die Professionalisierung
der archivarischen Arbeit durch Fort- und Weiterbildung und
durch enge Verzahnung und Vernetzung in archivarischen
Gremien. Der gelungene und informative Band wird abgerundet
von einer Chronologie „80 Jahre Archivberatungsstelle im
Überblick“, Listen der Rheinischen Archivtage 1967-2009
(jeweils unter Angabe von Veranstaltungsort und Thema) sowie
der sogen. „Internationalen Archivsymposien“ 1991-2009, einer
Publikationsliste und einer Bildchronik.
Marcus Stumpf, Münster
ARCHIVISCHE INFORMATIONSSYSTEME IN DER DIGITALEN WELT
Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. Hrsg. von
Gerald Maier und Thomas Fritz. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2010. 198 S., 68 farb. Abb., geb. 20,- €.
ISBN 978-3-17-021717-1 (Werkhefte der Staatlichen
Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A Heft 23)
Im November 2009 veranstaltete das Landesarchiv BadenWürttemberg im Hauptstaatsarchiv Stuttgart ein Fachkolloquium
zum Thema. Unter archivischen Informationssystemen
subsumieren die Herausgeber zum einen Fachverfahren, die
die Aufgabenerledigung in verschiedenen Arbeitsbereichen
von der Übernahme bis zur Nutzung unterstützen, zum
anderen aber auch die Integration einzelner Verfahren bzw.
Module in ein komplexes archivisches Informationssystem. Die
Beiträge stammen vorwiegend aus dem Bereich der Staatlichen
Archivverwaltungen. Vertreten sind der Bund (Bettina MartinWeber), Baden-Württemberg (Thomas Fricke, Thomas Fritz,
Christian Keitel, Rolf Lang, Gerald Meier), Hamburg (Paul
Flamme), Hessen (Peter Haberkorn), Niedersachsen (Sabine
Graf), Nordrhein-Westfalen (Martina Wiech) und RheinlandPfalz (Beate Dorfey). Außerdem bringen Beat Gnädinger die
Erfahrungen des schweizerischen Staatsarchivs Zürich und
Angela Ullmann des Archivs des Bundestags ein.
Im Ergebnis zeigt sich, dass die Anforderungen an die Systeme
recht einheitlich sind, was allerdings nicht so überrascht,
wie es die Herausgeber herausstellen. Unterschiedlich sind
dagegen die aktuellen Entwicklungsstände, und zwar abhängig
davon, wo Schwerpunkte ausgebildet und welche äußeren
Rahmenbedingungen wirksam wurden. So hat BadenWürttemberg frühzeitig der Präsentation von Digitalisaten im
Internet eine hohe Priorität gegeben, hohe Sicherheitsstandards
der Verwaltung haben die Realisierung in Hamburg beeinlusst
und betriebswirtschaftliche Steuerungselemente spielten in
Niedersachsen eine Rolle. Jedes der vorgestellten Systeme hat
damit seine eigene Geschichte. Auch wenn noch Desiderate
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
190
LITERATURBERICHTE
bestehen, brauchen die archivischen Informationssysteme
insgesamt den Vergleich mit Angeboten anderer
Verwaltungszweige aber keineswegs zu scheuen.
In der Regel hatten die Staatlichen Archivverwaltungen zum
Zeitpunkt des Systemaufbaus bereits in den Kernbereichen
fachliche Standards etabliert. Da sie auch über die notwendigen
personellen und inanziellen Ressourcen verfügen, iel fast
überall die Entscheidung zugunsten von Eigenentwicklungen.
Der Beitrag des Archivs des Bundestags zeigt, wie kleinere
Archive unter anderen Rahmenbedingungen agieren. Hier wird
eher die Nutzung von Standardlösungen angestrebt, damit der
Aufwand in einem vertretbaren Rahmen bleibt. Selbst unter
diesen Prämissen können erfolgreich zeitgemäße Fachverfahren
eingeführt werden, wie die Umsetzung der Stufenerschließung
und des Repräsentationsmodells bei der Einführung einer
Erschließungssoftware zeigen.
Der Tagungsband vermittelt vor allem einen Überblick über
den Entwicklungsstand archivischer Informationssysteme
der Staatlichen Archivverwaltungen. Vorrangig wird
zwar das in den Blick genommen, was in den klassischen
archivischen Kernbereichen bereits erreicht wurde, aber
auch neue Anforderungen, wie sie sich z. B. aus dem Aufbau
digitaler Archive oder dem Medium Internet ergeben, inden
Berücksichtigung. Da Fachverfahren den Arbeitsalltag eines
jeden Archivs bestimmen, sei dieser Band auch kleinen Archiven
und Archiven anderer Sparten zur Orientierung empfohlen. Die
Entwicklung der Informationssysteme verläuft allerdings so
dynamisch, dass die präsentierten Sachstände schon in wenigen
Jahren überholt sein werden. Insofern erscheint die Herausgabe
eines gebundenen Bandes nicht ganz angemessen. Eine
schlichtere und preisgünstigere Druckfassung oder eine OnlinePublikation hätten eine weitere Verbreitung wohl befördert.
und Museen tummeln sich auch private Anbieter auf diesem
Markt, wie die Schulbuchverlage, die auf die neuen technischen
Gegebenheiten und Ausstattungen der Schulen und der Schüler
mit entsprechenden multimedialen Inhalten reagieren. Dass diese
nicht als Konkurrenten, sondern als sich ergänzende Partner in
der Bildungslandschaft betrachtet werden müssen, unterstreicht
der Beitrag von Thomas Hermann „Das Klassenfoto als Ikone
und Vision der modernen Volksschule“ (S. 93-101). Darin berichtet
er nicht nur vom phänomenalen Erfolg der Online-Stellung eines
zu kommerziellen Zwecken zwischen 1925 und 1990 entstandenen
Klassenfotoarchivs, sondern zeigt auch Möglichkeiten
auf, wie diese Fotos in die erziehungswissenschaftliche
Ausbildung oder in die schulische Bildung integriert werden
können, indem sie konkrete Aussagen über Pädagogik und
Schulalltag aus vergangenen Zeiten zu vermitteln in der Lage
sind. Demgegenüber liegen die Wahrnehmungschancen der
Archive in ihren regionalen Angeboten. Sie sind in der Lage,
die Auswirkungen allgemeiner historischer Ereignisse im
räumlichen Erfahrungs- und Erlebnishorizont der Nutzer
visuell zu konkretisieren und damit eine durch die Empathie
der geograischen Nähe provozierte Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit und dem eigenen Werden auszulösen.
Der kleine Band unterstreicht in seinen Beiträgen die
Notwendigkeit einer größeren Verzahnung und Abstimmung
der Institutionen, die im schulischen oder außerschulischen
Bildungsbereich tätig sind. Auch hierzulande ist diese
Notwendigkeit offensichtlich, auch wenn es bereits gute
Beispiele der Zusammenarbeit von Archiven und den
Landesbildungsservern gibt.
Kurt Hochstuhl, Freiburg
Barbara Hoen, Düsseldorf
AUDIOVISUELLE ARCHIVE MACHEN SCHULE
MATHIAS BEREK, KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS UND
DIE GESELLSCHAFTLICHE KONSTRUKTION DER
WIRKLICHKEIT
Les archives audiovisuelles font école. Colloque Memoriav Kolloquium 2007. Hrsg. von Memoriav. hier + jetzt,
Verlag für Kultur und Geschichte, Baden 2008. 136 S.,
Paperback. 19,80 €. ISBN 978-3-03919-107-9
Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Harrassowitz
Verlag, Wiesbaden 2009. 224 S., kart. 38,- €. ISBN 9783-447-05921-3 (Kultur- und sozialwissenschaftliche
Studien 2)
Mit der Vermittlung audiovisueller Inhalte im Bereich der
öffentlichen, speziell der schulischen Bildung beschäftigte
sich das zweite Memoriav-Kolloquium 2007 in La Chaux-deFonds. Der private Verein zur Erhaltung und Erschließung
des audiovisuellen Kulturguts der Schweiz widmete sich dabei
einem Thema, das zwar nicht zu seinen in der Vereinssatzung
festgeschriebenen Hauptaufgaben zählt, das aber dennoch einen
wesentlichen Daseinszweck von Archiven oder archivischen
Sammlungen in demokratischen Gesellschaften repräsentiert:
die Nutzung in und durch die Öffentlichkeit. Der Fokus der
Beiträge lag dabei auf der Vorstellung von praktischen Beispielen,
wie audiovisuelle Quellen im Bereich der schulischen und
universitären (Aus- und Fort-)Bildung in der Schweiz bereits
genutzt werden. Neben den traditionellen Akteuren aus Archiven
Aktuelle Studien, die sich im Themenfeld „Erinnerung und
Gedächtnis“ bewegen, greifen in ihren Einleitungen häuig auf
die Metaphern vom „memory boom“, der „memory industry“
oder einer Konjunktur der Erinnerungskulturen zurück.1 Die
Studien verweisen dabei oftmals auf die Interdisziplinarität
sowie die kaum mehr zu erfassende Anzahl an Arbeiten
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
1
Siehe Andreas Huyssen, Twilight Memories: Marking Time in a Culture of
Amnesia (New York: Routledge, 1995); Kerwin L. Klein, „On the Emergence
of Memory in Historical Discourse“, Representations 69 (2000): S. 127-150;
Claudia Öhlschläger, „Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur“, in Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung
und Anwendungsperspektiven, hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning
(Berlin: de Gruyter, 2005), S. 227-248.
191
in diesem Feld. Zu Recht kritisieren sie die bestehenden
Unschärfen der Begriflichkeiten und das Fehlen übergreifender
konzeptueller und theoretischer Überlegungen. Auch die hier
zu rezensierende und unter dem Titel „Kollektives Gedächtnis
und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine
Theorie der Erinnerungskulturen“ erschienene Studie von
Mathias Berek knüpft an diese Punkte an. Berek erkennt im
Themenfeld „Erinnerung und Gedächtnis“ drei maßgebliche
Deizite, denen seine Studie entgegentreten will: Erstens will
Berek die „Verwaschenheit“ des Zentralbegriffs des „kollektiven
Gedächtnisses“ aulösen (S. 18). Zweitens will er dezidiert die
Beziehungen zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis
erörtern (S. 19) und, drittens, das Themenfeld aus einer
konstruktivistisch-wissenssoziologischen Perspektive beleuchten
(S. 20). Auf Basis von Alfred Schütz sowie den Arbeiten von
Peter L. Berger und Thomas Luckmann stellt Berek zudem die
Leitfrage, welchen Stellenwert Erinnerung bei der Herstellung
von Wirklichkeit hat (S. 25).2
In einem ersten Schritt widmet sich Berek den wesentlichen
Begriflichkeiten des Themenfeldes: Erinnerung, Gedächtnis,
Kultur und Politik. Grundlegend ist seine Differenzierung
zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Berek versteht Erinnerung
als Prozess, als aktiven Vorgang des Erinnerns bzw. als eigentliches
Reproduzieren der vergangenen Wahrnehmungen. Mit dem
Begriff Gedächtnis verbindet Berek den Zustand zu einem
bestimmten Zeitpunkt, der die Gesamtheit der gegenwärtigen
Wissenselemente über die Vergangenheit darstellt (S. 32). Daran
anknüpfend deiniert er Erinnerungskulturen als Prozesse des
gesellschaftlichen Erinnerns und das kollektive Gedächtnis
als das gemeinsam Erinnerte bzw. als den gegenwärtigen
Zustand der Summe all dieser Erinnerungen (S. 39). Mit diesen
Differenzierungen beseitigt Berek tatsächlich bestehende
Unschärfen und liefert wertvolle Arbeitsdeinitionen. Seine
Erläuterungen zu den Begriffen Kultur und Politik scheinen
indessen ausbaufähig. Zur weit gefassten, auf Ernst Cassirer
aufbauenden Deinition von Kultur wären weitere Ausführungen
wünschenswert gewesen (S. 37)3; die Herleitung des Begriffes
Politik über Aristoteles und Machiavelli hätte von der
Einbeziehung der Originaltexte sicherlich proitiert (S. 45).
In einem zweiten Schritt erläutert Berek über die Analyse
des Aufbaus und der Funktion von Erinnerung hinaus die
Rolle der Erinnerungskultur für die Gegenwart und ihre
Wirklichkeitskonstruktion. Maßgeblich und innovativ sind
seine Überlegungen zum Verhältnis zwischen individuellem
und kollektivem Gedächtnis. Die Basis des individuellen
Gedächtnisses sieht Berek vor allem in neuronalen und
psychischen Prozessen sowie in der intersubjektiven
Kommunikation des Individuums mit „Anderen“. Auf diese
Weise, so Berek in Anschluss an Schütz, entwickele jedes
Individuum einen subjektiven Wissensvorrat. Dieser speise
sich einerseits aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat, sei
andererseits aber auch dessen Quelle (S. 67). Den Wissensvorrat
setzt Berek nicht dem Gedächtnis gleich, sondern formuliert,
dass das Gedächtnis nur den Teil des Wissensvorrates bezeichne,
der sich mit Vergangenheit befasse (S. 71). Gedächtnis bleibt
für Berek also ein Zustand, der zwar auf die Vergangenheit
zurückgreife und gleichzeitig Zukunftserwartungen berühre,
aber stets in der Gegenwart verhaftet sei. Stark angelehnt an
Schütz und Berger/Luckmann fügt Berek dieser zeitlichen
Dimension des Gedächtnisses weitere hinzu: eine räumliche,
eine mediale, eine alltagsweltliche, eine strukturelle sowie eine
funktionale Dimension von Gedächtnis. An die Dimensionen von
Gedächtnis anknüpfend und auf die verschiedenen Funktionen
von Erinnerung abhebend erläutert Berek in einem nächsten
Schritt die Rolle der Erinnerungskultur für die Gegenwart und
ihre Wirklichkeitskonstruktion. Berek betont insbesondere die
Stellung der kollektiv handelnden Subjekte für die kollektive
Erinnerung und unterstreicht, dass ohne Erinnerung letztlich
keine gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit möglich sei
(S. 162).
An diese Überlegungen schließt Berek ein Kapitel zur
Komplexitäts-Typologie der Erinnerungskulturen an. Maßgeblich
sind dabei seine Erläuterungen zur Beziehung zwischen
Erinnerungskultur und Macht. Berek unterscheidet vier Typen
von Erinnerungskulturen – minoritäre, subversive, revolutionäre
und afirmative Erinnerungskulturen – und macht klar, dass
Erinnerungskulturen nicht per se an Macht gebunden seien,
sondern auch gegen diese agieren könnten (S. 182 ff.). An
diesem Punkt enden Bereks konzeptuelle Ausführungen zu den
Begriflichkeiten, zum Aufbau und zur Funktion von Erinnerung
sowie zur Typologie der Erinnerungskultur. In einem Fazit
fasst er die Ergebnisse zusammen: „Unter Erinnerungskultur
verstehen wir demnach die Gesamtheit aller kollektiven
Handlungen und Prozesse, die das kollektive Gedächtnis, seine
Sinnstrukturen und seine materiellen Artefakte erhalten und
ausbauen, indem mit ihnen Vergangenheit repräsentiert wird
– sie begründet Wirklichkeit und legitimiert die institutionale
Ordnung“ (S. 192).
Die im Titel versprochene Theorie der Erinnerungskulturen
liefert Berek mit dieser Zusammenfassung freilich nicht, wohl
aber eine exzellente Arbeitsdeinition für nachfolgende Studien,
die sich dem Themenfeld „Erinnerung und Gedächtnis“ aus
wissenssoziologischer Perspektive annähern.4 Die Erweiterung
des Themenfeldes um eine sozialkonstruktivistische Dimension,
die Berek ebenfalls vorschlägt, ist zwar nicht in allen Punkten
innovativ, aber mit Blick auf die aktuellen Studien im Themenfeld
eine sinnvolle Ergänzung. Gerade sein Verständnis einer
Abhängigkeit des Erinnerungsprozesses von den Gegebenheiten
der Gegenwart sowie einer Formung von Erinnerungskultur
durch die Struktur des Wissensvorrats sollte für jedwede Studien
im Feld maßgeblich sein. Gleiches gilt für Bereks wiederholt
formuliertes Verständnis von Erinnerungskultur als konstruiert
und gleichzeitig Wirklichkeit konstruierend.
Andreas Hübner, Gießen
2
3
4
Siehe Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (Frankfurt/M.:
Fischer, 61999[1966]); Alfred Schütz und Thomas Luckmann, Strukturen der
Lebenswelt (Konstanz: UVK, 2003[1973].
Berek versteht unter Kultur die Gesamtheit des menschlichen Wirkens und
die Produkte dieses Wirkens.
Genau genommen liefert Berek das, was der Titel seiner zugrunde liegenden Dissertation verspricht: „Der Stellenwert der Erinnerungskultur bei der
Konstruktion von Wirklichkeit“. Diss., Universität Leipzig, 2008.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
192
LITERATURBERICHTE
FRANCIS X. BLOUIN JR., WILLIAM G. ROSENBERG,
PROCESSING THE PAST
Contesting Authority in History and the Archives. Oxford
University Press, New York 2011. X, 257 S., Hardback.
74,- $. ISBN 978-0-19-974054-3
Zu diesem Buch haben ein Osteuropa-Historiker (Rosenberg)
und ein Archivar (Blouin) aus Michigan zusammengefunden,
als der Historiker im Lesesaal den Archivar über die Entstehung
eines Bestandes befragte und dieser sich darüber amüsierte, wie
wenig der Historiker darüber wusste. Sie behandeln ein Thema,
das nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA Archive
und Geschichtswissenschaften bewegt: die wachsende Kluft zwischen beiden Disziplinen. In Heft 4/2011 des „Archivar“ ist darüber ausführlich berichtet worden. Sie inden für diese Kluft die
Formulierung „archival divide“, die insofern irreführend ist, weil
die (Haupt-)Ursache bei den Archiven lokalisiert wird. Tatsächlich haben sich, wie die Autoren auch belegen, beide Disziplinen
voneinander wegbewegt.
Die beiden Autoren konzentrieren sich zwar auf die Situation
in den USA, doch haben sie weit mehr als andere Autoren aus
ihrem Land die Entwicklungen in Europa im Blick. So setzen sie
bei der Frühgeschichte der Beziehungen zwischen Historikern
und Archiven bei Ranke an, dessen Rolle für die Konstituierung
der amerikanischen Geschichtswissenschaft ja bekannt ist. Ein
Verständnis von Archiven als Autorität für Historiker führen sie
u. a. auf ihn zurück. Ranke initiierte den weltweiten Siegeszug
der authentischen und „objektiven“ Akten und Urkunden als
Grundlage der Disziplin. Um 1900 gab es dann in Europa erste
Signale für eine Umorientierung der Archive, die sich für den Umgang mit massenhaften Erzeugnissen der Bürokratie konfrontiert
sahen. In den USA entstanden Archive auf Druck der Historiker.
Das Selbstverständnis der amerikanischen Archivare wurde maßgeblich inspiriert vom Engländer Hilary Jenkinson und dessen
Verständnis von Archiv als Kustoden des Archivguts. Z. T. herausgefordert durch Records Manager setzte in den USA um 1970
ein neues archivisches Denken ein, irmiert als „post-custodial
era“. Die Archive, Archivarinnen und Archivare kümmerten sich
fortan weniger um Geschichte, sondern um technische Fragen,
die Übernahme, Bewertung und Erschließung von Akten. Sowohl
das Massenproblem als auch die Technologie vergrößerten den
Abstand der Archive von den Historikern, die ihrerseits in ihrer
postmodernen Ära viele neue Pfade beschritten. Viele Kategorien,
die untersucht wurden, wie z. B. Rasse und Geschlecht, waren
nicht unmittelbar aus den Akten oder Findbüchern zu entnehmen. Dadurch wurde, so Blouin/Rosenberg, die traditionelle
Autorität der archivischen Evidenz untergraben. Eine Schlüsselstelle ist Kap. 5 „Archival Essentialism and the Archival Divide“
(S. 85-93). Es summiert die seit 1970 angelaufenen Entwicklungen. Indem sich Archivare im Wesentlichen auf das Archivgut
konzentrierten, schufen sie sich eine neue professionelle Identität, weit entfernt von der Ausrichtung ihrer Vorgänger auf die
Geschichtswissenschaft. Historiker lehnen nun den archivischen
„Essentialism“ ab (wenn man diesen Ausdruck zu übersetzen
hätte, wäre der Ausdruck „Kernaufgaben“ zu wenig), weil sie
keinen Einluss mehr auf archivische Entscheidungen haben. Die
von ihnen entwickelten Methoden, z. B. der Linguistic Turn, die
nichtarchivische Quellen betonen, koppelten endgültig die beiden
professionellen Sphären voneinander ab. „Career paths simply
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
seemed not to cross … The categories of knowledge most important to the training of archivists now derive from organizational
theory, complex systems, information science, communications,
and computer theory situated in emerging programs in Schools
of Information“ (S. 92 f.).
Nachdem Teil 1 die größtmögliche Entfernung zwischen beiden
Disziplinen beschrieb, versuchen beide Autoren, die Lücke wieder
zu schließen („bridging the Archival Divide“). Sie setzen auf das
Konzept des sozialen Gedächtnisses, auf die Quellenkritik, der
Archivare und Historiker genügen müssen, die aktive Rolle, die
Archive bei der Produktion des historischen Wissens einnehmen, indem sie bewerten. Der Abschnitt „Rethinking Archival
Politics“ (S. 161 ff.) würdigt Situationen, in denen politische
Eingriffe im amerikanischen Archivwesen eine Rolle gespielt
haben. Abschließend diskutieren sie das Verhältnis der Archive zur Online-Infrastruktur, die ihrer Meinung nach die Kluft
zwischen Historikern und Archivaren nur noch vergrößern wird,
falls Historiker nicht im Stande sind zu interpretieren, was sie
im massenhaften digitalen Content inden werden. Die Autoren jedenfalls haben ein Bewusstsein von der Komplexität der
digitalen Unterlagen, ebenfalls von der Herausforderung, sie zu
erhalten: „Access and preservation are now two sides of the same
coin“ (S. 197). Der Vergleich zwischen der Rolle von Bibliotheken
und Archiven im digitalen Zeitalter ist bemerkenswert deutlich:
ein Google-Projekt für Archive wird sobald nicht möglich sein,
weil in den Archiven der Transfer von Papierunterlagen in digitale
Formen viel arbeitsintensiver und teurer ist (S. 204 f.). Abschließend fragen beide Autoren, ob sich Geschichtswissenschaft und
Archive wieder treffen und die Kluft überwinden können. Ohne
Wehmut deklarieren sie die Zeit, in der Archivare und Historiker sich als Kollegen trafen, als einen abgeschlossenen Teil der
Archivgeschichte. Sie fordern von Historikern, sich in archivische
Arbeitsweisen einzudenken, um ihre Wissenschaft zu betreiben.
Auf Seiten der Archive stellt sich die unveränderte Notwendigkeit,
Bestände im Sinne der Benutzer zu erschließen. Hier bringen die
Autoren massiv Web 2.0-Technologien und interaktive Findbücher für das Zusammenspiel der Archive mit ihren Benutzern.
Sie plädieren für gemeinsame Gesprächsforen zu diesen Themen
und sehen in der Zukunft die Archive als wichtige Akteure, um
historisches Wissen zu produzieren.
Der Schluss des Buches wirkt nach den drastischen Worten über
den „Archival Divide“ und seine Ursachen optimistisch, beinahe
versöhnlich und sehr amerikanisch. Aus deutscher Sicht werden
dennoch sicher viele der hier nur verkürzt referierten Beobachtungen des Buches nachvollzogen werden. Ob die Distanz
zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft in Deutschland
so dramatisch beschrieben wird, wie es Blouin und Rosenberg
tun, hängt möglicherweise vom Geburtsdatum ab. Die Masse
der jüngeren Archivarinnen und Archivare dürfte jedenfalls den
Befund der beiden Autoren teilen. Ein Sachverhalt, der Deutschland und die USA unterscheidet, der aber archivisches Handeln
in beiden Ländern unterscheidet, sind die in den USA fehlenden
„legacy inding aids“ und Archivbestände aus der Zeit vor 1750,
die besondere Herausforderungen an die Erhaltung und Erschließung bedeuten. In Deutschland sind sie ein zentraler Teil des
kulturellen Erbes. Deshalb stellt sich für deutsche Archive die
Leitfrage dieses Buches partiell anders. Gerade weil dieses Buch
eine eigene Positionierung zum Verhältnis zwischen Archiven
und Geschichtswissenschaft abverlangt, kann der Rezensent die
Lektüre dieses Buches nur empfehlen.
193
PS: Die Leser des Buches sollen auf einen anderen Titel hingewiesen werden. Fast zeitgleich zu diesem Buch erschien ein Aufsatz
von Terry Cox an prominenter Stelle im „American Archivist“1.
Der kanadische Archivar kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie
Blouin/Rosenberg, fordert aber im Unterschied zu diesen noch
mehr Selbstbewusstsein der Archivare und Archive ein. Er weist
ihnen einen aktiven Teil bei der Überlieferungsbildung zu, sie
sind nicht mehr nur in einer vermittelnden Rolle.
Wilfried Reininghaus, Düsseldorf
1
Terry Cox, The Archive(s) Is a Foreign Country: Historians, Archivists, and
the Changing Archival Landscape, in: American Archivist 74 (2011), S. 600632.
KAI BONITZ, PERSÖNLICHKEITSRECHTSSCHUTZ IM
STASI-UNTERLAGEN-GESETZ
Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009. 243 S., kart.
68,- €. ISBN 978-3-428-13080-1 (Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 1138)
Der Rezensent hat an mehreren publizierten Stellen darauf hingewiesen, dass jeder Archivarin und jedem Archivar im konventionellen Archivwesen nur empfohlen werden kann, auch die Regelungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) gut zu kennen. Aus
verschiedenen Gründen, insbesondere wegen seiner größeren Deinitionsfreudigkeit und wegen seiner in den Regelungen klareren
Differenzierung zwischen Benutzung als Vorlage und Benutzung
als Auswertung und Veröffentlichung der Unterlagen erweist sich
das StUG auch im herkömmlichen Archivwesen als ein interessanter und bei besonders sensiblen Problemlagen sicherlich auch
hilfreicher Gegenstand der Relexion bei der Interpretation der
allgemeinen Archivgesetze. Schließlich sind diese wie das StUG
der Kategorie der bereichsspeziischen Datenschutzgesetzgebung
zuzurechnen, was die gemeinsamen Grundlagen in der allgemeinen Datenschutzgesetzgebung beschwört, aber auch die Frage
aufwirft, ob das StUG von den ersten Beispielen der etwas älteren
Archivgesetzgebung Anregungen empfangen hat oder eigene
Wege beschritten hat.
Es ist daher als verdienstvoll zu bezeichnen, dass der Verfasser
in seiner im Wintersemester 2008/2009 von der Juristischen
Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation
angenommenen Arbeit den Gang der Entwicklung seit 1990 und
den bis November 2008 nachgewiesenen gegenwärtigen Stand
der Diskussion in der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und
der wissenschaftlichen Literatur in Ansehung des StUG darstellt,
zusammenfasst und interpretiert. Gerade weil das StUG durch
relativ umfangreiche Spezialkommentare und fachjuristische
Würdigungen immer im Rampenlicht eines stärkeren rechtlichen
Interesses als die Archivgesetzgebung gestanden hat, ist es für die
Forschung eine große Hilfe, nach dem übergreifenden Ausgangswerk von Albert Engel: „Die rechtliche Aufarbeitung der StasiUnterlagen auf der Grundlage des StUG“, Berlin: Duncker &
Humblot 1995 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 682) in
Bezug auf den zentralen Persönlichkeitsrechtsschutz eine aktuelle
Aufarbeitung zu besitzen. Dabei wird dem Verfasser eine hohes
Maß an Gründlichkeit bei der Zusammenstellung der Literatur
bescheinigt werden müssen, da auch die wichtige innerhäusige
Publikation von Dagmar Unverhau (Hrsg.): „Das Stasi-Unterlagen-Gesetz im Lichte von Datenschutz und Archivgesetzgebung.
Referate der Tagung des BStU vom 26. bis 28. November 1997“, 2.
Aul., Münster: LIT, 2003 (Archiv zur DDR-Staatssicherheit, Band
2) berücksichtigt worden ist.
Nach einer Einführung zur Kennzeichnung der Ausgangslage,
des Gegenstandes der Untersuchung und des methodischen
Vorgehens stellt der Verfasser in einem Abschnitt B. „Historische
Grundlagen“ die Vorgeschichte und das Gesetzgebungsverfahren
zum StUG von 1991 dar und beleuchtet danach den Inhalt und
die Bedeutung der sieben StU-Änderungsgesetze von 1994 bis
2006. Es schließen sich im folgenden Abschnitt Betrachtungen
zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen an, insbesondere
zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art.
1 Abs. 1 GG), zum Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG), zum
Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG),
zur Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), zur Freiheit der
Presse (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) und zur Freiheit der Forschung und
Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG).
Dann wird das zentrale Thema der Herausgabe von Unterlagen
an Presse und Forschung gemäß § 32 StUG angesprochen und
eine Zusammenfassung und Würdigung der Rechtsstreitigkeiten
von Helmut Kohl und Gregor Gysi gegen die Bundesbeauftragte
für Stasi-Unterlagen vorgenommen. Die Urteile des Verwaltungsgerichts Berlin und des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere
das sehr umstrittene Judikat vom 23. Juni 2004 (NJW 2004,
2462), werden unter Einbeziehung der dazu erschienenen Literatur (insbesondere von Kunig, Marxen, Werle, Kirste und Arndt)
gewürdigt und die Folgen für die Reform des StUG aufgezeigt.
Unter lobender Würdigung der Ansichten der Berliner Instanz
geht der Verfasser mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
seinerseits hart ins Gericht. Eine Zusammenfassung in Thesen
beschließt die Arbeit.
Es wäre bei der Lektüre eine große Hilfe gewesen, wenn der Verfasser unter Vermeidung der einen oder anderen wiederholenden
Schilderung lieber den letzten Stand des Wortlauts des StUG mit
abgedruckt hätte. Auch hätte man sich den Abdruck des kritisierten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Juni 2004
gewünscht, schon um den Tatbestand des Falles rekapitulieren
zu können. Da dieses nicht erfolgt ist, empiehlt es sich, diese
Quellen vor der Lektüre des Werkes als Begleittext zu kopieren
und präsent zu halten.
Die Publikation erweist sich für das Verständnis und die Interpretation des StUG, aber auch der involvierten Grundrechte als
sehr nützlich. Auch § 5 BArchG wird, insbesondere in Bezug auf
den Begriff der Person der Zeitgeschichte und des Amtsträgers
in Ausübung des Amtes in Absatz 5, mehrfach angesprochen und
mitinterpretiert.
Rainer Polley, Marburg/Lahn
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
194
LITERATURBERICHTE
MATTHIAS BUCHHOLZ, ARCHIVISCHE ÜBERLIEFERUNGSBILDUNG IM SPIEGEL VON BEWERTUNGSDISKUSSION UND REPRÄSENTATIVITÄT
2., überarbeitete Auflage. Hrsg. vom LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum. SH-Verlag, Köln
2011. 430 S., kart. 32,- €. ISBN 978-3-89498-263-8
(Archivhefte 35)
Wenn eine Dissertation, die sich mit der Bewertung massenhaft gleichförmiger Einzelfallakten zur Sozialhilfe befasst, auf
eine solche Nachfrage stößt, dass man sie zehn Jahre nach ihrer
Publikation in einer zweiten Aulage vorlegt, mag das auf den
ersten Blick äußerst ungewöhnlich erscheinen. Auf den zweiten
Blick ist es jedoch verständlich und mit dem Thema wie auch mit
den Alleinstellungsmerkmalen der Studie leicht zu erklären. Wie
der Verf. schon in seiner Besprechung der ersten Aulage ausgeführt hat – vgl. Der Archivar 56 (2003), S. 161-163 – „war und ist
das Phänomen ‚Massenakten‘ das Kernproblem der archivischen
Bewertung nach 1945“ (ebd., S. 162). „Kein Bereich der Überlieferungsbildung war und ist so von Selbstzweifeln geprägt, ob man
die richtigen Verfahren gefunden hat, ob für die entstehenden
Bestände tatsächlich eine reale Nachfrage besteht, ob die gewählten Auswahlverfahren bei der Auswertung auch das an Repräsentativität erfüllen, was man sich erhofft“ (ebd., S. 161 f.). Hierauf
gab 2001 die problemorientierte und empirisch solide begründete
Untersuchung von Buchholz erstmals eine umfassende Antwort
– am Beispiel der Aktenüberlieferung zur Sozialhilfe, die für die
Geschichte des Sozialstaats als besonders relevant einzustufen ist.
Damit stellte sie – wie bei ihrem Erscheinen schon erkennbar war
– „einen Meilenstein dar – und dies als Endpunkt der jahrzehntelangen Diskussion über Massenakten als auch als Neuanfang
und Aufbruch“ (ebd., S. 162). Die bemerkenswerte Nachfrage an
der Arbeit, der nun mit einer zweiten Aulage entsprochen wird,
ist hierin begründet. Vergleichbare Studien in dieser Tiefe gab es
zuvor nicht. Sie sind aber auch danach nicht wieder entstanden,
was nicht zuletzt darin seine Ursache hat, dass archivwissenschaftliche Dissertationen nicht mehr möglich sind und ähnlich angelegte Untersuchungen nur als kleiner dimensionierte
Qualiikationsarbeiten an der Archivschule Marburg oder der
Fachhochschule Potsdam erstellt werden können. Schon deshalb
ist die Untersuchung von Buchholz nach wie vor d i e einschlägige exemplarische Untersuchung zum methodischen Umgang mit
massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten. Schon deshalb wird
auch die Nachfrage anhalten.
Dazu kam und kommt aber noch zweierlei: einmal die Qualität
der Arbeit, die schon in der genannten früheren Besprechung
gewürdigt ist, zweitens aber auch ihre Einbettung in eine breite
Darstellung der bisherigen archivischen Bewertungsdiskussion,
die auch als solche Ihresgleichen sucht. Und darin lag denn
auch der „Aufbruch“, der mit der Arbeit verbunden war. Denn
Buchholz hatte „weit über die Problematik der Massenakten hinaus eine grundsätzliche Perspektive sowohl für die theoretische
Bewertungsdiskussion insgesamt als auch für die strategische
Umsetzung ihrer Erkenntnisse“ geboten, wie der Verf. in seiner
Besprechung der ersten Aulage (ebd., S. 162) hervorhob.
Wie aber stellt sich die Situation in diesem zweiten Punkt nun
zehn Jahre nach der Publikation der Erstaulage dar? Hierauf
gibt Buchholz in der zweiten Aulage mit einem neuen, ergänzenden Kapitel eine Antwort, das unter der Überschrift „Nachtrag: Bewertung im 21. Jahrhundert = Verbesserte Qualität der
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Bewertung?“ beim historischen Rückblick auf die Bewertungsdiskussion eingefügt wurde (S. 151-209), wofür ihm besonderer Dank
ausgesprochen sei. Denn der wiederum sehr instruktive und problemorientierte Nachtrag resümiert umfassend auf 58 Seiten die
fortgeführte Fachdiskussion zur Überlieferungsbildung seit 2001.
Und das Ergebnis ist wiederum äußerst bemerkenswert: Denn es
lässt erkennen, wie intensiv – da spricht schon der Umfang des
nachgetragenen Kapitels für sich – und insgesamt fruchtbar im
vergangenen Jahrzehnt über das Thema diskutiert wurde, welche
Konsenslinien sich abzeichnen und wo unvermindert Diskussionsbedarf besteht. Buchholz bezieht dabei – wie schon in der
ersten Aulage – auch wiederum selbst Stellung, zählt er doch zu
den dezidierten Befürwortern einer auch inhaltlich orientierten
Überlieferungsbildung und von Dokumentationsproilen als
Grundlage transparenter Bewertungsentscheidungen.
Genau an dieser Stelle wird die Fachdiskussion sicher weitergehen, muss vor allem nun aber auch ihre Umsetzung in die Praxis
geleistet werden. Ganz besonders sind die Archive gefordert, dabei auch die digitale Überlieferung in die aktive Überlieferungsbildung einzubeziehen, womit ein Aspekt angesprochen ist, der
endlich in den Vordergrund jedweder weiteren Fachdiskussion
rücken muss. Dass im Ergänzungskapitel von Buchholz digitale
Unterlagen kaum vorkommen, steht völlig damit im Einklang,
dass sich der Fortgang der Bewertungsdiskussion nach 2001 immer noch ganz auf der Grundlage des herkömmlichen Archivguts
bewegt hat und dass erst wenige Archive seit einiger Zeit genuin
digitale Unterlagen archivieren. Hier steht der wirkliche Aufbruch
noch aus, und es bleibt zu hoffen, dass – sollte der „Buchholz“ je
eine dritte Aulage erfahren – darüber dann auch in einem weiteren Ergänzungskapitel berichtet werden kann.
Robert Kretzschmar, Stuttgart
MICHAEL FARRENKOPF, MYTHOS KOHLE
Der Ruhrbergbau in historischen Fotografien aus dem
Bergbau-Archiv Bochum. Aschendorff Verlag, Münster
2009. 224 S., zahlr. Abb., geb. 29,80 €. ISBN 978-3-40204386-8
Das vorliegende Buch greift eine Idee des Verfassers aus dem Jahr
2004 auf, eine zeitgemäße Publikation über historische Fotograien des Ruhrbergbaus herauszugeben. Sie verfolgt den Zweck, auf
die zahlreichen Bergbaufotograien aufmerksam zu machen, die
besonders in den verschiedenen Wirtschaftsarchiven verwahrt
werden. Michael Farrenkopf, Leiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) und des Bergbau-Archivs
(BBA) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum (DBM), richtet
seinen Blick auf die eigenen umfassenden Fotobestände und
präsentiert der Öffentlichkeit eine Auswahl zeitgenössischer Bergbaufotograien mit entsprechender Kommentierung. Die Qualität
der Bebilderung ist außergewöhnlich gut, der Band sehr ansprechend und wissenschaftlich gediegen.
Nach einem Vorwort des Verfassers folgt eine Einführung in das
Thema „Der Ruhrbergbau in der Werksfotograie“, ein Sujet, das
195
die staatlichen Überlieferungen zum Ruhrbergbau nicht abdecken können, da entsprechende Dokumentationen nicht zu den
Aufgaben der staatlichen Bergverwaltungen gehörten. Es waren
die Montanunternehmen selbst, die aus verschiedensten Gründen
die Herstellung von Industriefotograien in Auftrag gaben. Das
Ruhrgebiet als Kernland der Industrialisierung durchlebte vielfache Modernisierungsschübe, und die Fotograie als modernes Bild
gebendes Medium bot sich geradezu an, Elemente dieser Modernisierung und Veränderungsprozesse festzuhalten. Der Beginn der
Industriefotograie im Ruhrgebiet wird in der Regel in die 1860er
Jahre datiert und steht im Zusammenhang mit der Gründung
der Graphischen Anstalt der Firma Krupp. Damit reicht die
Industriefotograie zurück bis auf den durch die Hochindustrialisierung bedingten topographischen Wandel des Ruhrgebiets
von einer noch vorrangig agrarisch strukturierten hin zu einer
industriell-städtisch überformten Landschaft. Sie dokumentiert
aber auch die tiefgreifenden Veränderungen im Zuge des so
genannten Strukturwandels seit dem Ende der 1950er Jahre. Ganz
besonders prägte der Bergbau auf Steinkohle den topographischen
Raum des Ruhrgebietes spätestens mit seiner nördlichen Ausrichtung seit dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert.
Er war ein allgegenwärtiger Wirtschaftsfaktor, der in der Phase der
Hochindustrialisierung zunehmend optische Präsenz erlangte und
mit seinen vielen Schachtanlagen, Fördertürmen, Schienenwegen,
Werksgebäuden und Halden ganze Landschaften prägte. Farrenkopf geht in seiner Einleitung auf den Bergbau als Prägefaktor des
topographischen Raumes ebenso ein, wie auf die Determinanten
der Werksfotograien und auf die Fotografen selbst.
Den Hauptteil des Einbandes nimmt der Bildteil ein. Dieser gliedert ausgewählte Bergbaufotograien chronologisch und umfasst
folgende Kapitel:
- Industrieller Ruhrbergbau im Kaiserreich,
- Erster Weltkrieg und Weimarer Republik,
- Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg,
- Der Ruhrbergbau als Basis des Wiederaufbaus,
- Kohlenkrise, Stilllegungen und Strukturwandel.
Die frühesten überlieferten Aufnahmen stammen aus den 1870er
Jahren. Beim Durchblättern werden dem Leser zahlreiche Gedanken durch den Kopf schießen: Zum einen ist es die bestechende
Qualität der Aufnahmen, die den Betrachter erfreuen dürfte. Zum
anderen sind es die Motive selbst, die unseren Blick auf Mensch,
Industrie und Landschaft vergangener Zeiten lenken. Der Bildband verdeutlicht den Quellenwert der meist auftragsgebundenen
Industriefotograien, die sich entweder in den Archivbeständen
des Bergbau-Archivs oder in einer Fotothek des DBM beinden
und von denen es allein im DBM über 100.000 Aufnahmen gibt.
Ein Abbildungsnachweis und ein Kapitel zu Quellen und Literatur
zu den Bildunterschriften runden Farrenkopfs Buch ab.
Das vorliegende Buch kann besten Gewissens weiterempfohlen
werden. Es besticht, wie bereits betont wurde, durch fachliche Kompetenz und hohe Qualität der Bebilderung. Deutlich wird aber auch,
welche Schätze an Industriefotograien besonders noch in den Wirtschaftsarchiven schlummern und die nur darauf warten, von der
Geschichtsschreibung gehoben zu werden. Für das Ruhrgebiet ist es
der Mythos Kohle, der die Landschaft durch seine allgegenwärtige
Präsenz prägte. In anderen Landschaften werden es andere Mythen
sein, die vorherrschten. Diese in zeitgmäßen Fotograien zu erfassen
und festzuhalten, kann der Selbstidentii-kation von Regionen und
Landschaften wertvollen Vorschub leisten.
Jens Heckl, Münster
REINHART KOSELLECK, VOM SINN UND UNSINN DER
GESCHICHTE
Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Hrsg. und
mit einem Nachwort von Carsten Dutt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 388 S., geb. 32,- €. ISBN 978-3-51858539-9
In der Literatur zu Joseph Süß Oppenheimer wurde und wird
immer wieder herausgestellt, dieser sei erst nach seiner Verhaftung
1737 herabsetzend als „Jud Süß“ bezeichnet worden. Nun indet
sich in den Akten des württembergischen Kabinetts aus dem
Jahre 1734 aber bereits der Betreff: „Jud Süß“. Ein klassischer Fall
dessen, was Reinhart Koselleck (1923-2006) als „Vetorecht der
Quellen“ bezeichnet hat. Und mit dieser – sprachlich so einfachen und dadurch auch auf Anhieb so eingängigen – Formel hat
Koselleck wesentliche Hinweise zur Funktion der Archive gegeben:
„Wenn Geschichtsschreibung mehr ist als die subjektive Produktion ingierter Vergangenheiten oder die kollektive Herstellung
ideologischer Wünschbarkeiten, dann liegt das an der Quellenkontrolle, der sich jede Historie unterwerfen muß. Jede historische
Theorie, jede Hypothese oder Konjektur muß sich der prüfenden
Instanz unterwerfen, die mit der Selbstaussage einer Quelle
vorgegeben ist. Quellen haben ein Vetorecht. Der Historiker kann
nicht behaupten, was er will, da er beweisplichtig bleibt. Seine
Beweise kann er nur den Quellen entnehmen, ohne die er vieles,
gegen die er aber gar nichts sagen kann. In der Quellenkontrolle
liegt die Bedingung wissenschaftlicher Objektivität beschlossen.“
Diese Sätze inden sich in einem Festvortrag Kosellecks zum 150.
Geburtstag des Hauptstaatsarchivs Düsseldorfs, den er eben dort
1982 gehalten hat und der unter dem Titel „Archivalien – Quellen
– Geschichten“ im vorliegenden Sammelband erneut1 abgedruckt
ist (S. 68-79, hier S. 78).
Koselleck hat das Archiv aus dem Blick des Historikers als Ort der
Kontrolle deiniert; heute wird dem Archiv diese Rolle mit dem
Ziel der „retrospektiven Überprüfbarkeit des Verwaltungshandelns
im demokratischen Rechtsstaat“ zugewiesen, womit der Anspruch
auf eine Funktionalität in der Gesellschaft konstituiert ist, die weit
über die Auseinandersetzung mit historischen Fragestellungen
und Thesenbildungen hinausgeht. Das ist gut und richtig und
muss – auf die archivische Aufgabenwahrnehmung insgesamt
bezogen – weiter durchdacht werden. Gut und richtig ist es heute
aber sicher auch, weiterhin über die spezielle Funktion des Archivs
für die historisch arbeitenden Wissenschaften als Quellenspeicher
und Überlieferungsgestalter zu relektieren und dies mit der Quellenkunde zu verbinden.
Dazu können die hier in einem Sammelband publizierten Vorträge und Veröffentlichungen von Reinhart Koselleck – es sind insgesamt 25, von denen einige erstmals aus dem Nachlass publiziert
werden – eine überaus anregende Grundlage bieten. Auch wenn
der aktuelle Stand der Fachdiskussion zur archivischen Überlieferungsbildung manchen Gedanken Kosellecks als „selbstverständlich“ erscheinen lassen mag, so sind etwa seine Überlegungen zum
Quellenwert und zur Quellenkritik archivalischer Überlieferung
auch heute noch überaus lesenswert. Denn sie sind aus dem Erfahrungsschatz und problemorientierten Bewusstsein langjähriger
1
Der Beitrag wurde erstmals publiziert in: 150 Jahre Staatsarchive in Düsseldorf und Münster, Düsseldorf/Münster 1982 (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C, Bd. 12), S. 21-36.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
196
LITERATURBERICHTE
Forschungstätigkeit gespeist. Dass Koselleck bei seinen Forschungen gerade auch Antworten in ganz andersartigen Quellen gesucht
hat, die nicht in Archiven liegen, erweist sich dabei sogar als
Vorteil, denn dadurch vermochte er die Bedeutung archivalischer
Quellen umso präziser zu bestimmen, freilich auch zu relativieren,
was wiederum im Kontext der aktuellen Bewertungsdiskussion
und vor dem Hintergrund spartenübergreifender Ansätze und
gebotener Vernetzungen der Archive von besonderem Interesse ist.
Archivarinnen und Archivaren ist der Sammelband daher sehr
zu empfehlen. Im nach wie vor verbesserungswürdigen Dialog
zwischen Geschichtswissenschaft und Archiven kann seine Lektüre die Sensibilität für Sichtweisen der historischen Forschung
nur erhöhen. Kosellecks Beiträge sind zudem in einer wohltuend
lesbaren Sprache gefasst, die das Lesen zum Vergnügen macht;
angesichts mancher – vor allem kulturwissenschaftlichen – Veröffentlichung der letzten Jahre ist dies besonders hervorzuheben.
So bleibt denn auch eine Verbindung zu schlagen von den Begriffsbildungen Kosellecks zur heute gerne gewählten Formel von
der „Konstruktion“ und „Dekonstruktion“. Im Diskurs über das
Archiv und seine Rolle in der Gesellschaft, bei allen Relexionen
über „Archiv, Wissen und Macht“ sollte man die Aufsätze und
Vorträge Kosellecks jedenfalls zur Hand nehmen. Von eminenter
Relevanz sind sie geradezu für alle quellenkundlich orientierten
Betrachtungen und Unternehmungen. Wenn das Landesarchiv
Baden-Württemberg in der nächsten Zeit sein landeskundliches
Informationssystem LEO-BW (Landeskunde entdecken online)
in Kooperation mit der historischen Forschung um ein quellenkundliches Modul plangemäß erweitert, wird auf die Beiträge des
Sammelbandes zu rekurrieren sein.
Robert Kretzschmar, Stuttgart
LANDESARCHIV NORDRHEIN-WESTFALEN
Grundsätze der Bestandserhaltung – Technisches Zentrum. Überarbeitete Neuauflage. Düsseldorf: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen 2011. 56 S., zahlr. Abb.,
brosch., kostenlos (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 19)
Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen hat diese 56-seitige
Broschüre nach nur zwei Jahren in bereits dritter, überarbeiteter
Aulage herausgebracht, und das Ergebnis kann sich sehen
lassen. Mit einem festeren Umschlag, frischerem Layout, helleren
Bildern und vor allem einem stark aktualisierten und reicheren
Inhalt erschließt sie sich einer ganz heterogenen Leserschaft:
Interessierte Laien führt sie äußerst anschaulich in das schwierig zu
vermittelnde archivarische Fachgebiet der Bestandserhaltung ein.
Fachkollegen werden umfassend über die einschlägigen Aktivitäten
der nordrhein-westfälischen Archivverwaltung informiert.
Angehende Archivare erhalten eine komplette Unterrichtseinheit
in diesem Ausbildungsfach. Und schließlich können die darin
zusammengefassten und ansprechend präsentierten Erfolge als
Bestätigung und Anregung für weitere Unterstützung gegenüber
Politik und Wirtschaft genutzt werden.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Dass es gelingt, eine einzige Publikation derartig „multifunktionell“
zu gestalten, grenzt an ein Wunder, das – wie bei Wundern so üblich
– kostenlos erhältlich ist.
Der Erfolg gründet sich zum einen auf ein kluges Konzept,
zum zweiten auf die verständlichen, sich aufs Wesentliche
beschränkenden Texte und zum dritten auf die professionellen
Fotos und die Motivwahl – noch nie sind die praktischen
Arbeitsschritte in der Aktenrestaurierung so konzentriert und
didaktisch dokumentiert worden! Die Namen der Autoren (Matthias
Frankenstein, Susanne Henze, Johannes Kistenich und Wilfried
Reininghaus) und des Redakteurs Johannes Kistenich verstecken
sich aus falscher Bescheidenheit ganz klein im Impressum.
Hauptthema der Broschüre ist das Technische Zentrum (TZ)
der staatlichen Archivverwaltung Nordrhein-Westfalens, das
im Jahr 2005 einen ehemaligen Kornspeicher der dreißiger
Jahre in der sogenannten Speicherstadt in Münster-Coerde
beziehen konnte. Es ist seit 2008 als Dezernat Grundsätze der
Bestandserhaltung Teil des Fachbereichs Grundsätze des LAV
NRW. Die großzügigen zentralen Restaurierungs-, Verilmungsund Digitalisierungswerkstätten zählen mit über 1.300 qm zu
den größten Deutschlands. Das Bestandserhaltungskonzept des
Landesarchivs und damit verknüpft auch sämtliche Arbeitsbereiche
des TZ werden in sechs Abschnitten dargestellt. Die Neuaulage
vertieft das Projekt der Landesinitiative Substanzerhalt, die
Notfallvorsorge mit Erwähnung des Münsteraner Notfallverbunds,
die Kahnaktenrestaurierung (ihr widmet sich eine eigene
Veröffentlichung des LAV NRW von Johannes Kistenich, siehe
Rezension im „Archivar“ 64, 2011, S. 325), die Digitalisierung und
die Öffentlichkeitsarbeit. Auch aktuellste Entwicklungen wie
neue Entsäuerungsverfahren und die neue Verpackungsnorm ISO
16245 werden berücksichtigt. Das Literaturverzeichnis wurde stark
erweitert und auf den neuesten Stand gebracht.
Einige wenige Wünsche bleiben offen: So führt das einheitliche
Layout mit dem durchgehenden Bilderband in der oberen
Seitenhälfte dazu, dass die Fotos nicht immer zum Text auf der
unteren Seitenhälfte passen. Das Inhaltsverzeichnis ist etwas
unübersichtlich, was auch an der Auswahl der „Leitsprüche“
als Überschriften liegt, deren Autoren ungenannt bleiben. Die
Notfallvorsorge hätte ein eigenes Kapitel verdient. Angesichts
der vielen Vorzüge der wunderschönen Broschüre ist das aber
Beckmesserei.
Das zusammenfassende Urteil: Quadratisch. Praktisch. Gut.
Anna Haberditzl, Ludwigsburg
ALEXANDER ROSSNAGEL, STEFANIE FISCHER-DIESKAU, SILKE JANDT, DANIEL WILKE, SCANNEN VON
PAPIERDOKUMENTEN
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2008. 128 S.,
kart. 29,- €. ISBN 978-3-9329-3195-7 (Der Elektronische Rechtsverkehr, Band 18)
Seit mehr als 10 Jahren werden in Unternehmen und öffentlicher
Verwaltung in Deutschland Verfahren zur elektronischen Aktenführung und Vorgangsbearbeitung eingeführt. Im Zuge dieser
197
Entwicklung wurden auch die geltenden rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die elektronische Geschäftsführung angepasst. Erwähnt seien hier beispielhaft die Funktionsäquivalenz der qualiizierten elektronischen
Signatur zur eigenhändigen Unterschrift, die damit mögliche
elektronische Erfüllung der Schriftform sowie die Anpassungen
im Beweisrecht oder die Rahmenbedingungen zur beweissicheren
Langzeitspeicherung. Damit verbunden ist die Entwicklung und
Fortschreibung von Standards und Normen zur elektronischen
Verwaltungsarbeit, Langzeitspeicherung und Archivierung. Einen
weißen Fleck im Kontext der rechtssicheren elektronischen Akte
und Vorgangsbearbeitung bildet die Frage der Digitalisierung
papierbasierter Unterlagen und vor allem die Berechtigung, die
gescannten Unterlagen nach dem Scannen zu vernichten – das
sog. ersetzende Scannen. Um eine vollständige elektronische Akte
in Erfüllung des Prinzips der Aktenmäßigkeit führen zu können,
ist das Scannen unerlässlich. Gleichzeitig verursacht die parallele
Aufbewahrung der papiernen Originale erhebliche Kosten für
Personal und Lagerung. Insofern stellt sich die Frage, wie das
Scannen erfolgen sollte, um Rechts- und Beweissicherheit zu
erzielen und vor allem unter welchen Bedingungen die Vernichtung der papierbasierten Originale möglich ist. Diese Aspekte
untersuchte das vom Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie geförderte Projekte TransiDoc und die innerhalb des
Projekts entstandene Studie „SCATE“. Das Buch von Alexander
Roßnagel et. al. stellt die Ergebnisse der Studie vor und betrachtet
rechtliche, organisatorische und technische Fragen zur Digitalisierung von Schriftgut.
Zu den Autoren ist anzumerken, dass es sich um die wesentlichen Protagonisten in Fragen der Rechts- und Beweissicherheit
elektronischer Unterlagen handelt, die in der Mehrheit bereits am
PROVET-Projekt der Uni Kassel beteiligt waren und aktuell u. a.
im BSI an der Standardisierung in der sicheren elektronischen
Geschäftsführung und Langzeitspeicherung beteiligt sind.
Das Buch beschreibt zunächst die Zielsetzung der „SCATE“-Studie, die vordergründig auf Zulässigkeit des ersetzenden Scannens,
die Ausgestaltung des Scanprozesses, die organisatorischen und
technischen Voraussetzungen des Scannens sowie die Rechtsfolgen des Scanprodukts vor allem in Bezug auf die Verwendung als
Beweismittel fokussiert. Damit greift das Buch Inhalte auf, die
bestehende Konzepte wie z. B. das DOMEA®-Konzept oder vergleichbare Standards bislang ausblendeten, die sich schwerpunktmäßig auf die organisatorische Umsetzung der Digitalisierung
konzentrierten.
Aufbauend auf der Bedeutung des Scannens, so dessen Ursachen
und Zweck, den Zusammenhang von ersetzendem Scannen und
bestehenden Aufbewahrungsplichten sowie den organisatorischen und technischen Grundlagen und bestehenden Standards
werden die Ergebnisse einer Trendanalyse zum ersetzenden
Scannen vorgestellt. Diese beinhalten zum einen eine zusammenfassende Darstellung der Anforderungen an die Ausgestaltung
des Scannens wie die bildliche Wiedergabe, den Trend zum
Outsourcing an externe öffentliche wie private IT-Dienstleister
oder die Verwendung von TIFF und PDF als Scanformate, zum
anderen anwenderseitig bemängelte Hindernisse so der unzureichende Rechtsrahmen speziell zum ersetzenden Scannen oder die
Forderung nach Best Practices und die bestehende Risikobereitschaft seitens der Anwender. Hierauf aufsetzend beschreiben die
Autoren die Probleme und Risiken der Digitalisierung. Hierzu
gehören neben technischen Fragen wie der Problematik ein ori-
ginalgetreues Abbild zu erzeugen oder der Akten- und Vorgangstrennung auch organisatorische Aspekte wie Manipulationsmöglichkeiten beim Scannen. Hinzu kommen rechtliche Risiken.
Ein digitalisiertes Dokument stellt in jedem Fall eine Kopie dar.
Wird das Papieroriginal vernichtet, so kann die Authentizität des
digitalisierten Dokuments faktisch nicht nachgewiesen werden,
womit es beweisrechtlich immer der freien Beweiswürdigung
des Richters unterliegt. Urkundencharakter und damit Beweiserleichterungen nach §§ 371a ff. ZPO erreicht die digitale Kopie zu
keinem Zeitpunkt. Dieses Risiko des ersetzenden Scannens wird
von den Autoren klar benannt. Daneben werden Aufbewahrungsplichten und Formerfordernisse analysiert, um mögliche Risiken
zu identiizieren.
Für die Praxis in den Behörden sind insbesondere die Kap. 5
und 6 relevant. Diese beschreiben zum einen den rechtlichen
Wert des Scanprodukts für verschiedene Unterlagentypen von
Verwaltungsakten bis hin zur Medizinischen Dokumentation,
zum anderen den rechtlichen Gestaltungsbedarf. Roßnagel et.
al. stellen fest, dass es in Deutschland derzeit kein allgemeines
Scangesetz gibt, womit die Lücke im deutschen Recht benannt ist.
Ohne eine rechtliche Grundlage ist, nach Meinung der Autoren,
ein ersetzendes Scannen nicht möglich. Dies würde das ersetzende Scannen faktisch ausschließen – eine Auslegung, die in einigen
Bundesländern konträr entgegengesetzt betrachtet wird, wo
davon ausgegangen wird, dass eine eigene Rechtsgrundlage zum
ersetzenden Scannen nicht notwendig ist, im Sinne „Was nicht
explizit untersagt ist, ist erlaubt“. Unabhängig von der Berechtigung zum ersetzenden Scannen weisen die Autoren mehrfach
deutlich auf die beweisrechtlichen Nachteile einer Vernichtung
der Papieroriginale hin – das Scanprodukt ermöglicht wie gesagt
nicht die Inanspruchnahme der Beweiserleichterungen nach §§
371a ff. ZPO. Die Hinweise zur notwendigen rechtlichen Gestaltung laufen im Wesentlichen darauf hinaus, dass beim Scannen
jedes einzelne gescannte Blatt mit einer qualiizierten elektronischen Signatur versehen wird und zudem ein Einzelblattscannen
erfolgt. Dies mag theoretisch richtig sein, birgt jedoch einen
exorbitanten organisatorischen und technischen Aufwand und
schließt so ein wirtschaftliches Scannen, eine Grundlage der
E-Akte, faktisch aus. Hier schießen die Autoren über das Ziel
hinaus. Das Buch selbst ist, wie alle Werke von Roßnagel et. al.,
sehr komplex geschrieben, stellt jedoch ein kompaktes und zugleich das derzeit umfassendste Standardwerk zum Scannen von
Papierdokumenten im Hinblick auf die elektronische Aktenführung und Vorgangsbearbeitung dar. Kritisch ist anzumerken, dass
Roßnagel et. al. i. d. R. die 150 %-Lösung beschreiben, die in der
Praxis nicht immer empfehlenswert ist. Wer sich mit dem Thema
befasst, kommt zwar an den Autoren nicht vorbei, sollte bei der
praktischen Umsetzung jedoch alternative und weitere Literatur
wie z. B. alternative Rechtsgutachten, die mittlerweile veröffentlichten Ergebnisse des TransiDoc-Projekts, die Entwicklungen
zum E-Government-Gesetz im Bund sowie die TR RESISCAN des
BSI einbeziehen.
Steffen Schwalm, Berlin
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
198
LITERATURBERICHTE
SCRINIUM
Zeitschrift des Verbandes Österreichischer Archivarinnen
und Archivare. Band 65 (2011). Wien 2011. 180 S., kart.
Der anzuzeigende Band steht unter dem Leitthema „Archive
– Politik – Zeitgeschichte“ und enthält diesbezügliche
Tätigkeitsberichte der Landesarchive Tirol (Wilfried Beimrohr),
Salzburg (Gerda Dohle), Niederösterreich (Stefan Eminger),
Steiermark (Gernot Peter Obersteiner), Burgenland (Jakob
Perschy) und Oberösterreich (Cornelia Sulzbacher/Gerhart
Marckhgott). Hinzu treten Beiträge zu den Stadtarchiven
Baden bei Wien (Rudolf Maurer) und Linz (Walter Schuster/
Maria Jenner), zum Archiv des Naturhistorischen Museums
Wien (Christa Riedl-Dorn) und zur Historischen Kommission
und Dokumentationsstelle der Bank Austria (Ulrike Zimmerl)
sowie ein Bericht Lorenz Mikoletzkys über seine Mitwirkung
an der 1998 durch die österreichische Bundesregierung
eingerichteten Historikerkommission zur Aufarbeitung von NSVermögensdelikten, deren Tätigkeit maßgeblich zum Erlass des
im Jahr 2000 in Kraft getretenen Bundesarchivgesetzes beitrug.
Das deutsche Archivwesen ist schließlich mit einem Beitrag über
die Behörde des/der Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)
vertreten; mithin einer Institution, die seit ihrer Entstehung
in besonderem Maße im Fokus von Politik und Medien steht
und sich mit speziischen archivfachlichen Herausforderungen
konfrontiert sieht. Karsten Jedlitschka schildert das enorme
Nutzungsaufkommen (bislang rund 6,5 Millionen Anträge),
die Maßnahmen zur Erschließung und Bestandserhaltung
der geheimdienstlichen Überlieferung im Umfang von rund
170 Regalkilometern, die Zugangsregelung gemäß StasiUnterlagen-Gesetz und die mittlerweile digitale Rekonstruktion
der in 15.000 Säcken lagernden zerrissenen Akten, bei der die
BStU seit 2007 mit dem Fraunhofer Institut Berlin kooperiert.
Die Beiträge der österreichischen Kolleginnen und Kollegen
verdeutlichen bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung die
tiefgreifenden archivischen Auswirkungen des in Österreich vor
ca. 30 Jahren begonnenen zeitgeschichtlichen Forschungsbooms,
der sich vornehmlich auf die NS-Zeit konzentriert. Dass dieser
Prozess angesichts der in den meisten Häusern zunächst
vorherrschenden mediävistischen Präferenzen und der
damit einhergehenden Erschließungsrückstände anfangs
durchaus spannungsreich verlaufen konnte, klingt in einigen
Beiträgen an. Darüber hinaus werden in mehreren Aufsätzen
die zunächst bestehenden Nutzungshemmnisse infolge der
vergleichsweise spät erfolgten (bzw. auf Länderebene noch nicht
lächendeckend zum Abschluss gebrachten) archivgesetzlichen
Zugangsregelungen hervorgehoben. Als wichtige Zäsur
erscheinen die Jahre um die Jahrtausendwende, die im Rahmen
der Zwangsarbeiterentschädigung und der Provenienzforschung
zu einer erheblichen Ausweitung der Beauskunftungs- und
Recherchetätigkeit führten. Mit Blick auf die Gegenwart,
so lässt sich wohl bilanzieren, wird in Österreich eine
eigenverantwortliche bzw. im Netzwerk mit historischen Vereinen
und Forschungseinrichtungen betriebene Forschungs- bzw.
Publikationstätigkeit nicht nur auf Ebene der Kommunalarchive,
sondern auch in den Landesarchiven als wichtig für die mediale
und wissenschaftspolitische Positionierung des Archivwesens
begriffen. Aus Sicht des Rezensenten wäre es wünschenswert
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
gewesen, wenn die einzelnen, mitunter eher deskriptiv angelegten
Arbeitsberichte durch eine Zusammenfassung im Sinne einer
fachlichen Standortbestimmung verklammert worden wären.
Nur am Rande bzw. gar nicht kommen Behördenbetreuung,
Überlieferungsbildung, Abbau von Erschließungsrückständen,
Retrokonversion von Findmitteln, Langzeitarchivierung
elektronischer Unterlagen und Probleme einer digitalen
Aktenkunde vor. Doch ob man diese Tätigkeitsbereiche nun
gegenüber der Öffentlichkeitsarbeit als „Kernaufgaben“ adeln
möchte oder nicht: Ein in vielen Beiträgen anklingendes
archivisches Selbstverständnis als zeitgeschichtliches
Kompetenzzentrum steht und fällt – eher früher als später – mit
der Bewältigung diesbezüglicher Herausforderungen. Darüber
hinaus hätte es nahegelegen, einen Brückenschlag zu der auch
in Österreich geführten Berufsbilddiskussion zu wagen [hierzu
zuletzt Gerhard Marckhgott: Vom Diener zum Dienstleister:
Gedanken zu einem neuen Selbstbewusstsein der Archive, in:
Thomas Aigner u. a. (Hg.): Archive im Web, St. Pölten 2011,
S. 12-20]. Den Band beschließen ein Tagungsbericht über die im
November 2010 im Österreichischen Staatsarchiv veranstaltete
Konferenz „Archive im Web“, ein Rezensionsteil, Nachrufe
und ein Bericht über die Generalversammlung des Verbandes
österreichischer Archivarinnen und Archivare.
Tobias Schenk, Wien
UNBEKANNTE QUELLEN: „MASSENAKTEN“ DES 20.
JAHRHUNDERTS. UNTERSUCHUNGEN SERIELLEN
SCHRIFTGUTS AUS NORMIERTEN VERWALTUNGSVERFAHREN
Hrsg. von Jens Heckl. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2010. 158 S., 8 farb. Abb., kart. 10,- €.
ISBN 978-3-932892-27-1 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 32)
Das Büchlein ist auf den ersten Blick so unscheinbar wie der Gegenstand, dem es sich widmet: Es präsentiert auf knapp 160 Seiten
unterschiedliche Arten von sogenannten Massenakten des 20. Jahrhunderts. Massenhaft gleichförmige Akten aus normierten Verwaltungsverfahren stellen eine für die jüngere Geschichte typische,
von Forschung und Öffentlichkeit aber noch eher selten beachtete
Quellengruppe dar. Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
möchte daher mit dem Band in Anknüpfung etwa an die Quellenkunde zu „Seriellen Quellen in südwestdeutschen Archiven“ von
Christian Keitel und Regina Keyler (Stuttgart 2005) eine praktische
Einführung in diese seriellen Quellen des 20. Jahrhunderts bieten.
Die vorliegende Veröffentlichung erhebt dabei keinen Anspruch
auf Vollständigkeit, sondern ist auf eine künftige Erweiterung in
Folgebänden angelegt. Begonnen wird auf überzeugend pragmatische Weise mit der Darstellung solcher Akten, mit denen sich die
Autoren in ihrem archivischen Berufsalltag ohnehin als Experten
beschäftigen (vgl. S. 13).
Die fünfzehn vorgestellten Aktenarten sind in eher lockerer Form
aufgabenbezogen nach Verwaltungszweigen gegliedert. Aus der Inneren Verwaltung werden Einbürgerungsakten (Helmut Schraven)
199
und Einzelfallakten aus Entnaziizierungsverfahren (Jens Niederhut) präsentiert, aus der Finanzverwaltung vor allem Devisenakten (Daniel Schulte) sowie die zwischen 1933 und 1947 bei den
Anerbengerichten der Amtsgerichte geführten Erbhofakten (Gerald
Kreucher). Im Bereich der Justiz inden sich Beschreibungen von
Akten erstinstanzlicher Strafverfahren bei Hoch- und Landesverrat
(Gabriele Kießling), Handelsregister und -akten (Beate Dördelmann) sowie Verfahrensakten der Arbeitsgerichtsbarkeit (Wolfgang
Bender). Die Analyse von Akten der Betreuungsstelle für politisch
Geschädigte bei der saarländischen Stadt Völklingen (Achim
Becker) wendet sich in diesem Kontext gleichsam als Gastbeitrag
kommunalem Archivgut zu. Ergänzt werden diese Beiträge durch
Ausführungen zu Siedlungsakten (Anke Hönnig), ABM-Maßnahmeakten (Jens Heckl), Prüfungsakten zum Ersten Staatsexamen für
das Lehramt an Schulen (Jens Heckl) und Personalakten (Annette
Hennigs). Einen eigenen Schwerpunkt bilden die drei Beiträge zu
Massenakten der Bergverwaltung, in denen Gerald Kreucher und
Jens Heckl sachkundig in die Risse, Karten und Pläne des – den
Akten hier beigeordneten – bergmännischen Risswerks, in die
Betriebsakten der Bergwerke und die Berechtsamsakten mit Eigentums- und Nutzungsrechten des Bergwerkseigentümers einführen.
Die Publikation richtet sich ausdrücklich an die wissenschaftliche Forschung, der die Archivare in Ergänzung zur üblicherweise
lachen Erschließung der Massenakten einen umfassenden Eindruck von diesen „auf den ersten Blick als spröde erscheinende[n]
Quellen“ (S. 9) vermitteln möchten. Einleitend ordnet Jens Heckl
zu diesem Zweck die Massenakten in die Verwaltungsgeschichte
ein: Diese sind zwar „auf den ersten Blick eine Erscheinung in den
staatlichen und kommunalen Verwaltungen nach 1945“, entstanden aber vielfach bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts im Kontext
der „wachsenden staatlichen Einlussnahme, Bürokratisierung
und Rechtsstaatlichkeit“ (S. 12). Die in sich abgeschlossenen und
einheitlich strukturierten Kurzbeiträge können Wissenschaftlern und historisch Interessierten dabei ebenso zur vollständigen
Lektüre wie als Nachschlagewerk dienen. Sie enthalten jeweils
eine Beschreibung des formalen Aufbaus und Inhalts einer Quelle
sowie eine Einführung in die Geschichte und Bedeutung des
zugrunde liegenden Verwaltungsverfahrens. Jedes Kapitel schließt
mit Hinweisen zur Forschungslage, zu Auswertungsmöglichkeiten,
zur Überlieferung im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und zur
archivischen Benutzung.
In der Quellenbeschreibung als zentralem Abschnitt jedes Kapitels setzen die Autoren durchaus unterschiedliche Schwerpunkte.
Gleichwohl steht im Vordergrund stets das archivalische Ausgangsmaterial, das es in seiner speziischen Eigenart darzustellen und
einzuordnen gilt. Vielen Beiträgen merkt man dabei die langjährige
Nähe der Verfasser zu den Akten wohltuend an. So erläutert Beate
Dördelmann ebenso knapp wie versiert die wichtigsten Aspekte des
formalen Aufbaus und Inhalts von Handelsregistern und -akten. Die
Analyse von Devisenakten mit der Rekonstruktion der Bedeutung
und Entwicklung von Devisenstellen im Beitrag von Daniel Schulte
(S. 51-57) zeugt von der fundierten Quellenkenntnis, die aus einer
aufmerksamen Aktenerschließung erwächst. Wolfgang Bender (S.
128-136) gibt einen präzisen Überblick über die Entwicklung der
Arbeitsgerichtsbarkeit auf Basis der sich wandelnden Gesetzgebung
und vermittelt dem Leser durch eine typisierende Aktenanalyse
einen Eindruck von dem Aussagewert der Verfahrensakten, die in
einem erstinstanzlichen Urteilsverfahren entstehen.
Die kurzen Anregungen zur Auswertung der jeweiligen Akten für
historische Fragestellungen sind mit Blick auf das wissenschaftli-
che Zielpublikum gleichwohl hervorzuheben. Sie machen deutlich,
dass Massenakten nicht nur Aufschlüsse für die biograische Forschung bieten, sondern beispielsweise auch eine Quellenbasis für
sozial- und wirtschaftshistorische, regional- und landesgeschichtliche oder für prosopograisch angelegte Untersuchungen sein
können. Quellenkritische Hinweise werden dabei nicht vergessen;
so setzt beispielsweise Annette Hennigs hierauf in ihrem Beitrag zu
Personalakten einen besonderen Akzent und erinnert angesichts einer Suche nach privaten Unterlagen zu Recht an die enge Zweckgebundenheit dieser Akten für „dienstliche Belange“ (S. 149-158, hier:
S. 154). Die anschließenden Überlieferungshinweise, die sich auf
die drei Archivstandorte des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen
beziehen, helfen im Vorfeld, mögliche quellenbasierte Projekte
regional und zeitlich sinnvoll einzugrenzen. Bei den Benutzungshinweisen wiederholt sich die Darlegung aller geltenden Schutzfristen pro Kapitel, hier wäre eine Konzentration auf die individuelle
Regelung für den Einzelfall ausreichend gewesen.
Insgesamt zeugen die Beiträge von der Freude ihrer Verfasser an
dem darzustellenden Gegenstand und wecken damit das Interesse
an einer (weiteren) Entdeckung moderner Massenakten. Es bleibt
dem Bändchen daher mit dem Herausgeber zu wünschen, dass es
auf eine „rege Bereitschaft aus Archivwesen und Wissenschaft“
stößt, „sich mit weiteren Beiträgen einzubringen, Diskussionsgrundlagen zu schaffen, Fragen aufzuwerfen und Anregungen zu
geben“ (S. 14), um auf diese Weise vorhandene Wissensressourcen
für ein breiteres Publikum nutzbar zu machen.
Nicola Wurthmann, Marburg
VOM RECHT ZUR GESCHICHTE
Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte. Hrsg. von Jürgen Finger, Sven Keller und Andreas
Wirsching. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009.
299 S., Abb., kart. 39,90 €. ISBN 978-3-525-35500-8
In den letzten Jahren beschäftigte sich eine ganze Reihe von Tagungen und Publikationen im deutschsprachigen Raum mit Prozessen
der Nachkriegszeit, die nationalsozialistische (Kriegs-)Verbrechen
zum Gegenstand hatten.1
1
Vgl. hierzu etwa: Wamhof, Georg (Hrsg.), Das Gericht als Tribunal oder:
Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde (Veröffentlichung des
Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 25), Göttingen 2008; Segesser, Daniel M., Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung
von Kriegsverbrechen in der internationalen fachwissenschaftlichen Debatte 1872-1945 (Krieg in der Geschichte 38), Paderborn 2010; Rumpf, Joachim
Robert, Der Fall Wollheim gegen die I.G. Farbenindustrie AG in Liquidation.
Die erste Musterklage eines ehemaligen Zwangsarbeiters in der Bundesrepublik Deutschland – Prozess, Politik und Presse, Frankfurt am Main 2010;
Kuretsidis-Haider, Claudia, Tagungsbericht: Das KZ Lublin-Majdanek und
die Justiz. Polnische, deutsche und österreichische Prozesse im Vergleich
– eine Bilanz, Wien 29.10.2010, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/
tagungsberichte/id=3523 (12.03.2012); Dies., Konferenz: Der Düsseldorfer
Majdanek-Prozess (1975-1981). Zum 30. Jahrestag der Urteilsverkündung im
größten Strafprozess der deutschen Rechtsgeschichte, Düsseldorf 30.06.2011,
in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=16731 (12.03.2012);
Laczó, Ferenc, Tagungsbericht: The Eichmann Trial in International Perspective: Impact, Developments and Challenges, Berlin 24.05.-26.05.2011, in: http://
hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3707 (12.03.2012).
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
200
LITERATURBERICHTE
Der vorliegende Tagungsband beinhaltet die Ergebnisse eines
Symposions, das sich im Jahr 2007 mit der „Juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen“ und mit der Auswertung von „Strafprozessakten als historischer Quelle“ beschäftigte. Gegenstand der
einzelnen Beiträge sind in erster Linie nicht die Ergebnisse der
verschiedenen von den Autoren betriebenen Forschungsprojekte,
sondern Überlegungen auf der theoretisch-methodischen Ebene.
Der Band ist in vier Hauptteile untergliedert: Nach einer von
den Herausgebern verfassten Einleitung folgen sechs unter der
Rubrik „Grundlagen der Prozesse“ zusammengefasste Beiträge;
anschließend beschäftigen sich neun Beiträge mit Aspekten von
„Quellenkritik, Methode, Darstellung“, bevor sieben Autoren aus
der „Forschungspraxis“ berichten. Den einzelnen Beiträgen sind
unterschiedlich umfangreiche annotierte Bibliographien nachgestellt. Ein Anhang mit Linkliste sowie Abkürzungs-, Literaturund Mitarbeiterverzeichnissen rundet den Band ab. Misslich
ist der Verzicht auf ein die Ergebnisse der einzelnen Beiträge
berücksichtigendes, zusammenfassendes Fazit. Die Autorinnen
und Autoren sind zumeist an universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen tätig, z. T. auch in einem Archiv
und „Häusern der Geschichte“. Die Beiträge sind demnach nicht
aus genuin juristischer, sondern aus (rechts-)historischer Sicht geschrieben. Eine Kontrastierung mit Beiträgen aus „volljuristischer
Feder“ hätte spannend sein können, zumal in einem der Beiträge
Kritik an der verwaltungsinternen Juristenausbildung anklingt.
Den Gesamtertrag des vorliegenden Bandes schmälert dies nicht.
Der erste Abschnitt thematisiert die rechtlichen und institutionellen Grundlagen der Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen durch die alliierte und später durch die deutsche Justiz.
Auch gesellschaftspolitische und erinnerungskulturelle Aspekte
inden Beachtung. Weshalb die Herausgeber zu den „Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs“ (S. 17), die in den Beiträgen des
ersten Teils abgehandelt werden, die Bundesrepublik, die DDR
und Österreich, nicht aber das Saarland zählen, bleibt unklar.
Die Beiträge des zweiten Abschnitts haben grundsätzliche Fragen
zu Methodik und Quellenkritik zum Gegenstand, die sich bei
der Arbeit mit Ermittlungs- und Verfahrensakten ergeben. Der
dritte Abschnitt beschäftigt sich mit heuristischen Fragestellungen, benennt relevante Quellenbestände, Rechercheoptionen und
Hilfsmittel. Den Archivarinnen und Archivaren vertraut sind die
Hinweise auf archiv- und datenschutzrechtliche Bestimmungen.
Im Folgenden werden einige Beiträge mit ihren jeweiligen Schwerpunkten vorgestellt.
Die Einleitung liest man mit Gewinn. Zu Recht betonen die
Herausgeber, dass die westdeutsche Gerichtsbarkeit bei den NSProzessen der Nachkriegszeit mit ihren Methoden an Grenzen
gestoßen sei und sich „historischer Methoden und Argumentationslinien“ (S. 11) zu bedienen hatte. Infolgedessen seien auch
Historiker als Gutachter in Erscheinung getreten. In diesem
Zusammenhang wird hervorgehoben, dass ein historisches Urteil
kein strafrechtliches sei und etwa der juristische Grundsatz „in
dubio pro reo“ für den Historiker keine Verbindlichkeit besitze.
Man könne von „fundamental verschiedenen Aufgaben beider
Professionen“ (S. 10) sprechen, die sich aus den unterschiedlichen
Erkenntnisinteressen ergäben. Als im Wesentlichen geglückt
betrachten die Herausgeber rückblickend das Unterfangen,
„historisch-politisches Unrecht“ zugleich mit den Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtswissenschaft wie auch mit den
Sanktionsmöglichkeiten der Rechtsprechung zu konfrontieren.
Zunächst trug die historische Forschung zur justiziellen AufarARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
beitung der NS-Verbrechen bei, bevor die Geschichtswissenschaft
ihrerseits auf die juristischen Quellen der Gerichtsverfahren
zurückgreifen konnte (und kann). Neben dem Massenproblem ergibt sich für historisch Forschende das Problem des Quellenwerts.
Konkret gesprochen, geht es um die „Eignung von Prozess- und
Verfahrensakten als Grundlage historischer Forschung“ (S. 13).
Die Quellenkritik des Historikers muss in diesem Falle um so
sorgfältiger geübt werden, als es sich bei der Beschäftigung mit
den nationalsozialistischen Verbrechen um einen hochemotionalen Themenkomplex, um Völkermord singulären Ausmaßes
handelt. So wie es der damaligen Justiz schwer gefallen sein dürfte,
„unbefangen“ an diese Prozesse heranzutreten, fällt es auch der
Geschichtswissenschaft schwer, zu einem „objektiven“ Urteil zu
gelangen, denn Quellen sowohl aus Täter- als auch aus OpferProvenienz speisen sich häuig aus extremen Geisteshaltungen, Gefühlshaushalten und Erlebnissen: Bei den nationalsozialistischen
Tätern ist es die extreme Weltanschauung, bestehend aus einem
Amalgam aus Rassenideologie und Hass, beziehungsweise extreme
Abstumpfung und mangelnde Empathie; bei den Opfern sind es
extreme Erlebnisse unaussprechlichen Leids.
Einwände gegen die Verwendung von Justizakten können, so die
Herausgeber, durch entsprechendes methodisches und theoretisches Gegensteuern weitgehend entkräftet werden. Die Prozessakten könnten als Zeugnisse der NS-Zeit betrachtet werden, die
durchaus als Grundlage für eine historische Beschreibung der
Vergangenheit geeignet seien. Hier ist allerdings zu fragen, ob die
Unterlagen mitunter nicht mehr über Perzeption und Umgang
mit den Ereignissen aussagen als über diese selbst. So merken die
Herausgeber zu Recht an, dass es sich bei den schriftlich niedergelegten Aussagen – von Tätern und Opfern – in der Regel um bereits
„gedeutete Wirklichkeit“ (S. 14) handelt. Erschwerend kommt
hinzu, dass oftmals keine anderen Quellen zur Verfügung stehen,
mit deren Aussagen ein kontrastierender Abgleich möglich wäre.
Viele Unterlagen gingen der Nachwelt durch direkte Kriegseinwirkung oder bewusste Vernichtung gegen beziehungsweise nach
Kriegsende verloren. Ein wertvoller Vorzug der Prozessakten, den
die Geschichtswissenschaft zu schätzen wissen sollte, ist die umfangreiche Befragung von Zeitzeugen, deren Ergebnisse Eingang in
die Akten fanden.
Freia Anders beschäftigt sich in ihrem Beitrag (S. 27-37) mit verschiedenen Aktentypen des Justizwesens, die bei der historischen
Auseinandersetzung mit den NS-Prozessen eine Rolle spielen, so
etwa mit Personal-, Haft- und Strafprozessakten. Anders betont,
dass anhand der Strafakten Einsicht in mentale Einstellungen
gewonnen werden könnten, ruft jedoch zugleich die „Interessengesteuertheit von Aussagen oder Vernehmungspraktiken“ (S. 34) in
Erinnerung.
Edith Raim konstatiert in ihrem Beitrag (S. 52-62) zu Recht das Desiderat einer aus den Quellen gearbeiteten Gesamtdarstellung zum
Wiederaufbau des Justizwesens in Westdeutschland nach 1945. Es
ist richtig, dass die Verfolgung der NS-Verbrechen – wie etwa von
französischer Seite beklagt – in der unmittelbaren Nachkriegszeit
auf der Agenda der westdeutschen Justiz nicht ganz oben rangierte,
doch wäre in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Entnaziizierungspraxis in den verschiedenen Besatzungszonen von Interesse
gewesen. Gerade die französischen Besatzungsbehörden taten sich
in dieser Frage nicht durch besonders scharfe Maßstäbe hervor.
Interessant ist der Vergleich mit der NS-Strafverfolgung in der DDR
(Annette Weinke, S. 63-73) und in Österreich (Claudia KuretsidisHaider, S. 74-83): Während die DDR eine „überaus rücksichts-
201
lose Instrumentalisierung der Opferzeugen“ betrieb, die von
„mangelnde[r] Empathie und [...] Desinteresse“ an deren Schicksal
gekennzeichnet war (S. 69), mitunter sogar Aussagen von Opfern
vor westdeutschen Gerichten verunmöglichte, waren in Österreich
bereits 1950 alle Parteien außer der KPÖ gewillt, einen Schlussstrich
unter die Verfolgung von NS-Verbrechen zu ziehen, da es in der Alpenrepublik aufgrund des mangelnden gesellschaftlichen und politischen Willens im „Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland
[...] kein gesteigertes Interesse mehr an einer justiziellen Ahndung
von NS-Gewaltverbrechen“ (S. 82) gegeben habe.
Aus archivischer Sicht vorbildlich ist der Beitrag „Zeithistorische
Quellenkunde von Strafprozessakten“ (S. 98-113) aus der Feder
von Herausgeber Jürgen Finger. Dem Leser werden anhand des
Beispiels des gegen Ilse Koch (Frau des Lager-Kommandanten von
Buchenwald, Karl Koch) vor dem Landgericht Augsburg verhandelten Prozesses Aufbau und Inhalt eines Prozessaktes anschaulich
und verständlich vor Augen geführt. Auf Ergänzungs- und Ersatzüberlieferungen wird verwiesen. Nach kurzer und prägnanter
Einführung in die zeitgenössischen Grundlagen der juristischen
Schriftgutverwaltung wie Aktenordnung, Aktenzeichen und Allgemeines Register (AR) geht Finger auf die Praxis von Bewertung
und Erschließung (inkl. Probleme der Samplebildung) der für
die Erforschung von Strafprozessen relevanten Justizakten in den
aufbewahrenden Archiven ein. Den Hauptteil des Beitrages bilden
die Erläuterungen zu den einzelnen Quellen- bzw. Aktentypen:
Ermittlungsakten, Handakten der Staatsanwaltschaft, Gefangenenpersonalakten, Spruchkammerverfahrensakten, Justizverwaltungsakten, Generalakten. Die annotierte Bibliographie ist im Punkt
„Allgemeine Aktenkunde“ neuerdings um Michael Hochedlingers
„Aktenkunde“ (Wien 2009) zu ergänzen.
Werner Renz widmet sich „Tonbandmitschnitte[n] von NSProzessen als historische Quelle“ (S. 142-153). Es ist bedauerlich,
dass noch immer nicht hinreichend untersucht wurde, wie viele
Tonbandmitschnitte von Prozessen wegen nationalsozialistischer
Gewaltverbrechen heute noch erhalten sind. Insofern ist Renz
uneingeschränkt zuzustimmen: „Es ist dringend geboten, eine weitere Bestandsaufnahme vorzunehmen und die Mitschnitte durch
Digitalisierung zu sichern“ (S. 151). Die annotierte Bibliographie
hält interessante Verweise bereit, etwa zur Frage der Zulässigkeit
und Verwendbarkeit von Tonbandaufnahmen vor Gericht.
Die Bedeutung von Justizakten für die zeitgeschichtliche Forschung, insbesondere für alltagsgeschichtliche Untersuchungen,
veranschaulicht anhand des Beispiels der in Zusammenhang mit
den NS-Prozessen stehenden Täterforschung Stephan Lehnstaedt
(S. 167-179). Er lotet aus, inwiefern Justizakten für die kulturgeschichtliche Forschung – hier als Täterforschung – fruchtbar
gemacht werden können2. Zu Recht hebt Lehnstaedt hervor, dass
einige Aspekte, welche für das Täter-Verhalten von Relevanz waren,
bislang unzureichend erhellt wurden. Dies gelte etwa für situative Momente, die Alltagsumgebung und den individuellen oder
kollektiven Habitus. Als Beispiel für euphemistische Begriffe, die
auch nach Kriegsende noch der Verschleierung des Geschehenen
dienten, nennt Lehnstaedt die „Judenaussiedlung“ und illustriert
in einer dem Text nachgestellten Quelle zu Deportationen nach
Treblinka, wie verräterisch Sprache sein kann – auch und gerade
dann, wenn sie zu Zwecken der Verharmlosung oder der Vertuschung eingesetzt wird. Im Falle später(er) Prozesse mahnt der
Autor zu besonders gewissenhafter Quellenkritik gegenüber den
Zeugenaussagen, denn neben den nach Jahrzehnten zu erwartenden Erinnerungslücken und -fehlern sei mit der „Überlagerung
eigener Erfahrungen und Erinnerungen durch jene ehemaligen
Kameraden oder durch nach dem Krieg erworbenes Wissen aus
Gesprächen oder Publikationen“ (S. 175) zu rechnen. Allerdings
sollte Quellenkritik für den historisch Forschenden selbstverständlich sein.
Dass dies gerade in einem so hoch emotionalen Themenkomplex
wie den Verbrechen des Nationalsozialismus schwieriger sein mag
als in vielen anderen Forschungsbereichen der Geschichtswissenschaften, zeigt Kerstin Brückweh in ihrem Beitrag „Dekonstruktion
von Prozessakten – Wie ein Strafprozess erzählt werden kann“
(S. 193-204) auf. So gehen die Probleme von Erkenntnis und Darstellung tatsächlich weit über das übliche Maß der Quellenkritik
hinaus, da „es sich beim Urteil um eine konstruierte Geschichte
und nicht um Wirklichkeit oder Wahrheit handelt“ (S. 194). Zudem waren die Strafprozesse zu den NS-Verbrechen naturgemäß
täterzentriert3. Am ehesten seien die Ermittlungsakten geeignet,
opferbezogene Informationen zu erhalten, da die entsprechenden
Befragungen unter Ausschluss von Öffentlichkeit, Gerichtspublikum, Angeklagten und Verteidigern stattfanden. Vor dem Hintergrund der geschilderten Ausgangssituation fragt Brückweh,
„inwieweit man über die Prozesse überhaupt an das die justizielle
Tätigkeit auslösende Grundereignis, also das Verbrechen selbst,
herankommt“ (S. 195).
Beschämend sind die Zahlen, welche Sabrina Müller in ihrem Beitrag „Zum Drehbuch einer Ausstellung. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958“ (S. 205-216) präsentiert: Die westdeutsche Justiz verurteilte nach 1945 insgesamt lediglich knapp 6.500 Personen
als NS-Verbrecher, gegen ganze 167 Personen wurden lebenslange
Freiheitsstrafen verhängt. Die niedrigen Zahlen sind unter anderem
auf den Umstand zurückzuführen, dass die Prozesse, die sich mit
NS-Verbrechen befassten, in den 1950er Jahren nahezu zum Erliegen gekommen waren. Erst der Ulmer Einsatzgruppenprozess des
Jahres 1958 markiert einen Wendepunkt. Auch in diesem Prozess
musste „sich die Staatsanwaltschaft weitgehend mit Täterzeugen
begnügen“ (S. 210).
Die konligierenden Rechtsgüter Datenschutz (bzw. Recht auf informationelle Selbstbestimmung) und Forschungsfreiheit thematisiert
Andreas Kunz in seinem Beitrag „Weder Täterschutz noch bürokratischer Selbstzweck. Archivgesetzliche Grundlagen der Benutzung von NSG-Verfahrensakten“ (S. 219-224). Er schildert einen Interessenskonlikt, mit dem sich auseinanderzusetzen in zahlreichen
deutschen Archiven – nämlich überall dort, wo entsprechende
Unterlagen aufbewahrt werden – Alltag sein dürfte. Zutreffend ist
Kunz’ Feststellung, dass die Datenschutzgesetze – und man kann
ergänzen: auch die Archivgesetze bzw. die Benutzungsordnungen –
grundsätzlich nicht zwischen Opfern und Tätern unterscheiden.
Datenschutz und Archivrecht sind es auch, die eine Onlinestellung
der „Datenbank des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin
zu allen westdeutschen Strafverfahren wegen NS-Verbrechen“
verhindern, die Andreas Eichmüller in seinem Beitrag (S. 231-237)
vorstellt. Die Datenbank enthält Informationen zu mehr als 36.000
Verfahren in den westlichen Besatzungszonen und später in der
Bundesrepublik Deutschland gegen etwa 175.000 Beschuldigte. Für
2
3
Den Schwerpunkt auf die Opfer legt jüngst Eva Züchner, Der verbrannte
Koffer. Eine jüdische Familie in Berlin, Berlin 2012.
So stammten weit über 90 % der dem Gericht vorgelegten Aussagen und
Unterlagen in den Darmstädter Kriegsverbrecher-Prozessen nicht von Opfern, sondern von Tätern.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
202
LITERATURBERICHTE
die historische Forschung ist es von großem Vorteil, dass nicht nur
Angaben zu Prozessen, sondern ebenso zu eingestellten Ermittlungsverfahren recherchierbar sind.
Der abschließende Beitrag „Quellen online: Prozessdokumente im
Internet“ (S. 254-259) von Martin Gruner stellt in Kürze amerikanische Projekte vor, die sich der Onlinestellung der Prozessunterlagen des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher
sowie der Nürnberger Nachfolgeprozesse widmen. Während die
Library of Congress den gesamten Bestand der 1949/50 in analoger
Form publizierten Unterlagen des Internationalen Militärtribunals
online verfügbar gemacht hat, ermöglicht das „Avalon Project“
der juristischen Fakultät der Yale University eine Volltextsuche im
vollständig abrufbaren Wortprotokoll des Nürnberger Prozesses.
Die Harvard Law School Library legt den Schwerpunkt ihrer Dokumentensammlung dagegen auf kontextualisierende Unterlagen
sowie auf das Angebot digitalisierter Faksimiles des Quellenmaterials. Der Autor bemängelt das Fehlen einheitlicher bzw. anerkannter Standards für Online-Publikationen, was so – zumindest für
das Jahr 2012 – nicht mehr ganz zutreffend ist. Zu Recht hingegen
moniert er den häuig festzustellenden „Verlust des Akten- und
Überlieferungskontextes“ online zugänglich gemachter Einzeldokumente und problematisiert somit die Frage nach der Authentizität bzw. der Zuverlässigkeit digitaler Unterlagen im Internet.
Die Feststellung, dass die Herausgeber digitaler Editionen deren
Lesern – anders, als bei ähnlich beschaffenen analogen Publikationen – die Kriterien von Auswahl und Bearbeitung vorenthielten,
trifft in dieser verallgemeinernden Form nicht zu. So trivial wie
richtig ist die abschließende Feststellung, wonach davon auszugehen sei, „dass der Umfang digital und online verfügbarer Quellen
weiter zunehmen wird“ (S. 259). Umso wichtiger ist der Hinweis
auf zwei Publikationen, die keinen Eingang in das Literaturverzeichnis gefunden haben bzw. aufgrund des Erscheinungsjahres
inden konnten: J. Meier / A. Ziegler (Hrsg.), Edition und Internet,
Berlin 2004 sowie Chr. Fritze [u. a.] (Hrsg.), Digitale Edition und
Forschungsbibliothek. Beiträge der Fachtagung im Philosophicum
der Universität Mainz am 13. und 14. Januar 2011 (Bibliothek und
Wissenschaft 44/2011), Wiesbaden 2011.
Der Tagungsband leistet tatsächlich einen Beitrag „bei der Erschließung neuer Themen und Quellen der Zeitgeschichtsschreibung“
(Einleitung, S. 19). Sowohl für Historiker als auch für Juristen lohnt
die Lektüre.
Martin Schlemmer, Düsseldorf
WEGE ZUR KONSERVIERUNGSWISSENSCHAFT
Projekte am Studiengang Restaurierung und Konservierung von Graphik, Archiv- und Bibliotheksgut.
Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
2000-2008. Hrsg. von Gerhard Banik. Siegl’s Fachbuchhandlung, München 2010. 143 S., zahlr. farb. Abb.,
brosch. 29,80 €. ISBN 978-3-935643-45-0
Wer unter dem etwas spröden Titel eine trockene Abhandlung
erwartet, wird beim Öffnen dieser Publikation angenehm
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
überrascht: Ein buntes Bilderbuch liegt vor uns, das den Leser
auf jeder Seite mit attraktiven Fotos, Skizzen und Schaubildern zu
einer Reise durch die abwechslungsreiche Welt der Konservierung
einlädt. Gerhard Banik legt hiermit zum vierten Mal eine
Zusammenstellung von Projekten an dem von ihm in den Jahren
1990-2008 geleiteten, bisher einzigen deutschen Studiengang mit
einem Universitätsabschluss in Schriftgutrestaurierung vor. Bereits
die ersten drei noch im Selbstverlag (1998) bzw. bei der Stuttgarter
Kunstakademie (2000) erschienenen Hefte hatten es in sich, aber
mit der jetzt von der Anton Siegl Fachbuchhandlung verlegten
Broschüre wurde eine neue Qualität erreicht: Auf 143 Seiten wird
in noch verbesserter Aufmachung ein wahres Feuerwerk von
aktuellen Entwicklungen aus den Bereichen „Forschung“ (6),
„Kunst auf Papier“ (12), „Materialien in der modernen Kunst“ (2),
„Archiv- und Bibliotheksgut“ (11) und „Fotograie“ (4) gezündet,
mit dem Banik dem Studiengang ein schönes Abschiedsgeschenk
hinterlässt.
Schon beim ersten Durchblättern besticht die bewährte graphische
Gestaltung durch Hellmut G. Bomm. Das einheitliche Layout
der 35 Projekte, die in Diplom- und Semesterarbeiten sowie
seit 2006 auch in Dissertationen behandelt wurden, erinnert
an Poster-Präsentationen auf Fachtagungen, und aus dieser
„Erstverwertung“ ist wohl auch ursprünglich die Idee zur
Aufarbeitung in einem Printmedium entstanden. Das Prinzip,
jedes Thema auf durchschnittlich nur zwei bis drei Seiten (im
Ausnahmefall mehr, aber nie über sechs) darzustellen, erleichtert
auch dem restauratorisch nicht vorgebildeten Leser den Zugang
zu der oftmals komplexen Materie. Eins sei allerdings vorab
klargestellt: Es handelt sich hier nicht um eine Populärfassung
von wissenschaftlichen Arbeiten im Stil eines Coffee-TableBooks! Alle Beiträge erfüllen die fachlichen Standards, auch
die zugrundeliegende Literatur ist angegeben. Die Aufgabe der
jungen Autorinnen und Autoren bestand darin, ihr Thema kurz,
verständlich und anschaulich, aber trotzdem seriös darzustellen.
Allein dazu, dass er diese didaktische Herausforderung so
überzeugend gemeistert hat, kann man Gerhard Banik nur
gratulieren.
Eröffnet wird die Publikation mit einem programmatischen
Beitrag des Herausgebers. Darin erläutert er, was
Konservierungswissenschaft bedeutet und wie sie in die
Ausbildung akademischer Restauratoren eingebracht
werden kann. Seit dem Jahr 2002 können Absolventen
eines akademischen Studiengangs der Papierrestaurierung
an der Stuttgarter Kunstakademie auch promovieren,
ein Indiz für die zunehmende Verwissenschaftlichung
des früher von Laien eher im handwerklichen oder auch
künstlerischen Bereich angesiedelten Berufs des Restaurators.
Die Konservierungswissenschaft ist als neues Paradigma laut
Banik klar von der Archäometrie oder der „Conservation
Science“ als Teilgebieten der Naturwissenschaften abzugrenzen.
„Gemeint ist damit, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse
für die Restaurierung nur dann Bedeutung haben, wenn sie
in die systematische Entwicklung restauratorischer Methoden
einließen.“ Eine Verselbständigung der naturwissenschaftlichen
Untersuchungen soll vermieden werden. Restauratorinnen und
Restauratoren, die auf dem (von ihnen selbst zu deinierenden)
Gebiet der Konservierungswissenschaft arbeiten, haben die
Aufgabe, Entwicklungsziele für Restaurierungstechniken
zu bestimmen, neue Erkenntnisse aus technischer oder
naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung in die Anwendung
203
zu überführen und zu überprüfen, ob und wie die gestellten Ziele
erreicht werden.
Banik beklagt, dass im deutschen Sprachraum ein Mangel
an Grundlagenliteratur zur Konservierungswissenschaft in
Bezug auf Schriftgut und Graphik besteht und fremdsprachige
Lehrbücher wenig rezipiert werden. Die akademische Ausbildung
wird dadurch erschwert. Eine zusätzliche Herausforderung für
die Hochschulen besteht in der nach Einführung des BolognaProzesses erforderlichen Umstrukturierung der Studiengänge
zum Angebot verschiedener Ausbildungsgrade. Für die
Schriftgut- und Graphikrestaurierung mit Master-Abschluss oder
Promotion bedeutet dies eine verstärkte Berücksichtigung von
Lehrinhalten zur Methodologie wissenschaftlichen Arbeitens. Die
Studierenden müssen lernen, Problemstellungen zu deinieren,
Forschungsprojekte zeitlich und inhaltlich zu strukturieren und
ihre Arbeiten am Ende auch transparent und nachvollziehbar
darzustellen. Die in der Broschüre versammelten Beiträge sind
Beispiele für eine solche Darstellung von Ergebnissen aus der
Konservierungswissenschaft.
Nach dem visionären Plädoyer von Eva Galinsky, einer Absolventin
des Stuttgarter Studiengangs, für ein Engagement aller Beteiligten,
den heutigen Anforderungen des Kulturgutschutzes gerecht
zu werden, eröffnet Irene Brückle, Nachfolgerin von Gerhard
Banik auf dem Lehrstuhl der Kunstakademie, das Kapitel
„Forschung“ mit einem Aufsatz über die Wechselwirkung von
Theorie und Praxis in der Restaurierung, mit dem sie gleichzeitig
die Perspektiven ihrer eigenen Lehr- und Forschungstätigkeit
in Stuttgart aufzeigt. Das Konzept beider Wissenschaftler wird
in ihrem kürzlich erschienenen, umfassenden Lehrbuch über
Wasser in der Papierrestaurierung deutlich, das bisher leider nur
in englischer Sprache vorliegt (Banik/Brückle: Paper and Water. A
Guide for Conservators. Elsevier Oxford/Burlington 2011).
Die Spannweite der nun folgenden Projekte reicht von der
Darstellung praktischer Arbeitsabläufe und Handgriffe
(Anfertigung eines Konservierungseinbandes oder eines
Karibari-Trocknungspaneels) bis zur Grundlagenforschung in
der Papieranalytik. Für Archivare besonders interessant sind die
Beiträge zu den klassischen Problemen Tintenfraß, Klebebänder,
Entsäuerung, Lagerung und Verpackung. Die gemeinsam mit
kommerziellen Partnern entwickelten Geräte werden vorgestellt:
Es sind dies die Albertina-Kompresse, eine Lichtbleichbank,
eine Planglättanlage, eine Board Slotting Maschine, ein
Aerosolgenerator und als letztes die in der Fachöffentlichkeit große
Resonanz indende Kartenreinigungsanlage „Gothana“.
Die meisten Beiträge (16) sind in deutscher Sprache verfasst, fünf
auf Deutsch und Englisch, einer auf Deutsch und Tschechisch,
einer auf Englisch und Tschechisch und 12 nur in englischer
Sprache.
Im nützlichen Anhang indet man eine Liste aller veröffentlichten
Diplomarbeiten und Dissertationen, die am Stuttgarter
Studiengang entstanden sind, und die Anschriften aller
Autorinnen und Autoren dieser Publikation, die mit 29,80 EUR
sehr preiswert angeboten wird.
Zwei Kritikpunkte schmälern ihren Reiz nur unwesentlich: Zum
einen ist die Schrift sehr klein. Dies ist wahrscheinlich sowohl
technisch als auch inhaltlich bedingt: Die Beiträge sollen wohl
mit dem gleichen Layout auch als Poster Verwendung inden
und das jeweilige Projekt wissenschaftlich fundiert darstellen,
und das ist bei einer Beschränkung auf ein bis zwei Seiten, die
großzügige Bebilderung mitgerechnet, nur mit viel und daher klein
gedrucktem Text zu machen. Man kann sich daran gewöhnen,
aber wenn zusätzlich noch, etwa auf S. 74, Tabelleninhalte mit
einer Gesamtzeilenhöhe (inklusive Zeilenabstand!) von zwei
Millimetern auftauchen, dann freut sich nur ein stark kurzsichtiger
Leser.
Zum anderen vermisst man bei den einzelnen Projekten Angaben
darüber, ob sie im Rahmen einer Diplomarbeit, Dissertation
oder Semesterarbeit und vor allem wann sie (unabhängig vom
Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung) durchgeführt wurden. Diese
Informationen wären zur Einordnung in die Fachliteratur und für
den Austausch zwischen Kollegen sehr hilfreich.
Die Publikation belegt jedenfalls eindrucksvoll, wie ertragreich der
in Stuttgart eingeschlagene Ausbildungsweg ist, und zwar nicht
nur für die Studierenden selbst, sondern auch für die Archiv- und
Bibliothekswelt und das auch über die Grenzen Deutschlands
hinaus. Mit berechtigtem Stolz erwähnt Banik in der Einführung,
dass auf dem Gebiet der Papierrestaurierung in den letzten Jahren
nahezu alle angebotenen attraktiven Führungspositionen (nämlich
15) in Lehre, Forschung, Archiven, Bibliotheken und Museen, mit
Absolventinnen und Absolventen des Stuttgarter Studiengangs
besetzt worden sind, davon auch einige in Österreich,
Großbritannien und den Niederlanden.
Dass ein solcher Erfolg nicht mit den Haushaltsmitteln der
Akademie allein erzielt werden konnte, leuchtet jedem ein. Dass
dem Studiengang allerdings in den 16 Jahren zwischen 1992
und 2008 mit den 29 (verschiedenen!) Projektpartnern auch
1,8 Millionen Euro Drittmittel (Stipendien nicht eingerechnet)
zugelossen sind, sollte für die Zukunft berücksichtigt werden,
wenn man auch weiterhin eine gute Hochschulausbildung
sicherstellen möchte.
Umgekehrt sollten alle „Nutzer“ des Studiengangs, und das sind
nicht nur die zukünftigen Arbeitgeber, sondern alle in der Archiv-,
Bibliotheks- und Museumspraxis Tätigen, von den aktuellen,
mit nicht unerheblichem Aufwand erreichten Ergebnissen der
Konservierungswissenschaft proitieren. Ein erster Schritt in diese
Richtung bietet sich mit der Lektüre dieses Bandes an, dem eine
weite Verbreitung zu wünschen ist.
Anna Haberditzl, Ludwigsburg
ZWANGSARBEITERFORSCHUNG IN DEUTSCHLAND
Das Beispiel Bonn im Vergleich und im Kontext neuerer Untersuchungen. Hrsg. von Dittmar Dahlmann,
Albert S. Kotowski, Norbert Schloßmacher und Joachim Scholtyseck. Klartext Verlag, Essen 2010. 320 S.,
brosch. 24,95 €. ISBN 978-3-89861-856-4 (Migration in
Geschichte und Gegenwart, Bd. 4)
Der 2010 erschienene Sammelband ist aus der gleichnamigen
Tagung im Bonner Haus der Geschichte am 6. und 7. April
2006 hervorgegangen, einer Veranstaltung, die ein kooperatives
Projekt des Instituts für Geschichtswissenschaft der Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und des Stadtarchivs Bonn
abschloss.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
204
LITERATURBERICHTE
Der erste Teil des Bandes widmet sich überregionalen Themen,
wohingegen sich der zweite Teil mit Regionalstudien zum Rheinland befasst.
Obwohl Joachim Scholtyseck die wichtigsten Erkenntnisse und
Fragestellungen der Zwangsarbeitsforschung in der lesenswerten
Einleitung des Bands auf aktuellem Stand darstellt, verwundern
doch am Ende einige seiner Folgerungen, die in ihrer Formulierung beinahe als verharmlosend missverstanden werden könnten.
Seinem Satz, dass die allgegenwärtige Angst im nationalsozialistischen Deutschland „das Sich-Verschließen vor dem tagtäglichen
Unrecht zumindest nachvollziehbar“ mache, wird man wohl
zustimmen. Daraus aber zu folgern, dass sich „die Frage nach
möglichen Handlungsalternativen […] unter diesem Aspekt als
recht theoretisch“ erweise, wird den Leser zumindest veranlassen,
über die Freiheit und die Plichten des Zoon politikon erneut zu
relektieren, ganz abgesehen davon, dass diese Aussage neueren
Forschungsergebnissen widerspricht.
Albert S. Kotowski gibt einen sehr gut zu lesenden Überblick
über die Rekrutierung der Zwangsarbeiter im besetzten Polen
und behandelt mit der Situation in den Aushebungsgebieten und
insbesondere durch die Konzentration auf die Arbeitsmarktpolitik der NS-Verwaltung eines der jüngeren Forschungsobjekte
der Zwangsarbeiterforschung. Er kann dabei auf in Deutschland
weniger bekannte polnischsprachige Untersuchungen aufbauen
und sich auf einschlägige Quellenpublikation wie etwa die „Documenta occupationis“ stützen.
Die „Documenta occupationis“ sind auch für den rechtsgeschichtlichen Beitrag von Andrea Renner-Palat eine wichtige
Quellenbasis. Sehr übersichtlich beschreibt sie die rechtliche Lage
und die strafrechtliche Behandlung der polnischen Zwangsarbeiter im Reich. Angesichts dessen, dass der „Ausländereinsatz“ zur
Bildung neuer Rechtsgefüge für eine ausgegrenzte Gruppe von
Menschen führte, ist eine derartige überblicksartige Darstellung
der Thematik, über die die Autorin auch promovierte, eine sehr
nützliche Handreichung aus der Feder einer Kollegin von der
juridischen Fakultät. Die Verfasserin gibt einen Gesamtüberblick
und macht Kohärenzen auch durch zahlreiche Zitate aus allen
Ebenen der einschlägigen Rechtsvorschriften sichtbar. Auch lässt
sie mit der Erwähnung der „Richterbriefe“ die Bedeutung des Juristenrechts nicht aus. Es lässt sich erkennen, welche Konkurrenz
von Polizei- und Justizbehörden bestand, welche Eitelkeiten und
Animositäten die rechtlichen Entwicklungen beeinlussten, und
wie doch von Justiz im Sinne der hehren Justitia selbst in formalpositiver Hinsicht kaum mehr die Rede sein konnte.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Keine lüssig eingängige, aber dennoch lesenswerte Lektüre ist der
Aufsatz über die Rekrutierung ziviler Zwangsarbeiter in der Sowjetunion von Pavel Poljan. Der Leser muss sich auf einen gehaltvollen Zahlenmarathon einstellen. Poljan befasst sich ausführlich
mit den Rekrutierungsverhältnissen in den operativen Gebieten,
die sich unter Militärverwaltung befanden. Damit betritt er einen
Bereich, in dem noch einige Forschungsarbeit zu leisten ist.
Manfred Grieger behandelt den Forschungsbereich Industrie
und NS-Zwangsarbeitssystem. Er gibt eine Zwischenbilanz
des Forschungsstands, was auch erklärt, dass er sich nicht auf
Primärquellen bezieht. Der Fokus sollte auf dem Aspekt der
betrieblichen Integration von Zwangsarbeit in den arbeitsteiligen
Produktionsprozess liegen. Der Leser erfährt zwar nichts grundlegend Neues, bekannte Fakten werden aber teils sehr ausgeglichen
ins Detail geführt, wobei insbesondere Griegers starke Berücksichtigung der rassischen Hierarchisierung ins Auge sticht. Der
Autor erreicht den Zweck seiner Veröffentlichung sehr gut, indem
er eine ausgewogene und angenehm zu lesende Darstellung des
erreichten Forschungsstands liefert.
Mit Uwe Kaminsky gewinnt der Band wohl einen der besten
Kenner der Thematik im Bereich der evangelischen Kirche als Beiträger. Leider steht der Aufsatz etwas isoliert, und man hätte sich
eine Flankierung aus katholischer Sicht gewünscht. Damit endet
der erste, der überregionale Teil des Sammelbands.
Es folgen nun sechs weitere Aufsätze, die einen lokalen oder
regionalen Schwerpunkt im Rheinland und schwerpunktmäßig in
Bonn haben. Dabei werden Fragen hinsichtlich der Situation der
Fremdarbeiter aus westeuropäischen Ländern, italienischer Militärinternierter und der Einsatz von Kriegsgefangenen behandelt.
Die Komposition des Bandes aus Beiträgen zur überregionalen
und gewissermaßen internationalen Gesamtschau auf der einen
Seite und aus Lokal- und Regionalstudien auf der anderen Seite
wirkt doch etwas künstlich und erschließt sich dem Leser nicht
ohne Weiteres. Da auf die Regionalstudien auf dem Covertitel
nicht hingewiesen wird, trifft der Leser nicht unbedingt auf den
zunächst erwarteten Inhalt.
Bemerkenswert ist das Literaturverzeichnis auf 25 Seiten, das
auch einige Titel enthält, die in der zentralen Bibliographie im
Online-Portal des Bundesarchivs „Zwangsarbeit im NS-Staat“
nicht zu inden sind. Abkürzungs-, Personen- und Ortsregister
sowie kurze Viten der Autoren runden den Band ab. Mit seinen
269 Seiten ist das die Forschungslandschaft bereichernde Buch
auch handlich und leserfreundlich geblieben.
Karsten Kühnel, Bad Arolsen
MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE
DES LANDESARCHIVS NRW
205
WAS GEHÖRT IN EIN EAD-PROFIL
FÜR ARCHIVPORTALE?
ERFAHRUNGEN ZUM IMPORT VON EADDATEN IN DAS PORTAL „ARCHIVE IN
1
NRW“
Das Internetportal „Archive in Nordrhein-Westfalen“ ist vermutlich das älteste und sicher bis heute auch eines der größten
regionalen Archivportale im Netz. Beides erfüllt das Landesarchiv
Nordrhein-Westfalen mit Stolz; beides aber birgt auch Probleme.
Denn groß und alt heißt zugleich: überkommene Datenformat,
vor allem beim Import von Erschließungsinformationen, und
große Mengen an Erschließungsinformationen, die so nur bedingt in anderen Kontexten nachnutzbar sind. Als das NRW-Portal 1998 startete, war es noch üblich, Beständeübersichten als Textdateien mit Steuerzeichen zu importieren; solche Dateien wurden
von den Archiven nicht selten auf Diskette bereitgestellt. Für den
Findbuch-Import seit 2007 wurde dann das Format SAFT-XML
verwendet, das im Rahmen des ersten DFG-Projekts zur Retrokonversion von Findmitteln unter Federführung der staatlichen Archive in Nordrhein-Westfalen entwickelt wurde. Schon
damals, 2006/2007, zeichnete sich im internationalen Kontext die
wachsende Bedeutung von EAD ab. Man ging dennoch seinerzeit
davon aus, dass SAFT die deutschen Verzeichnungstraditionen
zumindest partiell besser abbilden könne als EAD (was vielleicht
auch tatsächlich der Fall ist); immerhin waren die Kolleginnen
und Kollegen so umsichtig, die Struktur von SAFT-XML an der
von EAD zu orientieren und wenigstens in nuce auch eine Art
von Mapping bereits anzulegen. Das kommt dem Landesarchiv
als Portalbetreiber jetzt zugute. Heute spielt SAFT international,
aber auch national keine große Rolle mehr, teilweise ist das Format auch im jüngeren Kollegenkreis kaum noch bekannt. EAD
hat sich durchgesetzt. Und damit ist klar, dass auch die Zukunft
des nordrhein-westfälischen Archivportals nicht zuletzt von der
Verarbeitungsfähigkeit und Kompatibilität mit EAD abhängt,
zumal für das kommende Archivportal D EAD als Importformat
gefordert ist.
Im Rahmen einer umfassenden Weiterentwicklung, die neben
einer Überarbeitung des Layouts auch die Anzeige von Archivgutdigitalisaten im Portal ermöglicht (siehe dazu den Erläuterungstext im Anschluss an diesen Beitrag), hat das Landesarchiv NRW
im letzten Jahr beim Landesbetrieb Information und Technik
NRW die Einrichtung einer EAD-Importschnittstelle beauftragt.
Diese Importschnittstelle steht inzwischen zur Verfügung und hat
die ersten Tests erfolgreich durchlaufen.
Um die Funktionsweise der Schnittstelle zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf die Technik des Archivportals NRW hilfreich: Die
Infrastruktur des NRW-Archivportals basiert auf einer OracleDatenbank. Die einzelnen XML-Tags, bislang im SAFT-Format,
werden beim Import von Findmitteln in Felder einer Tabellenstruktur überführt. Das Mapping dazu reduziert die ursprüngliche Komplexität der Beständeübersichten und Findbücher, indem
es eine ganze Reihe von XML-Tags ignoriert und vor allem in einzelnen Datenbankfeldern den Inhalt mehrerer Tags zusammenführt. Das Prinzip ist beim EAD-Import im Prinzip das gleiche:
Ausgewählte Tags und Gruppen von Tags werden in Felder einer
Datenbank eingelesen. Einmal in der Datenbank gespeichert,
können die Findmittel bei Bedarf als XML-Dateien wieder exportiert werden; momentan nur statisch als SAFT-XML-Dateien,
perspektivisch aber auch als dynamisch generierte EAD-Dateien,
die über einen Harvester ins Archivportal D übernommen werden können. Dass wir uns in Nordrhein-Westfalen sowohl für
den Import als auch für den Export auf ein relativ schmales EADProil mit nur wenigen Tags beschränken, hat mehrere Gründe.
Natürlich ist die Entscheidung auch ökonomisch motiviert: Je
weniger Tags gemappt werden müssen, desto geringer ist der
Programmieraufwand für die Schnittstelle. Je weniger Felder die
Tabellenstruktur besitzt, desto geringer ist das Gesamtvolumen
der Datenbank. Auch wenn Speicherplatz heute im Prinzip nichts
mehr kostet, spielen für gesicherten Speicherplatz vor Ort Kostengesichtspunkte nach wie vor eine nicht unerhebliche Rolle. Dieser
Faktor fällt bei über 2.000 Findbüchern im NRW-Portal (Stand:
Januar 2012) durchaus ins Gewicht. Für eine einfache Datenbankstruktur und ein begrenztes Datenvolumen spricht neben diesen
Ressourcengesichtspunkten aber auch eine bessere Performanz
bei der Suche. Der Regelfall der Suche im Archivportal NRW ist
1
Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 2. November 2011 auf der
Mapping-Konferenz des APEnet-Projektes im Bundesarchiv Berlin gehalten
habe (vgl. www.bundesarchiv.de/archivgut_online/laufende_projekte/apenet/projektpapiere/02828/index.html). Der Text des Vortrags wurde an einigen Stellen geringfügig überarbeitet und das Zahlenmaterial aktualisiert.
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206
MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE
DES LANDESARCHIVS NRW
die Volltextsuche, auch wenn wir Archivarinnen und Archivare uns vielleicht anderes wünschen und unseren Nutzerinnen
und Nutzerinnen immer wieder auch eine speziizierte Suche
nahelegen. Die Volltextsuche muss im NRW-Portal zurzeit etwa
1,1 Mio. Verzeichnungseinheiten bewältigen, Tendenz steigend. Je
einfacher das Datenmodell, desto schneller die Geschwindigkeit
bei der Suche. Je mehr Daten ein Portal verwalten muss, desto
schlanker muss im Prinzip die Datenstruktur sein. Schließlich
und endlich ist ein schmales EAD-Proil und damit ein schlankes
Mapping in die Datenbank aber auch fachlich geboten; das ist
vielleicht das wichtigste Argument. Archivportale stellen – schon
auf regionaler Ebene – Aggregationsebenen der Erschließung
dar. Nicht alle Erschließungsinformationen können bereitgestellt
werden, sondern nur die wichtigsten. Portale sollen die Verwaltung und Präsentation von Erschließungsinformationen vor Ort
nicht ablösen, sondern sie müssen im Gegenteil – je konkreter
der Informationsbedarf der Nutzer ist, desto stärker wieder auf
die Ursprungssysteme zurückverweisen. Angesichts der schon
bestehenden und sich für die Zukunft abzeichnenden Vielfalt an
Portalen ist es m. E. sinnvoll und geboten, Erschließungsinformationen hierarchisch zu staffeln. Dadurch ergibt sich eine vernünftige Aufgabenteilung zwischen Portalen und können gleichzeitig
die Redundanzen, die sich bei der Datenhaltung und -bereitstellung zwangsläuig ergeben, minimiert werden. Ein weiterer
Gesichtspunkt ist mindestens ebenso wichtig: Ein Portal führt
Erschließungsinformationen zusammen, die unterschiedlichen
Prinzipien und Traditionen der Verzeichnung verplichtet sind
und sich in technischer Hinsicht aus unterschiedlichen Systemen
speisen. Auch die Intensität der Erschließung variiert – auf die
Fülle der Findbücher gesehen – stark. Um diese Vielfalt handhabbar zu machen, hat sich, zumindest im NRW-Portal, bislang eine
schlanke Datenstruktur bewährt und vor allem deshalb wurde
diese schlanke Datenstruktur auch für den EAD-Import beibehalten. Eigentlich reichen Signatur, Titel und Laufzeit, der Link
auf die Digitalisate (falls vorhanden) und vielleicht auch noch ein
– wie auch immer gearteter – Enthält-Vermerk, der ja durchaus
verschiedenartige Informationen aufnehmen kann. Ich gehe
davon aus, dass über die genannten Kernelemente archivischer
Erschließung und deren Interpretation relativ leicht ein Einverständnis zu erzielen ist, das auch über die einzelnen Institutionen, Sparten und Archivaliengattungen hinweg Akzeptanz inden
kann. Das heißt: Hier ist gewissermaßen eine „prästabilisierte
Harmonie“ zu erwarten, die auf dem Wege von Abstimmungen
in einem großen, potentiell unbegrenzten Kreis von Portalteilnehmern kaum zu erzielen ist. Ganz wichtig ist natürlich, dass alle
Elemente archivischer Erschließung eingebunden sind in eine
Struktur von Klassiikations- und Tektonikstufen; das unterscheidet ja die archivische Ordnung und Verzeichnung von der
Erschließung in anderen Kultureinrichtungen. Wir haben deshalb
beim Archivportal NRW sehr genau darauf geachtet, dass die
Struktur eines EAD-Findbuchs sauber im Portal abgebildet wird,
und zwar unabhängig davon, ob z. B. das Component-Element
nummeriert oder unnummeriert verwendet wird. Die Anforderungen, die das Archivportal NRW damit an die EAD-Dateien
für den Import stellen, sind denkbar gering und damit im Prinzip
auch die Hürden für die beteiligten Archive, mit ihren Findmitteln ins Portal zu gelangen. EAD-Dateien werden deshalb
im NRW-Portal auch nicht validiert. Wir hatten zunächst eine
Validierung vorgesehen, haben dann aber feststellen müssen, dass
auch die Findbuch-Dateien aus den großen Archiven mit bester
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
EAD-Expertise keinesfalls durchgängig valide sind; die EADProile sind also inzwischen so vielfältig, dass sie selbst von der
vergleichsweise offenen und komplexen EAD-DTD nicht mehr
vollständig erfasst werden können. In dieser Situation verfährt
das NRW-Portal pragmatisch. Es durchläuft entlang der Component-Tags die Struktur der Datei, sucht sich bei jeder Verzeichnungseinheit die Kerninformationen heraus, speichert sie in der
Datenbank ab und ignoriert den Rest. Die Testläufe haben gezeigt,
dass mit diesem pragmatischen Verfahren tatsächlich EAD-Dateien aus ganz unterschiedlichen Quellen in zwar reduzierter Form,
aber weitgehend fehlerfrei in das Archivportal NRW eingelesen
werden können.
Das Verfahren und auch das dahinter stehende Problem sind
natürlich in der XML-Welt und auch in der im weitesten Sinne
archivischen XML-Welt nicht neu. Das Landesarchiv NRW
arbeitet neben den Findbüchern in SAFT- oder EAD-XML auch
mit elektronischen Editionen, die nach dem Regelwerk der Text
Encoding Initiative als XML-Dateien erfasst und abgelegt werden.
Als wir vor etwa acht Jahren mit der Arbeit an einer XMLbasierten Edition der Kabinettsprotokolle der Landesregierung
von Nordrhein-Westfalen begonnen haben, war das zugrundeliegende TEI-Format äußert differenziert und die Dateien am Ende
auch nicht wirklich valide. Als wir vor zwei Jahren den Auftrag
zur Retrodigitalisierung älterer Buchbände der gleichen Edition
vergeben haben, iel unsere Entscheidung – nicht zuletzt aus
Kostengründen – auf ein reduziertes XML-Proil, das im Falle
von TEI allerdings schon fertig vorliegt, nämlich als TEI-Lite. Die
Entwickler von TEI-Lite behaupten, dass mit der begrenzten Zahl
der Elemente 90 % der Anforderungen von 90 % der TEI-Nutzer
erfüllt werden; unsere Erfahrungen bestätigen das und wir stehen
jetzt davor, die ursprünglich sehr aufwändig erfassten Texte der
Edition auf das einfache Format zu reduzieren. Ich glaube, wir
brauchen auch für die Archivportale generell, ob regional, national oder supranational, ein Format EAD-Lite. Und eigentlich ist
ja auch die EAD-Arbeitsgruppe ursprünglich mit der Intention
angetreten, ein solches reduziertes EAD-Format für das Archivportal D zu entwickeln. Ich selbst war Mitglied dieser Arbeitsgruppe und natürlich trägt auch Nordrhein-Westfalen das Ergebnis dieser Arbeitsgruppe (siehe dazu den Beitrag von U. Fischer,
W. Krauth, S. Schieber und Chr. Wolf in diesem Heft, S. 160-162)
mit. EAD-Dateien nach dem Proil der EAD-Arbeitsgruppe wird
das Portal „Archive in NRW“ in jedem Fall verarbeiten können
und es wird sie mittelfristig auch an ein Archivportal D weitergeben können – vermutlich aber nicht mit allen MUSS- und
KANN-Feldern, die das Proil vorschreibt. Zurzeit gehen die Planungen (nicht zuletzt mit Blick auf die umfangreichen Bestandsdaten) davon aus, dass die Weiterleitung von EAD-Findmitteln
an das Archivportal D über einen dynamischen Export aus der
Datenbank bewerkstelligt werden wird. Dabei kann natürlich nur
weitergegeben werden, was in der Datenbank auch vorhanden
ist, also nur ein begrenztes Set von Erschließungsdaten. Dies entspricht aber aus meiner Sicht auch der Intention des Archivportals D. Denn im Vergleich zum Regionalportal „Archive in NRW“
stellt das nationale Archivportal noch einmal eine höhere Ebene
der Aggregation dar und es sollte deswegen auch tendenziell
weniger, allenfalls gleich viele, nicht aber mehr Erschließungsdaten vorhalten. Bei nationalen und erst recht bei supranationalen
Portalen bleibt die Datenfülle technisch nur handhabbar und für
die Nutzerinnen und Nutzer intellektuell bewältigbar, wenn die
Erschließungsinformation auf ihre wesentlichen Bestandteile re-
207
duziert wird. Die Archive tun gut daran, beim EAD-Mapping für
übergreifende Portale den Pareto-Effekt mit zu berücksichtigen:
Mit 20 % der EAD-Elemente, können 80 % der Nutzerbedürfnisse abgedeckt werden. Ich glaube sogar, dass man höchstens 5 %
der Tags aus der EAD-Gesamtheit benötigt, um mindestens 95 %
der Nutzerwünsche gerecht zu werden.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Mein Plädoyer für
ein einfaches, auf wenige Elemente beschränktes Mapping bezieht
sich nur auf den „Ingest“ für die großen Portale. Man kann
EAD natürlich auch anders verwenden, als Austauschformat im
Rahmen der Retrokonversion zum Beispiel oder als gemeinsame
Datengrundlage für spezialisierte Kooperationsprojekte. In diesen
Fällen würde das Subset von EAD größer und differenzierter
ausfallen und müsste auch das Mapping in andere Datenformate
dieser größeren Komplexität Rechnung tragen. Grundsätzlich
legt auch der Trend zum Semantic Web und Linked Data eine
differenzierte Erfassung von Erschließungsinformationen nahe.
Personen- oder Ortsnamen z. B. können nur im Netz verknüpft
werden, wenn sie als eigenständige Elemente der Verzeichnung in
normalisierter Form ausgewiesen und so auch technisch separiert
sind. Wo aber in den Archiven gibt es noch eine solche Verzeichnung? Sicherlich bei der Erschließung älterer Bestände, vor allem
im Bereich der Urkundenerschließung; allerdings sind – zumindest im Landesarchiv NRW – im Rahmen der Retrokonversion
keinesfalls alle Indizes mit übernommen worden. Eine differenzierte Erschließung gibt es sicherlich auch in einigen Spartenarchiven, z. B. in Literaturarchiven, die teilweise eine sehr intensive
Verzeichnung von Nachlässen oder Korrespondenzen betreiben.
Auf die Masse der archivischen Verzeichnungsergebnisse gesehen,
dürfte jedoch eine eher einfache Erschließung dominieren. Schon
seit vielen Jahren gibt es diesen Trend zur lachen Erschließung
und mit Blick auf die Ressourcenlage der Archive gehe ich davon
aus, dass dieser Trend sich eher verstärken als umkehren wird
– allen Bemühungen des Semantic Web zum Trotz. Vor diesem
Hintergrund wäre es m. E. verfehlt, Erschließungsstandards,
Verzeichnungsmasken, aber auch Datenproile überkomplex
anzulegen mit der Folge, dass sich erhebliche Mappingaufwände
(und -kontroversen) ergeben für Felder, die am Ende sowieso
größtenteils unbelegt bleiben.
Am Ende noch einige kurze Bemerkungen zur Einbindung von
Digitalisaten in das Archivportal NRW. Auch das war bei uns
ein ganz wesentlicher Teil der Weiterentwicklung. Technisch
basiert im NRW-Portal die Anbindung von Digitalisaten an
die Findmittel über Referenzen in einer METS-XML-Datei. Wir
folgen damit dem Ansatz des <daoind>-Projekts des Bundesarchivs, indem wir Links auf die Digitalisate nicht direkt in die
EAD-Datei einbinden, sondern die EAD-Datei nur mit einer
Referenz auf die METS-Datei versehen, die dann ihrerseits pro
Verzeichnungseinheit als Container für die Digitalisat-Verweise
dient. Es hat mich in der EAD-Arbeitsgruppe überrascht, dass
die Verbindung von EAD und METS mittlerweile offenbar nicht
mehr überall als geeignetes Instrument zur Verknüpfung von
Findbuch und Digitalisaten angesehen wird, sondern dass andere
Archive dazu tendieren, die Verweise auf die Digitalisate direkt in
die EAD-Datei zu schreiben. Natürlich gibt es diese Möglichkeit
im EAD-Standard. Bei der Konzeption der Digitalisatanzeige im
NRW-Archivportal war allerdings für uns der leitende Gesichtspunkt auch hier das Bemühen um ein schlankes EAD-Proil. Und
zur Verschlankung des EAD-Proils trägt auch ein „Outsourcing“
der Digitalisat-Verweise bei. Sieht man einmal davon ab, dass
METS der Quasi-Standard der DFG für Digitalisierungsprojekte ist, dass er durch den DFG-Viewer unterstützt und auch
spartenübergreifend, vor allem bei den Bibliotheken, akzeptiert
und praktiziert wird, so spricht für die Verwendung von METS
im Kontext von Portalen auch und vor allem der Umstand, dass
mit diesem Standard eine Vielzahl von Digitalisaten verwaltet
werden können, ohne dass diese Digitalisate selbst oder auch nur
deren Metadaten überhaupt von System zu System weitergegeben
werden müssen. Ich denke vor allem an die großen Bestände mit
unzähligen, teils voluminösen Aktenbänden. Technisch können
wir natürlich auch bei diesen Beständen die Bildverweise in die
EAD-Datei mappen, das Ergebnis aber wären große, teils sehr
große Dateien, die zwischen den Portalen hin- und hergeschoben werden müssten. Noch dazu müsste jede Änderung bei der
Bezeichnung oder dem Speicherort von Bilddateien von den
Archiven in den EAD-Dateien nachvollzogen werden. Das alles
ist aus meiner Sicht viel einfacher zu leisten, wenn nicht nur die
Bilddateien selbst, sondern auch die Metadaten dazu vom Archiv
selbst verwaltet und auch auf den Webservern der Archive selbst
(und nur dort) gespeichert werden. Der DFG-Viewer z. B. ist in
der Lage, sich eine METS-Datei von jedem beliebigen Webserver
zu holen und die darin enthaltenen Links auf Archivalienabbildungen anzuzeigen. Im Interesse einer Verschlankung des Datenstroms im Netz sollten die für Portale bestimmten EAD-Dateien
der Archive (zur Tektonik wie zu den Findmitteln) nur diejenigen
Angaben enthalten, die vom Portal tatsächlich zur Präsentation
und Recherchierbarkeit der Erschließungsinformationen benötigt
und verarbeitet werden müssen; gleichzeitig sollten Erschließungsinformationen, die unabhängig voneinander geplegt werden und die unterschiedlichen Aktualisierungszyklen unterliegen,
auch im Datenmodell des Archivportals separiert werden. In den
Vorüberlegungen der EAD-Arbeitsgruppe für das Archivportal D
wurde dieser Gedanke (nach intensiver Diskussion) zum Beispiel
durch die Unterscheidung zwischen Tektonik- und FindbuchEAD umgesetzt. Vermutlich wäre es sogar – so mein Eindruck
im Nachhinein – noch konsequenter gewesen, wenn wir für die
Beständeübersichten gleich EAG verwendeten hätten. Denn für
diesen Zweck ist EAG wahrscheinlich der geeignetere, allerdings
bislang weniger etablierte Standard. Wir werden deshalb auch in
NRW EAG vorerst (noch) nicht einsetzen.
Mit Blick auf die Komplexität und Vielzahl technischer Erschließungs- und Metadatenstandards und die daraus resultierenden
Mapping-Aufwände möchte meine Erfahrungen und Entscheidungen aus der Weiterentwicklung des Portals „Archive in NRW“
noch einmal in vier Thesen zusammenfassen:
1. Für die meisten Anwendungsfälle im Kontext von Portalen
empiehlt es sich, technische Erschließungsstandards in einer
sehr reduzierten Form zu verwenden, konzentriert auf wenige
Kernelemente. Bei diesen Kernelementen sollte in der Regel das
Verständnis in der archivischen Fachgemeinschaft einigermaßen einheitlich und damit auch ein pragmatisches Mapping
auf andere Formate eindeutig, rasch und ohne größere Konlikte zu leisten sein.
2. Je höher die Aggregationsebene und je ausgeprägter die Vernetzung archivischer Findmittel mit Beständeinformationen aus
Museen, Bibliotheken und anderen Kultureinrichtungen, desto
einfacher bzw. lacher darf und sollte die Datenstruktur der Erschließungsinformation ausfallen. Der Rücklink (und – nicht
zu vergessen – die Recherche und Prüfung in den Archiven vor
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
208
MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE
DES LANDESARCHIVS NRW
Ort) ermöglicht nach einer ersten Vorauswahl immer noch den
Zugang zu weiterführenden Angaben – sofern diese angesichts
des Trends zur lachen Erschließung überhaupt vorhanden
sind.
3. Nicht alle Daten müssen zwischen Portalen ausgetauscht und
daher auch nicht alle Felder mit Erschließungsdaten in ein
Mapping aufgenommen werden. Die geplante Anzeige von
METS-Dateien über den DFG-Viewer im Rahmen des NRWArchivportal zeigt, dass zumindest die Digitalisate und deren
Metadaten in unterschiedlichen Kontexten genutzt werden
können, ohne dass überhaupt Daten migriert bzw. umformatiert werden müssen.
4. Die gegenwärtig in der archivischen Erschließung verwendeten
Datenmodelle (EAD, EAD, EAG, METS oder auch TEI) sind so
komplex, dass – zugespitzt ausgedrückt – jede Erschließungsinformation in jedem Standard irgendwo auch abgelegt werden
kann, notfalls in einer sehr freizügigen Interpretation der zur
Verfügung stehenden Elemente. Je weniger intuitiv die Verwendung eines Elements sich aber gestaltet, desto komplizierter
wird das Mapping. Es ist deshalb wichtig, für jedes Projekt die
Fülle der vorhandenen Standards im Vorhinein zu sondieren
und sich je nach Verwendungszweck für den wirklich passenden Standard zu entscheiden – passend in der Sache, aber auch
hinsichtlich des Grades seiner Komplexität.
Andreas Pilger, Düsseldorf
STAND UND PERSPEKTIVEN
DES PORTALS „ARCHIVE IN NRW“
NACH DEM RELAUNCH
Fast 490 Archive beteiligen sich zurzeit am Internetportal
„Archive in NRW“ – www.archive.nrw.de (Stand: Januar 2012).
Die Archive kommen aus unterschiedlichen Sparten: Das Landesarchiv und die Kommunalarchive sind ebenso vertreten wie
Kirchen-, Wirtschafts-, politische, Kultur- oder Privatarchive.
Im Portal informieren die Archive über Nutzungsmöglichkeiten
von Archivgut, über besondere Service-Angebote, über Publikationen und Veranstaltungen. Vor allem aber machen sie ihre Beständeübersichten und in wachsendem Umfang auch Findmittel
zu einzelnen Beständen über das Portal online recherchierbar.
2.041 Findmittel mit über 1 Mio. Verzeichnungseinheiten sind
mittlerweile über das Portal zugänglich. Gegenüber 2010 bedeuten diese Zahlen noch einmal eine Steigerung um etwa 23 %.
Mit dem wachsenden Angebot steigt die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer des Portals. Im vergangenen Jahr stiegen die
Zugriffszahlen auf Beständeübersichten und Findbücher im
Portal um 7 % auf nunmehr über 13,2 Mio. (12,4 Mio. 2010). Inzwischen machen die Zugriffe auf Erschließungsinformationen
etwa ein Drittel der Gesamtanfragezahlen im Portal aus. Die
Zahl der Zugriffe auf allgemeine Informationen ist demgegenüber im letzten Jahr leicht gesunken, von 30 Mio. auf 26,4
Mio. Viele Nutzerinnen und Nutzer des Archivportals kennen
inzwischen die allgemeinen Informationsangebote der Archive
im Portal. Viele Archive haben zudem ihr Informationsangebot
in den letzten Jahren nur geringfügig erweitert und auch nicht
regelmäßig aktualisiert. Bei den Erschließungsinformationen ist
der Neuigkeitswert ungleich höher. Dies zeigt nicht zuletzt die
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Nutzungsstatistik für die Seiten des Landesarchivs NRW. Bereits
seit 2008 überwiegen beim Landearchiv die Zugriffe auf Beständeübersichten und Findmittel, die Zugriffe auf die allgemeinen
Informationsseiten; dieser Trend hat sich im vergangenen Jahr
noch einmal deutlich verstärkt. Während 2010 noch 2,1 Mio.
Zugriffe auf das allgemeine Angebot und 3,9 Mio. auf Erschließungsinformationen entielen, waren es im vergangenen Jahr
nur noch 1,7 Mio. auf das allgemeine Angebot und über 5,9 Mio.
auf die Erschließungsinformationen. Fast 200 neue Findbücher
hat das Landesarchiv 2011 über das Portal online gestellt. Bereits
jetzt sind fast sämtliche Findbücher der Abteilung Westfalen
über das Internet verfügbar. Die bisherige Erfahrung zeigt: Die
Veröffentlichung differenzierter Erschließungsinformationen
über das Internet entspricht den Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer. Je mehr Findbücher online zugänglich sind,
desto mehr Anfragen erreichen das Portal. Die Möglichkeit, von
Zuhause aus in den Beständen des Landesarchivs zu recherchieren und Quellen zur Einsichtnahme im Lesesaal vorzubestellen,
erleichtert den Nutzerinnen und Nutzern die Vorbereitung und
Durchführung von Archivrecherchen. Umso wichtiger ist es,
die Vorzüge einer archivischen Portallösung in der Fläche noch
weiter auszubauen. Bislang führt das Landesarchiv die Liste der
Archive mit Erschließungsinformationen im Internet deutlich
an. Die Kommunalarchive zusammen haben etwa genauso
viele Findbücher ins Netz gestellt wie das Landesarchiv; bei
den anderen Archivsparten besteht zum Teil noch deutlicher
Nachholbedarf.
209
Startseite der Abteilung Westfalen des Landesarchivs NRW im neu gestalteten
Portal „Archive in NRW“
Zum Jahreswechsel 2011/2012 hat es mit dem Relaunch des
Archivportals eine Reihe von Neuerungen gegeben. Das Portal
hat ein neues Layout erhalten und es sind neue Funktionen
hinzugekommen. Aktuelle Nachrichten aus den nordrheinwestfälischen Archiven lassen sich als RSS-Feed abonnieren, Informationen können sowohl in deutscher als auch in englischer
Sprache angeboten werden, Archive können ihre Kontaktdaten
mit einer Google-Map hinterlegen und Abbildungen mit Hilfe
des integrierten Slimbox-Tools auch als Bildergalerien anlegen.
Mit den neuen Funktionen und einer grundlegenden Überarbeitung der Navigation erreicht das Portal eine übersichtlichere
und moderne Darstellung der nordrhein-westfälischen Archivlandschaft und unternimmt erste Schritte in Richtung auch auf
das Web 2.0.
Im Rahmen des Relaunch wurden nicht zuletzt die Importschnittstellen für Erschließungsinformationen im Portal weiter
verbessert. Nachdem bereits in der Vergangenheit Lösungen für
unterschiedliche Datenquellen entwickelt worden sind, besteht
jetzt auch die Möglichkeit, Beständeübersichten und Findmittel
im Format EAD in das Archivportal NRW hochzuladen (vgl.
dazu ausführlich den Beitrag oben). Wir hoffen, dass auf diese
Weise – auch mit Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen
der Archivämter in Rheinland und Westfalen – zukünftig noch
schneller und in größerem Umfang Erschließungsinformationen in das Portal eingestellt werden. Damit ist das Archivportal
bestens gerüstet, um in den nächsten Jahren auch die Funktion
eines Aggregators für überregionale Portale wie das Archivportal D erfüllen zu können. Die technischen Voraussetzungen
dafür sind mit dem Landesbetrieb Information und Technik
NRW bereits abgestimmt.
Auf dem weiteren Weg des Archivportals NRW wird es darauf
ankommen, zusätzlich zu Beständeübersichten und Findmitteln
auch den Zugriff auf das Archivgut selbst in digitaler Form zu
verbessern. Bereits 10 Mio. Digitalisate hat das Landesarchiv
NRW inzwischen angefertigt; damit liegen 0,8 % der Bestände
inzwischen in digitaler Form vor; die Nutzungsfrequenz des
digitalisierten Archivguts in den Lesesälen hat sich in den vergangenen Jahren stark erhöht. Um dieses Potential noch besser
ausschöpfen und damit den Nutzerinnen und Nutzern eine
neue Qualität der Archivnutzung ermöglichen zu können, hat
das Landesarchiv in diesem Jahr damit begonnen, digitalisiertes
Anzeige der Beständeübersicht der Abteilung Westfalen des Landesarchivs NRW
im neu gestalteten Portal „Archive in NRW“
Archivgut über das Portal online zugänglich zu machen. Das
Archivportal wurde zu diesem Zweck ebenfalls im Rahmen
des Relaunch technisch angepasst; die Infrastruktur, basierend
auf EAD- (bzw. SAFT-) und METS-XML, steht kostenfrei allen
teilnehmenden Archiven zur Verfügung.
Im Laufe dieses Jahres wird das Portal ergänzt um eine Schnittstelle auch für elektronische Editionen. Damit wird es möglich
sein, Texte, die entsprechend den Vorgaben der „Text Encoding
Initiative“ (TEI, in der Version TEI Lite) codiert sind, in das
Portal zu importieren und für diese Texte auch eine Navigation
anzulegen. Editionen können dann mit archivischen Erschließungsinformationen im Portal verknüpft und auch recherchiert
werden.
www.archive.nrw.de
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
210
MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA
VdA - Verband deutscher
Archivarinnen und Archivare e.V.
BERICHTE
„NICHTAMTLICHE ÜBERLIEFERUNG“:
14. BRANDENBURGISCHER ARCHIVTAG 2011
Der 14. Brandenburgische Archivtag fand auf Einladung der
Stadt und des Landkreises Oder-Spree am 5. und 6. Mai 2011
in der Kreisstadt Beeskow östlich von Berlin statt, genauer in
der Burg aus dem 13. Jahrhundert vor den Toren der Stadt. Sie
ist vor allem bekannt durch das Kunstarchiv. Das Kunstarchiv
Beeskow ist eine Dokumentationsstelle zur bildenden (Auftrags-)
Kunst in der DDR. In seinem Bestand sind heute rund 23.000
Objekte, vor allem Gemälde, Druckgraiken, Zeichnungen und
Aquarelle, aber auch Fotograien, Plastiken, Kunstgewerbe und
Medaillen. Sie gehörten vor 1989 den Parteien, Massenorganisationen und Staatsorganen der DDR. In Beeskow gibt es außerdem ein Stadtarchiv und das Archiv, Lese- und Medienzentrum
des Landkreises. Der multimediale Auftrag weist auf das Thema
des Archivtags hin.
So stellte die Burg den sehr passenden Rahmen für ein weit gefächertes Thema, das sich in dem trockenen, technischen Titel des
Archivtags versteckt, aber wieder 100 Teilnehmer anlockte und
ein bemerkenswertes Presseecho fand. In Anbetracht der Vielfalt
der nichtamtlichen Überlieferung in den Archiven und außerhalb der Archive war klar, dass nur ein kleiner Ausschnitt des
unter dem Titel möglichen Überlieferungsspektrums zur Sprache
kommen würde.
Ist es überhaupt Aufgabe eines öffentlichen Archivs, nichtamtliche Unterlagen aufzunehmen? Wie wird denn „nichtamtliche
Überlieferung“ überhaupt zum öffentlichen Archivgut?
Während die Übernahme amtlicher Unterlagen in die Archive
durch die Archivgesetze als Plichtaufgabe der Archive geregelt
ist, gilt dies für die „nichtamtlichen“ nicht in gleicher Weise.
Von „Anbietungsplicht“ kann gar keine Rede sein. Erst durch
einen Zusatz bei der Begriffsbestimmung „öffentliches Archivgut“ kommt das in den Blick, was mit dem Titel des Archivtags
gemeint ist. So schreibt das Brandenburgische Archivgesetz:
„Öffentliches Archivgut sind auch archivwürdige Unterlagen, die
die öffentlichen Archive zur Ergänzung ihres Archivgutes erwerben oder übernehmen.“ (§ 2)
Nichtamtliche Unterlagen werden also per Gesetz als Ergänzungsüberlieferung deklariert und erhalten so den Status
öffentlichen Archivgutes. Erst durch diesen Kunstgriff rücken sie
in den Aufgabenbereich der öffentlichen Archive, das öffentliche
Archivgut festzustellen, zu erfassen, zu übernehmen, auf Dauer
zu verwahren, zu sichern und zu erhalten, zu erschließen, allgemein nutzbar zu machen, für die Benutzung bereitzustellen und
auszuwerten.
Es gehört durchaus zu den wesentlichen Bestimmungen der
Archive, ihren Nutzern nicht nur Verwaltungsschriftgut, sondern
auch Quellen anderer Herkunft zur Geschichte ihres Sprengels
ARCHIVAR
65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
zur Verfügung zu stellen. „Der Fülle urbanen und dörlichen
Lebens, der Breite des politischen, wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Geschehens in umfassendem Sinne“, so formulierte es die Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim
Deutschen Städtetag 2002, könne das Archiv „auf Dauer nur
gerecht werden, wenn es – ggf. in Kooperation mit anderen
Institutionen – auch die Registraturen von Firmen, Parteien,
Vereinen oder anderen am Ort ansässigen Einrichtungen in seine
Tätigkeit einbezieht, Nachlässe von Privatpersonen erwirbt und
Zeitungen, Autografen, Flugblätter, Karten, Plakate, Film- und
Tondokumente usw. als Dokumente zur Kommunalentwicklung
sammelt.“ Die Dominanz reiner Schrift- und Wortüberlieferung
ist damit nicht mehr zeitgemäß.
Öffentliche Archive – oder Archive generell – sind nicht nur Speicher für abgelegte Verwaltungsvorgänge ihrer Träger, sondern
erfüllen wichtige kulturelle Aufgaben für die Sicherung und die
Zugänglichkeit des kulturellen Erbes. Dabei ist wichtig, dass
die Archive als professionelle öffentliche Einrichtungen sowohl
durch Übernahme, als auch beratend tätig werden können. Archive sind in dem Sinne des Themas durch die Erweiterung ihres
Zuständigkeitsbereichs Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft mit umfassenden gesellschaftlich-kulturellen Aufgaben.
Das Tagungsprogramm richtete sich aber nicht nur an öffentliche
Archive, sondern bezog Kirchenarchive, Medienarchive, Wirtschaftsarchive und die „Gruppenarchive“ der DDR-Opposition
exemplarisch ein. Öffentliche Archive setzen zwar häuig die
Standards, aber daneben hat sich eine vielfältige Archivlandschaft
mit Beständen ausgebildet, deren Ausgangspunkte in vielen
Fällen auf Sammlungen oder einen besonderen Auftrag zurückgehen, beispielsweise bei den Museen und Gedenkstätten. Diese
Archive sind ebenfalls offen, zu ihrem Proil passende Bestände
zu übernehmen. Rundfunk- und Fernsehanstalten unterhalten
ihre eigenen Produktionsarchive. In einer kontrovers geführten
Diskussion wurde deutlich, dass die öffentlichen Archive nicht in
Konkurrenz zu sehen sind zu den Spezialarchiven in der Gesellschaft. Es handelt sich vielmehr um komplementäre Angebote
wesentlicher historischer Quellen.
Erhaltung und Weiterentwicklung der Archive als historisches
Gedächtnis der Region gehören zu den wesentlichen kulturellen
Aufgaben im Kulturland Brandenburg. Die Archive werden bei
den Bemühungen um die Entwicklung von Kulturkonzeptionen
aber oft übersehen, obwohl sie bereits seit langem einen wichtigen Kulturauftrag erfüllen. Dies könnte an der Wahrnehmung
der Archive als bloße Anhängsel der Verwaltung liegen, was sie
aber der oben genannten Aufgabenbestimmung nach nicht sind.
In der Übernahme von nichtamtlichen Archiven und Sammlun-
211
gen und in den regionalen Kooperationen liegen Chancen, die
Wahrnehmung der Archive in der Öffentlichkeit deutlich zu verbessern. Ernst Otto Bräunche (Karlsruhe) zeigte dies in seinem
Vortrag „Die lokale Lebenswelt dokumentieren – die Übernahme
nichtamtlicher Überlieferung als Kernaufgabe der Kommunalarchive“ am Beispiel der Übernahme der Bestände des Karlsruher
SC, Jürgen Lotterer (Stuttgart) an dem Projekt „Von Zeit zu Zeit“
der Stuttgarter Zeitung und des Stadtarchivs Stuttgart.
Ein zweiter Block beschäftigte sich mit der Arbeit von Spezialarchiven. Maike Albers stellte das Projekt Mediaglobe in Babelsberg zur Erschließung digitaler audiovisueller Dokumente in
Medienarchiven vor, die einen wachsenden Anteil nichtamtlicher
Überlieferung ausmachen. Harald Engler präsentierte die wissenschaftlichen Sammlungen des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner bei Berlin, das als
Forschungsarchiv zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR eingerichtet wurde. Astrid Mikoleietz berichtete über das historische
Messbildarchiv des Brandenburgischen Landesamts für Denkmalplege und Archäologischen Landesmuseums in Wünsdorf.
Ralf Forster und Matthias Struch vom Filmmuseum Potsdam
erläuterten das Projekt „Amateurilm im Land Brandenburg“ und
zeigten eindrucksvolle Beispiele für digitalisierte Privatilme mit
unterschiedlichen Ursprungsformaten. Björn Berghausen stellte
am Freitag das Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv e.V.
in Berlin vor.
Der Nachmittag des ersten Tages war wie gewohnt der Gruppenarbeit vorbehalten. Die Themen der Ausstellerforen waren „Digitalisierung von Sammlungsgut und genealogischen Quellen“
(Wolfgang Krogel) und „Verpackung von Sammlungsgut“ (Jan
Klußmann). Arbeitsgruppen befassten sich mit den rechtlichen
Problemen bei der Übernahme nichtstaatlichen Archivguts, vor
allem der Abfassung von Depositalverträgen (Werner Heegewaldt), der Bestandserhaltung der Fotoüberlieferung (Carola
Gerlach) und der Erschließung der nichtamtlichen Überlieferung
(Ralf-Rüdiger Targiel).
Ulrike Poppe berichtete am zweiten Tag über die Arbeit der
Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der
Folgen der kommunistischen Diktatur. Dieses seit Februar 2010
unmittelbar dem Landtag zugeordnete Amt gibt es seit 2009.
Zu ihren Aufgaben gehört die Beratung von Menschen, die von
der Verfolgung zur Zeit der sowjetischen Besatzungszone und
der DDR unmittelbar und mittelbar betroffen sind, die Vermittlung psychosozialer Betreuung und Hilfe im Umgang mit den
Unterlagen des ehemaligen MfS. Tina Krone vom Archiv der
Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. rundete das Bild zur DDRÜberlieferung in Spezialarchiven ab durch ihren Vortrag über die
Quellen zu Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur
in Archiven der DDR-Opposition.
Am Ende der Tagung verfestigte sich der Eindruck, dass es in
Brandenburg und Berlin gerade die zeitgeschichtliche Überlieferung aus der Zeit der DDR war, die zur Bildung von Spezialarchiven geführt hat. Dadurch konnten wichtige komplementäre
Quellenbestände zu den behördlichen Überlieferungen gesichert
und nutzbar gemacht werden. Aber auch die öffentlichen Archive
werben nichtamtliche Bestände ein, um ihrem Auftrag zur Sicherung des kulturellen Erbes gerecht zu werden. Der Archivtag hat
zum gegenseitigen Verständnis über Organisations- und Arbeitsweise beigetragen und wieder die Frage nach einem übergreifenden Berlin-Brandenburgischen Archivportal laut werden lassen.
Wolfgang Krogel, Berlin
82. DEUTSCHER ARCHIVTAG KÖLN (26. bis 29. September 2012)
Der Gesamtvorstand des VdA hat in seiner Sitzung am 17. November 2011 folgende Tagungsbeiträge festgesetzt:
Tagungsbeiträge 82. Deutscher Archivtag 2012 in Köln
*
–
–
–
**
–
–
I. Anmeldung und Bezahlung
bis 30. Juni 2012 – „Frühbucher“
II. Anmeldung und Bezahlung
ab 1. Juli 2012
VdA-Mitglieder
75,(inkl. ÖPNV-Ticket)
95,(inkl. ÖPNV-Ticket)
Nichtmitglieder
145,(inkl. ÖPNV-Ticket)
185,(inkl. ÖPNV-Ticket)
Ermäßigter Beitrag*
für VdA-Mitglieder
50,(inkl. ÖPNV-Ticket)
65,(inkl. ÖPNV-Ticket)
Ermäßigter Beitrag*
für Nichtmitglieder
105,(inkl. ÖPNV-Ticket)
125,(inkl. ÖPNV-Ticket)
Studierende** und Auszubildende
Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste (FaMI)
35,(Inkl. ÖPNV-Ticket)
45,(inkl. ÖPNV_Ticket)
Gültigkeit Ermäßigung:
für TeilnehmerInnen in der archivfachlichen Ausbildung, die nur eine Ausbildungsvergütung erhalten und kein weiteres Einkommen aus Berufstätigkeit haben;
für TeilnehmerInnen ohne gegenwärtiges Arbeitsverhältnis bei Vorlage des entsprechenden Nachweises;
für im Ruhestand befindliche TeilnehmerInnen.
Erläuterung Studierende:
Direktstudierende der FH Potsdam bei Vorlage des Studentenausweises
Direktstudierende anderer Fachrichtungen an Hochschulen bei Vorlage des Studentenausweises
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
212
MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA
VdA - Verband deutscher
Archivarinnen und Archivare e.V.
SPA-TAGUNG IN WEIMAR
Vom 26. bis 28. März 2012 fanden die halbjährlichen Beratungen
des Steering Committee (SC) der professionellen Archivarsverbände (SPA) im Internationalen Archivrat (ICA) statt. Tagungsort
war nach Lausanne, Haifa und Edinburgh nun Weimar. Den
Auftakt der Beratungen bildete eine Skype-Konferenz mit David
Leitch, dem Generalsekretär des ICA in Paris. Dieser bezeichnete
das deutsche Archivwesen als einen „sleeping giant“. Der VDA
mit seinen knapp 2 500 Mitgliedern ist der mitgliederstärkste
Verband in Europa. Auch ist das deutsche Archivwesen im internationalen Vergleich relativ gut aufgestellt. Ein Eindruck, der sich
den Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt bei der Besichtigung
mehrerer thüringischer Archive bestätigte.
Die Arbeit des Internationalen Archivrats wird derzeit allerdings
hauptsächlich von den USA, den Niederlanden, England und
Frankreich gesteuert, letzteres stellt auch ein Büro sowie Personal
in Paris. Deutschland wird zudem nach einer neuen Gebührenregelung, die sich aus der Bevölkerungszahl eines Landes sowie
der Bewertung seiner Wirtschaftskraft nach der Kennziffer der
Weltbank ergibt, vermutlich ab 2014 wohl nach den USA der
zweitgrößte Nettozahler von Mitgliedsbeiträgen sein. Ziel der
neuen Gebührenregelung soll es sein, die Spitzenbeiträge der
Mitglieder der Kategorie A (Nationalarchive) zu reduzieren und
gleichzeitig durch moderatere Gebührensätze einer größeren Zahl
von Archivarsverbänden und Archiven in aller Welt eine aktive
Teilnahme an der Arbeit des ICA zu ermöglichen.
Der internationale Erfahrungsaustausch gewinnt für die archivische Arbeit im gleichen Maße an Bedeutung wie im Zeichen von
Globalisierung, digitaler Aktenbildung und Verwaltung sowie
dem Austausch von Informationen über Landesgrenzen hinweg
auch die Verantwortung der Archivare wächst (Datensicherung,
Gewährleistung des Zugangs, Gewährleistung der Langzeitspeicherung von Daten etc.). Überaus positiv wurde deshalb auch
registriert, dass der Stellvertretende Vorsitzende des VdA Dr.
Clemens Rehm und der Präsident des Bundesarchivs Dr. Michael
Hollmann eigens nach Weimar gekommen waren, um mit den
Mitgliedern des SC zu diskutieren. Beide bekannten sich dabei
klar zur Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit. Allerdings wies Hollmann auch ausdrücklich darauf hin, dass man
die Kräfte nicht durch die Teilnahme an allen der zahlreichen
Arbeitsgruppen und Gremien verzetteln könne. Den deutschen
Beitrag sieht er vielmehr in einer schwerpunktmäßigen Mitwirkung bei klar inhaltlich und zeitlich deinierten Projekten.
Weitere Beratungsgegenstände des SC waren die Organisation
von Aufbauhilfen für Archive in der Dritten Welt, die Formulierung von europäischen Berufsstandards (http://www.ica.org/9171/
news-events/the-spaeurbica-handbook-on-competencies-isnow-available-for-comments.html), die in der nächsten Mitgliedervollversammlung zur verabschiedenden Prinzipien für den
Zugang zu Archiven sowie die Verbreitung der von der UNESCO
ARCHIVAR 65.
63. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
2010
V.l.n.r.: Clemens Rehm (VdA), Henri Zuber (Vors. SPA), Michael Hollmann
(Bundesarchiv). (Foto: Privat)
im vergangenen Herbst verabschiedeten Universal Declaration
on Archivs, basierend auf den Menschenrechten (http://www.
ica.org/11491/reference-documents/unesco-oficially-endorsesthe-uda.html). Claude Roberto aus Kanada verglich in diesem
Zusammenhang die allgemeine Wahrnehmung der Archive mit
Krankenhäusern, deren Qualität man dann erst lautstark einfordert, wenn man sie braucht.
Das Rahmenprogramm für die ausländischen Gäste setzte bewusst auf Kontraste. Es sollten beide Seiten Deutschlands aufgezeigt werden und die Art, wie mit der Geschichte heute umgegangen wird. So folgte einem Besuch auf der Wartburg nachmittags
eine Führung durch die Gedenkstätte Buchenwald. Nach einem
Gang durch das mittelalterliche Erfurt und einer Besichtigung
des jüdischen Goldschatzes wurde die gerade eröffnete Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Firma Topf&Söhne
besichtigt, den Ofenbauern von Auschwitz. Keinem der Gäste
war weltweit ein vergleichbarer Lernort bekannt (http://www.
topfundsoehne.de/cms-www/index.php). Über die spezielle Einbindung der Firma Topf in den Massenmord hinaus stellte sich
ihnen sofort die Frage nach dem nach wie vor problematischen
Verhältnis von Industrie und Ethik mit Blick auf die Produktion
von Waffen und besonders Minen, den Anbau spezieller Gewächse zur Benzingewinnung zu Lasten der Nahrungsversorgung besonders in der Dritten Welt oder die Produktion genmanipulierter Getreidesorten. Als Archivar der SNCF erinnerte Henri Zuber
sofort auch an die mangelnde Aufarbeitung der Beteiligung der
französischen Staatsbahn an den Deportationen in der NS-Zeit
– ein Thema, bei dem sich ja auch die Bundesbahn schwer tut.
213
Die Mitglieder des Steering Committee der Archivarsverbände (SPA) in Weimar. (Foto: Privat)
Es wurde beschlossen, die Möglichkeit zur Durchführung einer
internationalen Tagung zum Thema Industrie und Ethik in Erfurt
zu prüfen.
Die thüringische Presse berichtete über die Tagung (http://www.
thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/speciic/Archivare-aus-aller-Welt-beraten-in-Weimar-1050907351).
ARCHIVGESETZE
Der VdA ist 2011 und 2012 aufgefordert worden, zu den Entwürfen der Archivgesetze der Länder Sachsen und Bremen sowie dem
Bundesarchivgesetz als Fachverband Stellung zu nehmen.
In Sachsen wurde die Stellungnahme vom Landesverband des
VdA erarbeitet. Dessen Anregungen wurden im überarbeiteten
Entwurf fast vollständig berücksichtigt. In Bremen wurde der
VdA schon sehr frühzeitig in die Beratungen eingebunden, so
dass einige Hinweise aufgenommen wurden, bevor das Gesetzesvorhaben auf Ministerialebene und in den politischen Gremien
erörtert wurde; das endgültige Votum des VdA konnte sich daher
auf wenige Punkte beschränken. Zum Entwurf des Bundesarchivgesetzes trug der VdA dieses Jahr im März – bei sehr kurzer
Fristsetzung – seine Bedenken vor.
Wir werden über die weitere Entwicklung berichten.
Clemens Rehm, Stuttgart
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
214
PERSONALNACHRICHTEN
PERSONALNACHRICHTEN
Zusammengestellt vom
nnen und Archivare e. V.
VdA – Verband deutscher Archivari
STAATLICHE ARCHIVE
BUNDESARCHIV
Ernannt
Archivrätin Christiane Botzet zur Archivoberrätin (19.12.2011) Archivrat Dr. Sebastian Gleixner zum Archivoberrat (16.12.2011)
- Archivrat Rainer Jacobs zum Archivoberrat (16.3.2012) - Archivamtfrau Stephanie Jozwiak zur Archivamtsrätin (8.12.2011) Archivrat Dr. Tobias Herrmann zum Archivoberrat (16.3.2012)
- Regierungsinspektor Johannes M. Stenz zum Regierungsoberinspektor (10.2.2012).
Versetzt/Abgeordnet
Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Daniel Hofmann zum Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (15.12.2011).
In den Ruhestand getreten
Archivamtsrätin Renate Jansen (29.2.2012) - Archivamtsrat
Reinhold Bauer (30.4.2012)
DER BUNDESBEAUFTRAGTE FÜR DIE UNTERLAGEN DES STAATSSICHERHEITSDIENSTES DER
EHEMALIGEN DDR
Ausgeschieden
Archivarin Sandy Apelt (31.12.2011).
BADEN-WÜRTTEMBERG
Ernannt
Michael Aumüller M.A. beim Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Fachprogramme und Bildungsarbeit, zum Archivrat (16.3.2012).
In den Ruhestand getreten
Leitender Regierungsdirektor Heinz Baumann beim Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Verwaltung (29.2.2012).
BAYERN
Ernannt
Archivamtfrau Sabine Frauenreuther bei der Generaldirektion
der Staatlichen Archive Bayerns zur Archivamtsrätin (1.2.2012)
- Archivdirektor Dr. Benhard Grau M.A. bei der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns zum Leitenden Archivdirektor (1.3.2012) - Archivdirektor Dr. Gerhard Immler beim Bayerischen Hauptstaatsarchiv zum Leitenden Archivdirektor (1.3.2012)
- Archivrätin Dr. Genoveva Rausch M.A. beim Bayerischen
Hauptstaatsarchiv zur Archivoberrätin (1.5.2012) - Archivrätin
Dr. Susanne Wolf bei der Generaldirektion der Staatlichen
Archive Bayerns zur Archivoberrätin (1.5.2012).
Versetzt
Archivhauptsekretär Hans Kaltenbrunner vom Staatsarchiv
Amberg an das Staatsarchiv Nürnberg (1.5.2012) - Archivsekretär
Wolfgang Dudik vom Staatsarchiv München an den Bayerischen
Obersten Rechnungshof (1.5.2012).
In den Ruhestand getreten
Archivdirektor Dr. Karl-Ernst Lupprian bei der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (31.5.2012).
HAMBURG
Eingestellt
Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste Julia
Wannagat in der Abteilung Ressortbezogene Archivische
Aufgaben (1.3.2012).
Versetzt
Archivrat Dr. Thomas Brakmann versetzt zum Landesarchiv
Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen-Lippe (31.12.2011)
- Archivinspektorin Romy Hildebrandt-Woelke versetzt zum
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Grundsätze
(31.12.2011).
Ausgeschieden
Archivamtfrau Julia Brüdegam (29.2.2012).
Sonstiges
Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste
Alexandra Quauck nimmt nach der Zulassung zum Aufstieg in
die Laufbahngruppe 2 am Vorbereitungsdienst für den Zugang
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
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zum ersten Einstiegsamt der Laufbahngruppe 2 in Fachrichtung
Allgemeine Dienste zur Verwendung im Laufbahnzweig Archivdienst teil (1.3.2012) - Archivoberinspektorin Jenny Kotte hat
an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin nach einem
berufsbegleitenden Fernstudium den akademischen Grad eines
Master of Public Administration (MPA) erworben (23.3.2012).
HESSEN
Eingestellt
Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, Birgit Fischer beim Hessischen Staatsarchiv
Marburg, Archiv der deutschen Jugendbewegung (1.1.2012) Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, Claudia Müller beim Hessischen Staatsarchiv
Marburg, Grundbuch- und Personenstandsarchiv Hessen
(1.4.2012) - Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste,
Fachrichtung Archiv, Susan Wagner beim Hessischen Staatsarchiv Marburg, Grundbuch- und Personenstandsarchiv Hessen
(1.4.2012).
Ernannt
Archivrätin z.A. Dr. Anke Stößer beim Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (1.2.2012).
NIEDERSACHSEN
Versetzt
Archivinspektorin Imke Catharina Riechey vom Niedersächsischen Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover, an die Stadt
Wuppertal (1.4.2012).
NORDRHEIN-WESTFALEN
Eingestellt
Achim Becker M.A. beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen,
Abteilung Westfalen als Archivbeschäftigter (1.1.2012).
Versetzt
Staatsarchivinspektorin Romy Hildebrandt-Woelke M.A. vom
Staatsarchiv Hamburg an das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen,
Fachbereich Grundsätze (1.1.2012) - Staatsarchivrat Dr. Thomas
Brakmann vom Staatsarchiv Hamburg an das Landesarchiv
Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen-Lippe (1.1.2012).
Sonstiges
Staatsarchivreferendarin Sabine Kötting M.A. trägt den
Familienamen Eibl (27.12.2011).
In den Ruhestand getreten
RHEINLAND-PFALZ
Mitarbeiterin Marga Seibert beim Hessischen Staatsarchiv
Marburg (31.3.2012).
Sonstiges
Archivschule Marburg
Der 46. wissenschaftliche Lehrgang wurde am 2. Januar 2012 mit
folgenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern eröffnet:
Mirko Crabus (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen), Klara
Deecke (Hessisches Staatsarchiv Marburg), Sabine Eibl (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen), Hendrik Friggemann (Hessisches
Hauptstaatsarchiv Wiesbaden), Christine Juliane Henzler
(Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Osnabrück),
Esther-Julia Howell (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden),
Dr. Andreas Jobst (Bischöliches Zentralarchiv Regensburg),
Clemens Joos (Hessisches Staatsarchiv Marburg), Johanne
Küenzlen (Landesarchiv Baden-Württemberg), Dr. Katrin
Minner (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen), Natascha Noll
(Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Osnabrück),
Björn Schmalz (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar),
Kristina Starkloff (Landesarchiv Baden-Württemberg),
Carsten Stühring (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen),
Michael Ucharim (Landesarchiv Baden-Württemberg).
MECKLENBURG-VORPOMMERN
Leiterin der Bildagentur Renate Noack beim Landeshauptarchiv
Koblenz ist in die Freistellungsphase der Altersteilzeit eingetreten
(1.2.2012).
SACHSEN
Eingestellt
Meisterin des Fotografenhandwerks Regine Bartholdt beim
Sächsischen Staatsarchiv, Archivzentrum Hubertusburg (1.1.2012).
Ernannt
Assessor des Archivdienstes Dr. Tobias Crabus beim Sächsischen Staatsarchiv , Staatsarchiv Chemnitz, zum Archivrat
(18.11.2011).
Sonstiges
Leitende Archivdirektorin Dr. Andrea Wettmann wurde mit
der Wahrnehmung der Geschäfte der Direktorin des Sächsischen
Staatsarchiv beauftragt (21.12.2011) - Diplom-Archivarin (FH)
Christine Weisbach beim Sächsischen Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden ist in die Freistellungsphase der Altersteilzeit
eingetreten (1.2.2012).
Ernannt
Archivdirektor Dr. Martin Schoebel wurde Leiter des Landesarchivs Mecklenburg-Vorpommern (13.3.2012).
THÜRINGEN
Eingestellt
Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste Sabine
Kessler beim Thüringischen Staatsarchiv Meiningen (30.12.2011).
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PERSONALNACHRICHTEN
KOMMUNALE ARCHIVE
KIRCHLICHE ARCHIVE
Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg
Archiv des Bistums Passau
Archivamtfrau Barbara Hippeli wurde auf eigenen Antrag
aus dem Beamtenverhältnis der Stadt Aschaffenburg entlassen
(31.3.2012).
Direktor des Archivs des Bistums Passau Dr. Herbert W. Wurster
wurde das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der
Bundesrepublik Deutschland verliehen (7.10.2011).
Stadtarchiv Dresden
Nordelbisches Kirchenarchiv
Franziska Herfurt wurde eingestellt (2011) - Johannes Wendt
M.A. wurde eingestellt (2011) - Annemarie Niering M.A. wurde
eingestellt (2011).
Kirchenarchivinspektorin z.A. Eva Drechsler wurde zur Kirchenarchivinspektorin ernannt (1.1.2012) - Kirchenarchivamtsrat
Michael Kirschke ist in den Ruhestand getreten (31.12.2011).
Stadtarchiv Karlsruhe
Archivangestellte Daniela Testa wurde eingestellt (1.10.2011)
- Stadtarchivamtfrau Angelika Herkert wurde zur Stadtarchivamtsrätin ernannt (1.2.2012) – Diplom-Archivarin (FH) Lisa
Hauser wurde zur Stadtarchivinspektorin z. A. ernannt (1.3.2012).
Diplom-Archivarin (FH) Dr. Anke Mührenberg hat die stellvertretende Leitung des Stadtarchivs übernommen (1.1.2011).
ARCHIVE DER PARLAMENTE,
POLITISCHEN PARTEIEN,
STIFTUNGEN UND VERBÄNDE
Historisches Archiv der Stadt Köln
Eingestellt
Landtagsarchivar a.D. Josef Weik ist im Alter von 86 Jahren
verstorben (28.12.2011).
Diplom-Archivarin (FH) Sylvia Glawe als Archivmitarbeiterin
(6.12.2011) – Diplom-Archivarin (FH) Sabine Lehr als Archivmitarbeiterin (19.12.2011).
Ernannt
Diplom-Archivarin (FH) Tanja Kayser zur Archivamtfrau
(1.12.2011) – Diplom-Archivarin (FH) Karoline Meyntz zur
Archivamtfrau (1.12.2011).
Sonstiges
Stadtoberarchivrat Dr. Franz-Josef Verscharen ist in die Freistellungsphase der Altersteilzeit eingetreten (1.4.2012).
Landtag von Baden-Württemberg, Stuttgart
ARCHIVE DER HOCHSCHULEN SOWIE
WISSENSCHAFTLICHER
INSTITUTIONEN
Universität Mainz
Oberarchivrat Dr. Jürgen Siggemann M.A. ist in den Ruhestand
getreten (29.2.2012).
Universitätsarchiv der Technischen Universität
Darmstadt
Stadtarchiv Mainz
Dr. Marianne Viefhaus ist im Alter von 81 Jahren verstorben
(21.12.2011).
Archivdirektor Dr. Wolfgang Dobras wurde zum Leitenden
Archivdirektor ernannt (1.12.2011).
Universitätsarchiv Gießen
Stadtarchiv München
Archivangestellter Lutz Trautmann M.A. wurde eingestellt
(1.9.2011).
Der Leiter des Stadtarchivs Dr. Michael Stephan wurde zum
Stadtdirektor ernannt (1.1.2012).
International Paralympic Committee (IPC), Bonn
Stadtarchiv Nürnberg
Dr. Simone Fugger von dem Rech wurde als Information and
Records Coordinator des Documentation Centre eingestellt.
Fachangestellte für Informationsdienste, Fachrichtung Archiv,
Jasmin Kambach wurde unbefristet angestellt (1.1.2012) Fachangestellter für Informationsdienste, Fachrichtung Archiv,
Marius Pfaller wurde unbefristet angestellt (1.1.2012).
Stadtarchiv Zwickau
Viviane Schöne wurde als Auszubildende zur Fachangestellten
für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, eingestellt (1.9.2011).
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
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GEBURTSTAGE
80 Jahre:
Medienarchivar i.R. Gustav Adolf Mohrlüder, Bad Griesbach
(2.9.2012) - Hans Buchholz, Hamburg (9.9.2012).
75 Jahre:
Archivarin i.R. Christel Schütt, Schwerin (27.7.2012) – Prof. Dr.
Reiner Groß, Lungkwitz (3.8.2012) - Staatsarchivdirektorin a.D.
Dr. Ingrid Joester, Düsseldorf (24.8.2012) - Kirchenoberarchivrat
i.R. Dr. Dietrich Meyer, Herrnhut (23.9.2012).
70 Jahre:
Archivdirektor a.D. Dr. Klaus Richter, Hamburg (9.7.2012) Archivamtmann a.D. Wilfried Beutter, Schwäbisch Hall (27.7.2012)
- Archivleiter i.R. Prof. Klaus Urner, Zürich (19.8.2012) - Archivsachbearbeiter i.R. Wolfgang Stärcke, Bonn (30.8.2012).
60 Jahre:
Archivleiter Manfred Bätje, Norderney (1.7.2012) - Archivar
Johannes Mertens M.A., Berlin (3.7.2012) - Archivleiter Udo
Kaiser M.A., Selm (4.7.2012) - Stadtarchivamtfrau Susanne
Fiedler, Wuppertal (10.7.2012) - Stadtarchivar Bernd Utermöhlen,
Buxtehude (18.7.2012) - Direktor des Bayerischen Hauptstaatsarchivs Dr. Gerhard Hetzer, München (19.7.2012) - Professor
Hartwig Walberg, Potsdam (19.7.2012) - Archivamtfrau Heidi
Moczarski, Hildburghausen (3.8.2012) - Archivleiter Falk
Lieberzeit, Diepholz (8.8.2012) - Archivarin Erika Stubenhöfer
M.A., Erkrath (30.8.2012) - Dokumentar Dr. Georg Polster,
Stuttgart (31.8.2012) – Oberarchivrätin Dr. Dagmar Bickelmann,
Kiel (1.9.2012) - Geschäftsführer Dr. Thomas Wurzel, Frankfurt
(2.9.2012) - Archivamtsrat Herbert Schmitz, Nürnberg (16.9.2012)
– Archivar Rudolf Schmitz, Bonn (20.9.2012) - Dokumentar
Manuel Hamm, Köln (21.9.2012) - Geschäftsführerin Katrin
Goepel, Berlin (23.9.2012).
65 Jahre:
Archivleiter Helmut W. Klinner M.A., Oberammergau
(21.8.2012) - Archivleiter i.R. Dr. Reinhard Frommelt M.A.,
Sankt Augustin (23.8.2012) – Diplom-Archivarin Doris Boissier,
Berlin (3.9.2012) - Leitender Archivdirektor Dr. Manfred von
Boetticher, Hannover (7.9.2012) – Archivleiterin i.R. Barbara
Schaller, Chemnitz (11.9.2012) – Städtischer Archivamtsrat a.D.
Ottmar Prothmann, Bonn (12.9.2012).
Bitte senden Sie Personalnachrichten an die Geschäftsstelle
des VdA-Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. ,
Wörthstr. 3, 36037 Fulda, E-Mail: info@vda.archiv.net
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
218
NACHRUFE
CHRISTIAN REINICKE †
Geb. 30.4.1955 Rehren
Gest. 2.11.2011 Berlin
Anfang November des vergangenen Jahres starb Dr. Christian
Reinicke, Leiter der Abteilung Ostwestfalen-Lippe im Landesarchiv
Nordrhein-Westfalen. Mit dem letzten Dienstort Detmold schloss
sich ein Kreis, denn Christian Reinicke wuchs im benachbarten
Kreis Schaumburg-Lippe auf. Er legte 1974 die Reifeprüfung am
Gymnasium Ernestinum in Rinteln ab. Im Wintersemester 1974/75
schrieb er sich an der Universität Bielefeld und an der Kirchlichen
Hochschule Bethel in den Fächern Geschichtswissenschaften und
Evangelische Theologie ein. 1976/77 setzte er das Studium an der
Universität Bonn fort. In Bielefeld schloss er im April 1980 das
Studium mit dem Ersten Staatsexamen ab. Bereits während der
Bonner Studienzeit war er am Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande als studentische Hilfskraft mit Arbeiten für
den Rheinischen Städteatlas und das Rheinische Ortsnamensbuch
tätig. Bei seiner Rückkehr nach Bielefeld nahm er einen Forschungsauftrag am Freilichtmuseum Detmold wahr und arbeitete
hierzu in den Staatsarchiven Münster und Detmold. Nach dem
Studium war Reinicke von 1980 bis 1984 an der Universität Trier
in einem Forschungsprojekt der Volkswagen-Stiftung zur Geldund Währungsgeschichte Mitteleuropas zwischen 1300 und 1800
angestellt. Zu diesem Thema hat er eine Sektion des Internationalen
Kongresses für Wirtschaftsgeschichte in Budapest 1982 vorbereitet.
Während der Trierer Zeit arbeitete er an seiner Dissertation bei
Prof. Franz Irsigler über „Agrarkonjunktur und technisch-organisatorische Innovationen auf dem Agrarsektor im Spiegel niederrheinischer Pachtverträge 1200-1600“, die er 1985 fertig stellte. 1989
erschien diese Arbeit im Rheinischen Archiv. Sie gilt heute als eine
der bahnbrechenden neueren Arbeiten zur spätmittelalterlichen
Agrargeschichte. Parallel bereitete Reinicke eine Bibliographie zur
rheinischen Agrargeschichte von 500 bis 1800 vor, die 1986 in zweiter Aulage veröffentlicht wurde. Von 1985 bis 1987 arbeitete er als
wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Klaus Wriedt an der Universität Osnabrück. Dort wie auch schon in Trier hielt er regelmäßig
Lehrveranstaltungen zur mittelalterlichen Geschichte ab. Lehre und
Forschung in Trier und Osnabrück vertieften den seit der Bielefelder Zeit bestehenden Kontakt zu den Archiven in Rheinland und
Westfalen. Als Ergebnis der Osnabrücker Zeit ist die Edition eines
Rechnungsbuches der Zeit um 1500 hervorzuheben.
Im April 1987 trat Christian Reinicke in Münster den Dienst als
Staatsarchivreferendar des Landes Nordrhein-Westfalen an. Als
Absolvent des 22. Wissenschaftlichen Kurses an der Archivschule
war er seit April 1989 im NRW-Hauptstaatsarchiv Düsseldorf in
der Abteilung III (Ministerialarchiv) tätig. Die Schwerpunkte seiner
Arbeit, die Übernahme, Bewertung und Erschließung der Ministerialüberlieferung, vermittelte er den Inspektorenanwärtern und Referendaren. Gleichzeitig übernahm er Lehraufträge für Proseminare
in mittelalterlicher Geschichte an der Universität Düsseldorf. Der
Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters blieb er als Mitarbeiter des
„Lexikon des Mittelalters“ verbunden. 1994 nahm er am Stage technique international d’archives am Nationalarchiv in Paris teil. 1995
zum Oberstaatsarchivrat ernannt, erwarb sich Christian Reinicke
bleibende Verdienste um die Landeszeitgeschichte durch die Veröffentlichung zum 50-jährigen Jubiläum des Landes Nordrhein-Westfalen 1996. Für das 600 Seiten starke Buch „Nordrhein-Westfalen.
ARCHIVAR 65. Jahrgang Heft 02 Mai 2012
Ein Land in seiner Geschichte. Aspekte und Konturen 1946-1996“
übernahm er mit seiner Ehefrau Dr. Ingeborg Schnelling-Reinicke
die Redaktion und schrieb zahlreiche Beiträge selbst. Auch an der
archivischen Gabe zum Revolutionsjubiläum 1848 („Petitionen und
Barrikaden. Rheinische Revolutionen 1848/49“) beteiligt er sich mit
mehreren Beiträgen.
2002 wurde Christian Reinicke als Leiter des Personenstandsarchivs
Rheinland nach Brühl versetzt und 2003 zum Staatsarchivdirektor
ernannt. Von Brühl aus wirkte er konstruktiv beim Zusammenschluss der vorher selbständigen vier Staats- und Personenstandsarchive zum Landesarchiv Nordrhein-Westfalen im Jahr 2004 mit.
Von ihm gingen viele neue Impulse für die Nutzung und Erschließung der Überlieferung von Personenstandsunterlagen aus. Die von
ihm organisierte Tagung der Fachgruppe 1 im VdA in Brühl 2006
sensibilisierte eine breite archivische Öffentlichkeit für die Novellierung des Personenstandsrechts. Die in Nordrhein-Westfalen nach
dem Krieg gefundene Lösung, eigene Personenstandsarchive zu
unterhalten, war nun bundesweit gefragt, denn seit 2009 gehören
Personenstandsunterlagen zum Archivgut. Die Herausgabe von
publikumsfreundlichen CDs in der „Edition Brühl“ war sein Verdienst. Er öffnete damit den Blick für den Quellenwert der von ihm
betreuten Unterlagen für Benutzergruppen weit über die Genealogen hinaus.
Zum 1. Dezember 2008 übernahm Christian Reinicke die Leitung
der Abteilung Ostwestfalen-Lippe im Landesarchiv NordrheinWestfalen. Die Aufgabe in Detmold verstand er als besondere
Herausforderung, denn an diesem kleinsten Standort im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen sind die Möglichkeiten, als Archivar die
Öffentlichkeit zu erreichen, am größten. Er führte sogleich die Reihe der „Sommergespräche“ und der Ausstellungen zum AuschwitzGedenktag Ende Januar fort. Im Ehrenamt übernahm er den Vorsitz
des Naturwissenschaftlichen und Historischen Verein für das Land
Lippe, zu dessen 175-jährigem Jubiläum er 2010 die Festveranstaltungen organisierte.
Christian Reinicke hat aus seiner Kenntnis der Überlieferung zur
Landesgeschichte in Nordrhein-Westfalen vom Mittelalter bis in die
Gegenwart viele Akzente im Archivwesen unseres Landes gesetzt.
Er kannte wie kaum ein anderer die Vielfalt der Überlieferung, weil
er an allen vier Standorten des Landesarchivs in Münster, Düsseldorf, Brühl und Detmold gewirkt hatte und ein breites Spektrum
vom späten Mittelalter bis zur Landeszeitgeschichte in den 1960er
Jahren abdeckte. Wo immer auch sein Dienstort war, brachte er sein
Wissen in zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen ein,
um es an Dritte weiterzugeben und so den archivischen Auftrag zu
erfüllen. In und für Detmold hatte er noch viele Ideen. Der Plan,
eine lippische Geschichte nach modernen landesgeschichtlichen
Vorgaben herauszugeben, stand ebenso auf seiner Agenda wie Ausstellungen und Editionen zum 18. Jahrhundert und zur lippischen
Wirtschaft. Aber nicht nur sein Fachwissen, sondern sein großes
Plicht- und Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinem Dienstherrn und gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
zeichnete Christian Reinicke aus. Laute Worte waren seine Sache
nicht, vielmehr die Überzeugung durch Argumente und die beharrliche Suche nach Lösungen. Seine letzten beiden Lebensjahre waren
überschattet von der am Ende tödlichen Krankheit, die ihn aber
nicht verzweifeln ließ, sondern gegen die er bis zuletzt ankämpfte,
um seine Plichten zu erfüllen. Die Archivarinnen und Archivare in
Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus werden ihm ein ehrendes
Angedenken bewahren.
Wilfried Reininghaus, Düsseldorf
219
JOSEF METZLER †
Geb. 7. 2. 1921 Eckardrath bei Bad
Soden-Salmünster
Gest. 12. 1. 2012 Hünfeld
Mit Pater Dr. Josef Metzler OMI verstarb am 12. Januar 2012
nicht nur ein sehr produktiver deutscher Historiker-Archivar,
sondern als Kirchen- und Ordenshistoriker wohl einer der letzten
Repräsentanten der katholisch-missionarischen Kirche Deutschlands des 20. Jahrhunderts. Nach dem Besuch der Ordensschule
der „Hünfelder Oblaten“ in Obermedling (Schwaben) erlangte
er 1939 sein Abitur in Borken/Westfalen (Missionskonvikt) am
städtischen Gymnasium. Anschließend trat er in das Noviziat
der Oblaten der unbeleckten Jungfrau Maria (O.M.I.) in Maria
Engelport (Hunsrück) ein, wo er am 25. März 1940 die zeitliche
Ordensgelübte ablegte. Das an der Ordenshochschule in Hünfeld
(Landkreis Fulda) begonnene Studium der Philosophie und
Theologie wurde durch die Einberufung zum Arbeits- und Militärdienst unterbrochen. Als Funker im Kriegseinsatz zunächst in
Russland, geriet er in Italien in Kriegsgefangenschaft, aus der er
im September 1945 entlassen wurde und seine Studien in Hünfeld
mit dem ersten Abschlussexamen und den „Ewigen Gelübden“
(1. November 1946) abschließen konnte. Vom Orden nach Rom an
die päpstliche Universität Gregoriana geschickt, emping er am 3.
Juli 1949 in Hünfeld die Priesterweihe und erwarb 1953 „summa
cum laude“ den kirchenhistorischen Doktorgrad (mit der Arbeit:
Das Salsette-Dekret von 1839 und seine Bedeutung für Bombay,
Excerpta-Druck und Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft
1954), die zusätzlich mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde.
Anschließend lehrte er bis 1985 an der Ordenshochschule in
Hünfeld Kirchen- und Missionsgeschichte und war SchwesternSeelsorger. 1958 wurde Dr. Metzler zum Professor für Missionsund Kirchengeschichte an die päpstliche Universität Urbaniana
gerufen, wo er auch geschätzter Mitherausgeber der Standard-Bibliographien Bibliotheca Missionum (1963-1974) und Bibliograia
Missionaria (1959-1990) wurde.
Seinen ersten archivarischen Schwerpunkt erlangte Dr. Metzler
ab 1966, als er zum Archivar der Kongregation der Propaganda
Fidei ernannt wurde und in den folgenden 18 Jahren zahlreiche
Standardwerke erarbeitete und herausgab, u. a.: De Archivis et
Bibliothecis Missionibus atque Scientiae Missionum inservientibus, 1968; Sacrae Congregationis de Propaganda Fide Memoria
Rerum 1622-1972, 5 Bände 1971-1976; mit seinem Amtsvorgänger
Nicola Kowalsky OMI, Inventory of the Historical Archives of the
Sacred Congregation for the Evangelization of Peoples, 1983; in
der von Walter Brandmüller (seit 2010 Kardinal) herausgegebenen
Reihe der Konziliengeschichte (A Darstellungen): Die Synoden
in China, Japan und Korea (1570-1931), 1980; Die Synoden in
Indochina (1625-1934), 1984, posthume Herausgabe von dem
Vizepräfekten Dr. Dr. h. c. Hermann Hoberg (bis 1980, † 1992),
Inventario dell´Archivio della Sacra Romana Rota, 1994.
Als er ob dieser kirchenarchivarischen Verdienste 1984 von Papst
Johannes Paul II. († 2005, ab 1.5.2011 Seliger) zum Präfekten des
Vatikanischen Archivs (Archivio Segreto Vaticano) ernannt wurde,
soll er in seiner lebenslangen persönlichen Bescheidenheit die
eigentlich mit diesem Amt verbundene Bischofwürde wiederum
abgelehnt haben. Als „langjähriger Archivar der heiligen Römischen Kirche“ hat er die Bestände-Erschließung vorangetrieben,
Ausstellungen ausgerichtet und aus den Beständen des „Vati-
kanischen Geheimarchivs“ publiziert, wovon beispielhaft nur
genannt seien die päpstlichen Dokumente zur den Anfängen
der Evangelisierung Amerikas (America Pontiicia primi saeculi evangelizationis 1493-1592, 3 Bde. 1991-1995). Den „Heiligen
Stuhl“ vertrat der Präfekt sowohl im „Internationalen Archivrat“
(ICA: u. a. X. Internationaler Kongress, Bonn 1984, mit einem
Vortrag über die „Vatikanische Archivschule“, ab 1988 Paris im
Exekutivkomitee) als auch im Auftrag des Sekretariates für die
Einheit der Christen mehrfach als Beobachter bei Versammlung
des Ökumenischen Rates der Kirchen (Genf). Die Ehrungen
seines archivarisch-wissenschaftlichen Lebenswerkes begannen
1984 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Uppsala, führten
über die Festschrift zum 70. Geburtstag „Ecclesiae Memoria“
(ed. Willi Henkel OMI, 1991 mit Bibliographie bis 1990) und die
Ehrendoktorwürde der Catholic University of America (Washington 2000) bis zum großen Bundesverdienstkreuz (1985) und den
österreichischen Ehrenkreuzen I. und II. Klasse für Wissenschaft
und Kunst (1994). Im Alter von 74 Jahre wurde Pater Metzler 1995
als Präfekt des Vatikanischen Archivs emeritiert. In seinem Ruhestand nach Deutschland zurückgekehrt, war er bis 2008 Kurseelsorger im Sanatorium „Sebastianum“ in Bad Wörishofen, bis er
aus Altersgründen ins Kloster Hünfeld zurückkehren musste, wo
er noch sein sechzigjähriges Priester- und sein siebzigjähriges
Ordens-Jubiläum feiern konnte. Nach dem Requiem am 17. Januar
2012 fand er auf dem Klosterfriedhof im Kreise der Mitbrüder
seine letzte Ruhestätte.
Mit seinen archivischen und quellenkundlichen Standardwerken
aus europäischer Perspektive und teilweise noch in lateinischer
Sprache steht das Lebenswerk von Pater Dr. Josef Metzler OMI
in der deutschen Archivars-Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts im Vatikanischen Archiv, speziell nach dem Ende der vom
„Welt-Ereignis“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65)
eingeleiteten „End-Eurozentrierung“ der katholischen Kirche
(als „ältestem Globalplayer“) und vor dem Beginn des archivisch
digitalen Zeitalters.
Reimund Haas, Köln
EVELYN KROKER †
Geb. 7.6.1942 Chemnitz
Gest. 7.2.2012 Bochum
Nach schwerer Krankheit ist Dr. Evelyn Kroker M. A. am 7. Februar 2012 in Bochum verstorben. Lange Jahre engagierte sie sich als
Leiterin des Bergbau-Archivs und als Verbandsvertreterin für die
Archive und die Archivare.
Evelyn Kroker wurde am 7. Juni 1942 in Chemnitz, Sachsen, geboren und wuchs in Hamburg auf, wo sie auch zur Schule ging und
diese 1962 mit dem Abitur abschloss. Sie studierte in Hamburg
Soziologie und Geschichte. Das Studium schloss sie mit dem
Magisterexamen ab, zeitlebens fügte Evelyn Kroker den „M. A.“
an ihren Namen an. 1968 wechselte Kroker zur Ruhr-Universität
Bochum und wurde Assistentin von Albrecht Timm, bei dem
sie in Hamburg im Nebenfach Geschichte studiert hatte. Timm
hatte den Bochumer Lehrstuhl für Wirtschafts- und Technikgeschichte übernommen. Bei ihm promovierte Evelyn Kroker 1973
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NACHRUFE
mit einer viel beachteten Arbeit über „Die Weltausstellungen im
19. Jahrhundert. Industrieller Leistungsnachweis, Konkurrenzverhalten und Kommunikationsfunktion unter Berücksichtigung der
Montanindustrie des Ruhrgebiets zwischen 1851 und 1880“. Die
Dissertation wurde zwei Jahre später bei Vandenhoek & Ruprecht
als vierter Band in der Reihe „Studien zur Naturwissenschaft,
Technik und Wirtschaft im 19. Jahrhundert“ veröffentlicht. Sie
wurde mit dem „Rudolf-Kellermann-Preis für Technikgeschichte“
ausgezeichnet. Ein Jahr nach der Promotion kam das Angebot
von Bergassessor Hans Günther Conrad, Direktor des damaligen
Bergbau-Museums in Bochum, das dort im Aufbau beindliche
Bergbau-Archiv als zentrales Archiv für die Überlieferung der
Bergbaugeschichte weiter auf- und auszubauen. Zu dieser Zeit bestanden zwar bereits Wirtschaftsarchive, aber ein Branchenarchiv
war eine neue Entwicklung. Es gab zwei regionale Wirtschaftsarchive, das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv in Köln und
das jüngere Westfälisches Wirtschaftsarchiv in Dortmund, die
beide an die jeweilige Industrie- und Handelskammer angegliedert waren. Daneben bestanden Unternehmensarchive bei einigen
großen Unternehmen. Die Einrichtung des Bergbau-Archivs
geschah auch aus der Not des Strukturwandels heraus. Nach
Gründung der Ruhrkohle AG 1968 wurden zahlreiche Zechen zusammengeführt und teilweise geschlossen. Bereits am 1. Juli 1969
wurde das Archiv von der Westfälischen Berggewerkschaftskasse,
die Trägerin des Museums war, der Wirtschaftsvereinigung Bergbau e. V. in Bonn und dem Gesamtverband des deutschen Steinkohlenbergbaus in Essen ins Leben gerufen. Am 1. Januar 1970
nahm das Archiv mit einem Sachbearbeiter die Arbeit auf und
konnte nun die Überlieferungen von Bergwerksgesellschaften,
Schachtanlagen und Vereinigungen des Bergbaus übernehmen.
Evelyn Kroker übernahm kurze Zeit später die hauptberuliche
und wissenschaftlich vorgebildete Leitung des Archivs, nachdem
sie sich eine Art Zusatzausbildung versichert hatte, die sie mit
einem Praktikum beim Thyssen-Archiv in Duisburg erwarb.
Dort war Leiterin Dr. Gertrud Milkereit, die auch Vorsitzende
der Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare (VdW) war. So
kam Evelyn Kroker mit den Verbänden der Archive in Kontakt.
Es dauerte nicht lange, da wurde sie Mitglied in der VdW und
im VdA. 1980 war sie zunächst für zwei Jahre im Vorstand der
VdW als Schriftführerin und dann von 1986 bis 1990 zuständig
für die Aus- und Weiterbildung der Wirtschaftsarchivare, die ihr
während der gesamten Dienstzeit sehr am Herzen lag. 1990 wurde
Evelyn Kroker für zwei Jahre stellvertretende Vorsitzende der
VdW, bevor sie das Amt der Vorsitzenden übernahm, das sie bis
1998 innehatte. Gleichzeitig war sie von 1993 bis 1997 Vorsitzende der Fachgruppe 5 im VdA – neben den Jahren 1972 bis 1976
unter Gertrud Milkereit die einzige Zeit, in der die beiden Ämter
von einer Person zeitgleich wahrgenommen wurden. In beiden
Archivverbänden wirkte Evelyn Kroker wegweisend. Als Vertreterin der Fachgruppe der Wirtschaftsarchivare hat sie stets auf die
Beachtung der kleineren Fachgruppen im VdA bei der Gestaltung des Archivtagsprogramms, auf die Fortbildung der in den
1980er und 1990er Jahren wachsenden Gruppe der so genannten
„Quereinsteiger“ und auf die Belange des Archivwesens bei der
Wahrnehmung in der Öffentlichkeit großen Wert gelegt. Auch
in der VdW hat Evelyn Kroker Maßstäbe gesetzt. Ihre Erfahrungen als verantwortliches Vorstandsmitglied für die Aus- und
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Weiterbildung trugen dazu bei, dass sie stets dem „lebenslangen
Lernen“ einen hohen Stellenwert einräumte. Dies führte auch zu
der Herausgabe des „Handbuchs für Wirtschaftsarchive“, das in
der ersten Aulage 1998 von ihr, Renate Köhne-Lindenlaub und
Wilfried Reininghaus herausgegeben wurde. Ohne die Leistungen der beiden anderen Herausgeber schmälern zu wollen, so
war doch Evelyn Kroker die treibende Kraft in dem Prozess der
Entstehung. Das Handbuch war das erste seiner Art im deutschen
Archivwesen. Der Erfolg dieses Kompendiums wird daran gemessen, dass die erste und die zweite Aulage vergriffen sind.
Respekt vor großen Aufgaben hatte Evelyn Kroker stets, aber das
hinderte sie nicht, diese auch anzugehen. Eine dieser Herausforderungen war die Bearbeitung der Bestandsübersicht „ihres
Archivs“, die 2001 herausgegeben wurde. Auf fast 600 Seiten wird
darin auch die Schaffenskraft der Autorin bei der Sicherung, Konservierung, Verzeichnung und Vermittlung von damals über 200
Beständen des Bergbau-Archivs deutlich. Zurückgreifen konnte
sie auf ein Team, aber war auch immer die Treiberin und Unermüdliche. Die Archivleiterin hatte es verstanden, in 25 Jahren
Diensttätigkeit das Bergbau-Archiv zu einer geachteten Institution
zu machen, die weit über die Grenzen des Ruhrgebiets Beachtung
und Anerkennung fand. Vor allem die vielen vom Archiv betreuten wissenschaftlichen Arbeiten zeugen davon. Krokers Verdienst
war es, neben den institutionellen Beständen eine große Zahl von
Nachlässen von Personen des Bergbaus zu archivieren, die nicht
nur bestandsergänzend waren, sondern aufgrund ihrer Überlieferungsart auch neue Akzente setzten. Leider hat das Branchenarchiv nicht bei allen Kollegen auch den Rückhalt gefunden, dass
angebotene Bestände an dieses weitervermittelt wurden. Dabei
verstand es Evelyn Kroker in ihrer eigenen Art, die schon westfälisch geprägt war, bestimmend auf ihre Zuständigkeit zu achten.
Die gute Zusammenarbeit etwa mit dem Rheinisch-Westfälischen
Wirtschaftsarchiv, das Bestände mit Bergbaubezug immer an das
Bergbau-Archiv abgab und abgibt, fußte auch auf der menschlichen Verbundenheit. Der Verfasser wird niemals die erste
Begegnung mit Evelyn Kroker Mitte der 1980er-Jahre vergessen,
als er als junger Student von der Archivleiterin auf der Treppe des
inzwischen Deutschen Bergbau-Museums Bochum begrüßt wurde. In den darauffolgenden Jahren wurde daraus eine intensive
Zusammenarbeit und schließlich enge Freundschaft. Unvergessen
sind die humorvollen Stunden, die gemeinsame Verbandsarbeit,
die intensiven Diskussionen über Archivfachliches und vor allem
die zutiefst menschlichen Züge einer liebenswerten Kollegin.
Ihren späteren Ehemann Dr. Werner Kroker hatte sie bereits im
Studium kennengelernt. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bergbau-Museum Bochum beschäftigt. Beide sind
nach ihrem Ruhestand gemeinsam gereist, alles zu sehen, was
sie sich vorgenommen hatten, war ihnen durch Krankheit und
durch den viel zu frühen Tod von Evelyn Kroker nicht vergönnt.
Das deutsche Wirtschaftsarchivwesen hat Evelyn Kroker viel zu
verdanken – dies bewies auch die hohe Zahl der Trauergäste aus
dem Archivwesen an einem kühlen Wintertag auf dem Friedhof
Querenburg in Bochum. Die Archivare der Wirtschaft werden
ihr Andenken stets in Ehren halten – mit ihrem Namen wird die
Entwicklung des Wirtschaftsarchivwesens in Deutschland eng
verknüpft bleiben.
Ulrich S. Soénius, Köln
KURZINFORMATIONEN UND VERSCHIEDENES
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NEUER FORTBILDUNGSBERUF IN NRW: FACHWIRTE FÜR MEDIEN- UND
INFORMATIONSDIENSTE
Ab November 2012 ist es erstmals in NRW möglich, eine berufsbegleitende Fortbildung zum Geprüften Fachwirt oder zur Geprüften
Fachwirtin für Medien- und Informationsdienste zu absolvieren.
Der prüfungsvorbereitende Lehrgang wird vom ZB W – Zentrum für Bibliotheks- und Informationswissenschaftliche Weiterbildung
der Fachhochschule Köln – organisiert und durchgeführt. Die Fortbildungsprüfungen werden landesweit von einem Prüfungsausschuss
der Bezirksregierung Köln abgenommen.
Dieses Angebot ermöglicht es Berufstätigen in Bibliotheken, Archiven und anderen Einrichtungen des Informationswesens, sich durch
eine anwendungsorientierte und nach dem Berufsbildungsgesetz geregelte Fortbildung für anspruchsvolle und selbstständig zu erledigende Aufgaben zu qualiizieren, ohne dass dafür die Berufstätigkeit aufgegeben werden muss.
Die handlungsfeldübergreifenden und handlungsspeziischen Inhalte werden mit konkreten Bezügen zu Arbeitssituationen in Bibliotheken, Archiven und anderen Einrichtungen des Informationswesens vermittelt.
Anbei die wichtigsten Antworten auf zentrale Fragen.
Weitere ausführliche Informationen im Internet unter www.fbi.fh-koeln.de/zbiw/ZBIW_Fachwirt_NRW.pdf
An wen richtet sich das Angebot?
An Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste mit mindestens einjähriger Berufspraxis zum Lehrgangsbeginn in Einrichtungen des Informationswesens und Beschäftigte mit einer entsprechenden Ausbildung und Berufspraxis sowie Beschäftigte, die zwar
keinen Berufsabschluss in diesem Bereich nachweisen können, aber seit mindestens fünfeinhalb Jahren zum Lehrgangsbeginn Tätigkeiten dieser Berufsgruppe ausüben.
Welche Inhalte werden vermittelt?
– Lern- und Arbeitsmethodik
– Grundlagen, Struktur und Entwicklung des Informationswesens
– Recht im berulichen Kontext
– Organisation und Management in Einrichtungen des Informationswesens
– Produkte und Dienstleistungen in Einrichtungen des Informationswesens
– Informations- und Benutzungsdienste
– Methodische und redaktionelle Bearbeitung komplexer berufspraktischer Themen
Was sind die Rahmenbedingungen?
Lehrgangsdauer: 3 Jahre
Lehrgangsstart: November 2012
Unterrichtsformen:
– Präsenzveranstaltungen i. d. R. 1 x wöchentlich (voraussichtlich montags) ganztägig,
gelegentlich mehrtägiger Blockunterricht
– E-learning
Veranstaltungsort: Essen und Köln
Kosten : 7.800 EUR (incl. Prüfungsgebühren)
Förderung: Meister-BAföG (Bezirksregierung Köln, Dezernat 49)
Ab wann ist eine Anmeldung möglich?
Eine Anmeldung zum prüfungsvorbereitenden Lehrgang ist frühestens ab Mai beim ZBIW möglich.
Zur Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen sollte die Anmeldung zur Fortbildungsprüfung möglichst parallel dazu bei der Bezirksregierung Köln erfolgen.
Wer beantwortet Ihre Fragen?
Prof. Dr. Ursula Georgy
Fachhochschule Köln
ZBIW
Claudiusstr. 1, 50678 Köln
Tel. 0221/8275-3922
E-Mail: ursula.georgy@fh-koeln.de
Zu den Zulassungsvoraussetzungen:
Roswitha Hoge, Bezirksregierung Köln, Dezernat 48.07
Tel. (0221) 147-2457, E-Mail: roswitha.hoge@bezreg-koeln.nrw.de
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KURZINFORMATIONEN UND VERSCHIEDENES
ARCHIVE ZUKUNFTSFÄHIG MACHEN
transfer media bietet ab 2012 mit Archivseminaren ein umfangreiches Seminarangebot für Medienarchivare an. Mitarbeiter von audiovisuellen Archiven, Produktionsirmen, TV-Sendern und Unternehmen, die sich mit der Digitalisierung und vor allem der Archivierung
von ilmischen Inhalten befassen, inden hier verständliche und sehr praxisbezogene Weiterbildung. Die digitale Herausforderung für
Archive von audiovisuellen Inhalten sind vielfältig: ob Formatentscheidungen, die Frage nach dem richtigen Worklow, Anforderungen
an Metadaten oder Datensicherheit aber auch rechtliche Aspekte und Möglichkeiten der Zugänglichmachung über Internet – die Materie ist sehr komplex. In insgesamt drei Doppelworkshops vermitteln Praxismitarbeiter seit März 2012 an jeweils zwei Tagen alle wichtigen
Kenntnisse für die Digitalisierung Ihres Archives. Folgende Workshops aus der Reihe inden bis September noch statt:
DOPPELWORKSHOP II „DIGITALISIERUNG“
Tag 1 / Montag, 4.6.2012
DIE DIGITALISIERUNG: Theorie & Praxis
Referent: Jens-Theo Müller, Telefactory Potsdam
Tag 2 / Dienstag, 5.6.2012
SPEICHERUNG & MEDIA ASSET MANAGEMENT
Referent: Thomas Bähr/Michelle Lindlar, TIB Hannover
Maike Albers, transfer media
DOPPELWORKSHOP III „VERWERTUNG“
Tag 1 / Montag, 3.9.2012
RECHTE & SICHERHEIT DER COPYRIGHTS
Rechtegrundlagen, rechtliche Probleme bei Zugänglichmachung
Referent: Jaqueline Röber, transfer media/Dr. Harald Sack, HPI
Tag 2 / Dienstag, 4.9.2012
VERWERTUNGSFORMEN
Plattformen, VoD, Streaming, Player, Implementierungen
Referent: Sven Slazenger, interlake
Kosten: jeweils 350 Euro pro Doppelworkshop (zwei Tage)
Nähere Informationen im Internet unter www.transfermedia.de/nc/bildung/archiv-seminare.html
POSTGRADUALES MASTERSTUDIUM RECORDS MANAGEMENT AN DER
ARCHIVSCHULE MARBURG EINGERICHTET
Die Archivschule Marburg – Hochschule für Archivwissenschaft richtet einen berufsbegleitenden, viersemestrigen Studiengang Master
of Records Management ein. Der Studiengang wendet sich an Hochschulabsolventen mit mindestens zweijähriger Berufserfahrung aus
der Privatwirtschaft, aber auch aus der öffentlichen Verwaltung. Neben 21 Wochen Präsenzplicht in Marburg werden die Studierenden
eigenständig oder über e-learning an den Gegenstand herangeführt. Geplanter Starttermin ist das Wintersemester 2012/13, die Bewerbungsfrist endet am 15.7.2012. Der Studiengang wird die Absolventen in die Lage versetzen, betriebliches Records Management zu organisieren und die Konzeption und Einführung von Dokumentmanagement- und Vorgangsbearbeitungssystemen mitzugestalten.
Ein akademischer Abschluss in Records Management (Schriftgutverwaltung) war bislang, anders als im angelsächsischen Raum, in
Deutschland nicht möglich. Die Archivschule Marburg wird ihr Ausbildungsangebot deswegen entsprechend erweitern, um auf wachsende gesetzliche Vorgaben und technische Herausforderungen zu reagieren.
Weiterführende Informationen inden Sie im Internet unter www.archivschule.de/master-of-records-management/.
DAS STADTARCHIV ERLANGEN IST UMGEZOGEN
Die neue Adresse lautet: Stadtarchiv Erlangen, Luitpoldstr. 47, 91052 Erlangen, Tel. 09131-86-2885 oder 86-2219, Fax: 09131-86-2876.
E-Mail: stadtarchiv@stadt.erlangen.de, www.erlangen.de
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VORSCHAU
Das nächste Heft befasst sich im Themenschwerpunkt mit den Chancen und Grenzen für die Archive in der virtuellen
Welt. Folgende Beiträge sind für das Heft geplant:
– Bruchstellen. Die Eigenart von Archiven im Verbund von Gedächtnisagenturen und Speichertechnologien
von Wolfgang Ernst
– Alleinstellungsmerkmale der Archive im Vergleich zu anderen Gedächtnisinstitutitionen
von Angelika Menne-Haritz
– Interviews zur Rolle der Archive in der Informationsgesellschaft
mit Thomas Mergel und Annika Wellmann
Darüber hinaus finden Sie im kommenden Heft im Vorfeld des Deutschen Archivtags einen
Überblick über die Archivlandschaft in Köln.
IMPRESSUM
Herausgeber:
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf-Str. 67, 40210 Düsseldorf, VdA -Verband deutscher
Archivarinnen und Archivare e.V., Wörthstr. 3, 36037 Fulda
Redaktion:
Andreas Pilger in Verbindung mit Michael Diefenbacher, Clemens Rehm, Wilfried Reininghaus, Ulrich
Soénius und Martina Wiech
Mitarbeiter:
Meinolf Woste, Petra Daub
ISSN 0003-9500
Kontakt:
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf-Str. 67, 40210 Düsseldorf, Tel. 0211/159238-800 (Redaktion),
-201 (Andreas Pilger), -802 (Meinolf Woste), -803 (Petra Daub), Fax 0211 /159238-888,
E-Mail: archivar@lav.nrw.de
Druck und Vertrieb:
Franz Schmitt, Kaiserstraße 99-101, 53721 Siegburg, Tel. 02241/62925, Fax 02241/53891,
E-Mail: verlagschmitt@aol.com, Bankverbindung: Postbank Köln, BLZ 370 100 50, Kto. 7058-500
Gestaltung:
ENGEL UND NORDEN, Wuppertal, Mitarbeit: Ruth Michels, www.engelundnorden.de
Bestellungen und
Anzeigenverwaltung:
Verlag Franz Schmitt (Preisliste 21, gültig ab 1. Januar 2008)
Zuständig für Anzeigen: Sabine Schmitt im Verlag Franz Schmitt
Die Verlagsrechte liegen beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Amtliche Bekanntmachungen, Mitteilungen und Manuskripte
bitten wir, an die Redaktion zu senden, Personalnachrichten und Veranstaltungshinweise dagegen an die Geschäftstelle des VdA. Für
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Der „Archivar“ erscheint viermal jährlich. Der Bezugspreis beträgt für das Einzelheft einschl. Porto und Versand 8,50 EUR im Inland, 9,50 EUR im Ausland, für das Jahresabonnement im Inland einschl. Porto und Versand 34,- EUR, im Ausland 38,- EUR.
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