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B KULTURWISSENSCHAFTEN BD LITERATUR UND LITERATURWISSENSCHAFT BDBA Deutsche Literatur Personale Informationsmittel Joachim Heinrich CAMPE Reise von Hamburg in die Schweitz 24-1 Reise von Hamburg bis in die Schweitz im Jahr 1785 / Joachim Heinrich Campe. Hrsg. von Uwe Hentschel. - 1. Aufl. Hannover : Wehrhahn, 2023. - 227 S. : 1 Ill. ; 22 cm. - Umschlagtitel: Reise von Hamburg bis in die Schweiz im Jahr 1785. - ISBN 978-3-98859-019-0 : EUR 24.00, Till). [#8991] Der Verleger und Schriftsteller Joachim Heinrich Campe (1746 - 1818) ist in den vergangenen Jahren wieder etwas mehr beachtet worden.1 Es fehlt aber an Neueditionen, so daß es sehr zu begrüßen ist, wenn nun der Chemnitzer Literaturwissenschaftler Uwe Hentschel einen seiner Texte in einer separaten Ausgabe vorlegt. Es handelt sich dabei um eine Reisebeschreibung, die zuerst im Rahmen seiner Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend erschien (1786). Hentschel hat den etwas gekürzten Text2 mit vielen Anmerkungen versehen, die Begriffe erklären, Informationen zu Personen, Orten oder Ereignissen liefern und so den Lesern eigene Recherchen weitgehend ersparen dürften (S. 199 - 210).3 Campes Interesse an Reisebeschreibungen war einerseits verlegerisch, da er solche mit durchaus pädagogischen Intentionen in Sammelwerken veröffentlichte, die zwar an junge Leser adressiert waren, aber sehr wohl auch 1 Siehe Joachim Heinrich Campe : Dichtung, Sprache, Pädagogik und Politik zwischen Aufklärung, Revolution und Restauration / hrsg. von Cord-Friedrich Berghahn ; Imke Lang-Groth. - Heidelberg : Winter, 2021. - 417 S. : Ill. ; 24 cm. (Germanischromanische Monatsschrift : Beiheft ; 102). - ISBN 978-3-8253- 4814-4 : EUR 58.00 [#7294]. - Rez.: IFB 21-2 http://informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=10858 - Zuvor bereits: Joachim Heinrich Campe (1746 - 1818) : Menschenfreund - Aufklärer - Publizist / Hans-Jürgen Perrey. - Bremen : Edition Lumière, 2010. - 365 S. : Ill. ; 24 cm. - (Philanthropismus und populäre Aufklärung ; 2) (Presse und Geschichte neue Beiträge ; 56). - ISBN 978-3-934686-84-7 : EUR 24.80 [#1459]. - Rez.: IFB 10-4 http://ifb.bsz-bw.de/bsz329451421rez-1.pdf 2 Auslassungen sind stets mit eckigen Klammern ausgewiesen. 3 Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1304001407/04 an Erwachsene gerichtet waren, die bei der Ansprache als „junge Leser“ sich einfach das „jung“ wegdenken sollten. Campe war andererseits auch selbst jemand, der gern und viel reiste, wobei er aber im Gegensatz zu solchen Reisenden, die erhabene Erlebnisse in der Natur oder angesichts historischer Kunst haben wollten, auf pragmatische Verwertung und generell auf Nützlichkeit achtete. Das heißt, daß er sich dort, wo er konnte, auch auf späteren Reisen etwa nach Frankreich oder England, immer auch die wirtschaftlichen Betriebe ansah, auch z. B. die „Bücherfabrik“ des Herrn Beaumarchais in Kehl, die er für ihre hohe Druck- und Papierqualität lobte – insbesondere bei einem prächtigen Exemplar der Werke Voltaires, die speziell für Katharina die Große gedruckt wurden (S. 169 - 170). Nicht immer hat Campe alles selbst gesehen, was er beschreibt. So findet man im Abschnitt über Straßburg einen Exkurs über den berühmten Gaukler Cagliostro (S. 174),4 aber auch über Franz Anton Mesmer (S. 175 - 176), von dem er sich gern selbst hätte heilen lassen mögen, „um zu erfahren, worin die Täuschung eigentlich bestehen“ mochte. Ironischerweise sind es aber gerade Campes Kränklichkeiten, die es verhindern, die nötigen Kontakte zu knüpfen, die es für eine Behandlung durch Mesmer gebraucht hätte... Ausführlicher fällt auch, um noch ein weiteres Beispiel anzuführen, sein Bericht über Gottlieb Conrad Pfeffel aus, der in Colmar lebte und blind war, nachdem er sich in der Folge einer ärztlichen Fehlbehandlung wegen großer Schmerzen die Augen hatte ausstechen lassen (S. 177 - 179).5 Campe hat selbst auf früheren Reisen viele Sehenswürdigkeiten besucht, weil er diese einfach gesehen haben wollte, bis er schließlich merkte, daß dies ja im engeren Sinne zu nichts nutzte... Daraus erklärt sich der Fokus auch dieses Reiseberichts, der ihn über Braunschweig, Hildesheim, Göttingen, Münden, Kassel, Marburg, Gießen, Frankfurt, Hanau, Wilhelmsbad, Mainz, Heidelberg, Karlsruhe, Rastatt und Kehl ins Elsaß (Colmar) und dann in die Schweiz (Basel, Schaffhausen) führte. Als Anlaß der Reise galt der Gesundheitszustand Campes, den Ärzte und Apotheker nicht bessern konnten, ebenso auch nicht das Pyrmonter Stahlwasser (S. 7). Auch hier fängt Campe mit einem moralisierenden Hinweis an seine „jungen Freunde“ an, der besagt, daß „jede Ausschweifung, jede 4 Zuletzt Ägyptomanie und ihr Widerhall in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts : (26. bis 28. August 2022) / Wolfstieg-Gesellschaft, Unabhängige Freimaurerforschung, Gründung 1913 e.V. Autoren …: Nadine Grimmig, Giovanni Grippo, Alexander Höhne. - Öffentliche Edition. - Oberursel (Taunus) : Grippo, 2024. - 147 S. : Ill. ; 22 cm. - (Freimaurerlicht ; 2024, Ausgabe 1). - Umschlagtitel. - ISBN 9783-942187-52-7 : EUR 22.00 [#8997]. - Rez.: IFB 24-1 http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=12456 5 Zu Pfeffel siehe jetzt auch die Edition seines Briefwechsels mit Georg Johann Jacobi: Briefwechsel (1785-1809) / Johann Georg Jacobi und Gottlieb Konrad Pfeffel. Hrsg. und kommentiert von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. - Stuttgart : Hiersemann, 2023. - XXVIII, 350 S. : Ill. - (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart ; 357). - ISBN 978-3-7772-2325-4 : EUR 196.00. - Eine Rezension in IFB ist vorgesehen. Abweichung von dem graden Wege der Natur ihre gewisse Strafe mit sich führt“ (ebd.). Die Natur wolle, daß wir körperlich und geistig arbeiteten, und zwar in ausgeglichenem Maße – das aber hatte Campe selbst nicht beherzigt und so bot er ein Beispiel für eine Art diätetisches Versagen, das durch die Reise behoben werden sollte, auf der er freilich auch immer wieder kränklich war, so daß er z. B. in Göttingen nicht so viele Professoren treffen konnte, wie er eigentlich wollte (S. 63). Weil die Beschreibung der „unvergleichlichen Bibliothek zu Göttingen“ indes „weder lehrreich noch unterhaltend“ für seine Leser sein würde, unterläßt er sie und wendet sich entsprechend verschiedenen gemeinnützigen Anstalten zu, die dann ausführlich beschrieben werden. Campes Reiseberichte wurden vom Publikum wahrgenommen, und wenn sich ein Gerücht verbreitete, daß er nach England und Frankreich aufgebrochen sei, weckte das bereits Erwartungen auf einen entsprechenden Bericht (S. 220). Dabei bietet Campe immer wieder seine spezifische Weltsicht dar, die, so Hentschel, wohl von einem Großteil der Bürger geteilt worden sein dürften (S. 226). Der Utilitarismus Campes fand dabei seinen wohl krassesten Ausdruck in dem im vorliegenden Band dokumentierten Besuch des Rheinfalls bei Schaffhausen. Dies war der Hauptzweck seiner Reise in diese Stadt, und er adressiert hier seine jungen Leser, die wohl vermutet haben würden, „daß ich, gleich andern Reisenden, welche diesen prächtigen Wasserfall beschrieben, mit klopfendem Herzen, zitternden Gliedern, weitaufgesperrtem Munde und mit einer Träne im Auge da stehn und ein entzückungsathmendes O! und Ach! nach dem andern vorkrähen werde? Meint ihr? Nun, so hört denn, was geschah!“ (S. 195). Dann beschreibt er die Annäherung und die Eindrücke dort detailliert, sagt immer wieder „Herrlich!“, ohne jedoch im Sinne der Empfindsamkeit berührt zu sein. Doch jede Rührung und Sentimentalität wurde ihm verscheucht durch einen Gedanken, den er nicht mehr loszuwerden vermochte. Denn angesichts des fallenden Wassers fragte er sich: „wozu nützen sie denn aber? Wird irgend etwas zum Besten der menschlichen Gesellschaft dadurch bewirkt?“ (S. 198). Campes Antwort fällt eindeutig aus: „Ganz und gar nicht; sie sind vielmehr grade das, was den Strom in dieser Gegend hindert, den Menschen nützlich zu werden.“ Was stellt sich Campe statt dessen vor: „Wäre der Rhein hier minder Genie; ginge sein Strom, wie andere ehrliche Flüsse, fein gemäßiget und regelmäßig einher: so könnte er auf seinem Rücken Lastschiffe tragen; so könnte er Handlung und Gewerbe befördern; so könnten die Producte beider Indien, zum Vergnügen und Nutzen der Bewohner dieser Gegend, auf seinem Gewässer bis nach Schaffhausen und Constanz schwimmen“ (S. 198). So aber biete der Rhein mit seinem Wasserfall „allenfalls auch Stoff zu poetischen Gemählden“ und könne helfen, „eine mahlerische Reisebeschreibung“ aufzuhübschen (ebd.). Campe enttäuscht hier also aus pädagogischen Gründen absichtlich die Erwartungen seiner Leser, weil es ihm eben nicht um eine malerische Reisebeschreibung ging, sondern um Belehrung über das Nützliche. Seine Zeitgenossen aber waren, wie Hentschel in seinem Nachwort mitteilt, durchaus nicht alle einverstanden mit dieser Haltung. Campe war offensicht- lich trotz seiner intensiven Rousseau-Rezeption (S. 223) nicht zum Fortschritts- und Zivilisationskritiker geworden (S. 225), sondern ein Freund technologischer Neuerungen und einer Ausbreitung des Gewerbefleißes. Aber Friedrich Leopold Graf zu Stolberg reagierte auf Campes schnöden Nutzengedanken mit dem Hinweis auf die biblische Einsicht, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebe (S. 223, Anm. 46). Man sieht: Der Text Campes bietet manches Spannende und Erhellende und dokumentiert eine bürgerlich-liberale Sicht auf Mensch und Welt, die ihre Wirkung erst noch entfalten sollte. Da eine kritische Ausgabe der Werke Campes nicht zu erwarten ist, sind annotierte Leseausgaben einzelner Bücher wie des vorliegenden instruktiven Reiseberichts sehr zu begrüßen. Man greife also zu diesem schön aufgemachten Band und begleite Campe auf seiner philanthropisch gestimmten Reise bis in die Schweiz... Till Kinzel QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/ http://informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=12465 http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=12465