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Gerechtigkeit und Gewalt. Psalm 137 in kanonischer Lektüre

2012

Diese elektronische Lieferung darf gemäß Urheberrecht nur zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch oder für eine Lehrveranstaltung mit einem abgegrenzten Kreis von Unterrichtsteilnehmern verwendet werden. Nicht gestattet ist die Nutzung für eine öffentliche Wiedergabe oder für gewerbliche Zwecke. Ebenfalls untersagt ist die Aufnahme in ein elektronisches Archiv. Erfurter Theologische Schriften Bd. 43 Würzburg 2012 GERECHTIGKEIT UND GEWALT. PSALM 137 IN KANONISCHER LEKTÜRE Ruth Scoralick 1. Einführung „An den Strömen Babels, da saßen wir und weinten, wenn wir des Zion gedachten“ (Ps 137,1). Psalm 137 berührt durch seine Bilder. Der Eingangsvers wird in moderner Literatur und Musik immer wieder aufgegriffen und in neue Kontexte gestellt.1 Auch das Ende des Psalms stellt ein Bild vor Augen. Jemand packt kleine Kinder und schlägt sie an einem Felsen tot. Damit nicht genug: Dieses Tun wird beglückwünscht, die Person, die so handelt, wird seliggepriesen (Ps 137,9). Höchstes Lob für brutalen Kindermord – wie ist das möglich in einem biblischen Text? Dieses Ende des Psalms irritiert und provoziert. Dass nach dem Duktus des Liedes mit dem Mörder entweder Gott selbst oder aber ein in seinem Auftrag handelnder Gesalbter/Messias ins Auge gefasst ist, macht die Sache nicht besser. Eher wird sie nun erst recht theologisch atemberaubend: Wie kann man hoffen, Gott oder sein Messias werden sich als gnadenlose Kindermörder erweisen? Zeigt sich hier nicht wieder einmal nur allzu deutlich das in den letzten Jahren viel diskutierte, Gewalt erzeugende, fördernde und legitimierende Potential von Religion? Alfons Deissler, der vielen seiner Hörerinnen und Hörer das Alte Testament theologisch sehr gut nahe gebracht hat, sei hier stellvertretend für viele christliche Stimmen zitiert. Er möchte in für ihn seltener Radikalität den Schluss des Psalms (V 8f) „aus dem Psalter des neuen Gottesvolkes“ streichen.2 Praktisch umgesetzt ist dieser Vorschlag im Stundengebet der katholischen Kirche: Dort sind die beiden Verse ausgelassen. Sollte man die Verse also aus christlichen Bibeln eliminieren? Oder bewährt sich für den praktischen Umgang mit den Texten christlicherseits der Weg der allegorischen Auslegung? Lässt sich damit das Problematische des Psalms entschärfen? Schon seit der Interpretation des 1 Für einige Hinweise und weitere Literatur vgl. U. Sals, Die Biographie der „Hure Babylon“. Studien zur Intertextualität der Babylon-Texte in der Bibel (FAT, 2. Reihe, 6), Tübingen 2004, 200–202. 2 A. Deissler, Die Psalmen, Düsseldorf 72002 (11964), 533. 123 Origenes (2./3. Jh.n.Chr.) sieht man in V 9 gern das Lob derjenigen, die den Kampf gegen die (in der Tochter Babel personifizierte) Verwirrung aufgenommen haben und die (in den Kindern Babels dargestellten) sündhaften Gedanken am Felsen des Gotteswortes zerschmettern.3 Ob und wie sich ein solches Modell des Textverstehens mit moderner exegetischer Reflexion vermitteln ließe, ist eine spannende Frage. Ich lasse sie im Moment offen. Psalm 137 ist ein emotional berührender Psalm. Derselbe Alfons Deissler, der das Ende des Psalms streichen will, nennt Psalm 137 „eines der ergreifendsten … Lieder des Psalters“.4 Für Shimon Bar-Efrat widmet sich der ganze Psalm der Beschreibung von Gefühlen – Trauer, Liebe und Treue, Hass und Rache. Am Ende kommen dann eben auch negative Gefühle zum Ausdruck. „Psalm 137 makes us aware of the regrettable fact that positive feelings of love for one’s own group, people, or country are often accompanied by or manifested in negative feelings, sometimes understandable but never laudable, of hatred and enmity toward others.“5 Spricht sich im erschreckenden Ende des Psalms also nur „MenschlichAllzumenschliches“ aus, das man zwar verstehen kann, aber nicht nachvollziehen sollte?6 Wie lässt sich das ‚Allzumenschliche’ vom Theologischen unterscheiden? Solche Auslegungen scheinen mir am Zentrum des Psalms vorbeizugehen. Im Kern handelt der Psalm von der Hoffnung auf einen Gott, der entgegen dem Anschein in der Geschichte seine Gerechtigkeit durchsetzen kann und wird. Wie sich die drastische Inszenierung gewalttätigen Handelns im letzten Psalmvers zu diesem Kernthema verhält, wollen die folgenden Darlegungen erwägen. Die Perspektive ist dabei eine kanonische Lektüre. Die Untersuchung der inter3 Zur Auslegung des Psalms durch Origenes und in der weiteren Tradition s. S. Risse, „Wohl dem, der deine kleinen Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert“: Zur Auslegungsgeschichte von Ps 137,9, in: Biblical Interpretation 14 (2006) 364–384. Die allegorische Deutung der Psalmstelle ist im praktischen Umgang mit dem Text weit verbreitet. Ungebrochen empfohlen wird sie auch in dem vielfach wieder aufgelegten und übersetzten Buch von C.S. Lewis, Letters to Malcolm. Chiefly on Prayer (1964) (s. dazu bei S. Risse, ebd., 367). 4 A. Deissler, Psalmen, 532. 5 Siehe S. Bar-Efrat, Love of Zion: A literary interpretation of Psalm 137, in: M. Cogan / B. L. Eichler / J. H Tigay (Hg.), Tehillah le-Moshe. Biblical and Judaic studies, FS M. Greenberg, Winona Lake, IN, 1997, 3–11, hier 11. 6 So kommt etwa für R. Couffignal, Approches nouvelles du Psaume 137, in: ZAW 119 (2007) 59–74, am Ende des Psalms einfach ‚Menschlich-Allzumenschliches’ („humain, trop humain“, ebd. 73) zu Wort. Eine solche Auffassung ist nicht neu. Schon Johannes Chrysostomos (gest. 407) betont, dass es sich um „Leidensworte der Gefangenen“ handelt, die Vergeltung wünschen. Er hebt von dieser Darstellung der Gefühle die Stimme des Psalmisten (David) ab, der selbst anders von Vergeltung spreche (Ps 7,5 LXX), s. seine Expositio in Psalmos, PG 55, 407 (nach S. Risse, Auslegungsgeschichte, 368). 124 textuellen Vernetzung des Textes in den Psalterkontext hinein, aber auch darüber hinaus zu den Prophetenbüchern (Jer 50f; Jes 13), lässt den Psalm nicht nur als poetisches Meisterwerk verstehen, sondern auch als Brennpunkt bibeltheologischer Konzepte erkennen. Die folgenden eher skizzenhaften Bemerkungen konzentrieren sich zunächst darauf, die Eigenart und Dynamik des Psalms in ihren Grundzügen zu erfassen. In einem zweiten Schritt werden Beobachtungen zur intertextuellen Vernetzung des Textes vorgestellt. Welche Sinndimensionen gewinnt der Psalm durch seine Kontextualisierung im Psalter und seine Vernetzung mit den Prophetenbüchern? 2. Psalm 137: Gestalt und Dynamik Psalm 137 hat im hebräischen Text keine Überschrift. Im Gegensatz zu den nachfolgenden Psalmen 138–145 wird er nicht David zugeschrieben. Er folgt auch keinem der bekannten Gattungsschemata des Psalters. Der Psalm geht offenbar eigene Wege. Er lässt sich weder einfachhin als Klagelied noch problemlos als Zionslied verstehen. Auch andere Zuordnungen scheitern. Er ist nicht durchgängig von Parallelismen geprägt. Der Text fällt insofern schon formal aus dem Rahmen und stellt sich im Ablauf des Psalters in gewisser Weise quer.7 Der formalen Auffälligkeit entspricht schon beim ersten Lesen auch eine inhaltliche: Psalm 137 handelt von den Schwierigkeiten des Liedersingens – in einem Lied.8 Es geht dabei nicht um beliebige Gesänge, sondern um Zionslieder, JHWH-Lieder (vgl. V 3f). Wie singt man diese Lieder, wie hält man an ihrer Sinnwelt und ihrem Gottesbild fest, in der Situation des Verlustes, des Exils, die der Psalm voraussetzt? , „gedenken“ (137,1.6.7), in den In diesem Kontext rückt das Leitwort Mittelpunkt. Es prägt den Psalm in allen seinen Teilen und bildet seine innere 7 So kommt er beispielsweise bei der „Skizze zur Entstehung von Psalm 10 1–150“ von Erich Zenger im Psalmenkommentar von F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 10 1–150 (HThKAT), Freiburg i.Br. 2008, 17–26, nur als – sonst nicht näher bestimmter – „Brückentext“ zwischen „Zionspsalter“ Ps 2–136 und Davidpsalter Ps 138–145 in den Blick (ebd. 25). M. Leuenberger, Konzeptionen des Königtums Gottes im Psalter. Untersuchungen zu Komposition und Redaktion der theokratischen Bücher IV-V im Psalter (AThANT 83), Zürich 2004, 321, spricht vom „Orphanus 137“, der als „isolierter Einzelpsalm“ dastehe. 8 Die Thematik des Liedersingens ist in der Bildwelt präsent (durch die an die Bäume gehängten in 137,3f unterstriLeiern) und lexikalisch durch die fünfmalige Verwendung der Wurzel chen. 125 Entwicklung ab. Zugleich wirkt Erinnerung auch in der Psalmpräsentation selbst. Die Verse 1–4 blicken selbst zurück auf die Zionserinnerung im Exil. Der Text gliedert sich in drei Teile. Die Verse 1–4 sind aus der Perspektive einer „Wir“-Gruppe gesprochen („wir saßen“, „wir weinten“, „wie könnten wir singen“). Nur das eingeschobene Zitat am Ende von V 3 hat einen anderen Blickwinkel. In den anschließenden Versen 5 und 6 kommt dann ein einzelnes „Ich“ mit einem Schwur zu Wort („wenn ich dich je vergesse…“). Die Verse 7–9 sind durch zwei Anreden gekennzeichnet (V 7: „Sei eingedenk, JHWH“ und V 8: „Tochter Babel, du …“). Am Ende von V 8 wird wieder eine „Wir“Gruppe sichtbar („Tat, die du uns getan hast“).9 In allen drei Teilen wird das Leitwort „gedenken/sich erinnern“ verwendet (V 1.6.7). Den drei Teilen sei nun zunächst einzeln und dann in ihrem inneren Ablauf nachgegangen. Der erste Teil: Ps 137, 1–4. Die ersten vier Verse akzentuieren die Lokalisierung des Geschehens. Sie beginnen und enden mit Ortsangaben: „an den Strömen Babels“ (V 1) und „auf fremdem Boden“ (V 4). So wird ein Rahmen gebildet. Zweimaliges „da“, „dort“ (V 1.3) sowie der Verweis „in ihrer Mitte“ (V 2) im Text hält die Verortung im Bewusstsein. Immer geht es dabei um Babel/Babylon. Mit der realen Lokalisierung kontrastiert schon in der ersten Zeile ein Ort, der nur in der Erinnerung gegenwärtig ist: Zion. Dieser erinnerte Ort ist überaus wirksam, er prägt die Stimmung am realen Ort. Für Exulanten aus dem wasserarmen Palästina ist reichlich strömendes Wasser (sei es in Gestalt von Strömen, seien es Kanäle) keine Selbstverständlichkeit. Ein Grundelement der Lebenssicherung ist in ungewohnter Fülle vorhanden. Trotzdem herrscht nicht Zuversicht, sondern Trauer. Das ist eine Wirkung der Verbindung mit dem nur erinnerten Ort. Ausdruck dieser Trauer dürften auch die in die Pappeln gehängten verstummten Leiern sein. Es ist nicht die Zeit für Lieder über Gott und Zion. Der Realitätsbezug dieser Lieder steht in Frage. Die ausdrückliche Aufforderung zum Gesang durch die in V 3b sprechende zweite Gruppe verdeutlicht das Problem. Im Kontext von Psalmenformulierungen gelesen geht es dabei um die ) eines der Einwilligung in eine andere Perspektive: „Singt (für) uns ( Zionslieder“. Die Lieder haben jedoch ihren Sinn darin, dass sie (für) JHWH 9 Für eine detaillierte Begründung dieser Gliederung sowie die Diskussion alternativer Vorschläge s. E. Zenger, Lieder der Gotteserinnerung. Psalm 137 im Kontext seiner Nachbarpsalmen, in: M. Theobald / R. Hoppe (Hg.), „Für alle Zeiten zur Erinnerung“, Beiträge zur biblischen Gedächtniskultur, FS F. Mußner (SBS 209), Stuttgart 2006, 25–50, hier 27f, sowie F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 10 1–150, 687f. 126 gesungen werden, von seiner Macht und Gegenwart handeln.10 Das Exil, der Aufenthalt auf „fremdem Boden“ wird zum Ausdruck für die tiefste Anfechtung der im Lied konstituierten und bewahrten Identität. V 4 („wie können/könnten wir … singen“) lässt sich ebenso sehr als ablehnende Antwort auf die Aufforderung in V 3 hören wie auch als (klagende) Selbstbefragung, in der sich die Zerrissenheit der eigenen Identität spiegelt. Der Gottesbezug steht in Frage. Es geht nicht nur darum, dass bestimmte fröhliche Zionslieder nicht zur Lage im Exil passen. Es geht um die in den Psalmen konstituierte und je aufs Neue aktualisierte Sinnwelt und ihren Bezug zur Wirklichkeit. Die Verse 5 und 6 verlassen die Perspektive des Rückblicks und formulieren einen Schwur. Ein Ich beschwört feierlich und in kunstvoll chiastischer Formulierung seine existentielle und affektive Bindung an Jerusalem. Die Stadt wird dabei angesprochen. Der Ort, der in den Versen 1–4 nur noch als Erinnerung präsent war, ist jetzt lebendig in der Anrede gegenwärtig: „Wenn ich dich vergesse, Jerusalem…“. Der Bezug auf die rechte Hand und die Zunge macht das Liedersingen zur Leier auf grundlegende Lebensvollzüge (Tun und Sprechen) hin durchsichtig.11 Liedersingen, Gotteslieder singen, ist in Psalm 137 nicht primär als das professionelle Geschäft einer Berufsgruppe (Tempelmusiker) im Blick. Es geht vielmehr um den identitätsstiftenden Lebensvollzug dessen bzw. derer, die da singen.12 Singen wie Leben sollen enden, wenn die Bindung an Jerusalem schwindet. Die Formulierung in V 6 ist bemerkenswert, auch wenn sie wenig beachtet wird: „Wenn ich nicht hinaufsteigen lasse Jerusalem auf / über den Gipfel mei). Vergleichbar formuliert ner Freude“ ( noch Jer 51,50 („Jerusalem steige auf in euren Herzen“).13 Im Parallelismus 10 wird im Psalter nahezu ausschließlich im Sinne des Singens für / über JHWH (Elohim) verwendet (vgl. 7,1; 13,6; 27,6; 68,5.33 u.a.). Im Zusammenhang mit der Rede vom „neuen Lied“ dürfte auch die Grundstelle Ex 15,1.21 wachgerufen werden (vgl. dreifach in Ps 96,1f; 149,1). 11 Zur kunstvollen Form sowie zur Diskussion um den Inhalt des Schwurs s. Erich Zenger in F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 10 1–150, 69 1–694. 12 Entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge mit Trägergruppen der Tempelmusik werden immer wieder vermutet (vgl. in jüngster Zeit dazu Erich Zenger in F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 10 1–150, sowie U. Berges, „Wie können wir singen das Lied JHWHs auf dem Boden der Fremde?“ [Ps 137,4]. Zum Spannungsfeld von Gewalt und Gotteslob, in: K. Schiffner u.a. [Hg.], Fragen wider die Antworten, FS J. Ebach, Gütersloh 2010, 356–368). Diese Möglichkeit soll hier keineswegs ausgeschlossen werden. Schon innerhalb des Psalms und erst recht bei der Lektüre des Psalms in seinem Kontext werden diese Hintergründe jedoch transformiert. Zur Überblendung von Israel und David in Ps 137 siehe weiter unten. 13 So die Übersetzung mit G. Fischer, Jeremia 26–52 (HThKAT), Freiburg i.Br. 2005, 596. 127 dazu wird in Jer 51,50 Gotteserinnerung „aus der Ferne“ thematisiert: „Gedenkt von ferne JHWHs“ ( ). Damit ist ein Kernproblem auch des Psalms angesprochen. Mit Jer 51 wird an dieser Stelle in Ps 137 schon ein wichtiger Gesprächstext eingespielt. Im Kontext des fast unmittelbar vorangehenden sogenannten Wallfahrtspsal(hier im Hifil) in Verbindung ters14 gewinnt die Verwendung des Verbs mit Jerusalem darüber hinaus noch einen eigenen Klang. Jerusalem ist nicht mehr räumlicher Zielpunkt des Hinaufsteigens, wie zuvor. Die sprechende Person lässt Jerusalem selbst nun vielmehr zur Spitze der eigenen Lebensfreude ‚aufsteigen’. Das aktive Erinnern schafft eine eigene Landschaft, in der Jerusalem alles überragt. Der reale Ort, an dem all das stattfindet, ist in dieser Szene ausgeblendet, der erinnerte Ort beherrscht die Szenerie. Im Nachvollzug des Psalms legt sich der Mitvollzug des Schwurs nahe, das Eintreten in diese Herzenslandschaft. In den Versen 7–9 ändert sich die Perspektive wiederum. Festhalten an Jerusalem bedeutet in Psalm 137 Bewahren der Gottesbeziehung. Wie der zweite Psalmteil die Präsenz Jerusalems neu aktualisiert („dich, Jerusalem“ V 5), so gelingt nun Vergleichbares im dritten Teil im Blick auf JHWH. Es ist wieder möglich und sinnvoll, sich mit einer Bitte an Gott zu wenden („Sei eingedenk, JHWH“ V 7). Die unvermittelte Erwähnung der Edomiter und ihres Rufes am „Tag Jerusalems“ (V 7) weist auf die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier zurück. Von der veränderten inneren Landschaft her richtet sich der Blick auf die Geschichte mit ihren katastrophalen Ereignissen, den Auslösern der Krise des ersten Psalmteils (Ps 137, 1–4). Zugleich steht dabei charakteristischerweise nicht die konkret-geschichtliche Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Vordergrund, sondern ein Phänomen (zunächst) im Bereich der Sprache. Der Ruf der Edomiter in V 7 ist nach verbreiteter Auslegung als perfides Klangspiel mit dem ersten Element des Stadtnamens Jerusalem („Legt bloß, legt bloß“: ) gestaltet.15 Das zweite Element „bis auf den Grund in ihr“ dient der Verstärkung. Damit wird das Wort ‚Jerusalem’ inhaltlich auf den Kopf gestellt. Das lässt sich nicht nur als künstliche Klangassoziation oder ornamentalpoetisches Stilmittel verstehen. Hier drückt sich vielmehr die größtmögliche Feindschaft aus. Jerusalem in dem, was es bedeutet, soll völlig vernichtet wer14 Zur Problematik und den Hintergründen dieser Bezeichnung siehe Erich Zenger in F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 10 1–150, 39 1–407. 15 Hierauf weisen u.a. E. Zenger, Lieder der Gotteserinnerung, 37, und S. Bar-Efrat, Love of Zion, 9, mit ausführlicher Begründung hin. 128 den, ausgelöscht auch in der Sprache, der Welt der Bedeutungen. Das Zitat erweist die Edomiter als tödlichere Feinde denn die Babylonier. Züge einer solchen Stilisierung Edoms zum schlimmsten aller Feinde und zugleich zur Chiffre der Feindschaft schlechthin weisen auch schriftprophetische Bücher auf. Der Appell an Gottes Erinnern (in Gestalt des ‘ ) zielt auf sein Recht Schaffen und Retten, seinen Einsatz für Zion/Jerusalem. Wie der Angriff durch den Ruf der Edomiter über eine bloße Militäraktion weit hinausreicht, so wird auch das Recht-Schaffen Gottes im Folgenden – entgegen der Meinung vieler Exegetinnen und Exegeten – nicht einfach nach den Regeln und Vorstellungen eines ius talionis, einer Vergeltung, die nach gleichem Maß heimzahlt, dargestellt. Im Rückbezug auf die Ereignisse der Geschichte ist so etwas wie eine fundamentale Opposition zu dem, was Jerusalem bedeutet, sichtbar geworden. Entsprechend kommt auch ein Eingreifen Gottes in den Blick, das über ein einzelnes Rechtschaffen hinausgeht. V 8 mag sich dabei noch im Horizont des ius talionis deuten lassen. V 9 geht jedoch weiter. Vers 8 stellt zunächst „Tochter Babel“ als personifiziertes und insofern „lebendiges“ Prinzip der Opposition zu Jerusalem vor Augen. Dabei impliziert jedoch schon die Anrede („Tochter Babel, du Verwüstete“ oder – ebenso möglich – „du zur Verwüstung Bestimmte“16) die Gewissheit, dass die von „ihr“ ausgehende Zerstörung mit Sicherheit auf sie zurückfällt, ja sie schon innerlich (und vielleicht auch äußerlich?) bestimmt. Zugleich verweist die Rede von „Tochter Babel“ intertextuell in die (schrift)prophetische Rezeption der erzählten Geschichte Israels. In diesen Texten ist die Rede über und zu „Babel“ immer wieder auch geöffnet auf prinzipielle, eschatologische Dimensionen des Gotteshandelns. In einen solchen Zusammenhang gehört die Figur der „Tochter Babel“ in Jer 50f (Jer 50,42; 51,33).17 Die Intertextualität von Ps 137 mit Jer 50f ist deutlich ausgeprägt und wirkt – wie oben dargelegt – bereits in V 6.18 Nach dem Jeremiakommentar von Georg Fischer geht es bei der Rede von Babel in Jer 50f letztlich „um alle JHWH widerstreitenden Kräfte“, „der Feind JHWHs [wird] definitiv in seiner Macht überwunden“.19 Jer 50f unterstreichen 16 Vgl. dazu ausführlich N. Rabe, „Tochter Babel, die verwüstete!“ (Psalm 137,8) - textkritisch betrachtet, in: BN 78 (1995) 84–103. 17 Vgl. darüber hinaus „Tochter Babel“ noch in Jes 47,1 und Zef 2,11. 18 A. Michel, Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament (FAT 37), Tübingen 2003, bes. 162–199, hier 186f, beschreibt den lexikalischen Befund der Intertextualität für Ps 137,8f („Nahezu der gesamte Wortbestand von Ps 137,8–9 findet sich im Babylonorakel Jer 50–51…“ ebd. 187). Den Bezug zu Jer 51,50 schon in Ps 137,6 (s.o.) übersieht Michel. Dieser Befund spricht gegen seine Literarkritik. 19 G. Fischer, Jeremia 26–52, 630 und 631. Zur „Karriere“ der Rede von Babel in der Bibel s. U. Sals, Biographie. 129 dabei immer wieder in verschiedenen Wendungen das Prinzip der Vergeltung (vgl. Jer 50,15b[ pi.].29; 51,6[ und ].24[ pi.].35.56[ ; ; ]). Genau das führt auch Ps 137,8 vor Augen. „Selig, wer dir vergilt…“. Von einem ungefilterten Ausdruck oder gar Ausbruch von Hass und Rachsucht kann bei V 8 nicht gesprochen werden. Vielmehr prägen Sprache und Vorstellungen aus dem Bereich des Rechts den Text. Angetanes Unrecht soll vergolten werden. Das ‚entspricht’ in besonderer Weise Jerusalem. Wortspielerisch wird an pi.) und – dieser Stelle die zweite Hälfte des Stadtnamens aufgegriffen ( gegen die Gegnerrede in V 7 – neu wieder in ihr Recht eingesetzt. Damit ist ein / „Frieden“ nicht geleugnet oder beseitigt. Anklang des Stadtnamens an Der Zusammenhang wird nur nicht aktualisiert. Von der relativ unanschaulichen Rechtssprache wechselt der Psalm dann in den Bereich der Kriegsvorstellungen und wird erschreckend konkret. Die zweite Seligpreisung, V 9, stellt eine Handlung brutaler, aber (bis heute) realer Kriegspraxis vor Augen: die Tötung von Kleinkindern durch Soldaten (vgl. 2 Kön 8,12; Jes 13,16; Hos 14,1; Nah 3,10 wie auch außerhalb der Bibel z.B. Homer, Illias 22.63f). Es sind die kleinen „Kinder“ der „Tochter Babel“ („deine Kleinkinder“), die brutal erschlagen werden sollen. Häufig wird zu dieser Stelle betont, dass es auch hier um eine Vergeltung im Sinne der talio gehe: Was angetan wurde, wird ebenso zugefügt.20 Dass Jerusalem so etwas angetan wurde, setzt man in diesem Fall voraus und meint damit dann reale Kriegshandlungen der Babylonier. Zu Recht hat Othmar Keel jedoch schon vor langer Zeit auf die metaphorische Dimension der Verse hingewiesen. Er fragt, ob die Kinder nicht „ebenso symbolisch“ zu verstehen seien wie ihre Mutter, die Tochter Babylon.21 Meine bisherige Auslegung hat nahegelegt, dass bei allem Rückverweis auf geschichtliche Erfahrung Israels in Ps 137 doch auch grundsätzliche Di- 20 Nach E. Zenger, Gotteserinnerung, 39, ist dieser Vers „ebenfalls als Wunsch nach Realisierung des Talionskonzepts“ zu verstehen. Vgl. so auch A. Michel, Gott und Gewalt, 187 Anm. 111. Die oft gesehene Beziehung des Textes zu Jer 51 legt ein solches Verständnis nahe. 21 O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zürich / Neukirchen-Vluyn 41984 (1.Aufl. 1972), 8: „So löst der im Hinblick auf Babylon ausgesprochene (Glück-)Wunsch: ‚Selig, wer deine Kinder packt und sie am Felsen zerschlägt!’ (137,9) meist nichts als Entsetzen aus. Es wäre aber zu überlegen, ob diese ‚Kinder’ nicht ebenso symbolisch zu verstehen sind wie die ‚Mutter Babylon’. Die Einwohner der Unterdrückerstadt oder die Kinder der herrschenden Dynastie konkretisieren das Fortleben der ungerechten Herrschaft … Man könnte also sinngemäß übersetzen: ‚Selig, wer deiner sich stets erneuernden Herrschaft ein Ende bereitet!’ So würde der Satz vermutlich niemanden verletzen, obgleich er ebenfalls einen brutalen Vorgang herbeiwünscht.“ Keel versteht die Symbolik der Tochter Babel im Hinblick auf das neubabylonische Reich. Die „Tochter Babel“ ist jedoch durch die Intertextualität mit Jer 50f aufgeladen zum Gegenbild Zion/Jerusalems schlechthin. 130 mensionen des Gottesbezugs und der Bindung an Jerusalem/Zion bzw. der Gegnerschaft dazu in den Blick kommen. Vor diesem Hintergrund wird das Schlussbild des Psalms lesbar als Hoffnung auf den Recht schaffenden Gott, der nicht nur Ausgleich schafft, sondern auch allen neuen, erst noch heranwachsenden Bedrohungen und Bestreitungen ‚seiner’ Stadt ein endgültiges Ende bereitet. Der intertextuelle Bezug auf prophetische Texte, besonders Jer 50f, stützt eine solche Lesart und die Einbindung in den Rahmen des Psalmenbuches, auf die weiter unten noch eingegangen wird, verstärkt die Plausibilität noch weiter. Ob sich die Seligpreisung in V 9 dabei auf einen kommenden Messias bezieht oder ob Gott selbst gemeint ist (wie sich im Anschluss an Jer 50f vielleicht nahelegt), lässt sich allein vom Psalm her nicht entscheiden. Die Hoffnung des Psalms richtet sich auf „einen“, der die Gewalt gegen Jerusalem gewaltsam ein für alle Mal beendet. Die Tötung der Kinder zielt dabei sehr wohl auf ein endgültiges Ende, nicht nur eine Schwächung „Babels“.22 Allerdings spielt sich das auf einer metaphorischen Ebene ab. Es geht um das Ende der Macht und Herrschaft des Gegenprinzips zu Jerusalem/Zion. Dieses Ende ist inszeniert als Akt brutaler Gewalt. Ob sich dieses anvisierte Ende deshalb auch real als Gewaltakt ereignen muss, ist eine eigene und andere Frage. Die drastische Kriegshandlung kann durchaus als Bild für einen in der Realität ganz anders verlaufenden Vorgang stehen. Die Bildsprache stellt jedoch in jedem Fall den Ernst dessen vor Augen, worum es hier geht. 3. Intertextuelle Bezüge des Psalms im Buch der Psalmen Die Einbindung von Psalm 137 in seinen näheren Kontext, das Buch der Psalmen, ist – bei aller gleichzeitig auch bestehenden Vereinzelung des Textes – komplex und vielschichtig. Damit fällt noch einmal ein eigenes Licht auf seine Aussagen. Einige ausgewählte Aspekte seien kurz skizziert.23 22 Für A. Michel, Gott und Gewalt, 197, ist in V 9 „die dauerhafte Annihilierung des Gegners als Gegner“ durch massive Schwächung ausgesagt, nicht jedoch eine wirklich umfassende Vernichtung angezielt. Unterläuft Michel an dieser Stelle nicht vielleicht doch gerade eine apologetische Abschwächung der Härte eines Textes, die er sonst so gern anderen Autoren vorwirft? Beseitigt eine Schwächung Gegnerschaft wirklich dauerhaft? 23 Mit redaktionsgeschichtlichem Interesse liegen Überlegungen vor, z.B. bei A. Michel, Gott und Gewalt, und M. Leuenberger, Königtum, sowie E. Zenger, Gotteserinnerung, und in F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 10 1–150. Vgl. auch U. Berges, Spannungsfeld. Ich verzichte auf eine Rekapitulation der Beobachtungen und setze stattdessen nur einige eigene Akzente. 131 3.1 Die direkt vorausgehenden Psalmen 135 und 136 singen das Lob der Güte Gottes, die sich in der Schöpfung ebenso zeigt wie in der Geschichte Israels. Beide Texte zeichnen dabei das Bild des engagierten Exodusgottes nach. Dieser Gott teilt als Krieger tödliche Schläge aus. Die Texte halten die umfassende Güte des Schöpfergottes (vgl. z.B. 136,25: „Der Nahrung gibt allem Fleisch“) und die Vorstellung des in der Geschichte machtvoll Partei ergreifenden Kriegergottes in komplexer und spannungsvoller Weise zusammen.24 Schon in diesen beiden Psalmen wird die Geschichte durchsichtig auf Grundkonstellationen des Gotteshandelns und der Beziehung zu Gott. Das setzt sich in Psalm 137 fort. Andreas Michel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Motiv der Tötung von Kindern schon in den beiden Psalm 137 vorausgehenden Texten eine wichtige Rolle spielt. Psalm 135 und 136 beginnen ihren Rückblick auf Gottes Handeln an Israel unvermittelt mit der Tötung der Erstgeburt Ägyptens (135,8; 136,10). Vor diesem Hintergrund wirkt das schreckliche Bild am Ende von Ps 137 wie eine Radikalisierung. Erhofft und erwünscht wird eine Kriegshandlung nach dem Vorbild der Befreiung beim Exodus. Wiederum ist von der Tötung von Kindern die Rede.25 Der Kreis ist dabei in Ps 137 weiter gefasst. Es geht ) nicht mehr „nur“ um Erstgeborene wie in Ps 135f. „Deine Kleinkinder“ ( in Ps 137,9 bezieht sich auf alle kleinen Kinder der Tochter Babel. Die Tötung der Kinder wird in Ps 137 szenisch ausgemalt. Während die vorangehenden Psalmen 135f nicht anschaulich erzählen („der schlug“), inszeniert Ps 137 die Tat drastisch. Die Abfolge der Psalmteile in Psalm 137 ist bestimmt von ihrer grundsätzlichen Ausrichtung auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Ende des Psalms (V 9) stellt ein göttliches Eingreifen nach dem Muster der Vergangenheit (vgl. Ps 135f) vor Augen, nun jedoch mit allen Anzeichen des Endgültigen im Horizont der Zukunft. Vor dem Hintergrund schriftprophetischer Texte, insbesondere durch die intertextuell enge Verwobenheit mit Jer 50f, wird Ps 137,9 als Bild für die endgültige Durchsetzung der Gottesherrschaft in der Geschichte lesbar. Das Handeln Gottes (ob vermittelt oder unmittelbar) wird der 24 Vgl. zu beiden Psalmen R. Scoralick, Hallelujah für einen gewalttätigen Gott? Zur Theologie von Psalm 135 und 136, in: BZ 46 (2002) 253–272. Die Anrede Ägyptens in Ps 135,9 schafft dabei für die Leserinnen und Leser ein Moment produktiver Verwirrung, durch das die klaren Linien eines Schwarz-Weiß-Denkens in Frage gestellt werden. 25 Die Tötung der Erstgeburt Ägyptens wird in Ps 135 nicht auf Menschen beschränkt, sie trifft auch das Vieh (135,8). Während prinzipiell nicht nur Kinder/Jungtiere gemeint sein müssen, scheint mir das doch plausibel. 132 Befreiung im Exodusgeschehen (vgl. Ps 135f) entsprechen, es jedoch zugleich auch überbieten. 3.2 Eine weitere Beobachtung kann diese Auffassung stützen. Die Rede vom Zerschmettern von Kindern hat zwar ihre (oben bereits genannten) Parallelen außerhalb des Psalters, sie weist jedoch an unserer Psalmstelle eine einmalige Besonderheit auf. Während alle anderen biblischen Parallelbelege die Wurzel („zerschmettern“) verwenden, gebraucht Ps 137 „zerschlagen“.26 Das verknüpft unseren Vers signifikant mit zwei anderen Texten. Der eine dieser beiden Texte steht außerhalb des Psalters. Es ist wiederum („zerschlagen“) neunfach gebraucht, Jer 51. In Jer 51,20–24 wird das Verb um das Tun Babels unter den Völkern zu charakterisieren. In Psalm 137 kehrt dieses Tun sich nun als gerechte Vergeltung gegen Babel selbst. Der andere der beiden Bezugstexte ist Psalm 2. Im Buch der Psalmen ver„zerschlagen“. Mit der Beziewenden nur Ps 137,9 und Ps 2,9 das Verb hung zu Psalm 2 klinkt sich Psalm 137 in den Rahmen des ganzen Psalters ein. Diese Bucheinfassung aus den Psalmen 1–2 und 146–50 gibt die entscheidende Perspektive für das Ganze vor. „Von den Rahmenpsalmen 1–2 und 146–150 her ist offenkundig, dass der Psalter ein Lobpreis der universalen in Schöpfung und Tora grundgelegten Gottesherrschaft … ist, die JHWH durch seinen auf dem Zion eingesetzten (messianischen) König (vgl. Ps 2) und durch sein messianisches Volk, die Kinder Zions (vgl. Ps 149), inmitten der Völkerwelt in einem eschatologischen Gericht durchsetzen will.“27 In Psalm 2,9 zitiert der Gesalbte auf dem Zion eine Gottesrede, in der ihm das Zerschlagen der ‚Nichtiges’ planenden Völker zugesprochen wird. 9 Du wirst/sollst sie (sc. die Völker) zerschmettern mit eiserner Keule, ).28 wie Krüge aus Ton sie zerschlagen ( Der im nächsten Vers anschließende Aufruf an die Könige und Richter der Welt zur Einsicht (Ps 2,10) verdeutlicht die Zielrichtung der Gewaltaussagen. Sie dienen der Mahnung zu Umkehr und Neubesinnung. 26 Ausführlich dazu s. A. Michel, Gott und Gewalt, 185. 27 So Erich Zenger in E. Zenger (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, 8. Auflage hrsg. von Ch. Frevel (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,1), Stuttgart 2012 (11995), 437. 28 Für den altorientalischen Hintergrund der Vorstellung und der Formulierung s. E. Otto, Psalm 2 in neuassyrischer Zeit. Assyrische Motive in der judäischen Königsideologie, in: K. Kiesow / Th. Meurer (Hg.), Textarbeit. Studien zu Texten und ihrer Rezeption aus dem Alten Testament und der Umwelt Israels, FS P. Weimar (AOAT 294), Münster 2003, 335–350, bes. 344–346. 133 Die Durchsetzung der Gottesherrschaft in der Völkerwelt kommt in Ps 149 zu einem Höhepunkt. Motive aus Psalm 2 werden aufgegriffen. Der Vollzug des Gerichts wird in Ps 149 martialisch geschildert. Die , „Kinder Zions“ (!) aus V 2 „übernehmen … einerseits die in Ps 2 dem Zionskönig zugewiesene kämpferische Rolle bei der Entmachtung der die Weltordnung störenden Könige und Mächte bzw. beim eschatologischen Strafgericht ‚gemäß der Schrift’, andererseits wird der von ihnen gesungene Psalter als das die Weltordnung JHWHs wiederherstellende ‚Instrument’ (Schwert) präsentiert.“29 3.3 In Ps 137 bleibt offen, wer am Ende des Psalms gepriesen wird: Gott selbst (das legt die Parallele in Jer 50f nahe) oder aber ein anderer/eine andere. Die Verbindung zu Psalm 2 lässt alternative Entscheidungen relativ überflüssig werden. Das Wirken Gottes und das Tun des Gesalbten lassen sich nicht streng auseinander dividieren. Mit der deutlichen Anbindung von Psalm 2 an Psalm 3 kommt schon am Beginn des Psalters ausdrücklich auch die facettenreiche Figur des David ins Spiel. David erscheint im Psalter als der typologische Psalmbeter, er figuriert als Einzelgestalt wie auch als Repräsentant des Kollektivs Israel. Mit der Gestalt Davids wird Geschichte reflektiert und zugleich auch (auf der Basis von 2 Sam 7) der Ausblick auf die noch ausstehende, erhoffte Zukunft gewagt. In Psalm 137 durchdringen sich diese Dimensionen. Der Psalm thematisiert das Liedersingen als konstitutiven Lebensvollzug Israels. Im vorangehenden Psalm 136 kommt in V 23 ein „wir“ zu Wort, in dem Israel selbst spricht („[JHWH], der in unserer Erniedrigung unser gedachte“). Von dorther erscheint das „Wir“ zu Anfang von Ps 137 automatisch ebenso auf Israel bezogen. Dass Ps 136,23 zudem noch das Gedenken ( ) Gottes thematisiert, verstärkt die Verbindung beider Psalmen. Das Kollektiv zu Beginn von Psalm 137 („wir“ in V 1–4) präsentiert sich als Sänger(gruppe). Damit tritt es in der Rolle Davids auf, Davids als des Sängers von Liedern zur Leier. Wenn der Schwur in Ps 137,5f dann von einem einzelnen Ich gesprochen wird und Liedersingen und Leben überblendet, kommt die Vieldimensionalität der Davidfigur im Psalter zum Zug. In vergleichbarer Weise funktioniert im näheren Kontext von Psalm 137 noch Psalm 144. Dort spricht zu Anfang „David“ (unter Wiederaufnahme von Elementen aus Psalm 18). In V 12 wechselt der Text unvermittelt zu einem „Wir“ des Volkes über. Am Ende (Ps 144,15) steht eine zweifache Seligpreisung („Selig das Volk, dem es so ergeht, selig das Volk, dessen Gott JHWH 29 So Erich Zenger in F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 10 1–150, 870f. 134 ist“). Die Anklänge an Ps 137 und die Entsprechungen auf inhaltlicher Ebene wären eine ausführliche Untersuchung wert. Lassen sich der Schwur in Ps 137,5f und die zweifache Rede von den Fremden, deren Mund Trug redet und deren Rechte eine Rechte der Lüge ist (Ps 144,8.11), in Beziehung setzen? Entsteht mit der Rede von den prächtigen Söhnen und Töchtern des Volkes ein Kontrast zu Ps 137,9? 4. Schluss Psalm 137 erweist sich als außergewöhnlicher Psalm. Es ist ein Lied über Gefährdungen und Möglichkeiten des Liedersingens über Gott und Zion. Der Psalter wird an dieser Stelle selbstreflexiv. In der Reflexion auf den größten Bruch in der Geschichte Israels, das Exil, wird die weltverwandelnde Macht des „Gedenkens“, der „Erinnerung“, des Liedersingens deutlich. Literatur Ahn, J., Psalm 137. Complex Communal Lament, in: JBL 127 (2008) 267–289. Bar-Efrat, S., Love of Zion: A literary interpretation of Psalm 137, in: M. Cogan / B. L. Eichler / J. H. Tigay (Hg.), Tehillah le-Moshe. Biblical and Judaic studies, FS M. Greenberg, Winona Lake, IN, 1997, 3–11. Berges, U., „Wie können wir singen das Lied JHWHs auf dem Boden der Fremde?“ (Ps 137,4). Zum Spannungsfeld von Gewalt und Gotteslob, in: K. Schiffner u.a. (Hg.), Fragen wider die Antworten, FS J. Ebach, Gütersloh 2010, 356–368. 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