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ZfM Zeitschrift für Management Heft 2 April 2007 2. Jahrgang Seiten 168 - 197 Post-bürokratische Organisation – Utopie und Alltag Eine Fallstudie zur IT-gestützten Kommunikation Achim Oberg/Peter Walgenbach Zusammenfassung Post-bürokratische Organisationskonzepte forcieren den Abbau hierarchischer und disziplinärer Schranken innerhalb von Organisationen, um den Informationsaustausch zu vereinfachen und die Flexibilität der Organisation zu erhöhen. Mithilfe von Intranets, die den unbeschränkten Zugriff auf alle elektronischen Informationen sowie einen direkten Kontakt zwischen Organisationsmitgliedern erlauben, sollen diese Werte im Handeln umgesetzt werden. Am Beispiel eines Start-up-Unternehmens, das sich den Prinzipien der post-bürokratischen Organisation unter Einsatz eines multiautoren-basierten Intranets verpflichtet hat, untersuchen wir, inwieweit die Versprechungen dieser alternativen Organisationsform mithilfe dieser Technologie realisiert werden konnten. Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen, dass hierarchische und disziplinäre Schranken von den Organisationsmitgliedern bei der Wahl ihrer Kommunikationspartner im Intranet reproduziert wurden, ohne dass strukturierende Einflüsse des Intranets vorlagen. Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 169 1. Einleitung Mit neuen Informations- und Kommunikationssystemen (IuKSystemen) verbindet sich häufig die Hoffnung, dass durch ihre Einführung die Effizienz von Organisationen gesteigert werden kann. Zur Erreichung der Verbesserungspotenziale wird es in der Regel als sinnvoll angesehen, die Einführung neuer IuK-Systeme mit unterstützenden Managementkonzepten zu begleiten, so dass organisationsstrukturelle und/oder -kulturelle Hemmschwellen zur Nutzung der technologischen Potenziale überwunden werden können. Umgekehrt scheinen bestimmte Organisationskonzepte oft erst realisierbar, wenn unterstützende IuKSysteme zur Verfügung stehen. Eine solche Kombination von IuKSystem und Organisationskonzept stellen das Intranet und das Konzept der post-bürokratischen Organisation dar. Im Hype der New Economy schwärmten nicht nur viele Manager, sondern auch renommierte Wissenschaftler von einer postbürokratischen und vernetzten Organisation1, die durch systematische Nutzung moderner Informationstechnologien im Rahmen eines „Wissensmanagements“ eine schnelle Anpassung der Unternehmen an die Veränderungen in der Umwelt ermöglichen soll2. Bürokratische Strukturen reduzieren nach Auffassung der Vertreter des Konzepts der post-bürokratischen Organisation nicht zuletzt aufgrund langsamer und umständlicher Informationsflüsse die erforderliche Flexibilität von Unternehmen. Diese Nachteile, die mit den typischen Merkmalen bürokratischer Organisation, nämlich hierarchische Strukturen, strikte Arbeitsteilung, Aktenmäßigkeit und unpersönliche Umgangsformen, in Verbindung gebracht werden, sollen mit dem Modell der post-bürokratischen Organisation überwunden werden. Die post-bürokratische Organisation wird in der Praxis als ein radikales Gegenmodell zu bürokratischen Organisationsstrukturen betrachtet, das mithilfe neuer Informations- und Kommunikationstechniken umgesetzt werden kann3. Am Beispiel eines jungen Unternehmens in der New Economy, das sich der vernetzten post-bürokratischen Organisation verschrieben hat, untersuchen wir mithilfe einfacher Methoden der Netzwerkanalyse, inwieweit sich die Prinzipien der post-bürokratischen Organisation im 1 Vgl. etwa Malone/Laubacher (1999). 2 Vgl. Probst/Raub/Romhardt (2006). 3 Vgl. Levine/Locke/Searls/Weinberger (2000). 170 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation Verhalten der Organisationsmitglieder widerspiegeln. Die zentrale Forschungsfrage ist dabei: Wie wird in einer post-bürokratischen Organisation mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien kommuniziert? Darüber hinaus wird den folgenden Unterfragen nachgegangen: Werden moderne Informationstechnologien als Wissensspeicher genutzt? Werden die Möglichkeiten der modernen Informationstechnologien zur direkten Kommunikation zwischen allen Organisationsmitgliedern umgesetzt? Verläuft der Austausch von Informationen unabhängig von formalen sozialen Beziehungen? Wird die Hierarchie überwunden? Der Beitrag ist im Weiteren wie folgt aufgebaut: Im nächsten Abschnitt stellen wir grundlegende Prinzipien der post-bürokratischen Organisation knapp vor. Anschließend beschreiben wir kurz die Fallstudienunternehmung. Im vierten Abschnitt legen wir das methodische Vorgehen im Rahmen unserer empirischen Studie dar. Im fünften Abschnitt präsentieren wir die Befunde unserer Studie. Darauf folgend diskutieren wir im sechsten Abschnitt die Befunde unserer Untersuchung. Der letzte Abschnitt des Beitrags dient der Ableitung von Implikationen für die Forschung und die Praxis. 2. Post-bürokratische Organisation Eine eindeutige Bestimmung dessen, was unter postbürokratischer Organisation zu verstehen ist, lässt sich in der Literatur nicht identifizieren. Dies hat verschiedene Ursachen: Zum einen wird die post-bürokratische Organisation im Kontext des philosophischen Diskurses der Postmoderne thematisiert.4 Zum anderen handelt es sich um ein Organisationskonzept,5 das von Praktikern und der Praxis nahe stehenden Beratern entwickelt wurde – und das vielleicht aus diesem Grunde nicht exakt definiert ist, sondern sich nur in Grundzügen in der Literatur beschrieben findet.6 Doch trotz aller Unschärfen in der Bestimmung des Konzepts der post-bürokratischen Organisation in der Literatur zeigt sich in fast allen Ausführungen der Vertreter dieser Organisationsform explizit oder implizit ein gemeinsamer Ausgangspunkt: Das Modell der post-bürokratischen Organisation wird als 4 Vgl. Koch (2003). 5 Siehe Clegg (1990). 6 Vgl. Orlikowski (1988). Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 171 Gegenmodell zum Idealtypus der Bürokratie,7 wie er von Max Weber8 zu Beginn des letzten Jahrhunderts beschrieben wurde, konzipiert.9 Insofern lässt sich das Konzept der post-bürokratischen Organisation auch am einfachsten über das Bürokratiemodell von Max Weber und die Kritik an diesem Modell erschließen. Im Idealtypus der Bürokratie besteht nach Max Weber eine „feste Verteilung der für die Zwecke des bürokratisch beherrschten Gebildes erforderlichen, regelmäßigen Tätigkeiten.“10 Bürokratien weisen ein fest geordnetes, personenunabhängiges System von überund untergeordneten Stellen (Amtshierarchie und Instanzenzug) auf. Das Stellensystem – meist veranschaulicht im Organigramm – legt die formalen Kommunikationswege (so genannte Dienstwege) fest: Wenn Mitarbeiter verschiedener Abteilungen Informationen austauschen wollen oder müssen, erfolgt dies durch Einschaltung ihrer jeweiligen Vorgesetzten und gegebenenfalls der Vorgesetzten der Vorgesetzten sowie unter Einsatz von Schriftstücken, so dass Kommunikations- und Entscheidungsprozesse dokumentiert werden. Die Orientierung der Kommunikation an formalen Strukturen ist eine der „generellen, mehr oder minder erschöpfenden, erlernbaren Regeln“,11 die von allen Mitarbeitern in einer bürokratischen Organisation eingehalten werden. Mit dem Bürokratiemodell ist zudem ein bestimmtes Menschenbild verbunden: Tätigkeiten in der Organisation (Büro) und im Privatleben erfahren nicht nur eine räumliche Trennung, sondern die Amtsausübung erfolgt frei von persönlichen Einflüssen. Stelleninhaber werden zu „Rädchen“ in einem gewaltigen Getriebe.12 Der Bürokratie bescheinigt Max Weber in ihren idealtypischen Ausprägungen eine generelle technische Überlegenheit.13 Vertreter des Modells der post-bürokratischen Organisation hingegen bezweifeln insbesondere vor dem Hintergrund einer zunehmenden Umweltdynamik die Effizienz bürokratischer Strukturen. Aus ihrer Sicht sind 7 Vgl. exemplarisch Heckscher (1994); Levine/Locke/Searls/Weinberger (2000); Courpasson/Reed (2004). 8 Vgl. Weber (1972). 9 Vgl. zusammenfassend Kieser (2002). 10 Weber (1972), S. 551. 11 Ibd., S. 552. 12 Vgl. Weber (1988), S. 413. 13 Vgl. Weber (1972), S. 561 f. 172 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation bürokratische Strukturen schlicht nicht mehr zeitgemäß, weil sie den heutigen Flexibilitätserfordernissen von Unternehmen aufgrund umständlicher Informationsflüsse entlang fest definierter Informationskanäle nicht gerecht werden können. Sie argumentieren, dass Mitarbeiter Informationen möglichst schnell und direkt austauschen können müssen. Die Mitarbeiter sollen Informationen nicht entlang eines Instanzenzugs weitergeben,14 sondern möglichst direkt miteinander kommunizieren und auch möglichst einen Zugriff auf alle Informationen im Unternehmen erhalten (Pull- statt Push-Prinzip). Der Umgang mit Informationen soll nicht durch formal definierte Regeln, sondern durch eine starke Organisationskultur gestützt werden. Die Organisationskultur soll den Mitarbeitern eine grundsätzliche Orientierung bei ihrem Handeln im Unternehmen geben, aber ansonsten die Freiheit lassen, nach neuen Lösungen für auftretende Probleme zu suchen.15 In post-bürokratischen Organisationen wird auf die Leistungsfähigkeit hoch motivierter, sich immer neu zusammensetzender Teams vertraut, die sich und ihre Aktivitäten mithilfe moderner Informationstechnologien, z. B. durch Groupware oder durch Intranets, abstimmen. Der Einsatz eines Intranets etwa soll den Aufbau eines gemeinsamen Dokumentensystems, das als Wissensspeicher genutzt wird, und eine direkte, von umständlichen Dienstwegen befreite Kommunikation zwischen allen Mitarbeitern der Organisation ermöglichen.16 Befreit von allem bürokratischen Ballast können – so die Vertreter der post-bürokratischen Organisation – durch das Intranet neue vernetzte Organisationsformen entstehen, die im Vergleich zu an traditionellen Organisationsformen orientierten Unternehmen gravierende Flexibilitätsvorteile aufweisen. Von den Mitarbeitern wird erwartet, dass sie sich selbst abstimmen und erkennen, wer gerade mit wem zusammenarbeiten müsste und wer welche Information besitzt bzw. benötigt. Damit Mitarbeiter bei der Selbstorganisation flexibel reagieren können, wird von ihnen erwartet, dass sie nicht nur ein 14 Vgl. auch Krackhardt (1994). 15 Zur Gegenüberstellung der Idealtypen der bürokratischen und der postbürokratischen Organisation siehe auch Tabelle 1; eine Zusammenfassung der Gegenüberstellungen der bürokratischen und der post-bürokratischen Organisation in der organisationswissenschaftlichen Literatur findet sich in Koch (2003), S. 280 ff. 16 Vgl. Sproull/Kiesler (1991). Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 173 Spezialwissen aufbauen, sondern auch einen Überblick über die Wissensgebiete ihrer Kollegen haben. Um dies zu erreichen, müssen relevante Informationen unabhängig von Hierarchie und Abteilungsspezialisierung in kürzester Zeit im gesamten Unternehmen verbreitet werden. Das Intranet soll sowohl den Aufbau eines Wissensspeichers als auch die Diffusion von Informationen unterstützen. In unserer Studie beziehen wir uns auf das Organisationsmodell, wie es in der Praxis und für die Praxis entwickelt wurde, und untersuchen die Umsetzung dieses Modells aus forschungspragmatischen Gründen in einer Unternehmung, die sich den Prinzipien der postbürokratischen Organisation verpflichtet fühlt und von sich behauptet, diese umgesetzt zu haben. 3. Das Fallstudienunternehmen Wir haben ein Start-up-Unternehmen in der New Economy über mehrere Phasen – erste Produktidee, formale Gründung, schnelles Wachstum – hinweg beobachtet. Die starke Wachstumsphase von Anfang 2000 bis Ende 2001, in der das Start-up von 6 Gründern auf über 50 Mitarbeiter im zweiten Geschäftsjahr wuchs, haben wir intensiv begleitet. Das Unternehmen entspricht in vielfacher Hinsicht dem Bild der jungen, dynamischen Unternehmen in der New Economy, wie es in der Managementliteratur und in der Presse gezeichnet wurde: Eine kleine Gruppe von Studenten, fasziniert von der Idee einer postbürokratischen und vernetzten Organisation, entwickelt noch während des Studiums eine innovative Intranetplattform. Innerhalb kurzer Zeit erreicht das Produkt Marktreife. Eine GmbH wird gegründet. Aufträge von namhaften Unternehmen, eine an die spezifischen Bedürfnisse ihres Unternehmens angepasste Intranetplattform zu entwickeln, gehen ein. Venture-Capital-Geber, welche die notwendigen finanziellen Ressourcen für die weitere Entwicklung der Plattform und für ein schnelles Wachstum bereitstellen, werden gesucht und gefunden. Neue Mitarbeiter, von denen einige schon in anderen Unternehmen in der Softwarebranche gearbeitet haben, werden eingestellt. Das junge Start-up wächst und wächst – kein Sonderfall in der New Economy.17 Interessant ist dieses Start-up nun, weil seine Gründer die Prinzipien der post-bürokratischen und vernetzten Organisation auf ihr 17 Vgl. Ganz/Meiren/Woywode (2005). 174 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation eigenes Unternehmen angewendet wissen wollten. Sie hatten sich bereits in ihrem Studium intensiv mit den Nachteilen bürokratischer Organisationen auseinander gesetzt und sich das Ziel gegeben, bei einem eigenen Unternehmen nicht in die Fallstricke der Bürokratie hineinzugeraten. Es wurde mit verschiedenen Mitteln versucht, eine starke Unternehmenskultur zu etablieren, durch die eine Koordination der Aktivitäten der Mitarbeiter durch Hierarchie und eine Spezialisierung auf Teilaufgaben vermieden werden sollte: Das Logo des Unternehmens enthielt die Abbildung eines Netzwerks und den Slogan „Wissen vernetzen“, um Kunden, Partnern, Investoren und Mitarbeitern zu verdeutlichen, dass durch eine enge, hierarchiefreie Zusammenarbeit Mehrwert geschaffen wird. Jeder neue Mitarbeiter erhielt noch vor Beginn seines Arbeitsvertrags einen Zugang zum Intranet, um sich informieren zu können, wer an welchen Aufgaben arbeitet und wer bei welchen Fragen Ansprechpartner ist. Neue Mitarbeiter wurden nicht Vorgesetzten zugeordnet, sondern von einem Mentor unterstützt. Der Mentor hatte – anders als ein Vorgesetzter – keine fachlichen und disziplinarischen Weisungsrechte, sondern sollte dem neuen Mitarbeiter vor allem die Unternehmenskultur des Start-ups vermitteln. Um zu vermeiden, dass sich ein hierarchisch strukturiertes Kommunikationsverhalten etabliert, wurde versucht, Statusunterschiede zu vermeiden und dort, wo sie unvermeidbar waren, nicht erkennbar werden zu lassen. So hatten alle Mitarbeiter einschließlich der Gründer die gleiche Büroausstattung. Altersunterschiede wurden ignoriert, jeder musste jeden duzen. Unterschiede zwischen Gesellschaftern, Mitarbeitern oder Praktikanten wurden, wenn es um die Aufgabenverteilung ging, nicht berücksichtigt. Jeder sollte arbeiten, so viel er konnte (auch an Sonn- und Feiertagen), um das „gemeinsame Unternehmen“ voranzubringen. Dienstwohnungen in unmittelbarer Nähe der Büroräume wurden zur Verfügung gestellt, so dass auch die Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten in kritischen Arbeitsphasen aufgehoben werden konnte. Im Intranet sollten alle laufenden Projekte mit Terminen, Partnern, Dokumenten etc. für alle Mitarbeiter offen zugänglich abgelegt werden, so dass sich jeder Mitarbeiter jederzeit über alle laufenden Aktivitäten informieren konnte. Zudem sollte über ein Messaging-System im Intranet die gesamte interne elektronische Kommunikation abgewickelt werden. Zusammenfassend: Es wurde versucht, Unternehmenskultur und Informationstechnologie so zu gestalten, dass sie keiner Einengung Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 175 der Mitarbeiter auf Themengebiete und keiner Einengung auf Hierarchieebenen Vorschub leisteten. Mit all diesen Maßnahmen versuchten die Unternehmensgründer, die Prinzipien der postbürokratischen Organisation nicht nur als Firmenlogo „auf die Fahne“ zu schreiben, sondern auch intern zu etablieren. 4. Methodisches Vorgehen Das in dem untersuchten Unternehmen entwickelte und eingesetzte Intranet verbindet die Eigenschaften eines Informationssystems zur Speicherung von stark und schwach strukturierten Informationen mit den Eigenschaften eines Kommunikationssystems zum Transport von Informationen. In ihm können nicht nur Dokumente, Projektbeschreibungen, Mitarbeiterseiten, Kundendaten etc. von jedem Mitarbeiter gespeichert und gelesen werden, sondern über ein Messaging-System ist es möglich, interne Nachrichten analog zu E-Mails zu versenden. Da das Intranet als zentraler Wissensspeicher und als wichtigstes elektronisches Kommunikationsmedium im untersuchten Start-up verwendet wurde, bot es sich an, das Informations- und Kommunikationsverhalten der Mitarbeiter im Intranet eingehender zu untersuchen. Wir kombinieren dabei qualitative Verfahren (Interviews, teilnehmende Beobachtung und Dokumentenanalysen) mit einer deskriptiv-quantitativen Analyse des Nutzungsverhaltens. In unserer Fallstudie steht mit Blick auf das Intranet jedoch vor allem das konkrete Nutzungsverhalten der Organisationsmitglieder im Vordergrund. Die Daten, die wir mithilfe von Interviews, Beobachtungen und Dokumentenanalysen gewonnen haben – also jene Daten, die üblicherweise in Fallstudien im Vordergrund stehen –,18 nutzen wir in unserer Untersuchung zum einen als Hintergrundinformationen, um zu illustrieren, dass die gewählte Fallstudienunternehmung aufgrund ihrer Merkmale als eine post-bürokratische Organisation angesehen werden kann (siehe Abschnitt 3), und zum anderen, um die formalen sozialen Beziehungen, d. h. eine Dimension des sozialen Netzwerks in der Fallstudienunternehmung zu rekonstruieren. Eine Fallstudie ist sicherlich nicht dazu geeignet, relevante Fragen und Probleme der Organisations- und Managementforschung abschließend zu beantworten. Fallstudien besitzen vielmehr explorativen 18 Vgl. Yin (1981); Boos/Fisch (1986); Eisenhardt (1989); Eden/Huxham (1999). 176 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation Charakter. Sie können jedoch in besonderer Weise dazu dienen, Überlegungen oder Thesen zu generieren, die in weiteren Studien einer systematischen und großzahligen Überprüfung unterzogen werden können. Zudem erlauben sie eine tief gehende Analyse interessierender Aspekte. In unserer Fallstudie haben wir nun die gesamten Nutzungsdaten (675.057 Klicks inklusive 16.193 versendeter Messages) des Intranets im Jahr 2001 ausgewertet. Das Informations- und das Kommunikationsnetzwerk im Intranet und nicht die Informations- und Kommunikationsinhalte standen bei der Analyse im Vordergrund. Das Informationsnetzwerk haben wir aus den im Intranet registrieren Klicks auf Dokumente abgeleitet. Hier wird erkennbar, wer welche Dokumente genutzt hat. Anhand des Messaging-Systems wurde das Kommunikationsnetzwerk rekonstruiert. Wir haben untersucht, wer wem eine Nachricht geschickt hat. Darüber hinaus sind in Interviews mit mehreren Gründern, Mitarbeitern und Geschäftspartnern sowie über Projektbeschreibungen im Intranet die formalen sozialen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Start-ups ermittelt worden. Es wurde vor allem rekonstruiert, wer wann wessen Mentor war. So konnten wir das soziale Netzwerk im untersuchten Unternehmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Beobachtungszeitraum rekonstruieren. Das Mentorennetzwerk spiegelt sicherlich nicht alle sozialen Beziehungen im untersuchten Unternehmen wider, allerdings handelt es sich bei der Mentorenbeziehung um die einzige formal definierte und formalisierte Beziehung zwischen den Mitgliedern der Unternehmung. Die durch die verschiedenen Verfahren rekonstruierten Netzwerke lassen sich jeweils mithilfe der Methoden der sozialen Netzwerkanalyse einzeln qualitativ beschreiben und quantitativ analysieren.19 Im Einzelnen haben wir die folgenden Verfahren der Netzwerkanalyse genutzt, um das Informations- und Kommunikationsverhalten in der Fallstudienunternehmung zu untersuchen: Verbundenheit: Wir betrachten, ob die Mitglieder der Organisation im Informations- und Kommunikationsnetzwerk miteinander verbunden sind oder ob einzelne unverbundene Teilmengen der gesamten Organisationsmitglieder zu erkennen sind. Wenn die Erwartung der 19 Eine Einführung in die soziale Netzwerkanalyse bieten Scott (2000) sowie Kilduff und Tsai (2003). Wasserman und Faust (1997) vermitteln eine Sammlung verschiedenster Methoden. Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 177 post-bürokratischen Organisation zur Etablierung eines gemeinsamen Wissensspeichers im Intranet erfüllt wird, müssten alle Mitglieder der gesamten Organisation in die elektronischen Informations- und Kommunikationsnetzwerke eingebunden sein. Zentralität: Für alle Mitglieder werden lokale Zentralitätsmaße (Degree, Indegree, Outdegree) berechnet, die sich auf die jeweils nächsten Nachbarschaftsbeziehungen der Mitglieder im Informationsund Kommunikationsnetzwerk beziehen. Diese werden in Beziehung gesetzt zu globalen Zentralitätsmaßen (Betweenness-Zentralität, Closeness-Zentralität), die sich auf die Position im Gesamtnetzwerk beziehen. Die Betrachtung der Zentralitätsmaße erlaubt es, unterschiedliche Positionen innerhalb des Kommunikationsnetzwerks zu bestimmen. Wenn die Annahmen des Modells der post-bürokratischen Organisation zutreffen, wäre zu erwarten, dass sich keine zentralen Positionen identifizieren lassen. Core-Analyse: Der Core ist die Menge an Akteuren, die am häufigsten untereinander verbunden sind. Durch die Partitionierung des Netzwerks in verschiedene Core-Level ist es möglich, Teilmengen mit enger Verbundenheit von der Gesamtmenge der Organisationsmitglieder abzugrenzen. Mithilfe der qualitativ gewonnen Daten wird dann in weiteren Schritten untersucht, welche Akteure den höchsten Core-Level erreichen bzw. welche Akteure niedrige Core-Level haben. Falls ein Netzwerk in verschieden stark vernetzte Gruppen zerfällt, unterschieden sich die Core-Werte und die Zentralitätsmaße einzelner Nutzer stark. Influence Domain: Für das Netzwerk der Mentorenbeziehungen bietet es sich an, den Einflussbereich jedes Akteurs entlang der Richtung Mentor -> Betreutem zu betrachten. Durch den Vergleich des im Kommunikationsnetzwerk realisierten Core-Levels mit der Influence Domain gelangt man zu Aussagen darüber, ob die soziale Position im Mentorennetzwerk einen Erklärungsgehalt für das Kommunikationsverhalten besitzt. In einer post-bürokratischen Organisation wäre zu erwarten, dass die soziale Position im Mentorennetzwerk nur einen geringen Einfluss auf das Kommunikationsverhalten hat. Die bisherigen Maße erlauben es, die Struktur des Kommunikationsnetzwerks zu beschreiben. Um einen Vergleich zwischen dem Mentorennetzwerk und dem Kommunikationsnetzwerk vornehmen zu können, wird die Länge fiktiver Kommunikationsdistanzen im Mentorennetzwerk mit der Länge der Distanzen im Kommunikationsnetzwerk verglichen. 178 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation Formale Distanz: Mithilfe eines geodätischen Netzwerks werden alle minimalen Distanzen innerhalb des Mentorennetzwerks betrachtet. Die Distanz zwischen zwei Personen gibt wieder, wie viele Schritte zur Kommunikation einer Information nötig wären, wenn die Kommunikation wie im Bürokratiemodell entlang eines Dienstweges – hier repräsentiert durch das Mentorennetzwerk – verlaufen würde. Soziale Distanz: Analog zur formalen Distanz werden innerhalb des Kommunikationsnetzwerks die Schritte gezählt, die eine fiktive Information von einem Akteur zum nächsten benötigen würde, wenn sie entlang der etablierten Kommunikationsverbindungen im Intranet wandern würde. Die unterschiedlichen Netzwerke, die wir in im Rahmen unserer Analysen identifiziert haben, wurden miteinander verglichen. Zwei Arten der Visualisierung wurden eingesetzt: Core-Level und Influence Domain werden als Level-Analyse dargestellt. Diese Darstellung verbindet auf der y-Achse die jeweilige Bedeutung einzelner Personen mit einem optischen Eindruck der Verbundenheit und der Verteilung der Akteure entlang der x-Achse. Zur Veranschaulichung werden das Informations-, Kommunikations- und Mentorennetzwerk mithilfe des Fruchterman-Reingold-Algorithmus als zweidimensionale Netzwerke dargestellt.20 Dieser Algorithmus positioniert die Mitglieder der Netzwerke so, dass Personen mit direkten Verbindungen möglichst zusammen gruppiert werden. 20 Vgl. Batagel/Mrvar (2003). Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 179 5. Befunde Folgende Befunde unserer Studie sind für die Diskussion der post-bürokratischen Organisation von besonderem Interesse: Gemeinsamer Wissensspeicher: Im Intranet des Start-ups konnte jeder Mitarbeiter Informationen eigenständig einstellen und abrufen. Im Informationsnetz (siehe Abb. 1) werden Personen als dunkle Kugeln und Dokumente als helle Kugeln dargestellt. Abb. 1: Zugriffe auf den Wissensspeicher im Intranet (Januar, Mai, Oktober 2001) Die Visualisierung des Zugriffs einer Person auf ein Dokument erfolgt als Verbindungslinie zwischen Person und Dokument. Wie man in Abbildung 1 für den Monat Januar 2001 anhand der fächerförmigen Anordnung von Dokumenten um einzelne Nutzer herum erkennt, wurden viele Dokumente von nur einem Nutzer verwendet. Nur auf relativ wenige Dokumente wurde von mehreren Nutzern zugegriffen. Das beobachtete Intranet wurde anfangs genutzt, um individuelles Wissen über Projekte, Kunden und Technologien für den persönlichen 180 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation Gebrauch zu speichern. Bereits nach wenigen Monaten (vgl. Mai 2001 in Abb. 1) ändert sich das Bild: Statt Fächer von nur von einer Person genutzten Dokumenten finden sich zunehmend von mehreren Mitarbeitern gemeinsam genutzte Dokumente. Zudem sind zunehmend mehr Mitarbeiter in das Informationsnetzwerk eingeAbb. 2: Kommunikationsnetzwerk bunden. Bereits nach wenigen (Oktober 2001) Monaten (Oktober 2001 in Abb. 1) wurden viele Dokumente von vielen Mitarbeitern gemeinsam genutzt. Interdisziplinäre, hierarchiefreie Kommunikation: Durch das Versenden von Nachrichten über das Messageboard im Intranet entsteht ein Netzwerk von Nachrichten, die zwischen Personen geflossen sind. In Abbildung 2 sind alle Personen als Punkte und die versendeten Nachrichten im Oktober 2001 als Verbindungen zwischen den Punkten eingezeichnet. Man erkennt, dass alle Mitarbeiter in das Netzwerk aus Nachrichten eingebunden sind. Allerdings lässt sich schon bei einer ersten genaueren Betrachtung erkennen, dass zwischen Personen, die viele Nachrichtenverbindungen zu anderen Personen unterhalten, und Personen, die nur wenige Nachrichtenverbindungen besitzen, unterschieden werden kann. Insgesamt wird in den Abbildungen des Informations- und Kommunikationsnetzwerks deutlich, dass das Intranet sowohl als gemeinsam genutzter Wissensspeicher als auch als Medium für eine vernetzte Kommunikation im Unternehmen verwendet wurde (siehe Abb. 1 und Abb. 2). Diese ersten beiden Beobachtungen bestätigen positive Erwartungen, die in die Kombination von post-bürokratischer Kultur und Einsatz von Informationstechnologien gesetzt werden: Das Intranet bildet ein organisationales Speicher- und Kommunikationsmedium, das den Informationsaustausch und damit einen Überblick über verschiedene Themengebiete sowie eine Selbstabstimmung der Organisationsmitglieder ermöglicht (siehe auch Tab. 1). Entscheidender für die Diskussion der post-bürokratischen Organisation ist jedoch die Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 181 Frage, inwieweit die Erwartung erfüllt wird, dass der Austausch von Informationen unabhängig von formal definierten Beziehungen verläuft? Zentrum und Peripherie der Kommunikation: Im nächsten Schritt haben wir ein Visualisierungsverfahren eingesetzt, das den Grad der Vernetzung einzelner Personen (Knoten) mit anderen Personen bei der Darstellung berücksichtigt. Man kann die Verbindungen in einem Netzwerk als Kräfte interpretieren, die an den Knoten ziehen. Über an die Physik angelehnte Algorithmen gelangt man zu Darstellungen, bei denen Knoten mit vielen Verbindungen ins Zentrum rücken, während Knoten mit wenigen Verbindungen am Rande stehen bleiben. Zur Positionierung der Knoten des Kommunikationsnetzwerks wurde mit dem Fruchterman-ReingoldAlgorithmus gearbeitet, der innerhalb der Netzwerkanalyse-Software „Pajek“ zur Verfügung steht.21 Die Verbindungen zwischen den Knoten werden in der Abbildung entsprechend der Zahl der über sie ausgetauschten Messages dargestellt. Häufig genutzte Verbindungen erscheinen in der Visualisierung (siehe Abb. 3) breiter, während seltener genutzte Verbindungen eine schmalere Darstellung erfahren. Die Größe der Knoten ergibt sich durch die Anzahl der Kommunikationsverbindungen (Alldegree). Wie man in Abbildung 3 sieht, lassen sich Mitarbeiter erkennen, die untereinander eng über das Messageboard vernetzt sind und damit in das Zentrum der Abbildung rutschen. Andere Mitarbeiter sind dagegen deutlich schlechter vernetzt. Das heißt, sie haben nur mit wenigen anderen über das Intranet Kontakt oder haben sogar nur Kontakt zu Personen, die selber schwach eingebunden sind. Die Mitarbeiter im Zentrum sind untereinander eng verbunden und tauschen über diese Verbindungen viele Nachrichten aus. Das deutlich hervortretende Zentrum dominiert das gesamte Netzwerk, d. h., die anderen Knoten sind mit diesem Abb. 3: Zentrum und Peripherie Zentrum verbunden, bilden aber (Oktober 2001) keine eigenständigen eng vernetzten 21 Vgl. Batagel/Mrvar (2003). 182 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation Gruppen, sondern lediglich die Peripherie des Zentrums. Darüber hinaus haben wir neben dem Alldegree-Maß weitere Zentralitätsmaße (Indegree, Outdegree, Closeness-Centrality und Betweenness-Centrality) und deren Beziehung zueinander berechnet. Die Maße weisen allesamt hohe und statistisch signifikante (p<0,001) Korrelationen (R=0,746 bis R=0,988) auf. Der Abbildung 3 liegt – wie bereits erwähnt – das Alldegree-Maß zugrunde, das mit den anderen Zentralitätsmaßen insgesamt am stärksten korreliert ist (R=0,886 bis R=0,988). Um die Zusammensetzung der Zentrum-Peripherie-Struktur des Kommunikationsnetzes besser zu verstehen, wurde der Core mit Pajek berechnet, der sich aus der Gruppe der am stärksten vernetzten Personen ergibt. Diese Zentrum-Peripherie-Struktur im Kommunikationsnetzwerk lässt sich über den gesamten Untersuchungszeitraum von Januar 2001 bis Dezember 2001 beobachten. Auch die Zugehörigkeit einzelner Personen (Knoten) zum Zentrum bleibt über diesen Zeitraum stabil. Mentoren bilden Zentrum: In einem nächsten Schritt haben wir das soziale Netzwerk, d. h. die sozialen Beziehungen zwischen den Organisationsmitgliedern, einer Analyse unterzogen. Dabei haben wir uns auf die Mentorenbeziehung konzentriert. Auf der Basis unserer Befragungsdaten konnten wir für jeden Mitarbeiter rekonstruieren, wer sein Mentor in welcher Phase des Analysezeitraums war. Zur Analyse des formalen Netzwerkes wurde der Einflussbereich (Influence Domain) jeder Person entlang der Mentorenbeziehungen errechnet und als LevelDarstellung mit Pajek visualisiert. Die Rekonstruktion der Mentorenbeziehungen (Abb. 4) zeigt, dass sich im untersuchten Start-up eine mehrstufige Hierarchie herausgebildet hat. Die Beziehungen zwischen den Mentoren und den von ihnen betreuten Mitarbeitern sind im beobachteten Unternehmen weitgehend als Einlinienstruktur ausgebildet, d. h., jeder Mitarbeiter hat in der Regel nur einen Mentor. So wundert es nicht, dass das Netzwerk der Beziehungen einem klassischen Organigramm ähnelt. Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 183 Abb. 4: Formale Mentorenbeziehungen (Oktober 2001) Vergleicht man nun die Position, die ein Akteur innerhalb dieser formalen Hierarchie der Mentoren hat, mit der Position, die er im Kommunikationsnetzwerk einnimmt, stellt man fest, dass das Zentrum von Mitabeitern mit Mentorenfunktion dominiert wird. Bei der Beziehung zwischen Mentor und betreuten Mitarbeitern handelt es sich um eine geregelte Beziehung mit einer Richtung. Im Oktober 2001 lassen sich 100 solcher Beziehungen zwischen 51 Personen feststellen. In einem Netzwerk aus 51 Personen sind mathematisch 2550 gerichtete Beziehungen möglich. Über die 100 geregelten Beziehungen wurden im Oktober 2001 allerdings 372 von insgesamt 1355 Nachrichten (Messages) versendet. In relativen Zahlen ausgedrückt wurden also über die geregelten Beziehungen, d. h. über 3,92 Prozent aller möglichen Beziehungen, 27,45 Prozent aller Nachrichten im Intranet versendet. Oder anders ausgedrückt: Wenn man die wenigen formal festgelegten Mentorenbeziehungen ermittelt hat, kennt man bereits gut ein Viertel der gesamten elektronischen Kommunikationsflüsse. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass mit der Höhe der Position innerhalb der Hierarchie der Mentoren die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Position auch zum Zentrum des Kommunikationsnetzwerks gehört. So befinden sich 90 Prozent der Positionen der beiden oberen Ebenen in der Hierarchie der Mentoren im Zentrum des Kommunikationsnetzwerks. Wer also eine Mentorfunktion im Unternehmen innehat, wird häufiger kontaktiert und hat mit mehr Mitarbeitern Kontakt als andere Mitarbeiter. 184 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation Soziale Distanz: Mit dem Wunsch nach einer vernetzten Organisation ist die Erwartung verbunden, dass Informationen möglichst schnell über direkte Verbindungen zwischen Mitarbeitern verbreitet werden. Das Messaging-System soll als ein Medium genutzt werden, das diese direkte Kommunikation mit „der Distanz eines Mausklicks“ ermöglicht. Die beobachtete Zentrum-Peripherie-Struktur lässt jedoch vermuten, dass Informationen häufig nicht direkt, sondern oft über das Zentrum weitergegeben werden. Geht man aus Zwecken der Analyse von einer fiktiven Information aus, die im Besitz nur eines Mitarbeiters ist, so benötigt diese entlang der formalen Verbindungen, die durch die Hierarchie der Mentoren entstehen, drei bis vier Zwischenschritte, bis der „entfernteste“ aller anderen Mitarbeiter im Unternehmen, für den diese Information von hoher Relevanz sein könnte, informiert ist. Diese Zahl an Schritten zur Verbreitung einer Nachricht von einem Mitarbeiter zu einem anderen kann als „formale Distanz“ zwischen den beiden Mitarbeitern interpretiert werden. Betrachtet man nun nicht nur eine fiktive Nachricht, sondern die real zwischen den Mitarbeitern versendeten Nachrichten, so stellt man fest, dass mit jedem weiteren Schritt formaler Distanz (gemessen über die Hierarchie der Mentoren) sich der Prozentsatz der zur Kommunikation genutzten Verbindungen halbiert.22 Zwei Kollegen, die den gleichen Mentor haben, sendeten sich im Schnitt nur halb so viele Nachrichten wie ihrem Mentor. Trotz der Regel, dass unbürokratisch und direkt zu kommunizieren sei, hat sich im Intranet ein Kommunikationsnetzwerk gebildet, das so auch zu erwarten gewesen wäre, wenn Dienstwege formal definiert worden wären. Allein die Analyse der versendeten und empfangenen elektronischen Nachrichten ist also aufschlussreich. Sie zeigt, dass die Mitarbeiter dieses Start-ups grundlegende Prinzipien der „Bürokratie“ – wie Stellenhierarchie im Mentorensystem, Spezialisierung bei der Wahl der Kommunikationspartner und Distanzen analog zu Dienstwegen – in ihren Kommunikationsaktivitäten reproduzierten, und das, obwohl mit verschiedenen Mitteln einer starken Unternehmenskultur versucht wurde, dies zu vermeiden. Kurze Zeit nach der Gründung einer postbürokratischen Organisation haben sich also Kommunikationsrollen herausgebildet, die in einer Weise angeordnet sind, wie es dem klassischen Bild der Stellenhierarchie in Unternehmen entspricht und die 22 Vgl. auch Krackhardt (1994). Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 185 uns in Form von Organigrammen bekannt ist. Folgende Tabelle fasst die idealtypischen Charakteristika der bürokratischen und post-bürokratischen Organisation sowie die Strukturausprägungen des von uns untersuchten Start-ups zusammen.23 Strukturdimension Bürokratische Struktur Post-bürokratische Struktur im Fallstudienunternehmen realisierte Struktur Arbeitsteilung stark ausgeprägt schwach ausgeprägt formal schwach ausgeprägt; faktisch jedoch Spezialisierung auf Kommunikationsrollen Konfiguration klar definiert, eindeutige Über- und Unterordnungen offen gehalten, ad hoc und problemabhängig formal offen gehalten, ad hoc und problemabhängig; faktisch eine Hierarchie von Mentoren Koordination erfolgt in erster Linie durch formalisierte Regeln und schriftliche Weisungen, Einhaltung von Dienstwegen erfolgt in erster Linie durch Organisationskultur und Selbstabstimmung in mündlicher oder schriftlicher Form; Aufgabenerfüllung erfolgt durch Eigeninitiative zeigende Mitarbeiter formal durch Selbstabstimmung sowie Organisationskultur; faktisch Abstimmung über die Hierarchie der Mentoren Formalisierung umfangreiche, schriftliche Fixierung von Regeln; Aktenmäßigkeit, Codierung aller Vorfälle wenige schriftliche Regeln; Aufbau eines Wissensspeichers, auf den alle Organisationsmitglieder frei zugreifen können keine schriftliche Regeln, Intranet als Wissensspeicher mit freiem Zugriff Tab.: Gegenüberstellung der idealtypischen bürokratischen und post-bürokratischen sowie der in der untersuchten Unternehmung realisierten Strukturen Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass diese Schlussfolgerung ausschließlich auf der Analyse von Informationsflüssen basiert, die Inhalte der versendeten Nachrichten also keine Beachtung gefunden haben. Trotz dieses methodisch bedingten Defizits kann jedoch festgestellt werden, dass die Struktur der Kommunikationsbeziehungen im Intranet einen eindeutig hierarchischen Charakter hat. 23 Vgl. auch Ahuja/Carley (1999). 186 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation 6. Diskussion Warum ist es den Mitgliedern der Fallstudienunternehmung nicht gelungen, wesentliche Prinzipien der bürokratischen Organisation zu überwinden? Warum reichte es nicht, nur etwas anderes zu wollen und neue Informationstechnologien einzusetzen? Bevor wir im Folgenden versuchen werden, eine theoriegeleitete Antwort auf diese Fragen zu geben, erscheint es uns zunächst wichtig zu betonen, dass kein strategisches Verhalten des Managements des Start-ups in dem Sinne unterstellt werden kann, dass das Management nach außen, d. h. gegenüber den Kunden, den Kapitalgebern oder den Mitarbeitern, die Fassade eines post-bürokratischen Unternehmens aufgebaut hat, um intern so zu verfahren wie andere, eher traditionellen Organisationsformen verpflichtete Unternehmen.24 Das Management war – bis zu dem Tag, an dem es mit den Ergebnissen unserer Analyse konfrontiert wurde – überzeugt, die „lähmenden“ bürokratischen Prinzipien von Arbeitsteilung, Dienstweg und Hierarchie überwunden zu haben. Erst die Analyse des im alltäglichen Geschäft unsichtbaren Kommunikationsverhaltens im Intranet mittels der Methoden der Netzwerkanalyse machte das wahre Kommunikationsverhalten der Mitarbeiter sichtbar. Zwei mögliche Erklärungen für die beobachtete Entwicklung des Start-up-Unternehmens scheinen sich aufzudrängen: 1. Programmierung des Intranets: Die nahe liegende Vermutung ist, dass das Intranet Workflows oder andere das Verhalten steuernde Funktionen enthält, die Einfluss darauf nehmen, welche Informationen von einem einzelnen Nutzer gelesen oder an andere Nutzer versendet werden. Das in der Fallstudie implementierte System enthielt jedoch keine Funktionen, die die Wahl des Kommunikationspartners beeinflussen. Die entstandenen „Dienstwege“ lassen sich daher nicht auf eine Programmierung innerhalb des technischen Systems zurückführen. Es waren vielmehr die Mitglieder der Organisation, die diese „Dienstwege“ entlang einer unintendiert entstandenen Hierarchie etabliert haben. 2. Phase im Lebenszyklus der Organisation: In Lebenszykluskonzepten der 24 Vgl. zum Begriff und zur Funktion von Fassaden Meyer und Rowan (1977). Dabei ist jedoch anzumerken, dass in der vorliegenden Untersuchung – anders als bei Meyer und Rowan – nicht die formale Struktur als Fassade zu betrachten ist, sondern ihre Negation. Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 187 Organisation wird behauptet, dass Unternehmen quasi „natürliche“ Phasen nach ihrer Gründung durchlaufen. So wird etwa argumentiert, dass auf die Gründungsphase, die durch ein Wachstum durch Kreativität gekennzeichnet ist, eine Krise folgt, auf die die Unternehmensleitung mit einer Zentralisierung der Führung reagiert. Die Einführung hierarchischer Strukturen ist gemäß dieser stark praxisorientierten Lebenszykluskonzepte insofern als eine notwendige Anpassung an die mit einem Organisationswachstum einhergehenden Führungskrisen zu interpretieren.25 In den Interviews, die wir im untersuchten Start-up geführt haben, wird zwar erkennbar, dass sich Anzeichen solcher Krisen gezeigt haben, allerdings haben die Gründer des Unternehmens nicht mit der Einführung bürokratischer Strukturen darauf reagiert, sondern sie hielten am Ideal einer post-bürokratischen Organisation fest. Damit wird das Kernproblem der Erklärung des Befundes unserer Studie deutlich. Es bedarf einer Argumentation, die auf Begriffe wie „Entscheidung“ und „Intention“ weitestgehend zu verzichten in der Lage ist. Eine solche Erklärungsmöglichkeit bietet der so genannte mikroinstitutionalistische Ansatz26 in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie27 in Kombination mit der Strukturationstheorie von Anthony Giddens.28 In der Kombination liefern diese Ansätze eine plausible inhaltliche Erklärung für die Befunde unserer Studie, die aber – das wollen wir betonen – trotz ihrer Plausibilität spekulativen Charakter hat. 1. Neoinstitutionalistisches Argument: Vertreter des soziologischen Neoinstitutionalismus argumentieren auf der Basis sozial-konstruktivistischer Ansätze29, dass kognitiv-kulturelle Institutionen, d. h. Regeln, Werte und Strukturen, die als selbstverständlich erachtet werden, kontinuierlich reproduziert werden, ohne dass sie bewusst infrage gestellt würden.30 Dieses Argument lässt sich am einfachsten mit einem 25 Vgl. hierzu beispielsweise das Modell von Greiner (1972) sowie für eine Diskussion des Modells von Greiner die Arbeit von Hatch (1997). 26 Vgl. Zucker (1977, 1983). 27 Vgl. Walgenbach (2002a, 2002b). 28 Vgl. Giddens (1979, 1984). 29 Vgl. Berger/Luckmann (1967). 30 Vgl. Zucker (1977); DiMaggio/Powell (1991); Scott (2001). 188 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation berühmt gewordenen Experiment illustrieren, mit dem Lynne G. Zucker den Einfluss kognitiver Institutionen auf das Verhalten aufgezeigt hat:31 Die Versuchsteilnehmer des Experiments (Studentinnen, d. h. Personen mit keinen oder nur wenigen persönlichen Erfahrungen als Mitarbeiterinnen von Organisationen) erhielten eine Aufgabe, die keinen Bezug zu üblichen Tätigkeiten in Unternehmen aufwies. Sie mussten die Entfernung, die ein fixer Lichtpunkt in einem völlig abgedunkelten Raum scheinbar zurücklegt (autokinetischer Effekt), im Anschluss an die Einschätzungen einer anderen Person (einer instruierten Mitarbeiterin) schätzen. Allein der Hinweis, die Teilnehmer seien Mitglieder einer Organisation, veränderte das Schätzverhalten der Versuchsteilnehmer dramatisch. Dieser Effekt wurde nochmals verstärkt, wenn den Versuchsteilnehmern mitgeteilt wurde, dass sie eine Stelle in einer Organisation einnehmen und in Zukunft die Position der Person übernehmen werden, die im Experiment als Erste die Einschätzungen abgegeben hat. Die Versuchsteilnehmer übernahmen unter beiden Versuchsbedingungen die Einschätzungen der instruierten Mitarbeiterin weit stärker als in einer Versuchsbedingung, in der kein Bezug zu Organisationen hergestellt wurde. Deutlich wird in diesem Experiment: (a) Es gibt – auch bei Personen, die nur wenige Erfahrungen als Mitglieder von Organisationen gewonnen haben – ein kulturelles, d. h. intersubjektiv geteiltes und unhinterfragtes Wissen über „richtiges“ oder „angemessenes“ Handeln in Organisationen. (b) Handlungen von Organisationsmitgliedern generell und von Inhabern einer spezifischen Position in einer Organisation im Besonderen werden als unpersönliche Handlungen angesehen, die von verschiedenen Personen in gleicher Weise ausgeführt werden müssen. (c) Die Aktivierung dieses verinnerlichten und geteilten Wissens sowie die Übersetzung dieses Wissens in Handlungen erfolgen selbst bei schwachen Signalen, die auf einen organisationalen Kontext hindeuten. (d) Signale hierarchischer Unterschiede führen selbst in einer Laborsituation zu einer Verhaltensanpassung. Die in der Fallstudie beobachtete Kommunikation entlang der formalen Mentorenbeziehung kann also als institutionalisierte Verhaltensregel der Art „Kommuniziere primär mit höhergestellten Stellen, denen du untergeordnet bist“ interpretiert werden. Diese simple 31 Vgl. Zucker (1977). Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 189 Verhaltensregel führt, wenn sie eingehalten wird, dazu, dass klassische Prinzipien der Bürokratie wie Spezialisierung und Dienstwege reproduziert werden. Diese Verhaltensregel erscheint so selbstverständlich, dass sie nicht mehr hinterfragt wird. 2. Strukturationstheoretisches Argument: Durch die Bezugnahme auf die Strukturationstheorie lässt sich erklären, wie der Kontext bestimmte Verhaltensweisen aktiviert. Die oben genannte Verhaltensregel einer hierarchischen Kommunikation würde z. B. in Freundeskreisen oder auf einer privaten Party nicht angewendet werden. In diesen Kontexten wäre es wenig angebracht, „hierarchisch“ zu kommunizieren. Dagegen ist mit dem sozialen Kontext einer Organisation die Orientierung des Verhaltens an Status- oder Rangunterschieden verbunden. Obwohl im untersuchten Start-up versucht wurde, diese Statusunterschiede möglichst nicht deutlich werden zu lassen, war dennoch weiterhin klar erkennbar, dass die Handlungen der Mitglieder im Kontext einer Organisation stattfinden. Folgt man Giddens Strukturationstheorie, dann sind Orte, wie etwa die Geschäftsräume eines Unternehmens, nämlich nicht einfach Plätze, sondern Bezugsrahmen für Interaktion.32 In westlichen Gesellschaften bestehen generalisierte und institutionalisierte Vorstellungen von Organisation. Allen, auch denen, die noch nicht in einer Organisation gearbeitet haben, ist spätestens nach einigen Kontakten mit Schulen, Behörden und Unternehmen klar, dass in Organisationen förmlich agiert wird, d. h., dass eine Trennung zwischen persönlichem Verhalten und Rollenverhalten als Organisationsmitglied üblich ist. Es ist den meisten Mitgliedern moderner Gesellschaften bekannt, dass in Organisationen Unter- und Überstellungsverhältnisse bestehen, und dass deren Missachtung unter Umständen mit erheblichen Konsequenzen für die Mitgliedschaft in der Organisation bzw. für die eigene Karriere verbunden sein kann. Es erscheint selbstverständlich, was die institutionalisierte Identität eines Vorgesetzten, eines Kollegen, eines Mitarbeiters oder auch eines Kunden ausmacht. Dieses Wissen fließt in der Gesamtheit in die Steuerung des Verhaltens der Organisationsmitglieder ein.33 Wenn eine Person Mitglied einer Organisation wird, so unser Argument, versucht sie einzuordnen, wer eine höhere Position und wer 32 Vgl. Giddens (1984), S. XXV. 33 Vgl. Walgenbach (1994) sowie Walgenbach/Kieser (1995). 190 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation eine untergeordnete Position innehat. Sie stellt fest, wer zur Organisation gehört und wer nicht. Die Einschätzung darüber, welche Position andere Personen in Relation zur eigenen Position innehaben, beeinflusst das Kommunikationsverhalten hinsichtlich der Wahl der Kommunikationspartner und der Kontakthäufigkeit.34 Um Konflikte zu vermeiden und um Unsicherheit zu reduzieren, wird in der alltäglichen Zusammenarbeit versucht, die Position der anderen Personen zu bestätigen. Man hält Regeln wie etwa die folgenden ein: „Man spricht nicht mit Vorgesetzten der Vorgesetzten ohne vorherige Information des direkten Vorgesetzten.“ Oder: „Man informiert zuerst die Kollegen der eigenen Abteilung, bevor man mit anderen spricht.“ Folgt man dieser Argumentation, dann erscheint es wahrscheinlich, dass durch die Anerkennung der rekonstruierten Positionen der Kommunikationspartner im untersuchten Start-up das bekannte „formale“ Netzwerk aus Stellen und Positionen in Organisationen im täglichen Kommunikationsverhalten stillschweigend reproduziert wurde.35 Die den Organisationsmitgliedern bekannten institutionalisierten Regeln des Verhaltens in Organisationen bilden Erwartungsstrukturen, die auch im Fallstudienunternehmen wirksam wurden. Durch die Reproduktion dieser Regeln im täglichen Verhalten wurden diese Regeln bestätigt. Vor dem Hintergrund einer solchen Argumentation erscheint es plausibel, ja geradezu wahrscheinlich, dass generell in post-bürokratischen und vernetzten Organisationen und nicht nur in der von uns untersuchten Unternehmung bürokratische Prinzipien bei der Nutzung von Informationstechnologien reproduziert werden.36 Schwache Signale eines organisationalen Kontextes – und sei es nur der Abschluss eines Arbeitsvertrages, die Zuweisung eines Mentors, die Existenz von vorgegebenen Positionen und Verfahren oder das Vorhandensein von Büroräumen und organisationalen Informationssystemen – dürften ausreichen, um zu signalisieren, dass es sich um eine Unternehmung und damit um eine Organisation handelt. In der Folge aktivieren Organisationsmitglieder Verhaltensweisen, die üblicherweise und wie selbstverständlich in diesem Kontext erwartet werden. Selbst 34 Vgl. Orlikowki/Yates (1992). 35 Vgl. Giddens (1984). 36 So beobachtet Nelson (2001) ähnliche Center-Peripherie-Struktur in ganz unterschiedlichen Organisationstypen. Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 191 zuwiderlaufende starke Symbole für gegenteilige Verhaltenserwartungen, wie sie in diesem Start-up durch Logos, durch Verbindung von Arbeits- und Freizeitaktivitäten und durch symbolisches Negieren von Statusunterschieden eingesetzt wurden, scheinen nicht hinzureichen, um die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten des Verhaltens in Organisationen zu unterdrücken oder gar zu eliminieren. Eher setzt sich das Alltagswissen über „richtiges“ oder „angemessenes“ Verhalten in Organisationen durch. 7. Implikationen Aus unserer Studie ergeben sich verschiedene Implikationen für die Organisations- und Managementforschung, die Gestaltung von Organisationen sowie für die Forschung zu Informations- und Kommunikationstechnologien und die Gestaltung von Informationsund Kommunikationstechnologien: 1. Organisations- und Managementforschung: Bei der von uns durchgeführten Untersuchung handelt es sich um eine Fallstudie, deren Befunde nur in begrenztem Umfang generalisierbar sind. Wir haben in unser Studie zwar zeigen können, dass das Kommunikationsverhalten in einer dem Konzept der post-bürokratischen Organisation verpflichteten Unternehmung einen deutlich hierarchischen („bürokratischen“) Charakter hat. Wir können jedoch keine Aussagen darüber treffen, ob die Struktur des Kommunikationsverhaltens genauso hierarchisch oder vielleicht doch weniger hierarchisch ist als in Organisationen, die auf der Basis eher traditioneller Organisationskonzepte operieren. Um die Stärke des Einflusses spezifischer organisationaler Kontexte auf die Reproduktion institutionalisierter Verhaltensweisen genauer angeben zu können, müssten analoge Studien in einer Vielzahl von Organisationen mit unterschiedlichen Steuerungsphilosophien durchgeführt werden. So könnte man – im Sinne der Kontingenztheorie37 – zu Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Kommunikationsverhalten in Abhängigkeit der grundlegenden Steuerungsphilosophie der Organisation gelangen. 2. Organisationsgestaltung: Ausgangspunkt der Organisationsgestaltung war in dem von uns untersuchten Fall der Versuch der Umsetzung einer post-bürokratischen Organisation. Wenn das von uns in unserer Fallstudie beobachtete Scheitern dieses Versuchs den Regelfall 37 Vgl. Kieser/Walgenbach (2003). 192 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation darstellen sollte, die Praxis jedoch an dem Versuch einer Überwindung bürokratischer Strukturen festhalten will, müssten Konzepte zur Überwindung „selbstverständlicher“ Verhaltensregeln in Organisationen entwickelt werden. Folgt man der neoinstitutionalistischen Argumentation, dass sich institutionalisierte Verhaltensweisen schon bei schwachen Signalen einstellen, die auf einen organisationalen Kontext hindeuten, besteht in letzter Konsequenz jedoch nur eine radikale, aber problematische Option. Sie lautet: Organisationalen Kontext abschaffen! Eine post-bürokratischen Organisation zu realisieren, erscheint nur möglich, wenn auf formale Organisation, d. h. auf Hierarchie, Arbeitsteilung und formale Regelungen, die personenunabhängig Gültigkeit besitzen, ja selbst auf den Abschluss von Arbeitsverträgen verzichtet werden würde. Die post-bürokratische Organisation wäre somit letztlich nur in einer Organisationsform zu realisieren, wie sie vor nicht allzu langer Zeit von Malone und Laubacher beschrieben worden ist: kleinere Ansammlungen von einzelnen Personen, die für einen begrenzten Zeitraum miteinander kooperieren, um sich nach der Bewältigung einer Aufgabe jeweils neuen Kooperationen mit anderen Personen zuzuwenden.38 Diese Art der Organisation – man sollte besser sagen: diese Art der Koordination von Aktivitäten – hat mit jener, wie wir sie schon in mittelständischen Unternehmen finden, jedoch nur wenig zu tun, und noch viel weniger mit der großer multinationaler Unternehmen. Dort lässt sich die post-bürokratische Organisation nicht in reiner Form umsetzen, es sei denn, man verzichtet auf die Effizienzvorteile „bürokratischer“ Organisation, die durch Hierarchisierung, Spezialisierung und Vorgabe von Verfahrensweisen erreicht werden,39 und nimmt zugleich den möglichen Zerfall des Unternehmens in Kleinsteinheiten, die eventuell nur für kurze Zeit und in nicht vorhersehbarer Weise miteinander kooperieren, in Kauf. 3. Informations- und Kommunikationstechnologien: In unserer Studie deutet sich an, dass kognitiv-kulturelle Institutionen das Verhalten bei der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien maßgeblich beeinflussen. Bemerkenswert ist dabei, dass es sich hierbei nicht um kognitive Vorgänge zu handeln scheint, die nur einzelne Nutzer betreffen, sondern um geteilte kognitive Modelle, die sich auf die sozialen Beziehungen und die Interaktion der Mitglieder 38 Vgl. Malone/Laubacher (1999). 39 Vgl. Simon (1976); Kühl (2002). Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation | ZfM | 193 von Organisation beziehen und so deren Nutzungsverhalten steuern. Diese sozialen Modelle müssten genauer erforscht und gegebenenfalls für die Softwareentwicklung nutzbar gemacht werden. Dabei bietet es sich an, neoinstitutionalistische Ansätze zur Analyse des Nutzungsverhaltens von Informationstechnologie zu verwenden.40 Eine genauere Kenntnis, in welchem Ausmaß die „Selbstverständlichkeiten der Organisation“, d. h. kognitiv-kulturelle Vorstellungen das Verhalten in Organisationen prägen, könnte bei der Gestaltung von IuK-Systemen in zweierlei Hinsicht Berücksichtigung finden: (a) Wenn das Verhalten – wie es sich in dieser Studie andeutet – stärker von gesellschaftlichen Verhaltensnormen als von der Kultur einer Organisation geprägt ist, eröffnet dies weitgehende Möglichkeiten der Standardisierung von IuK-Systemen. Selbst dort, wo Organisationen ideosynkratische Lösungen anstreben – wie in unserem Fall –, kann das Nutzungsverhalten durchaus in tradierten Bahnen verlaufen. Nimmt man diesen Befund ernst, könnte man Systeme entwickeln, deren Fassade die Individualität der Organisation widerspiegelt, während ihre Struktur jedoch weitgehend standardisiert ist. (b) Wenn dagegen lokale Lösungen entwickeln werden sollen, die explizit von gesellschaftlichen Alltagsvorstellungen von Organisation abweichen, reicht es nicht aus, schwach strukturierte Systeme einzusetzen. Es müssten dann Verhaltensregeln in der Software verankert werden, die von institutionalisierten Regeln abweichende Verhaltensweisen zwingend vorgeben. 40 Vgl. Orlikowski/Barley (2001). 194 | ZfM | Oberg/Walgenbach: Post-bürokratische Organisation Literatur Ahuja, M. K./Carley, K. M (1999): Network structure in virtual organizations, in: Organization Science, 10. Jg., S. 741-757. Batagel,V./Mrvar, A. 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RWTH Aachen Lehrstuhl für Internationales Management Templergraben 64 52056 Aachen E-Mail: achim.oberg@im.rwth-aachen.de Prof. Dr. Peter Walgenbach lehrt Organisationstheorie und Management an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Er ist Autor mehrerer Bücher im Bereich Management und Organisation und hat in internationalen und nationalen Fachzeitschriften publiziert. Universität Erfurt Lehrstuhl für Organisationstheorie und Management Nordhäuser Straße 63 99089 Erfurt peter.walgenbach@uni-erfurt.de