DIE DICHTER UND DIE STERNE
... argues ignorance of heaven and earth and Latin.
A.E. Housman
Cicero fällt in de oratore 1,69 über den hellenistischen Dichter Arat das bekannte
Urteil, dieser habe zwar wunderschöne Verse geschaffen, von Astronomie aber ha
be er ganz und gar nichts verstanden: constat inter doctos, hominem ignarum
astrologiae ornatissimis atque optimis versibus Aratum de caelo stellisque dixisse.
Arats astronomische Inkompetenz ist unzweifelhaft; Hipparch von Nikaia hat sie
schon im 2. Jahrhundert v.Chr. ausführlich dargelegt.
Arat ist aber keineswegs ein Einzelfall. Jahrelanges Sammeln von begegnenden
Lesefrüchten hat mir die bedrückende Erkenntnis beschert, daß es leider um die
astronomische Beschlagenheit von Dichtem häufig schlecht bestellt ist. Immer wie
der stößt man auf Poeten, die schön und schwungvoll Vorgänge oder Zustände des
Sternhimmels schildern, die es entweder nie so geben konnte oder die, wenn man
sie ernst nimmt, für den dichterischen Zusammenhang die bestürzendsten Konse
quenzen haben müßten.
Das ist auch in der Neuzeit so. Der hochangesehene neugriechische Lyriker
Giorgos Seferis etwa stellt in seinem Gedicht ‘Helena’ (ΕΛΕΝΗ) die Behauptung
auf:
Τό φεγγάρι
βγήκε άπ’ τό πέλαγο σαν Αφροδίτη·
σκέπασε τ’ άστρα του Τοξότη, τώρα πάει νά ’βρει
την καρδιάτοΰΣκόρπιου ...
(Der Mond stieg aus dem Meer wie Aphrodite; er deckte die Sterne des Schützen
zu, jetzt geht er, das Herz des Skorpions zu finden ... Übersetzung von Lorenz
Gyömörey, Kavafis - Seferis, Auswahl aus den Gedichten, Athen s. a.).
Ich bin weit entfernt davon, behaupten zu wollen, daß ich dieses Gedicht
verstünde - Specher ist offenbar der mythische Teukros, dem auf Zypern die Sinn
losigkeit des Trojanischen Krieges durch den Kopf geht, dieses Krieges, der gar
nicht um die wirkliche Helena ausgefochten wurde, sondern nur um ihr Schatten
bild. Dazu scheinen aber persönliche Empfindungen des Dichters über Zypern zu
treten, und die dichterische Sprache bewegt sich sprunghaft zwischen mannigfachen
Andeutungen und Impressionen. Indes haben wir in den zitierten Versen eine Aus
sage, die sich recht konkret gibt: der Mond sei aufgegangen, habe zuerst im Stern
bild des Schützen gestanden, bewege sich jetzt, also offenbar in derselben Nacht,
auf das Sternbild Skorpion zu.
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LUDWIG BRAUN
Dies aber ist unmöglich. Der Mond wandert durch den Tierkreis in umgekehr
ter Richtung, und wenn er schon im Schützen war, dann kann er danach nicht in den
Skorpion, sondern nur in den Steinbock treten.
Nicht so offensichtlich, aber zuletzt auch am Mond gescheitert ist Schiller in
seinem ,Wallenstein‘:
Am Himmel ist geschäftige Bewegung,
Des Turmes Fahne jagt der Wind, schnell geht
Der Wolken Zug, die Mondessichel wankt,
Und durch die Nacht zuckt ungewisse Helle. Kein Sternbild ist zu sehn! Der matte Schein dort,
Der einzelne, ist aus der Kassiopeia,
Und dahin steht der Jupiter - Doch jetzt
Deckt ihn die Schwärze des Gewitterhimmels!
(Wallensteins Tod V 3)
Versuchen wir zunächst, mit verständnisvoller Interpretation dieser Verse
etwas zu retten: Der Jupiter kann nicht in der Gegend der Kassiopeia stehen, die
sich mit einer Deklination von ca. + 55° bis + 70° weit nördlich von dem Jupiter er
reichbaren Höchststand befindet: Die Ekliptik reicht südlich der Kassiopeia kaum
über + 10°, und die geringe Neigung seiner Bahn kann den Planeten höchstens etwa
1° nördlicher bringen, Jupiter ist also vom Südrand der Kassiopeia stets mindestens
43° bis 44° entfernt. Wenn Schiller seinen Wallenstein sagen läßt: „Und dahin steht
der Jupiter“, sollte er eine andere Richtung meinen als die, in der er gerade Kassio
peia gesehen hat; ein Schauspieler müßte demgemäß auf einen anderen Punkt am
Himmel deuten.
Wir sind ja aber hier in einem historischen Drama, in der Mordnacht Wallen
steins, und diese ist bekannt: es war die Nacht des 25. Februar 1634. In dieser
Nacht, deutlich nach Ende der Abenddämmerung, aber offensichtlich noch vor
Mitternacht - „es ist schon finstre Nacht“, läßt Schiller Wallenstein kurz zuvor sa
gen - beobachtet Wallenstein von Eger aus den Himmel, also von etwa 50° N.
12° O. Nehmen wir als Zeitpunkt etwa 22h Ortszeit an, so konnte, von Wolken und
ähnlichem einmal abgesehen, Kassiopeia, da für 50° N. zirkumpolar, ohnehin im
mer beobachtet werden, und Jupiter hatte seine Kulmination etwa drei Stunden zu
vor gehabt. In Rektaszension stand Jupiter etwa 75° östlich (links) von der Mitte der
Kassiopeia entfernt.
So weit so gut. Was hingegen Wallenstein in dieser Nacht zu keinem Zeitpunkt
beobachten konnte, war ein gleichzeitiges Sichtbarwerden von Jupiter und Mond:
Der Mond war in dieser Nacht bereits 27 Tage alt, also stark abnehmend; seine sehr
schmale Sichel war am 25. Februar morgens um 6h 23 aufgegangen, der Untergang
war 14h 32 erfolgt. In der folgenden Nacht sollte sie erst am 26. Februar morgens
6h 50 wieder aufgehen, übrigens nunmehr so schmal, daß sie kaum noch wahr
nehmbar gewesen sein dürfte. Entscheidend aber ist: Jupiter war in dieser Nacht be
reits um 3h 17 untergegangen. In dieser Nacht und ebenso in den angrenzenden
Die Dichter und die Sterne
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Nächten mindestens vom 24.2. bis 27.2. bestand nie die Möglichkeit, Jupiter und
Mond gleichzeitig am Himmel zu sehen.
Aber natürlich: der düsteren Stimmung der Szene würde Entscheidendes feh
len, wenn Wallenstein nicht sagte: „die Mondessichel wankt“1.
Shakespeare wußte, wie wenig auf den Mond zu bauen ist:
O, swear not by the moon, th’ inconstant moon,
That monthly changes in her circled orb (Romeo and Juliet II 1).
Jedoch bedachte er an anderer Stelle nicht, daß auch sonst am Sternenhimmel man
ches nicht so unveränderlich und fest ist, wie es scheint. Iulius Caesar läßt sich von
Cassius durch keine Bitten zur Gnade für Publius Cimber bewegen; er vergleicht
die Festigkeit seiner Beschlüsse mit der Unverrückbarkeit des Polarsterns:
I could be well moved, if I were as you;
If I could pray to move, prayers would move me:
But I am constant as the Northern Star,
Of whose true-fixed and resting quality
There is no fellow in the firmament.
The skies are painted with unnumbered sparks:
They are all fire and every one doth shine;
But there’s but one in all doth hold his place. (Julius Caesar III 1)
Dies ist erhaben und schön, zugleich voll tragischer Ironie, da nur wenige Verse
später die Mörderdolche Caesar treffen werden. Indes ist die Behauptung für Cae
sars Zeit unmöglich: Die Antike insgesamt kennt keinen Polarstern, aus dem einfa
chen Grund, daß damals kein auffallend heller Stern dem Ort des Nordpols auch nur
einigermaßen nahe stand. Der Stern, den wir heute Polarstem nennen, stand in Cae
sars Todesjahr auf DEC + 78° 00' 17", also fast 12° vom nördlichen Himmelspol
entfernt. Erst die Praezession hat für Shakespeares Zeit den Deichselstem des Klei
nen Wagens, α Ursae Minoris, diesem Ort auf weniger als 3° nahe gebracht. Für
uns heute steht der Stern sogar weniger als 1° vom Pol entfernt2.
Petrus Lotichius Secundus, ein namhafter neulateinischer Dichter des 16. Jahr
hunderts, geboren 1528 bei Schlüchtern, gestorben 1560 in Heidelberg, behauptet in
seiner Elegie 1,5, in einer winterlichen Mondnacht gegen Mitternacht auf der Wan
derschaft gewesen zu sein:
1 Vgl. Schillers Werke, Nationalausgabe Bd. 8, Wallenstein, hrsg. von Hermann
Schneider u. Lieselotte Blumenthal, Weimar 1949, S. 502 zu V. 3411: ,Die Kassiopeia, Wförmiges Sternbild in der Milchstraße; eine Konstellation, die sie nahe dem Jupiter zeigte, ist
nicht denkbar.“ Ferner W.F. Wislicenus, Die Astronomie in Schillers Wallenstein, in: Dt.
Revue 22/4, 1897, 351-361, hier 361, wo grundsätzlich richtig bemerkt ist, daß in der Mord
nacht Wallensteins Mond und Jupiter nicht zugleich beobachtet werden konnten; indes ist die
Untergangszeit Jupiters irrtümlich mit „um 7 Uhr“, was offensichtlich 19 Uhr meint, angege
ben.
2 Siehe die amüsante Darstellung dieses Falles durch Isaac Asimov, Constant as the
Northern Star, in: Of Matters great and small, Ace Books, New York 1976, S. 35—49 (zuvor
schon 1973 separat veröffentlicht).
210
LUDWIG BRAUN
Dum brumale riget glaciali frigore celum,
In mediae facio tempore noctis iter. (V. 1 f.)
Dabei will er folgendes gesehen haben:
Aut plus, aut medios nox attigit humida cursus,
Et maris occidui Pleias intrat aquas.
Culmen et ascendit, qui vexit Ariona, Delphin ... (V. 51-53).
Es sollen also die Plejaden gegen Mitternacht, also wohl zwischen 24 und lh, unter
gegangen sein - was den Beobachter für die Entstehungsgegebenheiten dieses Ge
dichts: 16. Jh. und etwa 50° N., auf Anfang März festlegt (Alcyone ging am
1.3.1550 um 011 31 unter)! - und gleichzeitig der Delphin zur Höhe emporgestiegen
sein - ausgeschlossen, da schon zwischen Untergang der Plejaden und Aufgang des
Delphins nahezu zwei Stunden lagen.
Eine neue, weithin höchst verdienstvolle Anthologie3 übersetzt den Vers 53 gar
so:
„Der Delphin, der Arion trug, steht nun im Zenit.“
Ein Beobachter, der jemals den Delphin ausgerechnet im Zenit sehen wollte, müßte
sich freilich auf die nördliche geographische Breite von etwa 15° begeben, also zum
Beispiel nach Karthoum oder Bangkok4. Und sollte die Übersetzung eigentlich nur
gemeint haben, daß der Delphin kulminierte, so wäre das als eine Erscheinung, die
zwischen 0 und 1 Uhr stattfinden soll, nur im Juli möglich, also im Hochsommer.
Wahrscheinlich hat Lotichius aber ascendit als Praesens verwendet und nur sagen
wollen, daß der Delphin sich auf die Bahn zur Kulmination gemacht habe, also ge
rade aufgegangen sei. Dies wiederum ist aber zur Zeit der bruma (cf. V. 1) im
strengen Wortsinn, der ja , Wintersonnenwende1 meint, noch nicht möglich: um das
Jahr 1550 lag die Wintersonnenwende astronomisch am 12. Dezember; am 12. 12.
aber ging der Delphin etwa 7h 20, die Sonne hingegen 8h 16 auf, was zu einer Be
obachtung des Delphins nicht ausreicht, da der Sehungsbogen der Sonne bei Del
phinaufgang mit etwa 7,5-8° zu klein ist: die Morgendämmerung überstrahlt den
Delphin. Am 21. 12., dem traditionellen Kalenderdatum der Wintersonnenwende,
ist der Sehungsbogen der Sonne mit etwa 13,5° immer noch zu gering. Eine
erste Möglichkeit, den Aufgang des Delphins überhaupt zu sehen, lag um den
3 Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch... ausgewählt,
übersetzt, erläutert und herausgegeben von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann
Wiegand, Frankfurt a.M. 1997, 417. Siehe auch Kühlmann in: Renaissancekultur und antike
Mythologie, hrsg. von Bodo Guthmüller und W. Kühlmann, Tübingen 1999, 149 ff., dort
165 f. dieselbe irreführende Übersetzung.
4 Lotichius ist über einen geographischen Rahmen, der begrenzt wird durch Magde
burg, Wittenberg, Bologna, Montpellier, Paris nie hinausgekommen, s. Georg Ellinger, Ge
schichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im 16. Jahrhundert, II 1, Berlin/Leipzig
1933; Ellinger vermutet S. 354, das fragliche Gedicht sei aus dem Eindruck einer winterli
chen Reise durch den Thüringer Wald entstanden. Für die oben vorgelegten Angaben ist ein
Beobachtungspunkt von 50° 30' N. 11° O. angenommen.
Die Dichter und die Sterne
211
29. Dezember, dann freilich etwa um 6h 275. Für einen Aufgang des Delphins gegen
Mitternacht mußte Lotichius bis etwa zum Anfang April warten6. Was Lotichius be
hauptet, gesehen zu haben, hätte er allenfalls auf einer nördlichen Breite von etwa
60° sehen können, also z.B. von Stockholm, Oslo oder Helsinki aus, dort aber auch
erst ungefähr am 25. März: dann lag dort im Jahr 1550 der Untergang der Plejaden
(genau der Alcyone) auf 0& 03, und der Aufgang des Delphins um 23h 54 (a) bis
OO*126 (ε).
Indes deutet Lotichius selber an, was ihm, wider alle Realität, den Aufgang des
Delphins mitten in einer Wintemacht behauptenswert machte:
qui vexit Ariona, Delphin,
Vatibus assidue ferre paratus opem (V. 53 f.):
Er verstand ihn als schützendes Gestirn des Dichters.
Aber kommen wir zur Antike und ihren Dichtem. Daß Ovid mit den astronomi
schen Bemerkungen in seinen Fasti ein heilloses Durcheinander angerichtet hat, ist
seit den Untersuchungen Christian Ludwig Idelers vor mehr als 170 Jahren erwie
sen7. Auch der astronomisch wenig bewanderte Leser mußte sich stets wundern,
wie zum Beispiel innerhalb von 10 Tagen die Lyra zweimal einen Spätuntergang
haben konnte (f. 1,652, den 23. Januar, und 2,73, den 2. Februar betreffend) und der
Bootes zwischen 3. März und 7. Juni gar dreimal einen Frühuntergang absolvieren
sollte (f. 3,403; 5,733; 6,235).
Weniger beachtet wurde Ovids erschütternde Ahnungslosigkeit, die sich
met. 2,129 ff. offenbart: die Sonnenbahn verlaufe schräg zu den Parallelkreisen - so
weit richtig -und erstrecke sich über drei Zonen hin, werde begrenzt erst von den
zwei Polarzonen:
nec tibi directos placeat via quinque per arcusl
sectus in obliquum est lato curvamine limes,
zonarumque trium contentus fine polumque
effugit australem iunctamque aquilonibus arcton.
Dies würde bedeuten, daß die Wendepunkte der Sonne auf den Polarkreisen lägen,
mithin die Erdachse nicht 23,5°, sondern 66,5° gegenüber der Senkrechten auf der
Erdbahn geneigt wäre; nicht über Syene, Hawai und Kuba stünde die Sonne zur
Sommersonnenwende senkrecht, sondern über Island, der ultima Thulel Man wür
de ja gerne Ovid gegen den Anschein eines solchen Unsinns verteidigen, etwa mit
5 Gleich Aufgang ε Delphini, so daß dann das ganze Sternbild über dem Horizont
stand. 6h27 stand che Sonne noch 16,5° unter dem Horizont, was als gerade hinreichender
Sehungsbogen für magnitudo 4 (= ε Delphini) gilt.
6 Aufgang ε Delphini am 1.4. um 00h 21.
7 [Christian Ludwig] Ideler, Über den astronomischen Theil der Fasti des Ovid,
AbhBerl, philos.-hist. Kl., 1822/23, S. 137-169, Siehe auch Georg Hofmann, Über die bei
griechischen und römischen Schriftstellern erwähnten Auf- und Untergänge der Sterne, in:
Programm des k. k. Gymnasiums in Triest 29, 1879, 3—43, bes. 36-38, mit dem abschließen
den Urteil, unter allen Auf- und Untergängen in Ovids Fasti seien „die wenigsten richtig
und wohl kein einziger je vom Dichter selbst beobachtet“ (38).
212
LUDWIG BRAUN
der Interpretation, finis trium zonarum meine die zwei Wendekreise als Begren
zung der tropischen Zone und zugleich als Nordgrenze der südlichen gemäßigten
wie auch als Südgrenze der nördlichen gemäßigten Zone: Aber da er ausdrücklich
die Polarzonen und nicht etwa die gemäßigten Zonen als die Gegenden bezeichnet,
die von der Sonnenbahn nicht berührt würden, gibt es keine Rettung für ihn. Und so
paraphrasiert denn auch Franz Börner, der unerschöpfliche Kommentator Ovids, in
aller Unschuld und ohne irgend etwas daran auszusetzen: „Phaethon soll eine Bahn
schräg durch die 3 mittleren Zonen fahren.“
Vergil, der g. 1,237-239 dasselbe zu behaupten scheint, hat immerhin bereits in
der Antike einen Verteidiger seiner Unfehlbarkeit gefunden:
has inter (sc. zonas) mediamque duae mortalibus aegris
mutiere concessae divum, et via secta per ambas,
obliquus qua se signorum verteret ordo.
Macrobius (comm. Somn. 2,8) nimmt zunächst berechtigten Anstoß an der
Aussage, der Zodiacus verlaufe durch die zwei gemäßigten Zonen, und will dann
per ambas als inter ambas verstehen. Moderne Kommentare sind geneigt, diese
Erklärung zu übernehmen - ob zu Recht, ist mir keineswegs sicher.
An anderer Stelle wiederholt sich der Vorgang, daß Ovid astronomisch Un
mögliches behauptet und Börner es genauso paraphrasiert, ohne jede Einwendung:
Lucifer et caeli statione novissimus exit.
quem petere ut terras ... vidit
(met. 2,115 f.).
Venus als Morgenstern kann der aufgehenden Sonne höchstens um 46° vorausge
hen8: sie wird daher dem Auge unsichtbar durch Verblassen, weil die aufgehende
Sonne sie überstrahlt, aber nie sinkt Venus als Morgenstern beobachtbar zur Erde
nieder. Auch im Extremfall ist Venus von ihrer Kulmination noch weit entfernt; als
Morgenstern bietet sie stets nur den Anblick des Emporsteigens, nie den des Nie
dersinkens. Indes schreibt auch Börner in seinem Kommentar: „Lucifer sinkt zur
Erde nieder.“
Einen Fall anderer Art bietet Plautus, Amphitruo 272-276:
credo ego hac noctu Nocturnum obdormivisse ebrium.
nam neque se Septemtriones quoquam in caelo commovent,
neque se Luna quoquam mutat atque uti exorta est semel,
nec Iugulae neque Vesperugo neque Vergiliae occidunt.
ha statim stant signa, neque nox quoquam concedit die.
Dies sagt der Sklave Sosia, der verwundert dessen inne wird, daß in dieser Nacht
die Zeit still steht. Nun läßt sich auf Grund seiner Beobachtungen die Jahreszeit die
ser Nacht recht genau bestimmen. Da Vesperugo, der Abendstern, genannt ist, liegt
der Zeitpunkt höchstens etwa dreieinhalb Stunden nach Sonnenuntergang - Venus
kann nie mehr als etwa 45° östliche Elongation von der Sonne haben, und das ent
8 Eine Tatsache, die zum Beispiel Cicero durchaus wenigstens im Grundsätzlichen
kannte: nat. deor. 2,53.
Die Dichter und die Sterne
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spricht einem Abstand von höchstens dreieinhalb Stunden zwischen den Untergän
gen von Sonne und Venus. In diesem Zeitraum hatte Sosia den Untergang oder
doch mindestens das Niedersinken der Gürtelsteme des Orion (Iugulae) und der
Plejaden (Vergiliae) erwartet. Das führt auf den Zeitraum von etwa Anfang März dann haben bei Sonnenuntergang Iugulae und Vergiliae erstmals ihre Kulmination
überschritten - bis etwa Anfang April - danach beginnt die Sonne sich den Plejaden
so weit zu nähern, daß sie sie überstrahlt. Dies gilt für die Jahre um 190 v.Chr. in
Rom in ungefähr gleicher Weise wie für die Jahre um 350 v.Chr. in Athen.
Dies allerdings führt zu verwunderlichen Konsequenzen: Sosia kommt, um in
Theben den Sieg seines Herrn Amphitruo zu melden. Der Feldzug ist also gerade zu
Ende gegangen. Er hat gemäß PI. Am. 481, 1039 und 1053 ff. neun Monate gedau
ert. Dies aber ist für alle antike Kriegsführung unerhört: ein Feldzug, der sich durch
den ganzen Winter hin erstreckt hätte, und von dem man überdies im März zu
Schiff über das Meer zurückgekehrt wäre!
Die Merkwürdigkeit wird noch größer, wenn wir bedenken, daß im griechi
schen Original Amphitryon nur drei Monate von Theben fern war9: der Feldzug hät
te also, mit Hin- und Rückfahrt zu Schiff, ausschließlich in Wintermonaten stattge
funden, etwa ab Anfang Dezember oder Anfang Januar!
Was so sehr nach einer genauen impliziten Datierung aussieht, kann also un
möglich so gemeint sein. Hier wurden einfach schön klingende und gängige Namen
von Gestirnen angehäuft, ohne daß der Dichter bedachte, was er damit sagte.
Die Schwierigkeiten beginnen sogar, recht betrachtet, nicht erst in der voraus
gesetzten Kriegshandlung außerhalb des eigentlichen Stückes, sondern bereits in
der Komödienhandlung selbst. Die Handlung des Stückes setzt nämlich eindeutig
nicht am Abend, sondern gegen Morgen der berühmten Langen Nacht ein. V. 543
bricht der Morgen an: lucescit hoc iam\ Alcmene bestätigt V. 639: abiit a me hinc
ante lucem, und sagt V. 699: dudum ante lucem ... te vidi, wie auch Sosia V. 602
festhält: dudum ante lucem a portu me praemisisti domum: Das könnte er nicht sa
gen, wenn er abends losgeschickt worden wäre, vielmehr ist eine solche Zeitangabe
frühestens nach Mitternacht sinnvoll. Um Mitternacht ist aber kein Abendstem
mehr zu beobachten. Entfernen wir versuchsweise einmal die Vesperugo aus den
übrigen Angaben, unter der Annahme, hier sei ein unsinniges Element in einen
sonst überlegten Zusammenhang eingedrungen, etwa von Plautus unbedacht in den
Sachverhalt des Originals eingeschoben worden, so wären wir in einer Jahreszeit,
zu der der Untergang oder mindestens ein Niedersinken von Vergiliae und Iugulae
nunmehr gegen Morgen zu erwarten wäre. Die Iugulae kulminieren Mitte August
etwa um 7h, Mitte September etwa um 5h, die Plejaden kulminieren jeweils 2 Stun
den früher: insgesamt wäre das aber noch zu früh, um die Aussagen Sosias zu be
9 Siehe dazu etwa Verf., Keine griechischen Originale für Amphitruo und Menaechmi?
in: WJ 17, 1991, 193 ff., hier 203, fußend auf Wolf Steidle, Plautus’ Amphitruo und sein
griechisches Original, in: RhM 122, 1979, 34^-8, bes. 48.
214
LUDWIG BRAUN
rechtigen. Besser sieht es um Mitte Oktober aus (die folgenden Werte gelten für
Rom 190 v.Chr.; für Athen 350 v.Chr. liegen die Zeiten jeweils etwa zwischen 5
und 15 Minuten später): Iugulae kulminieren gegen 3h, Plejaden gegen lh, haben
sich also gegen Morgen schon um einiges gesenkt; Untergang der Plejaden wäre et
wa 7h 30, der der Iugulae etwa 8h 20, Sonnenaufgang 6h 21. Noch besser könnte
Mitte November passen: Untergang Plejaden 5h 29, Untergang Iugulae 6h 18, Son
nenaufgang 7h 01; aber damit wären wir schon wieder in der Zeit, in der man ver
nünftigerweise nicht mehr zur See fährt.
Mitte Oktober könnte Amphitruo gut von einem Feldzug heimkehren, zu dem
er drei Monate vorher, also Mitte Juli, aufgebrochen wäre. Aber zu einem Beweis,
daß Plautus die Vesperugo und nur sie eingefügt hätte, vielleicht um der schönen
Assonanz mit Vergiliae willen; dazu reicht das alles natürlich nicht. Zu groß sind
die Unsicherheiten, welcher Dichter hier wieviel von Astronomie verstand.
Vermerken wir nur nebenbei, daß die großartige Eingangsszene des ,Hercules
Furens‘ von Seneca sich mit Hilfe der genannten Sternbilder datieren ließe: Juno
beobachtet, wohlgemerkt von der Erde aus - templa summi vidua deserui aetheris
... tellus colenda est (3. 5)-und kurz vor Tagesanbruch - clarescit dies ortuque
Titan lucidus croceo subit (123 f.) - den Großen Bären, den Stier mit den Plejaden,
ferner Orion, Perseus, Zwillinge, Kranz der Ariadne: das alles kann man gleichzei
tig um den Anfang November beobachten. Daß Seneca sich dabei etwas gedacht
hätte, ist allerdings unwahrscheinlich. Es fällt zwar auf, daß der Adler nicht erwähnt
wird, der doch Ganymed gegenüber eine vergleichbare Funktion hatte wie der Stier
gegenüber Europa. Und in der Tat wäre bei dem festgehaltenen Himmelsanblick der
Adler beträchtlich unter dem Osthorizont. Im weiteren Verlauf der Tragödie hat
eine solche zeitliche Festlegung aber keinerlei Sinn. Es dürfte sich eher um eine
weiter nicht bedachte Aufzählung von Sternbildern handeln, deren Anblick Junos
Eifersucht zu schüren geeignet ist. Dies wird besonders dadurch deutlich, daß im er
sten Chorlied mehrere Aussagen erscheinen, die nur an einem Morgen im Frühling
gemacht werden können: Die Nachtigall sitzt querulos inter nidos (148), hat also
ein Nest mit Jungen; eine mollis herba (145) gibt es im Sommer und erst recht im
Spätherbst nicht mehr10. Immerhin widerspricht aber der zeitliche Ansatz für die
Sternhimmel-Beobachtung nicht den astronomischen Anhaltspunkten der Wahn
sinnsszene (939 ff.): Hercules glaubt zu sehen, wie sich am hellen Mittag die Sonne
verfinstert und Sterne sichtbar werden, hat somit die Halluzination einer totalen
Sonnenfinsternis. Besonders fällt ihm dann der Löwe in den Blick: Anfang Novem
ber wäre dieser sehr wohl am Tageshimmel, etwa auf halber Strecke zwischen Kul
mination und Untergang.
Unmöglich hingegen wird die Annahme des Hercules, der Löwe setze zum
Sprung auf den Stier an und überspringe dabei Herbst und Winter, also die Tier
10 Beobachtung der Teilnehmerin Gabriele Soukup in einem Seminar des Winterseme
sters 1998/99.
Die Dichter und die Sterne
215
kreisbilder, in denen die Sonne in Herbst und Winter steht, Waage bis Fische. Die
Vorstellung ist zwar gewaltig und erschütternd, ein echter Seneca-Effekt, aber: so
herum springt der Löwe nicht. Jede antike bildliche Darstellung zeigt, daß der Lö
we, wenn er denn springen wollte, direkt dem Stier zugewandt steht und gerade
wegs nur über Krebs und Zwillinge hinwegsetzen müßte. Wer will, mag das auf den
ausbrechenden Wahnsinn des Hercules schieben11 - wahrscheinlicher ist doch, daß
Seneca sich durch seine erhabene Pointe dazu hinreißen ließ, nicht weiter auf die
Ikonographie der Fixstemsphäre zu achten.
Das Horoskop, das Nigidius Figulus in Lucans Pharsalia für Roms Zukunft
stellt (1,651-665), hat Alfred Housman schon vor vielen Jahren in seiner erfrischen
den Art in der Luft zerrissen. Allerdings setzt Housman wie selbstverständlich vor
aus, daß Lucan das Datum vom Ausbruch des Bürgerkrieges vom republikanischen
auf den reformierten Julianischen Kalender umgerechnet hätte: “shortly after the arrival at Rome of the news that Caesar had crossed the Rubicon: say XVI kal. Febr.
A. U. C., answering to 28 Nov. 50 B. C. in our reformed calender” (Housmans Lucan-Ausgabe, Oxford 1927, S. 325 f.). An einer anderen Stelle hat Lucan dies indes
jedenfalls nicht getan: Die Ermordung des Pompeius legt er gemäß republikani
schem Kalender auf Ende September, ja ganz genau auf das Herbstaequinoctium:
tempus erat, quo libra pares examinat horas,
non uno plus aequa die, noctique rependit
lux minor hibernae verni solacia damni (8,467-469).
Lucan bezeichnet also den 25. September, was dem tatsächlichen Datum der Ermor
dung, dem 29. September recht nahe kommt - freilich nur im falschen republikani
schen Kalender: gerade die Sonne stand in Wirklichkeit ganz woanders, nämlich,
am 25. Juli 48, nach Umrechnung in den Julianischen Kalender, im Anfang des Lö
wen (cf. Housman im Apparat zur Stelle).
Allein, die Annahme, Lucan habe auch für 1,651 ff. das Datum nicht auf den
Julianischen Kalender umgerechnet, setze also den 17. Januar 49 v.Chr. für die
Himmelsbeobachtungen des Figulus voraus, bessert die Sache nicht. Es bleibt bei
einem Phantasie-Horoskop, das einzig die kriegerischen Zeichen Mars und Orion
um düsterer Wirkung willen willkürlich an den Himmel setzt. Das heißt, der Orion
ist natürlich in jedem Fall ein beherrschendes Sternbild des Winterhimmels, nur ist
er für astrologische Ausdeutungen, wie Housman dargelegt hat, als ein nicht zum
Zodiacus gehöriges Sternbild ohne jeden Belang. Der Mars hingegen stand in kei
nem Fall im Skorpion, wie Lucan behauptet, vielmehr am 17.1.49 v.Chr. im Widder
(Rektasz. 0119m) ünd am 28.11.50 v.Chr. in den Fischen (Rektasz. 22h 12m).
Eine rühmliche Ausnahme aber gegenüber all diesem mangelnden Sachver
stand in astronomischen Dingen finden wir endlich in der Odyssee: Odysseus be
obachtet auf seiner Fahrt von Kalypso zur Insel der Phäaken in der Nacht die Pleja11 Vgl. etwa Hans Joachim Mette, Die Funktion des Löwengleichnisses in Senecas
Hercules Furens, in: WSt 79, 1966, 477-489; Mettes moralische Wertung des Hercules darf
allerdings unterdes als überholt gelten.
216
LUDWIG BRAUN
den, den träge untergehenden Bootes, den Großen Bären und den Orion (5,272
-275). Davon ist der Große Bär als ausdrücklich zirkumpolares Sternbild natürlich
ohne Wert für eine Datierung. Ob übrigens gemeint ist, daß der Orion tatsächlich
von Odysseus beobachtet wurde, oder ob hier in epischer Breite nur etwas über den
Orion schlechthin gesagt wird, ist unklar, kann aber offen gelassen werden, weil die
Plejaden nicht gar so weit vom Orion stehen. Der Orion kann vor allem deswegen
vernachlässigt werden, weil die Kombination von Bootes-und das meint doch
wohl Arkturus - und Plejaden schon für sich genommen eine recht genaue zeitliche
Eingrenzung bedeutet. Da diese beiden ziemlich konträre Rektaszensionen haben für 750 v.Chr., die Zeit des Odyssee-Dichters, die Plejaden etwa lh, Arkturus etwa
12h -, sind sie stets nur kurz gleichzeitig zu beobachten, ungefähr lh 45 min. lang;
stets geht der Arkturus um diese Zeitspanne nach dem Aufgang der Plejaden seiner
seits unter.
Zunächst kann wohl überhaupt nicht ernsthaft an die Zeit gedacht sein, da man
klugerweise nicht zur See fährt, also etwa Mitte November bis Mitte März. Es wagt
sich ja auch nicht nur Odysseus in den Tagen der Handlung auf die See, und das in
einem zerbrechlichen Fahrzeug, sondern ebenso und ohne alle Bedenken sein Sohn
Telemach. Wenn nun gesagt wird, daß Odysseus auf die Plejaden blickte, dann ist
das nur sinnvoll, wenn diese auch eine bemerkenswert lange Zeit hindurch am
Nachthimmel standen. Um die Mitte März, zum Beispiel am 10.3., waren die Pleja
den aber nur höchstens zwei Stunden lang beobachtbar, von einiger Zeit nach Son
nenuntergang, etwa 19h 25, bis zum Untergang um 21h 28. Andererseits war der
Arkturus am 10.3. die ganze Nacht hindurch beobachtbar, Untergang war erst 9h 49;
somit ließ sich das spektakulär langsame Niedersinken des Bootes um diese Jahres
zeit gar nicht würdigen12. Diese Verhältnisse werden bis in die ersten Apriltage hin
ein noch immer ungünstiger: die Sichtbarkeit der Plejaden wird immer kürzer, und
der Untergang des Akturus kommt zwar immer näher an die Aufgangszeit der Son
ne heran, liegt aber immer noch etwas später als diese. Sodann scheidet die Zeit von
etwa 6.4. bis etwa 20.5. insgesamt aus, da dann die Sonne so nahe an den Plejaden
stand, daß diese überhaupt nicht beobachtet werden konnten. Am 20.5. hatten die
Plejaden dann ihren - sichtbaren - Frühaufgang, brauchen von nun an aber noch ei
nige Zeit, um überhaupt eine nennenswerte Sichtbarkeitsspanne vor Sonnenaufgang
zu gewinnen. Einen Monat später, am 20.6., konnten sie immer noch nicht länger
als etwa 1,5 Stunden beobachtet werden. Von nun an bessern sich aber die Verhält-
12 Nur darauf kann sich όψέ δύοντα Βοώτην beziehen (5,272); hierin eine Bezeichnung
des Spätuntergangs des Arkturus zu sehen, ist ganz abwegig: der lag am 2.11., da tritt man
nicht mehr eine Seefahrt an. Die Bedenken von J.B. Hainsworth, Omero, Odissea, vol. II, introduzione, testo e commento a cura di J.B. H., 1982, z.St., όψέ δύων könne nicht ,langsam
untergehend1 bedeuten, wiegen gering in Anbetracht dessen, daß zwei antike Kommentatoren
den Ausdruck gerade so verstanden haben: και τον βραδέως δυόμενον Βοώτην, ότι
πολυχρόνιον ποιείται την κατάδυσιν (E-Scholion zu Od. 5,272); 'Όμηρος όψέ δύοντα
Βοώτην άντιτοό βραδέως δυόμενον (Scholion zu Arat, Phaen. 585).
Die Dichter und die Sterne
217
nisse ständig, die Sichtbarkeit der Plejaden wächst über 3,5 Stunden (20.7.) und
7,5 Stunden (20.8.) bis zur ganznächtigen Beobachtungsmöglichkeit (20.9., auch
noch 20.10.). Gleichzeitig rückt die Untergangszeit des Bootes immer weiter vor
den Sonnenaufgang, wird also in zunehmendem Maße in der Nacht beobachtbar:
die Untergangszeiten des Arkturus sind lh 10 am 20.7., 23h 04 am 20.8., 21h 02 am
20.9.,
04 am 20.10.
Wir sind somit zwar weit davon entfernt, aus den Stembeoachtungen des Odys
seus einen genauen Zeitpunkt seiner Fahrt erschließen zu können, erkennen aber,
daß diese Angaben für einen größeren Zeitraum passen, der seinen Schwerpunkt in
den Monaten August bis Oktober hat, während alle anderen Monate unwahrschein
lich bis ausgeschlossen sind13.
Bemerkenswerterweise begegnen nun in der Odyssee mehrere beiläufige Aus
sagen, die von anderer Seite her Rückschlüsse auf die Jahreszeit gestatten, in der die
Handlung spielt. Mehrfach wird erwähnt, daß es in der Nacht kalt und am Morgen
geradezu frostig sei (5,467, auf der Phäakeninsel; 14,459 ff., bei Eumaios; 17,191
warnt Eumaios vor der Abendkälte): dadurch ist jedenfalls der Hochsommer ausge
schlossen. Wenn ferner Odysseus 18,366 ff. sich wünscht, er könnte mit Eurymachos seine Kräfte beim Heumachen messen ώρρ έν εχαρινη, οτε τ’ ήματα μακρά
γένοιτο, so ist im Augenblick, da er dies sagt, offensichtlich nicht die Zeit der Heu
ernte. Diese war für den mediterranen Raum nach Columella 11,2,40 in der ersten
Maihälfte. 13,409 ff. heißt es, die Schweine des Eumaios täten sich an der Eichel
mast gütlich, was auf eine Jahreszeit nicht vor dem frühen Herbst führt. Auf die
gleiche Zeit führt der Hinweis, daß bei Kalypso Trauben an den Weinstöcken hän
gen (5,69). Am ehesten auf den Herbst deuten auch die Tätigkeiten auf dem Land
gut des Laertes 24,277: Einholen von Dornengestrüpp zum Bau einer Viehumzäu
nung, und Auflockem der Erde um gepflanzte Sträucher herum.
Dies alles paßt offensichtlich zu einer unausgesprochenen Voraussetzung des
Dichters, daß die Handlung seiner Odyssee sich ungefähr im September oder Okto
ber ereigne. Es ergibt sich somit, daß die astronomischen Angaben zwar für sich ge
nommen noch nicht ein einigermaßen eindeutiges Datum im Jahreslauf erschließen
lassen, daß sie aber zu den übrigen Hinweisen auf eine bestimmte Jahreszeit, die
sich durch die ganze Odyssee hin finden, eine sinnvolle und widerspruchslose Aus
sage darstellen. In den Nächten des September und Oktober konnte man um das
Jahr 750 v.Chr. (als Beobachtungspunkt einmal angenommen die geographische
Breite von Smyrna, 38° 25' N.) tatsächlich die Plejaden und den Bootes besonders
gut beobachten; die Plejaden waren die ganze Nacht hindurch sichtbar, und der
Bootes demonstrierte seinen sprichwörtlich langsamen, vier bis fünf Stunden dau13 J.A. Scott, The Unity of Homer, Berkeley 1921 (Nachdr. New York 1965) schränkt
auf Grund von Berechnungen eines befreundeten Astronomen, für 39° N. und 800 v.Chr., die
Zeit der Fahrt des Odysseus auf 1. September bis 21. Oktober ein. Kriterium ist dabei, völlig
zu Recht, daß Odysseus die Plejaden die ganze Nacht hindurch sowie den Untergang des
Bootes beobachten konnte.
218
LUDWIG BRAUN
emden Untergang in voller Ausdehnung gleichfalls während der Nacht (s. die Ab
bildungen 1 und 2).
Um die bunte Reihe der gemachten Bemerkungen etwas zusammenzufassen: In
manchen Fällen mangelte es schon an ganz grundlegendem Verständnis für die
Himmelserscheinungen. Man muß sich wahrlich nicht sehr in die Astronomie ver
tieft haben, um zu wissen, in welcher Richtung der Mond durch den Tierkreis wan
dert, und daß der Untergang des Morgensterns sich nicht beobachten läßt. Indes
sind oftmals auch die Kommentatoren der Dichter nicht klüger. Kürzlich war auch
in einem philologischen Fachbeitrag zu lesen, die Sonne sinke zur Sommerzeit in
einem steileren Winkel unter den Horizont als im Winter -wohlgemerkt vom selben
Punkt auf der Erde aus beobachtet14.
Etwas anderes, weitaus Komplizierteres sind natürlich die Angaben von Kon
stellationen zu einem historischen Zeitpunkt. Es liegt mir fern, den Eindruck er
wecken zu wollen, als hätte ich hier für meine kritischen Bemerkungen irgendetwas
eigenständig berechnen können. Die mathematischen Hilfsmittel, die ein Georg
Hofmann hierfür bereitgestellt hat15, übersteigen meine Fähigkeiten bei weitem. Ich
habe mich gestützt auf die modernen Computersimulationen des Programms
,Redshift‘, München 1995. Wo immer sich Kontrollmöglichkeiten mit verläßlichen
zeitgenössischen Beobachtungen ergaben, zeigte sich kein Anlaß, dem Computer
programm zu mißtrauen.
Mit einer gewichtigen Ausnahme: Längerperiodische Kometen, so gerade der
Halley’sche, stimmen rückschreitend schon nach wenigen Perioden nicht mehr
überein mit dem, was frühere Jahrhunderte beobachtet und berichtet haben. Hier
rechnet das Programm unflexibel jeweils um die durchschnittliche Periode von etwa
75,85 Jahren zurück, was zu immer stärkeren Abweichungen führt: schon für die
historisch bezeugte Erdnähe des Kometen im Jahr 1456 n.Chr. gibt das Programm
falsch 1454, dann 1303 statt 1301, 1076 statt 1066, 847 statt 837, und so weiter.
Aber daß Kometen unberechenbar sind, ist ja einer der ersten Sätze, der sich selbst
dem Amateur der Astronomie einprägt.
Zuletzt sei noch eine Eigenheit von Redshift erwähnt, die mich eine Zeit lang
stark irritiert hat: Das Programm gibt durchgehend nicht die rein rechnerisch ge
winnbaren Auf- und Untergänge an, sondern stets die beobachtbaren. Das heißt, daß
die Refraktion, also die Lichtbrechung, berücksichtigt wird, durch die ein Himmels
körper am Osthorizont schon sichtbar wird, obwohl er geometrisch noch unter dem
14 Es sei doch erlaubt, anzumerken, daß der Winkel stets derselbe ist, nämlich
90° minus die geographische Breite des Beobachtungspunktes; die Geschwindigkeit, mit der
die Sonne sinkt, ist allerdings veränderlich, aber dergestalt, daß die Sonne im Sommer- wie
im Winterpunkt gerade am langsamsten unter den Horizont sinkt, am schnellsten hingegen in
den beiden Äquinoktialpunkten: bei gleicher Drehgeschwindigkeit legt ein Punkt innerhalb
derselben Zeit auf dem (Himmels-)Äquator eine größere Strecke zurück als ein vom Äquator
entfernter Punkt.
15 Wie oben Anm. 7, S. 17-21.
Die Dichter und die Sterne
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Horizont steht und somit noch nicht eigentlich aufgegangen ist. Die Abbildung auf
dem Bildschirm sowie die stets abrufbaren Koordinaten eines Himmelskörpers ma
chen diese Verhältnisse zwar durchaus deutlich, aber für einen grundsätzlichen Hin
weis in der Bedienungsanleitung des Programms wäre man doch dankbar.
Würzburg
Ludwig Braun
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LUDWIG BRAUN
Abbildung 1
Schematische Darstellung des Himmelsanblicks, beobachtet von 38° 25' N. 21° 10' O.
(Smyrna) am 20. 9. 750 v. Chr. 21 h 00 Ortszeit. Der gestrichelte Bogen stellt den Horizont
dar; HNP = Himmelsnordpol; Stern A (Arkturus) geht gerade unter (21 h 02), Stern B
(Alkyone, Pleiaden) ist schon seit längerem aufgegangen (Aufgang war 19 h 20). Man beachte
auch die Stellung von P (a Ursae Minoris, unser heutiger Polarstem).
Abbildung 2
Dasselbe 4 Stunden später (21.9., 1 h 00). Bootes ist weitgehend untergegangen, die Pleiaden
sind entsprechend höher gestiegen.