,,Die Jagd auf Mikrobien hat erheblich an
Reiz verloren" - Der sinkende Stern der
Bakteriologie in Medizin und
Gesundheitspolitik der Weimarer Republik
Snvm.BBRcBn
Um die Mitte der l920er Jahre taucht in medizinischen Zeitschriften ein
neues Textgenre auf: die Bakteriologen-Schelte. Quer durch alle Fachjournals und Wochenschriften hinweg finden sich Artikel, die für die
Zeit nach dem Ersten Weltkrieg einen Verlust der bakteriologischen
Vorherrschaft im medizinischen System postulierten und höhnisch auf
die Zweifel und Unsicherheiten der füiher so selbstbewusst auftretenden
,,Bakterienj äger" hinwiesen. Zum vermeintlichen Ende der Bakterienära
konstatierte ein Autor 1924 mit kaum verhohlener Genugtuung, überall
sei derzeit zu beobachten, wie das ,,starre bakteriologische Denken" verlassen werde, das bei Infektion und Epidemie den Fokus auf die Erreger
und ihre Verbreitung gelenkt habe (Sauerbruch 1924: 1300). Den Autoritätsverlust der,,Pilzlehre", wie die Bakteriologie bisweilen abfÌillig genannt wurde, quittierte ein anderer Kritiker mit der spöttischen Bemerkung: ,,Die Jagd auf Mikrobien, die vor einem Menschenalter die Gemüter in Atem hielt, hat erheblich an Reiz verloren" (Buttersack 1925:
329). Selbst ehemaligen WeggefÌihrten Robert Kochs gelang es nicht
mehr abzustreiten, dass ihre Wissenschaft nach dem Krieg und dem Erstarken von Konstitutionslehre und Sozialhygiene in einer Krise steckte.
August von Wassermann, einer der ersten Schüler Kochs, diagnostizierte
für die Mik¡obiologie - wenn auch etwas gewunden - ein ,,Übergangsreaktionsstadium" und räumte ein, dass der ,,Bazillus" im Seuchenge-
BAKIERIoLoGIE IN DER WEIMARER REPUBLìK
SILVIA BERGER
die letzten 50 Jahre zurtick, die er als große Epoche der spezifischen
Zur Dominanz der Bakteriologie in Medizin und
Gesundheitswesen des Kaiserreichs
Ätiologie, der spezifischen Diagnose und spezifisch-ätiologischen Prophylaxe und Therapie beschrieb - eine Epoche, die ein für allemal an ihr
Ende gelangt zu sein schien (Wassermam 1924: 1685).
Die medizinische Bakteriologie hatte sich in Deutschland um 1890 als
Forschungsgebiet etabliert. In der Öffentlichkeit stießen die laborbasier-
schehen keineswegs mehr Alleinherrscher sei. Wehmütig blickte er auf
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem tiefen Fall der medizini-
-
einer Wissenschen Bakteriologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts
schaft, die im Wilhelminischen Kaiserreich nicht nur Orientierungspunkt
des medizinischen Denkens
war, sondern auch das öffentliche Gesund-
heitswesen weitgehend zu dominieren vermocht hatte.l Nach einem einftihrenden Überblick zum bakteriologischen Zeitalter im Kaiserreich ge-
he ich den Ursachen für den Autoritätsverlust der Disziplin nach dem
Ersten Weltkrieg nach und untersuche, welche Effekte die Destabilisierung des orthodoxen Wissensregimes auf die Verortung der Bakteriolo-
gie in den gesr.rndheitspolitischen Entscheidungsgremien und medizinischen Handlungsfeldern der W'eimarer Republik hatte. Um die Implikationen des Endes der bakteriologischen Ära exemplarisch zu beleuchten,
nehme ich eine Episode der Konfrontation zwischen zwei gesundheitspolitisch bedeutenden Akteuren nach Kriegsende genauer in den Blick:
Die Ablösung von Martin Kirchner durch Adolf Gottstein an der Spitze
der Preußischen Medizinalverwaltung. Einerseits werde ich die institutionell-personellen Details dieser Episode diskutieren, wobei die Akteure
als idealtypische Repräsentanten der - im Falle von Kirchner - ,alÍen',
eng mit den obrigkeitsstaatlichen Strukturen des Kaiserreichs verbundenen bakteriologischen und der - im Fall von Gottstein - ,neuen' sozialhygienischen Herrschaftsordnung in Erscheinung treten. Andererseits
möchte ich anhand programmatischer Texte von Kirchner und Gottstein
völlig divergierender wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Entwärfe, Strategien und Praktiken sichtbar machen. Eine Antinomie und Unvereinbarkeit von Positionen allerdings,
die nur kurzweilig Bestand haben sollte. Denn wie abschließend argumentiert wird, formierte sich bereits ab Mitte der 1920er Jahre eine viel
bescheidener auftretende Bakteriologie, die von Kirchners Ansichten
Abstand nahm, sich den Strömungen und Erkennûrissen der neuen Zeit
öffnete und ihr Wissens- und Handlungssystem grundlegend zu fransformieren begann.
das Aufeinanderprallen
Der vorliegende Aufsatz steht in Zusammenhang mit meiner Dissertation
Bakterien in Krieg und Frieden. Eìne Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890-1933, die vor kurzem im Wallstein Verlag
erschienen ist (Berger 2009a). Für Kommentare zu diesem Text danke ich
Jessica Reinisch, Jeanette Madarâsz und Martin Lengwiler.
ten Studien über die kleinsten, unsichtbaren Lebewesen und ihre unheilvolle Rolle im K¡ankheitsgeschehen auf große Resonanz. Auch von Seiten des Staates wurde die Bakteriologie mit Beifall und Fördermaßnahmen bedacht, schließlich versprach sie gegen die akuten epidemischen
und endemischen Infekfionskrankheiten, die die gesundheitspolitische
Agenda beherrschten, neue und effiziente Handhaben. Robert Koch war
ab 1880 im Kaiserlichen Gesundheitsamt tätig, das mit dem eigens flir
ihn eingerichteten bakteriologischen Labor zt einer der Hauptarbeitsstätten für die bakterislogische Forschung und die Prävention und Bekåimpfung von Infektionskrankheiten avancierte (vgl. Hüntelmann 2008 ;
Gradmar¡r 2005). Im Zuge der Konsolidierung des Wissensgebietes, die
in der ft.indung hochdotierter Forschungsinstitute wie dem Preußischen
Institut flir Infektionskrankheiten 1891 ebenso sichtbar wurde wie in der
Publikation von Fachzeitschriften und ersten Lehr- und Handbüchem,
stieg die Bakteriologie bis zur Jah¡hundertwende gar zum Orientierungspunkt der Humanme dtzin auf.z Mit iker ,,epochemachenden" Betrachtung der InfektionskrankÍreiten, die als notwendige und determinierende Ursache von Infektionskrankheiten spezifische, von außen in den
Körper eindringende Bakterienarten postulierte, verlieh sie - wie es der
Koch-Schüler Emil Behring emphatisch formulierte - der ,,modernen
Medicin das Gepräge" @ehring 1894: 686).
Das kausale Minimalkonzept und der Krankheitsbegriff der Bakteriologie, der K¡ankheit und Gesundheit elementar voneinander schied
und ihn an die ,,Invasion" ,,feindlicher Eindringlinge" in den Körper
knüpfte, rückten n¡¡ar die vielftiltigen nattirlichen Interaktionsprozesse
zwischen Menschen und Bakterien aus dem Blickfeld. Sie ermöglichten
dafür ein umso einfacheres Präventionskonzept: Seuchen korurten verhü-
tet und bekämpft werden, indem man die Bazillen - in der Diktion
Kochs - ,,bis in ihre äußersten Schþfwinkel" verfolgte und tötete, das
heißt indem manjeden verdächtigen Krankheitsfall anzeigte, die spezifischen Krankheitserreger mithilfe bakteriologischer Untersuchungen
rasch identifizierte, die betroffenen Infizierten rigoros isolierte und ihre
Umgebung einem systematischen Desinfektionsregime unterwarf. Prophylaktisch boten sich überdies Maßnahmen zum Unterbruch der infek-
2
Dass die ,,Aneignung" der Bakterientheorie durch die Hygieniker und hygienisch interessierten Ärzte ein låingerer und vielschichtiger Prozess war,
zeigtHardy 2005.
BAKTERIoIoGIE IN DER WEìMARER REPUBLIK
SILVIA BERGER
dösen Ürbertragungswege (städtebauliche Assanierung etc.) und Schutzimpfungen wie die Pockenimpfung an; therapeutisch versprach nach
dem Scheitem der Tuberkulintherapie vor allem die Serumtherapie Beh-
rings künftige Erfolge.3
In personeller und institutioneller Hinsicht existierten bereits vor der
Jahrhundertwende starke Ülberschneidungen und Allianzen zwischen der
Bakteriologie und dem Militär. Jüngere Sanitätsoffiziere wurden oft zu
mehrjåihrigen Dienstleistungen in das Gesundheitsamt, später auch an
hygienische Institute oder das Institut ftir Infektionskrankheiten kommandiert. Der Großteil der ersten Schùler Kochs rekrutierte sich folglich
aus Militärärzten (vgl. V/eindling 1989a: 161f.; Labisch/Tennstedt 1985:
52). Die bakteriologisch informierte Hygiene und ihre spezifischätiologische Prophylaxe wurden auch besonders fr[ih im Militärsanitäts\¡/esen verankert. Die Medizinalverwaltung im Kriegsministerium
nutzte die Emrngenschaften der Bakteriologie, indem sie eine bakteriologische Schulung als festen Bestandteil in das Ausbildungsprogramm
zuktinftiger N4llitâtràrzte integrierte und bereits zu Beginn der l890er
Jahre an den Sitzen des Generalkommandos, beim Gardekorps in Berlin
und bei anderen Armeekorps bakteriologische Untersuchungsstellen ein-
richtete (Kirchner 1896: 34). Für den Kriegsfall erließ man 1907 die
Kriegssanitätsordmrng, die exakte Vorschriften für die bakteriologische
Seuchenabwehr enthielt (vgl. Bischoff 1912; K.S.O. 1907).
In der öffentlichen Gesundheitssicherung wurde das bakteriologische Konzept der Seuchenprâvention in der Reichsseuchengesetzgebung
von 1900 und diversen Landesseuchengesetzen aklaeditiert (vgl. Kirchner 1907b). Die Gesetze gaben der bakteriologischen Erregerlehre und
ihrem Katalog epidemiologischer Interventionsstrategien rechtsverbindlichen Charakter und übertrugen deren Ausführung der Polizeibehörde
und damit der staatlichen Ordnungsverwaltung. Die Präventionsprogramme hatten den Charakter einer rigiden obrigkeitsstaatlichen Indoktrination und legitimierten Zwangs- und Polizeimaßnahmen, die systematische Eingriffe in die persönliche Freiheit und körperliche Integrität des
Individuums umfassten (vgl. Hüntelmarn 2006:- 44f .).
Wie stark die Bakteriologie um 1900 nicht nur medizinische Leitwissenschaft, sondem auch gesundheitspolitischer Orientierungspunkf
des Kaiserreichs war, lässt sich paradigmatisch an der Zusammensetzung des Reichsgesundheitsrats ablesen. Dieses Gremium wurde im Anschluss an das Reichsseuchengesetz als beratende Behörde des Kaiserlichen Gesundheitsamts gegründet (vgl. Glaser 1960: 2-10). Auf der Mit-
3
qo
Zu Behrings Formation der Serumtherapie in der Tradition der Desinfektion vgl. Simon 2001. Zum ,,Tuberkulindebakel" Kochs vgl. Gradmar¡r
2005: 105-170; Gradmann 2001.
gliederliste des größten Fachausschusses, demjenigen für Seuchenbekämpfung, rangieren die Namen der in klarer Linie zsr orthodoxen Bakteriologie stehenden Direkforen staatlicher Forschungseinrichtungen,
Leiter hygienischer Institute und Untersuchungsstellen, hochrangiger
Militärþgieniker und Mitarbeiter der Medizinalverwaltung.o Der
Reichsgesundheitsrat markiert damit geradezu idealtypisch die Verflechtung und das dynamische Netzwerk, das sich zwischen bakteriologischer
W'issenschaft, Medizinalverwaltung und Militär um 1900 gebildet hatte,
und weist die Bakteriologie als staatstragende und vom Staat gehagene
Wissenschaft aus. Olaf Briese spricht denn auch zutreffend von der Bakteriologie als ,,Wilhelminischer Wissenschaft" (Briese 2003: 300).
Eine Verschmelzung von Bakteriologie, Staat und Militär in Personalunion repräsentierte Martin Kirchner. Kjrchner war nicht nur Schi.iler
Kochs. Er war zugleich ein der Monarchie verpflichteter, nationalkonservativer Stabsarzt und Privatdozent für Hygiene. In der Kultusbehörde
Preußens wurde er als geheimer Medizinalrat und beratender Rat ab
1898 zur zentralen Instanz für die Implementierung der bakteriologischen Hygiene und Seuchenbekämpfung in Staat und Reich. So war er
an der Ausarbeitung des Reichsseuchengesetzes beteiligt, figurierte unter den ersten Mitgliedem des Reichsgesundheitsrats und zeichnete als
Hauptverantwortlicher des Preußischen Seuchengesetzes (vgl. Kirchner
l9l9a: 75; Mohaupt 1989: 58f.). Auch für die Errichtung von Untersuchungsanstalten zur Analyse infekfionsverdächtiger Proben, die die institutionelle Verortung der Bakteriologie in der staatlichen Mittelinstanz
befìirderte, hat sich Kirchner eingesetzt (Lentz 1926: 10; Gins 1926:73).
1911 berief man ihn auf ausdrücklichen Vy'unsch Kaiser Wilhelms II.
anm Ministerialdirektor im Preußischen Innenministerium (La-
bisch/Tenndstedt 1985: 56) - eine Ernennung, die den Aufstieg der Bakteriologie zur V/ilhelminischen Wissenschaft krönte und auf das Prestige
verwies, das die Bakteriologie vor dem Ersten Weltkrieg noch immer
genoss. Anzumerken gilt nämlich, dass ihr Denkstil seit den 1890er Jahren mit einigen Irregularitäten und Problemen konfrontiert worden war.
Kritik setzte speziell an der reduktionistischen Ätiologie der Bakteriologen ein. Nachdem sich die Fälle von infizierten Personen häuften, die
trotz pathogener Bakterien in ihren Körpem nicht erkrankten, konnte
kaum mehr postuliert werden, dass jede Bazilleninvasion zwangsläufig
4
Bundesarchiv Berlin, R86/857: Ûlbersicht über die Zuteiltxlg der Mitglieder des Reichsgesundheitsrates an die Ausschüsse und Unterausschüsse,
Mai
1914.
ql
SILVIA BERGER
BAKTERToLoGTE
l:
rN DER WETMARER REPUBLtK
eine K¡ankheit verursachte.5 Die bakteriologische Ätiologie wurde des-
Abbildung
halb um die individuelle Disposition als Bedingung für die Krankheitsauslösung erweitert. Der dominierende Ursachenstafi¡s allerdings blieb
D
Holzfäs sern
weiterhin dem Erreger vorbehalten (Berger 2009a: 119f.).
Gerade bei den chronischen Volksseuchen wie der Tuberkulose gewannen nach 1900 ungeachtet der ersten Reformen innerhalb der Bakteriologie die Ansätze der Konstitutionshygiene und fnihen Sozialhygiene
sowie die damit in Wechselwirkung stehenden eugenischen Denkmuster
immer mehr an Gewicht. Diese neuen, in ihren Konzeptionen und gesundheitspolitischen Stoßrichtungen heterogen ausgeprägten Richtungen
der Hygiene legten den Fokus auf die GesundheitsgefÌihrdungen des
Proletariats in der industriellen Arbeits- und Lebenswelt und erhoben
K¡ankheitsanlagen beziehungsweise soziale Zustände zum zentralen Ansatzpunkt hygienisch-prophylaktischer Forderungen.6 Auf kommunaler
Ebene und im Rahmen der Aktivitäten btirgerlicher Wohlfahrtsorganisationen und Hygienevereine wurden als Praxis der Sozialhygiene erste
gesundheitsflirsorgerische Maßnahmen lanciert wie zum Beispiel die
Quelle: Hoffmann, Wilhelm (Hg) (1922): Hygiene, Leipzig: Barth
(Handbuch der Arztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Band
vu, s. s03.
Schaffung von Säuglings- oder Tuberkulosefürsorgestellen (vgl. Vossen
2005; Weindling 1989b; Labisch/Tennstedt 1985: Kap. 3; Göckenjahn
1985 l24ff.). Besonders erfolgreich bei der Initiierung und Ausweitung
der Gesundheitsfiirsorge ftir besonders gefÌihrdete Gesellschaftsgruppen
war der liberale Stadtarzt und Sozialhygieniker Adolf Gottstein in der
Gemeinde Charlottenburg (Gottstein 1925b: 2l-29; Koppitz/Labisch
1999:
XXXVI-XXXX).
Trotz Revisionen und Einbuße an Deutungsmacht bei den ,,stillen"
Volkskrankheiten behielt die Bakteriologie bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkriegs und auch während des Krieges selbst Oberwasser als staatlich protegierte Gesundheitswissenschaft. Zum einen blieben Sozialhygieniker wie Gottstein in der Kaiserzeit noch zumeist marginalisiert und
in ihrem Wirkungskreis beschränkt. Auch die Fortbildungsmöglichkeiten in Fragen der sozialen Hygiene waren für Ärzte gerade in Preußen
kurz vor Beginn des Weltkriegs sehr gering (Moser 2002: 33; Htintelmann 2008: 154).
5 Zt
dem in den 1890er Jahren auftauchenden Problem as¡nnptomatischer
Infektionen im Rahmen der Cholera-Epidemie von Hamburg vgl. Mendel-
6
ot
sohn 1996: Part II.
Zm Herausbildung der Konstitutions- und Sozialhygiene in der durch Depression, fortschreitende Industrialisierung und zunehmende Verelendung
des Industrieproletariats gekennzeichneten Zeít um die Jahrhundertwende
vgl. Baader 2005; Labisch 2004:262-265.
es
Kulturnation im Krieg: Mobile damp/betriebene
infekti ons anl age des D eu t s ch en H e eres au s erb eu t et en fr anz d s is c h en
(,, D
oppel-Diogenes ").
Zum anderen gelang es der Koch-Schule, ihre Wissenschaft nach der
ersten Emüchterungsphase emeut als gesundheitspolitischen Leitstem zu
positionieren, indem sie die Bakteriologie als kriegsentscheidende epidemiologische Feldwissenschaft etablierte. Ausschlaggebend dafür war
eine groß angelegte Seuchenbekåimpfungs-Kampagne, die sich gegen
den Tlphus im Südwesten von Deutschland richtete. Sehr bewusst hatte
Koch bei seinen Pl2inen fÌir eine große Bekämpfi.rngskampagne um 1900
nicht nur nach einer Infektionskrankheit Ausschau gehalten, mit der er
sich mit Blick auf das Militär Geltung verschaffen konnte - die Durchfallerkrankung Typhus war als Kriegsseuche gefürchtet. Er lenkte die
Aufmerksamkeit auch absichtlich auf ein Territorium, das seine Beziehungen zu Reichs- imd Militärbehörden bestärken und ihre Untersttitzung flir seine rigorosen Interventionsmaßnahmen sichern würde. Als
Gebiet der Typhuskampagne propagierte er nämlich exakt jenen Landstrich, in dem laut Schlieffen-Plan die Offensive der deutschen Truppen
im nächsten Krieg stattfinden würde. Koch versprach, die Armeen in
diesem strategisch wichtigen Landesteil vor einer zuktinftigen Verseuchung zu bewah¡en. Militär- und Reichsbehörden waren daraufhin
schnell überzeugt. Im ländlichen Sädwesten Deutschlands entwickelte
sich so zwischen 1903 und 1914 ein riesiger, staatlich untersttitzter
,,Feldzug" zur vollständigen ,,Ausrottung" des Typhus (vgl. Mendelsohn
tee6).
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BAKTERIOLOGIE IN DER WEIMARER REPUBLIK
SILVIA BERGER
Abbildung 2: Grundriss einer deutschen Sanierungsanstalt im Ersten
Abbildung 3: Duschraum einer deutschen Sanierungsanstalt im Ersten
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Quelle: Hoffmann, Wilhelm (Hg.) (1922): Hygiene, Leipzig: Barth
(Handbuch der Àrztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Band
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vn), s.268f.
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dadurch neue Dimensionen; denn jetztwaren nicht nur die Kranken gefÌihrlich, auch jeder Gesunde war potentiell eine Infektionsquelle. Dem
der Gesamlanlage.
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Quelle: Hoffmann, Wilhelm (Hg.) (1922): Hygiene, Leipzig: Barth
(Handbuch der Arztlichen Erfahrungen im Weltlcriege 1914/1918, Band
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Der gesunde ,,Bazillenträger", der den Bakteriologen zuvor in ätiologischer Hinsicht große Probleme bereitet hatte, wurde in der Kampagne
als neuer epidemiologischer Hauptfeind kodiert: Er repräsentierte nun
ein wandelndes Bazillenreservoir zur Verbreitung von Epidemien. Die
Bazillenangst und Berührungshysterie unter der Bevölkerung erreichte
gesunden Keimträger musste dementsprechend mit einem ebenso rigorosen, in die privaten Verhåilûrisse eindringenden Aufsprir-, Desinfektions- und Isolationsregime begegnet werden wie dem Kranken (vgl.
Kirchner 1907a; Fraenkel 1904).
Eine weitere Beståirkung ihrer Autorität erfuhr die Bakteriologie
schließlich im Ersten Weltkrieg. Mit Verweis auf das zwangsläufige
Auftreten von Seuchen in den Kriegen der Weltgeschichte wurde die
Bakteriologie zu Beginn des Weltkriegs zur potenten, autoritativen und
flir das Deutsche Reich geradezu existentiellen Kriegswissenschaft erklärt. Einzig mit einem strikt bakteriologischen B ekämpfringsdispositiv,
das Korpshygieniker und beratende Hygieniker - ausgerüstet mit mobilen Laboratorien, Desinfektionsapparaten und Trinkwassersterilisatoren
- vom vordersten Schützengraben bis in die Etappe umsetzten, glaubte
man Heer und Heimat vor den geflirchteten Kriegsseuchen schützen zu
können. Die Jahre 1914 bis i918 markierten folgerichtig den Höhepunkt
des ,,offensiven", mit ungeheurem Aufivand und schier unerschöpflichen
Mitteln betriebenen Ausrottungs- und Reinigungsfeldzugs gegen alle pa-
SILVA BERGER
thogenen Bakterien und potentiellen Infektionsträger (vgl. Berger 2009a:
171-25r).
j
:
BAKÍERIoLoGIE IN DER WEIMARER REPUBLIK
Abbildung 4: Der beratende Hygieniker und Robert Koch-Schüler Paul
Uhlenhuth @ritter von linlæ) vor einem Typhus-Lazarett (1915).
Destabilisierung des orthodoxen
Wissenssystems nach dem Ersten Weltkrieg
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem ,totalen' Krieg gegen die Bazillen
stieß der bakteriologische Denkstil allerdings an seine Grenzen. Selbst
orthodoxe Bakteriologen konzedierten anfangs der 1920er Jahre die Unvollkommenheit ihrer Kenntnisse der Ätiologie und Epidemiologie übertragbarer Krankheiten und warfen die Frage nach einer neuen theoretischen Orientierung auf. Auch den Grenzen der bakteriologischen Prophylaxe und der Seuchengesetze waÍ man sich deutlich bewusst' So bemerkte ein Leiter einer bakteriologischen Untersuchungsanstalt, der an
der Koch'schen Typhuskampagne beteiligt gewesen v/ar, an der Jahresversammlung des Deutschen Medizinalbeamtenvereins 1921, man befinde sich gegenwärtig in einer Zeit der Kritik an der bisherigen Seuchenbekåimpfung. Sie sei allerdings berechtigt, würden die ätiologischen
und epidemiologischen Kenntnisse doch klare Lücken aufweisen. Die
gesetzlichen Maßnahmen der Seuchenbekämpfung sollten deshalb nur
als ,,Teil" einer allgemeinen Seuchenprophylaxe betrachtet werden
(Rimpau l92l: 520f). Mit deutlichen Worten wendete sich auch der Direktor des Robert Koch-Instituts fÌir Infektionskrankheiten, Fred Neufeld, gegen die Seuchenprophylaxe à la Koch und Kirchner:
,,Es wäre meines Erachtens ein großer Fortschritt, wenn diejenigen, die sich
mit Seuchenbekämpfung befassen, endlich die Vorstellung aufgeben wi.irden,
als sei es ihre Aufgabe, immer den letzten Bazillus [...] in fseine] entlegensten
Schlupfwinkel zu verfolgen und zu töten; solche Illusionen [...] fìihren zu
nichts, als dass sie die Aufmerksamkeit von dem, was praktisch nötig und
praktisch erreichbar ist, ablenken." (Neufeld 1924: 13 50)
Angesichts dieses Votums von berufener Seite erstaunt es nicht, dass
Bakteriologie-Kritiker in der Weimarer Republik das Ende des Zeitalters
der Mikrobenjäger nahen sahen.
Was aber waren die Ursachen frir die Autoritätseinbuße und die Destabilisierung der bakteriologischen Wahrheiten? Eine wichtige Rolle spielte
sicher die Influenza-Pandemie 1918-1920. Sie konfrontierte die bakteriologische Fachwelt mit einer Vielzahl von Rätseln - nicht nur in epidemiologischer Hinsicht, sondern auclr mit Blick auf die ungeklärte Erregerfrage und das klinische Bild, das seltsame Krankheitserscheinungen
des zentralen Nervensystems mit einschloss (vgl. Tognotti 2003; Men-
Quelle: Neumann, Herbert A. (2004): Paul Uhlenhuth. Ein Lebenfi)r die
Forschung, Berlin: ABW Wissenschaftsverlag, S. 123.
delsohn 1996). Mit den bisherigen Schemata der Seuchenentstehung
kaum vereinbare Seuchengänge während dem Weltkrieg und unmittelbar danach fügten dem Influenza-Schock weitere Verunsicherungsmomente hinzu.
So entwickelten sich zu Kriegsende trotz der überstürzten Demobilisierung und dem vollståindigen Zusammenbruch des bakteriologischen
Seuchenabwehrdispositivs, das der ,,Invasion" von Bazillen und Infektionsträgern in die Heimat Ttir und Tor öffüete, keine der befiirchteten
großen Fleckfieber-, Ruhr- oder Typhusepidemien. Neben der offensichtlichen Komplexität des Seuchengeschehens, das mit einfachen Invasions- und Ûbertragungsmodellen nicht mehr aufzuhellen war, wurde
angesichts der Kriegserfahrungen aber auch etwas anderes deutlich: Die
bakteriologische Diagnostik und die Theorien zu Ursache und Verlauf
der Einzelinfeklion vermochten im Feld nicht zu überzeugen. Die unzähligen atypischen und uneinheitlichen Krankheitsbilder, die explodierende Zahl von Erregervarietäten und die Beobachtungen von Mischinfektionen entwa¡fen ein überaus komplexes Bild der Infektion, das mit dem
SILVIA BERGER
BAKTERToLoGTE rN DER WETMARER REPUBLtK
bisherigen Fokus auf den vermeintlich stabilen ,,bakteriellen Faktor"
nicht mehr adäquat erfasst \Merden konnte.T
Katalysator des Bedeutungsverlustes der Bakteriologie und ihrer
Strategien der Prävention waren neben diesen wissenschaftsimmanenten
Irritationen und Unsicherheiten zweifelsohne auch Weichenstellungen in
der Gesundheitsverwaltung nach dem Kollaps der alten politischen Ordnung. Krieg und Revolution hatten eine katastrophale soziale und wirtschaftliche Situation und eine schwere gesundheitliche Misere hervorgerufen. In deren Gefolge wurde der Ruf nach drakonischen Maßnahmen
zur Hebung der ,,deutschen Volksgesundheit" immer lauter. Angesichts
der Kriegsverluste, der abnehmenden Geburtsrate und der Degenerationsängste durch die verstârkte Zr¿nalwrc chronischer und mentaler
Krankheiten8 verschob sich - befördert durch den sozialpolitischen Aufbruch der neuen politischen K¡äfte - die staatliche Aufmerksamkeit immer mehr auf die Probleme eines ausreichenden Nachwuchses und die
Eindämmung der chronisch-degenerativen Volkskrankheiten. Hier konnte die Bakteriologie wenig Deutungshoheit anmelden. Im Gesundheitssystem der jungen Republik wurden die Handlungs- und Entscheidungsräume zusehends von den seit Beginn des Jahrhunderts entwickelten und
jetzt politisch aufgewerteten Bezugsdisziplinen der sozialen Hygiene,
Eugenik beziehungsweise Rassehygiene und den Bevölkerungswissenschaften besetzt. Vor allem mit den auf die Soziologie, Ökonomie und
Statistik zunickgreifenden gesundheitsfürsorgerischen Interventionen
der Sozialhygiene, die bisher nur im Rahmen der kommunalen Selbstverwalfung ntm Zuge gekommen waren, glaubte man den apokaþtischen Szenarien eines sich ,,auflösenden Volkes" und dem Niedergang
der Volksgesundheit begegnen zu können.e Allenthalben konstatierten
zeitgenössische Beobachter, Konstitutions- und Sozialhygiene verkörperten die ,,modernen Richtungen" der Hygiene, die biologische, vorwiegend mit exogenen Schädigungen der menschlichen Gesundheit befasste Richtung der Hygiene - die Bakteriologie - habe für die öffentli-
7
8
9
Zrr Destabilisierung der bakteriologischen Epidemiologie und Infektionslehre durch die Erfahrungen des Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Berger 2009a: 29I-374.
Diese Krankheiten waren bereits seit der Jahrhundertwende in den Vordergrund gerückt. Zur epidemiologischen Transition vgl. Weindling 1992.
Die Entwicklung der Sozialhygieîe nf,Í Leitwissenschaft einer breiten
Bewegr-rng und
die Akz.eptanz der gesundheitsfürsorgerisch ausgerichteten
Sozialhygiene auf politischer Ebene in der Weimarer Republik erörtem
Moser 2002; Moser 2004; Vossen 2005; Weindling 1989a: Kap.516;Labisch./Tennstedt 1985: Kap. 5; Labisch/Tennstedt 1991: 19-23; Weder
2000.
che Gesundheitspflege ,lagegen nur noch wenig Bedeutung @tirst 1926:
68f.; Seligmann 1922: 2533).
Auch wenn sich flir die Einbindung der Bakteriologie auf Reichsebene durchaus Kontinuitäten zur Vorkriegszeit feststellen lassen vor
-
allem im Reichsgesundheitsamt (vgl. Hubenstorf 1994: 388) -, so ìMar
der institutionelle und konzeptuelle Verlust der leitwissenschaftlichen
Position der Bakteriologie im Gefüge des Weimarer Gesundheits\¡/esens
doch markant. Im Reichsgesundheitsrat als ehemals prominentem Ort
bakteriologischer Autorität und Einflussnahme veränderte sich die Zusammensetzung und Gliederung der Ausschüsse markant. Ein klares
Signal für die gesundheitspolitische Bedeutung und Validierung der ent'Weimarer
sprechenden Krankheiten und Disziplinen
in der
Republik
set e zsrrr einen die Streichung der
phus, Cholera und Pest
-
-
separaten Unterausschüsse für Tydem ureigensten Feld bakteriologischer Exper-
im Ausschuss ftir Seuchenbektimpfung, zum andern die Aufstockung der Mitglieder in den Unterausschüssen flir chronische Volksk¡ankheiten mit wissenschaftlichen Vertretern der Sozialhygiene, Statistik und Eugenik (vgl. Saretzki 2000: 75,79f.; Glaser 1960: 56). Als Folge der massiven Reduktionen im Militärsanitätswesen nach der Verabtise
schiedung des Versailler Vertrages verlor die medizinische Bakteriologie zudem eine weitere, ftir ihre Belange und den einseitigen Bazillenkampf bislang zentale staatliche St.úue.10
Am augenfÌilligsten markiert den Bedeutungsverlust und den prekären Status der Bakteriologie in den Gesundheitsgremien und der öffentlichen Gesundheitssicherung nach dem Weltkrieg allerdings die Ablösung Martin Kirchners durch Adolf Gottstein in der Medizinalverwaltung Preußens. Diese Episode am Ende des bakteriologischen Zeitalters
soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. Es lassen sich dabei nicht
nur paradigmatisch die unüberbrückbaren Differenzen der beiden Akteure im Hinblick auf die prophylaktischen Forderungen, den propagierten
Gesundheitsbegriff und die Konzeptualisierung hygienischer Subjekte
sichtbar machen. Deutlich wird auch, dass Kirchner in der revolutionären Umbruchszeit Ende 1918, anfangs 1919 seine in der zeitgenössischen Wahrnehmung gleichsam unhintergehbare Assoziation mit dem
Wilhelminischen Obrigkeits- und Militärstaat zum Verhåingnis werden
sollte - ein Staatsentwurf, der seine Grundlagen endgültig verloren hatte.
70 Ztx
Herabsetzung der Sanitätsoffizíere auf knapp einen Zel:rnIeI des ehe-
maligen Personalbestandes und der Schließung der Kaiser-WilhelmAkademie ñir das militärãrztliche Bildungswesen vgl. Möllers 1923: 10,
33ff.
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STLVTA
BAKIERìoLoctE
BERcER
Kirchner vs. Gottstein
ge" der
Wåihrend des V/eltkriegs agierte Kirchner als nationalistisch euphorisierter und viel gelobter Organisator der Preußischen Seuchenabwehr. Nach
dem Ausbruch der Revolution, der schmachvollen Kriegsniederlage und
den enormen Problemen, welche die ungeregelte Demobilisierung und
die sozialen und ökonomischen Kriegsfolgen in gesundheitlicher Hinsicht mit sich brachten, blies ihm allerdings ein steifer Wind entgegen.
Ende 1918 wurde Kirchner von Seiten der Arbeiter- und Soldatenräte
erstmals vorgeworfen, er habe bei der drohenden Verlausung der Bevölkerung durch die Rückkehr der Truppen und bei der Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten zu schwerfÌillig reagiert und zeige sich gegen-
über der provisorischen Revolutionsregierung unkooperativ.ll Auch
mangelnde Aktivität auf dem Gebiet der sozialen Fürsorge und ein übertriebener Schematismus in der Seuchenbekämpfung wurden der Preußischen Medizinalbehörde vorgehalten.
Kirchner wollte diese Vorwùfe nicht gelten lassen. Im Januar 1919
stimmte er ein Hohelied auf die Bakferiologie an und bekräftigte seinen
Standpunkt, die bakteriologisch dominierte Bekämpfung der übertragbaren Krankheiten sei Dreh- und Angelpunkt der Gesundheitspflege und
wichtigster Ansatzpunkt für die St?irkung der ,,Volkskraff'. Belege für
eine veraltete, sozialfürsorgerisch inaktive Medizinalverwaltung
sah
Kirchner keine. Er war bereit, an der Gestalhrng der Zukunft mitzuarbeiten, betonte aber, dass es der ,,neuen Zeit" schwer fallen werde, mehr zu
leisten als die vorangehende. An die neuen politischen Machthaber rich'Worte:
tete er die mahnenden
,,[D]ie vorwârts Strebenden dürfen niemals vergessen, was ihre Vorgänger geleistet haben. Ein fruchtbarer
Fortschritt baut sich nur auf dem auf, was uns die Vergangenheit hinterlâsst." (Kirchner 1919a: 76) Wie um dieser Forderung Nachdruck zu
verleihen, plädierte Kirchner im Mai 1919 fTir einen Ausbau der Seuchenbekämpfung, die sich noch strenger als bisher an den Grundsätzen
Kochs orientieren sollte. Die restlose Erfassung und Vernichtung aller
Erreger würden zum einen genauere Studien úber die biologischen Eigenarten der Erreger garantieren, zum anderen sollten mehr Untersuchungsämter, Infektionskrankenhäuser und Desinfektionsanstalten gebaut und bei den Kreisärzten ,,seuchenwärter" ãngestellt'werden (Kirchner 1919b).
Als ein bakteriologisch ausgebildeter Intemist, Georg Jürgens, im
Juni 1919 in der Berliner Klinischen Wochenschrift gänzlich ,,Neue We-
tN DER WEil\4ARER REPUBLtK
Seuchenbekåimpfung skizzierte, sah sich Kirchner aufs Neue
herausgefordert. Jürgens hatte sich dezidiert gegen die staatliche Seuchenbekämpfung ausgesprochen: Sie basiere auf den ,,Einrichtungen eines fest gefügten Militär- und Polizeistaates", der den Willen und die
Macht habe, seine Anordnung durchzusetzen und ,,die Schwächen der
Organisation unaufgedeckt beiseite zu stellen". Statt des illusorischen
Vemichtungskampfs gegen die Parasiten, der einem Militârstaat angepasst sei, forderte Jürgens mehr Frirsorge für die Kranken, die Steigerung des Wohlstandes und die frühzeitige Vermeidung von Schädigungen. Zudem sollten im neuen ,,Volksstaat" anstelle der Bazillenangst
und den Zwangsmaßnahmen des alten ,,Systems" mehr Erziehung und
individuelle Belehrung zum Tragen kommen (Jürgens 1919. 533).
Mit kaum verhohlener Abneigung gegenüber dem 17 Jahre ji.ingeren
Kollegen hielt der 64-jahrige Kirchner in einer kwze Zeit später publizierten Replik am sanitätspolizeilichen Überwachungs- und Vemichtungsdispositiv fest. Die bakteriologische Seuchenbekämpfung stell e die
einzig mögliche Prophylaxe dar, schäumte Kirchner. Sie sei weder veraltet noch ausgefahren und zähle zu den ,,größten hygienischen Emrngenschaften", um die Deutschland von seinen Feinden beneidet werde.
Für das Erstarken der Volksgesundheit sei es mit mehr Fürsorge für den
Kranken und mehr Belehrung und Erziehung zur Selbstverantwortung
nicht getan (Kirchner l9l9c).12
Tatsächlich stand Kirchner im Juni 1919 kingst aufverlorenem Posten - und znvar im rÃ'örtlichen Sinn. Im Fnitrjahr 1919 war er von sozia-
listischer Seite ein weiteres Mal angegriffen worden. Die Regierung
müsse auf dem wichtigen Gebiet der Gesundheitspflege ,,sachverständige Vertrauensleute ihrer politischen Richtung" haben und dürfe nicht
von ihr im ,,innern zweifellos feindlich gesinnten bisherigen Ressortleitern" abhängig sein, hieß es in einem am 24. Februar vom Zentralrat der
deutschen Sozialistischen Republik an die Reichregierung weitergeleiteten Brief des Sozial- und Gewerbehygienikers Benno Chajes.l3 Wenig
später berichtete der Berliner Lokalanzeiger, der Zentralrat habe beschlossen, der Minister des Innem möge im Abgeordnetenhaus darauf
hinweisen, dass es für einen ,,Herrn wie Kirchner, der als ein starkes
12 Anzumerken gilt jedoch,
dass Kirchner bei der Tuberkulose zwar die bakteriologische Erkennungjedes Falles, die Absonderung und die Desinfektion besonde¡s hervorhob, die Notwendigkeit sozialflirsorgerischer Maßnahmen bereits nach 1900 aber durchaus anerkannte und unterstützte. Vgl.
Kirchner 1909.
11 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 VIII
8i3555.
13 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 VIIIB/3557:
Zentrahat der deutschen Sozialistischen Republik an die Reichsregierung
Berlín,24.2.7979.
BAKTERToLoGtE tN DER WETMARER REPUBL|K
SILVIA BERGER
Hindernis in der Entwicklung der freien Wissenschaft zu betrachten sei,
[...] keinen Platz mehr als Ministerialdirektor im heutigen Volksstaat gebe".la Daraufhin wurde angeordnet, Kirchner einen wissenschaftlichen
Beirat zur Seite zu stellen. In diesen Beirat von Sachverständigen, die
,,auf dem Boden der heutigen Zeit" stehen sollten, beorderte man u.a.
Georg Jürgens - jenen Jürgens, der wenig später vollkommen neue Wege der Seuchenbekämpfung postulieren sollte (Jürgens 1949: 178). Unter diesen Umständen aber, die einer wissenschaftlichen Entmachtung
und politischen Bevormundung gleichkamen, nahm Kirchner am 4.
März seinen Abschied. Die Münchener Medizinische ltrlochenschrift
kommentierte den Abgang mit den Worten:
,,Man wird wohl nicht fehlgehen in der Arurahme, dass bei einem Manne, dessen Lebensarbeit mit dem Verwaltungssystem der jetzt abgeschlossenen Periode eng verknüpft war, die gewaltigen politischen Umwälzungen, die wir er-
lebt haben, den Wunsch nach dem otium cum dignitate früher reifen ließ, als
es sonst der Fall war."r5
Obgleich man auch Jtirgens wegen seiner Ablehnung der ,,einseitigen,
von Theoretikern gefrihrten Seuchenbekämpfung" als Nachfolger kolportierte (Jürgens 1949:178), wurde am 10. März Adolf Gottstein von
der Preußischen Regierung zum Kommissarischen Leiter der Medizinalabteilung des Preußischen Ministerium des Innern berufen und ab Mai
1919 zvllr- Leiter der Abteilung ,,Allgemeine Medizinalverwaltung" im
neuen Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt.ló Gottstein war
nicht nur liberaler Sozialhygieniker der ersten Stunde. Er war seit den
1890er Jahren auch als vehementer Gegner der bakteriologischen Infektions- und Seuchenlehre aufgetreten (vgl. Weindling 1989a: 219; Labisch 1997; Stürzbecher 1959). Um die Jahrhundertwende hatte er allerdings kaum Chancen, bei den Bakteriologen auf Gehör zu stoßen. Dies
sollte sich, wie im letzten Abschnítt gezeigt wird, im Verlauf der Weimarer Zeit ändern.
Gegenriber den Positionen Martin Kirchners bedeutete Gottsteins
Wahl eine klare gesundheitspolitische Kehrtwende - und zwar nicht nur
bezäglich der wichtigsten Handlungsfelder der Gesundheitspflege und
der verfolgten PräventionskoÍzepte, sondern auch mit Blick auf die Gesundheitsvorstellungen, die Handhurgsautonomie individueller Akteure
sowie die Bedeutung, welche der Aufklärung und Erziehung dieser Individuen zugemessen werden sollte. Wie Gottstein nach seiner Emennung
in diversen Schriften über das zukünftige Heilwesen festhielt, hatten sich
die Abwehrmaßnahmen der öffentlichen Gesundheitspflege bisher zu
stark auf die Bekämpfimg der Ansteckung beschränkt. Obwohl er die
Fortführung des Kampfes gegen die Volksseuchen als wichtigste Zukunftsaufgabe erachtete, war er davon überzeugt, dass es mit der einseitigen kontagionistischen Auffassung und dem darauf basierenden Präventionsregime nicht getan war. Endogene Vorgänge im bedrohten Organismus und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflüsse auf
Krankheitsverläufe wrirden kaum berücksichtigt (Gotts tein 1922: 2584;
Gottstein 1925b 66). Er reklamierte denn auch die Eingliederung der
sozialen Hygiene in die öffentliche Gesr.mdheitspflege; die Gesundheitsfürsorge mùsse ebenbürtig an die Seuchenbekämpfung und allgemeine
Hygiene angereiht werden, womit methodisch vor allem der Einbezug
sozial- und bevölkerungsstatistischer Ansâtze und das Studium volkswirtschaftlicher Vorgänge verknüpft waren (Gottst ein 1922: 2584).
Besonders zentral erschien Gottstein eine ,,gedankliche Ausdehnung" des Begriffs der Vorbeugung. Diese sollte zunächst einmal einen
ganz anderen zeitlichen Fokus haben: Vorbeugende Maßnahmen durften
nicht erst im Zeitpunkt der schon eingetretenen Bedrohung oder ganz
kurz vor dieser einsetzen. Bei der Tuberkuloseprävention etwa sollte der
Angriffspunkt zeitlich so weit zunickverlegt werden, dass schon beim
KJeinkind und Schulkind mit Maßnahmen der Frtiherkennung und
-behandlung gesundheitlicher Störungen begonnen wurde. Vorbeugung
berücksichtigte darúber hinaus auch die,,konstitutionelle Schwäche",
das heißt individuelle Maßnahmen zur Steigerung der Widerstandskraft
sowie allgemeine Maßnahmen zur Hebung der gesundheitlichen Kultur,
die ein Krankwerden überhaupt vermeiden sollten (Gottstein
,,Angstrneierei"
74 Zit.Deúsche Medizinische Wochenschrift 12 (1919).
15 Berliner Briefe (eigener Bericht), in: Münchener Medizinische Wochenschrift 13 (19i9).
16 Qua Amt war Gottstein Mitglied im Reichsrat und Berichterstatter für die
Gesundheitsgesetzgebung im Reich (Labisch 1991: 683).
7922:
2585; Gottstein 1925b: 32; Gottstein 1924). Vorbeugung war fiir Gottstein schließlich nicht denkbar ohne Aufklärung und Selbstautorisierung
der Bevölkerung. Nur aus der Einsicht über den Vy'ert der Gesundheit
und die Folgen des K¡ankseins konnte sich ein Verantworfungsgeflihl
gegenüber der eigenen Person und der Gesellschaft und das Bewusstsein
zur Pflicht der Mitarbeit am zentralen Gut ,Gesundheit' bilden. Mit einem Seitenhieb an die Adresse der alten bakteriologischen Garde betonte Gottstein, es müsse Freude an der Aufklärung geÍÌirdert werden, nicht
und sklavische Unterordnung unter
polizeilichen
Zwang:
,,[Die Gesundheitspflege] soll und darf nicht freudlose Menschen erziehen, die
vor jedem Bazillus zåihneklappemd bangen und im Mitrnenschen nur den Trä-
BAKTERIoLoGIE IN DER WEIMARER REPUBLIK
SILVIA BERGER
ger einer Ansteckung sehen; [...] Sie soll kräftige, widerstandsfühige, das frohe
Leben bejahende Menschen heranwachsen und wirken lassen, die auch einmal
einen starken Stoß aufzufangen vermögen 1...]." (Gottstein I925a: 486)
Gesundheit und Bildung seien die Grundlage des Wohlseins, das habe
bereits Rudolf Virchow in seinen ,floch immer wichtigen" Abhandlungen aus den Revolutionsjahren erkannt.
Einen besonderen Kontrapunkt zur bakteriologischen Wissensordnung setzte Gottstein mit seinem Gesundheitsbegriff. In Forschung und
Praxis sollte die Vorstellung einer ,,relativen Gesundheit" Fuß fassen,
die Vorgänge in kranken und gesunden Körpern nicht als grundverschieden erachtete, den Eintritt von Krankheitserscheinungen demnach
auch nicht mehr als Maß der Gesundheit bezeichnete.lT Gottstein plâdierte für die Integration einer von Physik und physikalischer Chemie
inspirierten physiologischen Betrachtungsweise der Lebensvorgänge in
die Hygiene - eine Betrachtungsweise, die die harmonische Zusammenarbeit der Einzelorgane und die feinen Regulierungsmechanismen im
Gesamtorganismus untersuchte, den fi¡nktionellen ftinden für Störungen der Harmonie und Regulation nachging und Vorgänge der Anpassung,,,Kompensation" und,,Regeneration" beschrieb.ls Hygiene sollte
so zur angewandten Physiologie werden, die nicht nur die letzten spezifischen Krankheitsursachen gelten ließ, sondern auch die in der Ursachenkette weiter entfernten Gründe fÌir die Störung der Harmonie und
Auf Reichsebene zeig¡e sich
das
von Gottstein eingeforderte Primat
der Sozialhygiene besonders eindringlich imGesetz zur Bekàmpfung der
Geschlechteskrankheiten von 1927, das den Akzent auf die Aufklärung
und Erziehung sowie die frühzeitige Erfassung der Kranken setzte (Saretzki 2000: 373; LabiscVTennstedt 1991: 22). Auch auf der nationalen
Hygiene-Ausstellung Gesolei von 1926 wurde mehr als deutlich, dass
bakteriologische Interventionen bei den Geschlechtskrankheiten, aber
auch der Tuberkulose keine Priorität mehr besaßen; die beiden Krankheiten wurden kurzerhand aus der Ausstellungs-Gruppe ,,Übertragbare
Krankheiten" der Abteilung,,Gesundheitspflege" ausgegliedert und in
die ,,Soziale Fürsorge" eingereiht. Wie ramponiert der Status der ehemaligen Leitwissenschaft Bakteriologie Mitte der 20er Jaltre war, manifestierte sich auch im Raum, den man ih¡ in der Ausstellung ats Disziplin
zubilligte. Im Begleitband zur Ausstellung hieß es lapidar, es habe darauf verzichtet werden mússen, die Mikrobiologie als Sonderwissenschaft
,,in großem Umfange atfzsziehen". Ein Laboratorium, das der Feststellung der Krankheitserreger und der mikrobiologischen Diagnosestellung
von Krankheiten diente, sollte als disziplinäre Repräsentation ausreichen
@rirgers 1927:423).
Transform i erte Bakteriologie
Regulation (Gottstein 1922: 2585, Gottstein 1925b: 85; Gottstein 1925a:
Mit Blick auf Gottstein weitgehend unbeachtet geblieben ist, dass sich in
62-84).
seinen programmatischen Texten der ersten Nachkriegsjahre durchaus
auch Wegweiser fiir die Reform finden, die sich im bakteriologischen
Wissenssystem im Verlauf der 1920er Jahre vollziehen sollte. Dieser
Reform und den Anknripfungspunkten zu Gottsteins Postulaten möchte
ich mich abschließend widmen.
Die Destabilisierung bakteriologischer Wahrheiten und Denkmuster
mündete in der zweiten Hälfte der'Weimarer Republik in einen sukzessiven Wandel der bakteriologischen Wissensordnung. Nicht die akuten
Infektionskrankheiten wie noch Ende des 19. Jahrhunderts standenjetzt
im Zentrum der Aufmerksamkeit. Als Forschungsobjekte dienten den
Bakteriologen vielmehr die rätselhaften Infektionskrankheiten des Zentralnervensystems wie die epidemische Meningitis und Enzephalitis, die
im Gefolge der Influenza-Pandemie große Irritationen ausgelöst hatten,
aber auch die so genannten ,,2ívilisationskrankheiten" wie Diphterie,
Die konzeptuellen Vorgaben Gottsteins fanden, wie verschiedene
in der konkreten Ausgestaltung der Gesundheitspolitik Weimars Widerhall (vgl. Weindling 1989a: 342-368; Moser
Studien belegt haben,
2002:93, Stiirzbecher 1959). Alfons Labisch bemerkte zur Reichweite
der gesundheitspolitischen Aktivitäten Gottsteins, dass es in der turbulenten, sozial wie gesundheitlich schwierigen Anfangsphase der Weimarer Republik keine öffentliche Gesundheitsmaßnahme Preußens und
wohl auch des Reiches gab, an der Gottstein nicht an maßgeblicher Stelle involviert gewesen wäre (Labisch 1997: 683). Besonders prominent
hervorzuheben ist seine Beteiligung am Krüppelfürsorgegesetz voî
1920, dem Hebammengesetz 1922, dem fürsorgerisch orientiertet Preufischen Tuberkulosegesetz 1923, dem Ausführungsgesetzes ztrm
Reichsgesetz fir Jugendwohlfahrt 1924, aber auch an der Grtindung sozialhygienischer Akademien (vgl. Moser 2002 : 9 5).
17 Den Begriff der ,,relativen" Gesundheit übemahm Gottstein von Ludwig
Aschoff (Aschoff
191 7).
18 Zum Regenerations- und Kompensationsbegriff vgl. Gottstein
4^^
Scharlach und Masern und die chronischen Volksk¡ankheiten wie Syphilis und Tuberkulose. Basierend auf den Studien dieser K¡ankheiten entwickelte eine Schar junger, von der orthodoxen Schule wenig tangierter
1920.
lnÃ
BAKTERIoLoGIE IN DER WEINIARER REPUBLIK
SILVIA BERGER
Bakteriologen sehr viel komplexere Modelle des Infektions- und Seuchengeschehens (vgl. Berger 2009b; Mendelsohn 1996).
Bezeichnend an diesen Modellen war, dass dem bakeriellen Faktor
- wie dies Gottstein gefordert hatte - nicht länger eine Vorzugsstellung
in der Atiologie eingeräumt wurde. Durch den Einbezug konstitutionsmedizinischer, erbwissenschaftlicher und sozialhygienischer Erkenntnisse richtete sich der bakteriologische Blick stattdessen aufdas vielgestaltige Wechselspiel von Erreger und Körper, bei dem die Faktoren Menge
und Virulenz auf Seiten der Parasiten sowie die Dispositions- und Immunitätsverhältnisse auf Seiten des Makroorganismus miteinander interagierten und in ihrem Wert wiederum abhängig vr'aren von einem Gefü-
ge innerer und äußerer Verhältnisse. Dan¡ zàhlten die ,,Konstitution"
und die,,Anlage", das Lebensalter oder biologische, geographische und
soziale Umwelteinflüsse (vgl. Seirz 1929; Wohlfeil 1931; Rimpau et al.
1928).
Da die Bakteriologen überdies die Erkenntnisse aus der physikalisch-chemisch inspirierten Physiologie, aber auch der Ökologie und Parasitologie in ihr Denken integrierten, wurde der Infektionsprozess zunehmend in einen größeren ,,biologischen" Kontext eingebettet. Krankheitserscheinungen rückten dabei immer mehr an den Rand und gaben
den Blick frei auf die Mannigfaltigkeit und Breite der natürlichen Reaktionen im Wechselspiel von Bakterium und Mensch. Krankheit war in
den Augen der Bakteriologen keinesfalls mehr simples Produk einer
,,Invasion" ,,feindticher" Erreger und einer verlorenen ,,Abwehr" des
menschlichen Körpers. Sie entsprach vielmehr einer Störung eines
,,Gleichgewichts" oder einer Harmonie des Körpers, der seinerseits nicht
mehr fÌihig war, durch Anpassungs- und Regulationsleistungen die exogene Schädigung vollkommen zu ,,kompensieren". Besonders die latenten Infektionen und latenten Durchseuchungszustãnde, bei denen pathogene Bakterien mit den Menschen eine Koexistenz zu finden schienen,
'Wissenschaftler darauf aufmerksam, dass ,¡ormaler" und
machten die
,,anormaler" Zt¡stand, Physiologie und Pathologie nicht scharf getrennt
werden konnten und sich nicht ohne jeden Übergang gegenüber standen
(vgl. Berger 2009b)
ven Gesundheit".
-
eine Konvergenz zv Gottsteins Begriff der ,,relati-
Zr
guter Letzt erfuhr durch die Krise der orthodoxen Bakteriologie
auch die bislang sakrosankte Seuchenbekâmpfung eine Revision. Gesetzliche Maßnahmen, so waren sich die meisten der nun bescheiden
auftretenden Bakteriologen einig, durften nur als Bestandteil einer allgemeinen Seuchenbekämpfung betrachtet werden, in der ,,Gesundheitspflege in weitestem Maße" getrieben wurde (Rimpao l92l:. 521). Dant
gehörte, wie der Bakteriologe Erich Seligmann vom Hauptgesundheits-
amt Berlin 1928 betonte, eine Vielzahl von Arbeitsgebieten: Wissen um
Bakteriologie und Immunität, um experimentelle und soziale Hygiene,
Kenntnisse auf dem Feld der Statistik, in den Büchem der Geschichte
und ein offenes Auge flir wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge
(Seligmann 1928:16).
Die neue und gleichsam integrative Seuchenbekämpfung verabschiedete sich also vom einseitigen Schema der Verfolgung und Vernichtung aller Erreger ,,bis in die äußersten Schlupfwinkel... Nicht Ausrottung und Vemichtung wie bei Kjrchner lautete die Losung der Stunde. Gefordert wurde vielmehr ein differenziertes, die Eigentümlichkeiten
der betreffenden Infektionskrankheiten reflektierendes Vorgehen, bei
dem die von Sozialhygiene und Konstitutionsforschung propagierten
Gesundheitsinterventionen ein zunehmend wichtiger werdender Bestandteil und eine Erganzung der sanitätspolizeilichen Vorschriften und
Verbote darstellte. Vor allem bei den chronischen Infektionskrankheiten
und den Zivilisationsseuchen schrieb man den gesundheitsflirsorgerischen Maßnahmen eine zentrale Bedeutung zu (vgl. de Rudder 1927).
Aber auch für die akuten Infektionskrankheiten reichte der reine parasitenkampf längst nicht mehr aus. Der einzelne Mensch mit seiner individuellen Widerstandskraft, der Einfluss seiner Lebensweise, der Ernährung und der sozialen Umwelt sollte immerzu mit berücksichtigt werden
(vgl. Doen 1932:23).1e
Ein letzter Hinweis Gottsteins fand im bakteriologischen Diskurs
Aufnahme: Es war sein Plädoyer frir die Autorisierung hygienisch reifer,
von der Bazillenangst befreiter Subjekte. Die Bakteriologen waren sich
einig: Nicht länger sollten obrigkeitsstaatliche Indoktrination und
Zwangsmaßnahmen bevormundete soziale Akteure heranziehen, die ü-
berall umherschwirrende Bazillen vermuteten und vor Furcht gelähmt
jede Art von Bertihrung und Kontakt vermieden. Zentrale Voraussetzung der Bekämpfung der Seuchen schien jetzt die Aufklärung jedes
Einzelnen zum hygienischen Selbstschutz und zum Veranfwortungsgefühl dem eigenen Körper gegenüber. Diese Aufklärung sollte, wie es
Gottfried Frey vom Reichsgesundheitsamt formulierte, sowohl lebendig
und anschaulich sein als auch persönlich auf den jeweiligen Körperzustand eingehen
-
eine hygienische Individualbelehrung also zur produk-
tion selbsttätiger, ,,von den Regeln der Hygiene durchdrungener persönlichkeiten" (Frey 1926: 238).
19 Eher traditionelle Pfade bezüglich Seuchenbekämpfung beschritt bis Mitte
der 20er Jahre das Reichsgesundheitsamt, mit dessen Hilfe im Verlauf des
Jahres 1921 eine,,planmzißige Typhusbekämpfung., in Mitteldeutschland
analog der Koch'schen Typhuskampagne lanciert wurde (Wodtke 1924).
BAKTERIOLOGIE IN DER WEIMARER REPUBLIK
SILVIA BERGER
Was in den Texten der Bakteriologen Ende der 1920er Jahre Gestalt
annahm, war die Ermächtigung eines von Rudolf Virchow ursprünglich
anvisierten,,liberalen Selbst"20, das von der orthodoxen Bakteriologie,
den polizeilichen Zwangsmaßnahmen und der Bazillenhysterie im Wilhelminischen Obrigkeitsstaat gleichsam entmündigt worden war. Und so
enthielt auch das 1928 publizierte Lehrbuch zur Seuchenbekämpfung
von Erich Seligmann eine explizite Huldigung Virchows; in der Trias
Bildung, Wohlstand und Freiheit habe dieser die heute erneut anzustrebende Vision flir die garantierte Gesunderhaltung eines Volkes entworfen (Seligrnann 1928: 15116).
Adolf Gottstein, so lässt sich getrost spekulieren, hatte an dieser bakteriologischen Lektüre zweifellos seine helle Freude.
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Health like liberty is indivisible - zur Rolle
der Prävention im Konzept der
Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869-1931)
URsuleFBRrrN¡No
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Alfred Grotjahn sein Konzept
der Sozialen Hygiene. Der Begriff war keineswegs neu. Er entstand ebenso wie die Begriffe Soziale Medizin und Demographie in Frankreich
im Umfeld der frtihen Hygienebeweg.*g.n.t Deren Aktivisten stärkten
mit ihren Arbeiten über differentielle Sterblichkeitsraten in Bezug auf
soziale Schicht, Rasse, Beruf, Kriminalität, Trunksucht, Mangel an Hygiene das Interesse am ,menschlichen Fakfor' in Wissenschaft und Politik (Sand 1952: 458ff.; Rosen 1975; Latow 2007).2 Von dort drangen
1
2
44/1
1838 unterschied J.A. Rochoux zwischen privater (individueller) und öffentlicher (sozialer) Hygiene, die gesetzliches oder staatliches Eingreifen
erforderte. Der Atzt Fourcault verwandte 1844 den Begriff,Sozialhygiene' in seinem Werk zur Verhütung ch¡onischer Erkrankungen. Wenig später - 1848 - prägte der Arzt Jules René Guérin (1801-1886) den Begriff
der ,Sozialen Medizin', unter dem er ,medicinische Polizey', öffentliche
Hygiene und Gerichtsmedizin zusammenfÌiÌ¡te (La Berge 1992: 310;
Kaspari 1989: 99). Den Begriff Demographie ftihrte 1855 Achille Guillard
(1799-1876) ein. Er definierte Demographie als das mathematische Studium der Bevölkerung in ihren allgemeinen Bewegungen (quantitativer Faktor) wie ihrer physischen, zivilen, beruflichen, intellektuellen und moralischen Bedingungen (qualitative Faktoren). Sein Schwiegersohn, der Mediziner Louis Adolphe Bertillon (1821-1883), nahm das Konzept Guillards
auf, modifrzierte es aber durch die Anbindung an die Anthropologie beziehungsweise die Anthropometrie (Schweber 2006).
Ztx englischen Hygienebewegung siehe Schweber 2006; Sneter 1996.
Vgl. Metz 1988: 140ff.
11q
M¿,nrrN LrNcwrr¡n, f r,l,NNrrrr MannnÁsz (Hc.)
Editorial
Das prävent¡ve Selbst
Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten rg7oer |ahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und
Die neuere empirische
Gesellschaft entwickelt. Dr¡rch
Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik
die Zusammenführung kulturan-
thropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen
ihr
detaillierte
Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im
Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen r.rnd ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen
- für gesellschaftliche
Diskurse, aber auch das Alltagsleben. jenseits
einer reinen Dekonstrul<tion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht.
Ziel dieser Reihe ist es,'Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und engiischsprachiges Forum anzubieten, das
.
inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medi-
zin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie in-
.
.
.
ternational präsent macht;
den Nachwuchs fiirdert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukluren eröffnet;
zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und
damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert.
Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen
der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an For-
scher/-innen aus den Naturn¡issenschaften und der Medizin.
Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und förg Niewöhner.
Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg,
GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck
(Humboldt Universität, GER), fohn Law (University of Lancaster,
GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin
(University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).
ttranscript I
Gefördert vom Bundesministerium fiir Bildung und Forschung,
Förderprogramm >Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen
Dialog<
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I
Vorwort
Prâventionsgeschichte als Kulturgeschichte
der
11
MARTTN LENGWTLER, JEAN'Ì rETTE
Tnrr,
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Pul:likation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Intemet über htp://dnb.d-nb.de abrufl¡ar.
I:
MAoenÁsz
GnuNor,¿.cBN: GnsulonEITSVoRSoRGE rN DER
MonnnNn: ErIsTEMISCHE, MATERIELLE uND
INSTITUTIONELLE PERSPEKTIVEN
Lebensmittel und neuzeitliche Technologien des Selbst:
Die
von
als GesundheÍtsprâvention
31
JAKOB TANNER
@ zoro transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwerh¡ng der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Veriages urheberrechtswidrig und strafìrar. Das gilt auch fur Vervielfiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und fur die Verarbei
tung mit elekÍonischen Systemen.
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Satz: Tobias A. Suter, Basel
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-v erløg. de
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II:
Epmnlrror,ocrscHE Tn¡Nsrrron uND DER AuFSTTEG
DER PRÁVENTION NACH 19OO
,,Die Jagd auf Mikrobien hat erheblich an Reiz verloren,r
Der sinkende Stern der Bakteriologie in
Medizin und Gesundheitspolitik der Weimarer Republik
Su-vnB¡ncnn
Zelistoff.
B
Lebensversicherung, medizinische Tests und das
Management der Mortalität
87
Health like liberty is indivisible - zur Rolle der
Prävention im Konzept der Sozialhygiene
Alfred
(186e-1931)
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115