Yvanka B. Raynova
Susanne Moser
(Hrsg.)
Simone de Beauvoir:
50 Jahre nach dem Anderen Geschlecht
3
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© Peter Lang Gmbh
Europäischer Verlag der Wissenschaften
2., Auflage, Frankfurt am Main 2003
Alle Rechte vorbehalten.
© Institut für Axiologische Forschungen (IAF)
1., Auflage, Wien 1999
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4
Inhalt
Vorwort
Einleitung
7
9
Simone de Beauvoir:
Philosophin, Schriftstellerin, femme engagée
Zur Aktualität von Simone de Beauvoir
oder die Dialektik des Engagements
Françoise Rétif
17
First Philosophy, The Second Sex, and the Third Wave
Nancy Bauer
26
Simone de Beauvoir and Jean-Paul Sartre: Woman,
Man and the Desire to be God
Debra Bergoffen
38
Transgressing Sartre: embodied situated subjects
in The Second Sex
Elaine Stavro-Pearce
49
Subjekt und Anerkennung: Zum Problem des Ausschlusses
von Frauen und Weiblichkeit im Anderen Geschlecht
Susanne Moser
71
Der Paradox des Körpers bei Simone de Beauvoir
Diane Lamoureux
93
Die Lesbierin bei Simone de Beauvoir
und Nicole Brossard
Marie Couillard
105
Beauvoir revisited: Butler and the "gender" question
María Luisa Femenías
113
Panopticism and Shame: Reading Foucault
through Beauvoir
Sonia Kruks
123
Für eine postmoderne Ethik der Gerechtigkeit:
Simone de Beauvoir und Jean-François Lyotard
Yvanka B. Raynova
141
Moral obligation in Simone de Beauvoir's
The Ethics of Ambiguity
Kristana Arp
156
5
Susanne Moser
Subjekt und Anerkennung:
Zum Problem des Ausschlusses von Frauen
und Weiblichkeit im Anderen Geschlecht
In ihrem Artikel "Hegel, die Frauen und die Ironie" bezeichnet Seyla
Benhabib Hegel als den Totengräber weiblicher Emanzipationsbestrebungen, indem er die Frau einer großartigen, aber letztlich zum Untergang
bestimmten Phase der dialektischen Entwicklung zuweist, die "den Geist
in seiner Kindheit befällt."1 Die Frauen seien dadurch zu Opfern der
Dialektik geworden. Was wir heute tun können, so Benhabib, sei, "der
Dialektik ihre Ironie zurückgeben, der Parade der historischen
Notwendigkeit (...) ihr pompöses Gehabe nehmen: das heißt, den Opfern
der Dialektik (...) ihr Anderssein wiedergeben, und das heißt, wirklich
dialektisch gedacht, ihr Selbstsein."2
Ich möchte in diesem Beitrag der Frage nachgehen, welche Rolle die
Dialektik und die Anerkennungstheorie Hegels im Werk von Beauvoir
spielen und welche Auswirkungen dies auf ihr Verständnis des Frauseins
hat. Werden auch bei Beauvoir die Frauen zwangsläufig auf einer niederen
Stufe zurückgelassen oder gibt es ein Konzept der Andersheit, wie
Benhabib es fordert, und wenn ja, wie würde dieses aussehen?
Um all diese Fragen beantworten zu können müssen wir uns zwei
Problemkreisen zuwenden: dem Thema der Anerkennung und dem damit
zusammenhängenden Problem der Subjektkonstitution.
Zum Ursprung des Begriffes der Anerkennung
Charles Taylor spricht von zwei Wurzeln der Anerkennungsdebatte.3
Einerseits führte der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Hierarchien,
die früher die Grundlage der Ehre bildeten, zum modernen Begriff der
Würde, dem die universalistische und egalitäre Annahme zugrunde liegt,
1 Seyla Benhabib, "Hegel, die Frauen und die Ironie", in dieselbe, Selbst im Kontext,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 276.
2 Ebd., 276.
3 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am
Main: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 13.
4 Ebd., 16.
71
dass jeder an dieser Würde teilhat,4 womit die gleichberechtigte Anerkennung zu einem wesentlichen Bestandteil der demokratischen Kultur
wird. Andererseits bringt die neuzeitliche Wendung zur Subjektivität eine
Form von Innerlichkeit und Einzigartigkeit, eine innere Stimme und ein
moralischen Gefühl in uns hervor,5 wodurch das Prinzip der Originalität
und in weiterer Linie der Differenz eingeführt wird. "Nicht nur, dass ich
mein Leben nicht nach den Erfordernissen äußerlicher Konformität
gestalten soll – außerhalb meiner selbst kann ich gar kein Modell dafür
finden, wie ich mein Leben leben soll. Ich kann dieses Modell nur in mir
selbst finden."6 Diese auf Herder zurückgehende Idee der Authentizität
kann in zwei Hinsichten verstanden werden: sowohl in Bezug zum
individuellen Menschen inmitten anderer Menschen, als auch in Bezug
auf das Volk als Träger einer Kultur inmitten anderer Völker.7 Deutsche
sollten nicht versuchen, sich in künstliche und damit unvermeidlicherweise
zweitklassige Franzosen zu verwandeln, wie es ihnen Friedrich der Große
nahegelegt hatte. Auch die slawischen Völker sollten ihren eigenen Weg
gehen. Andererseits findet die Idee der Authentizität über Heideggers
Konzept der "Eigentlichkeit" Eingang in den Existentialismus von Sartre
und Beauvoir. Sie fordern den Menschen auf, seine je eigene
"Geworfenheit", seine Besonderheit des "In-der-Welt-seins" auf sich zu
nehmen und weder in eine gesellschaftliche Rolle, noch in ein fiktives
Ideal zu flüchten.
Axel Honneth hingegen setzt den Ursprung des Begriffs der Anerkennung
bei Hegel an.8 Hegel, so Honneth, übernehme das in Fichtes Grundlage
des Naturrechts entwickelte Prinzip der Anerkennung, welches dieser "als
eine dem Rechtsverhältnis zugrundeliegende 'Wechselwirkung' zwischen
Individuen"9 aufgefasst habe. Honneth knüpft in seiner Anerkennungstheorie
explizit an Hegels Jenaer Frühwerk an, in dem dieser den Prozess der
Anerkennung noch von der individuellen intersubjektiven Seite her
verstanden hatte, während später diese Perspektive in zunehmendem Maße
5 Rousseau leitet das Gewissen aus einem natürlichen angeborenen Gefühl ab, siehe
dazu: Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, Paderborn: UTB 1995,
305. Kant wird im wesentlichen den von Rousseau entwickelten Gewissensbegriff
übernehmen.
6 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 20.
7 Taylor verbindet die Idee der Authentizität mit Herder, auch wenn er ihn nicht als ihren
Urheber sieht, wohl aber als denjenigen, der sie früh und eindringlich angesprochen hat.
8 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer
Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
9 Ebd., 30.
72
zugunsten der Philosophie des Geistes aufgegeben wurde. Honneth
interpretiert Hegel dahingehend, dass dieser die verschiedenen Konfliktsituationen, wie z. B. das Verbrechen, auf den Umstand unvollständiger
Anerkennung zurückführt: "das innere Motiv des Verbrechers macht dann
die Erfahrung aus, dass er sich auf der etablierten Stufe wechselseitiger
Anerkennung nicht auf eine befriedigende Weise anerkannt sieht."10 Honneth
entwickelt daraus die These, dass sich soziale Auseinandersetzungen im
Prinzip auf die Verletzung von moralischen Ansprüchen zurückführen lassen
und nach dem Muster eines Kampfes um Anerkennung verstanden werden
können. Es kann hier nicht der Rahmen sein, Honneths Theorie der
Anerkennung zu diskutieren, auffällig erscheint jedenfalls die explizite
Aussparung der feministischen Thematik,11 die sofort die Frage mit sich
brächte, wieso die Frauen den von Hegel beschriebenen Individualisierungsprozess so lange Zeit nicht beansprucht haben.
Ich möchte nun in der Folge kurz jene Momente von Hegels
Anerkennungstheorie herausarbeiten, die für das Verständnis von Beauvoirs
Konzept der Anerkennung im Kontext des Geschlechterverhältnisses
relevant sind.
Aspekte der hegelschen Anerkennungstheorie
Die entscheidende Frage der Neuzeitlichen Ethik- und Rechtsdebatte
lautet: wie komme ich vom Naturzustand, in dem angeblich alle gleich
sind, jenem egoistischen Ausgangspunkt des Kampfes aller gegen alle, zu
einem geordneten Gesellschaftsgefüge, in dem der Andere mich in meinem
Besitz auch anerkennt, was zu allererst das Eigentum begründet? Mit
genau diesen Fragen beschäftigt sich Hegel in der Jenaer Realphilosophie
von 1805-06, wo er schreibt: "Der Mensch hat das Recht, in Besitz zu
nehmen, was er als Einzelner kann. (...) Aber seine Besitznahme erhält
auch die Bedeutung, einen Dritten auszuschließen. Was darf ich in Besitz
nehmen ohne Unrecht des Dritten?"12 Solche Fragen, sagt Hegel, können
nicht beantwortet werden, denn die Besitzergreifung wird erst durch die
Anerkennung zur rechtlichen gemacht; bevor es einen rechtlichen Zustand
gibt, kann niemand sagen, ob jemand etwas in Besitz nehmen darf oder
10 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, 37.
11 Honneth begründet seine Ausklammerung der feministischen Ansätze damit, dass sie
seinen Rahmen gesprengt und seinen Kenntnisstand überstiegen hätten (Ebd., 9).
12 G.W.F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie
der Natur und des Geistes von 1805-1806, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1969, 207.
73
nicht. Gemäß der Formel: "Wohl dem der im Besitz ist"13 stellt Besitz
eine wesentliche Voraussetzung von Anerkennung und Rechten dar, was
vorerst den Ausschluss aller besitzlosen, lohnabhängigen Männer von
staatsbürgerlichen Rechten zur Folge hat. Hegel bezeichnet das Recht als
"die Beziehung der Person in ihrem Verhalten zur andern (...). Als
Anerkennen ist er selbst [der Mensch] die Bewegung und diese Bewegung
hebt eben seine Naturzustand auf: er ist Anerkennen, das Natürliche ist
nur, es ist nicht Geistiges."14 Innerhalb der Familie gilt der Mensch als
"natürliches Ganzes, nicht als Person; dies hat er erst zu werden. Er ist
unmittelbares Anerkanntsein; er ist durch Liebe Verbundnes."15 Dass
nicht Familie und Liebe als Grundlage des Anerkennungsprozesses gelten
können, versteht sich aus der Hinwendung zum Neuzeitlichen Subjekt,
aus der Emanzipation gerade eben von diesen familiären, feudalen
Strukturen, in denen die Herrschaftsverhältnisse und die damit zusammenhängenden Anerkennungsverhältnisse von Blutsverwandtschaft, Zugehörigkeit zu Grund und Boden und Legitimation durch Gottes Gnaden
abgeleitet wurden. Während aber die Frauen im Schoße der Familie
verbleiben, lehnt sich das zum "Fürsichsein" gelangte männliche
Individuum gegen das Dasein, das die Familie im Besitz hat auf und
möchte als "gewusstes" Fürsichsein anerkannt werden, was zum Kampf
auf Leben und Tod führt.16 Dadurch, dass der Mann sein Leben aufs
Spiel setzt, gibt er öffentlich zu erkennen, dass ihm an seinen individuellen
Zielen mehr liegt, als an seinem physischen Überleben.
Während es Hegel in der Jenaer Realphilosophie darum ging
nachzuvollziehen, wie es durch den Kampf um Anerkennung zur Bildung
eines allgemeinen Bewusstseins aus den Handlungen und Interaktionen
einzelner Bewusstseine kommt, das zu einem allgemeinen Willen des
Rechtszustandes führt, handelt es sich in der Phänomenologie der Geistes
um die Erfahrung und die Erscheinungsweisen des entäußerten Geistes
bei seiner Rückkehr zu sich selbst im absoluten Wissen. Dieses
metaphysische Modell der Vernunft und des Geistes durchdringt Hegels
gesamtes Werk, es wird auf allen Stufen der Bewusstseinsentwicklung
vorausgesetzt. Nur so kann der Zirkel verstanden werden, der darin besteht,
dass einerseits wechselseitige Anerkennung die Voraussetzung von
Selbstbewusstsein und Subjektsein bildet, nämlich dass das Selbst13 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, §9.
14 G.W.F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, 206.
15 Ebd., 227.
16 Ebd., 211.
74
bewusstsein nur dadurch ist, "dass es für ein Anderes an und für sich ist;
das heißt es ist nur als ein Anerkanntes",17 während andererseits so etwas
wie Anerkennung oder Kampf um Anerkennung überhaupt erst zu Stande
kommen kann, wenn ein Selbstbewusstsein auf ein anderes
Selbstbewusstsein trifft.18 Diese Situation schafft eine Bedrohung für das
Selbstbewusstsein, denn in Hegels Modell lehnt das Selbstbewusstsein
jede Andersheit als Selbstverlust, als Aussersichsein ab.19 Erst wenn es
seine "Sichselbstgleichheit" durch Ausschließung aller Anderen durch einen
Kampf auf Leben und Tod wiederhergestellt hat, kann es die Gewissheit
seiner selbst, nämlich "für sich zu sein", wieder herstellen. Das eine
Bewusstsein sieht so lange das andere als Bedrohung an, solange es sich
nicht als Teil eines übergeordneten Ganzen, als Teil des Geistes ansieht,
dessen Struktur darin besteht, dass "Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist."20
Erst dann bedeutet der Andere keinen Selbstverlust mehr, denn im
Bewusstsein von der Einheit von "Ich" und "Wir" transzendiert das Selbst
nicht nur seine unmittelbare, "lebendige" Individualität, sondern auch die
sich durch Ausschluss des Andersseins definierende Einzelheit des
Bewusstseins selbst.21
Das Wesen des Selbstbewusstseins besteht in seiner Doppelsinnigkeit,
nämlich einerseits Bewusstsein der uns umgebenden sinnlichen Welt zu
sein, und andererseits Bewusstsein seiner Selbst zu sein – ein Gegensatz,
den das Selbstbewusstsein aufheben und die Gleichheit seiner selbst mit
sich herstellen will. Dem Selbstbewusstsein geht es also darum das
Ansichsein der Welt mit seinem Fürsichsein zu vermitteln: "Die
17 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, 145.
18 Auf die Frauen bezogen würde das bedeuten, dass sie zuerst das Selbstbewusstsein
erlangen müssten, das es ermöglicht Anerkennung einzufordern. Der Anerkennungsprozess
setzt also bereits etwas voraus, nämlich die Vorentscheidung, wer in diesen Prozess
überhaupt aufgenommen wird und wer nicht. Bei Hegel wird das Problem dadurch gelöst,
dass der Geist die hierarchische Aufspaltung der Geschlechter von vornherein in sich
trägt, wobei er seine "weibliche Seite" auf einer niederen Bewusstseinsstufe zurücklässt.
19 "Es ist für das Selbstbewusstsein ein anderes Selbstbewusstsein; es ist außer sich
gekommen. Dies hat die gedoppelte Bedeutung: erstlich, es hat sich selbst verloren,
denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben,
denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Anderen."
G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 146.
20 Ebd., 145
21 Die sehr komplexen spekulativen Gedankengänge Hegels können hier nur ungenügend
angedeutet werden. Siehe dazu: Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen
Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/
München: Alber, 1979, 71.
75
Doppelsinnigkeit des Unterschiedenen liegt in dem Wesen des Selbstbewusstseins, unendlich oder unmittelbar das Gegenteil der Bestimmtheit,
in der es gesetzt ist, zu sein."22 Diese Struktur des Selbstbewusstseins
wird später für Sartres Für-sich-sein eine Rolle spielen, indem "das Fürsich-sein das ist, was es nicht ist und nicht das ist, was es ist."23 Jedoch
wird bei Sartre und bei Beauvoir weder Hegels Konzept des Geistes,
noch seine idealistische Vermittlung in der Vernunft übernommen. Vielmehr
bleibt es beim Stadium des "Unglücklichen Bewusstseins", das niemals
zur Übereinstimmung des An-sich-seins und Für-sich-seins gelangt. Sartres
Das Sein und das Nichts stellt eine klare Absage an Hegels idealistische
Philosophie dar, indem der Versuch des Menschen, sich zum An-sichFür-sich, und damit zu Gott zu machen, als zum Scheitern verurteilt
angesehen wird. Sartre bestätigt zwar, dass ganz im Sinne der hegelschen
Philosophie jede menschliche-Realität24 ein direkter Entwurf, ihr eigenes
Für-sich in An-sich-Für-sich umzuwandeln ist, und zugleich Entwurf zur
Aneignung der Welt als Totalität von An-sich-sein in der Art einer
grundlegenden Qualität darstellt,25 dass dies aber eine sinnlose Passion
sei. Erst wenn der Mensch dieses Scheitern auf sich nimmt, kann er zu
seiner Eigentlichkeit gelangen.
Das Problem des Anderen bei Beauvoir
Bereits im Jahre 1927, also im Alter von 21 Jahren, hebt Beauvoir in
ihrem Tagebuch zum ersten Mal die Bedeutung des Verhältnisses zum
Anderen hervor: "Ich muss meine philosophischen Ideen abklären, (...)
die Probleme, mit denen ich mich konfrontiert sehe, vertiefen. Das Thema
ist immer die Opposition von einem selbst und dem Anderen – ein Thema,
das mich vom Beginn meines Lebens an beschäftigt hat."26 Rückblickend
auf ihr Leben und ihr Werk beschreibt Beauvoir in ihren Memoiren In
22 Ebd., 145.
23 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts.Versuch einer phänomenologischen
Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, 163-403.
24 Der Begriff "menschliche-Realität" stammt von Corbins ungenauer Übersetzung des
heideggerschen Begriffs Dasein (siehe dazu das Glossar von Traugott König zu Jean-Paul
Sartre, Das Sein und das Nichts, 1119).
25 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 1052.
26 Margaret A. Simons, "Beauvoir's Early Philosophy: The 1927 Diary (1998)," Beauvoir
and the Second Sex. Feminism, Race, and the Origins of Existentialism, Boston: Rowman
&Littlefield 1999, 217 (Übersetzung des Zitats aus dem Englischen von Susanne Moser).
76
den besten Jahren in auffallend selbstkritischer Weise, wie sie in ihrer
Jugend durch ihren uneingeschränkten Glauben an die Macht ihres Willens
geprägt gewesen sei: "Ich wollte nicht wahrhaben, dass auch andere genau
wie ich Subjekt, Bewusstsein sein könnten."27 Aus dieser Position heraus
stellte der Andere für Beauvoir eine Gefahr dar, der sie nicht ins Auge
blicken konnte: "Erbittert kämpfte ich gegen diesen Zauber, der mich in
ein Monstrum verwandeln wollte: ich blieb immer in Abwehrstellung."28
In einem ihrer ersten Romane Sie kam und blieb stellt sie das Thema
der Anerkennung ins Zentrum der Auseinandersetzung. Ausgehend von
einem Zitat Hegels, das sie als Motto ihrem Roman voransetzt – "Ebenso
muss jedes Bewusstsein auf den Tode des anderen gehen,"29 – betont
Beauvoir die Konflikthaftigkeit des Verhältnisses zum Anderen und die
Schwierigkeit wechselseitiger Anerkennung. Der einzige Ausweg aus dem
Dilemma wechselseitiger Ansprüche besteht für sie zu diesem Zeitpunkt
im Tod der Rivalin. Hatte Beauvoir in diesem 1943 erschienenen Roman
den Konflikt mit dem Anderen noch als unlösbares Problem angesehen,
so sucht sie in ihren folgenden Werken einen neuen Zugang zum Anderen.
Das Blut der anderen zu Kriegsende geschrieben und 1945 erschienen,
betont die Verantwortlichkeit füreinander und die Notwendigkeit, Stellung
zu beziehen. Ebenso wie der 1947 erschienene Ethikentwurf Für eine
Moral der Doppelsinnigkeit werden jetzt Stellungnahme und Verpflichtung
zum konkreten Engagement gefordert. Erst die Besetzung Frankreichs
durch die Deutschen und der zweite Weltkrieg hatten eine Zäsur im Leben
Beauvoirs herbeigeführt. "Ich kann nicht sagen an welchem Tag, in welcher
Woche, nicht einmal in welchem Monat ich diese Bekehrung durchmachte
(...) ich verzichtete auf meinen Individualismus, (...) ich erlernte die
Solidarität."30 Die Geschichte hatte, so berichtet sie, Besitz von ihr ergriffen.
Ideen, Werte, alles wurde umgestürzt. Ihr vormals idealistischer Zugang zur
Welt wurde durch eine immer stärkere Akzentuierung der Situiertheit und der
historischen Konditioniertheit des Menschen abgelöst. Doch die systematische
Ergründung des Problems des Anderen in Verbindung mit dem Thema der
Anerkennung erfolgt erst in ihrem Hauptwerk Das andere Geschlecht. Sitte
und Sexus der Frau, und zwar aus einer komplett neuen Sicht heraus, der
des Geschlechterverhältnisses. Beauvoir zeigt, wie die Frau vom Mann
27 Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1969, 82
und 111.
28 Ebd., 110.
29 Simone de Beauvoir, Sie kam und blieb, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, 6.
30 Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, 304.
77
und einer männerdominierten Welt als die absolut Andere konstituiert
wird, wodurch ihr die Anerkennung als Subjekt verweigert wird. Beauvoir
stellt damit das Problem des Anderen in einen neuen und ganz anderen
Kontext als Sartre, der sich bereits im Das Sein und das Nichts eingehend
mit diesem Thema beschäftigt hatte. Während Beauvoir in ihren Frühwerken noch angenommen hatte, dass das Individuum seine menschliche
Dimension nur durch die Anerkennung des Anderen erhält31 und damit
die individualpsychologische Seite der Anerkennung betont hatte, stellt
sie jetzt fest, dass die Situation der Frau auf eine ganz bestimmte Weise
durch einen gesellschaftlichen Anerkennungsprozess bestimmt wird.
Wenn man die menschliche-Realität ausschließlich als ein auf Solidarität
und Freundschaft beruhendes Mitsein ansehen und Hegels These einer
grundsätzlichen Feindseligkeit zwischen zwei Bewusstseinen ignorieren würde,
dann blieben viele Phänomene unverständlich: "Sie werden erst begreiflich,
wenn man wie Hegel im Bewusstsein selbst eine grundlegende Feindseligkeit
gegenüber jedem anderen Bewusstsein entdeckt. Das Subjekt setzt sich nur,
indem es sich entgegen-setzt: es hat den Anspruch, sich als das Wesentliche
zu behaupten und das Andere als Unwesentlich, als Objekt zu konstituieren."32
Diese Feststellung Beauvoirs aus dem Anderen Geschlecht könnte auch für
Sie kam und blieb gelten, im Anderen Geschlecht ist Beauvoir jedoch nicht
mehr nur an individuellen, sondern auch an kollektiven Auseinandersetzungen
interessiert. "Zwischen Dörfern, Stämmen, Nationen, Klassen gibt es Kriege,
Potlatchs, Handelsbeziehungen, Verträge und Fehden, die der Idee des Anderen
ihren absoluten Sinn nehmen und ihre Relativität offenbaren; Individuen und
Gruppen sind wohl oder übel gezwungen, die Wechselseitigkeit ihrer
Beziehung anzuerkennen. Wie aber kommt es dann, dass zwischen den
Geschlechtern diese Wechselseitigkeit nicht hergestellt worden ist?"33
Beauvoirs zentrale Fragestellung lautet somit: wie war es möglich, dass es
zwischen Mann und Frau niemals zu einem Kampf um Anerkennung
gekommen ist, beziehungsweise warum ist die Frau "nie als ein Subjekt vor
den anderen Mitgliedern der Kollektivität aufgetaucht"?34
31 Ebd., 469.
32 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt 1992, 13.
33 Ebd., 14.
34 Ebd., 748.
78
Zum Subjektbegriff
Während Beauvoir nirgendwo einen Versuch unternimmt, den Begriff
der Anerkennung näher zu definieren, behandelt sie das Problem des
Subjekts an mehreren Stellen ausführlich. Dabei verwendet sie
verschiedene Subjektbegriffe, ohne diese jedoch explizit zu unterscheiden.
Eine Begriffsklärung ist jedoch notwendig, um zu zeigen, dass das Problem
der Anerkennung sich in verschiedenen Bereichen stellt, die mit den
Existenz- und Handlungsweisen des Subjekts verbunden sind, wodurch
dessen besondere Ansprüche zum Ausdruck gebracht werden. Ich
unterscheide daher zwischen dem Subjekt der Existenz, dem Subjekt der
Moral und dem Subjekt der Herrschaft. 35 Die Unterscheidung
verschiedener Subjektkonzepte bedeutet jedoch nicht, dass sie in ihren
reinen Formen vorhanden sind. Es besagt auch nicht, dass der Mensch in
sich eine Pluralität von Subjekten trägt, sondern dass er als Subjekt verschiedene Ansprüche und Dimensionen in sich vereint, die philosophischhermeneutisch zu unterscheiden wären. Auch wenn es bei Beauvoir so
aussieht, wie wenn sie zum Beispiel ein Subjekt der Herrschaft an bestimmten Stellen annehmen würde, so muss mitberücksichtigt werden, dass
dieses Herrschaftssubjekt sowohl über eine konkrete Existenz verfügt,
als auch bestimmte Moralansprüche erhebt. Ebenso kann das Subjekt der
Existenz immer wieder einen Herrschaftsanspruch stellen. Das Subjekt
der Moral seinerseits ist nicht herrschaftsneutral – es kann die Herrschaft
in Frage stellen oder sie auch für sich allein beanspruchen.
Der Existentialismus radikalisiert die Konzepte der Moderne, indem er
Existenz, Subjekt und Freiheit von einem von Gott vorherkonzipierten
Begriff des Menschen,36 beziehungsweise einer vorherbestimmten
menschlichen Natur, entkoppelt und als bewegliche ontologische
Grundstruktur jedes einzelnen existierenden Menschen ansieht: jeder
Mensch ist eine historisch-werdende und bis ans Lebensende nie endgültig
realisierte Transzendenz und Freiheit. Er hat sich immer wieder aufs Neue
zu erschaffen. Für Beauvoir und Sartre ist jedes Subjekt primär eine Exsistenz, ein Überschreiten der Geworfenheit und der Situation, jeder
35 Susanne Moser, Freiheit und Anerkennung bei Simone de Beauvoir, Tübingen:
edition discord 2002, 132.
36 Jean-Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, in Philosophische
Schriften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, 120.
79
existierende Mensch ist immer schon ein Subjekt und kann nie seiner
Subjekthaftigkeit verlustig werden.37
Ein Existierendes ist nichts anderes als das, was es tut: Das Mögliche
geht nicht über das Wirkliche hinaus, die Essenz geht der Existenz
nicht voraus, in seiner reinen Subjektivität ist der Mensch nichts.
Er wird an seinen Handlungen gemessen.38
Auf die Frage nach dem Wesen der Frau, was die Frau ist, oder wer
sie ist, lasse sich daher keine Antwort geben. Von einer Bäuerin könne
man sagen, dass sie eine gute oder schlechte Arbeiterin ist, von einer
Schauspielerin, dass sie Talent hat oder nicht, wenn man die Frau aber in
ihrer immanenten Präsenz betrachte, könne man nichts übers sie sagen,
nicht, weil die verborgene Wahrheit zu schwankend wäre, um sich
einkreisen zu lassen, sondern weil es in diesem Bereich keine Wahrheit
gibt: in der menschlichen Kollektivität gibt es nichts, "was natürlich wäre"
und auch die Frau ist ein Produkt der Zivilisation.39 In einer Hinsicht,
betont Beauvoir, habe sie immer mit Sartre und seiner diesbezüglichen
Theorie übereingestimmt: "wir glaubten nie an eine menschliche Natur."40
Im Anderen Geschlecht differenziert sie Sartres generelle Ablehnung einer
menschlichen Natur, indem sie auf den geschlechtlichen Aspekt dieser
Problematik hinweist: so wie es keine menschliche Natur gibt, gibt es
auch keine "weibliche Natur".41
Die bürgerliche Gesellschaft versucht hingegen der Frau aufgrund ihres
Geschlechts, ihrer Natur, von Geburt an einen bestimmten Platz in der
Gesellschaft zuzuweisen. Die Frau erhält damit – ganz im Gegensatz zum
Mann – einen Platz in einer "Naturordnung", den sie nicht erst zu erkämpfen
37 In Das Sein und das Nichts weist Sartre darauf hin, dass Kant damit beschäftigt gewesen
sei, die allgemeinen Gesetze der Subjektivität festzustellen, die für alle dieselben seien, dass er
die Frage der einzelnen konkreten Personen jedoch nicht behandelt habe. Vielmehr sei für ihn
das Subjekt nur das gemeinsame Wesen dieser Personen gewesen. Jean-Paul Sartre, Das
Sein und das Nichts, 411. Beauvoir betont, dass auch bei Hegel die Einzigartigkeit des Einzelnen
geleugnet wird, dass nur der Geist und nicht der Einzelne als Subjekt angesehen wird. "Der
Geist ist Subjekt; wer aber ist dieses Subjekt?" fragt sie in Für eine Moral der Doppelsinnigkeit
(Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit. In: Soll man de Sade
verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1989, 15).
38 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 323.
39 Ebd., 892.
40 Margaret A. Simons, Beauvoir and the Second Sex, 94.
41 Siehe dazu: Alice Schwarze, Simone de Beauvoir. Rebellin und Wegbereiterin, Köln:
Kiepenheue &Witsch 1999, 58.
80
oder zu erringen hat. Gerade in der Zuweisung eines bestimmten Platzes
und in der Beschränkung auf eine bestimmte Rolle besteht für Beauvoir
der Schlüssel der Unterdrückung und des Ausschlusses. Denn dies würde
bedeuten, dass der Mensch instrumentalisiert, objektiviert und zu einem
Ding gemacht wird. Er wird auf bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten
von vornherein festgelegt und es bleiben ihm keine Möglichkeiten mehr,
die Ziele seiner Handlungen in Frage zu stellen; sein Handlungsfähigkeit
wird ihm genommen.42 Die Tatsache, keinen festen Platz in der Welt zu
haben, eröffnet zwar viele Möglichkeiten, die unter Umständen nicht
gegeben wären, wenn unser Platz von der Gesellschaft vorgegeben wäre,
andererseits bedeutet dies auch eine ständige Anspannung, einen ständigen
Kampf, um sich einen Platz in dieser Welt zu erobern und diesen dann
zu verteidigen. Außerdem bedarf es einer offenen Zukunft, die es
ermöglicht, neue Entwürfe zu realisieren. Diese Offenheit wird aber von
zwei Seiten bedroht: es kann jederzeit zu einem Rückfall von der
Transzendenz in die Immanenz kommen, dadurch, dass das Subjekt
freiwillig seine Freiheit aufgibt, vor dieser flüchtet, oder weil einem dieser
Rückfall auferlegt wird. In Für eine Moral der Doppelsinnigkeit weist
Beauvoir darauf hin, dass es einer ethischen Dimension bedarf, die sich
zum einen an das Subjekt der Existenz mit der Forderung wendet, sich
seiner Existenz als Transzendenz und Freiheit gewahr zu werden und
diese zu verwirklichen und zum anderen diesem dazu verhilft, den
Herrschaftsanspruch der Anderen, welche Transzendenz und Freiheit nur
für sich in Anspruch nehmen wollen, zurückzuweisen. Beauvoir entwickelt
somit den Begriff der "sittlichen Freiheit", der eine eigene, willentliche
Entscheidung zum "frei sein wollen" bedeutet.43 Das Subjekt der Existenz
befindet sich also ständig im Spannungsfeld zwischen dem Subjekt der
Moral und dem Subjekt der Herrschaft, wobei das Subjekt der Herrschaft
mit dem Subjekt der Moral in einer doppelten Hinsicht verbunden ist: auf
der einen Seite braucht es die Moral und nützt sie aus, um sich als absolutes
Subjekt zu legitimieren, auf der anderen Seite setzt es voraus, dass es
allein über die Moral, über gut und böse, gerecht und ungerecht, zu
entscheiden hat.
Beauvoir geht im Anderen Geschlecht davon aus, dass das Subjekt
der Herrschaft so alt ist wie die Menschheit und dass die von ihm
hervorgebrachte Kategorie des Anderen so ursprünglich ist wie das
42 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 217.
43 Ebd., 92.
81
Bewusstsein selbst.44 Um Subjekt sein zu können, bedarf es nicht nur
einer willentlichen Setzung, eines Aktes der Selbstbehauptung, sondern
eines Anderen, dem sich das zu setzende Subjekt entgegensetzen kann.
Es ist in seinem Subjektsein von diesem Anderen insofern abhängig, als
es nur in der Entgegensetzung zu diesem überhaupt erst in Erscheinung
treten kann. Das Subjekt muss sich aus einem ursprünglich friedlichen
Zusammenleben durch einen Akt der Entgegensetzung heraus differenzieren: "Aus einem ursprünglichen Mitsein hat die Gegensätzlichkeit sich
allmählich herausgebildet, und die Frau hat sie nicht durchbrochen."45
Darin bestehe einer der Gründe, warum der Mann "die Frau als die absolut
Andere schlechthin konstituieren konnte: sie habe den Anspruch, Subjekt
zu sein, nicht erhoben, weil sie ihre Bindung an den Mann als notwendig
empfand, ohne Reziprozität zu fordern."46 Das Subjekt der Herrschaft
sei also immer ein männliches gewesen:
Er [der Mann] ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie [die Frau] ist
das Andere.47
Nimmt Beauvoir also zwei verschiedene Formen von Bewusstsein
an? Eines, das mit Hegel grundsätzlich feindselig gegenüber jedem anderen
Bewusstsein gestimmt ist, und eines, das diese grundsätzliche Feindseligkeit
nicht in sich trägt? Bestehen diese beiden nebeneinander und wie verhalten
sie sich zueinander? Wie entwickelt sich überhaupt ein Subjekt aus dem
Mitsein heraus?
Die Schwierigkeit bei Beauvoir liegt darin, dass sie bereits in Für eine
Doppelsinnigkeit der Moral ein vom Existentialismus abweichendes
Subjektkonzept entwickelt, das eher an Hegel, denn an Sartre orientiert
ist. Im Gegensatz zu Sartre geht sie davon aus, dass es sehr wohl möglich
ist, in die "bloße Faktizität"48 zurückzufallen, als reines An-sich zu leben.49
Dies geschieht im Falle einer Unterdrückung, wenn die Unterdrücker
mich unter die Stufe herabdrücken, "die sie erreicht haben und von der
aus sie zu neuen Eroberungen aufbrechen, dann schneiden sie mich von
der Zukunft ab, verwandeln mich in eine Sache."50 Dies kann jedoch
44 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 12.
45 Ebd., 16.
46 Ebd., 17.
47 Ebd., 12.
48 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 106.
49 Siehe dazu auch: Sonia Kruks, "Beauvoir: The Weight of Situation". In: Elizabeth
Fallaize, Simone de Beauvoir. A Critical Reader, Routledge 1998, 61.
50 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 134.
82
auch freiwillig aufgrund eines eigenen Entwurfs geschehen: so entbinde
die ursprüngliche Dürftigkeit seines Entwurfs den "Mindermenschen von
der Verpflichtung, nach einer Rechtfertigung dieses Entwurfs zu suchen",51
rings um sich entdecke er nur eine bedeutungslose, trübe Welt. Wohl
könne er nicht verhindern, dass er in der Welt anwesend sei, aber er
bewirke, dass diese Anwesenheit bloße Faktizität bleibe.52 Im Anderen
Geschlecht spricht Beauvoir ihren Standpunkt noch klarer aus: "Jedes
Mal, wenn die Transzendenz in Immanenz zurückfällt, findet eine
Herabminderung der Existenz in ein 'An-sich' und der Freiheit in Faktizität
statt. Dieses Zurückfallen ist, wenn das Subjekt es bejaht, eine moralische
Verfehlung; wird es ihm auferlegt, führt es zu Frustration und Bedrückung;
in beiden Fällen ist es ein absolutes Übel."53
Beauvoir kehrt jedoch immer wieder zu Sartres Ontologie zurück, wo
ein reines An-sich-sein für Menschen unmöglich ist und relativiert ihre
vorherige Position: wenn es dem Menschen gestattet wäre, ein bloßes
Faktum zu sein, dann wäre er den Bäumen und Steinen gleich, die nicht
wissen, dass sie existieren. Kein Mensch ist eine passiv zu erduldende
Gegebenheit; auch das Dasein ablehnen ist eine Art des Daseins, keinem
Lebenden ist der Friede des Grabes beschieden. Genau darin liege das
Scheitern des Mindermenschen.54 Auch bezüglich der Situation der Frau
weist Beauvoir immer wieder darauf hin, dass auch dann, wenn eine
bestimmte gesellschaftliche Situation die Frau zum Objekt erstarren und
sie zur Immanenz verurteilen will, sie dennoch, wie jeder Mensch, eine
autonome Freiheit bleibe.
Sie schwankt jedoch zwischen Sartres Position und derjenigen Hegels.
Bei Hegel sind zwar die Menschen als Personen gleich, betrachtet man
aber den konkreten Menschen, der zum Beispiel über mehr oder weniger
Besitz verfügen kann oder von Natur aus anders ausgestattet ist, wie die
Frau, dann bewegt man sich laut Hegel auf der Ebene der Besonderheit,
und diese ist eben die Ebene der Ungleichheit.55 Hegel setzt die Frauen
auf einer ontologisch niedereren Stufe, der Stufe des Ansichseins an: die
Frau ist "das andere das in der Einigkeit sich erhaltende, (…) das Passive
und Subjektive", im Unterschied zum Mann, der "das eine (…) das Geistige,
51 Ebd., 106.
52 Ebd., 106.
53 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, XXXV.
54 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 106.
55 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main,
Suhrkamp 1995, § 49 Zusatz.
83
als das sich Entzweiende in die für sich seiende Selbstständigkeit und in das
Wissen und Wollen der freien Allgemeinheit" verkörpert.56 Hegel stattet die
Frauen mit einem niedereren Bewusstsein aus, das "für höhere Wissenschaften,
die Philosophie und gewisse Produktionen der Kunst, die ein Allgemeines
fordern",57 nicht geschaffen ist. Sie verfügen über eine "Kindernatur",58
erscheinen als inkonsequent und launisch, während der Mann Grundprinzipien
entwickeln kann.59
Während Beauvoir in Für eine Moral der Doppelsinnigkeit noch von
einem Subjekt ausgeht, das freiwillig oder unfreiwillig durch Unterdrückung
in das Stadium des An-sich zurückfallen und dadurch seinen Subjektstatus
verlieren kann, verändert sie dieses Konzept im Anderen Geschlecht
insofern, als es nunmehr möglich wird, dass bestimmte Menschen, nämlich
die Frauen, gar nie einen Subjektstatus erreichen. Eine zentrale Rolle
beim Ausschluss der Frauen spielt dabei die hegelsche Herr-KnechtDialektik.
Die Herr-Knecht-Dialektik im Anderen Geschlecht
Hegel zufolge, schreibt Beauvoir, entsteht das Privileg des Herrn
dadurch, dass er, indem er sein Leben im Kampf um Anerkennung aufs
Spiel setzt, als Sieger aus dem Kampf hervorgeht und in seiner
Überwindung der Todesangst den Geist gegen das Leben durchsetzt.60
Aber auch derjenige, der im Kampf unterliege, sein Leben also nicht
genug aufs Spiel gesetzt habe um zu gewinnen und damit als Sklave aus
dem Kampf hervorgegangen sei, trage dasselbe Risiko. Es werde also
eine Form von Wechselseitigkeit hergestellt, die eine gewisse Gleichheit
mit sich bringt, auch wenn sie noch von Unterdrückung gekennzeichnet
ist. In diesem Kampf, der immer von Männern geführt wurde, kommt
also auch den Sklaven eine gewisse Gleichwertigkeit zu.
56 Ebd., § 166.
57 Ebd., § 166, Zusatz.
58 Ebd., § 165.
59 Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist der des Tieres und der Pflanze: das Tier
entspricht mehr dem Charakter des Mannes, die Pflanze mehr dem der Frau, denn sie ist
mehr ruhiges Entfalten, das die unbestimmtere Einigkeit der Empfindung zu seinem Prinzip
enthält. Stehen Frauen an der Spitze der Regierung so ist der Staat in Gefahr, sie handeln
nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sonder nach zufälliger Neigung und
Meinung. Ebd., § 166, Zusatz.
60 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 90.
84
Die Frau dagegen ist ursprünglich ein Existierendes, das das Leben
schenkt und sein Leben nicht aufs Spiel setzt. Zwischen ihr und
dem Mann hat es nie einen Kampf gegeben.61
Dadurch, dass die Frau nie in diese Form von Wechselseitigkeit eintrat,
konnte sie zur absolut Anderen gemacht werden. Beauvoir unterscheidet
also zwischen dem "Anderen" und dem "absolut Anderen", der niemals
zu einer Form von Wechselseitigkeit gelangen kann. Das Unglück der
Frau bestehe darin, dass sie "biologisch zur Wiederholung des Lebens
bestimmt"62 sei, während die Frauen von heute fordern, "mit dem gleichen
Recht wie die Männer als Existierende anerkannt zu werden und nicht
die Existenz dem Leben, den Menschen seiner animalischen Natur
unterzuordnen."63
Die Reduktion der Frau auf ihre Reproduktionsfähigkeit erklärt, warum
sie sich nie aus diesem ursprünglichen Mitsein heraus in einen Kampf um
Anerkennung begeben hat, um sich damit als Subjekt zu setzen. Dadurch,
dass sie dem tätigen Mann keine Arbeitsgefährtin war, wurde sie vom
menschlichen Mitsein ausgeschlossen.64 Der Knecht kann durch die Arbeit
zu Anerkennung gelangen,65 denn die Herr-Knecht-Dialektik hat "ihren
Ursprung in der Wechselseitigkeit der Freiheiten."66 Jederzeit kann ein
Mann die Souveränität des anderen anzweifeln und bekämpfen. Deshalb
steht der Herr auch unter der ständigen Sorge, der Knecht könne sich
gegen ihn auflehnen und seine Herrschaft anfechten.
Aber nicht nur der Ausschluss von der Arbeit sei der Grund dafür,
dass die Frau zur absolut Anderen gemacht wurde, vielmehr sei der
schlimmste Fluch, der auf der Frau laste, die Tatsache, "dass sie von den
Kriegszügen ausgeschlossen wurde."67 So hätte sie auch nie die Möglichkeit bekommen, durch den Kampf Anerkennung zu erlangen; denn nicht
"indem der Mensch Leben schenkt, sondern indem er es einsetzt, hebt
sich der Mensch über das Tier. Deshalb wird innerhalb der Menschheit
der höchste Rang nicht dem Geschlecht zuerkannt, das gebiert, sondern
61 Ebd.
62 Ebd.
63 Ebd., 91.
64 Ebd., 103.
65 Beauvoirs Hervorhebung der Arbeit als wesentlicher Aspekt der Befreiung trägt stark
marxistische Züge. Siehe dazu: Eva Lundgren-Gothlin, Sex & Existence, Hanover and
London: Wesleyan University Press 1996, Kapitel III.
66 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 192.
67 Ebd., 89.
85
dem, das tötet."68 Die Fähigkeit, Leben zu schenken, hätte die Frau auf
der Stufe des Tieres zurückgehalten und sie nicht dazu veranlasst, von
ihrer Freiheit Gebrauch zu machen. Anerkennung erhält also nur derjenige,
der das Leben überwindet und den Tod nicht fürchtet. Der Herr ist gegenüber dem Knecht derjenige, der im Kampf sein Leben aufs Spiel setzt,
und zwar in dem Sinne, dass er den Tod im Falle einer Niederlage vorzieht,
während der Knecht nicht bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, und
ein Leben in Knechtschaft dem Tode vorzieht. Die Weiblichkeit hingegen
sieht sich mit genau dem entgegengesetzten Problem konfrontiert: sie
feiert nicht den Tod als die Überwindung des Lebens, sondern schenkt
Leben unter Überwindung des Todes. Die Frau setzt bei jedem
Geburtsvorgang sehr wohl ihr Leben aufs Spiel; dennoch wird ihr die
entsprechende Anerkennung – zumindest in einem hegelschen Modell
einer Kriegerethik – nicht entgegengebracht. Sie schenkt, sie gibt Leben,
sie nimmt es nicht. Weit davon entfernt, Anerkennung für die Fähigkeit
zur Produktion neuen Lebens zu erhalten, wird diese vielmehr – zumindest
in einer Gesellschaft, welche die Überwindung des Lebens höher ansetzt
als das Leben selbst – zum Ansatzpunkt für die weibliche Unterdrückung.
In der patriarchalen Gesellschaft erfolgt der Ausschluss der Frauen über
ihre biologische Fähigkeit, Leben zu schenken. Die Macht und Anerkennung, die der Frau aufgrund ihrer Fähigkeit, Leben zu geben, zukommen
müsste, wird ihr im Patriarchat genommen: sie wird zur Reproduktionsmaschine, zu einem Ding degradiert. Sie befindet sich unter der Herrschaft
des Mannes, der die Kontrolle über den weiblichen Körper an sich zieht.69
Wir haben es bei Beauvoir also mit zwei verschiedenen Anerkennungsmodellen zu tun, die vom jeweiligen Subjektkonzept abhängig sind: bei
dem an Hegel orientierten Subjektkonzept muss man am Kampf um
Anerkennung teilnehmen, um Subjekt werden zu können. Ein Ausschluss
aus diesem System bedeutet, von sich aus allein nicht die Kraft und
Möglichkeit zu haben, den Weg ins System hinein zu erkämpfen. Man
kann weder Klage erheben, noch findet man Gehör. Yvanka B. Raynova
sieht darin ein "Analogon des lyotardschen Konzepts des Différend (…)
Das Opfer will Kläger werden, ist aber von vornherein vom Diskurs des
Rechtssprechenden ausgeschlossen. Es scheint, dass es keinen Ausweg
68 Ebd., 90.
69 Beauvoir wird sich allerdings erst viele Jahre nach Erscheinen des Anderen Geschlechts
als radikale Feministin verstehen und für Geburtenkontrolle und Abtreibung kämpfen.
86
hat, denn will es auf die Anklage verzichten, bleibt es Sklave, bringt es
die Klage ein, wird es ein zweites Mal Opfer. Die Asymmetrie verbleibt."70
Eine Befreiung für die Frau kann daher nur auf einer kollektiven Ebene
stattfinden, indem eine Transformation der Gesellschaft stattfindet, wodurch
es nunmehr auch den Frauen möglich wird, am Anerkennungsprozess
teilzunehmen und damit einen Subjetstatus zu erhalten.
Auf der Suche nach den Hintergründen für den Ausschluss der Frauen
stößt Beauvoir auf den Mythos der Weiblichkeit.
Der Mythos der Weiblichkeit
Beauvoir untersucht im Anderen Geschlecht die Rolle der männlichen
Vorstellungen und Mythen über die Frau, die als Instrumente des
Ausschlusses und der Unterdrückung von den Männern und der
patriarchalen Gesellschaft eingesetzt werden. Beauvoir zeigt, dass wenige
Mythen so vorteilhaft für die herrschende Kaste gewesen sind, wie der
Mythos der Weiblichkeit. Um ihre Vorrechte zu wahren, haben die Männer
die gesellschaftliche Trennung von Immanenz und Transzendenz erfunden:
"Sie haben nur deshalb eine weibliche Domäne – ein Reich des Lebens,
der Immanenz – herstellen wollen, um die Frau darin einzusperren."71
Der Mann berufe sich dabei gerne auf Hegel, der diese beiden getrennten
Bereiche durch seine Philosophie legitimiert hat: "seine Beziehungen zu
anderen Männern (…) sind durch Werte definiert",72 in Hinblick auf die
Frau ist die männliche Moral jedoch eine große Täuschung.73 Die Kunst,
die Literatur, die Philosophie seien Versuche, "die Welt neu auf eine
menschliche Freiheit, auf die Freiheit des Schöpfers zu gründen. Um ein
solches Ansinnen zu nähren, muss man sich zuerst eindeutig als eine
Freiheit setzen."74 Die Fähigkeit, sich als autonome Freiheit zu setzen,
sei den Frauen aber explizit abgesprochen worden. Um den Frauen zu
ermöglichen auch Schöpfer zu werden, müsste nicht nur aufgezeigt werden,
welche Ausschlusskriterien gegenüber Frauen in diesen Philosophien
enthalten sind, vielmehr müssten die Einschränkungen, die ihnen Frau
70 Yvanka B. Raynova, "Für eine postmoderne Ethik der Gerechtigkeit: Simone de
Beauvoir und Jean-Francois Lyotard", in diesem Band, 144.
71 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 92.
72 Ebd., 764.
73 Ebd., 764.
74 Ebd., 877.
87
aufgrund dieser Mythen in Form von Erziehung und restriktiven gesellschaftlichen Vorgaben auferlegt wurden, beseitigt werden.75
Beauvoir spricht hier also explizit davon, dass die Philosophie Hegels
einen Ausschluss der Frauen produziert. So sehr die Philosophie Hegels
ein Emanzipations- und Veränderungspotential in sich trägt, so sehr stellt
sie die Bereiche von Immanenz und Transzendenz einander gegenüber
und ermöglicht damit die Legitimation der Herrschaft des Mannes über
die Frau. Die Bereiche von Familie-Immanenz und ÖffentlichkeitTranszendenz sind nämlich bei Hegel nicht komplementär, sondern –
wie schon gezeigt wurde – hierarchisch angelegt. Den Status eines Subjekts
kann man erst durch die Beteiligung am öffentlichen Leben, an der
Transzendenz erreichen. Das männliche Individuum muss sich aus der
Familie heraus differenzieren, wodurch es zu einem tiefen unlösbaren
Konflikt kommt. Hegel schreibt:
Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewusstseins in das
allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es
unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit
überhaupt seinen inneren Feind.76
Beauvoir zeigt, dass die Philosophie Hegels bezüglich des Geschlechterverhältnisses einen unlösbaren Widerspruch in sich trägt. Einerseits
könnte Hegels Philosophie als Philosophie der Freiheit schlechthin
bezeichnet werden, geht es ihr doch um die stufenweise Realisierung von
Freiheit und Transzendenz auf Erden und nicht mehr nur um die
Verlagerung der Transzendenz in ein Jenseits. Andererseits wird den Frauen
aber generell aufgrund ihrer Natur dieser Zugang zur Transzendenz
verwehrt. Tatsächlich bildet die Weiblichkeit – zumindest so wie sie Hegel
sieht – in diesem System der Freiheit einen inneren Feind, der dieses
System zutiefst gefährdet. Denn diesem Bereich der Weiblichkeit und
Immanenz werden alle diejenigen Aufgaben zugewiesen, die für die
Erhaltung der Menschheit unabdingbar sind, nämlich die der Reproduktion,
der Erziehung, der Fürsorge, der mitmenschlichen Beziehungen, ohne die
eine Gesellschaft gar nicht lebensfähig ist. Die Familie bildet somit die
Bedingung der Möglichkeit der nächsten Stufe, nämlich derjenigen der
bürgerlichen Gesellschaft, die auf dieser Basis aufbaut und sich aus ihr
75 Ebd., 878.
76 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 352.
88
nährt. Da bei Hegel die beiden voneinander getrennten Bereiche der
Immanenz und Transzendenz sich durch geschlechtlich bestimmte
Aufgaben auszeichnen, ist für ihn die Aufrechterhaltung der essentialistischen Geschlechtlichkeit von zentraler Bedeutung. Der Mythos der
Weiblichkeit wird deshalb, so wie Beauvoir zeigt, dazu verwendet, die
Frauen in der Familie einzusperren. Dies bringt nämlich einen mehrfachen
Nutzen mit sich: erstens ist damit die Versorgung dieses lebenswichtigen
Bereichs der Reproduktion gesichert und zweitens gelingt es damit, die
Frauen von Anerkennung und Konkurrenz fern zu halten. In diesem
Konzept, das also nicht auf Komplementarität und auch nicht auf
Wechselseitigkeit aufgebaut ist, stellt der Bereich der Immanenz eine
hierarchisch niederere Stufe dar, die mit Weiblichkeit gleichgesetzt wird. Es
ist also nicht verwunderlich, dass nicht nur alle Tätigkeiten, die mit diesem
Bereich in Zusammenhang stehen, keinen Wert haben, sondern dass vielmehr
die Weiblichkeit selbst als etwas angesehen wird, das wertlos ist und
überwunden werden muss. Nur durch die nächste Stufe, nur durch den Kampf
um Anerkennung in der bürgerlichen Gesellschaft, wird es möglich, einen
Subjektstatus zu erreichen. Folgt man dieser Logik, dann muss – um Subjekt
werden zu können – die Weiblichkeit aufgegeben werden.
Auch wenn sich Beauvoir der Fallen des hegelschen Systems sehr
wohl bewusst ist, überträgt sie im Anderen Geschlecht dessen misogyne
Tendenzen, indem sie die Natur der Frau, ihre biologische Gegebenheit
und die mit der Reproduktion verbundenen Tätigkeiten mit Immanenz
gleichsetzt, diese letztendlich abwertet und der Transzendenz und dem
Entwurf gegenüberstellt.77 Mütterliche Tätigkeiten, sind nach Beauvoir
keine Aktivitäten, sondern natürliche Funktionen: "Kein Entwurf ist darin
einbezogen."78Auch auf die Haushaltsführung und sonstige Reproduktionstätigkeiten trifft dies zu: sie halten die Frau in der Wiederholung und in der
Immanenz fest. Dadurch geht der Blick darauf verloren, dass auch diese
Tätigkeiten menschliche Entwürfe in sich enthalten können und die
Transzendenz des Menschen widerspiegeln. Beauvoir folgt damit der Natur77 Iris Young wirft Beauvoir vor, dass sie Menschsein mit Männlichkeit gleichsetze und
traditionelle Aktivitäten, wie Mutterschaft und Hausarbeit abwerte. Sie reproduziere mit der
Unterscheidung Transzendenz und Immanenz die in der westlichen Tradition verankerten
Gegensätze von Natur und Kultur, Freiheit und bloßem Leben. Im Gegensatz zu Beauvoirs
"Gleichheitsfeminismus" bejahe nunmehr der "Differenzfeminismus" die Weiblichkeit (Iris
Marion Young, "Humanismus, Gynozentrismus und feministische Politik", in Elisabeth List
und Herlinde Studer [Hg.], Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1989, 37-65).
78 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 89.
89
Kultur-Problematik der Moderne: die Moderne, die den Menschen danach
beurteilt, was er tut, steht allen Prozessen, die von Natur aus, ohne freien
Schöpfungsakt des Menschen geschehen, abwertend, als einer Stufe, die der
Überwindung und Beherrschung durch den Menschen bedarf, gegenüber.
Heißt dies nun – um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukehren, –
dass die Frauen bei Beauvoir zu Opfern der Dialektik werden, oder gibt es
ein Konzept der Andersheit, das einen Ausweg ermöglichen würde?
Beauvoirs Konzepte von Alterität
Beauvoir sucht im Anderen Geschlecht sehr wohl nach einem Ausweg
aus dem endlosen Kampf um Anerkennung, aus "der unerbittlichen
Dialektik von Herr und Knecht",79 bei der immer ein Teil als Subjekt (als
Herr) oder als Objekt (als Knecht) hervorgeht, wobei der Knecht dann
wieder in einem neuen Kampf das Verhältnis zu seinen Gunsten umkehren
kann. Sie sucht nach einer Möglichkeit, als Subjekt einem anderen Subjekt
begegnen zu können, ohne sich diesem sofort entgegensetzen zu müssen.
Diese Möglichkeit sieht sie in der Freundschaft, in der dieses Drama des
ewigen Kampfes "durch das freie Sicherkennen jedes Individuums im
anderen überwunden werden"80 könnte. Die Freundschaft, die in der
Anerkennung der Freiheiten praktisch verwirklicht werde, sei jedoch keine
leichte Tugend, sondern die höchste Vollendung des Menschen. Bei der
Freundschaft, betont Beauvoir, müsse es sich um eine "wirkliche
Alterität"81 handeln: Ich anerkenne, dass der andere ein Bewusstsein hat,
das meinem ebenbürtig ist, dass er auch eine Freiheit, eine Transzendenz
ist, und versuche nicht, mich selbst als einziges souveränes Bewusstsein
zu setzen. Die Andersheit wird nicht als Bedrohung angesehen und in
einer Gleichheit aufgehoben, sondern ermöglicht mir überhaupt erst, dass
ich selbst zu meiner eigenen Freiheit finden kann. Leider arbeitet Beauvoir
dieses Konzept nicht weiter aus, sondern weist nur in einigen wenigen Zeilen
am Beginn des Mythoskapitels darauf hin, dass der Mensch diese moralische
Haltung nur erreichen kann, wenn er "auf das bloße Sein verzichtet und
seine Existenz auf sich nimmt."82
Beauvoir entwickelt im Anderen Geschlecht also drei Formen von Alterität,
die jeweils verschiedene Konsequenzen für das Geschlechterverhältnisses
nach sich ziehen.
79 Ebd., 192.
80 Ebd., 191.
81 Ebd., 190.
82 Ebd., 191.
90
Die erste Form ist die Alterität als das absolut Andere, das sich in
keinerlei wie auch immer geartetem Bezug zum Anderen befindet, da es
von dem Einen gesetzt wird und nur in Bezug zu diesem definiert wird,
ohne seinerseits dieses Verhältnis umkehren zu können. Der größte und
ausführlichste Teil des Anderen Geschlechts beschreibt diese Situation
der Frau, die als Folge eines historischen Prozesses angesehen wird, in
der die Frau als relatives Wesen konstituiert und eine Weiblichkeit
hervorgebracht wurde, die als historisch wie gesellschaftlich hergestellte
Minderwertigkeit gilt. Es geht darum, die Frau aus dieser Fremdbestimmung
zu befreien, sie nicht mehr negativ zu bestimmen, so wie sie vom Mann
gesehen und konstituiert wird, sondern positiv, so wie sie "für sich" ist.
Aus eigener Kraft kann dies die einzelne Frau nicht bewerkstelligen, es
muss zu einer kollektiven Befreiung kommen.
Die zweite Form ist die Alterität als konstituierendes Merkmal von Identität:
das Subjekt kann sich nur setzen, indem es sich einem bestehenden Anderen
entgegensetzt und dieses Andere, das die selben Ansprüche stellt, seiner
Herrschaft unterzuordnen versucht. Im Kampf um Anerkennung wird nun
nach einer gemeinsamen Ebene gesucht, in der die Andersheit zugunsten
einer Gleichheit aufgehoben werden kann, da die Andersheit eine grundsätzliche
Bedrohung darstellt. Erst die Teilnahme am Anerkennungsprozess ermöglicht
es ein vollwertiges Subjekt zu werden. Dieses Konzept bestimmt Beauvoirs
Herr-Knecht-Dialektik. Hinsichtlich der Frauen beinhaltet es die Forderung,
sie nunmehr am Anerkennungsprozess teilnehmen zu lassen und ihnen damit
zu ermöglichen vollwertige Subjekte zu werden. Die grundsätzliche Problematik
dieses Konzepts besteht in der Frage, wie denn nun mit der Andersheit der
Frau umgegangen werden soll? Wird es, um dem Reich der Freiheit in der
gegebenen Welt zum Durchbruch zu verhelfen, notwendig sein, "dass Männer
und Frauen über ihre natürlichen Unterschiede hinaus unmissverständlich
ihre Brüderlichkeit behaupten", wodurch eine prinzipielle Orientierung an
männlichen Werten in Aussicht gestellt wird?83
Die dritte Form der Alterität wäre die Freundschaft als wechselseitige
Anerkennung von konkreter Andersheit durch gleichwertige und
ebenbürtige Subjekte. Am Ende des Anderen Geschlechts spricht Beauvoir
davon, dass, wenn Mann und Frau einander als Subjekte anerkennen
werden, "jeder doch für den anderen ein anderer bleiben"84 wird. Erst
dann wird sich die authentische Bedeutung dessen offenbaren was es
83 Ebd., 900.
84 Ebd., 899.
91
heißt ein Mann und eine Frau zu sein. Erst dann wird sich auch das
wahre Gesicht der Geschlechterdifferenz zeigen, nämlich ob es sich dabei
um ein grundsätzliches Herrschaftsverhältnis handelt, oder ob eine freie
Entfaltung trotz der gesellschaftlichen Differenzierung nach Geschlechtern
möglich ist.
Den Anderen in seiner Andersheit zu belassen und diese nicht auf
Identität zurückführen zu müssen, stellt kein bevorrechtetes Unterfangen
einer Philosophie der Geschlechterdifferenz dar, sondern drückt das
Grundprinzip des Existentialismus aus, die Differenz nicht, wie im
hegelschen System aufzuheben, sondern sie als Grundzug der Existenz
(an) zu erkennen. In diesem Sinne könnte jeder den Anderen in seiner
Andersheit – und damit in seiner Selbstheit, so wie Seyla Benhabib es
formuliert hat – anerkennen: es würde bedeuten (an) zu erkennen, dass
das Frausein an die Ambiguität der Existenz gekoppelt ist und nicht an das
biologische Geschlecht.85 Während bei den beiden ersten Formen der
Alterität Weiblichkeit zwangsläufig als etwas Minderwertiges oder als etwas
zu Überwindendes angesehen wird, beinhaltet die dritte Form der Alterität
zumindest die Möglichkeit, sich bewusst für oder gegen einen expliziten
Weiblichkeitsentwurf zu entscheiden und nach neuen Lebensformen
jenseits der Geschlechterdichotomie zu suchen.
(Institut für Axiologische Forschungen, Wien /
Institut für Philosophie, Universität Wien)
85 Mehr dazu in Susanne Moser, Freiheit und Anerkennung bei Simone de Beauvoir,
181-241.
92