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Subjekt und Anerkennung

In ihrem Artikel "Hegel, die Frauen und die Ironie" bezeichnet Seyla Benhabib Hegel als den Totengräber weiblicher Emanzipationsbestrebungen, indem er die Frau einer großartigen, aber letztlich zum Untergang bestimmten Phase der dialektischen Entwicklung zuweist, die "den Geist in seiner Kindheit befällt."1 Die Frauen seien dadurch zu Opfern der Dialektik geworden. Was wir heute tun können, so Benhabib, sei, "der Dialektik ihre Ironie zurückgeben, der Parade der historischen Notwendigkeit (...) ihr pompöses Gehabe nehmen: das heißt, den Opfern der Dialektik (...) ihr Anderssein wiedergeben, und das heißt, wirklich dialektisch gedacht, ihr Selbstsein."2 Ich möchte in diesem Beitrag der Frage nachgehen, welche Rolle die Dialektik und die Anerkennungstheorie Hegels im Werk von Beauvoir spielen und welche Auswirkungen dies auf ihr Verständnis des Frauseins hat. Werden auch bei Beauvoir die Frauen zwangsläufig auf einer niederen Stufe zurückgelassen oder gibt es ein Konzept der Andersheit, wie Benhabib es fordert, und wenn ja, wie würde dieses aussehen? Um all diese Fragen beantworten zu können müssen wir uns zwei Problemkreisen zuwenden: dem Thema der Anerkennung und dem damit zusammenhängenden Problem der Subjektkonstitution.

Yvanka B. Raynova Susanne Moser (Hrsg.) Simone de Beauvoir: 50 Jahre nach dem Anderen Geschlecht 3 Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dmb.ddb.de> abrufbar. Die wissenschaftliche und redaktionelle Arbeit an diesem Sammelband wurde im Rahmen des Forschungsprogrammes des Instituts für Axiologische Forschungen durchgeführt und von der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung unterstützt. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien. Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier. © Peter Lang Gmbh Europäischer Verlag der Wissenschaften 2., Auflage, Frankfurt am Main 2003 Alle Rechte vorbehalten. © Institut für Axiologische Forschungen (IAF) 1., Auflage, Wien 1999 Das Werkeinschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany 12 4567 www.peterlang.de 4 Inhalt Vorwort Einleitung 7 9 Simone de Beauvoir: Philosophin, Schriftstellerin, femme engagée Zur Aktualität von Simone de Beauvoir oder die Dialektik des Engagements Françoise Rétif 17 First Philosophy, The Second Sex, and the Third Wave Nancy Bauer 26 Simone de Beauvoir and Jean-Paul Sartre: Woman, Man and the Desire to be God Debra Bergoffen 38 Transgressing Sartre: embodied situated subjects in The Second Sex Elaine Stavro-Pearce 49 Subjekt und Anerkennung: Zum Problem des Ausschlusses von Frauen und Weiblichkeit im Anderen Geschlecht Susanne Moser 71 Der Paradox des Körpers bei Simone de Beauvoir Diane Lamoureux 93 Die Lesbierin bei Simone de Beauvoir und Nicole Brossard Marie Couillard 105 Beauvoir revisited: Butler and the "gender" question María Luisa Femenías 113 Panopticism and Shame: Reading Foucault through Beauvoir Sonia Kruks 123 Für eine postmoderne Ethik der Gerechtigkeit: Simone de Beauvoir und Jean-François Lyotard Yvanka B. Raynova 141 Moral obligation in Simone de Beauvoir's The Ethics of Ambiguity Kristana Arp 156 5 Susanne Moser Subjekt und Anerkennung: Zum Problem des Ausschlusses von Frauen und Weiblichkeit im Anderen Geschlecht In ihrem Artikel "Hegel, die Frauen und die Ironie" bezeichnet Seyla Benhabib Hegel als den Totengräber weiblicher Emanzipationsbestrebungen, indem er die Frau einer großartigen, aber letztlich zum Untergang bestimmten Phase der dialektischen Entwicklung zuweist, die "den Geist in seiner Kindheit befällt."1 Die Frauen seien dadurch zu Opfern der Dialektik geworden. Was wir heute tun können, so Benhabib, sei, "der Dialektik ihre Ironie zurückgeben, der Parade der historischen Notwendigkeit (...) ihr pompöses Gehabe nehmen: das heißt, den Opfern der Dialektik (...) ihr Anderssein wiedergeben, und das heißt, wirklich dialektisch gedacht, ihr Selbstsein."2 Ich möchte in diesem Beitrag der Frage nachgehen, welche Rolle die Dialektik und die Anerkennungstheorie Hegels im Werk von Beauvoir spielen und welche Auswirkungen dies auf ihr Verständnis des Frauseins hat. Werden auch bei Beauvoir die Frauen zwangsläufig auf einer niederen Stufe zurückgelassen oder gibt es ein Konzept der Andersheit, wie Benhabib es fordert, und wenn ja, wie würde dieses aussehen? Um all diese Fragen beantworten zu können müssen wir uns zwei Problemkreisen zuwenden: dem Thema der Anerkennung und dem damit zusammenhängenden Problem der Subjektkonstitution. Zum Ursprung des Begriffes der Anerkennung Charles Taylor spricht von zwei Wurzeln der Anerkennungsdebatte.3 Einerseits führte der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Hierarchien, die früher die Grundlage der Ehre bildeten, zum modernen Begriff der Würde, dem die universalistische und egalitäre Annahme zugrunde liegt, 1 Seyla Benhabib, "Hegel, die Frauen und die Ironie", in dieselbe, Selbst im Kontext, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 276. 2 Ebd., 276. 3 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 13. 4 Ebd., 16. 71 dass jeder an dieser Würde teilhat,4 womit die gleichberechtigte Anerkennung zu einem wesentlichen Bestandteil der demokratischen Kultur wird. Andererseits bringt die neuzeitliche Wendung zur Subjektivität eine Form von Innerlichkeit und Einzigartigkeit, eine innere Stimme und ein moralischen Gefühl in uns hervor,5 wodurch das Prinzip der Originalität und in weiterer Linie der Differenz eingeführt wird. "Nicht nur, dass ich mein Leben nicht nach den Erfordernissen äußerlicher Konformität gestalten soll – außerhalb meiner selbst kann ich gar kein Modell dafür finden, wie ich mein Leben leben soll. Ich kann dieses Modell nur in mir selbst finden."6 Diese auf Herder zurückgehende Idee der Authentizität kann in zwei Hinsichten verstanden werden: sowohl in Bezug zum individuellen Menschen inmitten anderer Menschen, als auch in Bezug auf das Volk als Träger einer Kultur inmitten anderer Völker.7 Deutsche sollten nicht versuchen, sich in künstliche und damit unvermeidlicherweise zweitklassige Franzosen zu verwandeln, wie es ihnen Friedrich der Große nahegelegt hatte. Auch die slawischen Völker sollten ihren eigenen Weg gehen. Andererseits findet die Idee der Authentizität über Heideggers Konzept der "Eigentlichkeit" Eingang in den Existentialismus von Sartre und Beauvoir. Sie fordern den Menschen auf, seine je eigene "Geworfenheit", seine Besonderheit des "In-der-Welt-seins" auf sich zu nehmen und weder in eine gesellschaftliche Rolle, noch in ein fiktives Ideal zu flüchten. Axel Honneth hingegen setzt den Ursprung des Begriffs der Anerkennung bei Hegel an.8 Hegel, so Honneth, übernehme das in Fichtes Grundlage des Naturrechts entwickelte Prinzip der Anerkennung, welches dieser "als eine dem Rechtsverhältnis zugrundeliegende 'Wechselwirkung' zwischen Individuen"9 aufgefasst habe. Honneth knüpft in seiner Anerkennungstheorie explizit an Hegels Jenaer Frühwerk an, in dem dieser den Prozess der Anerkennung noch von der individuellen intersubjektiven Seite her verstanden hatte, während später diese Perspektive in zunehmendem Maße 5 Rousseau leitet das Gewissen aus einem natürlichen angeborenen Gefühl ab, siehe dazu: Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, Paderborn: UTB 1995, 305. Kant wird im wesentlichen den von Rousseau entwickelten Gewissensbegriff übernehmen. 6 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 20. 7 Taylor verbindet die Idee der Authentizität mit Herder, auch wenn er ihn nicht als ihren Urheber sieht, wohl aber als denjenigen, der sie früh und eindringlich angesprochen hat. 8 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 9 Ebd., 30. 72 zugunsten der Philosophie des Geistes aufgegeben wurde. Honneth interpretiert Hegel dahingehend, dass dieser die verschiedenen Konfliktsituationen, wie z. B. das Verbrechen, auf den Umstand unvollständiger Anerkennung zurückführt: "das innere Motiv des Verbrechers macht dann die Erfahrung aus, dass er sich auf der etablierten Stufe wechselseitiger Anerkennung nicht auf eine befriedigende Weise anerkannt sieht."10 Honneth entwickelt daraus die These, dass sich soziale Auseinandersetzungen im Prinzip auf die Verletzung von moralischen Ansprüchen zurückführen lassen und nach dem Muster eines Kampfes um Anerkennung verstanden werden können. Es kann hier nicht der Rahmen sein, Honneths Theorie der Anerkennung zu diskutieren, auffällig erscheint jedenfalls die explizite Aussparung der feministischen Thematik,11 die sofort die Frage mit sich brächte, wieso die Frauen den von Hegel beschriebenen Individualisierungsprozess so lange Zeit nicht beansprucht haben. Ich möchte nun in der Folge kurz jene Momente von Hegels Anerkennungstheorie herausarbeiten, die für das Verständnis von Beauvoirs Konzept der Anerkennung im Kontext des Geschlechterverhältnisses relevant sind. Aspekte der hegelschen Anerkennungstheorie Die entscheidende Frage der Neuzeitlichen Ethik- und Rechtsdebatte lautet: wie komme ich vom Naturzustand, in dem angeblich alle gleich sind, jenem egoistischen Ausgangspunkt des Kampfes aller gegen alle, zu einem geordneten Gesellschaftsgefüge, in dem der Andere mich in meinem Besitz auch anerkennt, was zu allererst das Eigentum begründet? Mit genau diesen Fragen beschäftigt sich Hegel in der Jenaer Realphilosophie von 1805-06, wo er schreibt: "Der Mensch hat das Recht, in Besitz zu nehmen, was er als Einzelner kann. (...) Aber seine Besitznahme erhält auch die Bedeutung, einen Dritten auszuschließen. Was darf ich in Besitz nehmen ohne Unrecht des Dritten?"12 Solche Fragen, sagt Hegel, können nicht beantwortet werden, denn die Besitzergreifung wird erst durch die Anerkennung zur rechtlichen gemacht; bevor es einen rechtlichen Zustand gibt, kann niemand sagen, ob jemand etwas in Besitz nehmen darf oder 10 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, 37. 11 Honneth begründet seine Ausklammerung der feministischen Ansätze damit, dass sie seinen Rahmen gesprengt und seinen Kenntnisstand überstiegen hätten (Ebd., 9). 12 G.W.F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1969, 207. 73 nicht. Gemäß der Formel: "Wohl dem der im Besitz ist"13 stellt Besitz eine wesentliche Voraussetzung von Anerkennung und Rechten dar, was vorerst den Ausschluss aller besitzlosen, lohnabhängigen Männer von staatsbürgerlichen Rechten zur Folge hat. Hegel bezeichnet das Recht als "die Beziehung der Person in ihrem Verhalten zur andern (...). Als Anerkennen ist er selbst [der Mensch] die Bewegung und diese Bewegung hebt eben seine Naturzustand auf: er ist Anerkennen, das Natürliche ist nur, es ist nicht Geistiges."14 Innerhalb der Familie gilt der Mensch als "natürliches Ganzes, nicht als Person; dies hat er erst zu werden. Er ist unmittelbares Anerkanntsein; er ist durch Liebe Verbundnes."15 Dass nicht Familie und Liebe als Grundlage des Anerkennungsprozesses gelten können, versteht sich aus der Hinwendung zum Neuzeitlichen Subjekt, aus der Emanzipation gerade eben von diesen familiären, feudalen Strukturen, in denen die Herrschaftsverhältnisse und die damit zusammenhängenden Anerkennungsverhältnisse von Blutsverwandtschaft, Zugehörigkeit zu Grund und Boden und Legitimation durch Gottes Gnaden abgeleitet wurden. Während aber die Frauen im Schoße der Familie verbleiben, lehnt sich das zum "Fürsichsein" gelangte männliche Individuum gegen das Dasein, das die Familie im Besitz hat auf und möchte als "gewusstes" Fürsichsein anerkannt werden, was zum Kampf auf Leben und Tod führt.16 Dadurch, dass der Mann sein Leben aufs Spiel setzt, gibt er öffentlich zu erkennen, dass ihm an seinen individuellen Zielen mehr liegt, als an seinem physischen Überleben. Während es Hegel in der Jenaer Realphilosophie darum ging nachzuvollziehen, wie es durch den Kampf um Anerkennung zur Bildung eines allgemeinen Bewusstseins aus den Handlungen und Interaktionen einzelner Bewusstseine kommt, das zu einem allgemeinen Willen des Rechtszustandes führt, handelt es sich in der Phänomenologie der Geistes um die Erfahrung und die Erscheinungsweisen des entäußerten Geistes bei seiner Rückkehr zu sich selbst im absoluten Wissen. Dieses metaphysische Modell der Vernunft und des Geistes durchdringt Hegels gesamtes Werk, es wird auf allen Stufen der Bewusstseinsentwicklung vorausgesetzt. Nur so kann der Zirkel verstanden werden, der darin besteht, dass einerseits wechselseitige Anerkennung die Voraussetzung von Selbstbewusstsein und Subjektsein bildet, nämlich dass das Selbst13 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, §9. 14 G.W.F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, 206. 15 Ebd., 227. 16 Ebd., 211. 74 bewusstsein nur dadurch ist, "dass es für ein Anderes an und für sich ist; das heißt es ist nur als ein Anerkanntes",17 während andererseits so etwas wie Anerkennung oder Kampf um Anerkennung überhaupt erst zu Stande kommen kann, wenn ein Selbstbewusstsein auf ein anderes Selbstbewusstsein trifft.18 Diese Situation schafft eine Bedrohung für das Selbstbewusstsein, denn in Hegels Modell lehnt das Selbstbewusstsein jede Andersheit als Selbstverlust, als Aussersichsein ab.19 Erst wenn es seine "Sichselbstgleichheit" durch Ausschließung aller Anderen durch einen Kampf auf Leben und Tod wiederhergestellt hat, kann es die Gewissheit seiner selbst, nämlich "für sich zu sein", wieder herstellen. Das eine Bewusstsein sieht so lange das andere als Bedrohung an, solange es sich nicht als Teil eines übergeordneten Ganzen, als Teil des Geistes ansieht, dessen Struktur darin besteht, dass "Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist."20 Erst dann bedeutet der Andere keinen Selbstverlust mehr, denn im Bewusstsein von der Einheit von "Ich" und "Wir" transzendiert das Selbst nicht nur seine unmittelbare, "lebendige" Individualität, sondern auch die sich durch Ausschluss des Andersseins definierende Einzelheit des Bewusstseins selbst.21 Das Wesen des Selbstbewusstseins besteht in seiner Doppelsinnigkeit, nämlich einerseits Bewusstsein der uns umgebenden sinnlichen Welt zu sein, und andererseits Bewusstsein seiner Selbst zu sein – ein Gegensatz, den das Selbstbewusstsein aufheben und die Gleichheit seiner selbst mit sich herstellen will. Dem Selbstbewusstsein geht es also darum das Ansichsein der Welt mit seinem Fürsichsein zu vermitteln: "Die 17 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, 145. 18 Auf die Frauen bezogen würde das bedeuten, dass sie zuerst das Selbstbewusstsein erlangen müssten, das es ermöglicht Anerkennung einzufordern. Der Anerkennungsprozess setzt also bereits etwas voraus, nämlich die Vorentscheidung, wer in diesen Prozess überhaupt aufgenommen wird und wer nicht. Bei Hegel wird das Problem dadurch gelöst, dass der Geist die hierarchische Aufspaltung der Geschlechter von vornherein in sich trägt, wobei er seine "weibliche Seite" auf einer niederen Bewusstseinsstufe zurücklässt. 19 "Es ist für das Selbstbewusstsein ein anderes Selbstbewusstsein; es ist außer sich gekommen. Dies hat die gedoppelte Bedeutung: erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Anderen." G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 146. 20 Ebd., 145 21 Die sehr komplexen spekulativen Gedankengänge Hegels können hier nur ungenügend angedeutet werden. Siehe dazu: Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/ München: Alber, 1979, 71. 75 Doppelsinnigkeit des Unterschiedenen liegt in dem Wesen des Selbstbewusstseins, unendlich oder unmittelbar das Gegenteil der Bestimmtheit, in der es gesetzt ist, zu sein."22 Diese Struktur des Selbstbewusstseins wird später für Sartres Für-sich-sein eine Rolle spielen, indem "das Fürsich-sein das ist, was es nicht ist und nicht das ist, was es ist."23 Jedoch wird bei Sartre und bei Beauvoir weder Hegels Konzept des Geistes, noch seine idealistische Vermittlung in der Vernunft übernommen. Vielmehr bleibt es beim Stadium des "Unglücklichen Bewusstseins", das niemals zur Übereinstimmung des An-sich-seins und Für-sich-seins gelangt. Sartres Das Sein und das Nichts stellt eine klare Absage an Hegels idealistische Philosophie dar, indem der Versuch des Menschen, sich zum An-sichFür-sich, und damit zu Gott zu machen, als zum Scheitern verurteilt angesehen wird. Sartre bestätigt zwar, dass ganz im Sinne der hegelschen Philosophie jede menschliche-Realität24 ein direkter Entwurf, ihr eigenes Für-sich in An-sich-Für-sich umzuwandeln ist, und zugleich Entwurf zur Aneignung der Welt als Totalität von An-sich-sein in der Art einer grundlegenden Qualität darstellt,25 dass dies aber eine sinnlose Passion sei. Erst wenn der Mensch dieses Scheitern auf sich nimmt, kann er zu seiner Eigentlichkeit gelangen. Das Problem des Anderen bei Beauvoir Bereits im Jahre 1927, also im Alter von 21 Jahren, hebt Beauvoir in ihrem Tagebuch zum ersten Mal die Bedeutung des Verhältnisses zum Anderen hervor: "Ich muss meine philosophischen Ideen abklären, (...) die Probleme, mit denen ich mich konfrontiert sehe, vertiefen. Das Thema ist immer die Opposition von einem selbst und dem Anderen – ein Thema, das mich vom Beginn meines Lebens an beschäftigt hat."26 Rückblickend auf ihr Leben und ihr Werk beschreibt Beauvoir in ihren Memoiren In 22 Ebd., 145. 23 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts.Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, 163-403. 24 Der Begriff "menschliche-Realität" stammt von Corbins ungenauer Übersetzung des heideggerschen Begriffs Dasein (siehe dazu das Glossar von Traugott König zu Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 1119). 25 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 1052. 26 Margaret A. Simons, "Beauvoir's Early Philosophy: The 1927 Diary (1998)," Beauvoir and the Second Sex. Feminism, Race, and the Origins of Existentialism, Boston: Rowman &Littlefield 1999, 217 (Übersetzung des Zitats aus dem Englischen von Susanne Moser). 76 den besten Jahren in auffallend selbstkritischer Weise, wie sie in ihrer Jugend durch ihren uneingeschränkten Glauben an die Macht ihres Willens geprägt gewesen sei: "Ich wollte nicht wahrhaben, dass auch andere genau wie ich Subjekt, Bewusstsein sein könnten."27 Aus dieser Position heraus stellte der Andere für Beauvoir eine Gefahr dar, der sie nicht ins Auge blicken konnte: "Erbittert kämpfte ich gegen diesen Zauber, der mich in ein Monstrum verwandeln wollte: ich blieb immer in Abwehrstellung."28 In einem ihrer ersten Romane Sie kam und blieb stellt sie das Thema der Anerkennung ins Zentrum der Auseinandersetzung. Ausgehend von einem Zitat Hegels, das sie als Motto ihrem Roman voransetzt – "Ebenso muss jedes Bewusstsein auf den Tode des anderen gehen,"29 – betont Beauvoir die Konflikthaftigkeit des Verhältnisses zum Anderen und die Schwierigkeit wechselseitiger Anerkennung. Der einzige Ausweg aus dem Dilemma wechselseitiger Ansprüche besteht für sie zu diesem Zeitpunkt im Tod der Rivalin. Hatte Beauvoir in diesem 1943 erschienenen Roman den Konflikt mit dem Anderen noch als unlösbares Problem angesehen, so sucht sie in ihren folgenden Werken einen neuen Zugang zum Anderen. Das Blut der anderen zu Kriegsende geschrieben und 1945 erschienen, betont die Verantwortlichkeit füreinander und die Notwendigkeit, Stellung zu beziehen. Ebenso wie der 1947 erschienene Ethikentwurf Für eine Moral der Doppelsinnigkeit werden jetzt Stellungnahme und Verpflichtung zum konkreten Engagement gefordert. Erst die Besetzung Frankreichs durch die Deutschen und der zweite Weltkrieg hatten eine Zäsur im Leben Beauvoirs herbeigeführt. "Ich kann nicht sagen an welchem Tag, in welcher Woche, nicht einmal in welchem Monat ich diese Bekehrung durchmachte (...) ich verzichtete auf meinen Individualismus, (...) ich erlernte die Solidarität."30 Die Geschichte hatte, so berichtet sie, Besitz von ihr ergriffen. Ideen, Werte, alles wurde umgestürzt. Ihr vormals idealistischer Zugang zur Welt wurde durch eine immer stärkere Akzentuierung der Situiertheit und der historischen Konditioniertheit des Menschen abgelöst. Doch die systematische Ergründung des Problems des Anderen in Verbindung mit dem Thema der Anerkennung erfolgt erst in ihrem Hauptwerk Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, und zwar aus einer komplett neuen Sicht heraus, der des Geschlechterverhältnisses. Beauvoir zeigt, wie die Frau vom Mann 27 Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1969, 82 und 111. 28 Ebd., 110. 29 Simone de Beauvoir, Sie kam und blieb, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, 6. 30 Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, 304. 77 und einer männerdominierten Welt als die absolut Andere konstituiert wird, wodurch ihr die Anerkennung als Subjekt verweigert wird. Beauvoir stellt damit das Problem des Anderen in einen neuen und ganz anderen Kontext als Sartre, der sich bereits im Das Sein und das Nichts eingehend mit diesem Thema beschäftigt hatte. Während Beauvoir in ihren Frühwerken noch angenommen hatte, dass das Individuum seine menschliche Dimension nur durch die Anerkennung des Anderen erhält31 und damit die individualpsychologische Seite der Anerkennung betont hatte, stellt sie jetzt fest, dass die Situation der Frau auf eine ganz bestimmte Weise durch einen gesellschaftlichen Anerkennungsprozess bestimmt wird. Wenn man die menschliche-Realität ausschließlich als ein auf Solidarität und Freundschaft beruhendes Mitsein ansehen und Hegels These einer grundsätzlichen Feindseligkeit zwischen zwei Bewusstseinen ignorieren würde, dann blieben viele Phänomene unverständlich: "Sie werden erst begreiflich, wenn man wie Hegel im Bewusstsein selbst eine grundlegende Feindseligkeit gegenüber jedem anderen Bewusstsein entdeckt. Das Subjekt setzt sich nur, indem es sich entgegen-setzt: es hat den Anspruch, sich als das Wesentliche zu behaupten und das Andere als Unwesentlich, als Objekt zu konstituieren."32 Diese Feststellung Beauvoirs aus dem Anderen Geschlecht könnte auch für Sie kam und blieb gelten, im Anderen Geschlecht ist Beauvoir jedoch nicht mehr nur an individuellen, sondern auch an kollektiven Auseinandersetzungen interessiert. "Zwischen Dörfern, Stämmen, Nationen, Klassen gibt es Kriege, Potlatchs, Handelsbeziehungen, Verträge und Fehden, die der Idee des Anderen ihren absoluten Sinn nehmen und ihre Relativität offenbaren; Individuen und Gruppen sind wohl oder übel gezwungen, die Wechselseitigkeit ihrer Beziehung anzuerkennen. Wie aber kommt es dann, dass zwischen den Geschlechtern diese Wechselseitigkeit nicht hergestellt worden ist?"33 Beauvoirs zentrale Fragestellung lautet somit: wie war es möglich, dass es zwischen Mann und Frau niemals zu einem Kampf um Anerkennung gekommen ist, beziehungsweise warum ist die Frau "nie als ein Subjekt vor den anderen Mitgliedern der Kollektivität aufgetaucht"?34 31 Ebd., 469. 32 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, 13. 33 Ebd., 14. 34 Ebd., 748. 78 Zum Subjektbegriff Während Beauvoir nirgendwo einen Versuch unternimmt, den Begriff der Anerkennung näher zu definieren, behandelt sie das Problem des Subjekts an mehreren Stellen ausführlich. Dabei verwendet sie verschiedene Subjektbegriffe, ohne diese jedoch explizit zu unterscheiden. Eine Begriffsklärung ist jedoch notwendig, um zu zeigen, dass das Problem der Anerkennung sich in verschiedenen Bereichen stellt, die mit den Existenz- und Handlungsweisen des Subjekts verbunden sind, wodurch dessen besondere Ansprüche zum Ausdruck gebracht werden. Ich unterscheide daher zwischen dem Subjekt der Existenz, dem Subjekt der Moral und dem Subjekt der Herrschaft. 35 Die Unterscheidung verschiedener Subjektkonzepte bedeutet jedoch nicht, dass sie in ihren reinen Formen vorhanden sind. Es besagt auch nicht, dass der Mensch in sich eine Pluralität von Subjekten trägt, sondern dass er als Subjekt verschiedene Ansprüche und Dimensionen in sich vereint, die philosophischhermeneutisch zu unterscheiden wären. Auch wenn es bei Beauvoir so aussieht, wie wenn sie zum Beispiel ein Subjekt der Herrschaft an bestimmten Stellen annehmen würde, so muss mitberücksichtigt werden, dass dieses Herrschaftssubjekt sowohl über eine konkrete Existenz verfügt, als auch bestimmte Moralansprüche erhebt. Ebenso kann das Subjekt der Existenz immer wieder einen Herrschaftsanspruch stellen. Das Subjekt der Moral seinerseits ist nicht herrschaftsneutral – es kann die Herrschaft in Frage stellen oder sie auch für sich allein beanspruchen. Der Existentialismus radikalisiert die Konzepte der Moderne, indem er Existenz, Subjekt und Freiheit von einem von Gott vorherkonzipierten Begriff des Menschen,36 beziehungsweise einer vorherbestimmten menschlichen Natur, entkoppelt und als bewegliche ontologische Grundstruktur jedes einzelnen existierenden Menschen ansieht: jeder Mensch ist eine historisch-werdende und bis ans Lebensende nie endgültig realisierte Transzendenz und Freiheit. Er hat sich immer wieder aufs Neue zu erschaffen. Für Beauvoir und Sartre ist jedes Subjekt primär eine Exsistenz, ein Überschreiten der Geworfenheit und der Situation, jeder 35 Susanne Moser, Freiheit und Anerkennung bei Simone de Beauvoir, Tübingen: edition discord 2002, 132. 36 Jean-Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, in Philosophische Schriften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, 120. 79 existierende Mensch ist immer schon ein Subjekt und kann nie seiner Subjekthaftigkeit verlustig werden.37 Ein Existierendes ist nichts anderes als das, was es tut: Das Mögliche geht nicht über das Wirkliche hinaus, die Essenz geht der Existenz nicht voraus, in seiner reinen Subjektivität ist der Mensch nichts. Er wird an seinen Handlungen gemessen.38 Auf die Frage nach dem Wesen der Frau, was die Frau ist, oder wer sie ist, lasse sich daher keine Antwort geben. Von einer Bäuerin könne man sagen, dass sie eine gute oder schlechte Arbeiterin ist, von einer Schauspielerin, dass sie Talent hat oder nicht, wenn man die Frau aber in ihrer immanenten Präsenz betrachte, könne man nichts übers sie sagen, nicht, weil die verborgene Wahrheit zu schwankend wäre, um sich einkreisen zu lassen, sondern weil es in diesem Bereich keine Wahrheit gibt: in der menschlichen Kollektivität gibt es nichts, "was natürlich wäre" und auch die Frau ist ein Produkt der Zivilisation.39 In einer Hinsicht, betont Beauvoir, habe sie immer mit Sartre und seiner diesbezüglichen Theorie übereingestimmt: "wir glaubten nie an eine menschliche Natur."40 Im Anderen Geschlecht differenziert sie Sartres generelle Ablehnung einer menschlichen Natur, indem sie auf den geschlechtlichen Aspekt dieser Problematik hinweist: so wie es keine menschliche Natur gibt, gibt es auch keine "weibliche Natur".41 Die bürgerliche Gesellschaft versucht hingegen der Frau aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Natur, von Geburt an einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. Die Frau erhält damit – ganz im Gegensatz zum Mann – einen Platz in einer "Naturordnung", den sie nicht erst zu erkämpfen 37 In Das Sein und das Nichts weist Sartre darauf hin, dass Kant damit beschäftigt gewesen sei, die allgemeinen Gesetze der Subjektivität festzustellen, die für alle dieselben seien, dass er die Frage der einzelnen konkreten Personen jedoch nicht behandelt habe. Vielmehr sei für ihn das Subjekt nur das gemeinsame Wesen dieser Personen gewesen. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 411. Beauvoir betont, dass auch bei Hegel die Einzigartigkeit des Einzelnen geleugnet wird, dass nur der Geist und nicht der Einzelne als Subjekt angesehen wird. "Der Geist ist Subjekt; wer aber ist dieses Subjekt?" fragt sie in Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit. In: Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, 15). 38 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 323. 39 Ebd., 892. 40 Margaret A. Simons, Beauvoir and the Second Sex, 94. 41 Siehe dazu: Alice Schwarze, Simone de Beauvoir. Rebellin und Wegbereiterin, Köln: Kiepenheue &Witsch 1999, 58. 80 oder zu erringen hat. Gerade in der Zuweisung eines bestimmten Platzes und in der Beschränkung auf eine bestimmte Rolle besteht für Beauvoir der Schlüssel der Unterdrückung und des Ausschlusses. Denn dies würde bedeuten, dass der Mensch instrumentalisiert, objektiviert und zu einem Ding gemacht wird. Er wird auf bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten von vornherein festgelegt und es bleiben ihm keine Möglichkeiten mehr, die Ziele seiner Handlungen in Frage zu stellen; sein Handlungsfähigkeit wird ihm genommen.42 Die Tatsache, keinen festen Platz in der Welt zu haben, eröffnet zwar viele Möglichkeiten, die unter Umständen nicht gegeben wären, wenn unser Platz von der Gesellschaft vorgegeben wäre, andererseits bedeutet dies auch eine ständige Anspannung, einen ständigen Kampf, um sich einen Platz in dieser Welt zu erobern und diesen dann zu verteidigen. Außerdem bedarf es einer offenen Zukunft, die es ermöglicht, neue Entwürfe zu realisieren. Diese Offenheit wird aber von zwei Seiten bedroht: es kann jederzeit zu einem Rückfall von der Transzendenz in die Immanenz kommen, dadurch, dass das Subjekt freiwillig seine Freiheit aufgibt, vor dieser flüchtet, oder weil einem dieser Rückfall auferlegt wird. In Für eine Moral der Doppelsinnigkeit weist Beauvoir darauf hin, dass es einer ethischen Dimension bedarf, die sich zum einen an das Subjekt der Existenz mit der Forderung wendet, sich seiner Existenz als Transzendenz und Freiheit gewahr zu werden und diese zu verwirklichen und zum anderen diesem dazu verhilft, den Herrschaftsanspruch der Anderen, welche Transzendenz und Freiheit nur für sich in Anspruch nehmen wollen, zurückzuweisen. Beauvoir entwickelt somit den Begriff der "sittlichen Freiheit", der eine eigene, willentliche Entscheidung zum "frei sein wollen" bedeutet.43 Das Subjekt der Existenz befindet sich also ständig im Spannungsfeld zwischen dem Subjekt der Moral und dem Subjekt der Herrschaft, wobei das Subjekt der Herrschaft mit dem Subjekt der Moral in einer doppelten Hinsicht verbunden ist: auf der einen Seite braucht es die Moral und nützt sie aus, um sich als absolutes Subjekt zu legitimieren, auf der anderen Seite setzt es voraus, dass es allein über die Moral, über gut und böse, gerecht und ungerecht, zu entscheiden hat. Beauvoir geht im Anderen Geschlecht davon aus, dass das Subjekt der Herrschaft so alt ist wie die Menschheit und dass die von ihm hervorgebrachte Kategorie des Anderen so ursprünglich ist wie das 42 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 217. 43 Ebd., 92. 81 Bewusstsein selbst.44 Um Subjekt sein zu können, bedarf es nicht nur einer willentlichen Setzung, eines Aktes der Selbstbehauptung, sondern eines Anderen, dem sich das zu setzende Subjekt entgegensetzen kann. Es ist in seinem Subjektsein von diesem Anderen insofern abhängig, als es nur in der Entgegensetzung zu diesem überhaupt erst in Erscheinung treten kann. Das Subjekt muss sich aus einem ursprünglich friedlichen Zusammenleben durch einen Akt der Entgegensetzung heraus differenzieren: "Aus einem ursprünglichen Mitsein hat die Gegensätzlichkeit sich allmählich herausgebildet, und die Frau hat sie nicht durchbrochen."45 Darin bestehe einer der Gründe, warum der Mann "die Frau als die absolut Andere schlechthin konstituieren konnte: sie habe den Anspruch, Subjekt zu sein, nicht erhoben, weil sie ihre Bindung an den Mann als notwendig empfand, ohne Reziprozität zu fordern."46 Das Subjekt der Herrschaft sei also immer ein männliches gewesen: Er [der Mann] ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie [die Frau] ist das Andere.47 Nimmt Beauvoir also zwei verschiedene Formen von Bewusstsein an? Eines, das mit Hegel grundsätzlich feindselig gegenüber jedem anderen Bewusstsein gestimmt ist, und eines, das diese grundsätzliche Feindseligkeit nicht in sich trägt? Bestehen diese beiden nebeneinander und wie verhalten sie sich zueinander? Wie entwickelt sich überhaupt ein Subjekt aus dem Mitsein heraus? Die Schwierigkeit bei Beauvoir liegt darin, dass sie bereits in Für eine Doppelsinnigkeit der Moral ein vom Existentialismus abweichendes Subjektkonzept entwickelt, das eher an Hegel, denn an Sartre orientiert ist. Im Gegensatz zu Sartre geht sie davon aus, dass es sehr wohl möglich ist, in die "bloße Faktizität"48 zurückzufallen, als reines An-sich zu leben.49 Dies geschieht im Falle einer Unterdrückung, wenn die Unterdrücker mich unter die Stufe herabdrücken, "die sie erreicht haben und von der aus sie zu neuen Eroberungen aufbrechen, dann schneiden sie mich von der Zukunft ab, verwandeln mich in eine Sache."50 Dies kann jedoch 44 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 12. 45 Ebd., 16. 46 Ebd., 17. 47 Ebd., 12. 48 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 106. 49 Siehe dazu auch: Sonia Kruks, "Beauvoir: The Weight of Situation". In: Elizabeth Fallaize, Simone de Beauvoir. A Critical Reader, Routledge 1998, 61. 50 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 134. 82 auch freiwillig aufgrund eines eigenen Entwurfs geschehen: so entbinde die ursprüngliche Dürftigkeit seines Entwurfs den "Mindermenschen von der Verpflichtung, nach einer Rechtfertigung dieses Entwurfs zu suchen",51 rings um sich entdecke er nur eine bedeutungslose, trübe Welt. Wohl könne er nicht verhindern, dass er in der Welt anwesend sei, aber er bewirke, dass diese Anwesenheit bloße Faktizität bleibe.52 Im Anderen Geschlecht spricht Beauvoir ihren Standpunkt noch klarer aus: "Jedes Mal, wenn die Transzendenz in Immanenz zurückfällt, findet eine Herabminderung der Existenz in ein 'An-sich' und der Freiheit in Faktizität statt. Dieses Zurückfallen ist, wenn das Subjekt es bejaht, eine moralische Verfehlung; wird es ihm auferlegt, führt es zu Frustration und Bedrückung; in beiden Fällen ist es ein absolutes Übel."53 Beauvoir kehrt jedoch immer wieder zu Sartres Ontologie zurück, wo ein reines An-sich-sein für Menschen unmöglich ist und relativiert ihre vorherige Position: wenn es dem Menschen gestattet wäre, ein bloßes Faktum zu sein, dann wäre er den Bäumen und Steinen gleich, die nicht wissen, dass sie existieren. Kein Mensch ist eine passiv zu erduldende Gegebenheit; auch das Dasein ablehnen ist eine Art des Daseins, keinem Lebenden ist der Friede des Grabes beschieden. Genau darin liege das Scheitern des Mindermenschen.54 Auch bezüglich der Situation der Frau weist Beauvoir immer wieder darauf hin, dass auch dann, wenn eine bestimmte gesellschaftliche Situation die Frau zum Objekt erstarren und sie zur Immanenz verurteilen will, sie dennoch, wie jeder Mensch, eine autonome Freiheit bleibe. Sie schwankt jedoch zwischen Sartres Position und derjenigen Hegels. Bei Hegel sind zwar die Menschen als Personen gleich, betrachtet man aber den konkreten Menschen, der zum Beispiel über mehr oder weniger Besitz verfügen kann oder von Natur aus anders ausgestattet ist, wie die Frau, dann bewegt man sich laut Hegel auf der Ebene der Besonderheit, und diese ist eben die Ebene der Ungleichheit.55 Hegel setzt die Frauen auf einer ontologisch niedereren Stufe, der Stufe des Ansichseins an: die Frau ist "das andere das in der Einigkeit sich erhaltende, (…) das Passive und Subjektive", im Unterschied zum Mann, der "das eine (…) das Geistige, 51 Ebd., 106. 52 Ebd., 106. 53 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, XXXV. 54 Simone de Beauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 106. 55 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1995, § 49 Zusatz. 83 als das sich Entzweiende in die für sich seiende Selbstständigkeit und in das Wissen und Wollen der freien Allgemeinheit" verkörpert.56 Hegel stattet die Frauen mit einem niedereren Bewusstsein aus, das "für höhere Wissenschaften, die Philosophie und gewisse Produktionen der Kunst, die ein Allgemeines fordern",57 nicht geschaffen ist. Sie verfügen über eine "Kindernatur",58 erscheinen als inkonsequent und launisch, während der Mann Grundprinzipien entwickeln kann.59 Während Beauvoir in Für eine Moral der Doppelsinnigkeit noch von einem Subjekt ausgeht, das freiwillig oder unfreiwillig durch Unterdrückung in das Stadium des An-sich zurückfallen und dadurch seinen Subjektstatus verlieren kann, verändert sie dieses Konzept im Anderen Geschlecht insofern, als es nunmehr möglich wird, dass bestimmte Menschen, nämlich die Frauen, gar nie einen Subjektstatus erreichen. Eine zentrale Rolle beim Ausschluss der Frauen spielt dabei die hegelsche Herr-KnechtDialektik. Die Herr-Knecht-Dialektik im Anderen Geschlecht Hegel zufolge, schreibt Beauvoir, entsteht das Privileg des Herrn dadurch, dass er, indem er sein Leben im Kampf um Anerkennung aufs Spiel setzt, als Sieger aus dem Kampf hervorgeht und in seiner Überwindung der Todesangst den Geist gegen das Leben durchsetzt.60 Aber auch derjenige, der im Kampf unterliege, sein Leben also nicht genug aufs Spiel gesetzt habe um zu gewinnen und damit als Sklave aus dem Kampf hervorgegangen sei, trage dasselbe Risiko. Es werde also eine Form von Wechselseitigkeit hergestellt, die eine gewisse Gleichheit mit sich bringt, auch wenn sie noch von Unterdrückung gekennzeichnet ist. In diesem Kampf, der immer von Männern geführt wurde, kommt also auch den Sklaven eine gewisse Gleichwertigkeit zu. 56 Ebd., § 166. 57 Ebd., § 166, Zusatz. 58 Ebd., § 165. 59 Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist der des Tieres und der Pflanze: das Tier entspricht mehr dem Charakter des Mannes, die Pflanze mehr dem der Frau, denn sie ist mehr ruhiges Entfalten, das die unbestimmtere Einigkeit der Empfindung zu seinem Prinzip enthält. Stehen Frauen an der Spitze der Regierung so ist der Staat in Gefahr, sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sonder nach zufälliger Neigung und Meinung. Ebd., § 166, Zusatz. 60 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 90. 84 Die Frau dagegen ist ursprünglich ein Existierendes, das das Leben schenkt und sein Leben nicht aufs Spiel setzt. Zwischen ihr und dem Mann hat es nie einen Kampf gegeben.61 Dadurch, dass die Frau nie in diese Form von Wechselseitigkeit eintrat, konnte sie zur absolut Anderen gemacht werden. Beauvoir unterscheidet also zwischen dem "Anderen" und dem "absolut Anderen", der niemals zu einer Form von Wechselseitigkeit gelangen kann. Das Unglück der Frau bestehe darin, dass sie "biologisch zur Wiederholung des Lebens bestimmt"62 sei, während die Frauen von heute fordern, "mit dem gleichen Recht wie die Männer als Existierende anerkannt zu werden und nicht die Existenz dem Leben, den Menschen seiner animalischen Natur unterzuordnen."63 Die Reduktion der Frau auf ihre Reproduktionsfähigkeit erklärt, warum sie sich nie aus diesem ursprünglichen Mitsein heraus in einen Kampf um Anerkennung begeben hat, um sich damit als Subjekt zu setzen. Dadurch, dass sie dem tätigen Mann keine Arbeitsgefährtin war, wurde sie vom menschlichen Mitsein ausgeschlossen.64 Der Knecht kann durch die Arbeit zu Anerkennung gelangen,65 denn die Herr-Knecht-Dialektik hat "ihren Ursprung in der Wechselseitigkeit der Freiheiten."66 Jederzeit kann ein Mann die Souveränität des anderen anzweifeln und bekämpfen. Deshalb steht der Herr auch unter der ständigen Sorge, der Knecht könne sich gegen ihn auflehnen und seine Herrschaft anfechten. Aber nicht nur der Ausschluss von der Arbeit sei der Grund dafür, dass die Frau zur absolut Anderen gemacht wurde, vielmehr sei der schlimmste Fluch, der auf der Frau laste, die Tatsache, "dass sie von den Kriegszügen ausgeschlossen wurde."67 So hätte sie auch nie die Möglichkeit bekommen, durch den Kampf Anerkennung zu erlangen; denn nicht "indem der Mensch Leben schenkt, sondern indem er es einsetzt, hebt sich der Mensch über das Tier. Deshalb wird innerhalb der Menschheit der höchste Rang nicht dem Geschlecht zuerkannt, das gebiert, sondern 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., 91. 64 Ebd., 103. 65 Beauvoirs Hervorhebung der Arbeit als wesentlicher Aspekt der Befreiung trägt stark marxistische Züge. Siehe dazu: Eva Lundgren-Gothlin, Sex & Existence, Hanover and London: Wesleyan University Press 1996, Kapitel III. 66 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 192. 67 Ebd., 89. 85 dem, das tötet."68 Die Fähigkeit, Leben zu schenken, hätte die Frau auf der Stufe des Tieres zurückgehalten und sie nicht dazu veranlasst, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen. Anerkennung erhält also nur derjenige, der das Leben überwindet und den Tod nicht fürchtet. Der Herr ist gegenüber dem Knecht derjenige, der im Kampf sein Leben aufs Spiel setzt, und zwar in dem Sinne, dass er den Tod im Falle einer Niederlage vorzieht, während der Knecht nicht bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, und ein Leben in Knechtschaft dem Tode vorzieht. Die Weiblichkeit hingegen sieht sich mit genau dem entgegengesetzten Problem konfrontiert: sie feiert nicht den Tod als die Überwindung des Lebens, sondern schenkt Leben unter Überwindung des Todes. Die Frau setzt bei jedem Geburtsvorgang sehr wohl ihr Leben aufs Spiel; dennoch wird ihr die entsprechende Anerkennung – zumindest in einem hegelschen Modell einer Kriegerethik – nicht entgegengebracht. Sie schenkt, sie gibt Leben, sie nimmt es nicht. Weit davon entfernt, Anerkennung für die Fähigkeit zur Produktion neuen Lebens zu erhalten, wird diese vielmehr – zumindest in einer Gesellschaft, welche die Überwindung des Lebens höher ansetzt als das Leben selbst – zum Ansatzpunkt für die weibliche Unterdrückung. In der patriarchalen Gesellschaft erfolgt der Ausschluss der Frauen über ihre biologische Fähigkeit, Leben zu schenken. Die Macht und Anerkennung, die der Frau aufgrund ihrer Fähigkeit, Leben zu geben, zukommen müsste, wird ihr im Patriarchat genommen: sie wird zur Reproduktionsmaschine, zu einem Ding degradiert. Sie befindet sich unter der Herrschaft des Mannes, der die Kontrolle über den weiblichen Körper an sich zieht.69 Wir haben es bei Beauvoir also mit zwei verschiedenen Anerkennungsmodellen zu tun, die vom jeweiligen Subjektkonzept abhängig sind: bei dem an Hegel orientierten Subjektkonzept muss man am Kampf um Anerkennung teilnehmen, um Subjekt werden zu können. Ein Ausschluss aus diesem System bedeutet, von sich aus allein nicht die Kraft und Möglichkeit zu haben, den Weg ins System hinein zu erkämpfen. Man kann weder Klage erheben, noch findet man Gehör. Yvanka B. Raynova sieht darin ein "Analogon des lyotardschen Konzepts des Différend (…) Das Opfer will Kläger werden, ist aber von vornherein vom Diskurs des Rechtssprechenden ausgeschlossen. Es scheint, dass es keinen Ausweg 68 Ebd., 90. 69 Beauvoir wird sich allerdings erst viele Jahre nach Erscheinen des Anderen Geschlechts als radikale Feministin verstehen und für Geburtenkontrolle und Abtreibung kämpfen. 86 hat, denn will es auf die Anklage verzichten, bleibt es Sklave, bringt es die Klage ein, wird es ein zweites Mal Opfer. Die Asymmetrie verbleibt."70 Eine Befreiung für die Frau kann daher nur auf einer kollektiven Ebene stattfinden, indem eine Transformation der Gesellschaft stattfindet, wodurch es nunmehr auch den Frauen möglich wird, am Anerkennungsprozess teilzunehmen und damit einen Subjetstatus zu erhalten. Auf der Suche nach den Hintergründen für den Ausschluss der Frauen stößt Beauvoir auf den Mythos der Weiblichkeit. Der Mythos der Weiblichkeit Beauvoir untersucht im Anderen Geschlecht die Rolle der männlichen Vorstellungen und Mythen über die Frau, die als Instrumente des Ausschlusses und der Unterdrückung von den Männern und der patriarchalen Gesellschaft eingesetzt werden. Beauvoir zeigt, dass wenige Mythen so vorteilhaft für die herrschende Kaste gewesen sind, wie der Mythos der Weiblichkeit. Um ihre Vorrechte zu wahren, haben die Männer die gesellschaftliche Trennung von Immanenz und Transzendenz erfunden: "Sie haben nur deshalb eine weibliche Domäne – ein Reich des Lebens, der Immanenz – herstellen wollen, um die Frau darin einzusperren."71 Der Mann berufe sich dabei gerne auf Hegel, der diese beiden getrennten Bereiche durch seine Philosophie legitimiert hat: "seine Beziehungen zu anderen Männern (…) sind durch Werte definiert",72 in Hinblick auf die Frau ist die männliche Moral jedoch eine große Täuschung.73 Die Kunst, die Literatur, die Philosophie seien Versuche, "die Welt neu auf eine menschliche Freiheit, auf die Freiheit des Schöpfers zu gründen. Um ein solches Ansinnen zu nähren, muss man sich zuerst eindeutig als eine Freiheit setzen."74 Die Fähigkeit, sich als autonome Freiheit zu setzen, sei den Frauen aber explizit abgesprochen worden. Um den Frauen zu ermöglichen auch Schöpfer zu werden, müsste nicht nur aufgezeigt werden, welche Ausschlusskriterien gegenüber Frauen in diesen Philosophien enthalten sind, vielmehr müssten die Einschränkungen, die ihnen Frau 70 Yvanka B. Raynova, "Für eine postmoderne Ethik der Gerechtigkeit: Simone de Beauvoir und Jean-Francois Lyotard", in diesem Band, 144. 71 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 92. 72 Ebd., 764. 73 Ebd., 764. 74 Ebd., 877. 87 aufgrund dieser Mythen in Form von Erziehung und restriktiven gesellschaftlichen Vorgaben auferlegt wurden, beseitigt werden.75 Beauvoir spricht hier also explizit davon, dass die Philosophie Hegels einen Ausschluss der Frauen produziert. So sehr die Philosophie Hegels ein Emanzipations- und Veränderungspotential in sich trägt, so sehr stellt sie die Bereiche von Immanenz und Transzendenz einander gegenüber und ermöglicht damit die Legitimation der Herrschaft des Mannes über die Frau. Die Bereiche von Familie-Immanenz und ÖffentlichkeitTranszendenz sind nämlich bei Hegel nicht komplementär, sondern – wie schon gezeigt wurde – hierarchisch angelegt. Den Status eines Subjekts kann man erst durch die Beteiligung am öffentlichen Leben, an der Transzendenz erreichen. Das männliche Individuum muss sich aus der Familie heraus differenzieren, wodurch es zu einem tiefen unlösbaren Konflikt kommt. Hegel schreibt: Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewusstseins in das allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen inneren Feind.76 Beauvoir zeigt, dass die Philosophie Hegels bezüglich des Geschlechterverhältnisses einen unlösbaren Widerspruch in sich trägt. Einerseits könnte Hegels Philosophie als Philosophie der Freiheit schlechthin bezeichnet werden, geht es ihr doch um die stufenweise Realisierung von Freiheit und Transzendenz auf Erden und nicht mehr nur um die Verlagerung der Transzendenz in ein Jenseits. Andererseits wird den Frauen aber generell aufgrund ihrer Natur dieser Zugang zur Transzendenz verwehrt. Tatsächlich bildet die Weiblichkeit – zumindest so wie sie Hegel sieht – in diesem System der Freiheit einen inneren Feind, der dieses System zutiefst gefährdet. Denn diesem Bereich der Weiblichkeit und Immanenz werden alle diejenigen Aufgaben zugewiesen, die für die Erhaltung der Menschheit unabdingbar sind, nämlich die der Reproduktion, der Erziehung, der Fürsorge, der mitmenschlichen Beziehungen, ohne die eine Gesellschaft gar nicht lebensfähig ist. Die Familie bildet somit die Bedingung der Möglichkeit der nächsten Stufe, nämlich derjenigen der bürgerlichen Gesellschaft, die auf dieser Basis aufbaut und sich aus ihr 75 Ebd., 878. 76 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 352. 88 nährt. Da bei Hegel die beiden voneinander getrennten Bereiche der Immanenz und Transzendenz sich durch geschlechtlich bestimmte Aufgaben auszeichnen, ist für ihn die Aufrechterhaltung der essentialistischen Geschlechtlichkeit von zentraler Bedeutung. Der Mythos der Weiblichkeit wird deshalb, so wie Beauvoir zeigt, dazu verwendet, die Frauen in der Familie einzusperren. Dies bringt nämlich einen mehrfachen Nutzen mit sich: erstens ist damit die Versorgung dieses lebenswichtigen Bereichs der Reproduktion gesichert und zweitens gelingt es damit, die Frauen von Anerkennung und Konkurrenz fern zu halten. In diesem Konzept, das also nicht auf Komplementarität und auch nicht auf Wechselseitigkeit aufgebaut ist, stellt der Bereich der Immanenz eine hierarchisch niederere Stufe dar, die mit Weiblichkeit gleichgesetzt wird. Es ist also nicht verwunderlich, dass nicht nur alle Tätigkeiten, die mit diesem Bereich in Zusammenhang stehen, keinen Wert haben, sondern dass vielmehr die Weiblichkeit selbst als etwas angesehen wird, das wertlos ist und überwunden werden muss. Nur durch die nächste Stufe, nur durch den Kampf um Anerkennung in der bürgerlichen Gesellschaft, wird es möglich, einen Subjektstatus zu erreichen. Folgt man dieser Logik, dann muss – um Subjekt werden zu können – die Weiblichkeit aufgegeben werden. Auch wenn sich Beauvoir der Fallen des hegelschen Systems sehr wohl bewusst ist, überträgt sie im Anderen Geschlecht dessen misogyne Tendenzen, indem sie die Natur der Frau, ihre biologische Gegebenheit und die mit der Reproduktion verbundenen Tätigkeiten mit Immanenz gleichsetzt, diese letztendlich abwertet und der Transzendenz und dem Entwurf gegenüberstellt.77 Mütterliche Tätigkeiten, sind nach Beauvoir keine Aktivitäten, sondern natürliche Funktionen: "Kein Entwurf ist darin einbezogen."78Auch auf die Haushaltsführung und sonstige Reproduktionstätigkeiten trifft dies zu: sie halten die Frau in der Wiederholung und in der Immanenz fest. Dadurch geht der Blick darauf verloren, dass auch diese Tätigkeiten menschliche Entwürfe in sich enthalten können und die Transzendenz des Menschen widerspiegeln. Beauvoir folgt damit der Natur77 Iris Young wirft Beauvoir vor, dass sie Menschsein mit Männlichkeit gleichsetze und traditionelle Aktivitäten, wie Mutterschaft und Hausarbeit abwerte. Sie reproduziere mit der Unterscheidung Transzendenz und Immanenz die in der westlichen Tradition verankerten Gegensätze von Natur und Kultur, Freiheit und bloßem Leben. Im Gegensatz zu Beauvoirs "Gleichheitsfeminismus" bejahe nunmehr der "Differenzfeminismus" die Weiblichkeit (Iris Marion Young, "Humanismus, Gynozentrismus und feministische Politik", in Elisabeth List und Herlinde Studer [Hg.], Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, 37-65). 78 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 89. 89 Kultur-Problematik der Moderne: die Moderne, die den Menschen danach beurteilt, was er tut, steht allen Prozessen, die von Natur aus, ohne freien Schöpfungsakt des Menschen geschehen, abwertend, als einer Stufe, die der Überwindung und Beherrschung durch den Menschen bedarf, gegenüber. Heißt dies nun – um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukehren, – dass die Frauen bei Beauvoir zu Opfern der Dialektik werden, oder gibt es ein Konzept der Andersheit, das einen Ausweg ermöglichen würde? Beauvoirs Konzepte von Alterität Beauvoir sucht im Anderen Geschlecht sehr wohl nach einem Ausweg aus dem endlosen Kampf um Anerkennung, aus "der unerbittlichen Dialektik von Herr und Knecht",79 bei der immer ein Teil als Subjekt (als Herr) oder als Objekt (als Knecht) hervorgeht, wobei der Knecht dann wieder in einem neuen Kampf das Verhältnis zu seinen Gunsten umkehren kann. Sie sucht nach einer Möglichkeit, als Subjekt einem anderen Subjekt begegnen zu können, ohne sich diesem sofort entgegensetzen zu müssen. Diese Möglichkeit sieht sie in der Freundschaft, in der dieses Drama des ewigen Kampfes "durch das freie Sicherkennen jedes Individuums im anderen überwunden werden"80 könnte. Die Freundschaft, die in der Anerkennung der Freiheiten praktisch verwirklicht werde, sei jedoch keine leichte Tugend, sondern die höchste Vollendung des Menschen. Bei der Freundschaft, betont Beauvoir, müsse es sich um eine "wirkliche Alterität"81 handeln: Ich anerkenne, dass der andere ein Bewusstsein hat, das meinem ebenbürtig ist, dass er auch eine Freiheit, eine Transzendenz ist, und versuche nicht, mich selbst als einziges souveränes Bewusstsein zu setzen. Die Andersheit wird nicht als Bedrohung angesehen und in einer Gleichheit aufgehoben, sondern ermöglicht mir überhaupt erst, dass ich selbst zu meiner eigenen Freiheit finden kann. Leider arbeitet Beauvoir dieses Konzept nicht weiter aus, sondern weist nur in einigen wenigen Zeilen am Beginn des Mythoskapitels darauf hin, dass der Mensch diese moralische Haltung nur erreichen kann, wenn er "auf das bloße Sein verzichtet und seine Existenz auf sich nimmt."82 Beauvoir entwickelt im Anderen Geschlecht also drei Formen von Alterität, die jeweils verschiedene Konsequenzen für das Geschlechterverhältnisses nach sich ziehen. 79 Ebd., 192. 80 Ebd., 191. 81 Ebd., 190. 82 Ebd., 191. 90 Die erste Form ist die Alterität als das absolut Andere, das sich in keinerlei wie auch immer geartetem Bezug zum Anderen befindet, da es von dem Einen gesetzt wird und nur in Bezug zu diesem definiert wird, ohne seinerseits dieses Verhältnis umkehren zu können. Der größte und ausführlichste Teil des Anderen Geschlechts beschreibt diese Situation der Frau, die als Folge eines historischen Prozesses angesehen wird, in der die Frau als relatives Wesen konstituiert und eine Weiblichkeit hervorgebracht wurde, die als historisch wie gesellschaftlich hergestellte Minderwertigkeit gilt. Es geht darum, die Frau aus dieser Fremdbestimmung zu befreien, sie nicht mehr negativ zu bestimmen, so wie sie vom Mann gesehen und konstituiert wird, sondern positiv, so wie sie "für sich" ist. Aus eigener Kraft kann dies die einzelne Frau nicht bewerkstelligen, es muss zu einer kollektiven Befreiung kommen. Die zweite Form ist die Alterität als konstituierendes Merkmal von Identität: das Subjekt kann sich nur setzen, indem es sich einem bestehenden Anderen entgegensetzt und dieses Andere, das die selben Ansprüche stellt, seiner Herrschaft unterzuordnen versucht. Im Kampf um Anerkennung wird nun nach einer gemeinsamen Ebene gesucht, in der die Andersheit zugunsten einer Gleichheit aufgehoben werden kann, da die Andersheit eine grundsätzliche Bedrohung darstellt. Erst die Teilnahme am Anerkennungsprozess ermöglicht es ein vollwertiges Subjekt zu werden. Dieses Konzept bestimmt Beauvoirs Herr-Knecht-Dialektik. Hinsichtlich der Frauen beinhaltet es die Forderung, sie nunmehr am Anerkennungsprozess teilnehmen zu lassen und ihnen damit zu ermöglichen vollwertige Subjekte zu werden. Die grundsätzliche Problematik dieses Konzepts besteht in der Frage, wie denn nun mit der Andersheit der Frau umgegangen werden soll? Wird es, um dem Reich der Freiheit in der gegebenen Welt zum Durchbruch zu verhelfen, notwendig sein, "dass Männer und Frauen über ihre natürlichen Unterschiede hinaus unmissverständlich ihre Brüderlichkeit behaupten", wodurch eine prinzipielle Orientierung an männlichen Werten in Aussicht gestellt wird?83 Die dritte Form der Alterität wäre die Freundschaft als wechselseitige Anerkennung von konkreter Andersheit durch gleichwertige und ebenbürtige Subjekte. Am Ende des Anderen Geschlechts spricht Beauvoir davon, dass, wenn Mann und Frau einander als Subjekte anerkennen werden, "jeder doch für den anderen ein anderer bleiben"84 wird. Erst dann wird sich die authentische Bedeutung dessen offenbaren was es 83 Ebd., 900. 84 Ebd., 899. 91 heißt ein Mann und eine Frau zu sein. Erst dann wird sich auch das wahre Gesicht der Geschlechterdifferenz zeigen, nämlich ob es sich dabei um ein grundsätzliches Herrschaftsverhältnis handelt, oder ob eine freie Entfaltung trotz der gesellschaftlichen Differenzierung nach Geschlechtern möglich ist. Den Anderen in seiner Andersheit zu belassen und diese nicht auf Identität zurückführen zu müssen, stellt kein bevorrechtetes Unterfangen einer Philosophie der Geschlechterdifferenz dar, sondern drückt das Grundprinzip des Existentialismus aus, die Differenz nicht, wie im hegelschen System aufzuheben, sondern sie als Grundzug der Existenz (an) zu erkennen. In diesem Sinne könnte jeder den Anderen in seiner Andersheit – und damit in seiner Selbstheit, so wie Seyla Benhabib es formuliert hat – anerkennen: es würde bedeuten (an) zu erkennen, dass das Frausein an die Ambiguität der Existenz gekoppelt ist und nicht an das biologische Geschlecht.85 Während bei den beiden ersten Formen der Alterität Weiblichkeit zwangsläufig als etwas Minderwertiges oder als etwas zu Überwindendes angesehen wird, beinhaltet die dritte Form der Alterität zumindest die Möglichkeit, sich bewusst für oder gegen einen expliziten Weiblichkeitsentwurf zu entscheiden und nach neuen Lebensformen jenseits der Geschlechterdichotomie zu suchen. (Institut für Axiologische Forschungen, Wien / Institut für Philosophie, Universität Wien) 85 Mehr dazu in Susanne Moser, Freiheit und Anerkennung bei Simone de Beauvoir, 181-241. 92