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»Städte als Sozialfiguren«

2014

Städte tragen Namen. Namen evozieren Vorstellungen von einem Ganzen, einer Einheit, etwas Individuellem. Etwas zu benennen heißt, nicht nur Unterscheidungen und Abstände zu markieren, sondern auch: Eigenschaften zuzuschreiben. Die dem Alltagsbewusstsein geläufigen Formen der Zuschreibung bestimmter Züge sind vielfältig. Anleihen an Technik, Natur oder spezifische Produktionsverfahren geben der Stadt mal als »Maschine«, mal als »Moloch«, mal als »melting pot« ihre besondere Gestalt. Viel alltäglicher freilich ist jener Typus der Fiktionalisierung, der darin besteht, Städte über menschliche Attribute »gefügig« und ihre Charaktereigenschaften mittels tradierbarer Sinnbilder verfügbar zu machen. Von der »Hure Babylon« bis zur »city that never sleeps«, von der »Heldenstadt« bis zur »kranken Stadt« – immer geht es darum, den »Charakter«, Eigenschaften oder jedenfalls Merkmale einer bestimmten Stadt zu fassen. Die Personalisierung der Stadt ist, wie schon Wohl und Strauss (1958) beobachtet haben, eine ganz alltägliche Praxis, die genau deshalb als soziales Phänomen, als sozialer Tatbestand soziologisch ernst genommen zu werden verdient. »The entire complex of urban life can be thought of as a person rather than as a distinctive place and the city may be endowed with a personality – or to use common parlance – a character of its own. Like a person, the city then acquires a biography and a reputation« (Wohl/Strauss 1958: 528). Was also wäre wenn?

Städte als Sozialfiguren Helmuth Berking, Sybille Frank, Johannes Marent, Ralph Richter Zum Thema – Der Rockstar ‒ Die Diva ‒ Der Opportunist ‒ Der Authentische ‒ Der fiktive Charakter der Stadt Städte tragen Namen. Namen evozieren Vorstellungen von einem Ganzen, einer Einheit, etwas Individuellem. Etwas zu benennen heißt, nicht nur Unterscheidungen und Abstände zu markieren, sondern auch: Eigenschaften zuzuschreiben. Die dem Alltagsbewusstsein geläufigen Formen der Zuschreibung bestimmter Züge sind vielfältig. Anleihen an Technik, Natur oder spezifische Produktionsverfahren geben der Stadt mal als »Maschine«, mal als »Moloch«, mal als »melting pot« ihre besondere Gestalt. Viel alltäglicher freilich ist jener Typus der Fiktionalisierung, der darin besteht, Städte über menschliche Attribute »gefügig« und ihre Charaktereigenschaften mittels tradierbarer Sinnbilder verfügbar zu machen. Von der »Hure Babylon« bis zur »city that never sleeps«, von der »Heldenstadt« bis zur »kranken Stadt« – immer geht es darum, den »Charakter«, Eigenschaften oder jedenfalls Merkmale einer bestimmten Stadt zu fassen. Die Personalisierung der Stadt ist, wie schon Wohl und Strauss (1958) beobachtet haben, eine ganz alltägliche Praxis, die genau deshalb als soziales Phänomen, als sozialer Tatbestand soziologisch ernst genommen zu werden verdient. »The entire complex of urban life can be thought of as a person rather than as a distinctive place and the city may be endowed with a personality – or to use common parlance – a character of its own. Like a person, the city then acquires a biography and a reputation« (Wohl/Strauss 1958: 528). Was also wäre wenn? »Wenn Sie sich vorstellen, die Stadt X wäre eine Person: Was für eine Person könnte das sein? Wie würden Sie diese Person charakterisieren?« Diese Frage wurde als Einstieg in Interviews mit 24 Stadtmarketingexperten gewählt, die wir 2011 und 2012 in Birmingham, Dortmund, Frankfurt 336 STÄDTE UNTERSCHEIDEN LERNEN am Main und Glasgow durchgeführt haben.141 Bei der Einstiegsfrage handelte es sich um ein assoziatives Experiment. Da alle Beteiligten professionell damit beschäftigt waren, das Besondere ihrer jeweiligen Stadt in Szene zu setzen, ließen sich stadtspezifische Wissensbestände, zentrale Erzählmotive und erprobte Storylines zweifellos voraussetzen. Die Aufforderung zur Personalisierung der jeweiligen Stadt sollte unsere Gesprächspartner irritieren und sie in eine Situation versetzen, die die Reduplikation der bekannten Stadtbeschreibungen nicht ohne weiteres zuließ. Stattdessen wurden die Interviewpartner dazu genötigt, ein subjektives Bild der Stadt, in der sie arbeiteten, in actu zu konstruieren. Dabei stellten sich viele Fragen: Wie werden die Interviewpartner die Aufforderung aufnehmen? Wie umfangreich werden sie antworten? Wie kreativ werden die »Portraits« ausfallen? Und vor allem: Werden sich markante Unterschiede zwischen den dann vorgetragenen Charakterisierungen der Städte auffinden lassen? In der Interviewsituation stellte sich heraus, dass sich die Interviewpartner in Frankfurt am Main und in Dortmund mit der genannten Frage um einiges leichter taten als jene in Birmingham und Glasgow. Während die meisten Befragten in Deutschland unverzüglich eine Person mit einem bestimmten Beruf, einer bestimmten Familiensituation und mit spezifischen Dispositionen entwarfen, fiel den britischen Befragten die Personalisierung der Städte deutlich schwerer. Die Zumutung, ein solches Gedankenexperiment vornehmen zu sollen, irritierte unsere Gesprächspartner augenscheinlich stark. Die Beschreibungen fielen entsprechend zaghaft und weniger umfangreich aus. Man musste nachhelfen mit Fragen wie: »Wie alt ist die Person?«, oder: »Ist sie männlich oder weiblich?«. Bei der Auswertung des Materials aber wurde schnell deutlich, dass sich in Deutschland wie in Großbritannien die Assoziationen und Vorstellungen, die die Gesprächspartner mit ihrer Stadt verbanden, in der jeweiligen Stadt —————— 141 Fünf dieser Experten wurden in Birmingham, fünf in Glasgow, neun in Dortmund sowie fünf in Frankfurt am Main befragt. Auskunft gaben jeweils die Leiter der zentralen Stadtmarketingorganisationen (in Birmingham drei Organisationen, in Glasgow vier, in Dortmund sechs und in Frankfurt vier) sowie – wenn möglich – jeweils ein Mitarbeiter der Kreativabteilung. Von den Interviews selbst, die sich thematisch auf Organisationsund Kommunikationsstrukturen, auf Akteurskonstellationen und professionelle Wissensbestände bezogen, werden in diesem Beitrag nur die Eingangsstatements zur Stadt als Person sowie die Praktiken – die Art des Sprechens über die eigene Arbeit, die Art des Organisierens etc. – berücksichtigt; letzteres in der Absicht, mögliche Homologien zwischen dem zugeschriebenen Charakter der Stadt als Person und den Praktiken der Akteure des Stadtmarketings zu erkennen. STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN 337 ähnelten. Dementsprechend konnte für jede Stadt ein mehr oder weniger kohärenter fiktiver Stadtcharakter gebildet werden. Die folgenden Ausführungen werden von Verdichtungsleistungen auf zwei Ebenen angeleitet. Die erste Ebene adressiert die Frage der Deutung der intersubjektiv geteilten Vorstellungen über typische Eigenschaften der Stadt. Diese Vorstellungen über die Stadt resultieren erkennbar nicht nur aus den baulich-technischen Arrangements oder den in die Routinewirklichkeit der städtischen Alltagswelt eingebetteten Praktiken (Reckwitz 2003; Schmidt 2012), sondern wesentlich auch aus medial vermittelten, zumeist als Fortschreibung von Traditionen legitimierten Erzählungen. Mit der analytischen Unterscheidung von »built environment and imagined environment« (Donald 1999) öffnet sich der Blick auf das »städtische Imaginäre« (Lindner 2006) als einen spezifischen Modus der Wirklichkeitskonstruktion. Das städtische Imaginäre als die Gesamtheit der zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Vorstellungen von der Stadt (Lindner 2008: 86) formt nicht nur soziale Praktiken und Dispositionen, es prägt auch lokalspezifische Formate, Bilder, Narrative, mittels derer die Bewohner ihrer Stadt als Sinnstruktur habhaft werden. Vorstellungen über Städte resultieren nicht nur, aber immer auch aus rekursiven Ereignissen, die in stetem Rückgriff aufeinander eine je spezifische »kumulative Textur« (Suttles 1984; Lindner 2008) und damit ein »Webmuster« ausbilden, das den Charakter, genauer, die für diese Stadt typischen charakterologischen Zuschreibungen artikuliert und verstetigt. In dieser Perspektivierung lässt sich das städtische Imaginäre zugleich als Resultat und Voraussetzung diskursiver Verdichtungsprozesse situieren. In dem Maße nun, in dem unsere professionell mit städtischer Sinnproduktion befassten Interviewpartner für ihre jeweilige Stadt ähnliche oder vergleichbare charakterologische Eigenschaften aufrufen, geben sich, so die These, Konturen eines städtischen Imaginären zu erkennen. Die zweite Ebene der Verdichtung ist methodischer Art. Verdichtung als methodische Operation heißt Typenbildung, die rationale, auf Kohärenz zielende Steigerung der empirischen Befunde. Das Gedankenexperiment, die Stadt als Person zu beschreiben, findet einen Fluchtpunkt darin, die sozialen Subjektpositionen der spontan entworfenen Stadtcharaktere zu (re-)konstruieren, die hinter den Äußerungen unserer Interviewpartner stehen (Butler 2001; Reckwitz 2008). »[I]ndem ein Individuum von der Gesellschaft benannt wird und eine Subjektposition zugewiesen bekommt«, wird ihm neben »sozialer Sichtbarkeit« auch eine »gesellschaft- 338 STÄDTE UNTERSCHEIDEN LERNEN lich[e] Rolle« und ein sozialer Ort zuerkannt (Müller 2011). Ein weiterer Fluchtpunkt besteht darin, Subjektposition und charakterologische Zuschreibung in den Subjektivierungen der Stadt zu einem Typus zu verdichten und eine »Sozialfigur« (Moebius/Schroer 2010) zu entwerfen. Sozialfiguren werden als »zeitgebundene historische Gestalten« (ebd.: 8) verstanden, die Auskunft sowohl über die typischen Subjektpositionen und die Praktiken dieser Gestalten als auch über ihren gesellschaftlichen Stellenwert geben. Dies ist der Rahmen, in dem im Folgenden jede der von uns untersuchten vier Städte ‒ unter Rückgriff auf das, was unsere Interviewpartner sagten ‒ als Person beschrieben, die Beschreibungen als Sozialfigur typisiert und die so gewonnenen Deutungen für die Spezifizierung des »Charakters« der Stadt (im Sinne von Wohl/Strauss 1958) genutzt werden sollen. Wir stellen die Ergebnisse zunächst ohne die Nennung des Stadtnamens vor, um die Eigenschaften deutlich und auf Seiten der Leser ohne Zusatzassoziationen hervortreten zu lassen. Am Ende der Abschnitte werden die Zuordnungen der von uns gewählten Namens-Platzhalter (»W«, »X«, »Y« und »Z«) dann jeweils aufgelöst. Die grundlegende These lautet, dass die imaginierten Stadt-Personen keinesfalls willkürliche Phantasieprodukte sind, sondern Alltagsgewissheiten darüber kommunizieren, was in dieser Stadt opportun ist und wie »man« dort bestimmte Dinge macht. In diesem Zusammenhang drängt sich die reizvolle Folgefrage auf, ob und in welchem Maße die normativen Implikationen und Handlungsanweisungen, die in den Beschreibungen der »Stadt als Person« artikuliert werden, mit den Praktiken und Strategien derjenigen korrespondieren, die für die Inszenierung und Vermarktung d(ies)er Stadt verantwortlich zeichnen, also mit denen der Akteure des Stadtmarketings selber. Dieser Frage wird dann jeweils in einem dritten Schritt nachgegangen werden.142 —————— 142 Freilich wäre auch die Umkehrung dieses Beziehungsgefüges zu bedenken, wodurch dem Stadtmarketing die definierende Position zur Charakterisierung der Stadt als Person zugerechnet werden müsste. Dieses Verhältnis zu erhellen, das heißt den Einfluss des Stadtmarketings auf den städtischen Vorstellungsraum zu ermessen, benötigte jedoch eine weit umfassendere Untersuchung als die hier von uns durchgeführte. STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN 339 Der Rockstar Eigenschaften Mit der Charakterisierung von W taten sich die Interviewpartner schwer. Nur einer konnte W ohne Umschweife beschreiben, alle anderen zögerten und benötigten Zeit zum Nachdenken. Die Versatzstücke ergeben dennoch ein klares Bild. Die Person W ist Ende Dreißig, Anfang Vierzig (W_Int_Stama3, Stama5)143. Sie gehört keiner Minderheit an, ist gegenüber verschiedenen Kulturen und sexuellen Orientierungen tolerant (W_Int_Stama5) und gilt als kosmopolitisch (W_Int_Stama1, Stama5). Hinsichtlich der Frage nach dem Geschlecht wollten sich die Gesprächspartner nicht festlegen. Allerdings nutzten sie durchgängig die männliche Form. W wird daher als Mann gefasst, auch wenn das nicht mit Sicherheit feststeht. W hat Kinder und wird als jemand beschrieben, der mit sich im Reinen ist (W_Int_Stama5). Die explizite Erwähnung persönlicher Zufriedenheit lässt den Schluss zu, dass es auch Phasen des Selbstzweifels und biographischer Irrungen gegeben hat. W ist kein Hinterbänkler oder Duckmäuser: »[He is] prepared at a party to stand up and sing a song« (W_Int_Stama5). Er hat Selbstvertrauen und sagt, was er denkt (W_Int_Stama4). Manchen gilt W deshalb als laut, dreist und frech (W_Int_Stama5). Das ist jedoch nur die eine Seite. Auf der anderen Seite werden ihm Herzlichkeit, Wärme, Aufrichtigkeit und Humor attestiert (W_Int_Stama1, Stama4, Stama5). W nimmt das Leben nicht zu ernst und kann auch über sich selbst lachen. Die Befragten sehen W als Team-Player, als jemanden, dem es wichtig ist, zur Verfolgung von Zielen mit anderen an einem Strang zu ziehen (W_Int_Stama1, Stama3, Stama4). Sein besonderes Faible ist die Musik (W_Int_Stama1, Stama5). Ein Gesprächspartner schildert W als sehr guten Musiker, der mit Anfang Zwanzig große Erfolge feierte. Nach einer langen und schwierigen Durststrecke habe W jüngst ein neues Album herausgebracht, das bei Kritikern Anerkennung fand (W_Int_Stama3). Auch über die eigene Musik hinaus ist W kunstinteressiert. Das Interesse liegt eher bei moderner Musik und bildender Kunst als bei klassischen Kunstformen wie Ballett und Oper, die W als zu distinguiert empfindet: »[W] likes things to be closer to the ground, closer to who [he is].« (W_Int_Stama5) W wird nachgesagt, dass er Stil —————— 143 Aus Darstellungsgründen werden die Belege aus den vier Städten verschlüsselt. Am Ende des Beitrags findet sich der Schlüssel. 340 STÄDTE UNTERSCHEIDEN LERNEN habe (W_Int_Stama1). W selbst ist das allerdings nicht so wichtig (W_Int_Stama25). Sozialfigur W ist Musiker. Als junger Erwachsener hatte er einige große Hits, um dann sang- und klanglos von der Bildfläche zu verschwinden. Heute arbeitet W an seinem Comeback. Er ist nicht im klassischen Fach zu Hause, denn klassische Musik empfindet W als bürgerlich und elitär. Über das Genre, in dem er stattdessen arbeitet, wird in den Interviews nichts mitgeteilt. Angesichts der Erwähnung früherer Hits und von Ws eher bodenständigem Charakter soll angenommen werden, dass W Rockmusiker ist. Obwohl sich W als Künstler klassenkulturell nicht wirklich verortet, hat er das Gefühl, dass der rauhe Klang und die alltagsnahen Songtexte der Rockmusik zu seiner nichtbürgerlichen Herkunft passen. Auch drückt sich in der Rockmusik für ihn immer noch etwas Gegenkulturelles aus, etwas, das ihn an die rebellische Zeit seiner Jugend und frühen Erwachsenenjahre erinnert (Kleiner 2010: 312). W verfügt über Selbstvertrauen und hat den Ehrgeiz, den Ton anzugeben. Er übernimmt in seiner Band deshalb die Rolle des Bandleaders. Seine direkte und humorvolle Art verleihen W eine gewisse performative Kraft und Bühnenpräsenz. Als Künstler, der aus nichtbürgerlichen Verhältnissen kommt, hat sich W lange Zeit den Konventionen seines musikalischen Faches und den Erwartungen seines Publikums verpflichtet gefühlt (Bourdieu 1987 [1979]: 23). Er hat den Rockrebellen verkörpert, sich aber nach und nach von dieser Rolle zu emanzipieren versucht. Maßstab für sein Publikum waren allerdings weiterhin seine frühen Erfolge, auch wenn er inhaltlich neue Wege suchte. Der bald folgende Aufmerksamkeitsentzug und der Absturz in die banale Welt des Alltagsmenschen führten zur Flucht in den Alkohol: »Wen niemand mehr sehen will, kann nicht länger ein Star sein. […] Die schlimmste Gefahr, die dem Star droht, ist das Vergessenwerden« (Schroer 2010: 382). W verkam körperlich und mental; Trunksucht und Gewaltexzesse schufen keine neue Anerkennung. Sein Publikum kehrte W den Rücken. Während Ws frühe Erfolge viel mit Talent und seinem persönlichen Lebensgefühl zu tun hatten, überlässt W heute nichts mehr dem Zufall. Der jugendliche Rockrebell ist Geschichte. Auf seine frühen Erfolge angesprochen, antwortet W: »Well, you have to not look back« STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN 341 (W_Int_Stama5). In Bezug auf das Comeback, an dem er seit einigen Jahren arbeitet, vertraut er seinem Management – auch wenn die Rolle, die dieses für ihn entworfen hat, nicht in allen Details zu ihm passt. So wird W als stilsichere Persönlichkeit präsentiert, obwohl er stilvolles Auftreten nicht zu seinen vorrangigen Eigenschaften zählt. Als postmoderner Künstler bereiten ihm Differenzen zwischen Fakt und Fiktion jedoch wenig Kopfzerbrechen (Borgstedt 2008: 53). Es ist ihm klar, dass Talent nur die eine Seite der Medaille ist, und dass es nunmehr darauf ankommt, sich als Künstler nach allen Regeln der (Werbe-)Kunst in Szene zu setzen, um beim Publikum noch einmal anzukommen. Die wirkliche Kunst besteht heute darin, Wünsche und Nachfragen des Publikums zu erkennen und zu bedienen (Reckwitz 2010: 255). Praktiken Die Person W ist das Vorstellungsbild, das unsere Befragten von der Stadt Glasgow entwerfen. Interessant ist, dass sich neben den einander ähnelnden Beschreibungen der fiktiven Stadtpersönlichkeiten auch deutliche Korrespondenzen zwischen den Charakterisierungen der Stadt Glasgow einerseits und den berichteten Praktiken des Stadtmarketing andererseits zeigen. Selbst Eigenheiten im Gesprächsverhalten weisen Ähnlichkeiten mit der beschriebenen Person auf. Ein zentrales Element ist der Humor, den alle Befragten als Glasgower Charakteristikum nennen. Besonders im Gespräch mit den zwei führenden Managern des Glasgower Stadtmarketing waren Witz und Ironie die Würze der Informationspolitik. So wurden die an den Bürowänden aufgehängten Fotos der Konkurrenzstädte nicht nur verbal, sondern auch mit Fäusten traktiert. »Every day I want to beat this, I want to beat this, I want to beat London, I want to beat Liverpool, I want to beat Edinburgh, I want to beat Birmingham, I want to beat Manchester, every day, ok?« (W_Int_Stama1) Auch die Begründung für den Slogan »Glasgow: Scotland with style« als Markenkern der für ihren Regenreichtum bekannten schottischen Stadt belegt Sinn für Humor, wenn der Stil Glasgows augenzwinkernd mit dem »style of the experience that you get when you walk about the city, in the blazing hot sunshine« (W_Int_Stama1) erklärt wird. Glasgow als einstiges »Workhouse of the World« (Schulze-Marmeling 1996: 207) ist passé. Das neue Glasgow setzt auf culture-led regeneration und tertiäre Ökonomie (Berking/Frank 2010). Ähnlich wie das Management 342 STÄDTE UNTERSCHEIDEN LERNEN eines Stars darüber wacht, dass die Auftritte zu dem Image passen, das öffentlich präsentiert wird, achtet das City Marketing Bureau auf die Passfähigkeit von Events und Kongressen zur Glasgower Markenidentität: »An event has to fit the positioning of the city. So when you are looking at creating an event or growing an event, building an event, buying an event, you have to have one that has a strategic fit in the positioning of Glasgow. Otherwise it would send messages out that […] conflict with the message you are trying to get out, ok?« (W_Int_Stama1). Fragt man danach, weshalb Glasgow solche Anstrengungen unternimmt, dann wird deutlich, dass es neben dem wirtschaftlichen Erfolg auch um die Rückeroberung der Position und der Bedeutung geht, die man in der Vergangenheit schon einmal hatte: »the things that allowed us to become a great industrial city surely must allow us to become great in the industries of the future« (W_Int_Stama5). So wie der Entzug von Aufmerksamkeit eine der Triebkräfte für Absturz und Comeback des Künstlers ist (Schroer 2010), ist Glasgows einstige herausgehobene ökonomische Stellung die Hintergrundfolie aller Marketinganstrengungen. Die Sehnsucht nach Größe ist nicht gestillt: »We are hungry to win!« (W_Int_Stama1). Diese Erfolgsorientierung liefert auch eine Erklärung dafür, weshalb sich Glasgow im Wettbewerb um Kongresse und Events nicht an anderen Städten mit regionaler Bedeutung orientiert, sondern an Hauptstädten wie London oder Berlin. Von außen mag das manchmal wie Größenwahn erscheinen, aber in Glasgow glauben die Stadtmarketingexperten fest daran, dass durch Zuversicht, Fleiß, Talent und Professionalität ein grandioses Comeback gelingen kann. Die Subjektposition, die in der Sozialfigur des Stars (Schroer 2010) aufgehoben ist, konnotiert gleichsam alle mit der kulturellen Wende der 1970er Jahre verbundenen Orientierungen und Handlungsmaximen: von der performativen Kompetenz, der Ästhetisierung und Stilisierung des eigenen Lebens bis hin zum ökonomistisch gerahmten Kreativitätsimperativ (Reckwitz 2012b). Doch man täusche sich nicht. Die »Biographie« der Stadt als Person ist gebrochen. Glasgow ist kein Rockstar (mehr), sondern auf dem mühseligen Weg des Comeback. So schleichen sich immer wieder Vergangenheiten als Verhaltensdispositionen ein – Herzlichkeit, Wärme, Humor, Aufrichtigkeit Teamgeist, aber auch Trunksucht und Rauflust –, die auf den klassenkulturellen Hintergrund einer durch die Schwerindustrie geprägten Arbeiterstadt verweisen. Der einst gefeierte Rockmusiker mag hier seine Wurzeln finden, die Inszenierung seines Comeback aber folgt STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN 343 einem neuen kulturellen Skript, das einen gehobenen (Lebens-)Stil in den Mittelpunkt stellt und das W von seinem Management vorgegeben wird. Die Diva Eigenschaften X wird als attraktive, erotische Frau beschrieben und ihr Alter zwischen 38 und 44 Jahren geschätzt (X_Int_Stama1, Stama2). Sie ist eine »internationale Person« (X_Int_Stama3), die drei bis vier Sprachen spricht. Die Sprachkompetenz ist auf die Familiensituation zurückzuführen: X ist das Kind »verschiedener Eltern« (X_Int_Stama3) aus unterschiedlichen Kulturen. Ihr Sozialstatus ist im »guten Bürgertum« angesiedelt (X_Int_Stama1). Sie ist »keine Millionärin«, jedoch erlaubt ihr ihre Erwerbssituation viele »Freiheiten« (X_Int_Stama1). X ist kinderlos und unverheiratet (X_Int_Stama1). Dabei handelt es sich keineswegs um ein »Schicksal«, sondern um eine aus Überzeugung gewählte Lebensform. X richtet sich gegen Konventionen. Nichts liegt ihr ferner als ein Leben in geregelten Bahnen. X ist eine Frau mit einem »guten Job« (X_Int_Stama1), die in der Öffentlichkeit steht (X_Int_Stama1, Stama4). Ständig trifft sie sich mit wichtigen Personen aus der Bankenund Finanzwelt, der Politik, der Industrie und den Medien (X_Int_Stama1). Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Freunden und Geschäftspartnern. Da sie sich ständig auf Neues einlässt und häufige projektbezogene Reisen normal sind, ist an ein geregeltes Familienleben nicht zu denken. Ihre Selbstverwirklichung findet X in ihrer Erwerbsarbeit. Überhaupt trennt sie nicht zwischen Privatem und Geschäftlichem. Ihr Beruf ist ihr Leben, und sie ist ihr Beruf. X wird als »zwiegespaltener Charakter« (X_Int_Stama1), als »multiple Persönlichkeit« (X_Int_Stama5), als »vielfältige Person« (X_Int_Stama2) und als »Diva« porträtiert (X_Int_Stama3). Sie ist sehr dominant, selbstbewusst und tritt »stark auf« (X_Int_Stama1, Stama3). Viele finden sie sogar arrogant. Sie scheint sich nicht um die anderen zu kümmern und wirkt ganz auf sich selbst fixiert. Jene Freunde, die sie besser kennen, wissen jedoch, dass sie die Aufmerksamkeit braucht und sucht. Sie ist ständig in der Öffentlichkeit (X_Int_Stama1). Nichts erfüllt X mehr, als von anderen begehrt und/oder gefürchtet zu werden.