Städte als Sozialfiguren
Helmuth Berking, Sybille Frank, Johannes Marent, Ralph Richter
Zum Thema – Der Rockstar ‒ Die Diva ‒ Der Opportunist ‒ Der Authentische ‒
Der fiktive Charakter der Stadt
Städte tragen Namen. Namen evozieren Vorstellungen von einem Ganzen,
einer Einheit, etwas Individuellem. Etwas zu benennen heißt, nicht nur
Unterscheidungen und Abstände zu markieren, sondern auch: Eigenschaften zuzuschreiben. Die dem Alltagsbewusstsein geläufigen Formen
der Zuschreibung bestimmter Züge sind vielfältig. Anleihen an Technik,
Natur oder spezifische Produktionsverfahren geben der Stadt mal als »Maschine«, mal als »Moloch«, mal als »melting pot« ihre besondere Gestalt.
Viel alltäglicher freilich ist jener Typus der Fiktionalisierung, der darin besteht, Städte über menschliche Attribute »gefügig« und ihre Charaktereigenschaften mittels tradierbarer Sinnbilder verfügbar zu machen. Von
der »Hure Babylon« bis zur »city that never sleeps«, von der »Heldenstadt«
bis zur »kranken Stadt« – immer geht es darum, den »Charakter«, Eigenschaften oder jedenfalls Merkmale einer bestimmten Stadt zu fassen. Die
Personalisierung der Stadt ist, wie schon Wohl und Strauss (1958) beobachtet haben, eine ganz alltägliche Praxis, die genau deshalb als soziales
Phänomen, als sozialer Tatbestand soziologisch ernst genommen zu werden verdient. »The entire complex of urban life can be thought of as a
person rather than as a distinctive place and the city may be endowed with
a personality – or to use common parlance – a character of its own. Like a
person, the city then acquires a biography and a reputation« (Wohl/Strauss
1958: 528). Was also wäre wenn?
»Wenn Sie sich vorstellen, die Stadt X wäre eine Person: Was für eine
Person könnte das sein? Wie würden Sie diese Person charakterisieren?«
Diese Frage wurde als Einstieg in Interviews mit 24 Stadtmarketingexperten gewählt, die wir 2011 und 2012 in Birmingham, Dortmund, Frankfurt
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am Main und Glasgow durchgeführt haben.141 Bei der Einstiegsfrage handelte es sich um ein assoziatives Experiment. Da alle Beteiligten professionell damit beschäftigt waren, das Besondere ihrer jeweiligen Stadt in Szene
zu setzen, ließen sich stadtspezifische Wissensbestände, zentrale Erzählmotive und erprobte Storylines zweifellos voraussetzen. Die Aufforderung
zur Personalisierung der jeweiligen Stadt sollte unsere Gesprächspartner
irritieren und sie in eine Situation versetzen, die die Reduplikation der
bekannten Stadtbeschreibungen nicht ohne weiteres zuließ. Stattdessen
wurden die Interviewpartner dazu genötigt, ein subjektives Bild der Stadt,
in der sie arbeiteten, in actu zu konstruieren. Dabei stellten sich viele Fragen: Wie werden die Interviewpartner die Aufforderung aufnehmen? Wie
umfangreich werden sie antworten? Wie kreativ werden die »Portraits«
ausfallen? Und vor allem: Werden sich markante Unterschiede zwischen
den dann vorgetragenen Charakterisierungen der Städte auffinden lassen?
In der Interviewsituation stellte sich heraus, dass sich die Interviewpartner in Frankfurt am Main und in Dortmund mit der genannten Frage
um einiges leichter taten als jene in Birmingham und Glasgow. Während
die meisten Befragten in Deutschland unverzüglich eine Person mit einem
bestimmten Beruf, einer bestimmten Familiensituation und mit spezifischen Dispositionen entwarfen, fiel den britischen Befragten die Personalisierung der Städte deutlich schwerer. Die Zumutung, ein solches Gedankenexperiment vornehmen zu sollen, irritierte unsere Gesprächspartner
augenscheinlich stark. Die Beschreibungen fielen entsprechend zaghaft
und weniger umfangreich aus. Man musste nachhelfen mit Fragen wie:
»Wie alt ist die Person?«, oder: »Ist sie männlich oder weiblich?«. Bei der
Auswertung des Materials aber wurde schnell deutlich, dass sich in
Deutschland wie in Großbritannien die Assoziationen und Vorstellungen,
die die Gesprächspartner mit ihrer Stadt verbanden, in der jeweiligen Stadt
——————
141 Fünf dieser Experten wurden in Birmingham, fünf in Glasgow, neun in Dortmund
sowie fünf in Frankfurt am Main befragt. Auskunft gaben jeweils die Leiter der zentralen
Stadtmarketingorganisationen (in Birmingham drei Organisationen, in Glasgow vier, in
Dortmund sechs und in Frankfurt vier) sowie – wenn möglich – jeweils ein Mitarbeiter
der Kreativabteilung. Von den Interviews selbst, die sich thematisch auf Organisationsund Kommunikationsstrukturen, auf Akteurskonstellationen und professionelle Wissensbestände bezogen, werden in diesem Beitrag nur die Eingangsstatements zur Stadt
als Person sowie die Praktiken – die Art des Sprechens über die eigene Arbeit, die Art
des Organisierens etc. – berücksichtigt; letzteres in der Absicht, mögliche Homologien
zwischen dem zugeschriebenen Charakter der Stadt als Person und den Praktiken der
Akteure des Stadtmarketings zu erkennen.
STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN
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ähnelten. Dementsprechend konnte für jede Stadt ein mehr oder weniger
kohärenter fiktiver Stadtcharakter gebildet werden.
Die folgenden Ausführungen werden von Verdichtungsleistungen auf
zwei Ebenen angeleitet. Die erste Ebene adressiert die Frage der Deutung
der intersubjektiv geteilten Vorstellungen über typische Eigenschaften der
Stadt. Diese Vorstellungen über die Stadt resultieren erkennbar nicht nur
aus den baulich-technischen Arrangements oder den in die Routinewirklichkeit der städtischen Alltagswelt eingebetteten Praktiken (Reckwitz 2003;
Schmidt 2012), sondern wesentlich auch aus medial vermittelten, zumeist
als Fortschreibung von Traditionen legitimierten Erzählungen. Mit der
analytischen Unterscheidung von »built environment and imagined environment« (Donald 1999) öffnet sich der Blick auf das »städtische Imaginäre« (Lindner 2006) als einen spezifischen Modus der Wirklichkeitskonstruktion. Das städtische Imaginäre als die Gesamtheit der zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Vorstellungen von der Stadt (Lindner
2008: 86) formt nicht nur soziale Praktiken und Dispositionen, es prägt
auch lokalspezifische Formate, Bilder, Narrative, mittels derer die Bewohner ihrer Stadt als Sinnstruktur habhaft werden. Vorstellungen über Städte
resultieren nicht nur, aber immer auch aus rekursiven Ereignissen, die in
stetem Rückgriff aufeinander eine je spezifische »kumulative Textur«
(Suttles 1984; Lindner 2008) und damit ein »Webmuster« ausbilden, das
den Charakter, genauer, die für diese Stadt typischen charakterologischen
Zuschreibungen artikuliert und verstetigt. In dieser Perspektivierung lässt
sich das städtische Imaginäre zugleich als Resultat und Voraussetzung
diskursiver Verdichtungsprozesse situieren. In dem Maße nun, in dem
unsere professionell mit städtischer Sinnproduktion befassten Interviewpartner für ihre jeweilige Stadt ähnliche oder vergleichbare charakterologische Eigenschaften aufrufen, geben sich, so die These, Konturen
eines städtischen Imaginären zu erkennen.
Die zweite Ebene der Verdichtung ist methodischer Art. Verdichtung
als methodische Operation heißt Typenbildung, die rationale, auf Kohärenz zielende Steigerung der empirischen Befunde. Das Gedankenexperiment, die Stadt als Person zu beschreiben, findet einen Fluchtpunkt darin,
die sozialen Subjektpositionen der spontan entworfenen Stadtcharaktere zu
(re-)konstruieren, die hinter den Äußerungen unserer Interviewpartner
stehen (Butler 2001; Reckwitz 2008). »[I]ndem ein Individuum von der
Gesellschaft benannt wird und eine Subjektposition zugewiesen bekommt«, wird ihm neben »sozialer Sichtbarkeit« auch eine »gesellschaft-
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STÄDTE UNTERSCHEIDEN LERNEN
lich[e] Rolle« und ein sozialer Ort zuerkannt (Müller 2011). Ein weiterer
Fluchtpunkt besteht darin, Subjektposition und charakterologische Zuschreibung in den Subjektivierungen der Stadt zu einem Typus zu verdichten und eine »Sozialfigur« (Moebius/Schroer 2010) zu entwerfen.
Sozialfiguren werden als »zeitgebundene historische Gestalten« (ebd.: 8)
verstanden, die Auskunft sowohl über die typischen Subjektpositionen und
die Praktiken dieser Gestalten als auch über ihren gesellschaftlichen Stellenwert geben. Dies ist der Rahmen, in dem im Folgenden jede der von
uns untersuchten vier Städte ‒ unter Rückgriff auf das, was unsere Interviewpartner sagten ‒ als Person beschrieben, die Beschreibungen als Sozialfigur typisiert und die so gewonnenen Deutungen für die Spezifizierung
des »Charakters« der Stadt (im Sinne von Wohl/Strauss 1958) genutzt werden sollen. Wir stellen die Ergebnisse zunächst ohne die Nennung des
Stadtnamens vor, um die Eigenschaften deutlich und auf Seiten der Leser
ohne Zusatzassoziationen hervortreten zu lassen. Am Ende der Abschnitte
werden die Zuordnungen der von uns gewählten Namens-Platzhalter (»W«,
»X«, »Y« und »Z«) dann jeweils aufgelöst. Die grundlegende These lautet,
dass die imaginierten Stadt-Personen keinesfalls willkürliche Phantasieprodukte sind, sondern Alltagsgewissheiten darüber kommunizieren, was in
dieser Stadt opportun ist und wie »man« dort bestimmte Dinge macht. In
diesem Zusammenhang drängt sich die reizvolle Folgefrage auf, ob und in
welchem Maße die normativen Implikationen und Handlungsanweisungen,
die in den Beschreibungen der »Stadt als Person« artikuliert werden, mit
den Praktiken und Strategien derjenigen korrespondieren, die für die Inszenierung und Vermarktung d(ies)er Stadt verantwortlich zeichnen, also mit
denen der Akteure des Stadtmarketings selber. Dieser Frage wird dann
jeweils in einem dritten Schritt nachgegangen werden.142
——————
142 Freilich wäre auch die Umkehrung dieses Beziehungsgefüges zu bedenken, wodurch
dem Stadtmarketing die definierende Position zur Charakterisierung der Stadt als Person
zugerechnet werden müsste. Dieses Verhältnis zu erhellen, das heißt den Einfluss des
Stadtmarketings auf den städtischen Vorstellungsraum zu ermessen, benötigte jedoch
eine weit umfassendere Untersuchung als die hier von uns durchgeführte.
STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN
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Der Rockstar
Eigenschaften
Mit der Charakterisierung von W taten sich die Interviewpartner schwer.
Nur einer konnte W ohne Umschweife beschreiben, alle anderen zögerten
und benötigten Zeit zum Nachdenken. Die Versatzstücke ergeben dennoch ein klares Bild. Die Person W ist Ende Dreißig, Anfang Vierzig
(W_Int_Stama3, Stama5)143. Sie gehört keiner Minderheit an, ist gegenüber
verschiedenen Kulturen und sexuellen Orientierungen tolerant
(W_Int_Stama5) und gilt als kosmopolitisch (W_Int_Stama1, Stama5).
Hinsichtlich der Frage nach dem Geschlecht wollten sich die Gesprächspartner nicht festlegen. Allerdings nutzten sie durchgängig die männliche
Form. W wird daher als Mann gefasst, auch wenn das nicht mit Sicherheit
feststeht. W hat Kinder und wird als jemand beschrieben, der mit sich im
Reinen ist (W_Int_Stama5). Die explizite Erwähnung persönlicher Zufriedenheit lässt den Schluss zu, dass es auch Phasen des Selbstzweifels und
biographischer Irrungen gegeben hat.
W ist kein Hinterbänkler oder Duckmäuser: »[He is] prepared at a party
to stand up and sing a song« (W_Int_Stama5). Er hat Selbstvertrauen und
sagt, was er denkt (W_Int_Stama4). Manchen gilt W deshalb als laut, dreist
und frech (W_Int_Stama5). Das ist jedoch nur die eine Seite. Auf der
anderen Seite werden ihm Herzlichkeit, Wärme, Aufrichtigkeit und Humor
attestiert (W_Int_Stama1, Stama4, Stama5). W nimmt das Leben nicht zu
ernst und kann auch über sich selbst lachen. Die Befragten sehen W als
Team-Player, als jemanden, dem es wichtig ist, zur Verfolgung von Zielen
mit anderen an einem Strang zu ziehen (W_Int_Stama1, Stama3, Stama4).
Sein besonderes Faible ist die Musik (W_Int_Stama1, Stama5). Ein Gesprächspartner schildert W als sehr guten Musiker, der mit Anfang Zwanzig große Erfolge feierte. Nach einer langen und schwierigen Durststrecke
habe W jüngst ein neues Album herausgebracht, das bei Kritikern Anerkennung fand (W_Int_Stama3). Auch über die eigene Musik hinaus ist W
kunstinteressiert. Das Interesse liegt eher bei moderner Musik und bildender Kunst als bei klassischen Kunstformen wie Ballett und Oper, die W als
zu distinguiert empfindet: »[W] likes things to be closer to the ground,
closer to who [he is].« (W_Int_Stama5) W wird nachgesagt, dass er Stil
——————
143 Aus Darstellungsgründen werden die Belege aus den vier Städten verschlüsselt. Am
Ende des Beitrags findet sich der Schlüssel.
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STÄDTE UNTERSCHEIDEN LERNEN
habe (W_Int_Stama1). W selbst ist das allerdings nicht so wichtig
(W_Int_Stama25).
Sozialfigur
W ist Musiker. Als junger Erwachsener hatte er einige große Hits, um dann
sang- und klanglos von der Bildfläche zu verschwinden. Heute arbeitet W
an seinem Comeback. Er ist nicht im klassischen Fach zu Hause, denn
klassische Musik empfindet W als bürgerlich und elitär. Über das Genre, in
dem er stattdessen arbeitet, wird in den Interviews nichts mitgeteilt. Angesichts der Erwähnung früherer Hits und von Ws eher bodenständigem
Charakter soll angenommen werden, dass W Rockmusiker ist. Obwohl
sich W als Künstler klassenkulturell nicht wirklich verortet, hat er das
Gefühl, dass der rauhe Klang und die alltagsnahen Songtexte der Rockmusik zu seiner nichtbürgerlichen Herkunft passen. Auch drückt sich in
der Rockmusik für ihn immer noch etwas Gegenkulturelles aus, etwas, das
ihn an die rebellische Zeit seiner Jugend und frühen Erwachsenenjahre
erinnert (Kleiner 2010: 312). W verfügt über Selbstvertrauen und hat den
Ehrgeiz, den Ton anzugeben. Er übernimmt in seiner Band deshalb die
Rolle des Bandleaders. Seine direkte und humorvolle Art verleihen W eine
gewisse performative Kraft und Bühnenpräsenz.
Als Künstler, der aus nichtbürgerlichen Verhältnissen kommt, hat sich
W lange Zeit den Konventionen seines musikalischen Faches und den
Erwartungen seines Publikums verpflichtet gefühlt (Bourdieu 1987 [1979]:
23). Er hat den Rockrebellen verkörpert, sich aber nach und nach von
dieser Rolle zu emanzipieren versucht. Maßstab für sein Publikum waren
allerdings weiterhin seine frühen Erfolge, auch wenn er inhaltlich neue
Wege suchte. Der bald folgende Aufmerksamkeitsentzug und der Absturz
in die banale Welt des Alltagsmenschen führten zur Flucht in den Alkohol:
»Wen niemand mehr sehen will, kann nicht länger ein Star sein. […] Die
schlimmste Gefahr, die dem Star droht, ist das Vergessenwerden« (Schroer
2010: 382). W verkam körperlich und mental; Trunksucht und Gewaltexzesse schufen keine neue Anerkennung. Sein Publikum kehrte W den
Rücken.
Während Ws frühe Erfolge viel mit Talent und seinem persönlichen
Lebensgefühl zu tun hatten, überlässt W heute nichts mehr dem Zufall.
Der jugendliche Rockrebell ist Geschichte. Auf seine frühen Erfolge angesprochen, antwortet W: »Well, you have to not look back«
STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN
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(W_Int_Stama5). In Bezug auf das Comeback, an dem er seit einigen Jahren arbeitet, vertraut er seinem Management – auch wenn die Rolle, die
dieses für ihn entworfen hat, nicht in allen Details zu ihm passt. So wird W
als stilsichere Persönlichkeit präsentiert, obwohl er stilvolles Auftreten
nicht zu seinen vorrangigen Eigenschaften zählt. Als postmoderner Künstler bereiten ihm Differenzen zwischen Fakt und Fiktion jedoch wenig
Kopfzerbrechen (Borgstedt 2008: 53). Es ist ihm klar, dass Talent nur die
eine Seite der Medaille ist, und dass es nunmehr darauf ankommt, sich als
Künstler nach allen Regeln der (Werbe-)Kunst in Szene zu setzen, um
beim Publikum noch einmal anzukommen. Die wirkliche Kunst besteht
heute darin, Wünsche und Nachfragen des Publikums zu erkennen und zu
bedienen (Reckwitz 2010: 255).
Praktiken
Die Person W ist das Vorstellungsbild, das unsere Befragten von der Stadt
Glasgow entwerfen. Interessant ist, dass sich neben den einander ähnelnden Beschreibungen der fiktiven Stadtpersönlichkeiten auch deutliche
Korrespondenzen zwischen den Charakterisierungen der Stadt Glasgow
einerseits und den berichteten Praktiken des Stadtmarketing andererseits
zeigen. Selbst Eigenheiten im Gesprächsverhalten weisen Ähnlichkeiten
mit der beschriebenen Person auf. Ein zentrales Element ist der Humor,
den alle Befragten als Glasgower Charakteristikum nennen. Besonders im
Gespräch mit den zwei führenden Managern des Glasgower Stadtmarketing waren Witz und Ironie die Würze der Informationspolitik. So
wurden die an den Bürowänden aufgehängten Fotos der Konkurrenzstädte
nicht nur verbal, sondern auch mit Fäusten traktiert. »Every day I want to
beat this, I want to beat this, I want to beat London, I want to beat Liverpool, I want to beat Edinburgh, I want to beat Birmingham, I want to beat
Manchester, every day, ok?« (W_Int_Stama1) Auch die Begründung für
den Slogan »Glasgow: Scotland with style« als Markenkern der für ihren
Regenreichtum bekannten schottischen Stadt belegt Sinn für Humor, wenn
der Stil Glasgows augenzwinkernd mit dem »style of the experience that
you get when you walk about the city, in the blazing hot sunshine«
(W_Int_Stama1) erklärt wird.
Glasgow als einstiges »Workhouse of the World« (Schulze-Marmeling
1996: 207) ist passé. Das neue Glasgow setzt auf culture-led regeneration und
tertiäre Ökonomie (Berking/Frank 2010). Ähnlich wie das Management
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STÄDTE UNTERSCHEIDEN LERNEN
eines Stars darüber wacht, dass die Auftritte zu dem Image passen, das
öffentlich präsentiert wird, achtet das City Marketing Bureau auf die Passfähigkeit von Events und Kongressen zur Glasgower Markenidentität: »An
event has to fit the positioning of the city. So when you are looking at
creating an event or growing an event, building an event, buying an event,
you have to have one that has a strategic fit in the positioning of Glasgow.
Otherwise it would send messages out that […] conflict with the message
you are trying to get out, ok?« (W_Int_Stama1). Fragt man danach, weshalb Glasgow solche Anstrengungen unternimmt, dann wird deutlich, dass
es neben dem wirtschaftlichen Erfolg auch um die Rückeroberung der
Position und der Bedeutung geht, die man in der Vergangenheit schon
einmal hatte: »the things that allowed us to become a great industrial city
surely must allow us to become great in the industries of the future«
(W_Int_Stama5). So wie der Entzug von Aufmerksamkeit eine der Triebkräfte für Absturz und Comeback des Künstlers ist (Schroer 2010), ist
Glasgows einstige herausgehobene ökonomische Stellung die Hintergrundfolie aller Marketinganstrengungen. Die Sehnsucht nach Größe ist nicht
gestillt: »We are hungry to win!« (W_Int_Stama1). Diese Erfolgsorientierung liefert auch eine Erklärung dafür, weshalb sich Glasgow im Wettbewerb um Kongresse und Events nicht an anderen Städten mit regionaler
Bedeutung orientiert, sondern an Hauptstädten wie London oder Berlin.
Von außen mag das manchmal wie Größenwahn erscheinen, aber in Glasgow glauben die Stadtmarketingexperten fest daran, dass durch Zuversicht,
Fleiß, Talent und Professionalität ein grandioses Comeback gelingen kann.
Die Subjektposition, die in der Sozialfigur des Stars (Schroer 2010) aufgehoben ist, konnotiert gleichsam alle mit der kulturellen Wende der
1970er Jahre verbundenen Orientierungen und Handlungsmaximen: von
der performativen Kompetenz, der Ästhetisierung und Stilisierung des
eigenen Lebens bis hin zum ökonomistisch gerahmten Kreativitätsimperativ (Reckwitz 2012b). Doch man täusche sich nicht. Die »Biographie« der
Stadt als Person ist gebrochen. Glasgow ist kein Rockstar (mehr), sondern
auf dem mühseligen Weg des Comeback. So schleichen sich immer wieder
Vergangenheiten als Verhaltensdispositionen ein – Herzlichkeit, Wärme,
Humor, Aufrichtigkeit Teamgeist, aber auch Trunksucht und Rauflust –,
die auf den klassenkulturellen Hintergrund einer durch die Schwerindustrie
geprägten Arbeiterstadt verweisen. Der einst gefeierte Rockmusiker mag
hier seine Wurzeln finden, die Inszenierung seines Comeback aber folgt
STÄDTE ALS SOZIALFIGUREN
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einem neuen kulturellen Skript, das einen gehobenen (Lebens-)Stil in den
Mittelpunkt stellt und das W von seinem Management vorgegeben wird.
Die Diva
Eigenschaften
X wird als attraktive, erotische Frau beschrieben und ihr Alter zwischen 38
und 44 Jahren geschätzt (X_Int_Stama1, Stama2). Sie ist eine »internationale Person« (X_Int_Stama3), die drei bis vier Sprachen spricht. Die
Sprachkompetenz ist auf die Familiensituation zurückzuführen: X ist das
Kind »verschiedener Eltern« (X_Int_Stama3) aus unterschiedlichen Kulturen. Ihr Sozialstatus ist im »guten Bürgertum« angesiedelt (X_Int_Stama1).
Sie ist »keine Millionärin«, jedoch erlaubt ihr ihre Erwerbssituation viele
»Freiheiten« (X_Int_Stama1).
X ist kinderlos und unverheiratet (X_Int_Stama1). Dabei handelt es
sich keineswegs um ein »Schicksal«, sondern um eine aus Überzeugung gewählte Lebensform. X richtet sich gegen Konventionen. Nichts liegt ihr
ferner als ein Leben in geregelten Bahnen. X ist eine Frau mit einem »guten
Job« (X_Int_Stama1), die in der Öffentlichkeit steht (X_Int_Stama1,
Stama4). Ständig trifft sie sich mit wichtigen Personen aus der Bankenund Finanzwelt, der Politik, der Industrie und den Medien
(X_Int_Stama1). Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Freunden
und Geschäftspartnern. Da sie sich ständig auf Neues einlässt und häufige
projektbezogene Reisen normal sind, ist an ein geregeltes Familienleben
nicht zu denken. Ihre Selbstverwirklichung findet X in ihrer Erwerbsarbeit.
Überhaupt trennt sie nicht zwischen Privatem und Geschäftlichem. Ihr
Beruf ist ihr Leben, und sie ist ihr Beruf.
X wird als »zwiegespaltener Charakter« (X_Int_Stama1), als »multiple
Persönlichkeit« (X_Int_Stama5), als »vielfältige Person« (X_Int_Stama2)
und als »Diva« porträtiert (X_Int_Stama3). Sie ist sehr dominant, selbstbewusst und tritt »stark auf« (X_Int_Stama1, Stama3). Viele finden sie sogar
arrogant. Sie scheint sich nicht um die anderen zu kümmern und wirkt
ganz auf sich selbst fixiert. Jene Freunde, die sie besser kennen, wissen
jedoch, dass sie die Aufmerksamkeit braucht und sucht. Sie ist ständig in
der Öffentlichkeit (X_Int_Stama1). Nichts erfüllt X mehr, als von anderen
begehrt und/oder gefürchtet zu werden.