CATERINA ZANFI
Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty – Das Bild
zwischen Phänomenologie und Ontologie
I. Materie und Gedächtnis
1. Bilder jenseits von Realismus und Idealismus
Zu Beginn von Materie und Gedächtnis verlangt Bergson von uns, unsere
Überzeugungen zu bestehenden Theorien von Körper und Geist einzuklammern. Er möchte seine Untersuchung der Struktur unserer Erfahrung vor der
Differenz von Realität und Erscheinung, also Materie und deren Wahrnehmung ansetzen. Auf diese Weise möchte er die klassische Opposition zwischen
Idealismus und Realismus, die er als „gleich übertriebene Theorien“1 versteht,
vermeiden. Der Hauptfehler jener, die solche Oppositionen vorschlagen, liegt
seiner Ansicht nach darin, dass ihre Analyse aus der Kluft, welche zwischen
Dingen und Repräsentationen besteht, hervorgeht. Sie versuchten dann in
einem weiteren Schritt, diese Kluft zu überbrücken, indem sie einen Begriff
auf den je anderen reduzieren; im einen Falle betrachten sie Repräsentationen
als reine Hirnfunktionen, im anderen Falle verstehen sie die Dinge als bloße
geist-immanente Ideen2. Um diese künstlich generierten Probleme zu lösen,
sei es nötig, ein Feld zu finden, das vor dem Aufkommen dieser Opposition
liegt:
„Um den Streit zu Ende zu bringen, muß zuerst einmal ein gemeinsamer Boden
gefunden werden, wo der Kampf stattfinden kann, und da beide Parteien darin
einig sind, dass wir die Dinge nur in der Form von Bildern erfassen, so müssen
wir unser Problem für Bilder, und nur für Bilder, stellen.“3
So werden Bilder zum Ausgangspunkt von Bergsons Wahrnehmungstheorie.
Er spricht nicht von „Dingen“, „Repräsentationen“, „Phänomenen“, „Eindrücken“, oder „Erscheinungen“. Er wählt bewusst einen vagen Begriff wie den
des Bildes, weil er nur auf diese Weise beide Felder der Opposition bespielen
kann, das der Wahrnehmung und das des Seins, also das von Erscheinung und
das der Realität.
Gemäß Erfahrungsholismus hat unsere Erfahrung nur eine einzige Ebene.
Die Wahl dieser Ebene impliziert, jede ursprüngliche ontologische Bruchlinie
1
2
3
Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 10.
Bergson bezieht sich auf Descartes’ Realismus und Berkeleys Idealismus. Ersterer rückt die
Materie zu weit von der Wahrnehmung weg und verwechselt sie mit der geometrischen Extension; letzterer transportiert die Materie zu dicht an den Geist und macht sie zu nichts mehr
als einer Idee. Vgl.: Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. ii.
Ebd., S. 15.
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wie die zwischen Welt/Bewusstsein oder Körper/Geist zu übergehen. Im ersten Kapitel behandelt Bergson das Bild als das phänomenologische Wesen des
Dualismus Objekt/Subjekt4; sein Betrachtungspunkt will also vordualistisch
sein: „wir betrachten die Materie vor der Scheidung, die Idealismus und Realismus zwischen ihrer Existenz und ihrer Erscheinung vollzogen haben.“5
Der Begriff des Bildes steht in Bezügen zu Universum und Leib, zu der
Materie und dem Gehalt unserer Repräsentationen, zu Objekt und Subjekt
unserer Wahrnehmung. Das Bild ist eine Art „transzendentales Feld“, eine
Wahr-nehmungs- bzw. Erscheinungsbedingung und zwar eine primitive Bedingung, welche weder relativ noch subjektiv ist6: Sie erlaubt uns, die ursprüngliche Einheit von Geist und Materie, von Seele und Leib zu sehen.
Dennoch bedarf die Perzeption eines weiteren unerlässlichen primitiven Elements: Des lebendigen und handelnden Leibes. Das Bild des Leibes ist das
Zentrum der Wahrnehmungsgenese, des Bewusstseins und, allgemeiner, des
Erscheinens. Die Differenz zwischen meinem Leib und anderen Bildern führt
die erste Dualität erst ein. Anstatt also auf einer voreiligen Differenz von Subjet und Objekt, Bewusstsein und Dingen, basiert Bergson seine Überlegungen
auf einer ganz fundamentalen und vor allem äußerlichen Differenz zwischen
dem Universum und meinem Leib.
Das Ziel des ersten Kapitels von Materie und Gedächtnis besteht darin, die
Differenz zwischen Ding und Repräsentation als „horizontal“7, also innerhalb
derselben hypothetischen Realitätsebene angesiedelt auszudrücken. Das Bild
des Leibes ist ein Bild wie jedes andere und inhäriert der Materie. Dennoch
aber weist es eine scheinbar radikale Differenz auf, insofern „ich es nicht nur
von außen durch Wahrnehmungen, sondern auch von innen durch Affektionen
kenne“.8
Die Wahrnehmungen betreffen mögliche oder virtuelle Handlungen und
nehmen in Objekten Gestalt an, während die Gefühle und Eindrücke wirkliche
Handlungen betreffen und sich am Leib selbst abzeichnen. So gilt für die Bilder des Universums zum einen, dass sie „mit allen ihren elementaren Bestandteilen in Wechselwirkung, nach konstanten Gesetzen, die wir die Naturgesetze nennen“9 stehen, zum anderen ist es ein affektiver Zustand, durch den
„wirklich etwas Neues in die Welt und ihre Geschichte ein[tritt]“.10 Es gibt
also nur eine einzige Realität, jedoch zwei Handlungsrichtungen: jene, die
durch die Notwendigkeit des Universums vorgezeichnet ist und jene, welche
die Unbestimmtheit meines Leibes vorzeichnet.
4
5
6
7
8
9
10
Robinet, André, „Le passage de la conception biologique de la perception de l’image et du
souvenir chez Bergson“, in: Les Etudes philosophiques (Paris) 1966, S. 375-388.
Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S.ii.
Ebd., S. 49.
Wie in: Worms, Frédéric, Introduction à „Matière et mémoire“, Paris 2002, S. 17, definiert.
Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 1.
Ebd.
Ebd., S. 2.
BERGSON UND MERLEAU-PONTY: BILD – PHÄNOMENOLOGIE UND ONTOLOGIE
287
Der Leib ist ein Handlungszentrum, eine praktische Kraft, die Einfluss auf
ihr Umfeld ausübt. Entsprechend reflektieren die umgebenden Objekte seine
möglichen an ihnen ausgeübten Handlungen. Eine empirische Beobachtung
zur affektiven Genese lässt Bergson feststellen, dass ihre Funktion ebenfalls
relativ zu unseren Handlungen ist: „Ich mustere die verschiedenen Affektionen, und da scheint mir, dass eine jede in ihrer Art eine Aufforderung zum
Handeln enthält, mir aber gleichzeitig die Möglichkeit freistellt, abzuwarten
oder auch gar nichts zu tun.“11
Die praktische Beziehung zwischen Leib und ihn umgebenden Objekten
führt die Spaltung zwischen Materie und Perzeption erst ein: Die Dinge drücken die an ihnen möglichen Handlungen aus und dies entspricht demjenigen,
was wir Erfahrungswahrnehmung nennen könnten. Unsere Erfahrung fügt
dabei den Bildern nichts hinzu. Im Gegenteil: Sie entfernt sogar einen Teil
ihrer gegenseitigen Relationen. Anstatt also unsere Erfahrung als Klärung und
Erhellung der Dinge zu verstehen, sollten wir eher von einer Art der Verdunklung reden.12
Die Rolle des Leibes als subjektiver Pol betrifft nicht das Sein der Bilder,
sondern nur deren Wahrnehmung. Der Status der Bilder orientiert diese in
Richtung Äußerlichkeit und Objektivität, denn das Subjekt ist bislang nicht
mehr denn nur praktische Kraft, als welche es sich auf die Bilder bezieht. Im
Gegensatz zum Realismus oder Idealismus ist Wahrnehmung nicht als sensorische Schwingung oder als Wissenserwerb zu verstehen, sondern eher als Problem, das durch motorische Aktivität Lösungen erwartet.13 Sobald eine Wahrnehmung stattfindet, wird sie automatisch in Bewegungen des Leibes übersetzt. Dergestalt sind Bilder virtuelle Teile des materiellen Universums. Ihre
Realität ist unabhängig von jeder Art der Wahrnehmung. „Es ist richtig, ein
Bild kann sein, ohne wahrgenommen zu werden; es kann gegenwärtig sein,
ohne vorgestellt zu werden“.14
11
12
13
14
Ebd., S. 1.
Wie behauptet in ebd., S. 20: „Die Vorstellung ist ja immer da, aber immer nur virtuell, da sie
in dem Augenblick, wo sie aktuell werden würde, neutralisiert wird durch den Zwang, sich
fortzusetzen und in etwas Anderem aufzugehen. Um jene Verwandlung zu vollziehen, bedarf
es nicht der Aufhellung des Gegenstandes, sondern im Gegenteil der Verdunkelung gewisser
Seiten an ihm, der Verminderung um den größten Teil seines Wesens, so dass der Rest, statt
wie ein Ding in die Umgebung eingeschachtelt zu sein, sich wie ein Gemälde davon abhebt…“.
In dieser Hinsicht ist Bergsons Theorie des Selbst nicht vom Husserlschen Ich verschieden;
ebensowenig vom Pragmatismus eines William James, der als einer der größten Bewunderer
Bergsons betrachtet werden kann, wovon die Briefe zeugen. Vgl. dazu Bergson, Henri, „W.
James, Lettres (1902-1910) publiées par Ralph B. Perry“, Revue des Deux Mondes, 103 (15.
Oktober 1933), S. 783-823; Vgl. außerdem der Aufsatz James, William, „Bergson und seine
Kritik am Intellektualismus“, in: Das Pluralistische Universum. Hibbert-Vorlesungen am
Manchester College über die gegenwärtige Lage der Philosophie, Darmstadt 1994 (unv.
Nachdr. d. Erstausg. Leipzig 1914), S. 142-176.
Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 20.
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Dennoch aber, trotz dieser realistischen Tendenz, sind Bilder unseren Bedürfnissen gemäß ausgewählt und zu diesen relativ. Das heißt, dass einerseits
Materie und Bildgehalte real und uns äußerlich sind, dass andererseits aber
ihre Form und Gestalt relativ auf uns bestimmt und daher „imaginär“ ist;
„[f]ür den gesunden Menschenverstand existiert also der Gegenstand an sich,
und andererseits ist der Gegenstand an sich farbig, wie wir ihn wahrnehmen:
er ist ein Bild, aber ein Bild, das an sich existiert.“15
Das erste Kapitel von Materie und Gedächtnis enthüllt eine ursprüngliche
Spannung zwischen der Immanenz der Bilder und der Realität der Welt, deren
formale Differenz von unseren Bedürfnissen abhängig ist.16 Die Differenz
zwischen Sein und Wahrgenommensein liegt nicht in der Natur der Dinge; es
ist eine nur graduelle Differenz. Das Bewusstsein hat kein definites Korrelat;
es ist schlicht ein Charakter der gesamten Realität, welche manchmal wirklich,
manchmal virtuell ist. Bilder sind nicht Repräsentationen – etwa mentale Kopien externer Objekte – und die Welt ist nicht eine repräsentationale Schöpfung unseres Geistes. Mentale Bilder sind Teil der Welt und jede unserer Repräsentationen ist der Welt wahrhaft eingeschrieben. Unsere Wahrnehmung
entsteigt einem impersonalen Hintergrund, wo sie sich mit ihrem Objekt zusammenschließt17: „Unsere Wahrnehmung ist, wenn sie rein ist, wirklich ein
Bestandteil der Dinge selbst“.18
2. Erinnerungsbilder
Das bloß äußere Feld der Bilder, das Bergsons Beschreibung der reinen Wahrnehmung (perception pure) zunächst annimmt, wird durch innere Wahrnehmung und Eindrücke ins Subjekt integriert. Derartige Reize bereichern die
Erfahrung durch das Element lebendiger Leiblichkeit. Dennoch aber hat die
reine Wahrnehmung einen instantanen Charakter, der unserer konkreten Wahrnehmung nicht entspricht. Bergson schließt seine theoretische Betrachtung mit
seiner Gedächtnisstudie ab, in Folge welcher er die abstrakten und simplifizierten Aspekte der reinen Wahrnehmung abmildert.19 Jede Wahrnehmung ist
15
16
17
18
19
Ebd., S. ii.
Vgl. Worms, Frédéric, Bergson ou les deux sens de la vie, Paris 2004, S. 124-125.
In Materie und Gedächtnis spricht Bergson von einem, „unpersönliche[n] Bestand […], in
welchem die Wahrnehmung mit dem Objekte zusammenfällt“, wobei „dieser Bestand geradezu das Außen ist.“ (Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 54)
Ebd., S. 54. Vgl. dazu auch Bergson, Henri, Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und
Vorträge, Hamburg 1993, S. 94: „Nicht in uns, sondern in ihnen selbst nehmen wir die Gegenstände wahr, zum mindesten ist das der Fall, wenn unsere Wahrnehmung ‚rein‘ ist.“
Wie in Materie und Gedächtnis: „Mit anderen Worten, wir haben zunächst des bequemeren
Verfahrens halber den lebenden Körper als einen mathematischen Punkt im Raume und die
bewußte Wahrnehmung als einen mathematischen Augenblick in der Zeit behandelt. Wir mussten dem Körper seine Ausdehnung und der Wahrnehmung ihre Dauer wiedergeben. Damit
BERGSON UND MERLEAU-PONTY: BILD – PHÄNOMENOLOGIE UND ONTOLOGIE
289
imprägniert mit mehr oder minder fernen Erinnerungen (souvenirs), deren
Projektion uns erlaubt, die „Skizzen“ unseres Leibes wiederzuerschaffen und
zu sättigen.20
Hier nun spielt eine andere Bedeutung des Bildbegriffs eine Rolle: das Erinnerungsbild (image-souvenir). Der Vergleich mit den Bildern der reinen
Wahrnehmung zeigt sie nicht nur als graduell, sondern als wesentlich verschieden. Weder sind Erinnerungen abgeschwächte Wahrnehmungen noch
sind Wahrnehmungen intensive Erinnerungsbilder.21 Die Erinnerung ist ein
Progress, der aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreitet, nicht eine
Regression der gegenwärtigen Wahrnehmung in die Vergangenheit. Entsprechend spielt das Erinnerungsbild in unserer aktualen Wahrnehmung eine Rolle. Es ist die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen
„souvenir pur“ und „perception pure“. Am kontinuierlichen Dynamismus der
Erinnerung haben alle Erinnerungsbilder teil: Manchmal sind sie bloß virtuell
und kraftlos (souvenir pur), dann materialisieren sie sich (image-souvenir),
dann inhärieren sie einer Trägermaterie (perception pure).22 Was Bergson als
„mémoire immédiate“ bezeichnet, ist die Vereinigung von „souvenir pur“ mit
den habituellen Skizzen unseres Leibes, deren Synthese im Jetztmoment. Dies
macht denn auch die „Dicke“ des Augenblicks aus, seine Teilhabe an der Dauer (durée).23
Die relative Spaltung zwischen unseren Repräsentationen und der Wirklichkeit der Dinge ist die räumliche Gliederung, die wir materiellen Objekten
auferlegen24 und die temporale Zusammenfassung von sinnlichen Eigenschaf-
20
21
22
23
24
stellten wir im Bewußtsein dessen beide subjektiven Elemente, die Affektivität und das Gedächtnis, wieder her.“ (Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 232)
Ebd., S. 18.
Ebd., S. 234.
„Die Wahrnehmung ist niemals nur ein Kontakt des Geistes mit dem gegebenen Gegenstand;
sie ist immer von Erinnerungsbildern durchsetzt, welche sie vervollständigen, indem sie sie
erklären. Das Erinnerungsbild wiederum partizipiert an der „reinen Erinnerung“, welche es zu
materialisieren beginnt, und an der Wahrnehmung, in welche es sich inkarnieren will: unter
diesem letzten Gesichtspunkte könnte man es als eine beginnende Wahrnehmung bezeichnen.
Und endlich manifestiert sich die von Rechts wegen zweifellos unabhängige reine Erinnerung
nur in dem farbigen und lebendigen Bilde, durch welches sie zur Offenbarung kommt.“ (Ebd.,
S. 127)
Bekanntlich ist durée der Zentralbegriff der Bergson’schen Metaphysik. Seine ganze Philosophie kann als Versuch, die Objektivität der Zeit und ihre wesenhafte Verschiedenheit vom
Raum darzulegen, verstanden werden: „Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession
unsrer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sichdem Leben überläßt, wenn es sich
dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen.“, in Bergson, Henri, Zeit und Freiheit, Hamburg 32006, S. 77. Die konkrete durée als kontinuierliche fließende Sukzession unterschiedet sich von der homogenen
Zeitauffassung der Wissenschaften: Diese ist dem Raum nachmodelliert, während die durée
eine qualitative, heterogene und intensive Natur hat.
Anders als in Schöpferische Entwicklung, wo Bergson die Tendenz der räumlichen Gliederung der Materie zuschreibt, so dass die Teilung durch das Bild in der Materie selbst geschieht (Bergson, Henri, Schöpferische Entwicklung, Zürich 1967).
290
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ten.25 Dies ist die Folge des spezifischen Rhythmus unseres immanenten durée: „Wahrnehmen besteht also letzten Endes darin, ungeheure Perioden einer
unendlich verdünnten Existenz in wenige Augenblicke differenzierteren und
intensiveren Lebens zu verdichten und so eine sehr lange Geschichte zusammenzufassen. Wahrnehmen heißt unbeweglich machen.“26
Die von unserer Wahrnehmung getroffene Wahl führt nicht Trennungen in
einer indistinkten Kontinuität ein, sondern durchschneidet verbundene Realitäten. Allerdings ist ein Aspekt der Realität gegenüber kondensierten, stabilen
Bildern resistent. Dieser Aspekt ist die Veränderung27. Entsprechend ist die
Wahrnehmung niemals rein und instantan, sondern immer schon mit einem
anderen Vermögen verbunden, der Erinnerung, welche den externen Charakter
der „reinen Wahrnehmung“ verbirgt. Das Erinnerungsbild ist wie eine in das
„souvenir pur“ herabgesunkene Virtualität, die, wie eine aufsteigende Perzeption, im jeweiligen Augenblick aktualisiert wird. Diese Art Bild entsteigt unserem Erinnerungsrepertoire dann, wenn sie nützlich ist, bisweilen aber auch
einfach so, etwa in Träumen oder interesseloser Betrachtung. Da die Erinnerung nicht nur aus bewahrten vergangen Bildern besteht, ist der dynamische
Prozess mehr als ein bloß mechanisches Wecken gespeicherter Bilder. Im
Gegenteil, es lässt sich eine mehr oder minder ausgeprägte geistige Spannung
feststellen, die sich als „souvenirs-purs“ durch den Kontakt mit präsentischer
Wahrnehmung materialisiert.28
Diese Interpenetration von Wahrnehmung und Erinnerung stellt die Unabhängigkeit der Materie von sowohl uns als auch dem Ort der Erinnerung in
Frage, was zur Frage der Unabhängigkeit der Repräsentationen von Materie
25
26
27
28
Wir fassen etwa die Farbschwingungen, an sich Trillionen von Bildern, in nur einem einzigen
Rot-Bild zusammen. Vgl. Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 204: „In dem Zeitraum
einer Sekunde vollführt das rote Licht – welches die größte Wellenlänge hat und dessen
Schwingungen infolgedessen die wenigst zahlreichen sind – 400 Billionen aufeinanderfolgende Schwingungen. Wollte man sich eine Vorstellung von dieser Zahl machen, dann
müßte man diese Schwingungen so weit voneinander entfernen können, dass unser Bewusstsein sie zählen oder wenigstens ihre Aufeinanderfolge ausdrücklich unterscheiden könnte,
und dann hätte man herauszufinden, wie viele Tage, Monate oder Jahre diese Aufeinanderfolge in Anspruch nehmen würde.“
Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 206.
Der Widerspruch zwischen Bild und Zeit ist unseren Repräsentationen aufgrund der kinematographischen Tendenz unseres Denkens innerlich. Wie Bergson im vierten Teil von Schöpferische Entwicklung, a.a.O., S. 275-357 und in Denken und Schöpferisches Werden, a.a.O., S.
11 u. 111 f. hervorhebt, ist die homogene und mechanische Zeit, die vom Kinematographen
wiederholt und auch geändert werden kann der heterogenen und nichtwiederholbaren Erfahrungszeit entgegengesetzt. Zum Verhältnis dieser Theorie Bergsons und den chronomatographischen Experiementen von Étienne-Jules Marey’s (1830-1904) siehe Didi-Huberman,
Georges, „La danse de toute chose“, in: Didi-Huberman, Georges / Mannoni, Laurent, Mouvements de l’air. Étienne-Jules Marey, photographe des fluides, Paris 2004, S. 173-337. Ausgehend von Bergsons Beobachtungen zum bewegten Bild wird Deleuze dieses dynamische
Prinzip in seiner Klassifikation der Bilder des Kinos aufgreifen. Vgl.: Deleuze, Gilles, Das
Bewegungs-Bild. Kino1, Frankfurt am Main 1989.
Materie und Gedächtnis, S. 240.
BERGSON UND MERLEAU-PONTY: BILD – PHÄNOMENOLOGIE UND ONTOLOGIE
291
und Geist führt. Das heißt, dass sich die Frage nach der Beziehung von Wahrnehmung und Erinnerung als doppeltes Problem stellt, nämlich als Problem
von Materie und Geist und als Problem von deren Beziehung.29
Wie die Bilder, welche im ersten Teil des Werkes besprochen werden, haben die „images-souvenirs“ der letzten beiden Kapitel die Funktion, zwischen
zwei Realitäten zu vermitteln, zunächst zwischen Geist und Materie, Subjekt
und Objekt, dann, im zweiten Teil, zwischen Erinnerung und Handlung, zwischen durée und Raum. In beiden Bereichen polarisieren die Bilder in sich
selbst die Spannung, die sich aus dem doppelten Sinn unserer Erfahrung ergibt.
Bilder führen niemals zu einer klaren und statischen Definition, sondern
deuten immer eine Spannung an, die unserem Leben und der Realität überhaupt eigen ist, eine Dualität, die einen dynamischen und lebendigen Charakter bedeutet. Die Ambivalenz des Bildbegriffs ist weniger Rückschritt als viel
eher eine Antwort auf die Pole, zwischen denen sich unser Leben abspielt:
Objektivität und Subjektivität, Immanenz und Transzendenz. Es ist auch dem
geschuldet, dass Bergsons Philosophie als kontinuierliche Spannung von Phänomenologie und Metaphysik bezeichnet werden konnte.30
II. Phänomenologie
1. Sartres Kritik an Bergsons Bildtheorie
Als die Phänomenologie in Frankreich Einzug hielt, war der Bergsonismus
nach wie vor die dominierende philosophische Strömung. Das Projekt „Husserls Französischer Nachfolger“, womit besonders Jean-Paul Sartre (19051980) und Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) gemeint waren, zielte vor
allem darauf ab, Bergson durch Husserl zu ersetzen.
Bergsons Bildtheorie wird in Sartres Text Die Imagination aus dem Jahre
193631 besonders hervorgehoben, in dem Bergson eines realistischen Vorurteils
angeklagt wird. Seine Bilder seien in der Tat ein Teil der Wirklichkeit. Das
hindere ihn indes daran, den intentionalen Charakter des Bewusstseins zu verstehen, sowie die Nichtobjektivierung, die Bewusstseinsakten eigen sei und
eben die Pointe der Bilder ausmache. Selbst wenn Sartre wohl anerkennt, dass
29
30
31
Diesem Problem widmet sich der letzte Teil von Materie und Gedächtnis, der die Artikulation
von Seele und Leib, Qualität und Quantität, Notwendigkeit und Freiheit erklärt. Vgl. Bergson,
Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 175-223.
Vgl. Worms, Frédéric, „La conscience ou la vie? Bergson entre phénoménologie et
métaphysique”, in: Annales Bergsoniennes II. Bergson, Deleuze, la phénoménologie, hg. v.
Frédéric Worms, Paris 2004, S. 191-205.
Sartre, Jean-Paul, „Die Imagination“, in: Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I: Die
Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 97254 (zu Bergson v.a. S. 133-160).
292
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Bergson die Bilder ins „Reich der Lebenden“ erhoben habe, so tadelt er doch,
in Materie und Gedächtnis Bilder nach wie vor als Dinge oder bewusstseinsimmanente Quasi-Dinge verstanden seien. Sartre wirft Bergsons Imaginationstheorie vor, einen Synkretismus aus Bewusstseinstheorie und Verdinglichung
zu betreiben. Sie sei im Dauerschwanken begriffen und entscheide sich mal
für das eine, mal für das andere. Das Bild wird so zum Ding, zur verdichteten
Entität. Bergsons Bewusstsein erlege den Dingen eine Art substantieller Form
auf. In dieser „realistischen Metaphysik“ sieht Sartre eine Gefahr für die
transzendentale Freiheit des Bewusstseins, eine Eckpfeiler seines Existentialismus.
Husserls Phänomenologie folgend geht Sartre dagegen davon aus, das Bewusstsein (hier rein als Intentionalität verstanden) könne niemals vorgeben,
selbst Ding zu sein; von diesem Standpunkt aus, kann denn auch ein Bild kein
Fast-Ding sein, das irgendwo im Lager der Erinnerung verstreut ist. Das Bild
ist nicht der Gehalt des Bewusstseins, sondern eher ein Typus von Bewusstsein
sui generis.
In Das Imaginäre, seinem Aufsatz aus dem Jahre 1940, beschreibt Sartre
den Status des Bildes als vom Bewusstsein aktiv hervorgebrachten, absenten
Gegenstand. Bilder bieten ihre Objekte als abwesend, als nicht existierend dar.
Im Gegensatz zum Wahrnehmungsbewusstsein ist das Bildbewusstsein „irrealisierend“. Dies ist ein ganz anderer Ansatz als derjenige von Bergsons Erinnerungstheorie, derzufolge das image-souvenir ein abwesendes Objekt präsentiert, als ob es präsent wäre und Existenz beanspruchen könnte. Sartre wendet
sich gegen diese Auffassung, die er als zu positiv versteht. Er geht lieber davon aus, das Bewusstsein ziehe sich mitsamt seinen Bildern als Konsequenz
der Freiheit aus der Welt zurück. Die Differenz zu Bergson fällt auf. Bergsons
Bewusstsein ist in der Welt selbst beheimatet, ferner sind seine Bilder der
Gegenstände und die Bilder in unserem Bewusstsein nur graduell verschieden.
Entsprechend erscheint Bewusstsein selbst als substantieller Teil der Realität.
Ganz anders Sartre: Er will das Bewusstsein zu seiner transzendentalen Freiheit zurückführen, indem er ihm den Status reiner Negativität, der Negation
der reinen Positivität der Welt, verleiht.
2. Merleau-Pontys Reaktionen auf Sartre in den Seminaren der Jahre 1947
und 1955
Aufgrund ihrer gemeinsamen phänomenologischen Vorgehensweise teilt Merleau-Ponty in seinen frühen Werken Sartres Theorie von Bild und Einbildungskraft. Durch Sartres Theorie hindurch wiederholt er dessen Kritik der
Verdinglichung, welche in Bergsons Theorie der Bewusstseinsbilder statthabe.
Für Merleau-Ponty ist Bergsons Erinnerung ein Agglomerat unbewusster mentaler Zustände, die einer zweiten Welt und einem zweiten Sein angehören,
BERGSON UND MERLEAU-PONTY: BILD – PHÄNOMENOLOGIE UND ONTOLOGIE
293
anstatt ein intentionales Bewusstsein zu sein, das den Horizont auf eine Welt
eröffnet, ohne sie jedoch jemals gänzlich zu erfassen. In Phänomenologie der
Wahrnehmung bekräftigt er: „Das Imaginäre ist ohne Tiefe […] Niemals vermögen wir fest in ihm Fuß zu fassen. Dahingegen nimmt in jeder Wahrnehmung die Materie selbst Sinn und Form an“.32
Merleau-Pontys Nähe zu Sartres Bewusstseinstheorie erklärt den Vorwurf
der reinen Positivität, den er gegen Bergson erhebt. Im Jahre 1947, zwei Jahre
nach Phänomenologie der Wahrnehmung, wendet sich Merleau-Ponty in einem Kurs, den er in Lyon zur Einheit von Leib und Seele hält, wiederum
Bergson zu; diesmal gibt er einen tief greifenden Kommentar zu Materie und
Gedächtnis33 ab. Bergsons Realismus kritisierend, diagnostiziert er das Scheitern dessen genuin phänomenologischer Zielsetzung:
„Dans la voie où s’engage Bergson, tout esse est déjà un percipi. Mais Bergson
ne suit pas cette voie jusqu’à son terme : au réalisme des savants, il va substituer
un autre réalisme, fondé sur la préexistence de l’être total. Le percipi s’y déduit
de l’esse par dégradation et découpage. ‚La représentation d’une immage [est]
moins que sa seule présence.‘ (ibid.) Bergson ne voit pas, ne pose pas le
problème du cogito: il pose l’être total et y découpe ma perspective. Une image
peut être sans être perçue. Bergson déduit le perçu de l’être, au lieu d’admettre,
com-me il en avait été tenté, un primat de la perception, un type d’existence intermé-diaire entre l’en soi et le pour soi.“34
Bergson sei es nicht gelungen, den Primat der Wahrnehmung zuzulassen, wie
er ja eigentlich angekündigt hatte. Selbst das Thema sei in realistischer Terminologie eingeführt, von der das Nicht-Sein zeuge. Das Bewusstsein sei von
einer Welt der Bilder in sich selbst abgeschnitten. Die realistische Position
einer in sich geschlossenen Totalität, in welche die Perzeption durch Entziehung vordringe, kompromittiere die phänomenologische Fruchtbarkeit des
Bildbegriffs: „ce dépassement simultané du réalisme et de l’idéalisme, un
moment entrevu, avorte.“ 35 Dennoch aber vermeide Bergson die natürliche
Tendenz, das être en soi von der conscience intramondaine zu trennen. Dank
32
33
34
35
Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 374.
Merleau-Ponty, Maurice, L’union de l’âme et du corps chez Malebranche, Biran et Bergson.
Paris 2002 [1978], S. 83-124.
Ebd., S. 85. [„Auf dem Weg, den Bergson einschlägt, ist jedes esse immer schon ein percipi.
Allerdings folgt Bergson diesem Weg nicht bis ans Ende: Einen gelehrten Realismus ersetzt
er durch einen anderen Realismus, der in der Präexistenz des totalen Seins gegründet ist. Das
percipi wird aus dem esse durch Degradierung und Aufteilung deduziert. ‚Die Vorstellung eines Bildes [bedeutet] ein Minus gegenüber seiner Gegenwart‘ (ibid.) Bergson sieht nicht, er
wirft nicht das Problem des cogito auf: Er setzt das totale Sein und schneidet aus diesem meine Perspektive heraus. Ein Bild kann sein, ohne wahrgenommen zu werden. So leitet Bergson
das Wahrgenommene aus dem Sein ab, anstatt, wie er ja versucht war, einen Primat der Wahrnehmung zuzugeben, eine Existenzweise, die zwischen dem An-sich und dem Für-sich-Sein
vermittelt.“] (Anm. d. Hg.: Merleau-Ponty rekurriert hier auf Materie und Gedächtnis, S. 20).
Merleau-Ponty, L’union de l’âme et du corps, a.a.O., S. 87. [„Dieser simultane Überstieg von
Realismus und Idealismus, dieses Begegnungsmoment, scheitert.“]
294
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des Bildbegriffs fange Bergson einen Sinn von Sein auf, welcher jeder Subjekt
und Objekt radikal unterscheidenden Position entgehe.
Merleau-Ponty würdigt diesen innovativen Wert der Bildtheorie, wie der Titel der elften Stunde des Seminars verrät: Matière et mémoire: le neuf et le
positif dans les analyses du premier chapitre. Abgesehen von der realistischpositiven Theorie, anerkennt Merleau-Ponty, dass Bergson zumindest versucht
habe, die Wahrnehmung in phänomenologischer Hinsicht zu denken, auch
wenn er letzten Endes aufgrund seines realistischen Vorurteils bezüglich des
Seins daran gescheitert sei, bis zum Sinn des Bewusstseins vorzudringen.
Ganz besonders würdigt Merleau-Ponty Bergsons Auffassung des Handlungssubjektes, dessen Leib das perspektivische Zentrum in der Welt bedeute und
dessen Perzeption nicht länger eine psychologische Introspektion darstelle als
viel eher eine lebenswichtige Notwendigkeit, die sich innerhalb der Welt abspiele.36
Merleau-Ponty beobachtet in Bergsons Denken ein konstantes Schwanken
zwischen einer metaphysischen und einer phänomenologischen Tendenz. Die
Wiederentdeckung Bergsons in den Fünfzigern besteht vor allem darin, eine
der beiden Tendenzen aufzugreifen, ganz besonders Bergsons ursprüngliches
Projekt einer Philosophie der Wahrnehmung und einer Erforschung der vormenschlichen Erfahrung.37 Die Relektüre Bergsons, welche Merleau-Ponty in
seinem Spätwerk anstellt, verläuft parallel zu seiner Distanzierung von Sartre
und dem Subjektivismus des frühen Husserl, was zu einem Überdenken seiner
eigenen Position führt.38 Die Präsenzontologie und die gesamte Perspektive
von Phänomenologie der Wahrnehmung, welche nach wie vor dem Subjektivismus verdankt ist und aus einer Unterscheidung von Bewusstsein und Objekt anhebt, werden mehr und mehr in Frage gestellt.
3. Merleau-Pontys Kritik an Sartres Theorie des Imaginären im Seminar Le
problème de la passivité
Das im Jahre 1955 am Collège de France gehaltene Seminar stellt einen weiteren Schritt in der Erarbeitung einer neuen Ontologie des Phänomens dar. Sartre rechtfertigt die Präsenz des Imaginären mit dem Behelf des analogon, eines
psychischen oder physischen Gehaltes, der als analogische Repräsentation des
36
37
38
Ebd., S. 83-84.
Merleau-Ponty zitierte gerne einen Satz aus Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. 180, der das
Ziel seiner Philosophie ausdrückt: „Es wäre aber noch ein letzter Versuch zu machen. Man
könnte die Erfahrung an ihrer Quelle aufsuchen, oder vielmehr oberhalb jener entscheidenden
Biegung, wo sie von ihrem ursprünglichen Wege in der Richtung auf unseren Nutzen hin abweicht und im eigentlichen Sinne menschliche Erfahrung wird.“
Zur sowohl theoretischen als auch politischen Lossagung von Sartre vgl.: „Sartre, MerleauPonty. Les lettres d'une rupture“, in: Merleau-Ponty, Maurice, Parcours deux: 1951-1961.
Lagrasse 2001, S. 129-170.
BERGSON UND MERLEAU-PONTY: BILD – PHÄNOMENOLOGIE UND ONTOLOGIE
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imaginierten Objektes erscheint. Nach Merleau-Pontys Ansicht ist das analogon jedoch nur die konstatierte Ähnlichkeit, nicht deren Rechtfertigung.
Sartres Trennung von Materie und Form in der Imagination mache das analogon unverständlich; der einzige Ausweg besteht darin, ein allmächtiges Bewusstsein anzunehmen. Merleau-Ponty zufolge ist dies denn auch Sartres
These, die sich als radikaler Idealismus entpuppe. Entsprechend weist Merleau-Ponty Sartres Unterscheidung zwischen einem realen, immanenten und
präsenten Objekt auf der einen und einem imaginären, transzendenten und nur
„quasi-präsenten“ Objekt auf der anderen Seiten zurück, also die Trennung
zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein. Außerdem affirmiert der Autor von
Das Sichtbare und das Unsichtbare die „fleischliche“ Kontinuität von Imagination und Perzeption. Merleau-Ponty sieht zwischen beiden keinen Wesensunterschied, ganz anders als Sartre, der behauptet: „[D]er Stoff [chair] des
Objekts [ist] in der Vorstellung und in der Wahrnehmung nicht der gleiche.“39
Merleau-Pontys neues Ziel besteht darin, die traditionelle Metaphysik totaler
Präsenz oder totaler Absenz zu vermeiden, um so eine vermittelnde Ontologie
zu finden. „Die vollständige Fülle“ – so lesen wir im Seminar aus dem Jahre
1955 – „ist das Ergebnis einer isolierenden Analyse; die Wahrnehmungswelt
ist voll von Lücken, Ellipsen, Allusionen, die Objekte sind ‚Physiognomien‘,
‚Verhaltensweisen‘ [‚comportements‘]“40 Das heißt: Perzeptives und onirisches Leben dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden; sie kommunizieren: „Dem Onirismus des Wachens steht also ein quasi-perzeptiver Charakter
des Traums gegenüber.“41
Insbesondere das Onirische lässt eine Unterschiedslosigkeit von Realität
und Traum, Adäquation und Inadäquation, Observablem und Inobservablem,
Innen und Außen, Ich und Anderem an den Tag treten. Diese Distinktionen,
die noch eine Phänomenologie des sinnlich wahrnehmbaren Objektes oder des
erfahrenden Leibes betreffen könnten, verschmelzen jedoch gänzlich in der
Definition des Seins, die der Autor in einem Text zu geben anhebt, dessen
Fertigstellung indes von seinem Tode im Jahre 1961 unterbrochen wird.42 Die
Reflexionen zum Sinnlichen regten zu Gedanken zum Imaginären an, da das
Sinnliche um seiner Transzendenz willen alles umfassen müsse. Die Beobachtungen zum Imaginären sind sowohl für Merleau-Pontys Definitionen des
Sinnlichen, des Sehbaren und schließlich für den Sinn des Seins gleichermaßen relevant.
39
40
41
42
Sartre, Jean-Paul, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft
(= Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, Bd. 2), Reinbek bei Hamburg 1994, S. 34
(Anm. d. Hg.: „Vorstellung“ im Originaltext: „image“).
Merleau-Ponty, Maurice, L'institution dans l'histoire personnelle et publique; Le problème de
la passivité: le sommeil, l'inconscient, la mémoire. Notes de cours au Collège de France
(1954-1955), Paris 2003, S. 167.
Ebd., S. 194.
Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, hg. u. m. Vor- und Nachw. v.
Claude Lefort, München 1986. Die Seitenzahlen folgen der auch im Deutschen
übernommenen französischen Paginierung.
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III. Ontologie
1. Ontologie des Sichtbaren
Merleau-Ponty bezweckt, vom vordualistischen Milieu unserer Erfahrung
auszugehen, aus dem heraus die Dualismen des Objektiven und des Subjektiven, des Realen und Imaginären, des Positiven und Negativen anheben. Dieser
originäre sichtbare Grund folge keinen Identitätsprinzipien, da er in sich selbst
seine latente Negation enthalte.43 Merleau-Ponty findet denn auch eine präsubjektive und präobjektive Dimension, in welcher die Dinge sich selbst wie ein
noch unbestimmtes Nervengeflecht darreichen und die Elemente enthalten, die
sie als objektiv oder subjektiv erfassbar machen. Diese Konzeption des Seins
nun ist in der Lage, die großen Aporien der metaphysischen Tradition, etwa
des Realismus und des Idealismus, die sich auf ein Sein an sich oder einen
absoluten Geist berufen, zu lösen. In diesem Sinne rehabilitiert MerleauPontys spätes ontologisches Projekt Bergsons Bildtheorie, in der ja auch das
Bild „ei-ne Existenz, die halbwegs zwischen dem ‚Ding‘ und der ‚Vorstellung
liegt‘“44 ist.
Ein perzeptueller Akt ist nun so aufgefasst, dass er eine Realität „jenseits
der Erscheinungen“ erreiche und zwar dank der Tatsache, dass Erscheinungen
einen Ort im selben Felde haben, in dem sich auch der Wahrnehmende bewegt. Auf einem absoluten Primat der Perzeption und der Erklärung der räumlichen Realität durch die temporal-qualitative Realität aufbauend – und zwar
ontologisch und nicht humanistisch –, versöhnt sich so die Spätphilosophie
Merleau-Pontys mit Bergsons „être perceptif“45. Wir werden an einen Brief
erinnert, in dem Bergson im Jahre 1915 schrieb: „[A]lles, was wir wahrnehmen, ist eine absolute Wirklichkeit […] [W]erden die Erscheinungen in ihrer
Ganzheit genommen, das heißt wieder in die ‚reale Dauer‘ zurückversetzt, so
sind sie wirklich ein Absolutes“.46
In Le visible et L’invisble wird die sinnliche Erfahrung als „Dehiszenz“ verstanden. Das meint das plötzliche Auseinanderklaffen einer pflanzlichen
Struktur zum Zeitpunkt der Reife, und bezeichnet eine Einheit, die in Zweiheit
explodiert. Die Erfahrung wird so nicht länger als Verschwisterung von Selbst
und Welt verstanden, sondern eher als eine Spaltung, die sentant und sensible
aus jenem Feld, das Merleau-Ponty als Fleisch (chair) bezeichnet, hervorgeht.
Wahrnehmendsein und wahrgenommenes Objekt sein sind nun austauschbare
Rolle im chair. Sein ist Fleisch. Merleau-Ponty sieht diese Umkehrbarkeit der
43
44
45
46
Vgl. Barbaras, Renaud, „La potenza del visibile”, in: Chiasmi 1, Milano 1999, S. 21.
Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. i.
Wie Merleau-Ponty es in einer Vorlesung aus dem Jahre 1959 definiert: „Bergson se faisant“
(Merleau-Ponty, Maurice, Signes, Paris 2003 [1960], S. 296-311. [dt.: „Bergson im Werden“,
in: Zeichen, Hamburg 2007, S. 265-280])
„Brief von Bergson an H.M. Kallen, 28 Okt. 1915“, in: Bergson, Henri, Mélanges, Paris
1972, S. 1192-1193.
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Rollen darin physisch versinnbildlicht, dass die Hand, die etwas berührt, ihrerseits von der anderen Hand des Berührenden berührt werden kann. Er versteht
dies als körperliches Analogon zur Reflexion; der Leib, der sich selbst reflektiert und sich als Subjekt und Objekt zumal erweist. Die zwei Rollen sind
natürlich verschieden, aber Fleisch zu sein ist gegenüber beiden neutral, selbst
wenn es selbst nur als die Einheit der Subjekt-Objekt-Differenz unserer Erfahrung existiert. Das Subjekt genießt damit nicht länger, wie bei Sartre, einen
Status transzendentaler Freiheit gegenüber anderen Subjekten; stattdessen
durchläuft es eine Kreisbahn, die es mit der Welt und mit jedem anderen Subjekt verbindet.47
Diese Verbindung zwischen Passivität und Aktivität entspricht dem, was
gemeinhin als „Idee“ oder „Wesen“ verstanden wurde. Anstatt begriffen zu
sein, kann das Unsichtbare als fleischliches Wesen nicht von der sinnlichen
Erscheinung abgelöst werden, ohne dabei eine zweite Positivität zu werden.
Der Gedanke der Unsichtbarkeit ist nicht von der Opazität der Erfahrung zu
lösen und so kann die Ontologie nur indirekt und negativ sein. Merleau-Pontys
Sein enthält seine Negation, sein percipi48 in sich selbst.
Die Verborgenheit des Seins muss ein Charakterzug des Seins selbst sein.
Anders als die phänomenologische Konzeption des Bildes als etwas Transparentes vermuten lässt, gibt es Merleau-Ponty zufolge keine Sichtbarkeit ohne
Unsichtbarkeit. Das Unsichtbare ist ein „innerer Rahmen“, der vom Sichtbaren
zugleich gezeigt und verborgen wird. Seine Präsenz ist wie eine Leere, eine
Absenz im Sinnlichen. Das Unsichtbare gibt dem Sichtbaren seine bedeutungsvolle Präsenz, sein aktives Wesen. Es ist wie die Tiefe des Sichtbaren,
nicht wie ein Objekt oder Noema der Subjektivität. Imaginäre Gegenstände
wie Träume, Bilder oder Mythen sind so zwischen Präsenz und Absenz angesiedelt. Wieder einmal revitalisiert Merleau-Ponty das Projekt von Materie
und Gedächtnis; gleichzeitig erinnert er an einen Brief Bergsons an William
James:
„Si nous assimilons les souvenirs à des choses, il est clair qu’il n’y a pas de milieu pour eux entre la présence et l’absence: ou ils sont tout à fait présents dans
notre esprit, et, en ce sens, conscients, ou bien, s’ils sont inconscients, ils sont
absents de notre esprit et ne doivent plus compter comme des réalités psy47
48
Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 316-317. Die traditionelle
Epistemologie betrachtete den Leib oft als Hindernis des Wissenserwerbs, als Quelle der Subjektivität und Relativität, die überwunden werden muss, um die Dinge an sich selbst zu begreifen. In seiner Rehabilitierung des Leibes, war Merleau-Ponty bestrebt, das Sein so zu definieren, dass es der Rolle des Leibes bei der Wahrnehmung gerecht würde. Sein Weg war
eben seine Ontologie des chair, enthält diese doch eine positive Bewertung all jener Aspekte
des Leibes, die traditionell als Hindernisse gesehen wurden. Auch wenn Wahrnehmung immer perspektivisch ist, so sieht sie doch die Dinge in ihrem Sein, denn ihr Sein besteht eben
darin, so sichtbar zu sein. Was also als Hindernis zwischen Wahrnehmendem und Objekt konstruiert wurde, die Dicke des Fleisches, ist just dasjenige, was die Sichtbarkeit des letzteren
erst ausmacht.
Ebd., S. 262.
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chologiques actuelles. Mais, dans le monde des réalités psychologiques, je ne
crois pas qu’il y ait lieu de poser l’alternative to be or not to be avec une pareille
rigueur.“49
2. Onirismus der Wahrnehmung und Realität der Träume
In Merleau-Pontys letztem Aufsatz Das Auge und der Geist50 aus dem Jahre
1960, der für die erste Ausgabe der Zeitschrift Art de France verfasst wurde,
entwickelt er eine Theorie der Malerei und des Bildes, die von seiner ontologischen Wende zeugt. Seine Arbeiten zum Bilde betreffen nicht jede Art von
Bild, wohl aber Werke der Kunst als Ausgangspunkt einer Theorie der Sichtbarkeit, der Wahrnehmung, des Subjektes und des Seins.
Merleau-Ponty geht davon aus, dass die Malerei, indem sie das von der gemeinen Wahrnehmung Vernachlässigte enthüllt, zeigt, dass das Sichtbare sich
nicht auf sich selbst beschränkt, sondern sich in ein unsichtbares Feld als ihr
wesentliches Moment erstreckt, ein Feld, das sich durch das Imaginäre und
das Bild selbst andeutet. Bilder integrieren eine offenbare und eine geheime
Sichtbarkeit, welcher allein es zu verdanken ist, dass wir einen inneren Eindruck der Dichte und Tiefe der Realität haben.
Verglichen mit seiner vormaligen existenzialphänomenologischen Position
wird nun eine andere Art des Imaginären als Gegner behandelt, nicht die einer
Negation der Objektivität, sondern die einer Entbergung des unsichtbaren
Feldes, aus der die Absenz explizit als solche herausragt. Davon will MerleauPonty nicht ausgehen. Bilder beziehen sich nun für ihn immer auf die Abwesenheit als Anwesenheit, nicht auf das abwesende Ding als Absenz. Das Bild
ist fern davon, bloßes Produkt eines annihilierenden, negativen Bewusstseinsaktes zu sein; es enthüllt im Gegenteil eine positive ontologische Beschaffenheit. Das Imaginäre und das Reale sind nicht radikal einander entgegengesetzt,
sondern miteinander intim verwoben. Wieder einmal scheint Merleau-Ponty
sich auf Bergsons Bildtheorie zu beziehen, die Objektivität und Imaginarität
einander nicht gegenüberstellt. Wie schon in Materie und Gedächtnis sind
Bilder das gemeinsame Feld, aus dem sowohl Realität als auch Repräsentationen hervorgehen: „Für den gesunden Menschenverstand existiert also der
49
50
Brief Bergsons an William James vom 25, März 1903, Mélanges, S. 588. [„Wenn wir die
Erinnerungen den Dingen assimilieren, dann ist klar, dass für sie zwischen Präsenz und
Absenz kein Mittelweg bleibt: Entweder sind sie unserem Geist vollkommen immanent und
in diesem Sinne bewusst, oder aber, wenn sie unbewusst sind, so sind sie von unserem Geist
abwesend und dürfen nicht mehr als aktuelle psychologische Realitäten zählen. Allerdings
glaube ich nicht, dass die Welt der psychischen Realitäten der Ort ist, an dem die Alternative
to be or not to be mit derartiger Strenge aufzustellen wäre.“]
Merleau-Ponty, Maurice, „Das Auge und der Geist“, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 275-317.
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Gegenstand an sich, und andererseits ist der Gegenstand an sich farbig, wie
wir ihn wahrnehmen: er ist ein Bild, aber ein Bild, das an sich existiert.“ 51
Das Imaginäre erhebt sich aus der unsichtbaren Tiefenstruktur des Realen,
dessen Offenbarung es darstellt. Die Verbindung von Bild und Imaginärem mit
dem Unsichtbaren ergibt eine enorme Macht ontologischer Entbergung. Die
Bilder der Malerei haben dieselbe Vorrangstellung: Sie sind Bedingungen
einer totalen Sichtbarkeit, die in die natürliche Realität integriert werden kann,
um sie zu ersetzen, sie zu überdecken, um Realität zu werden und ontologisch
beständig zu sein.
Merleau-Ponty wendet sich von jedweder antithetischer Auffassung von
Realem und Imaginärem ab. Indem er ihre gegenseitige Durchdringung und
die Seinsfülle des Bildes affirmiert, wird die Annahme der ontologischen
Nichtigkeit des Bildes und der ontologischen Positivität der Realität hinfällig.
Durch sein bloßes Sehen berührt der Maler beide Extreme, um sie im Bilde zu
enthüllen, sie dem Blick des Betrachters darzubieten und das das Rätsel des
In-der-Welt-Seins zum Leben zu erwecken.
Die visuelle Kunst hat somit einen ontologischen Wert. Sie erlaubt einen
neuen Zugang zum Sein. Des Weiteren intensivieren die Bilder der Kunst die
ontologische Kraft, die der Wahrnehmung von Natur aus schon eigen ist, die
aber das rechnende Denken verdunkelt zu haben scheint. In der Konferenz Die
Wahrnehmung der Veränderung, die im Jahre 1911 in Oxford stattfand, und
die in Merleau-Pontys späteren Werken oft zitiert wird, hatte Bergson bereits
die Rolle des Künstlers auf ähnliche Weise dargestellt: „In demselben Maße,
wie sie [sc. die Künstler] zu uns sprechen, erscheinen Nuancen des Fühlens
und Denkens, die seit langem in uns gleichsam schlummerten und unsichtbar
blieben“.52
Auch Merleau-Ponty geht davon aus, dass sich vor einem Bild eine neue
Möglichkeit des Sehens ergibt, das die Dinge durchdringt und ihr „fleischliches Wesen“ enthüllt: „[I]ch betrachte es [sc. das Bild] nicht, wie man ein
Ding betrachtet, ich fixiere es nicht an einem Ort, mein Blick schweift in ihm
umher wie in der Gloriole des Seins, ich sehe eher dem Bilde gemäß oder mit
ihm, als daß ich es sehe.“53 Die Kunst kann die imaginäre Struktur der Realität
zeigen, die gegenseitige Durchdringung von Sichtbarem und Unsichtbarem. In
diesem Sinne spricht Merleau-Ponty von der „Macht der Bilder“54, als wesenhaftes Korrelat des Onirismus der Wahrnehmung.
51
52
53
54
Bergson, Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. ii.
Bergson, Denken und Schöpferisches Werden, a.a.O., S. 155.
Merleau-Ponty, „Das Auge und der Geist“, a.a.O., S. 282.
Ebd., S. 290.