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BIOSEMANTIK Repräsentation, Intentionalität, Norm HABILITATIONSSCHRIFT zur Erlangung der Lehrbefähigung für das Fach Philosophie vorgelegt dem Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin von Dr. Markus Wild geb. am 06. April 1971 in Flawil (CH) Präsident: Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz Dekan: Prof. Michael Seadle, PhD Zulassung zum Verfahren: 14.07.2010 Habilitationskolloquium: 15.12.2010 Gutachter: Prof. Dr. Wolfgang Detel Prof. Dr. Dominik Perler Prof. Dr. Tobias Rosefeldt „nous autres naturalistes“ (Michel de Montaigne) 2 Vorwort Bücher haben ihre Schicksale auch schon bevor sie Bücher sind. Zum thematischen Kern dieses Buchs gehört es, dass Intentionalität und Normativität wesentlich geschichtlich sind. Und es gehört zu seinem methodischen Kern, dass Philosophie ohne ihre Geschichte blind und Philosophiegeschichte ohne Philosophie leer ist. Es mag deshalb erlaubt sein, etwas über sein bisheriges Schicksal zu sagen. Die Erstskizze zu diesem Buch, die mittlerweile fünf Jahre alt ist, fasste die Absicht, ein funktionales und darwinistisches Argument für die Existenz eines nicht-begrifflichen Inhalts der visuellen Wahrnehmung zu formulieren. Dieses Argument zielte auf eine Verbindung der Debatte um die Zulässigkeit nicht-begrifflicher Inhalte mit einer bestimmten Version der Teleosemantik. Bei dieser Version handelte es sich um den durch Fred Dretske und Michael Tye seit 1995 verteidigten Repräsentationalismus, für den alle Aspekte der Wahrnehmung repräsentationale Aspekte sind. Mittlerweile halte ich diese Version der Teleosemantik und ihren Repräsentationalismus für falsch. Der Grund dafür besteht, vereinfacht gesagt, darin, dass sie der Komplexität der intentionalen und phänomenalen Beschaffenheit von Lebewesen nicht gerecht werden kann. Als weitaus ansprechendere und anspruchsvollere Version der Teleosemantik stellt sich Ruth Millikans Biosemantik dar. Zu dieser Einsicht hat sicher nicht zuletzt auch das persönliche Gespräch mit dieser Philosophin ihren Teil beigetragen hat. Die Biosemantik sollte das Argument der Erstskizze, das ich nach wie vor für richtig halte und in diesem Buch auch vertrete1, stützen. Allerdings sind Millikans gelegentliche Äußerungen zur Wahrnehmung im Allgemeinen und zum Sehen im Besonderen zwar äußerst anregend, dafür wenig systematisch. Zwei zusätzliche Schwierigkeiten gesellten sich hinzu. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass Millikan (und viele andere Vertreterinnen und Vertreter eines teleologischen Ansatzes in der Philosophie des Geistes) zwar munter davon ausgehen, dass die Philosophie naturalistisch verfahren soll, dass es natürliche Normen gibt und dass Menschen wesentlich Tiere sind. Nur leistet sie für diese drei weder unerheblichen noch selbstverständlichen Annahmen tatsächlich keine ausreichende philosophische Arbeit. Die dritte Schwierigkeit betrifft weniger die Biosemantik selbst, sondern ihre – man muss wohl sagen: eher verhaltene – Rezeption in der deutschsprachigen Philosophie. Fast drängt sich der Eindruck auf, man entgehe einer Auseinandersetzung mit diesem komplexen Theoriegebäude dadurch, dass man es auf dem 1 Vgl. Abschnitt 5.1.4.2. 3 philosophischen Wohnungsmarkt mit ganz anderen naturalistischen Ansätzen klassifiziert und so preislich massiv unterbewertet. Um die Erstskizze herum begannen sich also nicht wenige Aufgaben zu türmen. Die letzte der genannten drei Schwierigkeiten habe ich dadurch angepackt, dass ich die Grundgedanken von Millikans Biosemantik in einen anderen Kontext als jenen der zeitgenössischen Naturalismusdiskussion versetzte, der ihr jedoch keineswegs äußerlich ist. Dieser Kontext wird zum einen durch die pragmatistische Semiotik von Charles S. Peirce und Charles W. Morris und zum anderen durch den normativen Naturalismus von Wilfrid Sellars gebildet. Daraus ist das erste Kapitel dieses Buches geworden. Die Bewältigung der zweiten Schwierigkeit bestand schlicht darin, die erwähnten drei Annahmen extensiv zu verteidigen. Die treibende Intuition der Biosemantik lautet, die Normativität von intentionalen Repräsentationen, d.h. ihre Möglichkeit richtig oder falsch zu sein, mit dem dezidierten Verweis auf die natürliche Teleologie zu erklären. Repräsentationen sind Strukturen, die die Funktion haben, etwas als etwas zu repräsentieren, und die bisweilen diese ihre Funktion nicht erfüllen. Es ist also der teleologische Begriff der Funktion der intentionalen Repräsentationen Normativität verleiht. Handelt es sich hier denn tatsächlich und im vollen Sinn des Wortes um Normativität? Handelt es sich nicht nur um etwas, das dem Vollsinn einer Norm analog ist? Und warum sollen natürliche (biologische) Funktionen für kulturelle Wesen, wie wir es sind, von Bedeutung sein? Es musste also erstens gezeigt werden, dass ein Naturalismus nach Darwin berechtigt ist von einer natürlichen Teleologie zu sprechen und dass das Geschäft der philosophischen Erklärung (darum geht es in der Philosophie) als Vereinheitlichung betrieben werden muss. Daraus ist das zweite Kapitel geworden. Zweitens musste dargelegt werden, dass sowohl natürliche als auch kulturelle und moralische Normen Normen gleicher Art, Normen im selben Sinne sind. Damit befasst sich das für dieses Buch zentrale dritte Kapitel, in welchem ich auch weit über das von Millikan oder anderen Versionen der Teleosemantik vertretene Ideengut hinausgehe und die Biosemantik mit Ansätzen der neoaristotelischen Tugendethik in Verbindung setze. Schließlich musste für die dritte Annahme argumentiert werden, dass Menschen wesentlich Tiere sind. Das vierte Kapitel unternimmt deshalb eine Verteidigung dieser als „Animalismus“ bezeichneten These. Einer Verteidigung jeder dieser drei Annahmen legen sich Vorurteile in den Weg, die beiseite geschafft werden mussten. Dazu gehören etwa die Vorurteile, dass der Naturalismus reduktionistisch sei und dass es einen Gegensatz zwischen einem Naturalismus der ersten und der zweiten Natur gebe, dass Normen wesentlich Tun- oder 4 Sollensnormen sind oder dass Darwin und Aristoteles Antipoden wären, dass Menschen als Tiere betrachten bedeute, sie zu „vertieren“, oder dass nicht-menschliche Tiere des Selbstbewusstseins als einer wesentlichen Bedingung für Personalität und Rationalität entbehrten. Erst im fünften und letzten Kapitel finden sich die Überreste der Erstskizze und der Versuch, eine biosemantische Theorie der Wahrnehmung zu formulieren. Darin bestand ja die dritte Aufgabe, die sich um die Erstskizze auftürmte. Ich habe dabei, für einen Naturalisten vielleicht erstaunlich genug, die besten Anregungen in phänomenologischen Wahrnehmungstheorien, in der philosophischen Ästhetik und in der Philosophie von Thomas Reid angetroffen. Ich habe lange gebraucht um zu sehen, warum es so schwierig ist, eine biosemantische Wahrnehmungstheorie im Ansatz zu formulieren. Das Vorurteil, das sich mir hierbei in den Weg legte, bestand darin, dass eine philosophische Wahrnehmungstheorie, im Unterschied zu einer empirischen, bei einer Innenperspektive anzusetzen habe, und nicht bei einer Außenperspektive. Dem Gegensatz zwischen Innen- und Außenperspektive und den Gründen, die zu einem philosophisch gemeinten Ansatz von außen führen, wird im letzten Kapitel aus diesem Grunde nicht wenig Raum gewährt. Man sieht es: Bücher haben also ihre Schicksale auch schon bevor sie Bücher sind. Aus dem ursprünglichen Plan der Formulierung, Artikulation und Verteidigung eines Arguments ist ein Buch geworden, das nach einem einheitlichen naturalistischen Bild unserer Stellung in der natürlichen Welt strebt (die unter anderem auch das ursprüngliche Argument enthält). Das Ziel hat sich also gewandelt und ist ein anderes geworden. Immer weniger ging es um die präzise Ausarbeitung eines Arguments als um die einheitliche Skizze eines Bildes vor dessen Hintergrund weitere philosophische Arbeit geleistet werden kann. Den in meiner Tierphilosophie2 formulierten Grundsätzen folgend verwende ich häufig durch empirische Forschungen informierte Beispiele aus dem Reich der Tiere. Diese an paradigmatischen Tierbeispielen, aber auch an historischen oder ästhetischen Beispielen, orientierte Argumentation ist der Biosemantik nicht äußerlich, sondern sie entspricht sowohl ihrem naturalistischen und historischen Ansatz als auch ihrer Methode der Theoriekonstruktion.3 Die teilweise extensive Bezugnahme auf naturgeschichtliches und sonstiges historisches Material mag manchen in einer philosophischen Arbeit überraschen. Mich hingegen hat vielmehr die Uninformiertheit überrascht, mit der naturalistische Philosophen und deren Kritiker empirisches Material bisweilen einsetzen. Das Buch ist 2 3 Wild 2008. Vgl. dazu Abschnitt 1.1.6. 5 nicht zuletzt auch deshalb ein umfangreiches Buch geworden. Dies stellt in einer zeitschriftenaufsatzformatfixierten Zeit vielleicht eine Zumutung dar. Als schwache Entschuldigung kann ich nur vorbringen: Es hätte sogar noch umfangreicher werden sollen.4 *** Zu den Schicksalen eines Buchs gehören immer auch Menschen, denen man für Rat und Tat zu danken hat. In erster Linie danke ich ausnahmslos allen, sowohl derzeitigen als auch ehemaligen Mitarbeitern am Lehrstuhl für theoretische Philosophie der HumboldtUniversität zu Berlin und im Leibniz-Projekt „Transformationen des Geistes“ von Dominik Perler und natürlich ihm selbst. Insbesondere Johannes Haag (Potsdam), Martin Lenz (Berlin) und Simone Peter (Basel) haben Stücke dieser Arbeit gelesen, kommentiert, gelobt, beargwöhnt und beanstandet. Danke dafür! Weiter danke ich zahlreichen Gesprächsteilnehmern während Vorträgen und Workshops in Konstanz, Potsdam, Berlin, Zürich, Bern und Fribourg. Schließlich bedanke ich mich bei Ruth Millikan (Connecticut), die herzlich, witzig und scharfsinnig immer wieder auf Mails von mir geantwortet hat. Und weil Bücher ihre Schicksale haben, wird diese Reihe zu bedankender Menschen und der Dank, den ich den darin bereits aufgeführten schulde, dessen bin ich mir sicher, noch länger werden. Das sind Schulden, auf die man sich freut. Berlin, im Juni 2010 Markus Wild 4 Vgl. dazu das Nachwort. 6 INHALT 1. BIOSEMANTIK IM KONTEXT 1.1. Grundzüge der Biosemantik .............................................................................................. 9 1.1.1. Vorhaben, Vorgehen, Vorurteile ....................................................................... 9 1.1.2. Repräsentation und Intentionalität .................................................................. 22 1.1.3. Repräsentationaler Inhalt und intentionaler Inhalt .......................................... 34 1.1.4. Grundbegriffe der Biosemantik ...................................................................... 49 1.1.5. Der Bienentanz als Paradigma der Biosemantik .............................................. 62 1.1.6. Theoriekonstruktion: Aussagen und Überzeugungen ...................................... 69 1.1.7. Die Reichweite der Biosemantik: Bakterien und Lyrik .................................... 78 1.2. Rekontextualisierung der Biosemantik .......................................................................... 89 1.2.1. Pragmatistische Semiotik und Sellars .............................................................. 89 1.2.2. Peirce: Anticartesianismus und Semiotik ......................................................... 92 1.2.3. Mead: Kommunikation und Bedeutung .......................................................... 96 1.2.4. Morris: Semiotischer Behaviorismus ............................................................... 99 1.2.5. Normative Transformation des semiotischen Behaviorismus........................ 103 1.2.6. Sellars: Normativer Naturalismus.................................................................. 111 1.2.7. Sellars: Tierliche Repräsentations-Systeme (TRS) .......................................... 128 1.3. Vier Probleme der Biosemantik .................................................................................... 135 2. NATURALISMUS 2.1. Natürliche Teleologie .................................................................................................... 140 2.2. Was der Naturalismus der Biosemantik nicht ist ........................................................ 157 2.3. Vereinheitlichung und Biologischer Naturalismus ..................................................... 166 2.4. Zwei Naturen, ein Naturalismus .................................................................................. 189 3. NATÜRLICHE NORMEN 3.1. Normative Kategorien .................................................................................................... 200 3.1.1. Das Normativitätsproblem ........................................................................... 200 3.1.2. Hartmann über Tunsollen und Seinsollen ..................................................... 205 3.1.3. Geach über „gut“ ......................................................................................... 208 3.1.4. Was sind normative Kategorien? .................................................................. 212 3.2. Funktionale normative Kategorien ............................................................................... 217 3.2.1. Gegen Searles Funktionsthese ...................................................................... 217 3.2.2. Gegen die Organismustheorie ...................................................................... 226 3.2.3. Biologische funktionale normative Kategorien: die Standardsicht ................. 231 3.2.4. Das Auge als Beispiel.................................................................................... 244 3.2.5. Kulturelle funktionale normative Kategorien ................................................ 250 3.2.6. Kulturelle Welt und Kreativität ..................................................................... 261 3.3. Spezifische normative Kategorien ................................................................................. 274 3.3.1. Thompson und Foot über Lebensformen..................................................... 274 3.3.2. Aristotelische Lebensformen als biologische Arten ....................................... 289 3.3.3. Natürliche Gutheit für Menschen ................................................................. 300 7 4. SUMPFMANN UND ANIMALISMUS 4.1. Hat die Biosemantik ein Sumpfmannproblem?........................................................... 313 4.2. Das Argument für den Animalismus ............................................................................ 329 4.3. Das Ersetzungsproblem ................................................................................................ 336 4.4. Selbstbewusstsein: Das Schimpansen-Argument ........................................................ 342 5. EINE BIOSEMANTISCHE THEORIE DES SEHENS 5.1. Konsumenten und Produzenten .................................................................................... 353 5.1.1. Ein Biologiemärchen .................................................................................... 354 5.1.2. Erste Reaktion: Mangelnde Differenzierungen ............................................. 357 5.1.3. Zweite Reaktion: Kritik der produzentenorientierten Version....................... 361 5.1.3.1. Information als Grundlage? ................................................................... 365 5.1.3.2. Die Verwechslung von R-Inhalt und IR-Inhalt ...................................... 368 5.1.3.3. Das Problem der Gehaltsbestimmung.................................................... 370 5.1.3.4. Die Transparenz der Erfahrung ............................................................. 379 5.1.4. Zwei Gemeinsamkeiten teleosemantischer Theorien der Wahrnehmung ...... 384 5.1.4.1. Sehen als Repräsentieren ........................................................................ 384 5.1.4.2. Vier Arten nicht-begrifflichen Inhalts .................................................... 396 5.1.5. Dritte Reaktion: Kritik der Kausalen Theorie des Sehens ............................. 406 5.1.5.1. Das Nomische Korrelationsprinzip........................................................ 406 5.1.5.2. Kausale Theorie des Sehens und veridische Halluzinationen .................. 408 5.1.5.3. Superman, Geronimo, Zombies und Olfaktoren .................................... 411 5.2. Innenperspektive und Außenperspektive ..................................................................... 418 5.2.1. Sehen als Prozess in der Welt und als Erfahrung von der Welt ....................... 418 5.2.2. Erstes Problem der Innenperspektive: Unmittelbarkeit ................................. 422 5.2.3. Zweites Problem des Innenperspektive: Einheitlichkeit ................................ 431 5.2.4. Drittes Problem der Innenperspektive: Überintellektualisierung ................... 433 5.3. Eine biosemantische Theorie des Sehens .................................................................... 445 5.3.1. Drei Motivationen für die Außenperspektive ................................................ 445 5.3.1.1. Commonsense und die Außenperspektive ............................................. 445 5.3.1.2. Das Winckler-Beckett-Problem.............................................................. 448 5.3.1.3. Der blinde Geronimo ............................................................................ 454 5.3.2. Die biosemantische Theorie der (visuellen) Wahrnehmung .......................... 457 5.3.2.1. Input-, System- und Output-Komponenten von P-Mechanismen .......... 457 5.3.2.2. R-Inhalte und IR-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen ................ 461 5.3.2.3. Anmerkung über Qualia......................................................................... 466 5.3.3. Aneignungen und Eignungen ....................................................................... 468 5.3.3.1. Sehen als Tätigkeit von Lebewesen ........................................................ 468 5.3.3.2. Tätigkeiten als Aneignungen .................................................................. 475 5.3.3.3. Eignungen ............................................................................................. 485 5.3.4. Natürliche und erworbene Wahrnehmung .................................................... 489 5.3.4.1. Reids semiotischer Realismus ................................................................. 489 5.3.4.2. Natürliche und erworbene Wahrnehmung ............................................. 494 5.3.4.3. Erworbene Wahrnehmung und kulturelle Kategorien ............................ 500 5.3.5. Fotografische Transparenz und Homogenitäts-Einschränkung..................... 508 Nachwort ............................................................................................................................... 520 Literatur ................................................................................................................................. 524 8 1. BIOSEMANTIK IM KONTEXT 1.1. Grundzüge der Biosemantik 1.1.1. Vorhaben, Vorgehen, Vorurteile Das Ziel dieses Buches5 ist die Verteidigung einer sowohl anspruchsvollen als auch attraktiven Version der Teleosemantik. Teleosemantische Theorien sind naturalistische und repräsentationalistische Theorien des Geistes. Ihr Kennzeichen ist der Rückgriff auf einen teleologischen und normativen Begriff der Funktion zur Erklärung des intentionalen Inhalts von Repräsentationen. Den für sie relevanten Begriff der Funktion und ihr Verständnis von Lebewesen führen die meisten Versionen der Teleosemantik auf die Evolutionstheorie von Darwin zurück.6 Die hier vertretene Version der Teleosemantik, die ich als „Biosemantik“ bezeichnen werde,7 nimmt im Wesentlichen auf Ruth Millikans Arbeiten Bezug.8 Anspruchsvoll ist diese Version einerseits in ihrer Reichweite und Das Buch ist in fünf Kapitel eingeteilt. Auf alle Einteilungen unterhalb der Ebene von Kapiteln beziehe ich mich mit dem Ausdruck „Abschnitt“. Innerhalb des Textes und der Fußnoten wird bisweilen auf Abschnitte vor- oder zurückverwiesen, indem nach einer Behauptung im Text in Klammern die Nummerierung des entsprechenden Abschnitts angeführt wird, beispielsweise „(2.4.)“ oder „(5.1.3.1.)“. Die kürzeren Kapitel 2 und 4 enthalten lediglich Abschnitte (wie etwa 2.1. oder 4.3.), die längeren Kapitel 1 und 3 hingegen enthalten auch Unterabschnitte (wie 1.1.5. oder 3.3.1.). Bei Kapitel 5 habe ich mich der dafür entschieden nicht nur Unter- sondern auch Unterunterabschnitte zu verwenden (wie 5.3.4.2.). Dies ist zwar nicht schön, dafür aber gut. Es erhöht die Übersichtlichkeit über den komplizierten und verzweigten Gedankengang im letzten Kapitel. 6 Wie Karen Neander es ausdrückt: „There are a number of different teleological theories of mental content […] it’s central to all of them that a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of content.“ (Neander 2006: 550) Auf Literatur wird durchgehend nach der Art des vorstehenden Beispiels verwiesen. Die ausführlichen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Auf Seitenzahlen wird mit arabischen Ziffern, auf Buchkapitel hingegen mit römischen Ziffern verwiesen. Die fünf Bücher von Millikan werden mittels der folgenden, auch von Millikan verwendeten, Siglen zitiert, die sich abermals am Anfang des Literaturverzeichnisses aufgeführt finden: LTOBC = Millikan 1984 (Language, Thought and Other Biological Categories), WQP = Millikan 1993a (White Queen Psychology), OCCI = Millikan 2000a (On Clear and Confused Ideas), VM = Millikan 2004a (Varieties of Meaning), LBM = Millikan 2005a (Language. A Biological Model). 7 Ich werde den Ausdruck „Biosemantik“ stets als Namen für das gesamte philosophische Projekt Millikans verwenden. Dieser Gebrauch weicht von demjenigen Millikans ab, denn sie bezeichnet als „Biosemantik“ lediglich jenen Teil ihres Ansatzes, der sich mit dem intentionalen Inhalt innerer Repräsentationen befasst (WQP: IV, Millikan 2009a). Es scheint mir aber sinnvoll zu sein, einen Namen für das gesamte Projekt zu haben, der Millikans Teleosemantik von anderen Versionen unterscheidet. Da Millikan nicht nur innere Repräsentationen, sondern auch kommunikative Signale und sprachliche Repräsentationen als biologische Kategorien betrachtet – schließlich bezeichnet der Titel ihres Erstlings Language, Thought and Other Biological Categories sowohl Sprache als auch Denken als biologische Kategorien – ist diese erweiterte Verwendung gerechtfertigt. Die Biosemantik ist also eine besonders ambitionierte Version der Teleosemantik. 8 LTOBC liefert die begrifflichen, semantischen und ontologischen Grundlagen der Biosemantik, die Aufsätze in WQP behandeln vorwiegend die Philosophie des Geistes, jene in LBM die Sprachphilosophie. VM gibt eine semiotische Reformulierung der Biosemantik und ergänzt sie um eine Theorie der natürlichen Zeichen. OCCI schließlich formuliert eine in LTOBC noch fehlende Theorie der Begriffe. Das Projekt bleibt 5 9 andererseits dadurch, dass sich Anschlussmöglichkeiten an andere philosophische Theorien ergeben; attraktiv ist die Biosemantik durch ihre vereinheitlichende, explanatorische Kraft. Die vorliegende Arbeit strebt nach der Skizze eines einheitlichen naturalistischen Bildes unserer Stellung in der natürlichen Welt – eine Skizze, auf deren Grundlage und mithilfe der in ihr artikulierten Theorieelemente weitere philosophische Arbeit geleistet werden kann. So erweist sich die Biosemantik, entgegen ihrem vorwiegend schlechten Ruf in der deutschsprachigen Philosophie, als produktives philosophisches Projekt.9 Dabei wird Millikans Ansatz nicht nur in einigen Punkten präzisiert und korrigiert oder von Einseitigkeiten und Mängeln befreit, sondern die implizite naturalistische Grundlage des biosemantischen Ansatzes, die Millikan selbst weder explizit macht noch verteidigt, wird erarbeitet. Die meisten teleosemantischen Theorien beginnen mit der Analyse der Repräsentationen in simplen Organismen. Auch ich möchte die Grundidee der Teleosemantik anhand eines solchen Beispiels einführen, das im Folgenden öfters auftauchen wird. Es sollen dabei auch grundsätzliche Optionen für teleosemantische Theorien unterschieden werden, um die Biosemantik genauer charakterisieren zu können.10 Im Atlantik kann man Bakterien finden, die kleine magnetische Teilchen in sich tragen, sogenannte „Magnetosome“. Diese Magnetosome funktionieren im Prinzip wie Kompassnadeln: Sie richten sich in kleinen Ketten parallel zum Magnetfeld der Erde aus. Und als Folge davon richten sich auch die Bakterien entsprechend aus. Was ist die Funktion dieser Magnete? Da die Linien des Magnetfeldes in der nördlichen Hemisphäre nach unten zeigen (in Richtung des nördlichen geomagnetischen Pols), bewegen sich die Bakterien der nördlichen Erdhälfte mittels ihres Fortbewegungsapparats und angewiesen durch ihre inneren Magnetosome in Richtung des geomagnetischen Nordpols. Diese Bakterien überleben nur in sauerstofflosem Wasser, sauerstoffreiches Wasser ist für sie toxisch. Weil die Bewegung in Richtung geomagnetischer Norden die Bakterien weg von sauerstoffreichen und für sie toxischen Wasseroberflächen in sauerstoffarme, tiefere Wasserschichten bringt, ist es naheliegend, dass die Funktion dieses sensorischen Systems darin besteht, die Richtung sauerstoffarmer Wasserschichten anzuzeigen. Magnetosome zeigen die Ausrichtung des geomagnetischen Erdfeldes an und haben die Funktion, die in den Grundzügen von LTOBC bis LBM dasselbe, Millikan verändert jedoch auf eine bisweilen verwirrende Weise ihre Begrifflichkeit und setzt unterschiedliche Akzente, was leicht zu Fehldeutungen führen kann. 9 Vgl. dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Abschnitt. 10 Das folgende Beispiel für Repräsentationen einfacher Organismen hat Dretske 1986 als erster verwendet. Die Organismen sind zwar einfach, aber das Beispiel offenbar nicht, was eher groteske Missverständnisse in der philosophischen Literatur belegen (Rowlands 1997; Heckmann 1994: 206ff.). Diese Form der Magnetotaxis wurde ursprünglich an Magnetospirillum mangetotacticum durch Richard Blakemore entdeckt, auf dessen Forschung Dretske sich bezieht (vgl. Blakemore 1975, 1981; Blakemore und Frankel 1981). 10 Bakterien in für sie vorteilhafte Lebensräume zu manövrieren. Der Teleosemantik zufolge legt die Funktion der kleinen, parallel zum Erdmagnetfeld ausgerichteten Magnetosomketten den Inhalt dieser repräsentationalen Strukturen fest. Die Magnetosome haben also eine bestimmte Funktion. Sie sind da, um etwas Bestimmtes zu tun, und weil sie etwas Bestimmtes tun, sind sie da. Der Ausdruck „da“ bezeichnet sowohl die Tatsache, dass diese Teilchen überhaupt als biologische Eigenschaften der Bakterien existieren, als auch die Tatsache, dass sie sich an einer bestimmten Stelle dieser Bakterien befinden. Das ist der teleologische Aspekt von Funktionen. Die Funktion der Magnetosome ist historisch entstanden, denn bei dem Navigationssystem der Bakterien handelt es sich offenbar um eine Adaptation, und eine solche Adaptation kann als Resultat der Evolution durch die natürliche Selektion verstanden werden.11 Die Funktion der Magnetosome wird also durch einen naturhistorischen Prozess erklärt. Aufgrund dieser Wirkungen wurden Magnetosome im Laufe der Evolution selektiert. Bei Funktionen handelt es sich deshalb nicht um beliebige Wirkungen, sondern um selektionierte Wirkungen. Aufgrund ihrer Funktion sollen die Magnetosome bestimmte Wirkungen für das Bakterium tun. Bilden sich die Magnetosome beispielsweise nur mangelhaft aus, so können sie diese Wirkungen nicht zeitigen. Dennoch ist es auch die Funktion schadhafter Magnetosome, bestimmte Wirkungen zu zeitigen. Das ist es, was sie als Magnetosome tun sollen, als deformierte Exemplare jedoch nicht tun können. Funktionen als selektierte Wirkungen haben also eine normative Dimension. Die naturhistorisch oder kulturhistorisch selektierten Wirkungen eines Merkmals mit einer normativen Dimension werde ich von jetzt an als „Echte Funktionen“ (proper function) bezeichnen.12 Nicht alle Versionen der Teleosemantik sind der Ansicht, dass Funktionen historisch bestimmt werden müssen. Denn Funktionen können beispielsweise auch durch kausale Rollen in einem Organismus bestimmt werden. Auch teilen nicht alle teleosemantischen Theorien die Ansicht, dass Funktionen eine normative Funktion zukommt. Denn Funktionen scheinen eher biologische Tatsachen als Normen zu sein.13 11 Häufig wird der Ausdruck „Adaptation“ in Lehrbüchern der Evolution als durch natürliche Selektion entstandenes biologisches Merkmal definiert. Ich möchte unter einer „Adaptation“ jedoch zunächst einfach ein Merkmal verstehen, das einem Lebewesen dazu verhilft, sich in seiner Umwelt zu behaupten und sich zu vermehren. Die natürliche Selektion ist eine Erklärung für die Existenz solcher Merkmale. Vgl. zu diesem Punkt die Abschnitte 2.2. und 3.2.3. 12 Der Ausdruck „proper function“ ist Millikans Ausdruck (vgl. LTOBC: I, WQP: I, Millikan 1989, 2002). Die Großschreibung des Adjektivs „echt“ soll, wie weitere Großschreibungen von Adjektiven auch, anzeigen, dass es sich um einen Begriff mit einer normativen Dimension handelt. Ich werde beispielsweise in den Abschnitten 1.1.4. und 2.3. weitere solche Begriffe einführen (wie den Begriff der „Normalen Erklärung“ oder des „Biologischen Naturalismus“). 13 Die Verteidigung der Historizität und Normativität von Funktionen findet sich in Abschnitt 1.1.4. und in Kapitel 3. 11 Wir haben anhand der Magnetosome umrissen, was eine Echte Funktion sein soll. Doch worin genau besteht die Echte Funktion der Magnetosome? Magnetosome zeigen die Richtung des geomagnetischen Nordpols an, es besteht eine naturgesetzliche Relation zwischen der Ausrichtung der Magnetosome und der Richtung des geomagnetischen Nordpols. Nun könnte man sagen, dass es die Echte Funktion der Magnetosome ist, die Richtung des geomagnetischen Nordpols anzuzeigen. Die Magnetosome repräsentieren demzufolge die Richtung des geomagnetischen Nordpols.14 Aber was will das Bakterium am Nordpol? Was es braucht sind weder Eisberge noch Eisbären, sondern sauerstoffarme Wasserschichten. Die Magnetosome sollen die Bakterien in sauerstoffarme Wasserschichten manövrieren. So kann man sagen, dass es die Echte Funktion der Magnetosome ist, die Richtung solcher Wasserschichten anzuzeigen. Die Magnetosome repräsentieren demzufolge die Richtung sauerstoffarmer Wasserschichten.15 Die erste Antwort achtet nur auf die Magnetosome und auf die durch sie gebildeten repräsentationalen Strukturen, die zweite Antwort hingegen achtet darauf, was diese Strukturen den Bakterien nützen. Die erste Antwort richtet das Augenmerk auf die Hervorbringung oder Produktion der repräsentationalen Strukturen, die zweite hingegen auf ihre Nutzung oder Konsumation. Entsprechend unterschiedlich fällt die Festlegung der Echten Funktion der Magnetosome aus, und entsprechend verschieden fällt auch die Bestimmung des Inhalts der repräsentationalen Strukturen aus. Man kann deshalb zwischen zwei grundsätzlichen Versionen der Teleosemantik unterscheiden, nämlich einer produzentenorientierten und einer konsumentenorientierten Version. Die Biosemantik ist eine konsumentenorientierte Version.16 Nun mag eine dieser beiden Versionen vielleicht plausibel für solch simple Repräsentations-Systeme wie magnetotaktische Bakterien sein, doch wie steht es mit anspruchsvolleren Repräsentations-Systemen? Es ist umstritten, ob die Teleosemantik anspruchsvoll oder doch lieber bescheiden sein sollte. Diese Meinungsverschiedenheit hat unterschiedliche Aspekte. Bescheidene Theoretikerinnen und Theoretiker betrachten die Vgl. Dretske 1986. Vgl. WQP: IV. 16 Vgl. WQP: IV; Matthen 2006. Zum Konsumenten vgl. die Abschnitte 1.1.3.-1.1.4. Allerdings bedeutet dies nicht, dass Produzenten in der Biosemantik keine Rolle spielen: „As a corrective to the emphasis that others in the teleosemantic business have placed on the function of the representation producers, Millikan […] has recently been emphasizing the devices that use or ‘consume’ representations. The official statement of Millikan’s position, LTOBC, however, emphazises producer and consumer equally. It also distinguishes the functions of these two from a third and quite different thing, the representation itself. The roles that these three items play are distinct but equally important for an analysis of mental semantics.“ (WQP: 125f.) Auf das Zusammenspiel von Produzent und Konsument in Wahrnehmungen werde ich in Kapitel 5 ausführlich zu sprechen kommen. 14 15 12 Teleosemantik als valable Theorie für einige unflexible angeborene Repräsentationen,17 als semantisches Fundament der Neurobiologie18 oder als Theorie von Überzeugungen und Wünschen unter Ausschluss des phänomenalen Bewusstseins.19 Andere hingegen betrachten die Teleosemantik unbescheiden als Theorie für alle mentalen Zustände,20 einschließlich des phänomenalen Bewusstseins.21 Anspruchsvolle Versionen schließlich betrachten die Teleosemantik als Theorie für alle repräsentierenden Entitäten, nicht nur für mentale Repräsentationen, sondern auch für nicht-mentale Repräsentationen wie sprachliche Repräsentationen und andere kulturelle Produkte. Die anspruchsvolle Version der Teleosemantik ist die Biosemantik. Bescheidenheit ist nicht immer eine Tugend. Meines Erachtens sollte eine philosophische Theorie anspruchsvoll sein. Das liegt in der Natur philosophischer Theorien, die als solche nach Vereinheitlichung streben (2.3.-2.4.). Die Biosemantik erhebt den Anspruch, nicht nur eine naturalistische Theorie des Geistes zu sein, sondern auch eine entsprechende Theorie der Kultur zu liefern. Sie ist eine Theorie nicht nur für die intentionalen Inhalte der internen Zustände und externen Signale sprachloser Lebewesen, sondern auch für die intentionalen Inhalte der internen Zustände und externen Symbole fantasie- und sprachbegabter Lebewesen. Die Biosemantik ist also anspruchsvoll, sie geht von einem historisch-normativen Begriff der Funktion aus, und sie ist konsumentenorientiert. Diese vier Charakteristika (anspruchsvoll, historisch, normativ, konsumentenorientiert) zusammen zeichnen die Biosemantik gegenüber anderen Teleosemantiken aus. Das Ziel dieser Schrift ist, so sagte ich, die Verteidigung der Biosemantik. Die Strategie zur Erreichung dieses Ziels besteht im Folgenden: Ausgegangen wird von (scheinbar theorieinternen) Problemen der Teleosemantik. Ich nenne sie hier kurz in Form von vier Fragen und werde sie am Ende dieses Kapitels ausführlicher erläutern (1.3.):22 Vgl. Sterelny 1990; Neander 1996, 2006; Price 2001. Vgl. Ryder 2004. 19 Vgl. McGinn 1989. 20 Vgl. Papineau 1993. 21 Vgl. Dretske 1995. 22 Ein weiterer, häufig gegen die Biosemantik vorgebrachter Kritikpunkt lautet, dass es ihr nicht gelingen kann höherstufige Formen der Repräsentation einzubeziehen, wie sie für endliche, rationale Wesen charakteristisch sind. Ich kann in dieser Arbeit nicht auf dieses Problem eingehen, sondern lediglich die Grundlagen für eine naturalistische Beantwortung der entsprechenden Frage legen. Die in Millikans Biosemantik im Detail möglicherweise unzureichend artikulierte Theorie solcher höherstufiger Repräsentationen ist durchaus offen für Elemente des Sozialpragmatismus, wie sie Robert Brandom (Brandom 1994, 2000) artikuliert hat, vermeidet aber einige Probleme desselben. Sowohl Millikan als auch Brandom übernehmen und transformieren zahlreiche Elemente der Philosophie von Sellars (vgl. LBM: IV). Zu Sellars als theoretischem Hintergrund der Biosemantik vgl. die Abschnitte 1.2.6.-1.2.7. 17 18 13 (1) Betreibt die Teleosemantik die Wiederbelebung eines veralteten Begriffs der natürlichen Teleologie? (2) Braucht die Teleosemantik einen normativen Begriff der Funktion? (3) Kann die Teleosemantik das Sumpfmannproblem lösen? (4) Soll die Teleosemantik produzenten- oder konsumentenorientiert sein? Diese Probleme können deshalb als nur scheinbar theorieintern behandelt werden, weil sie Varianten grundlegender philosophischer Problemstellungen sind. Ich will diese Behauptung anhand der Frage (4) erläutern. Diese Frage zielt auf die Natur intentionaler Inhalte. Ein Beispiel eines solchen scheinbar theorieinternen Problems ist das sogenannte „Disjunktionsproblem“. Das Problem besteht darin, dass der Inhalt einer repräsentationalen Struktur wie jene der Magnetosome einfach aus einer Disjunktion von „geografischer Nordpol oder geomagnetischer Nordpol oder Abwärts oder sauerstoffarme Region oder Eisenstab oder …“ bestehen könnte. Wenn dies zuträfe, wäre nicht zu erkennen, inwiefern die Repräsentation des Bakteriums überhaupt einen bestimmten Inhalt hätte. Warum sollte man dann meinen, die Teleosemantik sei eine Theorie über intentionale Inhalte? Naturalistische Theorien der Intentionalität teilen die Absicht, das Disjunktionsproblem naturalistisch lösen zu wollen. Die entsprechende Diskussion droht in eine Art exklusiver Selbstzerfleischungsdiskussion zu degenerieren, etwa so wie „degenerierende Forschungsprogramme“ an selbst gemachten Problemen zu scheitern drohen. Nun ist das Disjunktionsproblem nur eine besondere Ausprägung eines allgemeinen philosophischen Problems, nämlich desjenigen der Fehlrepräsentation: Wie können repräsentationale Inhalte von etwas handeln, das nicht existiert oder nicht so, wie es für ein Subjekt repräsentiert wird? Wie können Repräsentationen falsch sein? Diese Fragen zielen auf die Intentionalität als Eigenschaft von Repräsentationen, sie zielen (mit Kant gesprochen) auf den Grund der „Beziehung desienigen [sic], was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“.23 Dieser Grund muss eine normative Dimension haben, weil er erklären muss, wie die intentionale Beziehung eine Beziehung der Repräsentation auf ihren Gegenstand sein kann. Eine Repräsentation hat gleichsam die Aufgabe, einen bestimmten Gegenstand zu repräsentieren. Bisweilen kann sie diese Aufgabe nicht erfüllen, und zwar wenn sie auftritt, ohne dass ihr Gegenstand sozusagen dafür verantwortlich wäre. Sie erfüllt dann nicht die Aufgabe, die sie erfüllen sollte. Und darin liegt die normative Dimension der Repräsentation. Diese normative Dimension ist, abstrakt gesprochen, ein Maß, von der die Repräsentation abweichen kann. Ohne eine solche 23 AA X: 130. Ich werde Kants Frage in Abschnitt 1.1.2. erläutern. 14 normative Dimension (ohne die Möglichkeit der Fehlrepräsentation) hat eine Repräsentation keinen intentionalen Inhalt (keinen ihr zugeeigneten Gegenstand). Woher hat die Repräsentation jedoch das Maß, von dem sie (als Fehlrepräsentation) abweichen kann? Aufgrund solcher Fragen bezeichnet Millikan das Problem der Fehlrepräsentation als „Normativitätsproblem“.24 Dies sind offensichtlich keine theorieinternen Fragen eines philosophischen Sonderzirkels. Die Biosemantik versucht, eine naturalistische Antwort auf Kants Frage und damit auf das Normativitätsproblem zu geben. Die Probleme (2) bis (4) entsprechen natürlich den genannten Charakteristika, die die Biosemantik von anderen teleosemantischen Ansätzen unterscheidet. Da die Biosemantik auf Echte Funktionen zurück greift, muss sie eine Antwort auf die Frage geben können, wie etwa den Funktionen biologischer Merkmale Normativität zukommen kann. Sie braucht also eine Theorie natürlicher Normen. Eine Antwort auf Frage (2) muss sich der Frage nach dem Wesen der Normativität stellen. Weiter sind Echte Funktionen wesentlich historisch. Ein wundersam entstandenes Wesen ohne jede Vorgeschichte, das sich wie eine normale, erwachsene Person verhält (der sogenannte „Sumpfmann“), scheint der Biosemantik zufolge keine intentionalen Zustände haben zu können. Wie kann das sein? Eine Auseinandersetzung mit Frage (3) kommt nicht ohne eine These über das Wesen der menschlichen Natur aus. Schließlich ist die Biosemantik eine konsumentenorientierte Version der Teleosemantik. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf die Wahrnehmungstheorie. Wird der Inhalt von Wahrnehmungen durch die Bedingung festgelegt, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Funktion ausüben kann? Wie kann der Vorrang des Konsumenten begründet und gegen unintuitive Implikationen verteidigt werden? Ein biosemantischer Ansatz zur Lösung dieser Probleme führt, so meine Überlegung, zu Zusammenschlüssen mit anderen philosophischen Positionen. Die biosemantische Antwort auf Frage (2) geht in die gleiche Richtung wie naturalistische Formen der Tugendethik, die sich auf die aristotelische Ethik stützten: Beide behaupten die Existenz natürlicher Normen.25 Die gegen die Biosemantik sprechende Intuition, dass der Sumpfmann doch offensichtlich auch intentionale Zustände hat, wird in Verbindung mit dem Animalismus gelöscht. Sowohl für den Animalismus als auch für die Biosemantik sind Menschen essenziell Lebewesen (Tiere). Lebewesen gehören zu einer Lebensform (einer biologischen Art) und Arten sind historische Individuen.26 Die biosemantische Behandlung der Frage (4) muss auf die Behandlung der Motorintentionalität in der Phänomenologie WQP: 3. Vgl. Hursthouse 1999; Foot 2001. 26 Vgl. Olson 1997, 2007. 24 25 15 zurückgreifen: Beide gestehen den Handlungstendenzen des Körpers eine Rolle zu in der Festlegung des Inhalts von Wahrnehmungen.27 Die Strategie besteht also im Folgenden: Probleme der Biosemantik werden durch Rückgriff auf andere philosophische Theorieformationen gelöst, wobei stets gezeigt wird, inwiefern die Biosemantik diesen Theorieformationen ihrerseits unter die Arme greifen kann. Die Theorieformationen können der Biosemantik bei der Lösung ihrer Probleme helfen, die Biosemantik hingegen bietet diesen unterschiedlichen naturalistischen Ansätzen eine sie vereinheitlichende Struktur. Wie ich zeigen werde besteht in der Vereinheitlichung eine wesentliche Erklärungsleistung von Theorien. Die Zusammenschlüsse mit anderen Theorieformationen ergeben sich aus Millikans Arbeiten. Der Zusammenschluss mit dem Aristotelismus ist auf der Ebene der Ontologie bereits in OCCI vorgenommen.28 Die Verbindung zum Animalismus ergibt sich aus dem methodischen Ansatz, unsere Form der Intentionalität als Ausprägung tierlicher Intentionalität zu fassen.29 Der Zusammenschluss mit Maurice Merleau-Pontys Theorie der Wahrnehmung ergibt sich aus Millikans Akzeptanz von James Gibsons Wahrnehmungspsychologie.30 Schließlich drängen sich demjenigen, der sowohl Millikans Arbeiten als auch die Werke von Thomas Reid kennt immer wieder Übereinstimmungen im Bereich der Wahrnehmungstheorie auf, die ich in Kapitel 5 auch auszunutzen will.31 Aus dieser Strategie ergibt sich die Struktur der Arbeit. Zu Beginn dieses ersten Kapitels werden die Grundzüge der Biosemantik dargestellt (1.1.3.-1.1.7.). Diese Darstellung hat in erster Linie expositorischen Charakter, nicht argumentativen. Die anschließenden vier Kapitel widmen sich je einem dieser vier Probleme. Sie schlagen prinzipielle Lösungen vor (keine theorieinternen Reparaturversuche) und verbinden im Zuge der Artikulation dieser Lösungen die Biosemantik mit anderen philosophischen Theorieformationen. Durch diese Zusammenschlüsse erfährt die Biosemantik gleichsam Unterstützung „von außen“, geht jedoch zugleich auch Verbindungen ein, die es erlauben, dass sich Biosemantik und andere Ansätze gegenseitig erhellen. Die explanatorische Kraft der Biosemantik vis-à-vis prinzipiellen philosophischen Fragen und ihre vereinheitlichende Kraft stellen m.E. das beste Argument zu ihren Gunsten dar. Vgl. Merleau-Ponty 1945. Vgl. LBM: VI. 29 Vgl. LTOBC: V-IX, WQP: IV, VM I-II, LBM: IX. 30 Vgl. VM: 159ff. 31 Millikan ist wiederholt auf Übereinstimmungen zwischen ihrer Version der Teleosemantik und Reids Philosophie hingewiesen worden (mündliche Mitteilung von Ruth Millikan). 27 28 16 Die Biosemantik hat, wie ich oben angedeutet habe, in der deutschsprachigen Philosophie einen eher schlechten Ruf. Insgesamt scheint die Teleosemantik im deutschen Sprachraum wenig präsent und spielt in der philosophischen Diskussion bislang kaum eine Rolle. Zu Unrecht. Insbesondere die Biosemantik Millikans verdient es, aus ihrer weitgehenden Randexistenz in der deutschsprachigen Philosophie heraus zu kommen.32 Mit der Randexistenz (buchstäblich in Fußnoten und Abschnittsenden) der Biosemantik sind Phänomene unterschiedlicher Art gemeint. Hier einige Beispiele: 1. Meistens wird Millikans Biosemantik als Appendix zu Fodors Psychosemantik behandelt,33 d.h. sie wird als ein Naturalisierungsprojekt von der gleichen Art wie die Psychosemantik betrachtet. Deshalb wird die Geltung von Einwänden gegen die Psychosemantik explizit oder implizit auf die Biosemantik vererbt.34 Millikans Biosemantik wird nicht zu Unrecht als Versuch betrachtet, das Disjunktionsproblem der kausalen Theorie mentaler Repräsentationen zu lösen und so als Alternative zu Fodors Psychosemantik gewertet.35 Doch es bleibt unklar, ob sich die Probleme, die sich für „Fodor (und alle anderen naturalistischen Vertreter kausaler Theorien mentaler Repräsentationen)“36 stellen, auch auf die Biosemantik auswirken sollen, die ja zwar eine naturalistische Theorie mentaler Repräsentation ist, aber keine kausale Theorie mentaler Repräsentationen. In der Kritik des Naturalismus von Geert Keil etwa werden Bio- und Psychosemantik unter dem Titel einer „Kausaltheorie der Repräsentation“ behandelt.37 Wiederum wird die Biosemantik nicht zu Unrecht als Versuch betrachtet, das Disjunktionsproblem zu lösen, und so als teleologische Alternative zur Psychosemantik behandelt. Wiederum wird die Biosemantik auch als „teleologische Überbietung der Kausaltheorie der Repräsentation“ betrachtet. Denn: „Kausalen Antezedenzien wird zugleich eine biologische ‚proper function’ zugeschrieben.“38 Was sollen hier kausale Antezedenzien sein? Vermutlich die Ursachen einer Repräsentation. Eine Ausnahme ist Detel 2001a, 2001b und Detel und Samson 2002. Die Situation hat sich in den letzten Jahren noch nicht wesentlich verändert. (Vgl. aber die noch nicht publizierte Habilitation von Mathias Vogel) Es gilt wie vor acht Jahren: „Im deutschen Sprachraum wird die TS [Teleosemantik] bislang nahezu vollständig ignoriert – sehr zu Unrecht, denn selbst wenn man (wie ich selbst) zu der Auffassung neigt, dass die semantische Dimension des Geistes nicht vollständig naturalisiert werden kann, ist es doch von großer theoretischer Bedeutung, sich klarzumachen, was die fortgeschrittensten Naturalisierungsversuche der Semantik zu leisten vermögen.“ (Detel 2001a: 466). Ich stimme zu, teile aber nicht den Vorbehalt gegen den Naturalismus. Worin diese Differenz genau besteht, hängt freilich davon ab, was man als Naturalisierung durchgehen lässt. Anders als in Deutschland hat die Teleosemantik beispielsweise in Frankreich längst philosophisch Fuß gefasst (vgl. Proust 1997; Jacob 1997). 33 Fodor 1987. 34 Eine solche Vererbung findet sich bei Putnam 1992: II-III. 35 Willaschek 2003: 167 n208. 36 Willaschek 2003: 169. 37 Keil 1993a: 84ff. 38 Keil 1993a: 98. 32 17 Doch die Ursache meiner (veridischen) Repräsentation eines Hasen (nämlich der Hase) hat sicher nicht die Echte Funktion, meine mentale Repräsentation zu verursachen. Hasen sind nicht dazu da, um in mir Hasenvorstellungen zu bewirken! Nach dieser kurzen Charakterisierung des teleologischen Ansatzes finden wir statt einer Kritik das Folgende: „Ich bin überzeugt, die wesentlichen Teilargumente für eine gründliche Widerlegung des Teleofunktionalismus beisammen zu haben, die in dem Nachweis bestünde, dass in dem so sorgfältig aufgebauten vermeintlich evolutionstheoretischen Begriffsapparat doch wieder unanalysierte intentionalistische Elemente enthalten sind. […I]ch muss aus Gründen der Darstellungsökonomie darauf verzichten.“39 2. Bisweilen fristet die Biosemantik auch eine positive Randexistenz. Sie wird als Theorie angeführt, die entweder ein entscheidendes Problem löst oder einem bestimmten philosophischen Irrtum nicht verfällt. So kann etwa im Rahmen einer externalistischen Erkenntnistheorie die Normativität von Gegengründen auf die natürliche Verlässlichkeit meinungsunterdrückender Prozesse zurückgeführt werden. Die Einbeziehung solcher Prozesse ist wichtig, weil epistemische Verlässlichkeitstheorien erklären müssen, warum eine verlässlich gebildete Meinung gerechtfertigt sein soll, auch wenn das Subjekt Gegengründe hat. Nun, eine solche Meinung ist nur gerechtfertigt, wenn die Gegengründe des Subjekts verlässlich unterdrückt werden. Solche meinungsunterdrückenden Prozesse seien zuverlässig, „gdw. sie mehr falsche als wahre Meinungen unterdrücken, gegeben ihre Inputs sind wahr“.40 Solche Prozesse könnten im Verlauf der Evolution die Echte Funktion erwerben, meinungsunterdrückend zu sein, denn dadurch würde sich die Zuverlässigkeit eines kognitiven Systems ja entscheidend verbessern. Wenn dies nämlich die Echte Funktion solcher Prozesse ist, kommt der Meinungsunterdrückung eine normative Dimension zu und „Millikan liefert mit ihrer Theorie biologischer Funktionen und Zwecke die fehlende Verknüpfung.“41 In diesem durchaus positiven Zeugnis der Randexistenz kommt der Biosemantik freilich eher die Rolle eines Deus ex machina zu, denn es wird nicht ausgewiesen, dass und wie die Biosemantik die ihr zugedachte und nicht unerhebliche Rolle spielen könnte, sondern in erster Linie darauf hingewiesen, dass sie es könnte. Einem weiteren positiven Zeugnis zufolge verfällt die Biosemantik nicht einem schwerwiegenden philosophischen Irrtum. Die Biosemantik sei eine der wenigen ausgearbeiteten naturalistischen Versionen des Repräsentationalismus in der Philosophie des Geistes, „deren Ansatz nicht in den epistemologischen Fundamentalismus zurückfällt, sondern Keil 1993a: 98. Keil verspricht, dies nachzuholen, was er auch tut in Keil 1993b. Grundmann 2003: 338. 41 Grundmann 2003: 339. 39 40 18 die Sellarssche Kritik am Mythos des Gegebenen beherzigt.“42 Auch hier würde man gerne wissen, warum und wie Millikan diesen Rückfall trotz Naturalismus vermeidet. Die Juxtaposition von Biosemantik und Psychosemantik ist, wie ich meine, irreführend. Das Irreführende der Juxtaposition wird überdeckt durch die beiden Projekten gemeinsame Absicht, das Disjunktionsproblem zu lösen. Wie gesagt ist dieses Problem eine besondere Ausprägung der viel generelleren philosophischen Bestrebung, auf Kants Frage eine Antwort zu geben und das Normativitätsproblem zu lösen. Obwohl Biosemantik und Psychosemantik eine naturalistische Antwort auf Kants Frage zu geben versuchen, sind die Unterschiede zwischen Millikan und Fodor in dieser Hinsicht so gravierend, dass wir uns durch die Juxtaposition lieber nicht irreführen lassen sollten.43 Fodor beginnt mit einer kausal-informationalen Theorie darüber, was Repräsentationen sind. Das Problem der Fehlrepräsentation versucht er mithilfe seiner Theorie der asymmetrischen Abhängigkeit zu lösen, bestreitet aber, dass es sich hier um ein Normativitätsproblem handelt. Die Frage, ob eine Repräsentation falsch oder wahr ist, ist für ihn keine normative, sondern eine faktische Frage. Sie fragt nicht, was getan werden soll, sondern was ist. Millikan beginnt mit einer Abbildtheorie darüber, was Repräsentationen sind. Das Problem der Fehlrepräsentation betrachtet sie als Normativitätsproblem, weil Normen nicht nur Dinge betreffen, die getan werden sollen, sondern auch die Frage berühren, wie Dinge sein sollen.44 Das Normativitätsproblem löst die Biosemantik mithilfe des Begriffs der Echten Funktion. Hier sind weitere Gegensätze: - Während Millikan jegliche Annahme eines unmittelbar Gegebenen entschieden zurückweist45 tritt Fodor als Verteidiger des Gegebenen auf.46 - Während Fodor den semantischen Internalismus und den engen Gehalt verteidigt,47 ist Millikan eine extreme semantische Externalistin.48 - Während Fodor eine Implementierung intentionaler Zustände in einer rein komputationalen Struktur vorschlägt, die als Sprache des Geistes betrachtet werden Haag 2001: 148 n8. Millikan nimmt in WQP: VI selbst eine solche Juxtaposition vor, betont aber die Unterschiede zu wenig. Im Interview Lenz und Wild 2011 hingegen werden die Differenzen deutlich benannt. 44 Vgl. dazu die in Abschnitt 1.2.6. eingeführte Unterscheidung zwischen „Regeln der Kritik“ und „Regeln des Handelns“ bei Sellars und die vergleichbare Unterscheidung zwischen „Seinsollen“ und „Tunsollen“ bei Nikolai Hartmann in Abschnitt 3.1.2. 45 Vgl. Millikan WQP: XIV. 46 Vgl. Fodor 2007. 47 Vgl. Fodor 1987. Später modifiziert Fodor seine Position (vgl. Fodor 1994: II). 48 Vgl. Millikan 2004b. 42 43 19 kann,49 weist Millikan sowohl diese Form der Implementierung als auch die Annahme einer Sprache des Geistes zurück.50 - Während Millikan intentionale Zustände als etwas betrachtet, das Gegenstand einer nicht-nomologischen Biosemantik ist,51 sieht Fodor intentionale Zustände als Objekte für eine nomologisch verfasste kognitive Psychologie.52 - Während Millikan auf Darwins Theorie der natürlichen Selektion zurückgreift, um Kants Frage zu beantworten,53 lehnt Fodor jeglichen Rückgriff dieser Art vehement ab54 und ist entschieden der Ansicht, dass die natürliche Selektion nichts erklärt.55 Die erwähnten Gegensätze sind für die Biosemantik charakterisierend. Einer bestimmten Auffassung der Biologie (genauer: der Evolutionsbiologie) zufolge gibt es in ihr keine Naturgesetze. Trifft diese Auffassung zu und wird die Intentionalität mentaler Zustände im Rückgriff auf die natürliche Selektion erklärt, kann es sich dabei nicht um nomologische Erklärungen handeln.56 Millikan betrachtet den Rückgriff auf die Evolutionstheorie als Ausdruck der Ablehnung des Mythos des Gegebenen. Zugleich führt dieser Rückgriff in ihren Augen zu einem starken semantischen Externalismus.57 Ich hoffe, dass der Hinweis auf diese Gegensätze zeigen kann, dass die Juxtaposition von Bio- und Psychosemantik irreführend ist. Zwar verfolgen beide Theorien das Projekt einer naturalistischen Antwort auf Kants Frage, freilich unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Man kann Millikans Biosemantik deshalb nicht als Reformulierung der Psychosemantik behandeln. Aus den genannten Gründen erscheint mir eine Rekontextualisierung der Biosemantik angebracht. Das oben angeführte zweite positive Zeugnis der Randexistenz der Fodor 1987: 135ff. Vgl. WQP: IV. 51 Vgl. WQP: III. 52 Vgl. Fodor 1994: I. 53 Vgl. WQP: II, Millikan 1991a, 2002d. 54 Vgl. Fodor 1987: 104ff., 2002. 55 Vgl. Fodor 2008. 56 Vgl. WQP: III. Ich komme auf die These, dass es in der Biologie keine Naturgesetze geben soll, in Abschnitt 2.3. zu sprechen. 57 Sellars hat eine Kritik am Mythos des Gegebenen auf exemplarische Weise an Wahrnehmungserlebnissen durchgeführt. Sellars argumentiert, dass Sinnesdaten, insofern sie Bestandteil einer kausalen durch Naturgesetze regulierten Kette sind, nicht als epistemische Fundamente für Urteile mit begrifflichen Inhalten dienen können. Epistemische Urteile können nur durch andere Urteile gerechtfertigt werden. Der Einbezug bloßer Sinnesdaten als Begründern sei ein Fehler von der Art des naturalistischen Fehlschlusses in der Ethik (Sellars 1997: 18f., 33ff.). Die Konsumentenorientierung der Biosemantik führt zu einer vergleichbaren Kritik. Sensorische Inputs repräsentieren nicht ihre unmittelbaren Ursachen, sondern dasjenige, was ein Lebewesen braucht, um zu gedeihen. 49 50 20 Biosemantik gibt einen Fingerzeig. Millikan bezeichnet sich als loyale Schülerin von Sellars.58 Wie ich zeigen werde, kann eine Verortung der Biosemantik im Kontext der S Sellarsianischen Philosophie ihre philosophische Motivation und ihren systematischen Anspruch zur Geltung bringen. Die Biosemantik bietet einen Ansatz zu einer allgemeinen Theorie der Zeichen.59 Als solche führt sie die Semiotik von Charles S. Peirce und Charles W. Morris weiter. Auch diesen Kontext gilt es zu berücksichtigen. Damit wird sie in einen ihr angemessenen Kontext versetzt, den die übliche Verbindung mit Fodors Projekt nicht hergibt.60 Dies möchte ich in der zweiten Hälfte dieses Kapitels tun (1.2.1-1.2.7.). Ein weiteres Problem für die Rezeption der Biosemantik stellen die Begriffe dar, mit deren Hilfe ich die Teleosemantik eingangs charakterisiert habe, nämlich als naturalistische, repräsentationalistische Theorie des Geistes, die auf einen teleologischen Begriff der Funktion zurückgreifen. Was soll unter „Repräsentation“, „Teleologie“ und „Naturalismus“ verstanden werden? Der Begriff der Repräsentation wird in den Abschnitten 1.1.2.-1.1.3. eingeführt und differenziert. Eine Position des Naturalismus, die ich als „Biologischen Naturalismus“ bezeichnen werde,61 und seine Verträglichkeit mit der Teleologie werden in Kapitel 2 dargelegt und verteidigt. Es ist im Zuge dieser Darlegungen, wie ich meine, unerlässlich, verbreitete Vorstellungen und Vorurteile zu Repräsentation, Teleologie und Naturalismus auszuräumen. Denn es sind nicht zuletzt bestimmte Vorstellungen und Vorurteile hinsichtlich dieser Begriffe, die einem positiven Verständnis der Biosemantik im Wege stehen. Die Diskussion dieser Begriffe ist jedoch auch deshalb unerlässlich, weil die meisten teleosemantischen Theoretikerinnen und Theoretiker, gerade auch Millikan, sich fortwährend auf sie berufen, ohne sie zu reflektieren. Dabei wird Wert auf die historische Erläuterung der Begriffe gelegt, und zwar deshalb, weil es häufig bestimmte philosophiehistorische Narrative sind, die Vorstellungen und Vorurteile speisen und am Leben erhalten. Es gibt einen einfachen alltagshermeneutischen Grund für den Rückgriff auf die Philosophiegeschichte. Will man verstehen, warum eine Person bestimmte Vorstellungen und Vorurteile unterhält, die man vielleicht nicht teilt, und will man verstehen, warum eine Gruppe von Personen auf bestimmte Themen auf eine Weise reagiert, die einen vielleicht befremdet, dann ist es WQP: 310. Vgl. LTOBC, Part II: „A General Theory of Signs“. 60 Die Juxtaposition von Biosemantik und Psychosemantik verdankt sich nicht zuletzt dem Bedürfnis, Überblicke über die philosophische Landschaft zu geben. Philosophische Geografie und Topologie sind wertvolle didaktische Werkzeuge, sie sollten aber keine kritischen Werkzeuge sein. 61 Die Großschreibung des Adjektivs ist wiederum, wie im Fall von „Echte Funktion“, ein Ausdruck davon, dass der Begriff eine normative Dimension hat. Der Biologische Naturalismus ist eine darwinistische Transformation von Sellars’ normativem Naturalismus (1.2.6.-1.2.7.) auf der Grundlage eines normativen Verständnisses biologischer Funktionen. 58 59 21 hilfreich, sich eine Geschichte darüber erzählen zu lassen, wie diese Personen zu ihren Vorstellungen und Reaktionen gelangt sind oder sich zu überlegen, wie diese Vorstellungen und Reaktionen selbst entstanden sind. Auf diesem Weg gelangt man erstens über den Dissens und das Befremden hinaus zu einem Verständnis der Vorstellungen und Reaktionsweisen dieser Personen, und zweitens, in die Position, alternative Rekonstruktionen der entsprechenden Geschichte (etwa der Philosophiegeschichte) anbieten zu können, die die betreffenden Vorstellungen und Reaktionen abbauen können. Das aus dieser alltagshermeneutischen Beobachtung folgende Prinzip lautet, dass systematische philosophische Fragen und Positionen bzw. philosophische Vorurteile und Reaktionen durch Nachvollzug ihrer historischen Genese verständlich bzw. durch das Angebot alternativer historischer Erzählungen unschädlich gemacht werden können. Die Philosophiegeschichte leistet so einen unabdingbaren positiven Beitrag für jedes philosophische Projekt, dem es darum geht, ein Bild unserer Stellung in der Natur zu zeichnen. Ein dritter Grund für die Zurückweisung der Biosemantik – neben irreführenden Kontextualisierungen und begrifflichen Vorurteilen – besteht natürlich in den oben genannten Problemen. In einer bescheidenen und unterkomplexen Form kann die Teleosemantik den für sie routinemäßig aufgeworfenen Problemen kaum Paroli bieten. Darüber hinaus werden diese Probleme, wie gesagt, als theorieinterne Schwierigkeiten betrachtet. Doch Theorien, die vorwiegend mit der Lösung der von ihr produzierten Probleme befasst sind, können nur als „degenerierende Forschungsprogramme“ betrachtet werden, nicht als produktive Forschungsprogramme. Die hier gewählte Strategie, diese Probleme als Ausdruck grundlegender philosophischer Themen (und nicht als Ausdruck häuslicher Zwistigkeiten) zu verstehen und die Biosemantik als explanatorisch und unifikatorisch attraktiven Theorieansatz aufzufassen, soll die Mutmaßung zerstreuen, es handle sich bei der Biosemantik um ein degenerierendes Projekt. 1.1.2. Repräsentation und Intentionalität Teleosemantiken sind naturalistische Theorien der Intentionalität von mentalen – aber auch anderen – Repräsentationen. Alle Versionen der Teleosemantik versuchen den intentionalen Bezug einer Repräsentation auf ein Objekt unter Rückgriff auf einen teleologischen Begriff der Funktion zu erklären. Teleosemantische Theorien sind naturalistische Theorien, denn sie versuchen, eine Theorie des intentionalen Inhalts von Repräsentationen zu entwerfen, die diesen Inhalt als Bestandteil der Natur, so wie sie von 22 den Naturwissenschaften aufgefasst wird, erklären soll. Intentionaler Inhalt wird naturalisiert, indem für den repräsentationalen Inhalt einer Repräsentation angegeben wird, warum eine bestimmte Repräsentation einen bestimmten Inhalt hat, ohne dass in der Erklärung selbst auf ein intentionales Idiom zurückgegriffen wird. Hier trägt der Begriff der teleologischen Funktion die Erklärungslast. Der Begriff der Repräsentation ist mit zahllosen Missverständnissen und Vieldeutigkeiten behaftet. Deshalb soll in diesem und im folgenden Abschnitt der Repräsentationalismus der Biosemantik genauer charakterisiert werden. Zuerst will ich mich dem Vorbehalt widmen, der Repräsentationalismus verfehle unsere alltäglichen Redeweisen über Meinungen, Gedanken, Wünsche, Absichten usw. Der Repräsentationalismus entspricht im Gegenteil vollauf einer reflektierten Alltagseinstellung. Anschließend soll der Vorbehalt ausgeräumt werden, der Repräsentationalismus sei eine Art Beihilfe zu den Kognitions- und Neurowissenschaften. Der Repräsentationalismus nimmt sich vielmehr einer altehrwürdigen philosophischen Frage an, die ich als „Kants Frage“ bezeichnen und mit Brentanos Hilfe reformulieren werde. Sie lautet: Auf welchem Grunde beruht die intentionale Beziehung einer mentalen Repräsentation auf ihren Gegenstand? Die Hauptaufgabe des folgenden Abschnitts besteht dann darin, im Anschluss an die Artikulation dieser Frage eine Reihe wichtiger Unterschiede im Repräsentationsbegriff einzuführen, die für ein richtiges Verständnis der Biosemantik bedeutend sind. „Intentionalität“ und „Repräsentation“ sind Kunstworte aus der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes. Intentionalität ist die Eigenschaft von Repräsentationen, sich auf etwas als etwas zu beziehen. Es hat den Anschein, dass wir diese Eigenschaft normalerweise nicht Repräsentationen zuschreiben, sondern ganzen Personen und ganzen Tieren: Karl bezieht sich in Gedanken auf die Maus im Estrich, die Katze scheint in ihrem Verhalten auf die Maus im Estrich bezogen. Wodurch beziehen sich Karl und die Katze auf die Maus? Eine in der Philosophie des Geistes verbreitete Antwort lautet: durch „intentionale Zustände“, durch „mentale Repräsentationen“. Mentale Repräsentationen sind intentionale Zustände, die sich auf etwas beziehen und einen intentionalen Inhalt haben. Zustände mit einem solchen Inhalt sind Zustände von intentionalen Systemen. Die Rede von „Zuständen“ ist oft genug auf bestimmte intentionale Entitäten zugeschnitten, nämlich Überzeugungen, Wünsche, Absichten usw. Bei den Systemen, die in diesen Zuständen sind oder diese Zustände haben, handelt es sich paradigmatisch um Personen. Diese Redeweisen sind es, die auf den ersten Blick gerade in der Anwendung auf Personen als künstlich erscheinen. Nicht die Zustände beziehen sich 23 auf etwas, sondern eine Person oder ein Tier. Führt nicht möglicherweise dieses Vokabular einen großen Teil der Philosophie des Geistes auf einen Holzweg? Ich glaube, dieser Eindruck ist oberflächlich, und diese künstliche Redeweise entfernt sich nicht weit von gewöhnlicher Redeweise. Wir schreiben Wünsche, Überzeugungen oder Absichten zwar Personen als Ganzen zu, und nicht Teilen von Personen, wir können uns und andere jedoch auch fragen, was jemand sich wünscht, was seine Ansichten über etwas sind oder worin seine Absichten bestehen. Wir können über die Absichten, Wünsche und Ansichten von Personen sprechen oder über sie nachdenken. Wir fragen uns dann etwa, was die „Inhalte“ seiner Wünsche, Absichten oder Ansichten sind. Worüber wir sprechen oder nachdenken, wenn wir über die Absichten und Ansichten von Personen nachdenken, sind „mentale Zustände“. Und es sind diese Absichten, Wünsche und Ansichten, die jenen Inhalt haben, über den wir sprechen und nachdenken. Diese Differenzierungen treten eher zu Tage, wenn wir uns hinsichtlich der Absichten und Ansichten anderer Gedanken machen und Fragen stellen, als wenn wir anderen spontan Absichten und Ansichten unterstellen, wenn wir uns also reflektierend auf andere beziehen. Wir können uns auch auf unsere eigenen Absichten und Ansichten reflektierend beziehen, indem wir uns fragen, was wir eigentlich wünschen, beabsichtigen oder über eine Sache denken. Da wir in der Philosophie ein Vokabular benutzen wollen, um uns auf das, was sich andere Personen oder wir selbst wünschen und denken, reflektierend zu beziehen, können wir es aus allgemeinen Eigenschaften beziehen, die unsere alltäglichen Formen der Reflexion aufweisen. Wir schreiben also beispielsweise einer Person P eine Absicht zu und dieser Absicht einen Inhalt: P will einen Krimi kaufen. Indem wir der Absicht von P einen Inhalt zuschreiben, können wir auf diese Absicht Bezug nehmen. Der Inhalt dessen, was P beabsichtigt, individuiert die Absicht von P. Die Absicht von P motiviert und erklärt beispielsweise auch Ps Handlungen. Was beabsichtigt P? P will einen Krimi kaufen, und deshalb ist P in die Stadt gefahren. Der Inhalt dieser Absicht wird nicht P insgesamt zugeschrieben, sondern allein der Absicht. Denn es ist nicht der ganze P, der seine Handlung erklärt oder motiviert, sondern der Inhalt der Absicht von P.62 Eine weitere Überlegung lautet: Hat P etwa sich widersprechende Absichten, so sagen wir zwar, dass sich P in seinen Absichten widerspricht. Doch was sich widerspricht, sind die Absichten, P 62 Im Normfall und zur Beantwortung der Frage, warum P in die Stadt gefahren ist, reicht der Bezug auf seine Absicht, um seine Handlung zu erklären. Die Absicht kann man also als Wunsch-Überzeugungspaar auffassen, das aus einem Wunsch besteht einen Krimi zu kaufen, und aus der Überzeugung, dass in der Stadt Krimis zu erwerben sind. Wenn wir jedoch weitere Fragen stellen wollen („Warum will P einen Krimi kaufen, obwohl er noch über zehn ungelesene Krimis im Regal stehen hat?“) oder P in einem außergewöhnlichen Zustand ist („P sollte doch im Bett bleiben.“) oder Ps Absicht anderen Absichten von P widerspricht („P hat doch gesagt, er wolle diesen Montag nicht mehr in die Stadt fahren!“). 24 widerspricht sich via Inhalte. Wir sagen, dass P etwas beabsichtigt, also in einem bestimmten Zustand ist, nämlich im Zustand des Beabsichtigens. Zwar gebrauchen wir den Ausdruck „Zustand“ normalerweise für die ganze Person (P ist in einem aufgeregten Zustand), doch wenn wir erklären wollen, warum P in einem aufgeregten Zustand ist, so können wir beispielsweise auf die Inhalte seiner Überzeugungen Bezug nehmen: P denkt, dass heute seine Familie zu Besuch kommt. Der Inhalt einer Absicht kommt also nicht der ganzen P zu, sondern einem Zustand von P. Es ist der Zustand, der von etwas handelt, sich auf etwas bezieht usw., der einen Inhalt hat. Natürlich beabsichtigt P als ganze Person etwas, und nicht der Zustand. Es wäre unsinnig zu sagen, dass die Absicht etwas beabsichtige. Doch das, was P beabsichtigt, der Inhalt der Absicht, ist nicht ein Inhalt von P, sondern ein Inhalt seiner Absicht. Es wäre unsinnig zu sagen, dass P als Person einen Inhalt hat. Wenn die Rede davon, was Personen wollen, hoffen oder befürchten, zulässig ist, dann ist die reflektierte Rede davon, welchen Inhalt ihre Absichten, Hoffnungen oder Befürchtungen haben, keineswegs merkwürdig. Ebenso wenig ist es die Rede von „intentionalen Zuständen“ oder „mentalen Repräsentationen“. Also kann man durchaus sagen, dass die Intentionalität von Personen abhängig ist von ihren Zuständen. Vorausgesetzt, man will verstehen und erklären, wie sich Lebewesen überhaupt auf etwas als etwas beziehen können. Wer ist es, der dies verstehen will? Sicher sind dies die Kognitions- und Neurowissenschaften im weitesten Sinne. Nur sind sie als solche nicht in der Lage, diese Frage zu klären. Der Begriff der mentalen oder neuronalen Repräsentation fungiert seit geraumer Zeit als theoretisch signifikanter Begriff in den Kognitions- und Neurowissenschaften. Ein zentrales Anliegen dieser Wissenschaften besteht darin, Theorien darüber zu entwickeln, wie natürliche oder künstliche „Agenten“ Informationen über ihre Umwelt zum Zweck zielgerichteten Verhaltens speichern und prozessieren. Dabei werden Grundsatzdebatten darüber geführt, ob die repräsentierte Information lokal oder verteilt gespeichert wird, ob ihre Prozessierung komputational oder dynamisch verläuft, ob Computer oder Netzwerke die geeigneten Prozessmodelle sind usw. Innerhalb der Kognitionswissenschaften gibt es durchaus Herausforderungen an den theoretischen und praktischen Wert des Begriffs der Repräsentation.63 Dennoch sind mentale und neuronale Repräsentationen als explanatorische Entitäten ubiquitär. Doch diese Entitäten werden in den Kognitions- und Neurowissenschaften eher zu explanatorischen Zwecken benutzt als selbst erklärt. Sie bedürfen der Klärung: Was eigentlich sind Repräsentationen? Offenbar repräsentieren 63 Das Initialpapier gegen Repräsentation als Grundbegriff der Kognitionswissenschaften ist Brooks 1991; kritisch dazu Clark und Toribio 1994. 25 Repräsentationen etwas, handeln von oder über etwas: Worin besteht die Natur dieser Relation? Und offenbar gibt es unterschiedliche Arten von Repräsentationen: Worin besteht die Natur mentaler oder neuronaler Repräsentationen? Der größte Teil der Kognitions- und Neurowissenschaften geht heute von einer repräsentationalistischen Theorie des Geistes aus. Gemäß einer repräsentationalistischen Theorie des Geistes ist der Geist geradezu definiert als ein Vermögen zur Hervorbringung von Repräsentationen. Geistige Zustände sind repräsentationale Zustände. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Arten von Repräsentationen: Worte, Sätze, Verkehrszeichen, Theateraufführungen, Fotos oder Landkarten. Mit Sicherheit sind Sätze, Fotos und Landkarten als solche keine geistigen oder neuronalen Zustände. Welche Art von repräsentationalen Zuständen sind Zustände des Geistes oder Gehirns? Hier setzt die Rede von „mentalen Repräsentationen“ ein. Doch an dieser Stelle droht ein definitorischer Zirkel. Denn wenn der Geist ein Vermögen zur Hervorbringung von Repräsentationen sein soll und diese Repräsentationen, im Unterschied zu anderen Arten der Repräsentation, als mentale Repräsentationen aufgefasst werden, so hat man natürlich mit der Bestimmung, der Geist sei ein Vermögen zur Hervorbringung von mentalen Repräsentationen, oder mentale Repräsentationen seien Repräsentationen im Geist, nicht viel Aufschlussreiches darüber gesagt, was mentale Repräsentationen sind. Es ist auch nicht befriedigend, kognitive Fähigkeiten – wie die Aufnahme von Informationen, deren Verarbeitung und deren Nutzung zur Verhaltenssteuerung – dadurch zu erklären, dass der Geist oder das Gehirn jeweils bestimmte, diskrete Abbildungen formt oder mithilfe einer Art Sprache des Geistes agiert oder seine aktuelle globale mentale Landkarte laufend modifiziert, und dass der Geist oder das Gehirn mithilfe dieser Repräsentationen die Umwelt, den Körper und die Relation zwischen Körper und Umwelt darstellt und sich entsprechend orientiert. Denn die Klärung der ubiquitären Entität „Repräsentation“ zielt auf die Natur von Repräsentationen. Zur Beantwortung dieser Frage scheint auch die Auskunft nicht auszureichen, dass es zwischen gewöhnlichen Abbildungen, den Worten und Sätzen einer natürlichen Sprache oder Landkarten auf der einen Seite und den Strukturen und Prozessen im Geist oder im Gehirn auf der anderen Seite nützliche Analogien gibt, denn diese Analogie beschwört bisweilen den Verdacht herauf, dass es sich bei inneren Repräsentationen nur um metaphorische Geschöpfe handelt, um Effekte von Sprachspielen, die nicht genuin explanatorisch sind.64 Es ist weiterhin auch nicht ausreichend, auf die Frage, worin die Natur von Repräsentationen bestehe, zu antworten, dass Lebewesen mithilfe von Repräsentationen Informationen aus 64 Vgl. Schneider 1998. 26 der Umwelt sammeln und sich diese zunutze machen. Denn wir wollten ja gerade wissen, worin die Natur dessen besteht, das Lebewesen all dies ermöglicht. Schließlich reicht es auch nicht aus, darauf zu verweisen, dass sich Millionen von Repräsentationen in der Staatsbibliothek zu Berlin oder in meinem Gehirn finden. Wir fragten nach der Natur dessen, was wir dort vorgeblich finden können. Wie immer man den Beitrag empirischer Wissenschaften zu einer philosophischen Beantwortung von Fragestellungen auch einschätzen mag (ich schätze ihn als sehr hoch ein), sie können sicher keine entscheidende Rolle in der Beantwortung der Frage leisten, worin die Relation zwischen einer Repräsentation und ihrem Objekt besteht, und was es heißt, dass eine Repräsentation eine mentale Repräsentation ist. Die Teleosemantik versucht auf diese beiden Fragen eine Antwort zu geben. Fragen über die Natur von Repräsentationen lassen sich ganz unabhängig von der Positionierung zu den Kognitionswissenschaften stellen und beantworten.65 Solche Fragen verweisen im Gegenteil auf eine ehrwürdige philosophische Tradition. In einem bekannten Brief an Marcus Herz vom 21. 2. 1772 hat Kant die Frage, wie der Verstand eine Vorstellung von externen Gegenständen bilden könne, als „den Schlüßel zu dem gantzen [sic] Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik“ bezeichnet.66 Kants Frage lautet: „auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desienigen [sic], was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“67 Kant bestreitet sowohl, dass der Verstand Ursache des Gegenstands sein kann und er bestreitet auch, dass der Gegenstand alleinige Ursache der Verstandesvorstellung sein könne. Kant besteht darauf, dass Vorstellungen der Erfahrung Hilfe entlehnen müssen. Anders als in der Mathematik oder in der Logik bringen nämlich beispielsweise sinnliche Vorstellungen ihre Gegenstände und die Übereinstimmung mit diesen Gegenständen nicht selbsttätig hervor. Der Ausdruck „Vorstellung“, den Kant in seiner Frage benutzt, ist eine Eindeutschung des lateinischen Ausdrucks „repraesentatio“.68 Und „Verstand“ ist „intellectus“, nämlich das allgemeine Vermögen, Vorstellungen hervorzubringen. In der gegenwärtigen Philosophie des Geistes und in den Kognitionswissenschaften ist weniger von „Vorstellung“ oder „Verstand“ die Rede, sondern vielmehr von „Repräsentation“ (representation), „Geist“ (mind) und „mentalen Repräsentationen“ (mental representations). Nun geht es Kant im Brief an Herz noch nicht um Vorstellungen im Allgemeinen, insbesondere noch nicht um sinnliche Vorstellungen, doch vor dem Hintergrund der Entwicklung seines Denkens hin zur ersten Kritik kann man Pace Cummins 1989: I. AA X: 130. 67 AA X: 130. 68 KdrV B 376/ A 320 (AA III: 249). 65 66 27 Kants Frage als Frage nach dem Wesen der mentalen Repräsentation auffassen: Auf welchem Grunde, beginnt sich Kant hier zu fragen, beruht die Beziehung einer mentalen Repräsentation auf ihren Gegenstand?69 Bekanntlich hat Franz Brentano den Ausdruck „Intentionalität“ wieder in die philosophische Diskussion aufgenommen. Dabei schließt er nicht nur an die durch Aristoteles geprägten Diskussionen der Philosophie des Mittelalters an, sondern gibt auch jenem Thema einen Titel, das die neuzeitlichen Philosophen von Descartes bis Schopenhauer im Innersten beschäftigt hat. Ein Phänomen wird intentional genannt, wenn es sich auf etwas bezieht, d.h. wenn es einen Bezugsgegenstand hat, wenn es von etwas handelt, wenn es einen Inhalt hat. Über das Merkmal der Intentionalität verfügen typischerweise geistige Zustände, wie Gedanken, Wahrnehmungen oder Wünsche. Man kann die Intentionalität solcher Zustände wie folgt zum Ausdruck bringen: Wer denkt, denkt an etwas, wer hört, hört etwas, wer wünscht, wünscht sich etwas. Wie Brentano sagt: „In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.“70 Ein Phänomen wird genau genommen erst dann intentional genannt, wenn es sich auf etwas als etwas bezieht. Wenn ich sehe, sehe ich etwas als etwas, wenn ich denke, denke ich an etwas als etwas und so weiter. Brentano versuchte, mithilfe des Begriffs der Intentionalität den Gegenstandsbereich der Psychologie abzugrenzen, nämlich das Geistige. Er vertrat die Auffassung, die Intentionalität sei „den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches.“71 Deshalb lautet Brentanos These, dass Intentionalität das Merkmal des Geistigen ist. Brentano beschäftigte dabei u.a. das Problem der intentionalen Inexistenz. Er war der Ansicht, dass geistige Phänomene intentionale Inexistenz aufweisen. Der Begriff „Inexistenz“ soll nicht zum Ausdruck bringen, dass intentionale Zustände von Dingen handeln können, die nicht (oder nicht mehr oder noch nicht) existieren.72 Vielmehr geht es darum, dass das Objekt eines intentionalen Zustands oder Akts, dasjenige, worauf der Geist gerichtet ist, im Geist selbst existiert. Jeder intentionale Zustand, jeder intentionale Akt enthält „etwas als Objekt in sich“.73 Im Hören eines Tons beispielsweise ist der gehörte Ton (ein physisches Ereignis) im Akt des Hörens (ein geistiges Phänomen) enthalten. Wird jedoch nur ein Ton halluziniert, so ist der Geist allein auf ein geistiges Phänomen gerichtet, ohne dass diesem ein physisches Ereignis zugrunde liegt. Obwohl der Begriff der intentionalen Inexistenz das Zu Kants Brief und seiner Entwicklung hin zur kritischen Philosophie vgl. Haag 2007: 43ff. Brentano 1973, Bd. 1: 125. 71 Brentano 1973, Bd. 1: 125. 72 Dies wird oft falsch verstanden, etwa von Tye 1995: 94f. 73 Brentano 1973, Bd. 1: 125. 69 70 28 Phänomen der Fehlrepräsentationen nicht direkt bezeichnet, wie oft irrtümlicherweise angenommen wird, kann man ihn doch als eine Reaktion auf ein entscheidendes Merkmal von Repräsentationen auffassen. Repräsentationen können sowohl wahr als auch falsch sein. Wie ist das möglich? Im Fall einer Fehlrepräsentation ist der Geist auf ein intentionales Objekt gerichtet, dem kein physisches Ereignis entspricht. Kants Frage kann als eine Variante des Problems der Intentionalität betrachtet werden, und sie lässt sich entsprechend reformulieren: Auf welchem Grunde beruht die intentionale Beziehung einer mentalen Repräsentation auf ihren Gegenstand? Es ist diese Frage, die ich von jetzt an als „Kants Frage“ bezeichnen will. Kants erste Kritik und die Teleosemantik teilen also ihre Ausgangsfrage.74 Kants Frage entsprechend muss die Teleosemantik den Grund des intentionalen Bezugs von Repräsentationen angeben können. Kants Redeweise von einem Grund kann man wohl so verstehen, dass es ihm um die Rechtfertigung unseres Anspruchs auf die Gültigkeit des Gegenstandsbezugs von Vorstellungen (der Intentionalität geistiger Zustände) auf Gegenstände zu tun war. Anders formuliert: Welchen Grund können wir dafür angeben, dass Gegenstandsbezug tatsächlich Bezug auf Gegenstände ist? Kant fragt also nicht einfach nach einer kausalen Grundlage für die Relation zwischen Repräsentation und Objekt, sondern er fragt nach einer Rechtfertigung für unsere unausgesprochen immer schon in Anspruch genommene Ansicht, dass die Beziehung auf den Gegenstand tatsächlich vorliegt. Oder in der transzendentalphilosophischen Formulierung: Worin liegt die Bedingung der Möglichkeit der Beziehung von Vorstellungen auf ein Objekt? Natürlich folgt die Biosemantik nicht der transzendentalphilosophischen Fragestellung. Doch dies bedeutet keineswegs, dass sie lediglich nach einer kausalen Grundlage für die Relation zwischen Repräsentation und Objekt sucht. Wie bereits am simplen Bakterienbeispiel deutlich wird, kann die aktuale kausale Relation zwischen den Magnetosomen und sauerstoffarmen Wasserschichten keine Rolle in der Festlegung des Inhalts dieser repräsentationalen Strukturen spielen. Entscheidend ist vielmehr die Funktion des Konsumenten der Struktur. Diese Funktion wird erklärt durch die Evolutionsgeschichte des Konsumenten. Es geht der Biosemantik also, anders als Kant, nicht in erster Linie um Fragen der Rechtfertigung, sondern der Integration repräsentationaler Zustände in die Natur. Der springende Punkt besteht darin, dass diese Integration zugleich zeigen kann, inwiefern Repräsentationen eine normative Dimension haben können. 74 Die Teleosemantik und Kants dritte Kritik teilen eine zweite für die Teleosemantik grundlegende Frage: Wie ist die Zweckmäßigkeit von Naturprodukten zu verstehen? Die natürliche Teleologie werde ich u.a. im Hinblick auf die Kritik der teleologischen Urteilskraft in Abschnitt 2.1. diskutieren. 29 Durch die Fokussierung auf die Sprache, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts in der Philosophie durchgesetzt hat, wurde Kants Frage durch die Frage ersetzt, wie die Sprache gleichsam Zugriff auf die Welt haben kann. Die Biosemantik ist wesentlich eine Theorie, die Kants Frage (sowohl in der mentalistischen als auch in der sprachlichen Fassung) unter Rückgriff auf Darwins Theorie der Evolution (durch Natürliche Selektion) zu beantworten versucht. Da die Teleosemantik eine naturalistische Theorie ist, versucht sie das Problem auf andere Art und Weise zu lösen als der transzendentalphilosophische Ansatz von Kant es tut. Es wurde gesagt, die Teleosemantik versuche Brentanos heiße Kartoffeln aus dem Feuer zu holen.75 Das ist zwar salopp, doch treffend formuliert. Andererseits ist der Bezug zu Brentano für die Teleosemantik in verschiedener Hinsicht eine Quelle der Irreführung. An dieser Stelle möchte ich darauf eingehen, in welchen Hinsichten der Bezug auf Brentano irreführend ist. Drei solche Hinsichten sind relevant: Brentano zufolge weist kein physisches Phänomen Intentionalität auf. Damit scheint ausgeschlossen, dass physische Systeme als solche Intentionalität aufweisen können. Es reicht jedoch zu sagen, dass die Intentionalität für das Geistige charakteristisch ist. Diese Formulierung bleibt gegenüber den unterschiedlichen Spielarten des Naturalismus neutral. Falls beispielsweise das Geistige auf das Physische zurückgeführt werden könnte, würden manche physischen Entitäten Intentionalität aufweisen, nichtgeistige physische Entitäten hingegen nicht. Brentano scheint auch biologische Systeme als physische Systeme zu verstehen. Falls das Geistige ein biologisches Merkmal ist, haben manche Lebewesen einen Geist, andere Lebewesen hingegen nicht. Und diese letzte Position soll im Folgenden in der Tat vertreten werden. Brentano betrachtet Intentionalität nicht nur einfach als ein für den Geist charakteristisches Merkmal, sondern als das unterscheidende Merkmal des Geistigen, das den Geist von allen anderen Phänomenen unterscheidet. Alle geistigen Zustände und nur geistige Zustände sind intentional. Das sind zwei Thesen. Die erste These lautet, dass alle geistigen Zustände intentional sind, die zweite These lautet, dass nur geistige Zustände intentional sind. Tatsächlich sind einige Teleosemantiker der Ansicht, dass alle geistigen Zustände intentionale Zustände sind.76 Andere bestreiten dies im Hinblick auf phänomenale Zustände.77 Als „Intentionalismus“ kann man die These bezeichnen, dass alle geistigen Zustände, gleich welcher Art, intentionale Zustände sind. Es ist freilich umstritten, ob sich auch die qualitativen oder phänomenalen Aspekte von Wahrnehmungen, Körperempfindungen, Gefühlen, Stimmungen vollständig als intentional Vgl. Walsh 2002. Vgl. Tye 1995; Dretske 1995. 77 Vgl. McGinn 1989; Neander 1998. 75 76 30 beschreiben und erklären lassen oder nicht. Zunächst ist es sicher fair zu sagen, dass es einfach unklar ist, ob Empfindungen wie Vergnügen, Schmerz oder Nervosität von irgendetwas handeln oder nicht. Sie können beispielsweise von körperlichen Zuständen oder von generellen Erfahrungsweisen der Welt handeln. Aber erscheinen sie uns denn so? Und ist nicht gerade die Erscheinungsweise für phänomenale Zustände entscheidend? Der Intentionalismus hat jedoch einen Vorteil: Er ist nicht gezwungen, unter dem Begriff des Geistes eine lediglich nominale Einheit heterogener Elemente zu fassen, wie das häufig in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes der Fall ist. Wenn wir so reagieren, müssen wir einen Weg finden, geistige Phänomene zu charakterisieren, der die zugrunde liegende Einheit ihrer Klassifizierung als geistig abbildet. Der Gedanke beispielsweise, dass das Phänomenale und das Intentionale zwei verschiedene Dinge sind, verzichtet auf einen einheitlichen Gegenstand. Der Intentionalismus hingegen charakterisiert den Geist als einen einheitlichen Untersuchungsgegenstand. Aus diesen Gründen erscheint der Intentionalismus zunächst als attraktive Option.78 Der zweiten These zufolge weisen nur geistige Zustände Intentionalität auf. Dagegen spricht, dass auch einfache Organismen auf etwas als etwas gerichtet sein können, wie wir bereits anhand der Diskussion der bakteriellen Magnetosome gesehen haben, und dass auch Worte, Sätze, Verkehrszeichen, Bilder oder Landkarten dies tun. Doch weder beim Bakterium noch bei Artefakten handelt es sich in einem landläufigen Sinn um Geistiges. Nun könnte man sagen: einfachen Lebewesen kommt Intentionalität nur im Modus des Als-ob zu, und Artefakte erhalten ihre Intentionalität von ihren Benutzern. Nur geistige Zustände sind Träger ursprünglicher Intentionalität, Lebewesen und Artefakte hingegen sind lediglich Inhaber abgeleiteter Intentionalität. Andere Theoretiker geben der Sprache den Vorrang. Ursprüngliche Intentionalität kommt der Sprache zu, innere geistige Zustände oder das Verhalten von Tieren haben in einem analogen Sinne Intentionalität. Die Biosemantik unterschreibt keinen dieser Vorschläge. Zugespitzt könnte man sagen, dass sie aufgrund ihrer darwinistischen Perspektive primitiven Organismen ursprüngliche Intentionalität zuschreibt; Personen und Zeichensysteme haben nur als historische Nachfolger einfacher Lebewesen Intentionalität. Sowohl Personen als auch intelligenten Tieren kommt Intentionalität zu. Sowohl einfachen Organismen wie Bakterien als auch subpersonalen biologischen Prozessen kommt Intentionalität zu. Sowohl sprachliche als auch andere Zeichensysteme sind Systeme mit Intentionalität, die nicht ausschließlich von ihren Erfindern oder Benutzen abgeleitet ist. Man könnte auch sagen, dass die Biosemantik eine 78 Ich werde in Kapitel 5 dafür argumentieren, dass der Intentionalismus verworfen werden muss. 31 strikte Unterscheidung zwischen ursprünglicher und abgeleiteter Intentionalität bestreitet, und zwar einfach deswegen, weil der Unterschied nicht klar gezogen werden kann.79 Obschon intentionale Inexistenz nicht dasselbe bedeutet wie Fehlrepräsentation, werden Brentano und die Teleosemantik doch von einem ganz ähnlichem Problem umgetrieben, nämlich von der Frage nach dem Wesen der Intentionalität. Nun finden wir bei Brentano sowohl die Interpretation der Intentionalität als Gerichtetsein auf etwas als etwas, als auch die Interpretation des intentionalen Akkusativs durch den Begriff der intentionalen Inexistenz. Dies klingt ganz so, als würde es sich um Objekte im Geist handeln, mithin um genuin geistige Objekte, auf die intentionale Zustände gerichtet sind. Richtet sich der Geist auf ein Objekt, das nicht existiert (einen Ton, der als physisches Ereignis jetzt gerade nicht existiert), so richtet er sich immer noch auf ein Objekt, nämlich gleichsam auf den Ton als mentales Ereignis. Die Biosemantik hingegen bestreitet, dass eine Lösung des Problems der Fehlrepräsentation auf die Annahme solcher mentaler Objekte angewiesen ist. Leere, falsche oder halluzinatorische Repräsentationen handeln nicht von einem Objekt mit besonderem ontologischen Wohnsitz („im“ Geist), es handelt sich vielmehr um Repräsentationen, die ihre Echte Funktion nicht erfüllen können und deshalb nicht repräsentieren.80 Ein Vergleich mag hier hilfreich sein: Eine Kaffeemaschine kann ihre Funktion bisweilen nicht erfüllen, sei es, weil sie defekt ist oder weil die Bedingungen nicht gegeben sind, die sie zur Ausübung ihrer Funktion braucht (vielleicht ist das Mahlwerk verklemmt, vielleicht ist kein Wasser im Tank). Repräsentationen haben Echte Funktionen, die sie aus denselben Gründen bisweilen nicht erfüllen können. Leere, falsche oder halluzinatorische Repräsentationen werden dadurch erklärt, dass eine Repräsentation ihre Funktion nicht ausüben kann und nicht durch ihre Gerichtetheit auf ein mentales Objekt. Wenn eine Repräsentation etwas repräsentiert, das nicht existiert, dann nicht deshalb, weil sie etwas Nichtexistentes repräsentiert, sondern weil sie nicht oder nichts repräsentiert. (Zum Vergleich: Das Mahlwerk mahlt nicht, wenn es verklemmt ist, und es mahlt nichts, wenn keine Kaffeebohnen vorhanden sind.) Versteht man die Biosemantik also als den Versuch, Brentanos heiße Kastanien aus dem Feuer zu holen, so muss man dies mit den genannten Einschränkungen (oder besser: VM: I-II. Nicht alle mentalen Repräsentationen haben die Funktion, etwas in dem Sinne zu repräsentieren, dass es falsch oder wahr sein kann. Konative Repräsentationen repräsentieren einen Zustand, der herbeigeführt werden sollte, damit die Repräsentation erfüllt wird, nicht einen Zustand, der vorliegen muss, damit die Repräsentation wahr ist. Wie steht es mit Produkten der Einbildungskraft? Stellt man sich beispielsweise ein Musikstück vor, dann gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Entweder das vorgestellte Musikstück ist eine Repräsentation eines gehörten Musikstücks. Dann stellt sich die Frage, ob das gehörte Stück richtig oder falsch vorgestellt wird. Oder man stellt sich ein Musikstück ohne Vorlage vor. Dies ist ein kreativer Akt, keine Repräsentation, es handelt sich um eine Äußerung unseres Vorstellungsvermögens, die nicht die Funktion hat, etwas zu repräsentieren. Ich werde in Kapitel 3 etwas über die Funktion der Vorstellungskraft sagen. 79 80 32 Erweiterungen) tun. Das Merkmal intentionaler Zustände besteht darin, dass sie wahr oder falsch sein können. Das Problem der Intentionalität ist deshalb das Problem der Fehlrepräsentation. Repräsentationen haben die Eigenschaft der Intentionalität, insofern sie falsch oder wahr sein können. Intentionalität ist jedoch ein Merkmal, das nicht allein dem Nicht-Physischen oder Nicht-Biologischen zukommen kann. Intentionalität ist ein Merkmal, das nicht nur Geistigem, sondern allen Arten von Repräsentationen zukommt, insofern sie wahr oder falsch sein können. Die biosemantische These lautet, dass die Intentionalität subpersonaler, tierlicher, mentaler oder sprachlicher Repräsentationen eine biologische Kategorie ist, sie kommt biologischen Systemen in einem weiten Sinne zu, nämlich Systemen mit Echten Funktionen. Schließlich ist Intentionalität kein Merkmal, das die Existenz mentaler Objekte impliziert. Intentionalität ist ein Merkmal von Zuständen mit Echten Funktionen. Eine Fehlrepräsentation handelt nicht von einem mentalen Objekt, sondern erfüllt ihre Funktion als Repräsentation nicht. Der Liberalismus der Biosemantik lässt natürlich eine der oben gestellten Fragen umso dringender werden: Was heißt es, dass etwas eine mentale Repräsentation ist? Millikans Terminologie schwankt. In LTOBC bezeichnet sie nur jene Zustände und Strukturen als Repräsentationen, die in etwa Überzeugungen und Aussagen entsprechen. Andere Repräsentationen werden als „Zeichen“ oder „Icons“ bezeichnet. An anderen Stellen benutzt sie den Ausdruck „Repräsentation“ jedoch für alle Vehikel oder verwendet „Zeichen“ und „Repräsentation“ als austauschbar. Sie ist jedoch der Ansicht, dass mentale Repräsentationen, wie etwa Menschen sie benutzen, sehr anspruchsvolle Kriterien erfüllen müssen.81 Sie hebt insbesondere die Fähigkeit zur Identifikation des Objekts einer Repräsentation hervor.82 Das ist der erste und entscheidende Aspekt für das Vorliegen mentaler Repräsentationen. Man kann auf einer höherstufigen Ebene jedoch auch den Aspekt betonen, dass in erster Linie Wesen mit bestimmten Formen von Selbstbewusstsein (nämlich als Bewusstsein von eigenen mentalen Zuständen) Wesen mit Geist sind.83 Aus den Kommentaren zu Brentano ergibt sich noch eine andere Schwierigkeit. Wir haben gesehen, dass Fehlrepräsentationen sich auf keine besonderen mentalen Objekte beziehen, sondern nichts repräsentieren. Doch wenn wir etwa an die vollkommene visuelle Halluzination einer Szenerie denken, so scheint für das erlebende Subjekt kein Unterschied zu einer veridischen visuellen Wahrnehmung dieser Szenerie zu bestehen. In beiden Fällen scheint es dem Subjekt, als würde seine Wahrnehmung etwas repräsentieren, und zwar beide Male dieselbe Szenerie. Wie kann diese Ununterscheidbarkeit erklärt werden, wenn Vgl. LTOBC: 96; WQP: IV; VM: XVIII-IX. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 5. 83 Vgl. das „Schimpansenargument“ für Selbstbewusstsein bei Tieren in 4.4. 81 82 33 veridische Repräsentationen etwas repräsentieren, halluzinatorische hingegen nicht (visuelle Halluzinationen bei Blinden) oder nichts (visuelle Halluzinationen bei Sehenden) repräsentieren? Wie wir sehen werden lautet die Antwort, dass der Intentionalismus falsch sein muss: Phänomenale Eigenschaften sind keine intentionalen Eigenschaften einer Repräsentation (5.1.3.4., 5.1.5.3. 5.3.2.3.). 1.1.3. Repräsentationaler Inhalt und intentionaler Inhalt Die Kognitions- und die Neurowissenschaften können, wie wir gesehen haben, als solche keine Antworten auf die beiden folgenden Fragen geben: Worin besteht die intentionale Relation zwischen einer Repräsentation und ihrem Objekt? Die Teleosemantik versucht, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Das Problem, das sich in dieser Frage verbirgt, kann auf stark vereinfachte Weise eingeführt werden, indem man von einer überaus einfachen Theorie der Repräsentation ausgeht. Nehmen wir an, dass der Bezug eines Wortes – sicher eine Repräsentation im gebräuchlichsten Sinne des Ausdrucks – auf den von ihm bezeichneten Gegenstand durch eine kausale Relation hergestellt werde. So repräsentiert beispielsweise das Wort „Hund“ Hunde, weil es durch Hunde verursacht wird, oder besser, weil sein Gebrauch durch Hunde verursacht wird. Man kann diesen Vorschlag eine „simple kausale Theorie der Repräsentation“ (SKTR) nennen. Die Probleme für SKTR liegen jedoch auf der Hand. Ich verweise auf fünf Probleme: 1. Äquivokation. Es gibt eine Menge von Ursachen dafür, dass eine Person, die Deutsch spricht, das Wort „Hund“ gebraucht. So kann sie das Wort gebrauchen, weil sie einen niederträchtigen Menschen sieht und ihn beschimpfen möchte. Das ist eine einfache Fassung des Äquivokations-Problems für SKTR. Da ein und dasselbe Wort („Hund“) zwei unterschiedliche Bedeutungen hat (es verweist auf Hunde und niederträchtige Personen), kann die Bedeutung des Wortes nicht einfach in seiner Ursache bestehen. Doch dieses Problem kann man leicht dadurch umgehen, dass man zwischen zwei Worten unterscheidet, nämlich „Hund1“ (das Tier) und „Hund2“ (der Niederträchtige). Außerdem gebrauchen wir „Hund2“ wohl in Abhängigkeit von „Hund1“, und nicht umgekehrt. 2. Überdetermination. Doch selbst wenn wir zwischen verschiedenen Verwendungsweisen von „Hund“ unterscheiden, so kann doch der Gebrauch dieses Wortes auch durch ganz andere Dinge verursacht werden als durch Hunde. Vielleicht wird er durch eine Frage verursacht, durch eine plötzliche Assoziation oder durch 34 Katzen. Die jeweiligen Ursachen des Wortgebrauchs können also sicher nicht festlegen, worin die Bedeutung des Wortes besteht. 3. Fehlrepräsentation. Eine Person kann den Ausdruck „Hund“ auch dann gebrauchen, wenn sie (fälschlicherweise) glaubt, das Tier vor ihren Augen (ein Schakal) sei ein Hund. Wenn das Wort „Hund“ sich auf das bezieht, wodurch es (sein Gebrauch) verursacht wird, so bedeutet das Wort sowohl Hund als auch Mensch als auch Schakal. Dies ist eine einfache Version des Disjunktions-Problems für die simple kausale Theorie der Referenz, weil die Bedeutung von „Hund“ so etwas wie „Hund oder Mensch oder Schakal“ wäre. 4. Qua-Problem. Die Annahme ist sicher nicht unplausibel, dass der Gebrauch des Wortes „Hund“ etwas mit der tatsächlichen kausalen Beziehung zu Hunden in der Sprachgemeinschaft oder in der Biografie einer Sprecherin zu tun hat. Der Bezug des Wortes „Hund“ in einer Sprachgemeinschaft wird durch Begegnungen mit einem Hund kausal festgelegt. Mythisch gesprochen: Adam taufte dieses Tier vor seinen Augen (einen Hund) auf den Namen „Hund“, und dadurch wurde die Bedeutung des Wortes festgelegt. Doch was hat Adam mit dem Wort „Hund“ benannt? Nehmen wir an, Adam habe auf einen Border Collie gedeutet. Doch dann wären Jack Russell keine Hunde. Oder hat er nicht vielmehr ein schwarz-weißes, vierbeiniges Tier mit buschigem Schwanz und spitzem Gesicht als „Hund“ bezeichnet? Doch dann wären auch Stinktiere Hunde. Oder hat er auf ein Raubtier verwiesen? Wären dann Panther auch Hunde? Hier handelt es sich um eine einfache Version des Qua-Problems für die simple kausale Theorie der Referenz, weil nicht klar ist, qua welcher Beschreibung des Bezugsgegenstandes die Bedeutung von „Hund“ ostentativ festgelegt wird. (Wird der Bezugsgegenstand durch eine ausführliche Beschreibung der Spezies Hund festgelegt, handelt es sich nicht mehr länger um eine kausale, sondern um eine deskriptive Theorie der Referenz.) 5. Abgeschlossenheit der Lernperiode. Schließlich könnte man (was ebenfalls eine gewisse Plausibilität beanspruchen darf) die Lerngeschichte für den Gebrauch von „Hund“ mit einbeziehen. Der Novize wird durch einen Meister in die korrekte Wortverwendung eingewiesen, indem der Meister den Novizen mit Aufgaben versieht und ihn entsprechend korrigiert oder lobt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat der Novize den Gebrauch des Wortes selbst gemeistert und die Lernperiode ist vorüber. Doch wann ist die Lernperiode vorüber? Wenn der Novize keine Fehler mehr begeht? Es wäre jedoch merkwürdig, wenn zum reifen Gebrauch eines Wortes die Möglichkeit gehören würde, keinen Irrtümern mehr zu unterliegen. Wenn der Novize überwiegend richtig liegt? 35 Doch es könnte durchaus sein, dass die Lernjahre mehr richtige Verwendungen aufweisen als die Meisterjahre.84 Mit diesen fünf Problemen sind nicht alle Probleme für SKTR genannt. Die erste Folgerung aus dieser Aufzählung besteht darin, dass der Hinweis auf eine kausale Relation für sich genommen keine Antwort auf die Frage nach dem Grund des Bezugs einer Repräsentation auf ein Objekt geben kann, und daran ändern weitere Probleme natürlich nichts. Die zweite und wichtigere Konsequenz besteht darin, dass sich ein den fünf Problemen gemeinsamer Kern abzeichnet. Wir wollten eine Antwort auf die Frage geben, wie der Ausdruck „Hund“ Hunde repräsentieren kann, ohne eine Menge anderer Dinge wie niederträchtige Personen, Stinktiere oder Schakale mit einzuschließen, und ohne Dinge auszuschließen, bei denen es sich um Hunde handelt, und ohne den intentionalen Inhalt der Repräsentation durch dasjenige festzulegen, was ihr Inhalt sein soll. Der Kern dieser Probleme besteht darin, einer Repräsentation einen korrekten Inhalt zuzuweisen. Können wir einer Repräsentation einen korrekten Inhalt zuweisen, dann haben wir nur die gewünschten Dinge ausgeschlossen, nämlich die inkorrekten Inhalte (niederträchtige Personen, Stinktier, Schakal), nicht aber die korrekten Inhalte (Jack Russell). Die Kernfrage lautet deshalb: Wie können Repräsentationen falsch sein? Diese Frage zielt auf die Intentionalität als Eigenschaft von Repräsentationen. Sie zielt auf den Grund der „Beziehung desienigen [sic], was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“. Sie formuliert das Problem der Fehlrepräsentation. (Das Disjunktionsproblem ist, wie wir in Abschnitt 1.1.1. bereits gesehen haben, lediglich eine besondere Formulierung dieses Problems.) An dieser Stelle kommt die Teleosemantik ins Spiel und erklärt, dass das Problem der Fehlrepräsentation unter Rückgriff auf einen teleologischen Begriff der Funktion zu lösen ist. Der Ausdruck „teleologisch“ bezieht sich hier auf Folgendes: Ein Begriff ist teleologisch, insofern er angibt, wozu etwas dient, und dadurch erklärt, warum Dinge dieses Typs vorhanden sind. Das, wozu eine Repräsentation dient (ihre Funktion), bestimmt ihren Inhalt, und der so bestimmte Inhalt ist der korrekte Inhalt der Repräsentation. Ähnlich wie ein Instrument seine Funktion erfüllen oder nicht erfüllen kann, kann auch eine Repräsentation ihre Funktion erfüllen oder nicht erfüllen. Mit der Funktion wird einer Repräsentation der korrekte Inhalt zugewiesen. Der korrekte Inhalt ist Die Annahme einer Lernperiode liegt Dretskes erstem Versuch einer Bestimmung des intentionalen Inhalts von Begriffen und Überzeugungen zugrunde (vgl. Dretske 1981: 22-231). Erst aufgrund der Kritik in Fodor 1990: II ist Dretske zu einer teleologischen Lösung des Irrtumsproblems übergegangen (vgl. Dretske 1986, 1988: 64-70, 1995: 28; 2000: 213-216), nicht ohne, dass dem Lernen nach wie vor eine wichtige Rolle zukäme (vgl. Dretske 1988: 95-107, 2000: 235-240 und Dretskes Antworten in McLaughlin 1991: 200-210). 84 36 der intentionale Inhalt, d.i. der Bezug der Repräsentation auf etwas als etwas. Doch die Teleosemantik ist keine Theorie, die neben SKTR oder neben anderen naturalistischen Theorien der Repräsentation ihrerseits eine Antwort auf Kants Frage versucht: „Frequently [teleosemantic] theories have been classified as either picture theories, causal or covariation theories, information theories, functionalist or causal role theories, or teleological theories, the assumption being that these various categories are side by side one another. But they are not. Teleological theories are specific forms of one or another, or of some combination, of the other kinds of theories. What teleological theories have in common is not any view about the nature of representational content, that is, about what makes a mental representation represent something. What they have in common is only a view about how falseness in representations is possible.“85 Die Teleosemantik geht vielmehr von einer Theorie der Repräsentation aus und fügt ihr dann einen teleosemantischen Zusatz hinzu, der das Problem der Fehlrepräsentation lösen soll. Es ist deshalb irreführend, über die naturalistischen Antwortversuche von Kants Frage zu sagen: „Vielleicht handelt es sich – wie Dretske zunächst vermutete – um eine informationale Beziehung; vielleicht ist es aber auch – wie Fodor meint – eine kausale Beziehung; vielleicht hat Millikan Recht, nach der es sich […] um eine teleologische Beziehung handelt; vielleicht ist aber auch ein Mix aus all diesen verschiedenen Beziehungen für die Intentionalität mentaler Repräsentationen verantwortlich.“86 In diesem Zitat wird die teleologische Relation als eine Form der Relation neben informationale, kausale und gemischte Relationen gestellt. Das ist ein Kategorienfehler. Es wäre auch falsch zu sagen, die Biosemantik sei (etwa im Gegensatz zu Fodors Psychosemantik) eine gemischte Theorie der Intentionalität, denn sie erklärt die Intentionalität von Repräsentationen durch Funktionen allein, und nicht durch einen Mix von Funktion und einer anderen Zutat. Es ist trotzdem irreführend zu sagen, dass es sich bei der intentionalen Beziehung um eine teleologische Beziehung handle, weil die Beziehung zum Objekt durch Isomorphie-Relation (durch ein abstraktes Abbild) hergestellt wird, wie wir in diesen Abschnitt noch sehen werden. Die Teleosemantik ist auch nicht auf eine kausale Theorie der Repräsentation angewiesen. Auch wenn der Teleosemantik die Aufgabe zukommt, eine Erklärung dafür zu geben, wie Repräsentationen falsch sein können, bedeutet dies keineswegs, dass ihr die Aufgabe zukommt, zu erklären, wie eine kausale Theorie der Repräsentation das Problem der Fehlrepräsentation lösen könnte. Es gibt mehr als nur kausale Theorien. Millikan verweist im vorletzten Zitat auf unterschiedliche Optionen, nämlich „picture theories, causal or covariation theories, 85 86 Millikan 2009a: 394. Barz 2006: 194. 37 information theories, functionalist or causal role theories“. Teleosemantiken unterscheiden sich u.a. darin, welcher Repräsentationstheorie sie zu Hilfe kommen. So geht etwa Dretske von einer Informationstheorie der Repräsentation aus, Tye von einer Kovarianztheorie, Millikan von einer Abbildtheorie.87 Wir müssen also unterscheiden zwischen der Frage, was eine Repräsentation zu einer Repräsentation macht, und der Frage, wie eine solche Repräsentation falsch sein kann. Diese beiden Punkte sind äußerst wichtig, denn sie deuten an, dass verschiedene Aspekte einer Repräsentation zu unterscheiden sind. Intuitiv kann man sagen: Eine Repräsentation steht für etwas. Da wir uns für Intentionalität interessieren, müssen wir sagen: Eine Repräsentation steht für etwas als etwas. Und da wir uns letztlich für mentale Repräsentationen interessieren, können wir erweiternd sagen: Eine Repräsentation steht für etwas als etwas für jemanden.88 Ich werde jetzt einige unterscheidende Begriffe einführen, die diese Unterschiede explizit festhalten sollen. Diese Begriffe werden hilfreich sein, wenn es darum geht, den komplexen Begriffsapparat der Biosemantik darzulegen. 1. R-Vehikel. Die Repräsentation oder das Zeichen selbst. Hierbei handelt es sich um das „Repräsentations-Vehikel“ (R-Vehikel). Naturalistischen Theorien zufolge handelt es sich dabei um materielle Zustände oder Ereignisse (Hirnstrukturen, Laute usw.). Die Vehikel-Frage lautet: Was macht einen materiellen Zustand oder ein Ereignis zu einem R-Vehikel, im Unterschied zu materiellen Strukturen oder Ereignissen, die keine RVehikel sind? R-Vehikel haben einen Inhalt. Diesen können wir, um ihn vom intentionalen Inhalt des Vehikels zu unterscheiden, als „R-Inhalt“ bezeichnen. Es wird sich im unmittelbaren weiteren Verlauf deutlicher zeigen, warum die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Inhalt wichtig ist. 2. P-Mechanismus. R-Vehikel sind Strukturen oder Ereignisse, die von etwas hervorgebracht werden. Sie werden von einem repräsentationalen Mechanismus produziert, modifiziert oder transformiert. Weil solche Mechanismen R-Vehikel produzieren, kann man sie als „P-Mechanismen“ bezeichnen. 3. K-Mechanismus. Was befähigt ein System (einen Organismus) aufgrund eines RVehikels, bestimmte Dinge zu tun? Das R-Vehikel muss als etwas interpretiert werden, das etwas als etwas repräsentiert, und zwar von einem Mechanismus, der den R-Inhalt auf diese Weise interpretiert und es dem System aufgrund des so interpretierten RVgl. die Abschnitte 1.1.4. und 1.2.6. Ich habe damit die Repräsentation dem Begriff des Zeichens angenähert, wie Peirce ihn verwendet: „A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity.“ (CP 2.228.) Wie wir noch sehen werden, entspricht dies durchaus der pragmatistisch-semiotischen Tradition, der die Biosemantik entstammt (vgl. 1.2.1.-1.2.5). 87 88 38 Inhalts eines Vehikels erlaubt, bestimmte Dinge zu tun. Interpretierende Mechanismen sind ebenfalls Bestandteile eines Systems. Millikan nennt solche Mechanismen „Konsumenten“, weil sie die vom P-Mechanismus erzeugten R-Vehikel benutzen. Ich werde von „K-Mechanismen“ sprechen.89 4. R-Ziel. Das repräsentierte Objekt, die repräsentierte Eigenschaft, die repräsentierte Tatsache ist dasjenige, worauf die Repräsentation zielt. Cummins spricht vom „Ziel“ (target) einer Repräsentation.90 Ich werde den Ausdruck „Repräsentations-Ziel“ verwenden (R-Ziel). Die Ziel-Frage lautet: Wodurch wird ein bestimmtes R-Ziel festgelegt? Der intentionale Inhalt der Repräsentation (IR-Inhalt) ist nun kein eigenes Element neben den genannten Elementen. Ich habe in der Diskussion von Brentanos These bereits gesagt, dass intentionale Inhalte keine eigenen Objekte sind. Der IR-Inhalt ergibt sich aus dem Zusammenspiel der genannten Elemente. Bringt ein P-Mechanismus ein R-Vehikel hervor mit dem von einem K-Mechanismus interpretierten R-Inhalt, dass ein bestimmtes R-Ziel vorliegt (mithin: mit einem IR-Inhalt), dann kann das System, wenn das R-Ziel vorliegt, bestimmte Dinge tun bzw. es kann diese Dinge nicht tun, wenn das R-Ziel nicht vorliegt oder auf andere Weise, als der IR-Inhalt angibt. Was sagt einem System, dass ein bestimmtes R-Ziel vorliegt? Nun, der K-Mechanismus interpretiert den R-Inhalt eines RVehikels als Repräsentation eines bestimmten R-Ziels. Biosemantisch ausgedrückt ist es die Echte Funktion des K-Mechanismus, der den R-Inhalt des R-Vehikels intentional bestimmt. Effektiv verhilft der K-Mechanismus dem System dazu, bestimmte Dinge zu tun. Damit der K-Mechanismus diese seine Funktion ausüben kann, muss das R-Vehikel ein bestimmtes R-Ziel repräsentieren, mithin einen IR-Inhalt haben. Es ist also der KMechanismus (qua Echte Funktion), der den R-Inhalt des R-Vehikels intentional bestimmt. Der IR-Inhalt ist dabei eine bestimmte Facette des R-Inhalts, nämlich jene Facette, die der K-Mechanismus braucht, um seine Funktion ausüben zu können. Nun liegt es auf der Hand, wie Fehlrepräsentationen entstehen. Sie entstehen, wenn ein IR-Inhalt vorliegt, nicht aber das durch ihn angegebene, bestimmte R-Ziel, sondern ein anderes R-Ziel oder kein RZiel. Ein Beispiel (auf das ich im Abschnitt 5.1.3.3. ausführlich zu sprechen kommen werde) kann das Zusammenspiel der unterschiedenen Elemente veranschaulichen. Schnappt ein Frosch nach einem kleinen, dunklen, vorbei fliegenden Bleikügelchen (R89 Peirce spricht von „interpretieren“ und bezeichnet Konsumenten als „Interpretanten“. Die Unterscheidung zwischen K-Mechanismus und einem System, zu dem diese Mechanismen gehören, entspricht der Unterscheidung zwischen Interpretant und Interpret von Morris, vgl. 1.2.4. 90 Vgl. Cummins 1996. 39 Ziel), weil sein Auge (P-Mechanismus) sich in einem Zustand (R-Vehikel) befindet, der besagt, dass Froschfutter (etwa in der Gestalt dessen, was wir als „Fliege“ bezeichnen würden) vorbeischwirrt (IR-Inhalt), dann kann der Frosch nicht tun, was er normalerweise mit dem, worauf der IR-Inhalt zielt, tut, nämlich verdauen. Was der Frosch braucht, ist Futter (nicht Blei). Der K-Mechanismus, der dem Frosch Futter zuführt, ist das Verdauungssystem. Damit das Verdauungssystem seine Funktion (verdauen) ausüben kann, muss das Froschauge sich in einem Zustand befinden, der etwas für den Frosch Verdaubares repräsentiert, nämlich Froschfutter. (Damit der K-Mechanismus seine Funktion ausüben kann, muss der P-Mechanismus ein R-Vehikel hervorbringen, das etwas für das System Nützliches repräsentiert, und das ist der IR-Inhalt. Liegt ein anderes R-Ziel vor, als der IR-Inhalt angibt, liegt ein Fall von Fehlrepräsentation vor.) Produziert das Froschauge einen Zustand, der auf Bleikügelchen zielt, so kann es dem Verdauungssystem nicht anzeigen, was es braucht, um seine Funktion ausüben zu können. Der IR-Inhalt ist Froschfutter, doch das aktuelle R-Ziel ist das Bleikügelchen. Das R-Vehikel repräsentiert falsch, und der Frosch bekommt nicht, was bekommen sollte. Dies trifft nicht auf den RInhalt des Vehikels zu. Das Vehikel repräsentiert ein kleines, schwarzes, bewegtes Objekt. Ob es sich bei diesem Objekt um ein Bleikügelchen oder um eine Fliege handelt, spielt auf dieser Ebene keine Rolle. Es spielt erst eine Rolle im Hinblick auf den K-Mechanismus. Ein R-Vehikel repräsentiert also jenes R-Ziel, das zu repräsentieren es die Funktion hat. Durch die Funktion wird der IR-Inhalt des R-Vehikels festgelegt. Dies verbindet alle teleosemantischen Theorien. Wodurch erhält das R-Vehikel diese Funktion? Hier trennen sich die Pfade, denn es gibt zwei Möglichkeiten: die Funktion des Vehikels ist abgeleitet entweder von der Funktion des P-Mechanismus oder von der Funktion des KMechanismus. Für die konsumentenorientierte Biosemantik ist es entscheidend, dass die Festlegung des IR-Inhalts eines R-Vehikels von der Funktion des K-Mechanismus abgeleitet wird. Dem hingegen leitet sich der R-Inhalt des R-Vehikels von der Funktion des P-Mechanismus ab. Betrachten wir das genauer. Warum unterscheidet die Biosemantik R-Inhalt von IR-Inhalt? Es ist eine Sache zu sagen, warum etwas ein R-Vehikel ist, denn hier geht es um die Frage „what makes a representation represent something“. Doch es ist eine andere Sache anzugeben, wie ein R-Vehikel falsch sein kann, „how falseness in representations“ möglich ist. Teleosemantiken erklären, wie der R-Inhalt eines R-Vehikels eine intentionale Dimension (einen IR-Inhalt) haben kann. Millikan verweist, wie wir gesehen haben, auf unterschiedliche Optionen für die Bestimmung des R-Inhalts: „picture theories, causal or covariation theories, information theories, functionalist or causal role theories“. 40 Abbildungs-, Kausal,- Informationsrelationen und funktionale Relationen bestehen zwischen vielen natürlichen Strukturen und Prozessen. Betrachten wir Millikans bevorzugte Theorie der Repräsentation, die Abbildtheorie.91 Der Schatten eines Baumes bildet den Baum ab, denn es bestehen Isomorphie-Relationen zwischen der Gestalt des Schattens und der Gestalt des Baums. Diese Isomorphie-Relationen unterliegen einer systematischen Transformation, die mit dem Verhältnis zwischen Baum und Sonne korrespondiert. Der Schatten, den ein Baum wirft, ist ein Muster, das durch bestimmte Baum-und-SonnenBedingungen produziert wird und mit diesen Bedingungen über Transformationen hinweg korrespondiert. Doch der Schatten ist als solcher keine Repräsentation des Baums (auch wenn er als Repräsentation des Baums verwendet werden kann). Er ist kein R-Vehikel, auch wenn Abbildungsrelationen zwischen der Gestalt des Schattens und der Gestalt des Baums bestehen. Denn der Schatten ist nicht das Produkt eines P-Mechanismus, der die Funktion hat, solche Muster zu produzieren. Demgegenüber ist das Muster auf der Netzhaut der Augen eines Lebewesens, das den Schatten sieht, ein R-Vehikel. Es hat (als Zustand des P-Mechanismus) die Funktion, Muster zu repräsentieren, die durch die Verteilung von Lichtintensität in der Umwelt entstehen. Zwischen dem Muster auf der Netzhaut und dem Schattenmuster bestehen ebenfalls Isomorphie-Relationen. Da solche Relationen transitiv sind, bestehen sie auch zwischen dem Netzhautmuster und der Baumgestalt. Auch wenn es die Funktion der Netzhaut ist, bestimmte Muster (R-Vehikel) zu produzieren, und es nicht die Aufgabe der Baum-und-Sonnen-Bedingung ist, bestimmte Muster (Schatten) zu produzieren (deshalb handelt es sich bei dem Schatten nicht von sich aus um R-Vehikel), so haben wir immer noch keinen IR-Inhalt für das R-Vehikel, denn das Netzhautmuster unterhält Isomorphie-Relationen zu zahlreichen Strukturen, nicht nur zum Schatten, sondern auch zum Baum. Etwas ist also ein R-Vehikel, wenn es zwei Bedingungen erfüllt: (1) Ein R-Vehikel ist eine Struktur, die andere Strukturen abbildet. (2) Ein R-Vehikel wird von einem P-Mechanismus hervorgebracht, der die Echte Funktion hat, Strukturen hervorzubringen, die andere Strukturen abbilden. Der Schatten scheidet aufgrund von (2) als Kandidat für ein R-Vehikel aus, das Auge bleibt im Spiel. Doch die innere Struktur, die das Froschauge produziert, wenn es (beispielsweise) auf eine Fliege reagiert, bildet zahlreiche externe Strukturen ab. Welche dieser Abbildrelationen ist die entscheidende? Auch wenn ein P-Mechanismus die Funktion hat, 91 Vgl. LTOBC: V, WQP: 287, VM: VI, LBM: V. 41 R-Vehikel hervorzubringen, die repräsentieren, indem sie abbilden, so ist damit noch nicht gesagt, welches dieser zahlreichen R-Ziele jenes Ziel ist, das den IR-Inhalt des R-Vehikels darstellt. Die zentrale These der Biosemantik lautet, dass der IR-Inhalt eines R-Vehikels im eben definierten Sinne durch die Funktion des K-Mechanismus festgelegt wird. IR ist im Auge des Konsumenten.92 Der IR-Inhalt liegt im Auge des Konsumenten. Das R-Vehikel muss ein bestimmtes R-Ziel repräsentieren, damit der K-Mechanismus seine Funktion für das ganze System ausüben kann. Die genannten Repräsentationstheorien sind also Theorien über R-Inhalt, nicht über IR-Inhalt, denn keine dieser Theorien kann, für sich genommen, das Problem der Fehlrepräsentation lösen. Eine Repräsentationstheorie, die dieses Problem lösen soll, muss über eine normative Dimension verfügen, doch keine dieser Theorien hat als solche eine normative Dimension. Die normative Dimension muss ins Spiel kommen, weil eine Repräsentation ja sozusagen die Aufgabe hat, einen bestimmten Gegenstand zu repräsentieren. Doch eine Repräsentation kann diese Aufgabe auch nicht erfüllen, sie kann auftauchen, ohne dass der Gegenstand, den sie repräsentiert, vorhanden wäre. Sie erfüllt dann die Aufgabe nicht, die sie erfüllen sollte. Darin liegt die normative Dimension der Repräsentation. Diese normative Dimension ist, abstrakt gesprochen, ein Maß, von der die Repräsentation abweichen kann. Deshalb ist das Problem der Fehlrepräsentation ein „Normativitätsproblem“93 Ohne eine normative Dimension (ohne die Möglichkeit der Fehlrepräsentation) hat eine Repräsentation keinen IR-Inhalt, keinen ihr zugeeigneten Gegenstand. Woher hat die Repräsentation jedoch das Maß, von dem sie (als Fehlrepräsentation) abweichen kann? Die aufgezählten Repräsentationstheorien nennen lediglich aktuale oder potenzielle Beziehungen zwischen einem R-Vehikel und irgendwelchen Korrelaten, oder sie verweisen auf aktuale oder potenzielle funktionale Beziehungen zwischen R-Vehikeln. Sie können deshalb nicht erklären, warum einem RVehikel die Aufgabe zukommt, ein R-Ziel zu repräsentieren, ein korrektes R-Ziel zu haben. Erst dadurch erhalten R-Vehikel Inhalt im strikten Sinne, nämlich einen IR-Inhalt. Als RInhalt ist der Inhalt eines R-Vehikels unbestimmt, erst als IR-Inhalt ist er bestimmt. Und nur, wenn ein R-Vehikel einen bestimmten Inhalt hat, kann es auch falsch repräsentieren, und hat mithin einen IR-Inhalt. Im Folgenden werde ich deshalb bestimmten intentionalen Inhalt eines Vehikels (den IR-Inhalt) bisweilen tout court als „Inhalt“ ansprechen, niemals den unbestimmten repräsentationalen Inhalt (den R-Inhalt). 92 93 Dank an Martin Lenz für diesen Slogan! WQP: 3. 42 Selbst für Philosophen, die die eben eingeführten Unterscheidungen beherzigen, scheint der Begriffsapparat der Biosemantik immer noch gehörige Schwierigkeiten zu bereiten. Es ist jedoch wichtig, dass wir uns hier nicht von Anfang an in Verwirrungen verstricken und die Biosemantik mit anderen Positionen verwechseln und die Unterscheidungen durcheinander bringen. Vor allem müssen K-Mechanismen und das System, zu dem sie gehören, auseinandergehalten werden. Betrachten wir zu diesem Zweck die grobe Formulierung des teleosemantischen Zusatzes zu Theorien der Repräsentation durch Mark Rowlands. Diese Formulierung berücksichtigt sowohl die produzenten- als auch die konsumentenorientierte Teleosemantik: „An item r [das R-Vehikel] qualifies as representational [als einen IR-Inhalt habend] only if it has the proper function either of tracking the feature or state of affairs s that produces it, or of enabling an organism or other representational consumer to achieve some (beneficial) task in virtue of tracking s.“94 Rowlands selbst geht von einer repräsentationalen Theorie der zuverlässigen Kovarianz (tracking) aus, der zufolge R-Vehikel r Informationen über ein Merkmal oder einen Sachverhalt s tragen. Für produzentenorientierte Versionen ist für die Intentionalität die Echte Funktion der P-Mechanismen entscheidend. P-Mechanismen haben die Echte Funktion, bestimmte Input-Bedingungen anzuzeigen. Das angeführte Vehikel r ist ein Produkt eines P-Mechanismus. Rowlands Formulierung ist unglücklich, weil sie den Anschein erweckt, als wäre s selbst der Produzent des R-Vehikels. Das ist natürlich teleosemantisch unsinnig. Der Baum wirft einen Schatten und derselbe Baum affiziert die Netzhaut eines Lebewesens. Das Schattenmuster ist kein R-Vehikel, das Netzhautmuster hingegen ist ein R-Vehikel. Der Produzent des Netzhautmusters ist, im technischen Sinne der Biosemantik, nicht der Baum und nicht der Schatten, sondern das Auge (bzw. ein bestimmter P-Mechanismus des Auges). Der P-Mechanismus hat aus Sicht der konsumentenorientierten Biosemantik lediglich die Funktion, R-Vehikel hervorzubringen. Der K-Mechanismus braucht die RVehikel für bestimmte Aufgaben. Gemäß der konsumentenorientierten Version haben die Produkte des P-Mechanismus einen unbestimmten R-Inhalt, aber keinen bestimmten IRInhalt. Bezogen auf Rowlands Formulierung des teleosemantischen Zusatzes gilt, dass r nur dann ein R-Vehikel ist, wenn r von einem P-Mechanismus hervorgebracht wird, der die Funktion hat, solche Vehikel hervorzubringen. Doch für den IR-Inhalt verantwortlich ist die Funktion des K-Mechanismus, nicht die (vom P-Mechanismus abgeleitete) Funktion des Vehikels r. Rowlands betont deshalb zu Recht, dass „the notion of a representational 94 Rowlands 2006: 127. 43 consumer“ von größter Bedeutung für die Biosemantik ist.95 Nur nicht unter Ausschluss des Produzenten. Konsumentenorientierte Versionen verzichten keineswegs auf PMechanismen, denn diese bringen R-Vehikel hervor, ohne die K-Mechanismen ihre Funktionen nicht erfüllen könnten. Produzenten sind für den R-Inhalt verantwortlich, Konsumenten für den IR-Inhalt. Nun sagt Rowlands in dem oben angeführten Zitat über die konsumentenorientierte Teleosemantik: „An item r qualifies as representational only if it has the proper function […] of enabling an organism or other representational consumer to achieve some (beneficial) task in virtue of tracking s.” Merkwürdig ist die Formulierung „enabling an organism or other representational consumer to achieve some (beneficial) task“. Was meint Rowlands? Er ist der Ansicht, dass der biosemantische Begriff des Konsumenten mehrdeutig ist. Deshalb das „or“. Um dies darzulegen verwendet Rowlands ein Beispiel von Millikan.96 Der Schwanz des Bibers (die „Biberkelle“) erfüllt Funktionen beim Schwimmen oder bei der Temperaturregulierung. Doch klatscht der Biber seine Kelle heftig aufs Wasser, tauchen andere Biber sofort unter. Es scheint, dass das dabei erzeugte Geräusch (nennen wir es „Kellenschlag“) Gefahr signalisiert und die Artgenossen vor dieser Gefahr warnt, denn andere Biber reagieren auf den Kellenschlag und tauchen unter. Wie die Reaktion zeigt, hat die Biberkelle also noch eine weitere Funktion: mit ihrer Hilfe warnen Biber vor Gefahr. Was ist der Konsument des Kellenschlags? „The most obvious answer is: other beavers. The consumers of the representations are, thus, other organisms.“97 Und zwar handle es sich um „personal-level consumers“.98 Natürlich sei die Reaktion der anderen Biber vermittelt durch subpersonale Mechanismen. Das Gehör nimmt das Signal auf, leitet es ans Zentralnervensystem weiter, und ein Bereich im Motorkortex löst das Abtauchen aus. „So, in addition to personal consumers – other beavers – we also have subpersonal consumers.“99 Im Unterschied zu diesen subpersonalen Mechanismen seien nur die personalen Konsumenten, nämlich die Organismen im Ganzen, für den Nutzen einer Repräsentation empfänglich. Doch der Gedanke, dass es sich bei einem Konsumenten um den ganzen Organismus handelt, ist aus der Perspektive der Biosemantik unsinnig. Ein Konsument hat 95 Rowlands 2006: 132. Rowlands verweist auf den wichtigen Gedanken, dass produzenten- und konsumentenorientierte Versionen der Teleosemantik nicht inkompatibel sein müssen: „there is no necessary incompatibility between stimulus- and benefit-based accounts of representation“ (Rowlands 2006: 132). Auf diesen wichtigen Hinweis werde ich in Kapitel 5 zurückkommen. 96 Vgl. WQP: IV. 97 Rowlands 2006: 132. 98 Rowlands 2006: 133. 99 Rowlands 2006: 133. 44 eine Echte Funktion, d.h. eine selektierte Wirkung. Organismen haben als Ganze keine Echten Funktionen. Folglich kommen Echte Funktionen nicht den Organismen als Ganzen zu. Echte Funktionen kommen Merkmalen oder Äußerungen von Organismen zu. Durch die Wirkungen dieser Merkmale und Äußerungen haben bestimmte Organismen einer Art im Unterschied zu anderen überlebt, und das erklärt, warum ein bestimmtes Merkmal oder eine bestimmte Äußerung vorhanden ist. Natürlich muss der Organismus relativ zu anderen Organismen ein Verhalten an den Tag legen, das ihm irgendeinen Nutzen verschafft. Dieses Verhalten ist verursacht durch einen Mechanismus, der die Echte Funktion hat, das betreffende Verhalten auszulösen. Dieser Mechanismus ist der KMechanismus. Natürlich schreiben wir das Verhalten100 dem Organismus zu, und natürlich schreiben wir auch den Nutzen dem Organismus zu, denn die selektierte Wirkung eines KMechanismus muss dem Organismus dienen. Aus diesem Grund existiert der KMechanismus. Nur ist es dazu mitnichten erforderlich, dass wir dem ganzen Organismus eine Echte Funktion zuschreiben. Es ist teleosemantischer Unsinn einem ganzen Organismus eine solche natürliche Funktion zuzuschreiben.101 Ganze Organismen sind nur in einem vagen – wie Rowlands sagt: „obvious“ – Sinne die Konsumenten von R-Vehikeln. Sie sind keine K-Mechanismen im technischen Sinne der Biosemantik, vielmehr sind Organismen Systeme mit K-Mechanismen. Es gibt deshalb diesbezüglich keine Ambiguität im Begriff des Konsumenten.102 Wir haben einige wichtige Missverständnisse im Hinblick auf die Darstellung der Biosemantik ausgeräumt und uns dabei bemüht, den Repräsentationsbegriff differenziert zum Einsatz zu bringen. Dabei haben wir auch gesehen, dass und inwiefern die Biosemantik eine konsumentenorientierte Version der Teleosemantik ist. Die Missverständnisse bestehen in der Gleichstellung der Biosemantik mit Theorien der Repräsentation, ihrem Verständnis als Zusatz allein zu einer kausalen Theorie der Repräsentation, und dem Gedanken, dass Organismen Konsumenten sind. Hinsichtlich des Repräsentationsbegriffs hat sich als wichtiges Resultat ergeben, dass wir zwischen dem unbestimmten R-Inhalt von R-Vehikeln und dem bestimmten IR-Inhalt unterscheiden müssen, und dass die Biosemantik sowohl P-Mechanismen als auch K-Mechanismen einen Platz einräumt. 100 Doch Verhalten ist, wie wir in Abschnitt 1.2.5. sehen werden, der Prozess des Auslösens von Bewegungsabläufen und Bewegungsabbrüchen durch eine innere Ursache mit einer Direkten Echten Funktion. Das Verhalten hat entsprechend eine Abgeleitete Echte Funktion. 101 Organismen kommen Cummins-Funktionen in einem Superorganismus oder in einem Biotop zu; Organismen kommen kulturelle Funktionen in einer Kultur zu. 102 Eigentlich handelt es sich in dem Biberbeispiel um eine „Pushmi-pullyu-Repräsentation“ (vgl. LBM: IX). Ihr Inhalt ist in etwa „Gefahr-hic-et-nunc-Abtauchen-hic-et-nunc“. Diese Art der Repräsentation ist gleichsam janusköpfig. Vgl. dazu Abschnitt 5.1.2. 45 Ich möchte mich zum Schluss dieses Abschnitts mit einer unberechtigten Einschränkung gegenüber der Biosemantik auseinandersetzen. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde gesagt, dass Teleosemantiken repräsentationalistische Theorien der Intentionalität von mentalen – aber auch von anderen – Repräsentationen seien. Der kursivierte Zusatz ist wichtig. Manchmal wird die Teleosemantik als „teleologische Theorie des mentalen Gehalts“ bezeichnet, etwa in Neanders Charakterisierung: „There are a number of different teleological theories of mental content […] it’s central to all of them that a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of content.“103 Aus dieser Charakterisierung folgt jedoch nicht, dass alle Versionen der Teleosemantik teleologische Theorien nur des mentalen IR-Inhalts sind. Auch die Worte und Sätze einer natürlichen Sprache oder die Farben und Zeichen einer Landkarte sind Repräsentationen, deren Bezug auf Objekte und Sachverhalte die Teleosemantik zu erklären versucht; doch dieser Bezug ist nicht prima facie ein mentaler Bezug, der IR-Inhalt sprachlicher und kartografischer Repräsentationen ist nicht prima facie mentaler Inhalt. Die Biosemantik erhebt durchaus den Anspruch gerade auch externe Signale und Symbole (oder äußere intentionale Zeichen) einzubeziehen. Es ist wichtig, sich von Anfang an klar zu machen, auf welche Weise Millikan sprachliche Repräsentationen naturalistische) philosophische einbezieht. Theorien Zahlreiche der (naturalistische Intentionalität und betrachten nichtmentale Repräsentationen als basal, sprachliche Repräsentationen als derivativ. Solche Theorien erklären zuerst, worin der Inhalt von mentalen Repräsentationen besteht (paradigmatisch: von Überzeugungen) und betrachten die Bedeutung von Äußerungen oder Sätzen einer natürlichen, öffentlichen Sprache (paradigmatisch: von Aussagesätzen) als „Ausdruck“ von mentalen Zuständen oder Äußerungsabsichten als dasjenige, was Äußerungen (in bestimmten Kontexten) Bedeutung „verleiht“ usw. Diese mentalistische Auffassung des Verhältnisses von Gedanken und Sprache steht lingualistischen Positionen gegenüber, die behaupten, dass bestimmte oder alle Formen mentaler Repräsentationen sprachfähiger Wesen von einer öffentlichen Sprache entwicklungsgeschichtlich oder sogar konstitutiv abhängig sind. Lingualistische Positionen gehen von logischen Verbindungen zwischen Denken und Sprechen aus. Man kann diverse Ausprägungen dieser Position unterscheiden.104 Entweder wird das Sprechen einer Sprache als Konstitutionsbedingung für Gedanken angenommen, sprachlose Wesen können dann keine Gedanken haben.105 Oder das Sprechen einer Sprache wird als Erkenntnisbedingung für Gedanken aufgefasst, Neander 2006: 550. Vgl. Wild 2006: 4ff. 105 Dies ist der Ansatz, der von Brandom 1994 und 2000b verfolgt wird. 103 104 46 sodass Wesen, die nicht sprechen, in einem epistemologischen Sinne keine Gedanken haben können: Es fehlt einfach die ausschlaggebende Zuschreibungsbedingung für das Haben von Gedanken, deshalb bleibt es schlicht unbestimmt, ob sprachlose Wesen Gedanken haben. Wir haben kein anderes Mittel, auf Gedanken zu schließen, als dass ein Wesen spricht. Das Sprechen ist keine Bedingung für das Haben von Gedanken schlechthin, sondern für die Zuschreibung.106 Schließlich gibt es die Option, dass Sprechen und Denken ko-emergent sind, entweder indem sie beispielsweise entwicklungsgeschichtlich betrachtet gemeinsam entstanden sind, oder indem sie begrifflich voneinander abhängen. Wie verhält sich Millikans Biosemantik zu den eben skizzierten Optionen? In gewisser Weise steht ihr Ansatz quer zu der groben Unterscheidung zwischen mentalistischen und lingualistischen Positionen. In ihrem Ansatz sind mentale Repräsentationen insofern basal, als er es nicht nur erlaubt, sprachlosen Lebewesen mentale Repräsentationen sui generis zuzuschreiben, sondern auch sprachfähigen Wesen sprachunabhängige mentale Repräsentationen zuzuschreiben. Und tatsächlich hat der Mentalismus im Gegensatz zum Lingualismus den überragenden Vorteil, dass er es erlaubt, auch sprachlosen Lebewesen mentale Repräsentationen sui generis zuzuschreiben. Doch die Worte und Äußerungen einer öffentlichen Sprache werden hier nicht lediglich als „Ausdruck“ mentaler Repräsentationen betrachtet, ihnen wird Bedeutung nicht primär durch Sprecherabsichten „verliehen“. Und im Gegensatz zu lingualistischen Positionen sieht Millikan die Sprache weder als begrifflich konstitutiv noch als epistemologisch kriterial für Gedanken. Der wesentliche Punkt besteht darin, dass Systeme mentaler Repräsentationen und Systeme sprachlicher Repräsentationen prinzipiell als voneinander unabhängig betrachtet werden können: „I take language and thought to stand largely parallel to one another. For example, the intentionality of each is defined independently of that of the other: thought is possible without language, and language is possible that does not convey thought. On the other hand, public language is not merely a stimulus to the development of thought. It is constitutive of developed human thought.“107 Im Prinzip kann die Intentionalität äußerer Zeichen (wie Wörter und Sätze) ganz unabhängig von der Intentionalität innerer Zeichen (wie Überzeugungen und Wünsche) verstanden und untersucht werden. Folglich steht nicht die Frage der Abhängigkeit zwischen Denken und Sprache im Vordergrund, sondern die Interaktion zwischen den 106 107 Dies ist der Ansatz, der von Descartes verfolgt wird, vgl. dazu Wild 2006: 182ff. LBM: 92. 47 mentalen und den sprachlichen Repräsentationen, die sprachfähige Lebewesen ausbilden und verwenden. Die Biosemantik erschöpft sich also nicht in einer repräsentationalistischen Theorie des Geistes. Diese Beobachtung ist wichtig. Verbindet man nämlich Repräsentationalismus und Teleosemantik und richtet seinen Blick allein auf mentale Repräsentationen, so ergeben sich zwei Thesen: (i) Alle mentalen Zustände sind repräsentationale Zustände. (ii) Repräsentationale Zustände sind Zustände mit teleologischen Funktionen. Aus (i) ergibt sich ein Schlussschema, das es erlaubt, von Aussagen der Art „S hat die Überzeugung, dass p“ auf Aussagen der folgenden Art zu schließen: „S hat ein R-Vehikel r“. Dagegen wird gerne der folgende Einwand erhoben: Der Repräsentationalismus führt zu einer abstrusen Vervielfältigung von mentalen Vehikeln.108 So entspricht beispielsweise jeder einzelnen Überzeugung, die wir einer Person zuschreiben, ein einzelnes R-Vehikel. Nun haben Personen eine Unmenge von impliziten Überzeugungen: Sie glauben, dass Julius Cäsar nie auf dem Mond gewesen ist, dass Elefanten nicht auf Bäumen wachsen, dass sie kleiner sind als Saturn oder dass sie in ihrem Leben noch viele Male niesen werden. Vermutlich hat kaum jemand irgendeine dieser Überzeugungen jemals ausdrücklich in Betracht gezogen. Doch auf Anfrage würden die allermeisten Personen sagen, dass sie diese Dinge glauben. Wir alle haben unzählige solcher dispositionalen Überzeugungen. Ist es nicht absurd anzunehmen, dass jeder solchen Überzeugungen ein R-Vehikel in uns entsprechen muss? Ob dies absurd ist oder nicht, die Biosemantik ist nicht auf diese Konsequenz festgelegt. Personen mit Überzeugungen bilden nicht nur Überzeugungen aus, sondern sie treffen auch Aussagen. Die Disposition auf die Frage, ob man glaube, dass Elefanten auf Bäumen wachsen, mit der Äußerung „Nein“ zu reagieren, bedeutet nicht, dass die Person die entsprechende mentale Repräsentation bereits gehabt haben muss, sondern sie bedeutet lediglich, dass die Person auch mit sprachlichen Vehikeln umgehen kann. Doch der Inhalt der sprachlichen Vehikel ist nicht abhängig von mentalen Repräsentationen. Es ist möglich, durch eine Äußerung einen Inhalt affirmativ mitzuteilen, ohne dass man eine Überzeugung gleichen Inhalts mitteilt. Und dies ist möglich, weil die Intentionalität des Sprechens und des Denkens unabhängig voneinander bestimmt werden können. Das ist eine der Thesen der Biosemantik. Ich habe sie an dieser Stelle lediglich angeführt, um zwei Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, nämlich einerseits das Missverständnis, die Biosemantik sei allein eine Theorie mentaler Repräsentationen, und andererseits das Missverständnis, die Biosemantik sei als repräsentationalistische Theorie auf die Konsequenz eines absurden Überschusses an Vehikeln festgelegt. 108 Vgl. Kemmerling 2000. 48 1.1.4. Grundbegriffe der Biosemantik In diesem Abschnitt will ich die Grundbegriffe der Biosemantik einführen und erläutern. Millikans Biosemantik kann man durch drei komplexe Begriffe erläutern, nämlich die Begriffe der Echten Funktion, der Normalen Erklärung und der Abbildungsregel. Im Zuge des Aufbaus dieses Begriffsapparats wird sich zeigen, wie groß die Reichweite dieser Theorie ist. Im Verlauf der Darstellung werde ich mich stets auf Beispiele stützen. Diese Fokussierung auf Beispiele hat nicht allein illustrativen Charakter, sondern methodische Gründe, wie ich in Abschnitt 1.1.6. zeigen werde. Der Ausgangspunkt der Wiedergewinnung der natürlichen Teleologie ist, wie wir noch sehen werden, Darwins Theorie der Evolution (2.1.). Der Ausgangspunkt der zeitgenössischen teleologischen Auffassung des Funktionsbegriffs ist jedoch die Analyse des Begriffs durch Larry Wright. Es ist nicht nur nützlich, sondern auch angemessen, den biosemantischen Begriff der Echten Funktion mit Bezug auf diesen Ausgangspunkt einzuführen. Wright zufolge ist die Funktion einer kulturellen oder biologischen Entität eine bestimmte Wirkung davon, dass diese Entität vorhanden ist, und es ist dieselbe Wirkung, die erklärt, warum die Entität vorhanden ist. So beschwert etwa ein Briefbeschwerer Papiere und verhindert, dass die Papiere vom Winde verweht werden. Doch zugleich erklärt diese Wirkung, warum der Briefbeschwerer auf den Papieren liegt. Jemand hat ihn auf sie gelegt, um zu verhindern, dass die Papiere weg geweht werden. Dazu ist dieser Briefbeschwerer da (an diesem besonderen Ort vorhanden). Briefbeschwerer im Allgemeinen sind da (überhaupt vorhanden), um etwas Bestimmtes zu bewirken, und weil sie dies bewirken, sind sie da. Also meint Wright: „The function of X is Z iff: (i) Z is a consequence (result) of X’s being there, (ii) X is there because it does (results in) Z.“109 Wrights Analyse ist historisch, weil der zweite Teil das Vorhandensein von X durch die vergangenen Wirkungen von X erklärt. Allerdings deckt diese Analyse zu viele Fälle ab. Versucht ein Monteur ein Loch in einem Gasschlauch zu reparieren, wird dabei durch das austretende Gas außer Gefecht gesetzt und an der Reparatur gehindert, dann ist die Wirkung des Lochs die Erklärung dafür, dass das Loch nach wie vor da ist. Nach Wrights Analyse wäre es folglich die Funktion des Gaslecks, Monteure außer Gefecht zu setzen. Das ist natürlich kein erwünschtes Resultat einer Analyse unseres Gebrauchs des Begriffs 109 Wright 1976: 81. 49 der Funktion, den niemand würde dem Gasleck diese Funktion vernünftigerweise zuschreiben wollen. Deshalb ist dieses Beispiel ein Gegenbeispiel und analoge Beispiele lassen sich haufenweise bilden. Wie können die Gegenbeispiele ausgeschaltet werden? Millikan zufolge durch den Bezug auf eine durch Reproduktion gebildete Kategorie: B ist eine Reproduktion von A, wenn B bestimmte Eigenschaften E1, E2, E3 usw. mit A gemeinsam hat, und zwar so, dass der Besitz dieser Eigenschaften durch B dadurch erklärt wird, dass A diese Eigenschaften hat, und dadurch, dass B diese Eigenschaften auf bestimmte Weise erhalten hat. Die Eigenschaften E1, E2, E3 usw. von B sind reproduktiv etablierte Eigenschaften. A ist das reproduktive Modell für B. Mitglieder einer reproduktiven Kategorie sind Token eines Typs. Die Einheit des Typs wird dadurch gewährleistet, dass die Token Kopien oder Reproduktionen sind. Entweder handelt es sich um direkte Kopien voneinander, Kopien eines gemeinsamen Musters oder Kopien der Tätigkeiten eines Mitglieds einer reproduktiven Kategorie. Durch das Kopieren werden Eigenschaften reproduziert, die bestimmte Wirkungen haben. Als reproduktiv etablierte Eigenschaften kommen sie nicht in erster Linie einem einzelnen Token zu, sondern dem Typ. Denn Token haben reproduktiv etablierte Eigenschaften nur als Kopien oder Reproduktionen, und das ist es, was die Einheit des Typs gewährleistet. Die Token eines durch Reproduktion etablierten Typs haben reproduktiv etablierte Eigenschaften also aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu diesem Typ. Deshalb kommen nicht ihnen, sondern dem Typ in erster Linie diese Eigenschaften zu. Millikan bezeichnet solche reproduktiven Kategorien oder Typen als Reproduktiv Etablierte Familien (REF): Entitäten, die reproduktive etablierte Eigenschaften teilen, und ein gemeinsames reproduktives Modell haben, bilden eine Reproduktiv Etablierte Familie erster Ordnung (REF1). Jedes Mitglied einer REF1, das zeitlich vor dem Mitglied M existiert hat, ist ein Vorfahr von M. Die Mitglieder einer REF1 sind in einem bestimmten Sinne direkte Reproduktionen voneinander. Sie stammen alle von einem Modell ab oder gehören als Token zu einem Typ. Reproduktionen sind also so etwas wie Kopien (oder Kopien von Kopien usw.). Kopien stammen von einem Modell (dem Original) ab und haben die Eigenschaften des Modells, weil sie nach einem bestimmten Verfahren vom Modell abgeleitet worden sind. So können Originale von Hand oder durch eine Maschine kopiert werden. Auf diese Weise bilden die Kopien eines Dokuments eine REF1. Das Original selbst gehört nicht zur Familie, da es weder über reproduktiv etablierte Eigenschaften verfügt noch auf einem gemeinsamen reproduktiven Modell beruht. Ebenso wenig gehört ein auf wundersame Weise entstandenes Duplikat des Originals, das keinerlei Beziehung zum Original oder zu seinen 50 Kopien hat, zur Familie. Das Original, eine Kopie und ein Duplikat mögen äußerlich ununterscheidbar sein und dennoch gehören lediglich die Kopie und das Original zur Familie. Die Zugehörigkeit zu einer REF ist also nicht nur eine Sache der Eigenschaften, sondern der historischen Abstammung. Keine Entität ohne Vorfahr kann nach der gegebenen Definition Mitglied einer REF sein.110 Die Bestimmung von REF1 ist allgemein gehalten. Sie umfasst nicht nur genetische Replikatoren oder mechanische Kopien, sondern weit mehr. So bilden beispielsweise die Token des deutschen Wortes „Hallo“, die Küchenmesser eines Fabrikanten, ein militärischer Gruß, Aufnahmen eines Musikstücks, Abschriften eines Gedichts, imitierte Verhaltensweisen in einer Affenpopulation oder spezifische Gene eine REF1, sofern sie Reproduktionen voneinander sind. Ob die Reproduktion des geschriebenen Wortes „Hallo“ dabei durch einen Kopierer, eine Tastatur, eine Druckerpresse oder eine schreibende Hand vollzogen wird, spielt keine Rolle. Ein zufällig von einer Welle hervorgebrachtes Muster der Form „Hallo“ hingegen ist kein Mitglied dieser Familie. Ob die Reproduktion des Lautes „Hallo“ durch einen Kindermund, durch einen Papageienschnabel oder durch eine Sprechmaschine vollzogen wird, macht, solange es sich um Kopien des deutschen Wortes handelt, ebenfalls keinen Unterschied. Doch ein zufällig durch den Wind hervorgebrachtes Geräusch, das nach „Hallo“ klingt, ist kein Mitglied dieser Familie. Nicht alle alle REFs haben Echte Funktionen (biologische Arten sind ein Beispiel), doch jene REFs, die Echte Funktionen haben, haben stets Direkte Echte Funktionen. Wir können jetzt bestimmen, was eine Direkte Echte Funktion einer Entität M ist: Die Direkte Echte Funktion von M ist F, wenn gilt: (i) M ist Mitglied einer REF1. (ii) Vorfahren von M haben F ausgeübt. (iii) M existiert, weil seine Vorfahren F ausgeübt haben. Das Modell oder Original hat unabhängig von der Reproduktion keine Eigenschaften mit Echten Funktionen. Die Eigenschaften des Modells spielen natürlich kausale Rollen, aber sie haben keine selektierten Wirkungen (vgl. dazu 3.2.3). Originale und Modelle sind wie Gründer einer Familie oder Dynastie. Sie gehören als Vorfahren dazu, haben aber nicht die entscheidende Eigenschaft der Nachfahren, nämlich Nachfahren des Familiengründers zu sein. Die Gründung neuer biologischer Arten erfolgt durch Speziation. Zunächst existiert eine (sexuelle) Art A. Eine genetische Variante A* von A reproduziert Exemplare von A*. Aus A entstehen zwei reproduktiv isolierte Populationen. Nimmt A* weitere morphologische, behaviorale oder ökologische Merkmale an, die A* von A unterscheiden, sind zwei neue Arten entstanden, nämlich B (aus A*) und A (ohne A*). Im Extremfall kann es sich bei der Grundlegung von B um ein einziges befruchtetes Weibchen handeln. Dieses Exemplar hat Merkmale, die der genetischen Variante A* entsprechen, doch diese Merkmale haben noch nicht die Echte Funktion, die sie als Merkmale der Art B haben werden. 110 51 Hierbei handelt es sich im Grunde genommen um eine Verfeinerung der Analyse von Wright, mit deren Hilfe das Gegenbeispiel ausgeschaltet werden kann. Die einzelnen Zeitphasen der Existenz des Gaslecks sind keine Mitglieder einer REF, und eine Zeitphase des Gaslecks ist kein Vorfahr einer späteren Zeitphase. Deshalb brauchen wir dem Gasleck, das den Monteur außer Gefecht setzt, keine Echte Funktion zuzuschreiben. Nicht alle Reproduktionen sind direkte Kopien voneinander. Wir haben gesagt, dass es sich bei reproduktiven Kategorien entweder um direkte Kopien voneinander handle, um Kopien eines gemeinsamen Musters oder um Kopien der Tätigkeiten eines Mitglieds einer reproduktiven Kategorie. Bislang haben wir lediglich die erste Möglichkeit berücksichtigt. Es gibt jedoch sozusagen vermittelte Reproduktionen. Darunter fallen beispielsweise alle biologischen Merkmale von Organismen und viele Organismen selbst. In einem untechnischen Sinne ist ein bestimmter Frosch zwar ebenso die Reproduktion seiner Vorfahren, wie die Tatsache, dass er zwei Augen hat, Ergebnis der Reproduktion von Fröschen ist. Doch die Vorfahren kopieren nicht sich selbst, ebenso wenig ihre Augen, sondern sie kopieren durch den Fortpflanzungsprozess ihre Gene, die in einem Prozess der normalen biologischen Entwicklung dazu führen, dass ein Frosch mit Augen entsteht. Organismen und ihre Teile sind keine direkten Reproduktionen voneinander, sondern (vereinfacht gesagt) Produkte eines genetischen Programms, das eine Reproduktion des genetischen Programms der Eltern eines Organismus ist. Lebewesen wie Frösche und Menschen oder biologische Merkmale wie Augen und Gehirne sind Beispiele für Mitglieder einer Reproduktiv Etablierten Familie zweiter Ordnung 1 (REF21): REF21 Entitäten, die durch Mitglieder einer REF1 hervorgebracht werden, die die Direkte Echte Funktion haben, solche Entitäten hervorzubringen, bilden, sofern sie in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung für die Hervorbringung hervorgebracht worden sind, eine REF21. Jedes Mitglied einer REF21, das von einem Vorfahren eines Mitglieds einer REF1 hervorgebracht worden ist, die das Mitglied M hervorgebracht hat, ist ein Vorfahr von M. Wie gesagt haben nicht alle REFs eine Echte Funktion. So sind Organismen Mitglieder einer REF21. Organismen haben dennoch keine Echten Funktionen. Organismen als Ganze sind nicht selektiert worden, um bestimmte Wirkungen zu zeitigen. Betrachtet man Organismen jedoch als Teile oder Mitglieder einer REF21, dann kommt ihnen natürlich auch eine Direkte Echte Funktion zu. So sind Organismen Teile oder Mitglieder einer biologischen Art. Im Sinne der oben gegebenen Bestimmung der Echten Funktion besteht die Funktion der Organismen dann etwa darin, zum Fortbestand der Art beizutragen. Im Allgemeinen haben nicht die Mitglieder einer REF21 Direkte Echte Funktionen, sondern deren reproduktiv etablierte Eigenschaften. Und wenn den Mitgliedern einer 52 REF21 selbst Funktionen zukommen, dann nur insofern sie Eigenschaften (Teile oder Äußerungen) von etwas sind. Dies ist der Fall bei den Augen (oder bei Organismen als Teilen einer biologischen Art). Es sind also eher die Eigenschaften oder biologischen Merkmale von Organismen, die Echte Funktionen haben. Diese Eigenschaften können in vier Gruppen eingeteilt werden: Organismen haben (a) Organe, (b) Formen, (c) Verhaltensweisen und (d) Produkte mit Funktionen und diesen Organen, Formen, Verhalten und Produkten entsprechende Fähigkeiten. Diese vier Gruppen werden am besten durch Beispiele erläutert. a) Honigbienen haben zahlreiche innere und äußere Organe, die Funktionen erfüllen: Der Honigmagen filtert Nektar, der Herzschlauch pumpt Hämolymphe, mit dem Auge sieht, mit den Beinen krabbelt, mit den Flügeln fliegt, mit dem Stachel sticht und mit den Fühlern tastet die Biene. b) Die Körper der Honigbienen haben auch Formen, die Funktionen erfüllen, die man selbst im eben verwendeten sehr weiten Sinn des Ausdrucks nicht als „Organe“ bezeichnen möchte. So scheint die Färbung der Biene eine Art Warnsignal zu sein. Ihre aerodynamische Körperform scheint das Fliegen zu unterstützten. c) Honigbienen zeigen sehr spezifische Verhaltensweisen. Sie führen verschiedene Tänze aus, die offenbar die Funktion haben, ihren Artgenossen Ort und Richtung von Futterquellen anzuzeigen. Asiatische Honigbienen töten kundschaftende Wespen, indem sie sie durch heftige Flügelbewegungen überhitzen, und entfernen anschließend die von diesen Wespen am Stock angebrachten Markierungen. d) Bienen stellen auch Produkte her. So konstruieren Wildbienen Nester in Baumstämmen, formen Honigbienen Waben für die Aufzucht der Jungen und legen einen Futtervorrat an.111 Organe und Formen werde ich von jetzt an „Teile“ von Organismen nennen, Verhaltensweisen und Produkte hingegen „Äußerungen“ von Organismen. Es sind diese Eigenschaften von Organismen, die als Mitglieder von REF21 Direkte Echte Funktionen 111 Die architektonischen Produkte von Tieren erfüllen im Allgemeinen drei Funktionen: Sie dienen der Fortpflanzung, etwa der Aufzucht der Jungen oder der Anlockung von Paarungspartnern, sie bieten wie Fuchshöhlen oder Biberdämme Schutz vor Umweltbedingungen oder sie helfen wie etwa Spinnennetze beim Beutefang (vgl. Hansell 2005). Auch Funktionen von Organen, Formen und Verhalten dienen im Allgemeinen der Fortpflanzung, der Ernährung, dem Schutz und dem sozialen Zusammenhalt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass spezifischen Eigenschaften nicht bestimmtere Funktionen zugeschrieben werden können. Zwar dienen die meisten Messer zum schneiden, die unterschiedlichen Messer erfüllen aber durchaus sehr viel spezifischere Funktionen. 53 haben. Entsprechend kann die Bestimmung der Direkten Echten Funktion für REF21 modifiziert und auf reproduktiv etablierte Eigenschaften konzentriert werden. Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt: (i) M ist Mitglied einer REF21. (ii) Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt. (iii) M existiert und M hat E, weil seine Vorfahren F mittels E ausgeübt haben. Die Funktion F ist eine Wirkung der Eigenschaft E. Wir haben Echte Funktionen grundsätzlich als selektierte Wirkungen bezeichnet. In welchem Sinne handelt es sich um eine selektierte Eigenschaft? Wir können diese Frage durch eine Variation der eben gegebenen Definition der Direkten Echten Funktion einer Eigenschaft beantworten: Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt: (i) M ist Mitglied einer REF21. (ii) Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt. (iii) Unter den Vorfahren von M existierte eine positive statistische Korrelation zw. E(x) und F(x), so dass gilt: p(F/E) > p(F). (iv) Die Umstände (ii) und (iii) sind Bestandteil der Erklärung dafür, dass M existiert und dass M E hat. So viel zu REF1 und REF21. Es gibt jedoch eine weitere Form von REF2, denn auch Modifikationen in den Teilen oder die Repetition in den Äußerungen eines einzelnen Organismus können als Mitglieder einer REF betrachtet werden. Die verschiedenen Modifikationen des Auges des Frosches Kermit beim Vorbeischwirren einer Fliege sind ebenso Mitglieder einer REF wie die Wiederholungen des Schwänzeltanzes der Biene Maja oder die wiederholte konditionierte Reaktion auf einen natürlichen Reiz. Hier haben wir es mit Reproduktiv Etablierten Familien zweiter Ordnung 2 (REF22) zu tun: REF22 Entitäten, die durch ein Einzelmitglied einer REF1 oder durch ein Einzelmitglied einer REF21 hervorgebracht werden, das je die Echte Funktion hat, Entitäten hervorzubringen, die sich in bestimmter Hinsicht ähnlich sind, bilden, sofern sie in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung für die Hervorbringung hervorgebracht worden sind, eine REF22. Jedes Mitglied einer REF22, das von einem Einzelmitglied einer REF1 oder durch ein Einzelmitglied einer REF21 hervorgebracht worden ist, die auch das Mitglied M hervorbringen, ist ein Vorfahr von M. Die Bestimmung der Direkten Echten Funktion für REF22 bleibt dieselbe wie im vorherigen Falle. Wir können einfach die Formulierung „M ist Mitglied einer REF21“ 54 ersetzen durch „M ist Mitglied einer REF2“ und es so offenlassen, ob es sich um eine REF21 oder um eine REF22 handelt. Also:112 Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt: (v) M ist Mitglied einer REF2. (vi) Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt. (vii) Unter den Vorfahren von M existierte eine positive statistische Korrelation zw. E(x) und F(x), so dass gilt: p(F/E) > p(F). (viii) Die Umstände (vi) und (vii) sind Bestandteil der Erklärung dafür, dass M existiert und dass M E hat. Nun kommen jedoch nicht nur Mitgliedern einer REF Echte Funktionen zu, sondern abgeleitet davon auch anderen Entitäten. Diese Abgeleiteten Funktionen sind für die Biosemantik von beträchtlicher Bedeutung und ich werde deshalb einige Sorgfalt darauf verwenden, sie einzuführen. Ich werde sie anhand zweier Beispiele einführen, nämlich des Farbwechsels von Chamäleons und des Bienentanzes. Wir können zunächst zwischen nichtrelationalen und relationalen Direkten Echten Funktionen unterscheiden.113 So hat das Herz (von Wirbeltieren) die Direkte Echte Funktion, Blut zu pumpen und nicht Geräusche zu machen, in der Brust zu hängen oder Messungen im Labor zu ermöglichen, denn Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen. Es ist die Echte Funktion des Herzens Blut zu pumpen, weil Herzen eine REF21 bilden und weil Mitglieder dieser Familie den Trägern von Herzen einen Vorteil verschafft haben, der zur Reproduktion von Herzträgern und folglich von Herzen beigetragen hat. Nun involviert die erfolgreiche Ausübung der Echten Funktion von Herzen keinerlei Relation des Herzens zur unmittelbaren Umgebung oder zur weiteren Umwelt des Herzträgers. Zwar hängt die Ausübung der Funktion vom Vorliegen bestimmter Bedingungen ab, sie involviert jedoch keine Relation zu diesen Bedingungen als Teil der Funktionsausübung.114 Die Tarnung eines Chamäleons hingegen involviert eine Relation zur unmittelbaren Umgebung des Tieres, nämlich zur farblichen Beschaffenheit seines Hinter- oder Untergrunds. Ohne diese Relation wäre es unverständlich, warum die Hautverfärbung überhaupt als Tarnung angesprochen werden kann. Der Mechanismus, der dafür sorgt, Vgl. die Definition bei Detel 2007: 127. LTOBC: 39. 114 Hier, im Folgenden und in zahllosen anderen Texten ist das Herz stets das Beispiel der Wahl, weil Hempel 1959 es in der Analyse funktionaler Erklärungen benutzt hat. 112 113 55 dass sich die Haut des Chamäleons der Umgebung anpasst, ist natürlich ein Mitglied einer REF21 und hat als solches eine Direkte Echte Funktion. (Bei diesem Mechanismus handelt es sich um Chromatophoren, d.h. pigmenthaltige Farbstoffzellen in der Cutis, der Zwischen- oder Lederhaut des Chamäleons.) Doch die Ausübung der Funktion involviert eine Relation zur Umgebung oder Umwelt. In Anlehnung an die in 1.1.3. eingeführte Terminologie können wir sagen: Ein P-Mechanismus mit einer Relationalen Direkten Echten Funktion hat die Aufgabe, ein Vehikel hervorzubringen, das auf eine bestimmte Weise mit einer Bedingung X korrespondiert. Der Mechanismus, der für den Farbwechsel von Chamäleons verantwortlich ist, hat also eine Relationale Direkte Echte Funktion, die auf der evolutionären Geschichte der Chamäleons beruht. Nehmen wir vereinfachend an, diese Funktion bestehe nur in der Tarnung zum Schutz vor Raubfeinden. Das Farbmuster eines Chamäleons vor einem bestimmten Hintergrund (beispielsweise auf einem grün-braunen Zweig oder vor einem Bücherregal mit ausschließlich anthroposophischer Literatur) ist kein direktes Produkt der Evolution. Wir wollen annehmen, kein Chamäleon habe sich bislang jemals vor einem Bücherregal mit ausschließlich anthroposophischer Literatur befunden. Das Farbmuster ist völlig neuartig und bei keinem Chamäleon jemals zuvor aufgetreten. Doch Direkte Echte Funktionen können nicht völlig neuartig sein, denn sie kommen nur Mitgliedern einer REF zu und sind im Falle von Lebewesen das Resultat der Evolution. Das besondere Farbmuster des Chamäleons ist ein Zustand, der von dem zugrunde liegenden P-Mechanismus hervorgebracht wird und sich einer bestimmten und völlig neuartigen Umweltbedingung anpasst. Die Tarn-Funktion eines spezifischen Farbmusters leitet sich so von der Direkten Echten Funktion des P-Mechanismus ab. Und solche Abgeleiteten Echten Funktionen können neuartig sein. Abgeleitete Echte Funktion: Das Vehikel V ist das Produkt eines P-Mechanismus, der die Direkte Echte Funktion F hat, und unter bestimmten Bedingungen V hervorbringt, das F ausführt. Die Echte Funktion von V ist abgeleitet von der Direkten Echten Funktion F des PMechanismus, der V hervorbringt. V hat also eine Abgeleitete Echte Funktion. Sowohl Nichtrelationale als auch Relationale Direkte Echte Funktionen können Vehikel mit Abgeleiteten Echten Funktionen hervorbringen. Wir müssen deshalb spezifischer fassen, was den Abgeleiteten Funktionen der Relationalen Direkten Echten Funktionen eigentümlich ist. 56 Das Farbmuster vor dem Bücherregal passt das Chamäleon an diesen bestimmten Hintergrund an. Es handelt sich deshalb um eine Adaptierte Echte Funktion (adapted proper function).115 Ein Vehikel mit einer Abgeleiteten Relationalen Echten Funktion sollte auf eine bestimmte Weise mit einer Umweltbedingung X korrespondieren. Ein solches Vehikel ist angepasst an X und hat eine Adaptierte Echte Funktion. (Aber nicht alle Adaptierten Funktionen sind Abgeleitete Funktionen.) Vehikel mit einer Adaptierten Echten Funktion sind Adaptierte Vehikel. Die besondere Bedingung (hier das Bücherregal), an die das Adaptierte Vehikel (hier das Farbmuster) angepasst ist, kann man als „Adaptor“ bezeichnen.116 Der Adaptor ist jene Umweltbedingung X, an die ein Adaptiertes Vehikel angepasst sein sollte, und zwar indem es auf eine bestimmte Weise mit X korrespondiert. Im Unterschied zum Wechsel des Sommerfells eines Hermelins, das zum Winter stets weiß wird, passt sich die Farbe des Chamäleons den spezifischen Bedingungen der Umgebung an. Diese Eigenschaft des Hermelins hat eine Invariante Abgeleitete Relationale Echte Funktion, d.h. die Funktion des Adaptierten Vehikels (der Farbe des Winterfells) leitet sich allein aus der Funktion des P-Mechanismus ab (der den Farbwechsel reguliert). Die Farbmuster des Chamäleons hingegen haben eine Adaptierte Abgeleitete Relationale Echte Funktion und die Funktion eines Adaptierten Vehikels leitet sich nicht nur von der Funktion des P-Mechanismus ab, sondern auch vom Adaptor des Vehikels. Es ist also die Echte Funktion des Farbmusters (des adaptierten Vehikels), das Chamäleon vor dem lila und bordeauxfarbenen Bücherregal (dem Adaptor) gegenüber Fressfeinden unsichtbar zu machen. Es kann dem Chamäleon natürlich misslingen, sich farblich zu tarnen. Vielleicht sind die Chromatophoren defekt, vielleicht ist der Hintergrund zu farbig, vielleicht verhindert Eiseskälte den Farbwechsel, vielleicht wechselt die Echse die Farbe vor einem weißen Hintergrund. Das Adaptierte Vehikel ist nicht an den Adaptor angepasst, wie es an ihn angepasst sein sollte. Es ist fehladaptiert. Ein Vehikel ist fehladaptiert, wenn es nicht jene Relation zu einem Adaptor unterhält, die es unterhalten sollte, oder auch wenn kein Adaptor vorhanden ist. Wir hatten über die Mitglieder von REF2 gesagt, dass sie eine REF bilden, sofern sie von Mitgliedern einer REF1 bzw. von Mitgliedern einer REF21 in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung für die Hervorbringung hervorgebracht worden sind. Was ist mit einer „Normalen Erklärung“ gemeint? Natürlich kann die Art und Weise, wie Echte 115 116 LTOBC: 40. LTOBC: 40. 57 Funktionen ausgeübt werden, erklärt werden. So kann man sich fragen, wie es der entsprechende Mechanismus beim Chamäleon zustande bringt, die Haut bestimmten Hintergrundfarben anzupassen. Eine solche Erklärung erläutert die kausale Funktionsweise der Chromatophoren. Eine Normale Erklärung erklärt, wie eine bestimmte Reproduktiv Etablierte Familie ihre Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt hat.117 Normale Erklärungen beziehen sich auf einen Typ mit Echten Funktionen. Sie beginnen mit strukturellen Merkmalen von Mitgliedern des Typs und nennen die Normalen Eigenschaften mittels derer die Mitglieder des Typs historisch ihre Funktion tatsächlich erfolgreich ausgeübt haben, und sie nennen die Normalen Bedingungen, unter denen sie dies getan haben. Normale Eigenschaften sind also ein Bestandteil einer Normalen Erklärung. Defekte Chromatophoren beispielsweise können die Haut des Chamäleons nicht verfärben. Auch Normale Bedingungen sind ein Bestandteil einer Normalen Erklärung. Es handelt sich um jene Bedingungen, unter denen eine bestimmte REF ihre Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt hat. Chamäleons sind vor einem überbunten oder einem weißen Hintergrund oder in Eiseskälte nicht fähig sich zu tarnen. Diese Bedingungen gehören nicht zu den Normalen Bedingungen unter denen die Vorfahren des Chamäleons sich getarnt haben. „For example, a Normal explanation of how a chameleon’s color arrangers [die Chromatophoren] produce brown and green splotches is a general explanation of how these mechanisms produce skin patterns that match what the chameleon sits on, hence derivatively an explanation of the occurrence of these splotches.“118 Eine allgemeine Normale Erklärung beruht implizit auf einer detaillierten Erklärung, kann jedoch auch vorgenommen werden, wenn die detaillierte Erklärung unbekannt, ungenügend, unvollständig oder falsch ist. So braucht man im Falle des Chamäleons nicht über die proximalen Mechanismen Bescheid zu wissen, um die Veränderung der Hautfarbe eines Chamäleons dadurch zu erklären, dass es sich farblich dem Hintergrund anpasst (irgendwie, mittels okkulter Qualitäten, durch eine vegetative Seele, durch chemische Reaktionen usw.). Freilich ist nicht jedes Adaptierte Vehikel ein R-Vehikel. So würden wir kaum sagen, dass das Farbmuster des Chamäleons die Farbe des Hintergrunds repräsentiert. (Zwar könnte man die Farbmuster als Repräsentationen der Hintergrundfarbe verwenden, etwa indem man nur die Echse beobachtet und von ihren Veränderungen auf die Farbe des 117 118 LTOCB: 33ff., 43ff. LTOBC: 43f. 58 Hintergrundes schließt. Der Beobachter wäre dann gleichsam der Konsument der Farbmuster.) Warum haben die Farbmuster als solche nicht die Funktion, die Farbe des Hintergrunds zu repräsentieren? Es gibt keinen K-Mechanismus für die Farbmuster des Chamäleons, der mit dem P-Mechanismus, der die Farbmuster hervorbringt, kooperiert.119 Allerdings können die Farbmuster als R-Vehikel betrachtet werden, denn vermutlich dient der Farbwechsel des Chamäleons nicht allein zur Tarnung, sondern auch der sexuellen Selektion. Der Farbwechsel spielt eine Rolle im Wettbewerb um Weibchen und in der Auseinandersetzung unter Männchen.120 Beachten wir die Signalfunktion der Farbmuster, nämlich die Abschreckung von Konkurrenten und die Anlockung von Partnerinnen. Hier können die Farbmuster als Repräsentation aufgefasst werden, selbstverständlich nicht als Repräsentation der Beschaffenheit des Hintergrunds (dafür interessieren sich die Männchen und Weibchen nicht), sondern als Repräsentation der Aggressivität oder Attraktivität einer Echse. Chamäleonweibchen und –männchen sind in der Lage die Farbmuster zu interpretieren. Das Farbmuster muss mit den Eigenschaften Aggressivität oder Attraktivität auf eine bestimmte Art und Weise korrespondieren, damit die Weibchen und Männchen zu einem angemessenen Verhalten veranlasst werden können. Ein spezifisches Farbmuster als Adaptiertes Vehikel mit einer Adaptierten Abgeleiteten Relationalen Echten Funktion korrespondiert also nicht in erster Linie mit der Umgebung des Chamäleons, sondern mit einem internen Zustand, der durch die Farbmuster repräsentiert wird, und zwar auf eine Weise für weibliche Artgenossen, auf eine andere Weise für männliche Artgenossen. Die Artgenossen können die Farbmuster also interpretieren, und werden infolge dieser Interpretation zu bestimmten Verhaltensweisen bewegt. Der interpretierende Mechanismus ist ein K-Mechanismus. Auch ein solcher KMechanismus gehört zu einer REF. Das durch ihn ausgelöste Verhalten ist die Echte Funktion des K-Mechanismus. Die P-Mechanismen haben die Funktion, R-Vehikel hervorzubringen, die von K-Mechanismen interpretiert werden können. Produzenten und Konsumenten kooperieren, weil sie das Produkt der Evolution durch Natürliche Selektion sind. Wie auch immer Artgenossen die Farbmuster interpretieren, wie auch immer sie infolge dieser Interpretation zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden, kann 119 Wäre beispielsweise ein Raubvogel gleichsam Konsument oder Adressat der Farbveränderung, so würde dies nur bedeuten, dass das Farbmuster die Funktion der Tarnung nicht nur nicht erfüllt, sondern niemals erfüllt hat. So entstehen natürlich keine Echten Funktionen als Fitnessvorteile. 120 Die Anpassung an den Hintergrund scheint eher ein Seiteneffekt der sexuellen Selektion zu sein, denn diese Anpassung an den Hintergrund korrespondiert mit dem farblichen Diskriminierungsvermögen von Raubfeinden – vor allem von Raubvögeln – in der Umwelt des Chamäleons. Vereinfacht gesagt: Wer farblich vor seinen Artgenossen zu sehr auftrumpft, wird Opfer von Räubern, wer farblich zu wenig auftrumpft, kommt bei seinen Artgenossen nicht an. Vgl. Stuart-Fox et al. 2007. 59 Gegenstand einer Normalen Erklärung sein, die sowohl Normale Eigenschaften als auch Normale Bedingungen zitiert. Zu den Normalen Bedingungen der erfolgreichen Ausübung der Funktion des K-Mechanismus gehört insbesondere, dass der P-Mechanismus RVehikel hervorbringt, die mit bestimmten Bedingungen korrespondieren. Jetzt haben wir es mit einer Repräsentation zu tun. Trotz der Konsumentenorientierung der Biosemantik ist das Zusammenspiel der drei Elemente Produzent, Repräsentation und Konsument entscheidend: „As a corrective to the emphasis that others in the teleosemantic business have placed on the function of the representation producers, Millikan […] has recently been emphasizing the devices that use or ‘consume’ representations. The official statement of Millikan’s position, LTOBC, however, emphazises producer and consumer equally. It also distinguishes the functions of these two from a third and quite different thing, the representation itself. The roles that these three items play are distinct but equally important for an analysis of mental semantics.“121 Der springende Punkt liegt also nicht nur im Umstand, dass ein K-Mechanismus ein Vehikel benutzt, sondern darin, dass sich der K-Mechanismus das Vorliegen einer Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und einer Eigenschaft oder einem Sachverhalt zu Nutze macht. Damit der K-Mechanismus eines durch einen kooperierenden PMechanismus hervorgebrachten R-Vehikels seine Echte Funktion gemäß einer Normalen Erklärung ausüben kann, muss zwischen dem R-Vehikel und einem bestimmten R-Ziel eine Korrespondenz vorliegen. Das R-Vehikel übt seine (Adaptierte Abgeleitete Relationale) Echte Funktion gemäß einer Normalen Erklärung aus, wenn es den kooperierenden K-Mechanismus an jene Bedingungen anpasst, die dieser für die Ausübung seiner Echten Funktion braucht. Von einem P-Mechanismus hervorgebrachte R-Vehikel müssen also erstens auf bestimmte Art und Weise mit einem bestimmten R-Ziel korrespondieren, um ihre Echte Funktion gemäß einer Normalen Erklärung erfüllen zu können; und sie müssen zweitens von einem K-Mechanismus gemäß einer Normalen Erklärung benutzt werden können. Der IR-Inhalt eines R-Vehikels besteht in jener Korrespondenz mit einem R-Ziel, die vorliegen muss, damit der K-Mechanismus seine Echte Funktion in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung erfolgreich ausüben kann. Nehmen wir an, der P-Mechanismus des Chamäleons sei defekt, und er bringe nur fehladaptierte R-Vehikel hervor. Oder nehmen wir an, der P-Mechanismus werde durch einen Wissenschaftler so manipuliert, dass stets nur fehladaptierte Vehikel produziert werden. Das Vehikel signalisiert beide Male, dass das Chamäleon im Zustand Z1 ist, 121 WQP: 125f. 60 obschon es im Zustand Z2 ist. Nun liegt eine wesentliche Bedingung in der Normalen Erklärung der Funktion des kooperierenden K-Mechanismus nicht vor, nämlich die Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und dem Vorliegen von Z1, das der Konsument zur Ausübung seiner Funktion benötigt. Der Konsument kann seine Funktion nicht ausüben, obschon der Konsument selbst nicht defekt oder manipuliert ist. Er funktioniert, erfüllt aber seine Echte Funktion nicht, ebenso wie eine Kaffeemaschine mit Nüssen im Mahlwerk funktioniert, aber ihre Funktion nicht erfüllt. Nehmen wir an, der Wissenschaftler manipuliere zwei Chamäleons auf folgende Weise: Das erste Tier wird so manipuliert, dass es fehladaptierte Vehikel hervorbringt, die Z2 signalisieren, obwohl Z1 vorliegt. Das K-System des zweiten Tieres hingegen wird so manipuliert, als ob das erste Tier Z1 signalisieren würde, wenn es Z2 signalisiert. Nun sind die kooperierenden Mechanismen auf eine Weise manipuliert, dass für den K-Mechanismus jene Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und Z1 vorliegt, die er zur Ausübung seiner Funktion benötigt. Dieselbe Koinzidenz könnte sich auch durch einen Zufall einstellen. Repräsentiert das R-Vehikel Z1? Nein, denn die kooperierenden Mechanismen üben ihre Funktionen nicht in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung aus. Eine solche Erklärung nimmt Bezug auf die erfolgreiche Ausübung der Funktionen unter jenen historischen Bedingungen, die zur Selektion der kooperierenden Mechanismen geführt haben. Zu diesen historischen Bedingungen gehören weder die wiederholte Manipulation durch Wissenschaftler noch das wiederholte Eintreten zufälliger Koinzidenzen. Der Konsument muss seine Funktion also in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung ausüben können. Und dazu gehört als Normale Bedingungen eine bestimmte Korrespondenz zwischen R-Vehikel und R-Ziel. Wie ist diese Korrespondenz zwischen R-Vehikel und R-Ziel genauer zu fassen? Zu einer solchen Korrespondenz gehört es zunächst, dass sowohl das R-Vehikel als auch das R-Ziel eine artikulierte Struktur aufweisen. Selbst atomare Repräsentationen weisen als strukturelle Komponente einen räumlichen und einen zeitlichen Index auf. Das Glühwürmchen leuchtet nicht nur, sondern es leuchtet hic et nunc. Es signalisiert Paarungsbereitschaft hier und jetzt.122 Die kontextuellen, indexikalischen Komponenten 122 Vgl. „Natural signs are structured world affairs and the things of which they are signs are also structured world affairs, analogous to the correlates of complete sentences rather than open sentences or sentence parts. Strictly speaking it is not the black cloud that is a sign of rain. Rather, the structure that is a black cloud in the sky at a certain time, t, moving toward a certain place, p, may be a sign of the structure that is rain occurring shortly after t at p.“ (VM: 47f.) „Similarly, if I say ‘It’s raining’, the place at which I say this conventionally determines the place of the intentionally signified rain. For example, the following dialogue is not possible within the conventions of English (which is why it could be a joke): ‘It’s raining!’ – ‘Where?’ – ‘In Tahiti’. ‘It’s raining’, standing alone, simply is not a way you can conventionally say, in English, that it is raining somewhere or other.[…If] someone says ‘It is raining here’, reference to place is lexicalized.“ (VM: 151f.) 61 von Zeit und Ort gehören zum Leuchtsignal. Dies trifft nicht nur auf atomare, sondern auch auf molekulare Repräsentationen zu. Beispielsweise gehören die Platzierung einer Duftmarke (an einem Baum), einer Giftetikette (auf einer Flasche) oder eines Wirtshausschildes (an einem Haus) zu diesen Zeichen; zu Äußerungen wie „Es regnet“ oder „Ist es kalt?“ gehören ebenfalls als kontextuelle, indexikalische Komponenten sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort der Äußerung. Molekulare Repräsentationen hingegen sind nicht nur kontextuell, sondern auch intern strukturiert. Die relevante Form der Korrespondenz zwischen einer strukturierten Repräsentation und dem repräsentierten Sachverhalt besteht nicht nur darin, dass die einzelnen Komponenten eines molekularen Vehikels mit den einzelnen Komponenten eines Sachverhalts korrespondieren, sondern viel mehr darin, dass Transformationen von Komponenten einer internen molekularen Struktur eines Systems von R-Vehikeln mit Transformationen von Komponenten im R-Ziel korrespondieren. Diese dynamische Korrespondenz nennt Millikan „Abbilden“ (mapping).123 Im Folgenden werde ich das Abbilden anhand des Beispiels des Bienentanzes erläutern. 1.1.5. Der Bienentanz als Paradigma der Biosemantik Seit Karl von Frischs Studien ist anerkannt, dass Bienentänze die Lage einer Futterquelle relativ zum Sonnenstand und zur Lage des Bienenstocks anzeigen.124 Ein solcher Tanz wird von einer Biene, die eine Futterquelle lokalisiert hat, ausgeführt. Geht alles gut, dann löst der Tanz in den Artgenossinnen bestimmte neuronale Reaktionen aus und sie fliegen in eine bestimmte Richtung, finden reichlich Futter, kehren zurück und füttern die Larven usw. Der Tanz hat so gesehen zahlreiche Echte Funktionen. Wenn der Tanz eine Repräsentation der Lage der Futterquelle ist, was ist es, das ihn zu einer Repräsentation macht? Ist es eine der vielen Wirkungen auf die Artgenossinnen? Doch Echte Funktionen alleine machen keine Repräsentation. Auch Maulwurfspfoten und Herzen haben Echte Funktionen, doch sie repräsentieren nichts. Der Tanz ist nicht deswegen eine Repräsentation, weil er eine bestimmte Wirkung auf die Bienen hat, sondern aufgrund der Art und Weise, wie er zu dieser Wirkung beiträgt. Etwas in der einen Tanzbiene fungiert als P-Mechanismus des Tanzes und befähigt die Biene, diesen Tanz gemäß einer Abbildungsregel auszuführen. Desgleichen fungiert LTOBC: 99f., 246, VM: VIII, LBM: 102. Vgl. von Frisch 1923; Seeley 1997. Freilich haben sich in letzter Zeit auch Vorbehalte gegenüber dieser Deutung des Bienentanzes erhoben, sie scheinen aber nicht stark genug, um ihre Richtigkeit grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. 123 124 62 etwas in den Artgenossinnen als K-Mechanismus und befähigt sie, den Tanz gemäß derselben Abbildungsregel zu interpretieren. P- und K-Mechanismus sind kooperative Mechanismen, die sich in einem Prozess der Ko-Evolution entwickelt haben. Die Tänze werden von P-Mechanismen hervorgebracht, um nach einer Abbildungsregel mit bestimmten Sachverhalten zu korrespondieren, so dass der K-Mechanismus seine Echte Funktion erfüllen kann, nämlich die Artgenossen in der richtigen Richtung und Entfernung Futter finden zu lassen. Der Inhalt des Tanzes wird durch den Beitrag, den der Tanz zur Ausübung einer Echten Funktion leistet, bestimmt: Er soll die Artgenossinnen zu einer Futterquelle führen. Dieser Inhalt ist ein intentionaler Inhalt, weil der Tanz die Lage einer Futterquelle auch dann angeben kann, wenn sich dort keine befindet. Er kann die Lage einer Futterquelle falsch repräsentieren. Bienentänze haben Wahrheitsbedingungen. Worin besteht also der Beitrag des Tanzes? Offensichtlich darin, dass er eine Korrespondenz zu bestimmten Sachverhalten gemäß einer Abbildungsregel unterhält. Tatsächlich korrespondiert die spezifische Form oder Struktur des Tanzes mit dem Vorliegen von Futter in einer bestimmten Entfernung vom Bienenstock relativ zum Sonnenstand. Erst das tatsächliche Vorliegen dieser Korrespondenz führt dazu, dass Artgenossinnen Nektar finden, die Larven füttern können usw. Folgen die Artgenossinnen der durch den Tanz exemplifizierten Abbildungsregel, dann sollten sie Futter finden. Sie sollten dies nicht nur in einem epistemischen Sinne, insofern es wahrscheinlich ist, dass in der angezeigten Richtung Futter zu holen ist, sondern in dem normativen Sinne, dass dies die Aufgabe des Tanzes ist. Bestimmte Bienentänze wie etwa der Schwänzeltanz enthalten neben Ort und Zeit weitere Komponenten, nämlich Ausrichtung, Bewegung und Duft der Tanzbiene, die mit zwei Arten von Komponenten in der Welt systematisch korrespondieren, nämlich mit variablen und mit invariablen Komponenten. Zu den invariablen Komponenten gehören Bienenstock, Sonne, Futterquelle, zu den variablen Komponenten die Richtung, die Entfernung und die Qualität des Futters. Mit der Richtung relativ zum Sonnenstand korrespondiert die Ausrichtung, mit Entfernung relativ zum Stock die Bewegung und mit der Qualität der Duft der Tanzbiene. Dies sind die Korrespondenzregeln für den Schwänzeltanz. Die variablen Komponenten können entsprechend der Veränderung der Richtung, der Entfernung und der Qualität einer Futterquelle transformiert werden. Dies sind die Transformationsregeln für den Schwänzeltanz.125 Die Schwänzeltänze der Honigbienen bzw. die Schwänzeltänze einer 125 Der Tanz kann jedoch auch ganz transformiert werden, etwa wenn der Schwänzeltanz zu einem Rundtanz wird, sobald die Entfernung der Nahrungsquelle vom Stock weniger als 90 Meter beträgt. Oder es werden sogar (relativ zu einem bestimmten Repräsentationstyp) invariable Elemente transformiert. Unter bestimmten Bedingungen können die Tänze der Biene nämlich nicht nur die Entfernung und Richtung und Qualität von 63 einzelnen Biene bilden zusammen ein System von Repräsentationen. Korrespondenz- und Transformationsregel zusammen legen die Abbildungsregeln (mapping rule) für ein solches System fest. Die Abbildung zwischen Repräsentation und Vehikel ist keine wesentlich piktoriale oder diagrammatische Abbildung, sondern eine Abbildung im Sinne einer abstrakten Isomorphie. Darüber hinaus enthält eine Abbildungsrelation keine verdeckten intentionalen Zutaten.126 Die relevante Abbildungsrelation (die Abbildungsregel) ist ein Produkt der natürlichen Selektion. Es ist jene Relation, um derentwillen ein bestimmter Mechanismus selektiert worden ist. Die Abbildungsrelation selbst ist abstrakte Isomorphie, die als solche keine intentionalen Voraussetzungen hat. Systeme von Repräsentationen sind also stets strukturiert und korrespondieren mit Sachverhalten aufgrund bestimmter Abbildungsregeln. In Millikans Terminologie müssen Repräsentationen „be mapped onto a state of affairs according to a mapping rule”, und sie müssen „part of a representational system“ mit bestimmten Abbildungsregeln sein.127 Unter den zahlreichen Abbildungs- oder Isomorphie-Relationen, die ein R-Vehikel zu Dingen in der Welt unterhält, ist nun jene Relation relevant, die den Überlebenswert (den evolutionären Erfolg) eines Repräsentationssystems erklärt. Die relevante Abbildungsrelation ist mithin jene, die vorliegen muss, damit ein K-System seine Funktion ausüben kann. Und diese Abbildungsrelation ist die Abbildungsregel: „Which mapping rule (which transformation correlation) is the relevant one to mention – which rule determines what the dance represents – is quite obvious. This rule is determined by the evolutionary history of the bee. It is that in accordance with which the dance must map onto the world in order to function properly in accordance with a Normal explanation, or, what is the same, in order that the mechanisms within watching bees that translate (physicist’s sense) the dance pattern into a direction of flight should perform all of their proper functions (including getting the bees to nectar) in accordance with a Normal explanation.“128 Nehmen wir an, eine Biene führe einen Schwänzeltanz S auf, der angibt, dass sich gutes Futter 680 Meter entfernt in östlicher Richtung befindet. S ist ein Adaptiertes Vehikel, dessen Funktion sich sowohl von der Funktion des P-Mechanismus als auch vom Adaptor ableitet. Die Echte Funktion des P-Mechanismus ist es, Vehikel hervorzubringen, die Futterquellen relativ zu Sonnenstand und Bienenstock lokalisieren. Der Adaptor ist jene Futterquellen angeben, sondern auch Entfernung und Richtung von Wasserstellen (bei Wasserknappheit) oder Brutplätzen (bei der Trennung eines Bienenvolkes). 126 Pace Godfrey-Smith 1988. 127 Millikan lehnt sich auch hier an Morris an. Im Bereich der Syntax gibt es Morris zufolge zwei allgemeine Arten von Regeln. Diese beiden Regelarten „determine the sign relations between sign vehicles“ (Morris 1934: 35). Es gibt einerseits Bildungsregeln „which determine permissible independent combinations of parts of sentences“ und es gibt andererseits Transformationsregeln „which determine the sentences which can be obtained from other sentences“. 128 WQP: 78f. 64 Bedingung B, an die ein Adaptiertes Vehikel angepasst sein sollte, und zwar indem es gemäß einer Abbildungsregel mit B korrespondiert. (Das normative Vokabular in dieser Beschreibung ist gerechtfertigt durch die Echte Funktion des K-Mechanismus.) S hat jedoch zwei Echte Funktionen. Als Adaptiertes Vehikel besitzt S, wie bereits beschrieben, eine Adaptierte Abgeleitete Relationale Echte Funktion. Doch S ist auch Mitglied einer REF22, weil es sich bei S um ein reproduziertes Token einer Reihe von Schwänzeltänzen einer bestimmten Biene handelt, und als solches hat S eine Direkte Echte Funktion. Die Direkte Echte Funktion des Produzenten legt die invarianten Komponenten von S fest, der Adaptor bestimmt die varianten Komponenten, die nach einer Regel den Adaptor abbilden. Läuft alles gut (nämlich in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung), finden die Artgenossinnen gutes Futter in 680 Meter Entfernung Richtung Osten. Das Flugverhalten F der Artgenossinnen, die S interpretieren, ist an diesen Tanz angepasst. S ist ihr unmittelbarer Adaptor. Doch ebenso ist das Flugverhalten angepasst an den Adaptor von S selbst, nämlich an die Futterquelle in 680 Meter Entfernung Richtung Osten. Dies ist der ursprüngliche Adaptor des Flugverhaltens. Ein Adaptiertes Vehikel kann also auch ein anderes Adaptiertes Vehikel als Adaptor haben. Der unmittelbare Adaptor von F ist S, der ursprüngliche Adaptor von F hingegen ist der Adaptor von S, nämlich B. F und S teilen den ursprünglichen Adaptor, nur ist F’s Relation zum Adaptor vermittelt über ein Adaptiertes Vehikel, S’s Relation hingegen nicht. Wir können jetzt bestimmen, inwiefern S eine Repräsentation mit einem IR-Inhalt ist: (1) S ist Mitglied einer REF mit einer Direkten Echten Funktion. (2) S übt seine Funktion in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung nur aus als Bestandteil eines kooperativen Systems von einem P-Mechanismus und einem K-Mechanismus, die gegenseitig eine Normale Bedingung für die Ausübung ihrer Echten Funktionen sind. (3) S übt seine Funktion in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung aus, indem es den K-Mechanismus an eine Bedingung B anpasst, die zur Ausübung der Echten Funktion des Konsumenten vorliegen muss. (4) Die Normale Erklärung dafür, dass S den K-Mechanismus an B anpasst, die zur Ausübung der Echten Funktion des Konsumenten vorliegen muss, zitiert das Vorliegen einer Korrespondenz zwischen S und B gemäß einer Abbildungsregel. 65 Millikan bezeichnet Repräsentationen, die dieser Bestimmung entsprechen in Anlehnung an Peirce als „intentionales Icon“ (intentional icon).129 Ein intentionales Icon ist das Paradigma anhand dessen R-Vehikel als intentionale Repräsentationen betrachtet werden können. Von ihm ausgehend kann der gesamte Bereich der Repräsentationen und Zeichen unter ein vereinheitlichendes Muster gebracht werden. Ich werde das entsprechende Vorgehen der Biosemantik am Ende dieses Abschnitts als „Theoriekonstruktion“ charakterisieren und diese in Abschnitt 2.3. als Ausprägung des Erklärens durch Vereinheitlichung rechtfertigen. Der pragmatistisch-semiotische Hintergrund der Biosemantik wird in den Abschnitten 1.2.1.-1.2.5. dargestellt. Wie steht es mit Fehlrepräsentationen? Ein Vehikel, so haben wir gesagt, sei fehladaptiert, wenn es nicht jene Relation zu einem Adaptor unterhält, die es unterhalten sollte. Nehmen wir an, S sei auf die folgende Weise fehladaptiert: Die Futterquelle befindet sich nicht in 680 Meter Entfernung Richtung Osten, wie S anzeigt, sondern 680 Meter in nördlicher Richtung. Obwohl S eine Futterquelle in 680 Meter Entfernung Richtung Osten anzeigt, besteht seine Adaptierte Abgeleitete Relationale Echte Funktion darin, eine Futterquelle 680 Meter in nördlicher Richtung anzuzeigen, denn die Abgeleitete Funktion von S setzt sich aus der Funktion des Produzenten und der Lage des Adaptors zusammen. Als Mitglied einer REF von Schwänzeltänzen jedoch hat S die Direkte Relationale Echte Funktion, eine Futterquelle in 680 Meter Entfernung Richtung Osten anzuzeigen. So gesehen ist S nicht fehladaptiert, denn der Adaptor für S sind die Vorfahren seiner REF. S weicht nicht von der korrekten Abbildungsregel ab, nach der diese Tänze gebildet werden. S hat also in diesem Fall zwei konfligierende Echte Funktionen. Die Artgenossinnen folgen ihrem unmittelbaren Adaptor und fliegen in Richtung Osten. Es gibt eine Normale Erklärung für F, die Bezug nimmt auf die Direkte Echte Funktion von S. Aus der Abbildungsregel des Schwänzeltanzes lässt sich erklären, warum sie Richtung Osten fliegen. Soweit scheint alles in Ordnung. Die Artgenossinnen interpretieren den Tanz als Mitglied einer REF korrekt gemäß einer Abbildungsregel. Was nicht erfüllt ist, sind die Klauseln (3) und (4). Weil S fehladaptiert ist, passt es den K-Mechanismus nicht an die Bedingung B an, die zur Ausübung der Echten Funktion des Konsumenten vorliegen muss. Und die Normale Erklärung dafür, dass S den KMechanismus an B anpasst, kann sich nicht auf das Vorliegen einer Korrespondenz zwischen S und B gemäß einer Abbildungsregel berufen. Was also fehlt, ist eine Anpassung der Reaktion der Artgenossinnen an den ursprünglichen Adaptor von S (nämlich die Futterquelle 680 Meter in nördlicher Richtung). Fliegen die Artgenossinnen in Richtung 129 Vgl. LTOBC: VI. 66 Osten, so fliegen sie in die falsche Richtung. Der unmittelbare Adaptor S hat dem Flug diese Richtung gemäß einer Abbildungsregel vorgegeben, nur entspricht sie nicht der Richtung des ursprünglichen Adaptors, die S gemäß derselben Abbildungsregel ihnen vorgeben sollte, damit der Flug seine Echte Funktion erfüllen kann, nämlich die Artgenossinnen zu Futter zu führen. (Erinnern wir uns daran, dass die Direkte Echte Funktion der P-Mechanismen darin besteht, R-Vehikel hervorzubringen, die Futterquellen anzeigen, weil dies es ist, was der K-Mechanismus braucht, um seine Echte Funktion zu erfüllen, nämlich die Artgenossinnen zu Futter zu führen. Ein Flug in eine bestimmte Richtung hätte als solcher keinen Überlebenswert für die Bienen. Aus diesem Grund gehört es zur Echten Funktion von S Futterquellen anzuzeigen, unabhängig davon, ob man S als Abgeleitete Funktion oder als Direkte Funktion betrachtet.) Sollten die Artgenossinnen trotz der Fehladaptation von S nach 680 Meter in östlicher Richtung zufällig Futter finden, dann erfüllt S zwar die Funktion, die K-Mechanismen an eine bestimmte Bedingung B anzupassen, aber nicht gemäß einer Normalen Erklärung, sondern durch einen glücklichen Zufall. Man könnte sagen, dass S zwar wahr ist, aber kein Wissen darstellt. Die Abbildrelation, die vorliegen muss, damit eine Biene den Nektar an der repräsentierten Stelle findet, trägt, wenn sie tatsächlich vorliegt, dazu bei, dass die Biene den Nektar an der betreffenden Stelle findet; wenn sie nicht vorliegt, trägt sie nicht dazu bei, und die Biene findet dort keinen Nektar. Sie kann natürlich Nektar an anderer Stelle finden, nur erfüllt ihre Fähigkeit, den Tanz zu interpretieren, dann nicht die Echte Funktion, nämlich an der angegeben Stelle Nektar holen zu können. Sie kann auch an der repräsentierten Stelle Nektar finden, falls Gott dort mittlerweile hat Blümchen sprießen lassen oder ein Biologe dort Nektar deponiert hat. Doch dann findet sie den Nektar nicht dadurch, dass ihre Fähigkeit, den Tanz zu interpretieren, seine Echte Funktion in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung ausübt. Treten wir einen Schritt zurück, vergegenwärtigen wir uns den Grundgedanken. Repräsentationen haben einen Inhalt, wenn sie als Repräsentationen verwendet (interpretiert, konsumiert) werden. Anders formuliert: Der Inhalt eines R-Vehikels wird durch die Funktion seines Interpreten festgelegt. Präziser formuliert: Der intentionale Inhalt eines R-Vehikels (das ein solches ist in Abhängigkeit von einem Produzenten mit einer Direkten Echten Funktion) wird festgelegt durch jene Korrespondenz zu Sachverhalten, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Funktion ausüben kann. Die Teleosemantik ist eine Theorie der Intentionalität (des IR-Inhalts), nicht der 67 Repräsentation (des R-Inhalts). Eine solche Theorie muss zuerst einen Vorschlag dazu machen, worin eine Repräsentation besteht. Millikans Vorschlag ist eine abstrakte Abbildtheorie, wobei der Produzent der Abbildung die Echte Funktion hat, Abbildungen nach einer bestimmten Abbildungsregel hervorzubringen. Der teleosemantische Aspekt ist der Folgende: Die Möglichkeit der Fehlrepräsentation wird durch die Echte Funktion eines Konsumenten (oder Interpretanten) beigesteuert. Liegen die Abbildrelationen, die ein Konsument braucht, um seine Funktion auszuüben, nicht vor, dann ist die Repräsentation falsch. Eine gemäß einer Normalen Erklärung operierende Repräsentation ist also Teil eines Systems der (i) einen P-Mechanismus, (ii) einen K-Mechanismus und (iii) Bedingungen der Umwelt eines Lebewesens einschließen muss. Der Einschluss der Umweltbedingungen erfolgt über Vehikel, die gemäß einer Abbildungsregel mit Umweltbedingungen korrespondieren. Wichtig sind also die Kooperation von Produzent und Konsument und das Vorliegen einer repräsentationalen Struktur, die mit etwas in der Welt korrespondieren muss, damit der Konsument tun kann, was er zu tun die Aufgabe hat. Innere Repräsentationen von Lebewesen bilden auf dieselbe Art und Weise ein repräsentationales System, nur dass Produzenten und Konsumenten nicht auf zwei unterschiedliche Lebewesen verteilt sind, sondern sich in einem Lebewesen finden. Ich werde auf innere Repräsentationen im Verlauf der Diskussion tierlicher Repräsentationssysteme bei Sellars (1.2.7.) und ausführlich im Zuge der Diskussion von Wahrnehmungsinhalten in Kapitel 5 zurückkommen. Es liegt auf der Hand, dass das Spektrum der inneren Repräsentationen sehr weit ist. Nicht nur finden sich Repräsentationen sowohl in Bakterien als auch in Personen, sondern im Körper von Personen finden sich unzählige repräsentationale Vehikel.130 Wie passen jedoch Repräsentationen wie Überzeugungen in dieses Bild? Obschon es zwischen Sätzen und Überzeugungen Unterschiede gibt und Sätze ein möglicherweise irreführendes Modell für Überzeugungen und andere innere Repräsentationen sind, ist es heuristisch angemessen mit Sätzen als einem Modell für Überzeugungen zu beginnen. Dies möchte ich im folgenden Abschnitt tun. 130 Zu inneren Repräsentationen bei Millikan vgl. LTOBC: VI, WQP: III-VO, VM: VI, XIII-XVII. 68 1.1.6. Theoriekonstruktion: Aussagen und Überzeugungen Zunächst kann die Intentionalität sprachlicher Repräsentationen analog zur Intentionalität des Bienentanzes betrachtet werden. Und tatsächlich entwickelt Millikan das Paradigma des intentionalen Icon nicht nur für Bienentänze, sondern in erster Linie für indikative (und imperative) Aussageformen. Wie Bienentänze haben sprachliche Formen Echte Funktionen, die sich in einem Prozess der Ko-Evolution zwischen kooperativen Partnern, nämlich Sprechern und Hörern, entwickelt haben. Sprachliche Formen sollen in einem Hörer bestimmte Verhaltensweisen (oder andere Wirkungen) hervorrufen. Worin besteht der Beitrag einer sprachlichen Form? Nehmen wir an, die Echte Funktion eines Aussagesatzes bestehe darin, Überzeugungen über Sachverhalte in der Welt im Hörer hervorzurufen. Eine derart hervorgerufene Überzeugung kann vom Hörer nur dann erfolgreich weiter verwendet werden, wenn der Aussagesatz mit dem Vorliegen bestimmter Sachverhalte in der Welt gemäß einer Regel korrespondiert. Ein Aussagesatz, der keine solchen Überzeugungen hervorruft, erfüllt seine Echte Funktion nicht. Lügen und Falschaussagen sind demzufolge defekte Aussagesätze. Sie haben die Form von Aussagesätzen, erfüllen aber nicht die Funktion, die Aussagen erfüllen sollten. Der Beitrag einer sprachlichen Form wie der Aussageform kann also in der Korrespondenz gemäß einer Abbildungsregel bestehen, die beispielsweise die Ausführung bestimmter Weisen des Verhaltens für den Hörer ermöglicht. Karl sagt zu Clara: „In diesem Schrank steht Honig.“ Clara bildet die Überzeugung aus, dass in diesem Schrank Honig steht. Wenn sie eine falsche Überzeugung erworben hat, so hat die Aussage ihre Funktion nicht erfüllt. Warum? Wenn Clara beispielsweise Lust auf Honig hat, in besagtem Schrank nach Honig sucht, aber keinen Honig finden kann, weil dort keiner ist, so hat die Überzeugung, dass in diesem Schrank Honig ist, eine Echte Funktion nicht erfüllt, nämlich die Funktion zu jenen Bedingungen zu führen, die Claras Wunsch nach Honig befriedigen. Ob sich Karl getäuscht hat oder ob er gelogen hat, macht für die Funktion der Aussage keinen Unterschied. Weiter kann die erfolgreiche Verwendung der durch den Aussagesatz bewirkten Überzeugung auch Schlüsse betreffen, denn ebenso wenig würde die falsche Überzeugung eine ihrer Echten Funktionen erfüllen, wenn Clara sie beispielsweise in einem Schluss verwenden würde: „Karl hat nie Honig zuhause, aber er hat von der Mutter Honig geschenkt bekommen. In diesem Schrank steht Honig. Also steht in diesem Schrank das Geschenk von Karls Mutter.“ Wiederum macht es keinen Unterschied, ob Karl sich getäuscht oder ob er gelogen hat. Clara kann aus Karls Aussage auch schließen, dass Karl die Überzeugung hat, dass in diesem Schrank Honig ist. Doch nun erfüllt die Aussage eine 69 andere Funktion. Sie gibt nicht Aufschluss über einen Sachverhalt in der Welt, sondern über einen Zustand des Sprechers. Man kann dies daran erkennen, dass es nun für das Verhalten von Clara einen Unterschied macht, ob Karl gelogen oder ob er sich nur getäuscht hat. Erzählt sie jemandem, Karl glaubt, dass in diesem Schrank Honig sei, dann sagt sie im Irrtumsfall etwas Wahres, im Lügenfall jedoch etwas Falsches. Wir haben ja nicht gesagt, dass die Funktion des Aussagesatzes darin besteht, im Hörer eine Überzeugung hinsichtlich der Überzeugungen eines Sprechers hervorzurufen. Von „Es steht Honig im Schrank“ zu „Karl denkt, dass Honig im Schrank steht“ ist es ein weiter Weg. Wie steht es mit internen Repräsentationen (inneren intentionalen Zeichen) wie Überzeugungen und Wünschen? Beginnen wir mit einer anderen, etwas einfacheren Version der Teleosemantik. Dieser Version zufolge besteht der IR-Inhalt eines Wunsches W („Ich will Milch“) in jenem Sachverhalt (das R-Ziel), den mit herbei zu führen W (das RVehikel) die Funktion hat. W ist ein bestimmter Wunsch, weil er erstens im Subjekt des Wunsches (und nicht in einem anderen Subjekt) auftritt, und weil W zweitens nicht irgendeinen Sachverhalt mit verursachen soll, sondern genau den Sachverhalt, der das RZiel von W ist. Wie verhalten sich Überzeugungen dazu? Zunächst könnte man den intentionalen Inhalt einer Überzeugung als jenen Sachverhalt betrachten, mit dem sie (kausal oder informational) ko-variieren muss.131 Die Überzeugung Ü (ein R-Vehikel), dass in jenem Glas Milch ist, ko-variiert mit dem Sachverhalt, dass jetzt dort Milch ist, und Ü hat (als Überzeugung) die Funktion, mit Sachverhalten bestimmter Art zu ko-variieren. Nun ist zwar die Rede, dass mentale Zustände die Funktion haben, mit Sachverhalten zu ko-variieren, in der teleosemantischen Literatur beinahe allgegenwärtig, ist aber unhaltbar. So sagt Dretske, dass Repräsentationen die Funktion haben, etwas anzuzeigen, d.h. Information über etwas zu tragen.132 Doch Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen.133 Es ist die Funktion von etwas, etwas Bestimmtes zu bewirken oder hervorzubringen. Wenn es die Funktion von Ü sein soll, mit X kausal zu ko-variieren, dann ist es die Funktion dieses Zustandes, zu bewirken, dass er mit X ko-variiert. Nur kann Ü natürlich nicht bewirken, dass Ü von X bewirkt worden ist, und Ü kann ebenso wenig bewirken, dass Ü über X Information trägt. David Papineaus Version der Teleosemantik zufolge ist der Inhalt einer Überzeugung jener Sachverhalt, der notwendig vorliegen muss, um zu der Erfüllung eines Vgl. Dretske 1988: III, 1995: I. Dretske 1995: xiii. 133 Vgl. WQP: 129; Godfrey-Smith 1989: 542. 131 132 70 Wunsches beizutragen.134 Die Anforderung kann modifiziert werden: Das Vorliegen eines Sachverhalts ist keine notwendige, sondern eine hinreichende Bedingung dafür, dass die Überzeugung die Funktion ausüben kann, zur Erfüllung eines Wunsches beizutragen.135 Es ist also die Funktion von Überzeugungen zur Erfüllung von Wünschen beizutragen. Will Karl Milch trinken, so repräsentiert die Überzeugung den Sachverhalt, dass in jenem Glas Milch ist, weil dieser Sachverhalt zur Erfüllung solcher Wünsche in der Vergangenheit beigetragen hat. Die Funktion einer Überzeugung besteht also in ihrem Beitrag zu Verhalten oder zu Überlegungen, die zur Erfüllung eines Wunsches führen, dessen Inhalt bereits fixiert ist. Das Problem, dass eine Überzeugung die Funktion haben soll, den repräsentierenden Sachverhalt hervorzubringen, findet sich in dieser Version nicht. Nun ist in der ersten Version dieser Version das tatsächliche Vorliegen des Sachverhalts eine notwendige Bedingung dafür, dass die Überzeugung diese Funktion ausüben kann, während das Vorliegen des Sachverhalts in der zweiten Variante sogar eine Garantie dafür abgibt, dass die Überzeugung diese Funktion ausübt. Doch das tatsächliche Vorliegen eines Sachverhalts und die wahre Überzeugung, dass der Sachverhalt vorliegt, sind keine Garantie für die Erfüllung eines Wunsches. Die Milch könnte verdorben sein, verschüttet oder geklaut werden, es könnte sich um Norwegische Sauermilch, um Mongolische Gärmilch oder um Zmilch handeln usw. Und schließlich können falsche Überzeugungen Wünsche auch zufällig erfüllen. Will Karl Milch trinken und kommt zur (falschen) Überzeugung, dass sich in jenem Glas nur Apfelsaft befindet, obschon es sich in Tat und Wahrheit um Milch handelt (seltsame Lichtverhältnisse trüben seinen Blick), greift er dennoch nach dem Glas und leert es, um überrascht festzustellen, dass es sich um Milch handelt, so hat eine falsche Überzeugung den Wunsch zufällig erfüllt. Es ist also nicht notwendig, dass wahre Überzeugungen vorliegen. Ganz unabhängig von diesen Problemen erscheint es nicht plausibel, von einer solch engen begrifflichen Abhängigkeit von Wünschen und Überzeugungen auszugehen, denn es scheint keineswegs unplausibel, dass eine Antwort auf die Frage nach dem Inhalt von Überzeugungen unabhängig von ihrem Beitrag zu Wunscherfüllungen gegeben werden kann. Diese zweite Version der Teleosemantik muss ja auch die Inhalte von Wünschen überzeugungsunabhängig spezifizieren können. Es leuchtet deshalb prima facie gar nicht ein, warum dies für Überzeugungen nicht der Fall sein soll. Anders als Dretske oder Papineau fordert Millikan für Repräsentationen (und mithin auch für Überzeugungen) weder Kovarianz noch das Vorliegen von Bedingungen 134 135 Vgl. Papineau 1987. Vgl. Papineau 1993. 71 zur Erfüllung von Wünschen. Wünsche haben auch Millikan zufolge die Funktion, zu ihrer Erfüllung beizutragen. Und ihre Auffassung von Überzeugungen lässt sich mit der Papineauschen Version vergleichen. Denn die Echten Funktionen einer Überzeugung besteht auch darin „to participate in inferences in such a manner as to help produce fulfilment of desires”. Und sie besteht auch darin „to participate in inferences to yield other beliefs“.136 Die Direkte Echte Funktion des für die Ausbildung von Überzeugungen bei einem Menschen (Karl) verantwortlichen Mechanismus ist (so wollen wir vereinfachend annehmen) Wahrheit, d.h. die Produktion von Hirnzuständen, die mit Sachverhalten in der Welt auf bestimmte Weise korrespondieren. Auch hier sollten wir nicht ausschließen, dass der verantwortliche P-Mechanismus (ein Neuronenensemble) einer neurobiologischen Normalen Erklärung zugänglich ist. Die Adaptierte Echte Funktion des Hirnzustands (eines Adaptierten Vehikels) von Karl besteht in der Hervorbringung der Übereinstimmung dieses Hirnzustands mit einem bestimmten Sachverhalt. Die Funktion des Adaptierten Vehikels ist es, Karl in Übereinstimmung mit Sachverhalten in der Welt zu bringen. Der Hirnzustand (R-Vehikel) mit einem strukturierten Inhalt (R-Inhalt) dient nicht nur der Übereinstimmung mit einem Sachverhalt (R-Ziel), sondern spielt auch in der Erfüllung von Wünschen oder in der (inferenziellen) Ausbildung weiterer Überzeugungen oder in der (inferenziellen) Ausbildung weiterer Überzeugung zur Erfüllung von Wünschen usw. eine Rolle. Der Inhalt von Karls Überzeugung, dass ein Glas Milch vor ihm steht, besteht in der Biosemantik weder in der Kovariation mit einem Sachverhalt noch in der Beihilfe zur Wunscherfüllung. Vielmehr besteht der Inhalt einer Überzeugung in der Normalen Bedingung, die vorliegen muss, damit ein K-Mechanismus seine Funktion ausüben kann. Wenn Karls Überzeugung Ü, dass dort ein Glas Milch steht, auf Normalem Wege entstanden ist (wenn sein visuelles System und sein Gehirn als Reaktion auf den Sachverhalt bestimmte Strukturen ausbilden) und dieses R-Vehikel von einem KMechanismus (einem System das seinerseits Handlungen oder Aussagen oder Schlüsse oder eine Kombination davon produziert) interpretiert wird, dann besteht der IR-Inhalt von Ü weder in der Funktion des sie produzierenden noch des sie konsumierenden Systems, sondern in dem Sachverhalt, mit dem Ü korrespondieren muss, damit ein konsumierendes System seine Funktion ausüben kann. Der P-Mechanismus (das Zentralnervensystem oder Teile des Zentralnervensystems) hat die Direkte Echte Funktion wahre Überzeugungen hervorzubringen (d.h. R-Vehikel, die mit bestimmten Sachverhalten korrespondieren), und es bringt Zustände mit der Abgeleiteten Adaptierten Echten Funktion hervor, mit 136 WQP: 71. 72 bestimmten Sachverhalten zu korrespondieren, und zwar gemäß einer Normalen Erklärung (beispielsweise in Form einer neurobiologischen oder in Form einer alltagspsychologischen Erklärung). Der K-Mechanismus kann seine Funktion nur unter der Bedingung des Vorliegens der Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und einem Sachverhalt ausführen. Im Falle einer Wahrnehmungsüberzeugung wie Ü es ist, führt Ü beispielsweise zu der indikativen Aussage „Das ist ein Glas mit Milch“, zum Griff nach dem Milchglas oder zur Speicherung im Gedächtnis. Damit die Aussage wahr sein kann, damit der Griff nach dem Glas erfolgreich sein kann oder damit der Gedächtnisinhalt späterhin erfolgreich verwendet werden kann, muss eine Korrespondenz zwischen Ü und dem Sachverhalt vorliegen. Der IR-Inhalt besteht nicht in der Korrespondenz alleine, sondern in der Korrespondenz, die vorliegen muss, damit ein Konsument (Sprachvermögen, Greifvermögen, Gedächtnis) seine Funktion erfüllen kann (und zwar erfüllen in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung).137 Betrachten wir folgenden Fall: Karl hegt den Wunsch, den Durst von Klärchen zu stillen (Klärchen schreit und stört Karls Konzentration), er bildet die Überzeugung aus, dass dort ein Glas Milch steht, zieht den Schluss, dass Milch den Durst von Klärchen löscht, und dass seine Handlung, das Glas Klärchen zu trinken zu geben, seinen Wunsch befriedigt. Die Funktion dieser Überzeugung besteht jetzt nicht allein darin, mit einem Sachverhalt zu korrespondieren, sondern auch darin, Teil eines Schlusses zu sein und zu der Befriedigung eines Wunsches beizutragen. Welches sind die Normalen Bedingungen, die vorliegen müssen? Zur Korrespondenz mit Sachverhalten in der Welt treten die Wünsche von Karl, seine Überzeugungen, seine Fähigkeit Mitmenschen als Wesen mit intentionalen Zuständen zu verstehen, seine Vermögen Schlüsse zu ziehen. Alle diese Bedingungen sind relevant für die (genauere) Festlegung des Inhalts der Überzeugung. Die relevante Bedingung ist jedoch das Vorliegen einer Korrespondenz. Wie im Fall der Bienen hat unsere evolutionäre Vorgeschichte dafür gesorgt, dass wir über Mechanismen zur Ausbildung von Überzeugungen verfügen. Und ebenso wie Bienentänze sind Überzeugungen auf systematische Weise miteinander verbunden. So können Elemente der Struktur (Begriffe, Verbformen, Satzarten, implizite oder explizite Indexe usw.) ausgetauscht und Überzeugungen so transformiert werden. Erfüllt das Überzeugungssystem ihre Direkte Echte Funktion (gemäß einer Normalen Erklärung), so bildet die Transformation Veränderungen in der Welt ab, und zwar jene Veränderungen, die vorliegen müssen, damit ein Konsument seine Funktion (gemäß einer Normalen Erklärung) ausüben kann. Beispielsweise kann Karls Überzeugung, dass diese Milch vor 137 Der kursiv gesetzte Zusatz entspricht, wie wir noch sehen werden, den Lehren, die Millikan Morris und Sellars verdankt: Zeichen (Repräsentationen) haben eine fünfstellige Struktur und Inhalte sind nicht als solche gegeben, sondern Inhalte liegen nur als interpretierte vor (vgl. 1.2.4.-1.2.7.). 73 zwei Stunden gut war, zur Überzeugung, dass diese Milch jetzt schlecht geworden ist, transformiert werden. Überzeugungen können also gewissermaßen als mentale Sätze betrachtet werden, die (wie andere Vehikel auch) eine interne Struktur aufweisen und Abbildungsregeln unterliegen. Bestandteile von Überzeugungen korrespondieren mit Sachverhalten in der Umwelt, diese Bestandteile können entsprechend den Veränderungen in der Umwelt ersetzt und transformiert werden. (Korrespondenz- und Transformationsregel legen zusammen, so haben wir gesehen, die Abbildungsregeln für ein Repräsentationssystem fest.) Überzeugungen haben wie Aussagen eine Echte Funktion. Die Funktion von Überzeugungen ist abgeleitet von dem Mechanismus, der Überzeugungen hervorbringt. Die Funktion dieses Mechanismus besteht in der Generierung wahrer Überzeugungen. Nur das Überzeugungssystem einer Person, die lauter wahre Überzeugungen hätte, wäre ein System, dessen kognitives Vermögen Normal (im Sinne einer Normalen Erklärung) tätig ist. Solche Überzeugungen spielen eine Rolle für die Erinnerung, für das Verhalten, für Wunscherfüllungen, für die Generierung neuer Überzeugungen, neuer Wünsche oder Äußerungen. Wodurch werden die Abbildungsregeln für die Überzeugungen einer Person P festgelegt? Durch die individuelle Lerngeschichte von P. Damit P beispielsweise empirische Überzeugungen ausbilden kann, die auf systematische Weise mit Sachverhalten in der Welt korrespondieren, muss P zunächst lernen, Dinge (Objekte, Eigenschaften, Sachverhalte usw.) mittels seiner Sinne zu identifizieren, mit denen Überzeugungen korrespondieren sollen. P erwirbt Begriffe für diese Dinge. Durch den Erwerb von Begriffen vermag P Dinge (Objekte, Eigenschaften, Sachverhalte usw.) über seine unterschiedlichen Sinneskanäle, unter variablen Bedingungen und anhand zahlreicher Merkmale, die diese Dinge aufweisen, zu identifizieren. Die Begriffe müssen P in die Lage versetzen, Dinge als dieselbe Art von Objekt, dieselbe Art von Eigenschaft, dieselbe Art von Ereignis usw. zu identifizieren, und zwar unter zahllosen und wechselnden Bedingungen. P erwirbt Begriffe auf die für Mitglieder seiner Art Normale Weise, wenn solcherlei Identifikationen gelingen und zur Ausbildung von Überzeugungen beitragen. Die Identifikationen gelingen, wenn die erworbenen Begriffe nicht äquivok, nicht redundant und nicht leer sind.138 Wir haben alle wichtigen theoretischen Elemente für Überzeugungen à la Millikan beisammen. Der Mechanismus zur Hervorbringung von Überzeugungen hat die Funktion Strukturen hervorzubringen, die mit Sachverhalten korrespondieren. Vereinfacht (und mittels semantischer Terme) ausgedrückt: Die Direkte Echte Funktion des Überzeugungs138 Vgl. dazu LTOBC: XV, OCCI: I-V, Millikan 1998a. 74 Mechanismus ist die Hervorbringung von Zuständen, die wahr sind. Einzelne Überzeugungen haben diese Funktion jedoch abgeleitet. Eine Überzeugung ist ein Adaptiertes Vehikel mit einer Adaptierten Echten Funktion. Als solche stehen Überzeugungen wesentlich in einer bestimmten Relation zu Sachverhalten in der Umwelt eines Lebewesens. Überzeugungen haben einen IR-Inhalt nicht allein aufgrund einer Echten Funktion, sondern primär aufgrund des Vorliegens einer bestimmten Korrespondenz, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Echte Funktion erfüllen kann. Die Korrespondenz wird durch Abbildungsregeln bestimmt: „In the case of [beliefs], the Normal explanation of how the [belief] adapts the interpreter [or: consumer] device such that it can perform its proper functions makes reference to the fact that the [belief] maps conditions in the world in accordance with a specific mapping function of a kind ….“ 139 Die allgemeinen Bedingungen für indikative intentionale Repräsentationen können gedrängt wie folgt zusammengefasst werden: Ein internes Vehikel R repräsentiert einen Sachverhalt X (das R-Ziel), wenn (1) R, das Produkt eines P-Mechanismus mit einer Direkten Echten Funktion ist (und folglich eine Abgeleitete Echte Funktion hat), (2) die Korrespondenz R : X eine Normale Bedingung für die Ausübung der Echten Funktion eines (kooperativen) K-Mechanismus ist, (3) die variablen und invariablen Komponenten von R mit variablen und invariablen Komponenten von X gemäß einer Normalen Erklärungen korrespondieren, (4) die Produkte des P-Mechanismus Abbildungsregeln unterstehen.140 Fassen wir zusammen! Die Zusammenfassung wird uns dazu dienen, eine wichtige Beobachtung hinsichtlich der Methode von Millikan zu machen. Ich werde diese Methode als „Methode der Theoriekonstruktion“ 141 Repräsentationen sind Bienentänze. bezeichnen. Millikans Paradigma für Sie analysiert Bienentänze und Aussagesätze, und gelangt dabei zum Begriff des intentionalen Icon.142 Anschließend wendet sie das Resultat LTOBC: 97. Wünsche (reine innere direktive intentionale Zeichen) haben die Funktion Verhaltensweisen zu verursachen, die bestimmte Sachverhalte bewirken. Der Inhalt eines Wunsches besteht in der Korrespondenz zwischen Wunsch (R-Vehikel) und Sachverhalt, den hervorzubringen der Konsument des Wunsches die Funktion hat. Der Konsument eines Wunsches benutzt den Wunsch, um den erwünschten Weltzustand hervorzubringen: „In the case of [desires], it is a proper function of the interpreter [or: consumer] device, as adapted by the [desire], to produce conditions onto which the [desire] will map in accordance with a specific mapping function of a kind….“ (WQP: 97). 140 WQP: 89-90. Vgl. dazu die Definition von imperativen und indikativen Satzformen in LTOBC: 96f. 141 LTOBC: 85. 142 Vgl. LTOBC: V-VII. 139 75 der Analyse sowohl auf mentale Repräsentationen143 als auch auf sprachliche Repräsentationen an.144 Natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem Repräsentationssystem der Bienentänze und jenem der Überzeugungen einer Person. Bienentänze sind, anders als Überzeugungen, keine rein indikativen Repräsentationen, sondern „Pushmi-pullyu-Repräsentationen“, in denen indikative und direktive Elemente zusammenfallen.145 Darüber hinaus sind Bienentänze im Unterschied zu Überzeugungen äußere Repräsentationen (äußere intentionale Zeichen), Überzeugungen hingegen innere Repräsentationen. Überzeugungen sind jedoch einfach ein besonderer Fall indikativer intentionaler Repräsentationen (oder innerer, indikativer intentionaler Zeichen). Natürlich sind die Abbildungsregeln für Überzeugungen weitaus komplexer als jene der Bienentänze. Die Funktionen der Konsumenten, die Überzeugungen benutzen, sind weitaus vielfältiger und deshalb im Einzelnen auch bestimmbarer als die Funktionen der Konsumenten von Bienentänzen. Sowohl die Mechanismen zur Ausbildung von Überzeugungen überhaupt als auch die Mechanismen zur Produktion von Bienentänzen gehören zur artspezifischen Ausstattung von Bienen und Menschen, doch Überzeugungssysteme und die ihnen zugrunde liegenden Begriffe werden im Laufe einer individuellen Lerngeschichte erworben. Für Überzeugungen müssen noch weitere Bedingungen vorliegen, die sie von Bienentänzen unterscheiden. Doch wir wollen sie an dieser Stelle jedoch ausblenden, weil es nicht um die Unterscheidung zwischen tierlichen inneren indikativen intentionalen Repräsentationen und menschlichen inneren indikativen intentionalen Repräsentationen geht, sondern um die Brauchbarkeit des Paradigmas des Bienentanzes zur Analyse von Repräsentationen bestimmter Art, nämlich indikativen, intentionalen Zeichen. Warum Zeichen? Millikan versteht ihre Theorie der Repräsentation sehr weit, nämlich als eine Allgemeine Theorie der Zeichen: LTOBC entwickelt „a ‘general theory of signs’ roughly in the sense C. S. Peirce envisioned – a theory that covers conventional signs and thoughts (as well as some other things)“.146 Ich werde im folgenden Kapitel auf den offensichtlich pragmatistischen Hintergrund der Biosemantik zu sprechen kommen. Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich die Methode der Biosemantik charakterisieren. Wie wir bereits gesehen haben, unterscheidet sich die Biosemantik dadurch von anderen teleosemantischen Theorien, dass sie beansprucht eine Theorie sowohl sprachlicher Repräsentationen (als äußeren intentionalen Zeichen) als auch mentaler Repräsentationen (als innerer intentionaler Zeichen) zu sein. Das Ziel ist also eine umfassende Theorie, die so Vor allem in WQP. Vor allem in LBM. 145 Vgl. VM: 78, XIII; LBM: IX. 146 LTOBC: 6. 143 144 76 heterogene Phänomene wie natürliche, tierliche, menschliche, konventionelle, improvisierte Zeichen, Indexe, Signale, Indikatoren, Symbole, Repräsentationen, Sätze, Karten, Diagramme, Gemälde, Fotos usw. umfasst. Die treibende Intuition besagt, dass diese Phänomene miteinander verwandt sind und dass der Begriff des Zeichens dieser Intuition am ehesten gerecht wird.147 Millikan behauptet weder, dass der Ausdruck „Zeichen“, wie er auf die erwähnten heterogenen, aber verwandten Phänomene angewendet wird, äquivok sei, noch behauptet sie, dass die Biosemantik eine Analyse des Zeichenbegriffs leiste, der die Anwendungsbedingungen dieses Begriffs auflisten soll. Die Biosemantik geht vielmehr so vor, dass sie eine bestimmte Gruppe von Zeichen als paradigmatischen Fall nimmt, und andere intuitiv als Gruppen von Zeichen designierten Phänomene durch die Ähnlichkeit mit diesem Paradigma gerechtfertigter Weise als Zeichenphänomene betrachtet.148 Die Intuition gibt der Annahme, dass alle diese Phänomene als Zeichenphänomene betrachtet werden können, eine anfängliche Vertretbarkeit, doch erst die Ausarbeitung eines Paradigmas und dessen Anwendung auf diese Phänomene verleiht der Idee einer allgemeinen Zeichentheorie volle Vertretbarkeit.149 Das Vorgehen der Biosemantik ist nicht Begriffsanalyse, sondern Theoriekonstruktion.150 Das hier gemeinte Verfahren der Theoriekonstruktion geht (i) von einem anfänglichen Vorgriff auf den Gesamtbereich aus, kehrt (ii) zurück zu einer genaueren Analyse eines paradigmatischen Falls, und wendet (iii) die Resultat der Analyse auf den Gesamtbereich aus.151 Die Theorie und die Methode der Biosemantik lässt es offenbar zu, dass sehr viele und sowohl ausgesprochen primitive als auch ausgesprochen elaborierte Zeichen und Repräsentationen einen intentionalen Inhalt haben. Die Methode der Theoriekonstruktion kennt keine prinzipiellen Grenzen des Bereichs der Intentionalität. Solange Zeichenphänomene etwas falsch anzeigen können und solange sie mit dem Paradigma des intentionalen Icons übereinstimmen, können diese Phänomene als intentionale betrachtet werden. Theoriekonstruktionen messen sich an der vereinheitlichenden explanatorischen Kraft ihrer Konstruktionen. Wie diese explanatorische Vereinheitlichung aussieht, werde ich in Abschnitt 2.3. genauer darlegen. Im folgenden Abschnitt möchte ich zwei Grenzfälle LTOBC: 85. LTOBC: 85, 115. 149 Zum Verhältnis zwischen anfänglicher Vertretbarkeit (initial tenability) und voller Vertretbarkeit (full tenability) vgl. Elgin 1996. 150 Wie wir noch sehen werden, weist dieses Verfahren der Theoriekonstruktion Parallelen zu Morris’ Vorgehen auf (vgl. 1.2.4.). 151 Vgl. Sellars 2007: 282: „It is a familiar point that if we want to understand a certain kind of phenomenon, a wise strategy is to look for paradigm cases and get straight about them.“ 147 148 77 der Anwendung der Biosemantik analysieren, die die Reichweite der semiotischen Theoriekonstruktion der Biosemantik aufweisen sollen. 1.1.7. Die Reichweite der Biosemantik: Bakterien und Lyrik Wie wir bereits in Abschnitt 1.1.1. gesehen haben, verfügen die Magnetosome maritimer Bakterien über einen IR-Inhalt: „Of what, Dretske asks, is the magnetosome’s orientation an intentional sign? Does it signify magnetic north, geomagnetic north, deeper water, or lesser oxygen? It is an intentional sign only of lesser oxygen. This is because it needs, and needs only, to coincide with lesser oxygen to serve its purpose.“152 Das Magnetosom bezeichnet alle diese Dinge als R-Inhalte, denn die Orientierung der Magnetosome unterhält Abbildungsrelationen zu jedem der vier genannten Sachverhalte. Was braucht der K-Mechanismus, um seine Echte Funktion zu erfüllen? Was braucht das Bakterium? Der K-Mechanismus der Magnetosom-Strukturen (das Antriebssystem des Tiers) braucht die Angabe der Richtung eines Lebensraums, in dem das Bakterium gedeihen kann. Aus der Behauptung, dass selbst Magnetosome über Repräsentationen mit IR-Inhalt verfügen folgt, dass Intentionalität nicht das Merkmal des Mentalen sein kann, sofern wir Bakterien nicht einen Geist unterstellen wollen. Doch die Umverteilung der Intentionalität ist nicht so permissiv und egalitaristisch wie Kritiker und Sympathisanten der Biosemantik meinen. So geht es beispielsweise nicht an, genetische Information schlechterdings mit Intentionalität zu versehen. Nehmen wir ein für die Biologie wichtiges Beispiel: die genetische Regulation bei Bakterien.153 Ein Operon ist ein Bestandteil der DNA von Einzellern. Das Laktose-Operon (lac-Operon) beispielsweise spielt für den Transport von Laktose ins und im Bakterium eine wichtige Rolle. Die relevanten Proteine des lac-Operons werden erst dann exprimiert, wenn im Umgebungsmedium zwar Laktose, aber keine günstigere Nahrung (etwa Glukose) vorkommt. Laktose ist als Nahrung ungünstig, weil ihr Abbau kostspielig ist. Das lacOperon wird negativ durch einen Repressor, positiv durch einen Aktivator reguliert. Der lac-Repressor verhindert die Genexpression, die zur Aufnahme von Lactose führt, der lacAktivator hingegen beeinflusst die Genexpression positiv, sodass das Bakterium Laktose aufnehmen kann, und zwar nur solange entweder Laktose oder günstigere Nahrung vorhanden ist. „Z“ sei jener Zustand des lac-Operons, in dem der Aktivator tätig ist. Z 152 153 VM: 82. Jacob und Monod 1961. 78 repräsentiert der Biosemantik zufolge, dass im Umgebungsmedium des Bakteriums Laktose vorhanden ist, und zwar weil es eine Echte Funktion des lac-Operons ist Z hervorzubringen, wenn im Umgebungsmedium des Bakteriums Laktose (aber keine andere Nahrung) vorhanden ist. Der lac-Aktivator kontrolliert die Genexpression, die dazu führt, dass Laktose transportiert werden kann. Die Genexpression ist der Konsument des lacAktivators. Der Konsument kann seine Echte Funktion (Genexpression) nur erfüllen, wenn im Umgebungsmedium des Bakteriums Laktose (aber keine andere Nahrung) vorhanden ist. Liegt Z vor, ohne dass Laktose (oder solange andere Nahrung) vorhanden ist, erfüllt das lac-Operon seine (eine seiner) Echten Funktionen nicht. Und der Konsument (Genexpression) kann seine Echte Funktion (Laktosetransport) nicht ausüben, da die Bedingung zur Ausübung der echten Funktion (Laktose im Medium) nicht erfüllt ist. Inwiefern ist Z (Aktivatortätigkeit) in diesem Beispiel so strukturiert, dass Z mit B (Laktose im Medium) korrespondiert? Nun, Z führt zumindest einen impliziten Zeitindex mit sich, denn die Tatsache, dass Z vorliegt, soll nicht (normatives Sollen im Sinne der echten Funktion des PM, der Z hervorbringt) auf Laktosevorkommnisse vorher oder nachher verweisen, sondern auf Laktosevorkommnisse hic et nunc. Marcel Weber, der dieses Beispiel benutzt, kommentiert es wie folgt: „First, [das Laktose-Beispiel] ascribes semantic content to an extremely simple life form. Teleosemanticists always choose much more complex organisms, namely metazoans [Mehrzeller], to illustrate their theory. What this suggests is that they implicitly use some additional constraints on intentional content. It seems to me that they really want to ascribe semantic content only to organisms with a central nervous system. But what is it about brains or ganglions that generates intentionality? An answer to the effect that the central nervous system is a system for information processing will not do, as the concept of information is what we are trying to explicate here. A vicious circle looms here, especially if the information processed by the CNS is of the intentional variety. In other words, the implicit constraint that makes teleosemanticists chose brainy metazoans instead of brainless bacteria as examples threatens to collapse the whole account on being made explicit.“154 Es ist unklar, von wem hier die Rede ist. Dretske und Millikan etwa diskutieren ja einen analogen Fall, nämlich das Beispiel des einzelligen magnetotaktischen Bakteriums.155 Es trifft deshalb keineswegs zu, dass „teleosemanticists always choose much more complex organisms“. Hingegen trifft zu, dass viele Teleosemantiker „really want to ascribe semantic content only to organisms with a central nervous system”. Dretske etwa behauptet, dass man solchen einfachen Lebewesen keine intentionalen Zustände zuschreiben sollte, und 154 155 Weber 2005: 406. Dretske 1986, 1988: 63ff.; Matthen 1988 benutzt die Ribosom-Synthese im Bakterium E. coli. 79 zwar weil man die Echte Funktion der involvierten Mechanismen nicht festlegen könne.156 Er fordert eine bestimmte Art der Lernfähigkeit, die für die Funktionsfestlegung sorgen soll.157 Falls die geforderte Lernfähigkeit nur Lebewesen mit einem Zentralnervensystem zukommt, dann enthält die Zuschreibung intentionaler Zustände gegenüber ausschließlich solchen Wesen natürlich keine zirkuläre, implizite Forderung.158 Und sollte das Zentralnervensystem das kognitive Organ von Lebewesen sein, so beinhaltet die Zuschreibung intentionaler Zustände gegenüber ausschließlich solchen Wesen ebenso wenig eine zirkuläre, implizite Forderung.159 Wie steht es mit Millikans Biosemantik? Sie beschreibt, wie wir eben gesehen haben, die Magnetosome als „an intentional sign […] of lesser oxygen.“160 Anders als Dretske oder Fodor161 ist Millikan also durchaus bereit simplen Lebewesen Zustände mit intentionalen Eigenschaften zuzuschreiben, da es sich bei diesen Zuständen um (innere) intentionale Zeichen handelt. Sie charakterisiert solche (inneren intentionalen) Zeichen als intentionale Signale,162 unterscheidet sie von intentionalen Icons wie Bienentänze163 und von höheren intentionalen Repräsentationen wie Überzeugungen.164 Sie spezifiziert Bedingungen für ein mentales Repräsentationssystem, wie es für Menschen kennzeichnend ist,165 und erläutert den Beitrag natürlicher Sprachen (Systeme äußerer intentionaler Zeichen) zur Leistungsfähigkeit unseres Repräsentationssystems.166 Freilich ist ein intentionales Signal (wobei wir die Bedeutung dieses Begriffs anhand der Bakterienbeispiele fixieren können) ein Grenzfall eines intentionalen Zeichens. Es ist deshalb ein Grenzfall, weil die geforderte Strukturierung des Zeichens (der zeitliche Index) der kleinstdenkbare Fall einer Strukturierung ist, nämlich die Kombination eines Zeitindexes mit einem atomaren Ereignis. Es ist auch deshalb ein Grenzfall, weil ein solches Signal nur „in the broadest possible sense of ‘intentionality’“ ein intentionales Zeichen ist, nämlich insofern „that what is intentional apparently stands in relation to something else [….] yet which something may or may not be.“167 Wer über intentionale Eigenschaften spricht, möchte ein Dretske 1986. Vgl. Dretske 1988: 95-107, 2000: 235-240 und Dretskes Antworten in McLaughlin 1991: 200-210. 158 Godfrey-Smith 1996 beispielsweise vertritt die These, die Funktion der kognitiven Vermögen bestehe darin, es Lebewesen zu ermöglichen, mit komplexen Umwelten umzugehen. Nur Lebewesen in komplexen Umwelten verfügen wirklich über Repräsentationen. Auch hier ist das Kriterium der Abgrenzung nicht zirkulär. Für eine Ausarbeitung vgl. Sterelny 2003: II. 159 Vgl. Neander 2006. 160 VM: 82; vgl. WQP: 92ff., 125f. 161 Vgl. Fodor 1986. 162 LTOBC: 116f. 163 LTOBC: 96f. 164 LTOBC: 96, 240ff. 165 WQP: 97-101; VM: XVIII-XIX. 166 OCCI: VI, VM: IX, LBM: V. 167 LTOBC: 95. 156 157 80 bestimmtes Phänomen in den Griff bekommen, nämlich den Grund der „Beziehung desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“. Kant setzt bei dem an, was man in uns Vorstellungen nennt, um das Phänomen in den Griff zu bekommen. Die Biosemantik setzt bei einem tierlichen Fall von Intentionalität an, nicht um in diesem Fall das Wesen der Intentionalität in den Griff zu bekommen, sondern um den Gesamtbereich der Phänomene, die intuitiv Fälle von Intentionalität sind, zu verstehen und zu erklären – und zwar zu verstehen durch konstruktive Übertragung und zu erklären durch Vereinheitlichung (2.3.). Es gibt aber kein Merkmal des Intentionalen, außer jenes allgemeine Merkmal, das Intentionalität im weitesten Sinn charakterisiert, nämlich „that what is intentional apparently stands in relation to something else [….] yet which something may or may not be.“168 Das analysierte Paradigma des intentionalen Icon ergibt eine komplexe Menge an Merkmalen für Intentionalität, die auf den Gesamtbereich der intentionalen Phänomene teilweise übertragen werden kann. Nur: „There is no single feature or set of feature that characterizes everything we are sometimes tempted to say exhibits ‘intentionality’. Rather there are various features that things can share with sentences that may inspire us, in different moods, to see these things as ‘intentional’ too.“169 Aus diesem Grund gibt es Grenzfälle, wie das intentionale Signal, sodass die Anwendung und Fruchtbarkeit des analysierten Paradigmas fragwürdig erscheint und die Auszeichnung als „intentional“ irreführend sein kann. Im Unterschied zur regen genetischen Aktivität der Einzeller im Laktose-Beispiel haben die meisten Gene nicht die Aufgabe ihre Tätigkeit so mit Umweltbedingungen zu koordinieren, dass Konsumenten ihre Echte Funktion ausüben können. Aus diesem Grund bietet sich die Biosemantik kaum als geeignete Theorie der genetischen Information an.170 Doch mit Sicherheit ist die Auszeichnung nicht fragwürdig und fruchtbar im Falle tierlicher Repräsentationssysteme. Sie ist nicht fragwürdig, weil sie sich auf überwältigende Weise nicht nur mit unserer alltäglichen Zuschreibungspraxis deckt, sondern auch mit der Zuschreibungspraxis unserer historischen Vorgänger und unserer Zeitgenossen. Sie ist fruchtbar, weil sie in der Ethologie, Psychologie, Biologie, Neurologie, Informatik oder Paläoanthropologie zu Forschungsprojekten führt. Dies ist, wie ich meine, der tiefere und zutreffende Grund für Webers Einschätzung, dass Vertreter der Teleosemantik „always choose much more complex organisms, namely metazoans, to illustrate their theory“. LTOBC: 95. LTOBC: 95. 170 Vgl. aber Maynard Smith 2000 und Shea 2007 für Versuche, den Begriff der genetischen Information biosemantisch zu bestimmen. 168 169 81 Ich komme zur zweiten Anwendung der Biosemantik und damit zu einem Grenzfall, der gleichsam auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums liegt. Nicht nur die primitiven, inneren Magnetosom-Strukturen, die Bakterien hervorbringen, sondern auch kultivierte, äußere sprachliche Strukturen, wie sie Lyriker der Moderne hervorbringen, können als Repräsentationen in Sinne der Biosemantik aufgefasst werden.171 Erinnern wir uns, dass die Grundzüge der Biosemantik die Kooperation von Produzent und Konsument und das Vorliegen einer repräsentationalen Struktur fordert, die mit etwas in der Welt korrespondieren muss, damit der Konsument tun kann, was er zu tun die Aufgabe hat. Der Einschluss der Umweltbedingungen erfolgt über Vehikel, die gemäß einer Abbildungsregel mit Umweltbedingungen korrespondieren. Der Gedanke, die Tätigkeit des modernen Lyrikers mit dem Verhalten primitiver Organismen in Verbindung zu bringen, stammt vom Lyriker Gottfried Benn: „Es gibt im Meer lebende Organismen des unteren zoologischen Systems, bedeckt mit Flimmerhaaren. Flimmerhaar ist das animalische Sinnesorgan vor der Differenzierung in gesonderte sensuelle Energien, das allgemeine Tastorgan, die Beziehung an sich zur Umwelt des Meers. Von solchen Flimmerhaaren bedeckt stelle man sich einen Menschen vor, nicht nur am Gehirn, sondern über den Organismus total. Ihre Funktion ist eine spezifische, ihre Reizbemerkung scharf isoliert: sie gilt dem Wort…“172 Wir können die Aufgabe angehen, indem wir versuchen, einer Aussage von Paul Valéry einen Sinn zu verleihen: „Mes vers ont le sens qu’on leur prête.“ Der Leser erst verleiht den Versen eines Gedichts ihren Sinn.173 Der Produktionsprozess moderner Lyrik wurde von ihren Protagonisten oft als eine Mischung von unbewussten, rauschhaften, intuitiven und irrationalen Elementen einerseits mit bewussten, kontrollierten, hochartifiziellen und intellektualistischen Elementen andererseits aufgefasst.174 Doch dies sind nur unterschiedliche Gewichtungen. Häufig genug findet sich eine Mischung beider Seiten. So sagt Benn in einem Vortrag: Benn 1968, Bd. 8: 1878; vgl. Bd. 4: 1075. Diese Strukturen müssen dazu in der „kulturellen Welt“ verortet sein, vgl. dazu Abschnitt 3.2.6. 173 Valéry 1957: 1509: „Mes vers ont le sens qu’on leur prête. Celui que je leur donne ne s’ajuste qu’à moi, et n’est opposable à personne. C’est une erreur contraire à la nature de la poésie, et qui lui serait même mortelle, que de prétendre qu’à tout poème correspond un sens véritable, unique et conforme ou identique à quelques pensées de l’auteur.“ Valérys Position ist von Gadamer als „unhaltbarer hermeneutischer Nihilismus“ gedeutet worden (Gadamer 1999, Bd. 1: 100). Ich werde den Aphorismus jedoch als Hinweis darauf verstehen, dass das moderne Gedicht eine repräsentationale Struktur ist, die die Echte Funktion hat, die Vorstellungskraft des Lesers auf bestimmte Weise in Gang zu setzen. Diese Ansicht findet sich auch bei Valéry formuliert. „Un poète […] n’a pas pour fonction de ressentir l’état poétique: ceci est une affaire privée. Il a pour fonction de le créer chez les autres.“ (Valéry 1957: 1321) Auf den Unterschied zwischen der privaten Schöpfung eines künstlerischen Artefakts und seiner kulturellen Rezeption komme ich in Abschnitt 3.2.6. zurück. 174 Bisweilen wurden die beiden Seiten zwecks Schulbildungen aufgespalten. So propagierten die französischen Surrealisten die „écriture automatique“ und feierten das Gedicht als einen Untergang des 171 172 82 „Irgend etwas in Ihnen schleudert ein paar Verse heraus oder tastet sich mit ein paar Versen hervor, irgend etwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse sofort in die Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen. Ist das erste vielleicht naiv, ist das zweite ganz etwas anderes: raffiniert und skeptisch.“175 Verse und Gedichte entstehen, wenn Erlebnisse und Worte gleichsam zusammenschlagen. Wir haben also einerseits etwas, das Verse eruptiv hervorbringt, andererseits etwas, das Verse sorgsam überprüft und bearbeitet, um sie zu Gedichten zusammenzufügen. Ein (vielleicht unbewusster) P-Mechanismus erzeugt repräsentationale Strukturen, ein KMechanismus nutzt sie, um komplexere repräsentationale Strukturen herzustellen, nämlich Gedichte. Als Produzenten braucht man sich keineswegs einen spezifischen inneren Mechanismus vorzustellen. Es handelt sich eher um eine komplexe Disposition, die unter bestimmten Bedingungen aktiv wird.176 Ebenso wenig braucht man sich den Konsumenten als spezifischen Mechanismus auszumalen. Es sind in erster Linie Überzeugungen und Wünsche zur geistigen Lage der Zeit, über die literarische Tradition, und über die eigene lyrische Produktion, die die Prüfung und Bearbeitung der Verse lenken. Im Produktionsprozess der modernen Lyrik finden wir also Beschreibungen, die auf repräsentationale Strukturen, Produzenten und Konsumenten hinweisen. Welche Form der Korrespondenz muss vorliegen, damit der Produktionsprozess an sein Ziel gelangt, der Konsument seine Funktion erfüllen kann, nämlich die Herstellung eines Gedichts? Der Produktionsprozess moderner Lyrik zielt auf die Herstellung überdeterminierter, selbstbezüglicher, komplexer und hermetischer repräsentationaler Strukturen aus sprachlichem Material. Sie sind in hohem Maße interpretationsbedürftig. Eine Möglichkeit, Strukturen dieser Art zu erzeugen, besteht darin, ein Gedicht als ein reiches Netz von Korrespondenzen zur Kulturgeschichte, zur lyrischen Tradition, zu unterschiedlichen Sprachen und zum eigenen Schaffen herzustellen. Dieses Netz kann bisweilen nur aufgrund von Stichworten ausgebildet werden oder aufgrund gelehrter Selbstkommentare. Der Bezug zum eigenen Schaffen wird etwa durch ein eigenes System an Schlüsselworten oder durch eine private Mythologie ermöglicht. Diese Verstandes. Demgegenüber bezeichnete Valéry das Gedicht als das Fest des Verstandes. Vgl. Friedrich 1956: 108ff. 175 Benn 1968, Bd. 4: 1071, vgl. 1108f. Vgl. auch Friedrich 1957: 111. 176 Benn etwa verweist auf „Sonntage in der Bellealliancestrasse, an denen ich mit Hilfe einiger Tassen den ganzen Tag verbrachte u. die Sätze und Träume des Garten von Arles, u. des Modernen Ich u. des Letzen Ich mir aus den coffeinerweichten Gefässen des Hirns u. der Haut spielend hervorzauberte.“ (Brief an Oelze, 5.7.1942) 83 Korrespondenzen folgen offensichtlich weniger Korrespondenzregeln, als vielmehr Korrespondenzassoziationen.177 Solche Korrespondenzen mit Bezugssystemen verleihen dem modernen Gedicht das Gesicht von Überdetermination, Selbstreferentialität und Hermetik. Sie werden deshalb von den Protagonisten der modernen Lyrik als monologisch oder bedeutungslos betrachtet. So meint Wallace Stevens: „A poem need not have a meaning and, like most things in nature, often does not have.“178 Und Benn schreibt m.E. im gleichen Sinne: „Das moderne Gedicht, das absolute Gedicht ist das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, ein Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren.“179 Benn scheint hier der Ansicht Ausdruck geben zu wollen, dass das Gedicht nicht nur monologisch sei, sondern auch keine kommunikative Funktion habe. Doch dieser Eindruck täuscht. Der Dichter montiert nicht fasziniert, sondern auf faszinierende Weise und die Leser faszinierend. Deshalb kann auch der modernen hermetischen oder monologischen Lyrik eine kommunikative Funktion zukommen. Worin besteht diese Funktion? 1941 versucht Stevens in einem Vortrag eine Antwort auf die Frage zu geben, worin die Funktion des Dichters bestehe: „What is the function of the poet? Certainly it is not to lead people out of the confusion in which they find themselves. Nor is it, I think, to comfort them while they follow their leaders to and fro. I think that his function is to make his imagination theirs and that he fulfils himself only as he sees his imagination become the light in the minds of others. His role, in short, is to help people to live their lives.“180 Für Stevens ist ein Gedicht Ausdruck der Person eines Dichters,181 was wir durchaus im Sinne des oben skizzierten Zusammenspiels von Produzent und Konsument auf der Seite des Produktionsprozesses verstehen dürfen. Die Funktion von Gedichten stimmt deshalb mit der Funktion des Dichters überein. Stevens spricht hier darüber, was ihm zufolge die wirkliche Funktion des Dichters und des Gedichtes ist. Er spricht über das, wozu Gedichte da sind, und über das, warum Gedichte sich entwickelt und erhalten haben. Er spricht, mit anderen Worten, über die Echte Funktion von Gedichten. Die Eingangsstrophe zu Benns „Der Sänger“ (1925) zur Veranschaulichung des Gemeinten: „Keime, Begriffsgenesen, / Broadways, Azimut, / Turf- und Nebelwesen, / mischt der Sänger im Blut, / immer in Gestaltung, / immer dem Worte zu / nach vergessen der Spaltung / zwischen ich und du.“ (Benn 1968, Bd.1: 59) 178 Stevens 1997: 914. In „The Motive for Metaphor“ (1947) variiert Stevens dasselbe Thema: „You like it under the trees in autumn, / Because everything is half dead. / The wind moves like a cripple among the leaves / And repeats words without meaning.“ (Stevens 1997: 257) 179 Benn 1968, Bd. 4: 1089, 1111. 180 Stevens 1997: 660f. 181 So auch Benn 1968, Bd. 4: 1073f. 177 84 Stevens Gedanke, dass die Erfüllung des Dichters darin bestehe, dass seine Vorstellungskraft zum Licht im Geist der Leser werde, kann man so verstehen, dass der Leser den scheinbar bedeutungslosen, überdeterminierten, selbstreferenziellen und hermetischen repräsentationalen Strukturen, die der Dichter ihm vorlegt, eine Bedeutung verleiht. Dem Leser geht förmlich ein Licht auf, und es handelt sich deshalb um dasselbe Licht, das die Vorstellungskraft des Dichters erleuchtet haben muss, weil es die von ihm geschaffenen Strukturen und deren Korrespondenzen mit Bezugssystemen sind, die der Leser aufdeckt und in einen Zusammenhang bringt, der dem Gedicht eine Bedeutung verleiht. Der Dichter verhilft den Leuten dadurch ihr Leben zu leben, dass er ihre Vorstellungskraft mit Bildern und Bezügen belebt.182 Das Gedicht löst so die Vorstellungskraft vom „Realitätsdruck“ (pressure of reality). Stevens bemüht sich, diesen Begriff klar zu fassen: „By the pressure of reality, I mean the pressure of an external event or events on the consciousness to the exclusion of any power of contemplation. […] We are confronting, therefore, a set of events, not only beyond our power to tranquilize them in the mind, beyond our power to reduce them and metamorphose them, but events that stir the emotions to violence, that engage us in what is direct and immediate and real.“183 Das Gedicht als Reaktion auf den aktuellen Realitätsdruck (the pressure of the contemporaneous) führt jedoch nicht zum Eskapismus, sondern im Gegenteil zum Gegendruck, zum Widerstand gegen den Druck: „Resistance is the opposite of escape.“184 Die Echte Funktion des modernen Gedichts besteht also darin, dass es die Vorstellungskraft der Leser und damit den Leser mit Bildern und Bezügen belebt, gegen den aktuellen Realitätsdruck. Die moderne Lyrik erhält ihre Funktion unter den verschärften Bedingungen der modernen Welt, die mehr Information, mehr Veränderung, mehr Katastrophe, mehr Ausdifferenzierung und mehr Risiken in kürzerer Zeit mit sich bringt. Sie erzeugt deshalb scheinbar bedeutungslose, überdeterminierte, selbstreferenzielle, hermetischen Strukturen, deren Interpretationsbedürftigkeit die Vorstellungskraft so aktivieren, wie sie diejenige des Dichters aktiviert haben, nur dass der Dichter von den Bezugssystemen zur Struktur schreitet. Der Leser geht den umgekehrten Weg.185 Im Idealfall erreicht der Dichter beim Leser eine der seinen verwandte Verwandlung: 182 Der Lyriker erleuchtet sowohl Bilder und Bezüge, die unser Leben strukturieren können, als auch den Zusammenbruch dieser Bilder und Bezüge (vgl. Longenbach 1991: 97). 183 Sevens 1997: 654ff. Ähnlich auch Benn 1968, Bd. 4: 1069, 1087f. 184 Stevens 1997: 788. 185 Das Lesen gleicht darin dem „reverse engeneering“: Man hat eine komplexe, aber völlig fremde Maschine vor sich, weiß jedoch nicht, wozu sie gut ist. Oder man hat eine Maschine vor sich, die etwas Bestimmtes tut, und nun möchte man wissen, wie der Mechanismus dies fertig bringt. Ähnlich verhält es sich beim Lesen moderner Lyrik. 85 „Suppose the poet discovered and had the power thereafter at will and by intelligence to reconstruct us by his transformations.“186 Der Dichter ist der Produzent des Gedichts (etwas schleudert Verse hervor, etwas prüft und bearbeitet sie) und die Vorstellungskraft des Lesers dessen Konsument. Die Bedingungen, mit denen ein modernes Gedicht assoziativ korrespondieren muss, damit es seine Funktion erfüllen kann (nämlich die Vorstellungskraft des Lesers mit Bildern und Bezügen gegen den verschärften aktuellen Realitätsdruck zu beleben) sind die kulturellen und privaten Bezugssysteme der lyrischen und kulturellen Tradition oder der lyrischen und kulturellen Person des Dichters. Die Bedingungen müssen vorliegen, um die Vorstellungskraft der Leser (und damit den Leser selbst) mit Bildern und Bezügen gegen den aktuellen Realitätsdruck zu beleben. Wie andere Repräsentationssysteme auch weist die Lyrik der Moderne eine (a) normative Dimension auf, ist (b) auf einen Konsumenten verwiesen und ist (c) wesentlich auf die eigene Geschichte bezogen. (a) Die Belebung der Vorstellungskraft der Leser mit Bildern und Bezügen gegen den aktuellen Realitätsdruck muss dem modernen Gedicht nicht immer gelingen. Oft versagt es darin, weil das Gedicht zu hermetisch oder zu schlecht ist, weil der Leser unaufmerksam, nachlässig oder uninteressiert ist, weil seine Kräfte nicht ausreichen oder versagen, weil die Umstände es nicht zulassen. Aber es handelt sich um die Echte Funktion des Gedichts, nämlich um dasjenige, was es tun soll, und nicht um das, was es tut. Das schlechte Gedicht imitiert die überdeterminierte, selbstreferenzielle, hermetische Erscheinung des modernen Gedichts, ist jedoch arm an Korrespondenzen und Assoziationen oder verfährt willkürlich mit ihnen. Oder es ist überreich an Korrespondenzen und Assoziationen und erstickt die Vorstellungskraft des Lesers. Oder es bietet keinen Anhaltspunkt an, der dem Leser Kontemplation erlaubt. (b) Die Äußerung von Valéry können wir so verstehen, dass das moderne Gedicht in erster Linie eine hoch komplexe repräsentationale Struktur ist, die die Funktion hat, die Vorstellungskraft des Leser auf bestimmte Weise in Gang zu setzen. Zwar hat das Gedicht als komplexe repräsentationale Struktur einen repräsentationalen Inhalt, aber als Gedicht hat es keinen intentionalen Inhalt. Erst der Konsument, die Vorstellungskraft des Lesers, verleiht diesen Strukturen einen intentionalen Inhalt. (c) In seiner Funktion, die Vorstellungskraft der Leser mit Bildern und Bezügen gegen den Realitätsdruck zu beleben, versucht das moderne Gedicht, der Vorstellungskraft des Lesers sozusagen nichts hinzuzusetzen, außer sich selbst, ebenso wie das Licht, außer sich selbst, den Dingen nichts 186 Stevens 1997: 670. Vgl. auch Benn 1968, Bd. 4: 1157: „Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert.“ 86 hinzufügt.187 Doch dazu muss die Lyrik autonom sein und sich beispielsweise aus Gebrauchssituationen lösen. (Deshalb spricht Benn vom modernen Gedicht als absolutem Gedicht.) Dieser Prozess der Ausdifferenzierung ist ein historischer Prozess, in dem die Echte Funktion moderner Lyrik entstehen konnte. Die kulturelle Ko-Evolution von Produzent und Konsument besteht einerseits darin, dass jene Leser, die ihre Vorstellungskraft mithilfe von Lyrik tatsächlich aufleuchten lassen, selektiv auf die lyrische Gesamtproduktion reagieren, andererseits darin, dass bestimmte „starke Dichter“188 den Geschmack der Vorstellungskraft des Lesers erst ausbilden, nach dem die weiteren Werke dieser starken Dichter sowie die Versuche ihrer Nachfolger beurteilt werden. Es mag durchaus sinnvoll sein, die hier skizzierte biosemantische Interpretation durch Spekulationen über die evolutionäre Funktion von Dichtern und Dichtungen zu unterlegen.189 Aber dass ist nicht meine Aufgabe. Es ging vielmehr um die Anwendbarkeit des am Paradigma der Bienentänze entwickelten biosemantischen Modells auf solch hochkomplexe, äußere repräsentationale Strukturen wie es die Werke der modernen Lyrik sind auf der einen und auf solch primitive, innere repräsentationale Strukturen, wie sie Bakterien aufweisen, auf der anderen Seite. Vgl. Benn 1968, Bd. 4: 1064 über „Artistik“. Vgl. Bloom 1995. 189 Solche Versuche finden sich bei Carroll 1995; Eibl 2004; Gottschall und Wilson 2005. Ich komme auf dieses Thema im Zusammenhang mit dem Problem der Echten Funktion von singulären und neu erschaffenen Artefakten in Kapitel 3 zurück. 187 188 87 88 1.2. Rekontextualisierung der Biosemantik 1.2.1. Pragmatistische Semiotik und Sellars Das erklärte Ziel von LTOBC ist die Entwicklung einer allgemeinen Zeichentheorie. Warum möchte Millikan eine Zeichentheorie entwickeln? Warum findet sie das Paradigma für ihre semiotische Theorie in einem tierlichen Verhalten, nämlich dem Bienentanz? Und warum behauptet Millikan das Folgende? „Our language is in deep respects just like any other animal’s communication system, its forms embodying analogues to evolutionary stable solutions to coordination problems. Its functions derive from what its forms – words, syntactic structures, and so forth – do for speakers and hearers so that they continue to be reproduced by speakers and consistently understood by hearers.“190 Um diese Fragen zu beantworten zu können, muss man die Biosemantik in einem ihr angemessenen philosophischen Kontext lokalisieren. Als Zeichentheoretikerin führt Millikan bestimmte Ansätze des amerikanischen Pragmatismus weiter. Erstens sei die Biosemantik eine allgemeine Zeichentheorie „roughly in the sense C. S. Peirce envisioned – a theory that covers conventional signs and thoughts (as well as some other things)“.191 Zweitens ist LTOBC dem Semiotiker Charles W. Morris gewidmet. Die Widmung verweist auf Morris’ „groundbreaking Signs, Language, and Behavior“. Millikans Biosemantik setzt, wie ich zeigen werde, bei Morris’ Vorhaben an, Peirce Semiotik mit Meads Kommunikationstheorie zu verbinden.192 Millikan ist jedoch auch eine kritische Schülerin von Sellars. Die Biosemantik versucht Sellars’ systematisches Projekt eines normativen Naturalismus auf eine Basis natürlicher Normen zu stellen.193 Um den angemessenen Kontext herstellen und den systematischen Anspruch der Biosemantik würdigen zu können, muss Millikans Ansatz vor diesen beiden Hintergründen betrachtet werden. Der Kontext ist angemessen, weil er Millikans Arbeiten entnommen ist. Wichtig ist auch der Umstand, dass die vorgeschlagene Rekontextualisierung die irreführende Assoziation mit dem Physikalismus oder Fodors Psychosemantik auflöst.194 WQP: 10. LTOBC: 6. Vor dem Hintergrund der ausdrücklichen Absicht, eine allgemeine Theorie der Zeichen zu konstruieren, ist die Aussage nicht verwunderlich, wenn auch sicher übertrieben, dass „Ruth Millikan has been engaged in reinventing Peirce’s wheel“. (Short 2007: 303). Short möchte jedoch nicht sagen, dass Millikan ihre Ideen Peirce verdanke, dazu sei sie eine zu offensichtlich originelle Denkerin (Short 2007: 303n5). Für systematische Bezüge zwischen Millikanscher Biosemantik und Peircescher Zeichentheorie vgl. auch Kappner 2004: VII. 192 Vgl. Morris 1938. 193 Vgl. O’Shea 2007. 194 Auch Godfrey-Smith 1994a, 1996 stellt eine enge Verbindung zwischen Teleosemantik und Pragmatismus her, er bezieht sich dabei jedoch weniger auf die Semiotiker wie Peirce und Morris als auf James und 190 191 89 Die pragmatistische Tradition, in der die Biosemantik steht, wird zu eng gefasst, wenn man mit Pragmatismus die instrumentalistische Auffassung assoziiert, dass Überzeugungen sowohl semantisch als auch epistemisch im Hinblick auf ihre Rolle zur Wunscherfüllung oder Problemlösung bewertet werden müssen. Sie wird hingegen zu weit gefasst, wenn man unter Pragmatismus einfach eine heterogene Bewegung versteht, „der es in erster Linie um den Vorrang des Praktischen geht“.195 Kennzeichen des Pragmatismus ist es Morris’ zufolge vielmehr, „dass eine wesentliche Verbindung besteht zwischen Bedeutung und Handlung, so dass das Wesen der Bedeutung nur mit Bezug auf die Handlung geklärt werden kann.“196 Morris lässt jedoch den einengenden Begriff „Handlung“ fallen und spricht zunächst allgemeiner von „Verhalten“. Die mit dem Verhalten verbundene Bedeutung wird als Bedeutung von Zeichen verstanden, denn die Annahme ist plausibel, dass die Existenz von Bedeutungen an die Existenz von Zeichen gebunden ist. Der Begriff des Zeichens wird traditionell dem Bereich der sprachlichen Kommunikation entnommen. Morris stellt diesen Begriff jedoch auf die Basis des kommunikativen Verhaltens, ausgehend von biologischen Gemeinsamkeiten der Zeichenverwendung bei Tier und Mensch.197 Dabei geht er, wie es bereits Peirce tut, nicht vom Zeichen als solchem aus, sondern vom Prozess der Zeichenverwendung, von der „Semiose“.198 Die Semiose ist ein Prozess, in dem etwas für ein Lebewesen ein Zeichen sein kann oder zu einem Zeichen wird.199 Es geht also nicht nur um eine Strukturanalyse des Zeichens, sondern um die Bedingungen für die Zeichenverwendung durch Lebewesen. Da im Rahmen von Peirce Semiotik das Sein von Zeichen konstitutiv an die Zeichenverwendung gebunden ist, geht es mithin um die biologischen Bedingungen der Möglichkeit von Zeichen. insbesondere auf Dewey. Für ein weiter gehendes Vorhaben ist diese Kontextualisierung auch deshalb von Bedeutung, weil sie es stattdessen nahelegt, Millikans Biosemantik und Brandoms Sozialpragmatismus als Kinder derselben Geister zu betrachten. 195 Brandom 2000a: 29. Die instrumentalistische Charakterisierung trifft auf die Teleosemantik Papineaus zu. Sie engt aber die pragmatistische Tradition auf den Blickwinkel Rortys ein. Die weite praktizistische Charakterisierung umfasst nicht nur Denker von Kant bis Brandom, sondern umfasst auch Marxisten und Existenzialisten. 196 Morris 1977: 202. 197 Morris 1946: I-II, vgl. Fiordo 1977: III. 198 Grundsätzlich meint „Semiose“ die Interpretation von Zeichen, doch der Ausdruck „Interpretation“ ist zu stark an die Vorstellung eines impliziten oder expliziten Verstehens von nicht-natürlichen Zeichen geknüpft. Demgegenüber will der Ausdruck „Semiose“ den Prozess der Zeichenverwendung nicht auf intentionale Akteure und artifizielle Zeichen beschränken, sondern beispielsweise auch biologische Prozesse einbeziehen. Peirce scheint den Ausdruck „semiosis“ aus eben diesem Grund eingeführt zu haben. Er war wohl „the first clearly to perceive that the proper subject matter for such inquiry is not so much the being of signs as it is the action such being gives rise to and depends upon for its sustenance throughout […], to which he gave the name ‘semiosis’.” (Deely, zitiert in Kappner 2004: 156 n164). 199 Morris 1946: 366: „…the process in which something is a sign to some organism.“ 90 Da es keine Bedeutung ohne Zeichen geben kann, ist der Pragmatismus wesentlich „eine auf der Grundlage einer verhaltensorientierten Semiotik errichtete Philosophie“.200 Der Pragmatismus baut somit auf einem semiotischen Behaviorismus auf. „Semiotischer Behaviorismus“ ist der Name für Morris’ Vorhaben, das mir im Hinblick auf die Biosemantik wichtig scheint.201 Der Name ist nicht gewählt um eine Nähe zum Klassischen Behaviorismus zu suggerieren, sondern aufgrund der besonderen Betonung des Verhaltens für die Semiose. Ein zweiter Grund für diese Bezeichnung besteht darin, dass sie es im Rahmen der angestrebten Rekontextualisierung der Biosemantik erlaubt, eine Verwandtschaft zu Sellars’ „Verbalem Behaviorismus“ herzustellen. Die Grundlage der Meadschen Sozialpsychologie wird als „Sozialer Behaviorismus“ bezeichnet. So trägt Meads posthum erschienenes Werk Mind, Self and Society den Untertitel: „From the standpoint of social behaviorism“. Dieser Ausdruck scheint nicht von Mead zu stammen, sondern vom Herausgeber dieses Werks, nämlich von Morris. Man hat diesem „act of creative editing“ vorgeworfen, dass er eine unglückliche Nähe zum Klassischen Behaviorismus suggeriere.202 Es ist deshalb angebracht, auf die drei Momente hinzuweisen, die diese drei Spielarten des Behaviorismus vom klassischen Behaviorismus eines Watson oder eines Skinner unterscheidet.203 Erstens ist für den Pragmatismus nicht der isolierte Organismus, der auf eine festgelegte physische Umwelt reagiert, das Paradigma des Verhaltens, sondern interagierende Organismen, die auf eine soziale Umwelt reagieren,204 bzw. Organismen, die nicht nur auf ihre physische Umwelt reagieren, sondern sowohl ihre soziale als auch 200 Morris 1977: 203. Morris’ Charakterisierung trifft in dieser allgemeinen Form sicher auch auf Millikans Biosemantik zu, aber nicht auf die Psychosemantik. Fodor (2004) zufolge behauptet der Pragmatist, dass das Haben von Begriffen eine Angelegenheit epistemologischer Fähigkeiten sei: S hat den Begriff B für X, wenn S (praktisch oder theoretisch) weiß, wie man Xe von Nicht-Xen unterscheidet oder die für B relevanten Inferenzen ziehen kann. Demgegenüber behaupte der Cartesianer, das Haben von Begriffen sei eine intentionale Angelegenheit: S hat den Begriff B, wenn S über Xe nachdenken kann, und wenn S über Xe nachdenken kann, hat S B. Nun ist Millikan sicher der Ansicht, dass Begriffe Fähigkeiten (abilities) sind (OCCI: III-V), sie ist aber auch der Ansicht, dass das Nachdenken über X eine Tätigkeit ist (OCCI: VII). Brandom (2000: 4) unterscheidet einen begrifflichen Pragmatismus, der den Inhalt von Begriffen durch ihren Gebrauch erklärt, von einem begrifflichen Platonismus, der umgekehrt den Gebrauch von Begriffen durch deren Inhalte erklärt. Millikan ist sicher der Ansicht, dass der Inhalt intentionaler Zeichen durch deren Gebrauch bestimmt wird, sie ist aber auch der Ansicht, dass die repräsentationalistische Dimension intentionaler Zeichen auf Wahrheitsbedingungen angewiesen ist. Obwohl die Biosemantik also im Hinblick auf Fodors und Brandoms Unterscheidung eher auf der pragmatistischen Seite zu liegen kommt, streckt sie sich doch über die Trennung hin aus. 201 So auch nach Apel 1976: 193. 202 Cook: 72. Mead bezeichnet seine Theorie jedoch selbst als behavioristisch, etwa im Aufsatz „A behavioristic account of the significant symbol“ (1922) und Morris ist sich der Unterschiede zwischen Mead und dem klassischen Behaviorismus durchaus bewusst (Morris 1977: 326f.). Morris beschreibt sein Projekt bisweilen als „Behavioristik“ und deren Vertreter als „behavioristicians“ (Morris 1946: 18) Diesen hässlichen Ausdruck übernimmt er von Otto Neurath, um sich vom klassischen Behaviorismus abzugrenzen. 203 Ich werde im Anschluss an die Diskussion von Morris’ Zeichenbegriff auf einen wichtigen vierten Unterschied zu sprechen kommen (vgl. 1.2.5.). 204 Habermas 1981, Bd. 2: 13. 91 physische Umwelt im Verhalten mitgestalten.205 Zweitens wird ein Organismus nicht methodisch als „tabula rasa“ betrachtet, sondern als Mitglied einer Art, das als solches mit einer Reihe angeborener, gattungsspezifischer Verhaltensweisen ausgerüstet ist.206 Drittens wird von inneren mentalen Zuständen nicht rundweg abgesehen, sondern diese Zustände werden als Internalisierung der kommunikativen Interaktion rekonstruiert. Für Mead und Peirce ist Denken ein Mit-sich-reden, das Mit-sich-reden aber ein internalisiertes Miteinander-reden.207 Sowohl der Pragmatismus als auch das Werk von Sellars werden (auf unterschiedliche Art) vor dem Hintergrund der Kantischen Transzendentalphilosophie gelesen.208 Wie ich versucht habe plausibel zu machen, ist die Biosemantik eine nicht transzendentalphilosophische, sondern naturalistische Antwort auf Kants Frage nach dem Grund der „Beziehung desienigen [sic], was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“. Morris’ semiotischer Behaviorismus suggeriert jedoch eine biologische Antwort auf Kants Frage. In dieser Hinsicht versucht also die Biosemantik zu erfüllen, was Habermas vom Naturalismus gefordert hat, nämlich Kant und Darwin zu vereinbaren.209 1.2.2. Peirce: Anticartesianismus und Semiotik In seinen frühen Aufsätzen aus dem Jahr 1868 attackiert Peirce grundlegende Überzeugungen seiner philosophischen Vorgänger.210 Als Inbegriff dieser Überzeugungen betrachtet Peirce Descartes. Descartes habe die Philosophie durch die Fokussierung auf eine fundamentalistische und am Streben nach Gewissheit orientierte Epistemologie auf die falsche Fährte gesetzt.211 Peirce charakterisiert den Cartesianismus durch eine Reihe von Thesen, die er auf das Schärfste attackiert. Zu diesen Thesen gehört, dass die Philosophie bei einem globalen Zweifel ansetzen müsse, dass das Fundament der Gewissheit im Selbstbewusstsein gefunden werden könne, dass der Rückgriff auf ein Absolutes Dieser letzte Punkt wird insbesondere von Dewey hervorgehoben. Vgl. dazu Godfrey-Smith 1996: V mit dem Ttiel „On construction“, das im Rahmen der Evolutionstheorie der Auffassung entgegen tritt, Organismen seien das Produkt einer passiven Anpassung an eine vorgegebene Umwelt (vgl. im Abschnitt 3.2.5. die Ausführungen über Nischenkonstruktion). 206 Vgl. dazu die Abschnitte 3.3.1.-3.3.3. 207 Tugendhat 1979: 248f. 208 Vgl. zu Peirce Apel 1976; Habermas 1981; Schönrich 1990; zu Sellars Haag 2007; McDowell 2009b. 209 Habermas 1988: 28, 53. 210 Es handelt sich v.a. um „Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man“ und „Some Consequences of Four Incapacities“ (vgl. Peirce 1967: I-II). 211 Auch Dewey, Rorty, Williams, McDowell oder Brandom werden Descartes behaften. Es spielt in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle, ob diesen Auffassungen ein adäquates Verständnis dieser Philosophen zugrunde liegt, was oftmals nicht der Fall ist. Denn es geht weniger um historische Wahrheit oder um adäquate Exegese, sondern um die Konstruktion eines philosophiehistorischen Narrativs, das uns sehen lassen soll, wie und warum die Philosophie auf eine falsche Fährte gelangt ist. 205 92 Wissensansprüche garantieren solle und dass das Denken entweder durch Intuition oder Deduktion zu charakterisieren sei. Diese vier Thesen definieren den „Geist des Cartesianismus“.212 Dagegen stellt Peirce vier für den Pragmatismus äußerst einflussreiche negative Thesen auf, die den Kerngedanken seiner Semiotik umreißen. Die Semiotik ist Peirces konstruktive Austreibung des „Geistes des Cartesianismus“:213 „1. We have no power of introspection, but all knowledge of the internal world is derived by hypothetical reasoning from our knowledge of external facts. 2. We have no power of intuition, but every cognition is determined logically by previous cognitions. 3. We have no power of thinking without signs. 4. We have no conception of the absolutely incognizable.“214 Es ist leicht zu sehen, dass mit diesen Thesen eine philosophische Auffassung präfiguriert wird, die der Perspektive der dritten Person gegenüber derjenigen der ersten Person den Vorzug gibt (1. These), ein Gegebenes außerhalb des Raums der Gründe verwirft (2. These), und die Denkbarkeit eines Bezugs auf ein Ding-an-sich bestreitet (4. These). Das von diesen Thesen geteilte Grundmotiv ist die Vermitteltheit subjektiven (1. These), intersubjektiven (2. These) und objektiven Wissens (4. These). Das vermittelnde Element ist stets das Zeichen, ohne das wir nicht denken können (3. These). Die dritte These („We have no power of thinking without signs“) bildet in den Augen von Morris das Fundament des Pragmatismus. Diese These ist keine These über Gedanken schlechthin, sondern über Gedanken für uns. Warum? Nun, dies ist eine direkte Folge der Ablehnung des „Geistes des Cartesianismus“. Wir haben keinen unmittelbaren introspektiven Zugang zu unserem Denken. Gedanken müssen aus der Perspektive der dritten Person betrachtet werden. Sie können nur als äußere oder veräußerte überhaupt von uns erkannt werden. Somit ist die einzige für uns erkennbare Art des Denkens ein Denken in Zeichen. Doch ein Denken, das nicht erkannt werden könnte, existiert nicht für uns. Daher muss alles Denken (für uns) ein Denken in Zeichen sein. „1. [The spirit of cartesianism] teaches that philosophy must begin with universal doubt; whereas scholasticism had never questioned fundamentals. 2. It teaches that the ultimate test of certainty is to be found in the individual consciousness; whereas scholasticism had rested on the testimony of sages and of the Catholic Church. 3. The multiform argumentation of the middle ages is replaced by a single thread of inference depending often upon inconspicuous premisses. 4. Scholasticism had its mysteries of faith, but undertook to explain all created things. But there are many facts which Cartesianism not only does not explain but renders absolutely inexplicable, unless to say that ‘God makes them so’ is to be regarded as an explanation.“ (CP 5.264; Peirce 1967: 40) 213 Hans Joas weist auf zwei Motive der Renaissance des Pragmatismus hin: „Zum einen wird erkannt, in welch radikaler Weise der Pragmatismus den cartesianischen Denkrahmen der neuzeitlichen Philosophie in Frage stellt, ohne dabei irrational zu werden. […] Zum anderen wird deutlich, dass der Pragmatismus als konstruktiven Ausweg aus der Destruktion des cartesischen Rahmens eine allgemeine Zeichentheorie entwickelt, die gleichwohl mit der Zeichentheorie des französischen Strukturalismus kaum Ähnlichkeit hat.“ (Joas 1992: 68) 214 CP 5.265; Peirce 1967: 42f. 212 93 Trotz aller Veränderungen und Verästelungen ist Peirces Begriff des Zeichens stabil geblieben.215 Ein Zeichen ist ein Relatum in einer triadischen Relation, die zusätzlich das bezeichnete Objekt und den Interpretanten umfasst. Bedeutung ist keine direkte Relation zwischen Zeichen und Objekt, sondern eine über den Interpretanten vermittelte Relation. „A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity. It addresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign which it creates I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its object.“216 Ein Zeichen ist also etwas, das von einer Person als Zeichen (als für etwas stehend) verstanden wird. Verstehen meint hier, dass die Person auf etwas aufmerksam wird, einen Schluss zieht, mit einem Ausruf reagiert, in Furcht gerät, wegrennt usw. Dieses Verstehen wiederum ist selbst ein Zeichen, und kein ominöser immaterieller Akt im Geist der Person. Ein Zeichen steht also in bestimmter Hinsicht für etwas, indem es im Geist einer Person eine Interpretation hervorruft. Peirce ist der Auffassung, dass das Zeichen den Interpretanten determiniere. Diese Determination ist weniger kausal zu verstehen, sondern so, dass ein Interpretant die Art und Weise, wie ein Zeichen ein Objekt repräsentiert, für irgendeine nützliche Tätigkeit benutzen kann. In späteren Schriften wird Peirce zusehends betonen, dass ein Zeichen stets eine Verhaltenstendenz eines Wesens involviere, für den es Zeichen ist.217 Die nützliche Tätigkeit, die das Wesen aufgrund eines Zeichens verrichten kann, ist deshalb primär ein Verhalten. Eine Verhaltenstendenz nennt Peirce „Gewohnheit“.218 Peirce hat früh behauptet, „that the whole function of thought is to produce habits of action“. Die Bedeutung (meaning) eines Gedankens bestimmten heiße mithin „to determine what habits it produces, for what a thing means is simply what habits it involves“.219 Doch erst in den späteren Schriften wird der Interpretant konstant und ausdrücklich als Gewohnheit und Verhaltenstendenz gefasst. Da es ein Denken ohne Zeichen (für uns) nicht geben kann und die Bedeutung eines Gedankens in einer Verhaltenstendenz besteht, muss die Bedeutung eines Zeichens durch die Verhaltenstendenzen bestimmt werden. Aus diesem Grund meint Morris, der Pragmatismus sei wesentlich eine verhaltensorientierten Semiotik errichtete Philosophie. Short 2007: 30. CP 2.228; vgl. auch CP 5.283; Peirce 1967: 54. 217 Vgl. Morris 1977: 209. 218 Vgl. CP 5.486; Peirce 1967: 522. 219 CP 5.400; Peirce 1967: 192f. 215 216 94 auf der Grundlage einer Peirces oben zitierte Definition beschränkt Zeichen offenkundig nicht auf sprachliche Zeichen. Doch sie nimmt Bezug auf den Geist einer Person, was die Anwendbarkeit des Zeichenbegriffs nicht nur beschränkt (tierliche Signale würden nicht darunter fallen), sondern auch den so vehement zurückgewiesenen „Geist des Cartesianismus“ heraufbeschwört. Die Definition ist darüber hinaus defekt, weil sie den Begriff des Zeichens zur Charakterisierung des Interpretanten wieder verwendet. Schließlich fehlt der Definition sowohl jeder Bezug auf die Möglichkeit der Fehlrepräsentation (und mithin des intentionalen Inhalts) und auf die Rolle des Verhaltens. In dieser Form reicht die Definition nicht aus um das zentrale Element in einer verhaltensorientierten Semiotik zu sein. Die hier skizzierten Desiderata werden von Morris gegen Peirces Definition des Zeichens erhoben und bilden den Ausgangspunkt seiner Fortführung der Semiotik.220 Millikans Biosemantik schließt nicht nur an Peirces Zeichenbegriff an, sondern formuliert auch einige der von Morris monierten Desiderata: „Many naturalistic accounts [of intentionality] describe the relation of a representation to what it represents as a simple diadic relation. This is true, for example, of classical causal or covariational theories, of classical informational theories and of classical picture theories. C.S.S. Peirce, on the other hand, claimed that the representing relation is essentially triadic, involving first the representation (a ‘sign’), second something represented, and third an ‘interpretant’. If producing inner representations benefits an organism, presumably this will be because the organism uses them in some way. There must be a part of the organism, or some activity of the organism, that understands or interprets these representations. Peirce spoke of the interpretant of a sign as being another sign, but taking this at face value would produce a regress. The interpreter of an inner sign cannot be supposed merely to translate the sign into another inner sign which is again translated, and so forth. ‘Interpreting’ a sign must ultimately consist in some independently useful activity.“221 Trotz dieser Vorbehalte dürfte deutlich geworden sein, dass die Konsumentenorientierung der Biosemantik, die sie von anderen Formen der Naturalisierung der Intentionalität unterscheidet, im Wesentlichen die Grundstruktur des Peirceschen Zeichenbegriffs aufnimmt. Der Konsument ist nichts anderes als der Interpretant, und die Echte Funktion, die ein Konsument nur erfolgreich ausüben kann, wenn ein Zeichen bestimmter Art vorliegt, ist nichts anderes als die Verhaltenstendenz.222 Vgl. Morris 1946: 287ff.; Morris 1977: 204f. Millikan 2009a: 396. 222 Vgl. dazu auch die Definition des Peirceschen Interpretanten, wie sie Short 2007: 158 rekonstruiert. 220 221 95 1.2.3. Mead: Kommunikation und Bedeutung Ein zweiter wichtiger Schritt zum Semiotischen Behaviorismus ist Meads Analyse des gebärdensprachlichen Gestenzeichens, die „die verhaltensorientierte Natur des Interpretanten zur Basis machte, auf die sich Peirces Semiotik zubewegte“.223 Wie Peirce setzt sich auch Mead vom „Geist des Cartesianismus“ ab. Sein inhaltliches Ziel ist die Rekonstruktion einer sozialen Genese des Selbstbewusstseins.224 Sein methodisches Ziel ist die Grundlegung eines überprüfbaren Gegenstandsbereichs für die Psychologie und die Soziologie, der zwar beim Verhalten ansetzt, dabei aber nicht stehen bleibt, sondern das mentalistische Innere als Produkt kommunikativen Sozialverhaltens zu fassen versucht. Mead geht dabei vom Modell interagierender und kommunizierender Organismen aus, weil das Sozialverhalten, im Unterschied zur Reaktion auf physische Ereignisse, auf ein Gebiet führe, „in dem das Bewusstsein eigener Haltungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer verhilft“.225 Ein Wesen A, das die Reaktionen eines Wesens B auf sein Verhalten antizipiert, vermag B besser zu kontrollieren. Die Antizipation der Reaktion von B auf das Verhalten von A verlangt jedoch die Fähigkeit, dass A gegenüber seinem eigenen Verhalten eine ähnliche Einstellung einnimmt wie B. A hat gegenüber B in einer solchen Situation Anpassungsvorteile. Es ist deshalb nicht plausibel, dass es einen selektiven Druck für die Selektion nach dieser Fähigkeit gibt. A erfährt sich also nicht direkt, sondern indirekt. A wird ein Objekt für sich, indem A die Reaktion bzw. die Einstellung von B auf sich übernimmt bzw. einnimmt. Dies ist der erste Schritt zu einem kommunikativ generierten Selbstbewusstsein.226 Mead unterscheidet eine vorsprachliche Gestensprache (conversation of gestures), eine symbolisch vermittelte Signalsprache (conversation of significant gestures) und eine normativ verbindliche artikulierte Rede.227 Beeindruckt von Darwins Evolutionstheorie,228 vertritt Mead die Ansicht, dass sich die Rede aus der Signalsprache und diese wiederum aus der Gestensprache (phylogenetisch) entwickelt habe bzw. (ontogenetisch) immer wieder entwickle. Diese Entwicklung kann auch als begriffliches Voraussetzungsverhältnis rekonstruiert werden, sodass die normativ verbindliche Rede die vorsprachliche Morris 1977: 217. Mead 1934: 138: „How can an individual get outside himself (experientially) in such a way as to become an object to himself? This is the essential problem of selfhood or of self-consciousness; and its solution is to be found by referring to the process of social conduct or activity in which the given person or individual is implicated. [...] The individual experiences himself as such, not directly, but only indirectly, from the particular standpoints of other individual members of the same social group.“ 225 Mead 1980: 219. 226 Ein Schimpanse wird Futter nur dann als erster nehmen, wenn er sieht, dass das Alphatier das Futter nicht sieht. Ein Kind kann auf sein Verhalten mit den inkriminierenden Worten seiner Eltern reagieren. 227 Vgl. Habermas 1981, Bd. 2: 15-19. 228 Vgl. Morris 1977: 197f. 223 224 96 Gestensprache begrifflich voraussetzt. Der Grund für dieses Voraussetzungsverhältnis besteht im Folgenden: Die normativ verbindliche Rede und das Denken, verstanden als Fähigkeit, sich mit anderen zu unterhalten und mit sich selbst zu reden,229 setzt eine basale Form des Selbstbewusstseins voraus. Da jedoch das Selbstbewusstsein (gegen den „Geist des Cartesianismus“) als Produkt der sozialen Interaktion verstanden werden soll, muss Mead auf eine vorsprachliche Ebene der Kommunikation zurückgreifen.230 Gesten sind jetzt nicht mehr nur Bewegungen, sondern es sind Zeichen. Wie werden Bewegungen zu Zeichen? Zentral ist wiederum das Verhältnis eines Produzenten und eines Konsumenten. Sobald ein Verhalten V eines Organismus A als Reiz für eine Reaktion R des Organismus B dient, so dient V als Zeichen Z dafür, dass ein für B wichtiger Sachverhalt vorliegt, der entweder die soziale oder die physische Umwelt von B betrifft. Betrifft V nun A (d.h. die soziale Umwelt von B), so wird V zum Anlass einer Reaktion von B, die ihrerseits wieder eine Reaktion von A auslöst. So erst entsteht ein Austausch von Gesten. Betrachten wir nur die tierliche Gestensprache, die Mead am Beispiel eines Hundekampfes illustriert: „Dogs approaching each other in hostile attitude carry on such a language of gestures. They walk around each other, growling and snapping, and waiting for the opportunity to attack […]. The act of each dog becomes the stimulus to the other dog for his response. There is then a relationship between these two; and as the act is responded to by the other dog, it, in turn, undergoes change. The very fact that the dog [A] is ready to attack another [V] becomes a stimulus to the other dog [B] to change his own position or his own attitude [R]. He has no sooner done this than the change of attitude in the second dog in turn causes the first dog to change his attitude. We have here a conversation of gestures [Z]. They are not, however, gestures in the sense that they are significant. We do not assume that the dog says to himself, ‘If the animal comes from this direction he is going to spring at my throat and I will turn in such a way.’ What does take place is an actual change in his own position due to the direction of the approach of the other dog.“231 In diesem Austausch von Gesten findet eine Kommunikation mit Zeichen statt ohne ein Bewusstsein, dass Kommunikation statt findet. Es findet auf dieser Stufe noch keine Kommunikation von Zeichen statt. Wie Mead betont, kann es sich bei diesem Austausch von Gesten noch nicht um den Austausch von bedeutsamen Zeichen handeln („They are not […] significant“). Der Grund dafür lautet nicht, dass B einfach nur auf Z reagiert, diesen Reiz nicht als Zeichen auffasst, sondern er lautet, dass A nicht ebenso wie B auf Z reagiert. Mead zufolge wird ein Austausch von Gestenzeichen erst dann zu einem Austausch von bedeutungstragenden Zeichen (conversation of significant gestures), wenn sie dieselbe Wirkung, Diese Auffassung bezeichnet Peirce als „Tuismus“. Der Tuismus ist die Ansicht, dass Gedanken stets an eine andere Person (an die Zweite Person) gerichtet sind bzw. an sich selbst als zukünftige Zweite Person. 230 Ich werde eine Argumentation dieser Art in 4.4. anhand des „Schimpansenarguments“ systematisch entwickeln. 231 Mead 1934: 14, 42f. 229 97 die sie auf B hat, auch auf A hat. Gesten werden also erst zu bedeutungstragenden Zeichen, wenn sie bei A implizit die gleiche Reaktion auslösen wie bei B. Gefordert wird also, dass so etwas wie eine identische Bedeutung von Z für A und B entsteht.232 Wie kann dies geschehen? Mead versteht den Begriff der Geste sehr weit. Er umfasst v. a. auch stimmliche Gesten, also Lautgesten, Verlautbarungen, Wortäußerungen. Stimmliche Gesten sind, wie andere körperliche Gesten auch, nichts anderes als Verhaltensweisen eines Organismus. Der Lautgeste kommt bei Mead eine besondere theoretische Rolle zu. Im Unterschied zu Körperhaltungen oder Gesichtsausdrücken wird ein Laut nämlich nicht nur von A hervorgebracht und von B gehört, sondern von A ebenso gehört, wie von B. Die Lautgeste ermöglicht also den Schritt von der bloßen Geste zur bedeutungstragenden Geste. Den Begriff des Austauschs von Gesten und der Lautgeste übernimmt Mead von Wilhelm Wundt. Im Unterschied zu Wundt werden Gesten nicht als „System von Ausdrucksbewegungen“ (von Gedanken oder Gefühlen) (behavioristisch) als Handlungsankündigungen aufgefasst. 233 verstanden, sondern Der Schritt erfolgt über die Gleichheit des Zeichen-Vehikels für die Interaktionspartner. Der Schritt von der Geste zum bedeutungstragenden Zeichen ist Mead zufolge notwendig für die Entstehung von Selbstbewusstsein, weil A infolge der Gleichheit seiner Reaktion auf Z mit der Reaktion von B auf Z, die Einstellung des Anderen übernimmt und sich so als Objekt erfährt. Beide Schritte sind wiederum notwenig für das Entstehen des Denkens. Nur in bedeutungstragenden Zeichen kann Denken vor sich gehen, Denken verstanden als ein nach innen verlegtes oder implizites Gespräch des Einzelnen mit sich selbst mit Hilfe von bedeutungstragenden Gesten und Zeichen.234 Die anticartesianische Stoßrichtung des sozialen Behaviorismus besteht natürlich darin, dass der Geist als ein Produkt eines Prozesses der kommunikativen Interaktion zwischen Organismen in einem sozialen Kontext verstanden wird. Er entsteht durch die Internalisierung des Austausches von Zeichen. Meads Ansatz enthält zahlreiche Schwierigkeiten, und er ist in der Philosophie unterschiedlich rekonstruiert worden.235 Ich werde später auf ein für mich relevantes Problem dieser Mead-Deutungen zurückkommen. Der springende Punkt in dieser Bloße Gesten „become significant symbols when they implicitly arouse in an individual making them the same responses which they explicitly arouse, or are supposed [intended] to arouse, in other individuals, the individuals to whom they are addressed.“ (Mead 1934: 47) 233 Mead hat in Leipzig bei Wundt studiert. Für einen Überblick zu Wundts Gestenklassifikation vgl. Fricke 2007: 156-160. 234 Mead 1934: 47: „Only in terms of gestures as significant symbols is the existence of mind or intelligence possible; for only in terms of gestures which are significant symbols can thinking – which is simply an internalized or implicit conversation of the individual with himself by means of such gestures – take place.“ 235 Vgl. Tugendhat 1979: XI-XII; Joas 1980; Habermas 1981, Bd. 2: 11-68; Habermas 1988: VIII; Honneth 1992: IV. 232 98 Rekonstruktion des pragmatistischen Kontextes der Biosemantik ist der Folgende: Morris zufolge macht „Meads Analyse des Gestenzeichens (ob sprachlich oder nicht-sprachlich) die verhaltensorientierte Natur des Interpretanten zur Basis […], auf die sich Peirces Semiotik zubewegte“.236 Die Gesten von A werden ja zu Zeichen für B und für A, wenn B aufgrund einer Geste von A eine bestimmte Verhaltenstendenz einnimmt und A dieselbe Verhaltenstendenz wie B einnimmt. Die Bedeutung eines Zeichens ist somit kein psychischer Zusatz, sondern kann als etwas aufgefasst werden, das sich aus unterschiedlichen Phasen eines Prozesses der kommunikativen Interaktion ergibt. Wie schließt Morris selbst an Peirces Semiotik und Meads Sozialen Behaviorismus an? 1.2.4. Morris: Semiotischer Behaviorismus Morris unterscheidet fünf Momente eines Zeichens, nämlich das Zeichen (sign-vehicle), den Interpreten (interpreter), den Interpretanten (interpretant), die Signifikation (signification) und die Bedingung (context). Die Semiose verläuft schematisch wie folgt: Ein Zeichenvehikel aktiviert in einem Interpreten einen Interpretanten für eine Signifikation innerhalb eines Kontexts. Die Semiose ist somit ein durch ein Zeichen vermitteltes Gewahrwerden einer Signifikation. Ein Interpret ist ein ganzer Organismus, der etwas als Zeichen verwendet und sich auf bestimmte Weise verhält. Der Interpretant hingegen ist eine Disposition oder eine Aktivität des Organismus. Die Signifikation betrifft im Wesentlichen „the kind of object which the sign applies to, i.e., the objects with the properties which the interpreter takes account of through the presence of sign vehicle. And the taking-account-of may occur without there actually being objects or situations with the characteristics taken account of“.237 Organismen interpretieren dadurch Zeichen, dass sie durch ihre Dispositionen dazu gebracht werden, auf bestimmte Weise auf distale Objekte durch Verhalten zu reagieren. Das, worauf ein solches Verhalten abzielt, ist nicht der proximale Stimulus, sondern ein distales Objekt auf das der Organismus reagiert. Ein Organismus, der lediglich auf Außenreizungen reagiert, reagiert nicht auf Zeichen, denn er interpretiert die Reizungen nicht als Zeichen für distale Objekte.238 Ein Organismus, der nicht nur auf Morris 1977: 217. Morris 1971: 20. 238 Ein einfacher Test für die Frage, ob ein Organismus Zeichen verwendet oder nicht, besteht in der Substitution einer artifiziellen Reizklasse (Glockenton) für eine natürliche Reizklasse (Futter) durch weitere artifizielle Reizklassen (Klarinettenklang, Luftstoß, Bildchen usw.) für dieselbe Reizklasse. Die Substitution wird durch die Selbigkeit der Reaktion (Speichelfluss) festgestellt. Nun können selbst einfache Organismen konditioniert werden. Aber können sie auf diese Weise konditioniert werden? Der Seehase (aplysia californica) ist eine Meeresnacktschnecke mit Kiemen, die sich in einem Mantel befinden, der durch eine Schutzmembran 236 237 99 Oberflächenreizungen reagiert, sondern auf distale Objekte, lebt erst in einer Umwelt, weil sein Verhalten eine Reaktion auf Dinge in der Umwelt ist. Er ist sozusagen nicht beschränkt auf seine Außenmembran, er endet nicht an seiner Haut. Erst jetzt sprechen wir beispielsweise davon, dass ein Organismus etwas wahrnimmt. Er reagiert auf einen Reiz als Zeichen für räumlich entfernte Objekte. Oder er reagiert auf räumlich entfernte Objekte als Zeichen für räumlich noch weiter entfernte Objekte oder gar auf zeitlich entfernte Ereignisse. Der Interpretant ist eine Fähigkeit eines Organismus, nämlich seine Disposition oder Gewohnheit so auf ein Zeichen zu reagieren, dass er (als Interpret) instand gesetzt wird auf distale Objekte zu reagieren. Interpretanten werden von Morris als Dispositionen beschrieben.239 Er spricht beispielsweise auch von „dispositions to believe“, „dispositions to prefer“ oder „dispositions for action“. Interpretanten werden so entweder als Verhaltensregularitäten oder als Reiz-Reaktions-Paare unter spezifizierbaren Bedingungen aufgefasst. Der Interpretant wird dispositional gefasst, weil dies es erlaubt, dass eine Entität oder ein Ereignis ein Zeichen sein kann, auch wenn der Interpret nicht (oder noch nicht) auf eine bestimmte Art und Weise reagiert. In Morris’ Semiotik bleibt die Grundstruktur des Peirceschen Zeichenbegriffs also erhalten: Ein Zeichen hat einen Inhalt, wenn es sowohl einen Interpretanten als auch eine Signifikation hat.240 Was fehlt (und Morris ist sich dessen bewusst) ist eine Beschreibung „of what the organism is disposed to act towards“.241 Ohne eine solche Beschreibung bleibt der semiotische Behaviorismus unvollständig. Was fehlt ist nämlich nichts weniger als die Festlegung der Bedeutung eines Zeichens. Der Interpretant ist es, der für die Festlegung der Bedeutung eines Zeichens wesentlich ist. Dies ist der Kerngedanke der Peirceschen bedeckt ist, und das Ende dieser Membran bildet einen Siphon. Wird der Siphon durch Berührung stimuliert, ziehen sich die Atemorgane reflexartig zurück. Nun lernt der Seehase diesen Reiz zu ignorieren, wenn er nur oft genug wiederholt wird. Er kann auch dazu konditioniert werden, den Siphon zurückzuziehen, wenn (elektrische) Reize auf seinen Fuß verabreicht werden. Er ist also imstande seine neuronale Dynamik mit Reizen zu korrelieren. Aber er scheint nicht dazu imstande, alte durch neue Reizklassen bei gleichbleibender Reaktion zu substituieren (vgl. Hawkins und Kandel 1985). 239 „Given the sign vehicle as an object of response [für den Interpretanten], the organism expects a situation of such and such a kind, on the basis of this expectation, can partially prepare itself in advance for what may develop. The response [nun für den Interpreten] to things through the intermediacy of signs is thus biologically a continuation of the same process in which the distance senses have taken precedence over the contact senses in the control of conduct in higher animal forms […]. This process of taking account of a constantly more remote environment is simply continued in the complex processes of semiosis made possible by language, the object taken of no longer needing to be perceptually present.“ (zitiert nach Fiordo 1977: 52) 240 Zeichen können bei Morris entweder Signale oder Symbole sein. Ein Symbol ist ein Zeichen für ein anderes Zeichen (mit dem es gleichbedeutend) ist. Ein Symbol entsteht also durch die Übersetzung eines Zeichens in ein anderes Zeichen. Zeichen, die keine Symbole sind, sind Signale. Symbolverwendende Organismen sind unabhängig von einer auch räumlich und zeitlich erweiterten Umwelt. Mithilfe von Symbolen können alternative Verhaltensweisen entworfen und Entscheidungen zugunsten von Verhaltensweisen getroffen werden. So werden Organismen auf gewisse Weise frei von der unmittelbaren und mittelbaren Umwelt und entwerfen mögliche Umwelten. Erst der Entwurf möglicher Umwelten gibt diesen Organismen eine Welt (vgl. etwa Morris 1946: 26). 241 Morris 1946: 18. 100 Semiotik. Bedeutung entsteht innerhalb eines Prozesses der kommunikativen Interaktion aufgefasst. Dies ist der Kerngedanke von Meads sozialem Behaviorismus. Morris verbindet die beiden Gedanken: Der Interpretant kann als Verhaltensdisposition eines Interpreten aufgefasst werden. Der Interpretant muss also eine Wirkung für den Interpreten (den Organismus) haben „such that the interpreter tends to act in a certain way under given circumstances when actuated by a given need“.242 Die Antwort, die Morris auf die Frage gibt, „what the organism is disposed to act towards“ ist also jene des instrumentellen Pragmatismus, dem zufolge Zeichen sowohl semantisch als auch epistemisch im Hinblick auf ihre Rolle zur Wunscherfüllung bewertet werden sollen. Morris bleibt uns die Antwort auf die Frage schuldig, was Wünschen ihre Bedeutung verleiht. Darüber hinaus scheint sein semiotischer Behaviorismus nicht imstande zu sein, uns Auskunft über die semantische Normativität von Zeichen zu geben, solange er den für die Festlegung des Gehalts ausschlaggebenden Interpretanten lediglich als Verhaltensdisposition in einer bestimmten Bedingung (context) auffasst. Morris’ Semiotik kann also keine Antwort auf das Problem der Fehlrepräsentation geben, weil sie den Interpretanten, der die Bedeutung des Zeichens festlegen sollte, als bloße Verhaltensdisposition in einem bestimmten Kontext deutet. Darüber hinaus wurde Morris’ konkrete Ausgestaltung des semiotischen Pragmatismus in Signs, Language, and Behavior von John Dewey und Arthur Bentley in Knowing and the Known (1949) eingehend und sarkastisch als „confused semiotics“ kritisiert, da Morris sein Versprechen, ein eindeutiges und präzises Vokabular als Grundlage einer allgemeinen Zeichentheorie zu entwickeln, nicht einlöse.243 Dewey spricht sarkastisch von „the verbal chaos of his semiotic“.244 Die Kritik ist nicht unberechtigt. Doch in unserem Zusammenhang entscheidend ist Morris’ Vorhaben, das Dewey und Bentley begrüßen, nämlich die Absicht der Grundlegung der Semiotik als einer umfassenden und fruchtbaren Wissenschaft des Zeichens, und zwar durch ein Vokabular, dessen Bestandteile „are statable in terms drawn form the biological and physical sciences“.245 Dies ist so zu verstehen, dass Morris’ Vorhaben auf der Überzeugung beruht, „that a science of signs can be most profitably developed on a biological basis and specifically within the framework of the science of behavior (a field which, following a suggestion of Otto Neurath, may be called behavioristics). Hence I shall constantly suggest connections between signs and the behavior of animals and men in which they occur“.246 Zitiert nach Fiordo 1977: 52. Dewey 1989b: 33ff., IX. 244 Dewey 1989b: 33. 245 Morris 1946: 19. 246 Morris 1946: 2. Bereits Morris’ erst posthum veröffentlichte Dissertation Symbolism and Reality (1925) enthält einen Abschnitt mit „biological considerations“ zum Symbolbegriff (vgl. Morris 1981: III). 242 243 101 Es ist offensichtlich, dass Millikans Biosemantik diese Überzeugung aufnimmt. Nicht nur sachlich, sondern auch methodisch nimmt Millikan die von Morris gelegte Spur auf. Das Verfahren der Theoriekonstruktion (1.1.6.) weist offensichtliche Parallelen zu Morris’ Vorgehen in Signs, Language and Behavior auf. Wie Millikan geht Morris von einem „wide disagreement as to when something is a sign“ aus, das zeige, „that the term ‘sign’ is both vague and ambiguous.“247 Ist etwa Erröten ein Zeichen? Ist das Pfeifen, durch das man einen Hausschlüssel wieder findet, ein Zeichen? Sind Kleider Zeichen der Persönlichkeit ihrer Träger? Musik? Träume? Interpunktionen? Sind der Ausruf „Autsch!“, das Rotlicht oder Blitz und Donner alles Zeichen in selbem Sinne? Morris schlägt vor bei biologischem Verhalten anzufangen „which agrees fairly well with frequent usages of the term ‘sign’“.248 Der Ansatz beim Verhalten ergibt sich aus Morris’ pragmatistischem Hintergrund. Der Ansatz bei biologischem Verhalten ergibt sich aus dem Ziel, die Semiotik auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Doch da die Verwendung des Begriffs „Zeichen“ vage und vieldeutig ist, kann es nicht darum gehen, dass das ausgesuchte Verhalten mit allen Formen dieser Verwendung übereinstimmt. Der Semiotiker muss vielmehr sagen: „Henceforth we will recognize that anything which fulfills certain conditions is a sign. These conditions are selected in the light of current usages of the term ‘sign’, but they may not fit in with all such usages. They do not therefore claim to be a statement of the way the term ‘sign’ is always used, but a statement of the conditions under which we will henceforth admit within semiotic that something is a sign.“249 Das Ziel besteht also darin im Ausgang von einem paradigmatischen biologischen Fall der Zeichenverwendung Schritt für Schritt ein Vokabular für eine allgemeine Theorie des Zeichens auszuarbeiten und zwar „on the basis of the general principles of behavior which underlie all behavior, and hence sign-behavior“.250 Wie auch immer man Morris’ Ausarbeitung beurteilen mag, die seinem Vorhaben zugrunde liegende Idee – die Verbindung von Peircescher Semiotik und Meadschem Sozialbehaviorismus einerseits und der Ansatz bei einem biologischen Verhalten andererseits – und das Verfahren der Theoriekonstruktion sind es, die in der Biosemantik aufgenommen werden. Die Biosemantik behebt den oben diagnostizierten grundlegenden Mangel von Morris’ Semiotik dadurch, dass sie eine Lösung für das Normativitätsproblem anbietet. Morris 1946: 3. Morris 1946: 4. 249 Morris 1946: 3. 250 Morris 1946: 4. 247 248 102 1.2.5. Normative Transformation des semiotischen Behaviorismus Karl-Otto Apel hat die Ansicht vertreten, dass Morris’ Semiotischer Behaviorismus instabil ist und deshalb in eine naturalistische und eine normativistische Seite zerbricht. Im Hinblick auf den Gebrauch sprachlicher Zeichen (Morris’ Symbole) schreibt Apel: „Ch. W. Morris, der – als Behaviorist – ebenso wie die Neopositivisten daran festhält, dass die Verwender der Sprache und ihre zeichenvermittelten Verhaltensweisen ein natürliches Untersuchungsobjekt der empirischen Wissenschaften sind, genauso wie die in der semantischen Bedeutungsdimension bezeichneten Objekte, betont dennoch – als Semiotiker –, dass der „interpretant“, als die Regel, aufgrund derer von einem Zeichenvehikel gesagt werden kann, es bezeichne bestimmte Arten von Objekten oder Situationen, nicht selbst ein Objekt dieser Menge ist.“251 Wie wir gesehen haben, finden Behaviorismus und Semiotik bei Morris tatsächlich nicht zueinander. Ich habe auch darauf hingewiesen, dass Morris die Möglichkeit der Fehlrepräsentation Schwierigkeiten bereitet. Doch anders als Apel meint, kann eine naturalistische Theorie – die Biosemantik als normative Transformation des semiotischen Behaviorismus – hier Abhilfe schaffen. Apel scheint nämlich mit Morris der (von Apel verpönten neopositivistischen) Ansicht zu sein, Verhalten lasse sich rein empirisch beobachten und in der Form deskriptiver „Behaviogramme“ festhalten. Doch damit übernehmen beide den Verhaltensbegriff des klassischen Behaviorismus. Denn was heißt es, Verhalten zum Objekt der empirischen Wissenschaften zu machen? Ich habe am Anfang dieses Kapitels auf drei Punkte hingewiesen, die die pragmatistischen Behaviorismen vom klassischen Behaviorismus unterscheiden, nämlich die Interaktion mit der Umwelt, angeborenes gattungsspezifisches Verhalten und die Internalisierung der Kommunikation. Hier ist der Ort auf den dort angekündigten vierten Unterschied zu verweisen. Er betrifft das Verhalten selbst. Verhalten ist nämlich eine funktionale Kategorie und (zugespitzt formuliert) als solche nicht beobachtbar. Ich will diesen heterodox anmutenden Punkt erläutern. Der Begriff des Verhaltens wird auf Lebewesen angewendet (wir können Pflanzen und Pilze durchaus einschließen), nicht auf Teile von Lebewesen. Nicht die Mäusepfote zeigt ein Verhalten, sondern die Maus. Verhalten ist nicht identisch mit der Bewegung eines Lebewesens, denn auch das Innehalten oder Aushalten ist Verhalten. Ein Verhalten ist weniger ein Ereignis, als ein Prozess, denn ein Verhalten ist das Verursachen einer Bewegung oder eines Bewegungsabbruchs auf eine bestimmte Art. Auf welche Art? 251 Apel 1976: 183. Apel beschließt das Argument mit dem Problem der Selbstanwendung der Analyse des Zeichengebrauchs, nämlich mit der Unerreichbarkeit des „letzten Interpretanten“ (die Interpretationsgemeinschaft) für diese Analyse. Auf dieses Problem kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. 103 Bewege ich die Füße der betäubten Ratte Ratatouille, so ist dies kein Verhalten; stellen sich die Haare von Ratatouille auf, weil ich sie mithilfe elektrostatischer Anziehung hebe, so ist dies auch kein Verhalten. Berühre ich aber die wache Ratte und sie rennt weg (indem sie ihre Füße bewegt) oder sie erschrickt und sträubt ihre Haare, so ist das ein Verhalten. Im ersten Fall kommt die Ursache der Fuß- und Fellbewegungen von außen, im zweiten Fall von innen, auch wenn sie vielleicht von mir veranlasst werden. Nicht ich bin die unmittelbare Ursache der Bewegung der Füße und der Haare, sondern Ratatouille ist deren unmittelbare Ursache. Verhalten ist also ein Prozess, in dem etwas in einem Lebewesen die unmittelbare Ursache eines Bewegungsablaufs oder -abbruchs ist, den wir dem ganzen Lebewesen zuschreiben.252 Verhalten ist, und dies ist der entscheidende Punkt, ein Prozess mit einem bestimmten Ziel, es ist ein teleologischer Prozess. Wir wissen, was jemand tut, wenn wir wissen, was er beabsichtigt. Oder wir schließen umgekehrt von dem, was einer tut, auf seine Absichten. Das entspricht unserer Alltagspsychologie. Nicht alles Verhalten wird durch bewusste Absichten gesteuert, auch bei uns Menschen nicht. Weder die Verhaltensweisen einer Pflanze, noch die Reflexe einer Ratte, die Geländeorientierung von Ameisen oder das Brutverhalten eines Vogels folgen bewussten individuellen Absichten. Nehmen wir beispielsweise den Blinzelreflex. Ratatouille blinzelt. Wenn man nur auf die Bewegung achtet, ergeben sich unzählige Beschreibungsmöglichkeiten. Man kann sagen, dass Ratatouille seine Lider zeigt, dass er mit den Wimpern auf seine Pfoten oder auf den Boden weist, dass sie die Unterlider berühren, dass die Wimpern sich von der Schädeldecke, vom Schwanz oder von der Sonne entfernen, dass sich die Augenlider strecken, 1,7 cm weit oder fünf Mal bewegen, dass sie die Augen bedecken, sie abdunkeln, ein ganz leises schmatzendes Geräusch erzeugen usw. Was aber tut Ratatouille? Worin besteht sein Reflexverhalten? Einige der Beschreibungen geben sicher absurde Auskünfte. Eine Antwort erhalten wir nur dann, wenn wir angeben, wozu er blinzelt, welche Funktion das Blinzeln erfüllt. Natürlich lassen sich an Verhalten weitere Fragen richten, beispielsweise die Frage, wie es zustande kommt. Auch bei Fragen dieser Art richten wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das wir zuvor bereits teleologisch individualisiert haben. Allgemein kann man sagen: Wir wissen, was ein Lebewesen tut, wenn wir wissen, wozu sein Verhalten gut ist, wenn wir also wissen, welche Funktion es hat. Bewegungsabfolgen oder Bewegungsabbrüche sind Verhalten, wenn sie eine Funktion haben.253 252 253 Vgl. Dretske 1988: I-II. Vgl. WQP: VII, Millikan 2005a. 104 Gegen die These, dass Körperbewegungen und deren Bestandteile erst durch eine Funktion zu einem Verhalten werden, kann man einwenden, dass es doch Verhaltensstereotypien gibt, die offenbar keiner bestimmten Funktion dienen. Verhaltensstereotypien sind Räuspern, Blinzeln, Schaukeln oder Zappeln bei Menschen, Schaukelbewegungen bei angeketteten Elefanten oder das ununterbrochene Hin und Her des Tigers im Käfig. Dieses Verhalten erscheint pathologisch, und zwar gerade, weil es schwierig ist, hinter dessen Funktion zu kommen. Doch nicht- oder dysfunktionales Verhalten wird uns als solches erst vor dem Hintergrund von Verhalten im eigentlichen Sinne erkennbar, weil Verhalten im eigentlichen Sinn eine Funktion hat. Stereotypien sind Verhaltensstörungen, eben weil sie ohne Ziel und Zweck ausgeführt werden. Der hier relevante Begriff der Funktion ist derjenige der Echten Funktion. Eine Körperbewegung wie das Blinzeln hat viele Wirkungen, von denen nicht alle zu ihrer Funktion gehören. Da Echte Funktionen selektierte Wirkungen sind, können akzidentielle Wirkungen ausgeschieden werden. Da biologische Funktionen ein Produkt der natürlichen Selektion sind, werden sie nur dem Tun von Lebewesen zugeschrieben, nicht dem Tun von Planeten oder Gasen. Etwas im Lebewesen, ein P-Mechanismus, hat die Funktion bestimmte Bewegungen in Gang zu setzen oder zu unterbinden. Dieser Mechanismus ist die unmittelbare innere Ursache eines Bewegungsablaufs oder Bewegungsabbruchs, ihm kommt eine Direkte Echte Funktion zu. So besteht die Funktion des Mechanismus, der zum Blinzelreflex führt, vermutlich darin zu verhindern, dass Feinkörper das Auge beschädigen. Mein reflexartiges Blinzeln hic et nunc hat dieselbe Funktion als Abgeleitete Echte Funktion. Natürlich ist nicht die Abwärtsbewegung meines Augenlides das Verhalten (jemand könnte es zuziehen), sondern der Prozess des Verursachens dieser Bewegung durch den Mechanismus (gemäß einer Normalen Erklärung), der die Funktion hat, Feinkörper von meinem Auge fern zu halten. Mein Blinzelverhalten hic et nunc ist ein teleologischer Prozess als Aktualisierung der Direkten Echten Funktion des Mechanismus.254 Natürlich beschreiben wir Verhalten oft dadurch, dass wir einen für uns auffälligen Bestandteil benennen, beispielsweise akustische Bestandteile. Wir sagen, dass die Elster keckert, der Specht klopft, die Kuh schmatzt. Natürlich ist dies etwas, das diese Tiere tun, doch in diesem Sinne „tun“ auch der Kamin, der Wind oder der Teekessel etwas: sie pfeifen. Pfeifen ist in diesen Fällen kein Bestandteil irgendeines Verhaltens, das Klopfen des Spechts hingegen ist Bestandteil seiner Nahrungssuche. Indem er die Rinde des Baums abklopft, fängt er Insekten. Das Schmatzen der Kuh ist ein beiläufiger Bestandteil ihrer 254 Das hier verwendete biosemantische Vokabular ist in Abschnitt 1.1.4. eingeführt worden. 105 Nahrungsaufnahme ohne Echte Funktion. Indem sie das Futter zerkaut, produziert sie Schmatzgeräusche. Wozu dient das Keckern der Elster? Auch wenn wir das vielleicht nicht wissen, nehmen wir, anders als im Falle der Bewegungen von Winden, Planeten und Gasmolekülen, an, dass es Bestandteil eines Verhaltens ist. Diese teleologische Struktur hat der klassische Behaviorismus außer Acht gelassen. Er hat nicht erkannt, dass Verhalten wesentlich ein funktionaler Begriff ist. Und da Verhalten das Verursachen eines Bewegungsablaufs oder -abbruchs durch einen funktionalen Mechanismus ist, ist Verhalten nicht beobachtbar. Genauer: Es reduziert sich nicht auf die beobachtbaren Bewegungsabläufe und Bewegungsabbrüche. Verhalten kann misslingen. Das Nahrungssuchverhalten des Spechts führt nicht immer zum Erfolg, das Fluchtverhalten der Ratte kann misslingen, das Blinzelverhalten kann durch einen Lichtreflex auf meiner Brille ausgelöst werden. Das Verhalten erfüllt nicht den Zweck, den es erfüllen sollte. Darüber hinaus können die Mechanismen, die zu einem Verhalten führen, oder die Körperteile, die für die entsprechenden Bewegungsabläufe verantwortlich sind, defekt sein. Die Mechanismen, die das Verhalten hervorbringen, funktionieren nicht, wie sie funktionieren sollten. Weil Verhalten durch Funktionen bestimmt ist, kommt ihm eine normative Dimension zu. Doch wenn Funktionen und Verhaltensweisen eine normative Dimension haben und falls semantische Normen, die Apel als „Regeln“ (logische Interpretanten) anspricht, ebenfalls mithilfe der normativen Dimension von Funktionen rekonstruiert werden können, dann gibt es keinen Bruch zwischen der behavioristischen und der semiotischen Seite von Morris’ semiotischem Behaviorismus. Genau diese normative Dimension von Verhaltensweisen und anderen funktionalen Entitäten und Prozessen wird durch die Biosemantik sichtbar gemacht. Sie ist sowohl für einen Pragmatisten wie Morris als auch für einen Transzendentalpragmatisten wie Apel unsichtbar. Die Biosemantik kann so als normative Transformation des semiotischen Pragmatismus betrachtet werden. Alle Elemente des Morrisschen Zeichenbegriffs finden sich in ihr, unterfüttert durch eine normative Theorie der Echten Funktion: Der Interpretant (interpretant) erscheint als K-Mechanismus, das Zeichen (sign-vehicle) als RVehikel, das durch einen P-Mechanismus hervorgebracht wird. Entscheidend für den IRInhalt eines Zeichens (signification) ist die Echte Funktion des Interpretanten. Da Echte Funktionen selektierte Wirkungen sind, ist die Echte Funktion des Interpretanten relevant für das Verhalten des Lebewesens (interpreter), dessen Teil er ist. Insofern Echte Funktionen selektierte Wirkungen sind, hat der Interpretant eine normative Dimension, die die bloße Verhaltensdisposition transzendiert. Das Zeichen muss mit einer Normalen Bedingung 106 (context) korrespondieren, damit der Konsument seine selektierte Aufgabe ausführen kann. Die Normale Bedingung ist jene historische Bedingung, die vorliegen musste, damit die Wirkung des Konsumenten (Interpretanten) zur Fitness des Lebewesens (des Interpreten) beitragen konnte (und zwar im Unterschied zu anderen Konsumenten). Das im vorletzten Satz kursivierte „Müssen“ ist ein normatives Müssen, insofern dem Produzenten die Echte Funktion zukommt, Strukturen hervorzubringen, die auf eine bestimmte Weise mit Normalen Bedingungen korrespondieren, nämlich so, dass das Vorliegen dieser Korrespondenz es dem Konsumenten erlaubt seine Echte Funktion auszuüben. Das normative Defizit, das die Biosemantik bei Morris entdeckt und behebt, findet sich auf ganz ähnliche Weise auch bei Mead. Mead spricht nämlich davon, dass bloße Gesten eine Bedeutung (meaning) hätten. Es scheint sich noch nicht um wirkliche Bedeutung (signification) handeln zu können, da der Schritt zum bedeutungstragenden Zeichen noch nicht gemacht worden ist. Eine bloße Geste scheint nur unter der Bedingung zu einem bedeutungstragenden Zeichen werden zu können, wenn sie bei A implizit die gleiche Reaktion auslöst wie bei B. Doch um der bloßen Geste Bedeutung zuschreiben zu können, verweist Mead wiederum auf denselben Schritt.255 Wenn die Reaktion auf eine Geste als Konsument dieser Geste aufgefasst werden kann, dann ist nicht einzusehen, warum die bloße Geste nicht auch Bedeutung haben sollte. Jürgen Habermas etwa spricht in diesem Zusammenhang „von Begriff der objektiven oder natürlichen Bedeutung“ bloßer Gesten. In der ethologischen Praxis wird bestimmten Verhaltensmustern eine Bedeutung zugeschrieben „ohne zu unterstellen, dass das beobachtete Verhalten für den reagierenden Organismus selbst diese (oder überhaupt eine) Bedeutung hat.“ Die Bedeutung werde aus dem Stellenwert eines Verhaltens innerhalb tierlicher Funktionskreise (Nahrungssuche, Paarung, Brutpflege, Jagd usw.) von Ethologen zugeschrieben.256 Unabhängig von solchen Zuschreibungen fasse, wie Ernst Tugendhat im Zuge seiner Mead-Interpretation bemerkt, ein Tier das Signal eines anderen Tiers im „Normalfall einer tierischen Kommunikation“ auch nicht als Signal auf, „sondern reagiert einfach darauf“.257 Woher hat der Philosoph sein Wissen über den Normalfall der tierlichen Kommunikation? Jedenfalls entspricht diese generelle Einschätzung weder dem derzeitigen 255 Mead 1934: 47: „When, in any given social act or situation, one individual indicates by a gesture to another individual what this other individual is to do, the first individual is conscious of the meaning of his own gesture – or the meaning of his gesture appears in his own experience – in so far as he takes the attitude of the second individual toward that gesture, and tends to respond to it implicitly in the same way that the second individual responds to it explicitly. Gestures become significant symbols when they implicitly arouse in an individual making them the same responses which they explicitly arouse, or are supposed to arouse, in other individuals, the individuals to whom they are addressed.“ 256 Habermas 1981, Bd. 2: 18. 257 Tugendhat 1979: 250. 107 Stand der Ethologie noch der sie begleitenden wissenschaftstheoretischen Reflexion.258 Wichtiger an diesen Einschätzungen ist Folgendes: Wenn sich die natürliche Bedeutung tierlicher Kommunikation der Interpretation durch die Praxis von Ethologen verdankt, dann kann Meads Projekt einer naturalistischen Rekonstruktion der Bedeutung von Gesten und Zeichen nicht gelingen, weil deren vermeintliche Grundlage das Resultat bereits voraussetzen würde. Das mag für den Transzendentalpragmatisten ganz Recht sein. Nicht für die Biosemantikerin. Habermas verweist darauf, dass auf der Ebene der verbindlichen, artikulierten Rede die von Mead geforderte Gleichheit der Bedeutung normativer Natur sei: „Eine identische Bedeutung liegt dann vor, wenn Ego weiß, wie Alter auf eine signifikante Geste reagieren müsste; es genügt nicht zu erwarten, dass Alter in einer bestimmten Weise reagieren wird.“259 Habermas verweist auf den Umstand, dass das Ausbleiben eines erwarteten Verhaltens im Anschluss an eine signifikante Geste zu einer Enttäuschung über eine misslungene Kommunikation führe, und nicht lediglich zu einer Enttäuschung über ausbleibendes Verhalten. Wie auch immer man das verstehen möchte, Habermas verweist jedenfalls auf die Möglichkeit des Fehlgehens: Eine signifikante Geste hat ihre Echte Funktion nicht erfüllt. Dass eine Geste (ein Zeichen oder eine Aussage) eine Echte Funktion hat, verleiht ihr eine normative Dimension, und das heißt (Habermas zufolge) eine gleiche Bedeutung. Von den Produzenten und den Konsumenten solcher Gesten werden bestimmte Reaktionen aufgrund ihrer Funktion erwartet. Das Wissen von Ego um die erwartete Reaktion und die Enttäuschung von Ego über die ausbleibende Reaktion fügen dem nichts hinzu, außer dass Ego eben weiß, worin die Funktion der Geste besteht, und dass Ego erkennt, dass Alter nicht will. Sehen wir von der Forderung ab, dass A wissen muss, wie B reagieren müsste, dann können wir vor dem Hintergrund der Biosemantik sagen, dass die normative Kraft der Geste und ihre Bedeutung sich der Zugehörigkeit zu einer REF mit einer Echten Funktion verdanken. Die für unseren Erwerb einer zweiten Natur so wichtigen Zeigegesten beispielsweise haben die Funktion, Alter auf etwas in einer bestimmten Richtung und Entfernung hic et nunc aufmerksam zu machen. Alter reagiert damit, dass er in die bezeichnete Richtung blickt. Die Zeigegeste hat deshalb eine Bedeutung, weil sie von einem Konsumenten auf bestimmte Art und Weise verwendet wird. Die korrekte Verwendung besteht nicht in der bloßen Disposition des Konsumenten, sondern in seiner Echten Funktion. Unsere Zeigegesten werden von Kleinkindern als Hinweise auf Dinge in einer bestimmten Richtung und in einer bestimmten Entfernung hic et nunc aufgefasst, lange 258 259 Vgl. Allen und Bekoff 1997; Perler und Wild 2005; Hurely und Nudds 2006. Habermas 1981, Bd. 2: 28. 108 bevor sie als Adressaten solcher Gesten überhaupt in der Lage sind, Artgenossen als Wesen mit Absichten zu verstehen. Damit eine Zeigegeste als intentionale Geste verstanden werden kann, muss sie also als Bestandteil eines ko-evolvierten Systems von Produzent und Konsument betrachtet werden. Ego weiß, wie Alter auf eine Zeigegeste reagieren müsste, er erwartet nicht einfach, dass Alter auf sie reagiert, wie er aufgrund dunkler Wolken Regen erwartet. Es ist dann leicht zu sehen, wie auf der Grundlage solcher vorsprachlicher bedeutungstragender Gesten wie der Zeigegeste bedeutungstragende Sprachzeichen erlernt werden können. Reagiert ein Kleinkind nicht auf Zeigegesten, dann scheint etwas nicht zu stimmen mit ihm, es kann diese Gesten nicht verstehen. Oder im Vokabular der Biosemantik: Der K-Mechanismus erfüllt seine Echte Funktion nicht (und zwar nicht, weil die Normalen Bedingungen nicht vorhanden wären, sondern weil er defekt ist). Man kann Meads Projekt einer naturalistischen Rekonstruktion der Bedeutung von Gesten und Zeichen durch selektierte Funktionen stützen. Dazu müsste Mead sein Beispiel des Hundekampfes lediglich als Vignette eines Prozesses der Evolution durch natürliche Selektion betrachten, wie es seine Begeisterung für Darwins Evolutionstheorie ja nahe legen könnte: Wenn A1 die Reaktion R von B auf eine Geste G von A1 (aufgrund des reproduzierbaren Merkmals M von A1) antizipiert, A2 aber R von B auf G nicht antizipiert, und dieser Unterschied einen Unterschied für den reproduktiven Erfolg von A1 gegenüber A2 macht, dann ist die Echte Funktion von M die Antizipation von B’s R auf G. Alle aufgrund von M hervorgebrachten Antizipationen von R durch die Nachkommen von A1 haben dieselbe Echte Funktion. G wird so zu einem Zeichen für R (von B). Reagiert B auf andere Weise als R, dann ist G ein Zeichen, das fehlindiziert. Allerdings fehlt in diesem Beispiel der Aspekt, dass B auf eine bestimmte Art reagieren müsste. Dieser Punkt kommt zum tragen, wenn man G nicht als Teil einer kompetitiven Interaktion, sondern als Teil einer kooperativen Interaktion unter Artgenossen betrachtet. Hier ein Beispiel: Viele Hundeartige zeigen, bevor sie spielen, ein bestimmtes Verhalten. Sie machen eine bestimmte Ganzkörpergeste, einen „Spielbogen“ (play bow), der als Spielaufforderung verstanden werden kann.260 Die Verhaltensweisen von A und B nach dieser Spielaufforderung sind äußerlich nicht von aggressiven oder sexuellen Interaktionen zu unterscheiden, sie sind aber nicht mehr als solche gemeint, sondern als Bestandteile einer spielerischen Interaktion. Wenn A den Spielbogen macht, dann wird ein bestimmter Reaktionstyp von B erwartet, der von A aufgrund seiner Geste antizipiert wird, und der auch von A erwartet wird. Die Geste des Spielbogens ist ein Zeichen, dass A 260 Vgl. Bekoff 1977. Für eine Verteidigung der These, dass es sich beim Verhalten der Hunde um ein Spielen handelt vgl. die Antwort von Allen und Bekoff 1994 auf Rosenberg 1990. Zu tierlichem Spiel vgl. Burghard 2005. 109 produziert und das B konsumiert. Damit der Konsument seine Echte Funktion ausüben kann (Auslösung von Spielverhalten), muss das Zeichen mit jenem Typus von Verhaltensweisen korrespondieren, die A und B ausführen werden. Und dieses Müssen ist wiederum normativer Natur. Unterstellt man (was einige Ethologen zu tun bereit sind), dass Hunde bei der Ausführung des Spielbogens wissen, dass ihre Partner auf den Spielbogen auf bestimmte Art und Weise reagieren müssen (und nicht einfach reagieren werden), so kann man mit Habermas sagen, dass eine identische Bedeutung vorliegt, denn eine „identische Bedeutung liegt dann vor, wenn Ego weiß, wie Alter auf eine signifikante Geste reagieren müsste; es genügt nicht zu erwarten, dass Alter in einer bestimmten Weise reagieren wird.“261 Spielende und kämpfende Hunde könnten im Prinzip exakt dieselben Initialgesten ausführen und exakt dieselben Verhaltensdispositionen aufweisen, aber es würde sich nicht um dieselben Verhaltensweisen handeln. Auch darin zeigt sich der oben genannte Unterschied zum klassischen Behaviorismus. Verhalten ist nicht auf die bloße Beschreibung von Körperbewegungen reduzierbar, ja nicht einmal auf die Dispositionen zu beschreibbaren Körperbewegungen, vielmehr ist Verhalten eine wesentlich funktionale Kategorie. Ich habe darauf hingewiesen, dass Mead Ausdruck und Rolle des Austausches von Gesten und der Lautgeste von Wundt übernommen habe. Der Hinweis auf Wundt ist in unserem Zusammenhang keine bloße historische Reverenz, sondern hat systematisches Gewicht. Wundts populäre Vorlesungen zur Menschen- und Tierseele sind Ausdruck einer von zwei großen Bewegungen gegen den „Geist des Cartesianismus“. Die eine Bewegung entnimmt das Paradigma der Analyse der Sprache. Die analytische Philosophie ist geradezu durch die Überzeugung charakterisiert worden, dass eine philosophische Erklärung des Denkens durch (und nur durch) eine philosophische Analyse der Sprache erreicht werden könne.262 Demgegenüber nimmt die andere Bewegung nicht am Sprachverhalten ihr Modell, sondern am Tierverhalten. Mead verweist selbst auf den Umstand, dass der Behaviorismus (gleich welcher Ausprägung) über die Tierpsychologie Eingang in die Psychologie gefunden habe. Habermas betrachtet beide Bewegungen als Ausdruck der Kritik am „Geist des Cartesianismus“.263 Er stellt fest, dass sich die analytische Philosophie durch einen Prozess der Selbstkritik „aus der Verengung ihrer dogmatischen Anfänge gelöst“ habe. Demgegenüber sei es der Verhaltenspsychologie „trotz gelegentlicher Liberalisierungsschübe“ nicht gelungen, sich von den Vorgaben „einer objektivistischen Für eine Verteidigung des hier relevanten Begriffs des Wissens vgl. Kornblith 2002. Dummett 1988: 11. 263 Im Frankfurter Idiom: als Ausdruck der Kritik am „Subjekt-Objekt-Modell der Bewusstseinsphilosophie“. 261 262 110 Methodologie“ zu lösen.264 Habermas teilt dasselbe Vorurteil wie Apel. Mir scheint demgegenüber, dass die hier skizzierte Genealogie der Biosemantik zeigt, dass es sich bei dieser zweiten Bewegung nicht allein um eine bloß empirische Disziplin mit allzu restringierter Methodologie handelt. Vielmehr findet sich in ihr ein philosophischer Naturalismus vorgezeichnet, der in der Biosemantik seinen philosophischen Ausdruck findet.265 Die Biosemantik hat ihre Wurzeln im semiotischen Behaviorismus von Peirce, Mead und Morris. Als allgemeine Theorie der Zeichen, die ihr Paradigma im tierlichen Kommunikationsverhalten findet, vermag die Biosemantik die beiden von Habermas unterschiedenen großen Bewegungen gegen den „Geist des Cartesianismus“ zu vereinen, indem sie eine philosophische Erklärung unseres Denkens und Sprechens durch eine philosophische Theoriekonstruktion im Ausgang von tierlichen Kommunikationssystemen unternimmt: „Our language is in deep respects just like any other animal’s communication system...“266 Die Idee eines normativen Naturalismus jedoch verdankt Millikan weniger dem Pragmatismus als dem Werk von Sellars. Dieses Werk ist der zweite Kontext, der in der Biosemantik deutlicher Spuren hinterlassen hat. Dabei handelt es sich nicht zuletzt um Spuren von Elementen in Sellars’ Philosophie, die sich dem Pragmatismus verdanken. 1.2.6. Sellars: Normativer Naturalismus Millikan bezeichnet sich als „loyal student of Wilfrid Sellars”, weil sie der philosophischen Überzeugung ist, dass nichts den Status eines unmittelbaren intentionalen Inhalts für ein Subjekt haben kann.267 Intentionaler Inhalt ist immer vermittelter Inhalt. Diese These ist Ausdruck von Millikans Akzeptanz der Ablehnung des „Mythos des Gegebenen“.268 Millikan interpretiert den Mythos des Gegebenen primär als eine starke Form des Fallibilismus. Wenn man grundsätzlich im Wissen fehlgehen (sich irren) kann, warum nicht auch darin, was die eigenen Repräsentationen bedeuten? Wenn es kein Gegebensein des Wissens um Sinneseindrücke geben soll, warum sollte es ein Gegebensein des Wissens um Bedeutungen geben? Die These, dass Bedeutungen oder Inhalte einem Subjekt unmittelbar gegeben sind, dass ein Subjekt unmittelbar weiß, was seine Ausdrücke und Gedanken Habermas 1981, Bd. 2: 11f. Für diese zweite Bewegung habe ich den Titel „Tierphilosophie“ vorgeschlagen (vgl. Wild 2008b). 266 WQP: 10. 267 WQP: 310. 268 Millikan habe, wie Brandom 2005: 230 sich etwas gönnerhaft ausdrückt, „fully absorbed Sellar’s lessons“. Ihrem Naturalismus kann deshalb nicht vorschnell der Vorwurf gemacht werden dem Mythos des Gegebenen zu verfallen. 264 265 111 bedeuten, ist die zentrale Behauptung dessen, was Millikan „Bedeutungsrationalismus“ (meaning rationalism) nennt.269 Und Bedeutungsrationalismus ist die Form des Mythos des Gegebenen, die Millikan bekämpft: „My desire is to kill meaning rationalism dead, and then beat on it. Perhaps I will succeed in raising one or two more doubts about it. Reasoning, I insist, is done in the world, not in one’s head.“270 Ich glaube, dass dieser Mordwunsch nicht zur Biosemantik gehört, sondern sich einer überzogenen Feindschaft gegenüber dem „Geist des Cartesianismus“ verdankt. Eine bedauernswerte Folge dieser Haltung besteht darin, dass Millikan eine extreme Form des Externalismus vertritt und damit die Opposition zwischen Externalismus und Internalismus aufrecht erhält. Aus demselben Grund schenkt sie auch weder dem philosophischen Problem des Selbstbewusstseins noch jenem des Bewusstseins die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.271 Im Rahmen meiner Rekontextualisierung reicht es aus, die Ablehnung des Gegebenheitsmythos einfach als Konsequenz der pragmatistischen Semiotik zu betrachten, der zufolge der Bezug eines Zeichens auf sein Objekt stets durch einen Interpretanten vermittelt wird.272 Peirce Zurückweisung des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus, der Privilegierung des Standpunkts der ersten Person und der Möglichkeit eines globalen Zweifels präfigurieren eine breite Strömung der Philosophie des 20. Jhs. und stellen eine Kritik am Mythos des Gegebenen dar.273 Sellars’ Anknüpfungen an Peirce sind denn auch unübersehbar.274 Die vom Pragmatismus unabhängige und für die Biosemantik wichtige Idee der Philosophie von Sellars ist treffend als ein normativer Naturalismus – „naturalism with a normative turn“275 – beschrieben worden. Diese Idee ist, wie ich zeigen will, neben dem Pragmatismus ein weiterer Ausgangspunkt von Millikans Biosemantik. Worin besteht diese Idee? Vgl. WQP: 286ff.; LBM: VII. WQP: 12. 271 Ich komme auf diese Themen in den Kapiteln 4 und 5 zurück. 272 Darüber hinaus kann die Ablehnung des Gegebenheitsmythos, wie gesagt, als Effekt des pragmatistischen Feldzugs gegen den „Geist des Cartesianismus“ betrachtet werden. Peirce ist eine Schlüsselfigur innerhalb des Versuchs, das Paradigma der neuzeitlichen „Bewusstseinsphilosophie“ zugunsten des Vorrangs der Sprachoder Kommunikationsgemeinschaft aufzugeben. 273 Es ist deshalb sicher nicht zu Unrecht eine Kontinuität zwischen Peirce und Sellars behauptet worden, vgl. Bernstein 1998: 142: „[I]t is in the 1868 articles [vgl. 1.2.2.] that Peirce sharply criticized Cartesianism, foundationalism, and what Wilfrid Sellars later duped ‘the myth of the given’. There is a direct continuity from the notion of the community of inquirers that Peirce adumbrates […] and Wilfrid Sellars’ claim made almost a century later that ‘empirical knowledge, like its sophisticated extension, science, is rational, not because it has a foundation, but because it is a self-correcting enterprise which can put any claim in jeopardy, thought not all at once’.“ (Das Zitat stammt Sellars 1963: 170 bzw. 1997: 79). 274 Sellars greift beispielsweise Peirce Wahrheitsbegriff auf: „If, however, as I propose in chapter V, we replace the concept of Divine Truth with a Peirceian conception of truth as the ‘ideal outcome of scientific enquiry’ the gulf between appearances and things-in-themselves, though a genuine one, can in principle be bridged.“ (Sellars 1968: 50) 275 Vgl. O’Shea 2007. 269 270 112 Sellars vertritt eine Auffassung von Philosophie, die einen Blick aufs Ganze fordert, und zwar mit dem Ziel das manifeste und das naturwissenschaftliche Weltbild zu vereinen.276 Dem naturwissenschaftlichen Weltbild kommt dabei ein Vorrang zu, denn die Naturwissenschaften geben uns das beste Modell der Erkenntnis (der natürlichen Welt), das wir bislang haben. Die Naturwissenschaften bieten eine methodisch reflektierte und somit verbesserte Fassung der Problemlösungskapazitäten intelligenter Bewohner des manifesten Weltbilds, und sie leisten dadurch Kritik am durchschnittlichen ontologischen Inventar des manifesten Weltbilds.277 Somit kommt ihnen auch ein Vorrang im Hinblick auf ontologische Auskünfte zu. Sellars vertritt also „the thesis of the primacy of the scientific image“.278 Unterscheiden wir nun zwei Ebenen, die sich in erster Linie innerhalb des manifesten Bildes finden, jedoch auch im wissenschaftlichen Bild eine Rolle spielen. Die deskriptive, kausale, natürliche Ebene der beobacht- und beschreibbaren Uniformitäten des Verhaltens von Lebewesen oder der nomologischen Regularitäten anderer Naturdinge bezeichnen wir als „A-Ebene“. Es handelt sich hier um den „logischen Raum der Natur“, der von den Naturwissenschaften besetzt wird. Die beobacht- und beschreibbaren Verhaltensregularitäten von Sprachbenutzern beispielsweise oder die dabei aktivierten Hirnzustände finden sich auf der A-Ebene. Die Ebene der normativen, semantischen, rationalen, moralischen usw. Prinzipien wollen wir als „B-Ebene“ ansprechen. Hier handelt es sich um einen „logischen Raum der Gründe“, den wir vernünftige Wesen bewohnen. Wir unterscheiden also eine normative B-Ebene von einer natürlichen A-Ebene, die jedoch nicht der Unterscheidung zwischen den beiden Weltbildern entspricht. Elemente der B-Ebene können Sellars zufolge nicht ausschließlich mithilfe von Elementen der A-Ebene beschrieben und analysiert werden. Das würde auf einen dem naturalistischen Fehlschluss in der Ethik analogen Irrtum hinauslaufen.279 Das Erkennen, das Handeln oder das Denken von Personen sind wesentlich normative Tätigkeiten und Zustände. Doch zugleich findet sich bei Sellars, wie gesagt, die These des Vorranges des naturwissenschaftlichen Bildes. In diesem Bild erscheinen Personen als Bündel von mikrophysikalischen Prozessen.280 So finden wir bei Sellars die Überzeugung, dass Elemente der Ich komme auf das Thema der Vereinheitlichung als Kernanliegen philosophischer und naturwissenschaftlicher Theoriebildung ausführlich in Abschnitt 2.3. zurück. 277 Grundsätzlich läuft diese Kritik darauf hinaus, dass das manifeste Bild intern inkohärent ist. 278 Sellars 1963: 32. Sellars drückt diesen Vorrang des naturwissenschaftlichen Bilds der Welt in einer Variation des Homo-mensura-Satzes aus, dem zufolge gilt „that in the dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not“. (Sellars 1963: 173, 1997: 83) 279 Vgl. Sellars 1963: 131, 1997: 19. 280 Sellars 1963: 25: „I shall, therefore, provisionally assume that although behaviouristics and neurophysiology remain distinctive sciences, the correlational content of behaviouristics points to a structure 276 113 B-Ebene (die für unser mentales und moralisches Leben konstitutiven semantischen und ethischen Normen) zwar auf Elemente der A-Ebene (letztlich auf pure physische Prozesse) kausal reduzierbar sind, nicht aber begrifflich. Sellars’ normativer Naturalismus ist ein Vereinheitlichungsprojekt, das nach einer Integration der beiden Ebenen strebt. Sein Augenmerk richtete sich dabei auf die komplexen Relationen zwischen dem Normativen und dem Natürlichen, zwischen Gründen und kausalen Regelmäßigkeiten. Diese Beziehungen sind komplex, weil sie von einer gleichzeitigen Reduzierbarkeit und Nichtreduzierbarkeit der Elemente der B-Ebene auf jene der A-Ebene ausgehen müssen. Es scheint, als würde sich ein Riss durch Sellars’ Projekt ziehen, ein Riss zwischen der normativen B-Ebene und der natürlichen A-Ebene, gerade weil er versucht, zugleich die Irreduzibilität der B-Ebene und deren Integrierbarkeit in ein vollständiges naturwissenschaftliches Bild der A-Ebene zu behaupten. Nachfolger von Sellars haben eher die normativistische oder eher die naturalistische Seite seiner Philosophie betont.281 Einige der normativistischen Nachfolger beharren auf einer strikten Separation beider Ebenen, einige der naturalistischen Nachfolger hingegen verlangen eine Eliminierung von Elementen der B-Ebene. Dem Separatismus zufolge trennt Sellars strikt den Raum der Natur vom Raum der Gründe. Diese Interpretation gibt sich zufrieden mit einer Trennung zwischen einer naturalistisch-kausalen und einer normativ-rationalen Ebene. Dem Eliminativismus zufolge würde sich im vollständigen naturwissenschaftlichen Bild unser Selbstbild als Wesen mit mentalen Zuständen letztlich als falsch herausstellen. Im Gegensatz dazu zeichnet sich Sellars’ Projekt gerade durch Vereinheitlichung aus. So hält er beispielsweise trotz seines Szientismus daran fest, dass selbst in einem vollständigen naturwissenschaftlichen Bild der Realität und der Person den Spezialwissenschaften (wie Biologie, Psychologie oder Soziologie) nach wie vor eine wichtige pragmatische Funktion zukäme, da die Generalisierungen der Spezialwissenschaften erstens approximativ wahr sein dürften und zweitens in ihrer of postulated processes and principles which telescope together with those of neurophysiological theory, with all the consequences which this entails. On this assumption, if we trace out these consequences, the scientific image of man turns out to be that of a complex physical system“. (Man beachte die Bezeichnung „behaviouristics“, die Sellars ebenso wie Morris von Neurath übernimmt und als Sammelbegriff für sämtliche Verhaltenswissenschaften von der Biologie über die Psychologie bis zur Soziologie verwendet.) Allerdings kann es laut Sellars letztlich nicht gelingen, Personen vollständig als Bündel von mikro-physikalischen Prozessen zu rekonstruieren (vgl. Sellars 1968: 38ff.). Der Grund liegt darin, dass Personen als Wesen, die sich ethischen, logischen usw. Maßstäben ausgesetzt sehen dies nicht als physikalische Materiebündel sein können. Das Problem liegt m.E. darin, dass Sellars hier nur an physikalistische Optionen denkt, dass er Normen nicht als natürliche Normen denkt und dass er Menschen essenziell als Personen betrachtet. Hingegen will ich zeigen, dass die Biosemantik keine physikalistische Form des Naturalismus ist (vgl. 2.2.), dass sie sowohl auf semantische als auch auf ethische natürliche Normen bauen kann (Kapitel 3) und dass Menschen essenziell nicht Personen, sondern vielmehr Lebewesen (Tiere) sind (Kapitel 4). 281 Man unterscheidet bisweilen normativistische Links-Sellarsianer und naturalistische Rechts-Sellarsianer. Die Analogie zur Hegelschule ist gewollt, aber natürlich irreführend. 114 beschreibenden und vorhersagenden Funktion für uns nicht zu ersetzen wären.282 Kurzum, „the manifest image is not overwhelmed in the synthesis“ der beiden Ebenen.283 Sellars’ Ziel ist also weder die Separation der beiden Ebenen noch die Elimination der B-Ebene, sondern die Integration beider Ebenen unter Berücksichtigung des oben erläuterten Vorrangs des wissenschaftlichen Weltbilds. Welche weitreichenden Folgen der Verzicht auf die Integration beider Ebenen hat, kann man sich anhand der separatistischen Aneignung der Kritik am Gegebenheitsmythos vor Augen führen. Sellars’ Argumentation gegen den Mythos wird von Separatisten bisweilen in generalisierter Form durch Slogans charakterisiert wie „Unsere Relation zur Welt ist kausal, nicht semantisch“ oder „Nur eine Überzeugung kann eine Überzeugung rechtfertigen“. Eine Implikation dieser Slogans besteht darin kausale (natürliche) und semantische (normative) Eigenschaften strikt auseinanderzuhalten. Daraus folgern NeoPragmatisten wie Richard Rorty, dass weder so etwas wie eine referentielle Relation semantischer Inhalte zu Objekten, Eigenschaften und Sachverhalten in der Welt noch so etwas wie eine repräsentationale Relation von R-Vehikeln zu diesen Dingen bestehe, denn solche Relationen sind ganz und gar kausal. Sellars allerdings insistiert darauf, dass eine repräsentationale Relation des „Abbildens“ (picturing) zwischen R-Vehikeln und Dingen in der Welt existiert. Das Sellarsche „picturing“ ist natürlich das Vorbild des biosemantischen „mapping“ (1.1.5.). Abbilder (pictures) sind keine Bilder (images), sondern es handelt sich generell gesagt um natürliche Isomorphie-Relationen und deshalb gehören sie auch auf die A-Ebene. Der hier relevante (durch Wittgensteins Tractatus inspirierte) Begriff des Abbildens ist der einer abstrakten Isomorphie zwischen (Vorkommnissen von) repräsentierenden Vehikeln und (Vorkommnissen von) repräsentierten Objekten, wobei sowohl die Vehikel als auch die Objekte eine Struktur aufweisen und Bestandteil der natürlichen Welt sein müssen. Die Vehikel, für die Sellars sich primär interessiert, sind (Vorkommnisse) natürlicher sprachlicher Objekte. Sätze finden sich als natürlichsprachliche Objekte stets als Abbildungen auch auf der (natürlichen) A-Ebene.284 Das Abbilden wird strikt verstanden als eine Relation auf der A-Ebene, nicht aber auf der B-Ebene.285 Als Elemente der AEbene können sie als Abbildungen der Welt betrachtet werden. Das Abbilden übernimmt 282 Ich setze hier voraus, dass die Spezialwissenschaften auch im manifesten Weltbild eine Rolle spielen. Die Entgegensetzung der beiden Bilder kann über weite Strecken nur heuristisch sein. Aber natürlich gibt es Interaktionen. Ich komme auf diesen Punkt in Abschnitt 3.3.3. zurück. 283 Sellars 1963: 9. 284 Da Sellars mentale Zustände in Analogie zu Sätzen auffasst, gilt dies auch für interne Repräsentationen. Da Sellars Theorien als Satz- und Begriffssysteme auffasst, können auch Theorien als enorm komplexe Abbildungen betrachtet werden. 285 Sellars 1963: 50ff. bzw. 2007: 218ff. 115 also die Rolle der Korrespondenz zwischen Repräsentation und Welt. Auf der A-Ebene sind mentale Zustände oder Aussagen Teil der natürlichen Welt. Zugleich sind sie auch Elemente der B-Ebene, und zwar aufgrund ihrer Janusköpfigkeit „as belonging to both the causal order and the order of reasons.“286 Deshalb ist die Abbildungsrelation selbst keine semantische Relation. Es handelt sich um „a complex matter-of-factual relation and, as such, belongs in quite a different box from the concept of denotation and truth“.287 Dennoch ist die Abbildungsrelation nicht notwendigerweise eine Kausalrelation, denn zwischen Abbildern und Abgebildetem bestehen Relationen der Isomorphie, nicht der Kausalität. Dieser Gedanke ist für die Biosemantik wichtig, weil sie nicht darauf festgelegt ist, eine kausale Theorie der Repräsentation zu vertreten. Auch der folgende Aspekt dieses Gedankens ist wichtig: Eine Abbildung kann mehr oder weniger adäquat sein. Worin besteht die Relation zwischen einem Begriffssystem auf der B-Ebene (einem System von Ausdrücken, die durch Regeln beschrieben werden) und dem Begriffssystem auf der AEbene (einem enorm komplexen Abbild)? Begriffssysteme unterstehen Regeln und diese unterstehen laut Sellars dem folgenden Prinzip: „the espousal of a principle or standard, whatever else it involves, is characterized by a uniformity of performance.“288 Diesem Prinzip zufolge äußern sich Regeln der B-Ebene in Regelmäßigkeiten auf der A-Ebene. Ich werde gleich auf dieses Prinzip zurückkommen. An dieser Stelle wollen wir nur vermerken, dass die Biosemantik die so konzipierte Auffassung des Zusammenspiels von Regeln nicht unterschreiben wird. Im Unterschied zu Separatisten wie Rorty verzichtet Sellars keineswegs auf eine repräsentationale Relation des Geistes zur Welt. Gerade darin besteht ja ein wichtiger Aspekt der Integration, die der normative Naturalismus anstrebt. Sellars legt jedoch großen Wert darauf, dass es sich dabei nicht um eine semantische Relation handelt.289 Autoren wie Sellars 1979: 130. Sellars 1968: 136. 288 Sellars 1963: 216. 289 Neo-Pragmatisten wie Putnam hingegen sind der Auffassung, dass sowohl Rorty als auch Sellars zu schnell von der Einsicht, dass es einen himmelweiten Unterschied macht, ob man nach der Bedeutung eines Ausdrucks (allgemeiner: einer Repräsentation) fragt oder nach dem kausalen Anlass eines bestimmten Vorkommnisses dieses Ausdrucks (allgemeiner: dieser Repräsentation), zu der Zurückweisung der Existenz einer semantischen Relation zwischen Repräsentationen und Dingen in der Welt übergehen (Putnam 1998: 43). Dieser Übergang, so scheint es, widerspricht nicht nur dem manifesten Bild unserer selbst als intentionalen Akteuren in einer Welt der Dinge, sondern auch jenem wichtigen Bestandteil des naturwissenschaftlichen Bildes, der diese Akteure als Resultat einer Evolution betrachtet, die sie als Tiere mit adaptiven Vermögen zur Anpassung und Umgestaltung dieser Welt der Dinge sehen. Wir sollten, wie Putnam zu Recht meint, diesen Schritt deshalb nicht zu schnell nehmen und ihm gegenüber Argwohn hegen. Putnam fährt (sich auf sprachliche Repräsentationen konzentrierend) fort: „In this suspicion I am, naturally, joined by metaphysical realists. Metaphysical realists, of course, deplore Rorty’s and Sellars’ rejection of the very idea of semantical words-world relations. But if (as most of the contemporaries do) they also wish to endorse a ‘bald’ version of naturalism, they cannot simply posit a semantical words-world relation. They must also show that it can be reduced to nonsemantical relations and facts, for to posit irreducible semantic relations is no better from their point of view than to posit immaterial sense data. But all attempts to reduce semantic relations to 286 287 116 Millikan und Robert Brandom gehören weder zu den Separatisten (wie Rorty oder McDowell) noch zu den Eliminativisten (wie die Churchlands), sondern sie nehmen das integrative Projekt des normativistischen Naturalismus auf.290 Das Abbilden ist ein für Millikan überaus wichtiges Motiv im Hinblick auf die repräsentationale Relation intentionaler Zustände. Bezogen auf natürliche Zeichen (d.h. auf Zeichen, die weder wahr noch falsch sein können), aber anwendbar auf jedes Zeichen, meint Millikan: „Natural signs are structured world affairs and the things of which they are signs are also structured world affairs, analogous to the correlates of complete sentences rather than open sentences or sentence parts. Strictly speaking it is not the black cloud that is a sign of rain. Rather, the structure that is a black cloud in the sky at a certain time, t, moving toward a certain place, p, may be a sign of the structure that is rain occurring shortly after t at p.“291 Wie wir gesehen haben sind R-Vehikel für Millikan immer, sogar im einfachsten Fall, strukturierte Abbilder von anderen strukturierten Sachverhalten in der Welt (1.1.4.-1.1.6.). Doch ein IR-Inhalt kommt diesen Vehikeln nicht aufgrund der Abbildrelation zu, sondern aufgrund ihrer Relation zu einer Echten Funktion. R-Vehikel sind Abbilder und Bestandteile der nicht-normativen A-Ebene. Echte Funktionen verleihen den Abbildern intentionalen Inhalt, sind aber Bestandteile der B-Ebene, verstanden als Ebene, die Elemente mit einer genuin normativen Dimension umfasst. Weil also auch biologische Echte Funktionen eine normative Dimension haben, kann die Biosemantik das Projekt der Integration zwischen der natürlichen A-Ebene und der normativen B-Ebene auf einer biologischen Ebene ansetzen. Das ist die biologische Transformation von Sellars’ normativen Naturalismus. Bei Brandom hingegen spielt das Abbilden keine Rolle. Millikan hat die Differenzen zwischen ihrer und Brandoms Weiterführung von Sellars’ normativem Naturalismus treffend dadurch auf den Punkt gebracht, dass sie und Brandom zwei unterschiedliche Analogien als Ausgangspunkt ihrer Arbeiten bevorzugen.292 Diese beiden Analogien finden sich in einem zentralen Aufsatz von Sellars, nämlich in „Some Reflections on Language Games“.293 Brandom nimmt die (bei Sellars am Schach orientierte) Analogie unseres Sprechens zum Spiel ernst und baut sie zu einer inferenzialistischen Theorie der Intentionalität aus, in deren Zentrum bestimmte soziale Praktiken stehen. Millikan nonsemantic ones have been utter failures; to the point hat we have presently no idea what such a reduction could possibly look like.” (Putnam 1998: 44) Millikan ist eine metaphysische Realistin und die Biosemantik ist anders als Putnam meint ein verheißungsvolles naturalistisches Projekt, allerdings nicht im Sinne einer Reduktion semantischer – und das heißt: normativer – Relationen auf nicht-normative Relationen, sondern einer Erklärung der Intentionalität durch natürliche Normen. 290 Brandom 2005: 211: „I think Millikan is slightly to my naturalistic right.“ 291 VM: 47. 292 LBM: 82f. 293 Sellars 1963: XI, bzw. 2007: II. 117 hingegen nimmt die Analogie unseres Sprechens zur Tierkommunikation ernst (die Sellars anhand von Bienentänzen illustriert) und baut sie zu einer teleosemantischen Theorie der Intentionalität aus, in deren Zentrum die natürliche Selektion steht. Meines Erachtens kann man die Biosemantik besser verstehen, wenn man sie als Reaktion auf Sellars’ Semantik betrachtet. Dabei geht es mir nicht allein um einen „Kontext der Entdeckung“, sondern auch um einen „Kontext der Rechtfertigung“ für das Projekt der Biosemantik. Denn es wird nicht nur angeregt durch Sellars’ Ausführungen, sondern motiviert durch Lücken in diesen Ausführungen. Beginnen wir mit Sellars’ Funktionalismus. Einen Ausgangsgedanken des Sellarsschen Funktionalismus kann man in einem Problem der Übersetzung sehen. Was sagen wir, wenn wir sagen: „Das französische Wort ‚triangle’ bedeutet Dreieck“? Beziehen sich die beiden Ausdrücke „triangle“ und „Dreieck“ in diesem Übersetzungsschema auf ein abstraktes (mentales oder ideales) Objekt? Sellars’ Nominalismus erlaubt keine solche Objekte. Seine Antwort lautet grob gesagt, dass „triangle“ im Französischen dieselbe Rolle spielt wie „Dreieck“ im Deutschen. Man kann auch sagen, dass das Wort „triangle“ von Französischsprechenden so verwendet wird, wie „Dreieck“ von Deutschsprechenden. Das Übersetzungsschema gibt an, worin die Bedeutung eines Ausdrucks besteht, weil es einem Ausdruck („triangle“) in einer Fremdsprache eine Rolle zu weist, die jener eines Ausdrucks („Dreieck“) in der Erstsprache entspricht. Dies mag für die Interpretation eines Übersetzungsschemas hinreichen. Doch was heißt es für einen Sprecher, Ausdrücke seiner Erstsprache zu verwenden? Man kann an dieser Stelle nicht auf eine weitere natürliche Sprache verweisen, und die Ausdrücke der Erstsprache können nicht deshalb eine Bedeutung haben, weil sie durch ein Übersetzungsschema expliziert werden können. Die funktionalistische Antwort lautet, dass natürliche Sprachen als Systeme von Ausdrücken verstanden werden sollen, die nach bestimmten Regeln verwendet werden, und es sind diese Regeln, die den Ausdrücken Bedeutung verleihen. Eine Sprache ist ein durch semantische Regeln beschriebenes System von Begriffen und Sätzen. Ein Sprachschüler lernt eine Erstsprache, indem er die Regeln für die Verwendung von Ausdrücken lernt. Doch diese Auskunft ist offensichtlich unbefriedigend, denn um die Regeln einer bestimmten Sprache lernen zu können, muss der Schüler jene Sprache, in der diese Regeln formuliert werden, bereits beherrschen. Da auch diese Sprache wiederum Regeln der Verwendung hat, droht ein Regress. Wie weiter? Ich wende mich dem Problem des Regelregresses zu, nachdem ich etwas über Funktionen im Funktionalismus gesagt habe. Es liegt auf der Hand, dass dieser Punkt für die Biosemantik wichtig ist. Dem Funktionalismus zufolge haben sprachliche oder mentale 118 Repräsentationen einen Inhalt, weil diese Repräsentationen eine bestimmte funktionale Rolle in einem bestimmten System erfüllen. Sellars hat als einer der ersten Philosophen den Funktionalismus als semantische Theorie ausgearbeitet.294 Der Begriff der Funktion, der sich hinter dem semantischen Funktionalismus (nicht aber hinter dem reinen Maschinenfunktionalismus) verbirgt, entspricht im Prinzip dem Verständnis von Funktionen als kausale Rollen. Diesem Verständnis zufolge sind Funktionen intrasystemische kausale Rollen. Die ausgereifteste Analyse dieses Begriffs verdanken wir Robert Cummins, und man spricht deshalb von Cummins-Funktionen.295 Die Funktion von x in S wird wie folgt analysiert: x hat die Funktion zu -en in S nur relativ zu einer Beschreibung B über S’s Fähigkeit zu en, wenn x tatsächlich die Fähigkeit hat in S zu -en und A eine angemessene Auffassung über die Fähigkeit zu -en ist durch den Rückgriff auf x Fähigkeit in S zu -en. Nehmen wir als Beispiel ein Herz (x). Unsere Beschreibung B lautet: Das Herz ist Bestandteil eines Zirkulationssystems (S), das Nährstoffe, Sauerstoff, Abfall usw. transportiert ( ). Aber welche kausale Rolle spielt das Herz in diesem System mit dieser Fähigkeit? Das Herz pumpt Blut ( ), und trägt dadurch zum Transport von Nährstoffen usw. bei. Das ist die Funktion (die intra-systemische kausale Rolle) des Herzens. Nun kann beispielsweise die analysierte Funktion des Herzens als Fähigkeit zu -en betrachtet werden (d.h. die Funktion als Beschreibung B interpretieren), und man kann fragen, was ein beliebiger Teil (x) des Herzens (S) für eine kausale Rolle ( ) für die Fähigkeit zu -en usw. Umgekehrt kann man die Fähigkeit des Stoffwechselsystems als kausalen Beitrag zur Fähigkeit eines übergeordneten Systems beschreiben und so etwa die kausale Rolle ( ) des Stoffwechselsystems (x) innerhalb einer Fähigkeit zu -en des Organismus (S) analysieren usw. Für den semantischen Funktionalismus ist nicht die kausale Rolle eines Elements von Bedeutung, sondern die normative (nicht die Rolle auf der A-Ebene, sondern jene auf der B-Ebene). Die Elemente des Systems liefern keinen kausalen Beitrag, sondern, wenn man so will, einen normativen Beitrag. Spracheingänge (language entry transitions) betreffen Wahrnehmungssituationen: „The speaker responds to objects in perceptual situations, and in certain states of himself, with appropriate linguistic activity.“296 Sprachübergänge (intralinguistic moves) betreffen Inferenzen zwischen Sprachstücken: „The speaker’s linguistic conceptual episodes tend to occur in patterns of valid inference (theoretical and practical), Dennett 1987: 341: „Thus was contemporary functionalism in the philosophy of mind born, and the varieties of functionalism we have subsequently seen are in one way or another enabled, and directly or indirectly inspired, by what was left open in Sellars’ initial proposal.“ 295 Vgl. Cummins 1975. 296 Sellars 2007: 87. 294 119 and tend not to occur in patterns which violate logical principles.“297 Sprachausgänge (language departure transitions) betreffen Handlungen aufgrund vom Äußerungen: „The speaker responds to such linguistic conceptual episodes as ‘I will now raise my hand’ with an upward motion of the hand, etc.“298 Sellars’ Funktionalismus ist ein Inferenzialismus, weil er Sprachübergänge als entscheidende semantische Instanz bewertet, die sowohl Spracheingängen als auch Sprachausgängen Gehalt verleiht. Für Sellars’ Funktionalismus ist entscheidend, dass die Übergänge normativ verstanden werden. Kurz: Die funktionalen Rollen sind normative Regeln.299 Das System, das analysiert werden soll, ist die gesamte Sprache. Sellars ist der Auffassung, dass die Sprache die kleinste Einheit für die Analyse der funktionalen (normativen) Rolle der relevanten Elemente (Begriffe) ist, genauer: die Sprachgemeinschaft. Bei den Cummins-Funktionen stellt sich das folgende Problem: Je nach Beschreibung der Fähigkeit eines Systems ändert sich die Funktion eines Elements. Wenn wir das Herz als Element eines akustischen Systems S auffassen, das wir als Fähigkeit beschreiben, die Gehörgänge von Artgenossen positiv zu stimulieren (Arzt, Embryo, Geliebte), dann ist es die Funktion des Herzens Geräusche einer bestimmten Frequenz zu machen. Die Funktionen lassen sich auf diese Weise beliebig vervielfältigen. Welches ist denn die tatsächliche biologische Funktion des Herzens? Die Antwort, dass es keine Antwort darauf geben kann, weil Funktionszuschreibungen anhängig sind von Beschreibungen des Gesamtsystems durch externe Beobachter, ist keine Antwort, weil sie bereits voraussetzt, dass es keine tatsächliche Funktion des Herzens gibt (oder diese notwendig unterbestimmt sein muss). Die ätiologische Theorie gibt eine Antwort darauf. Die Echte Funktion des Herzens besteht in jener Wirkung, den Vorgänger dieses Typs im Unterschied zu anderen Typen geleistet haben, und diese Wirkung erklärt, warum Herzen dieses Typs vorhanden sind. Kurzum, Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen. Der Kern dieser Auffassung geht auf eine Analyse von Wright zurück, und man spricht deshalb von „Wright-Funtionen“.300 Im Unterschied zu Cummins gibt Wright keine intrasystemische kausale Rollenanalyse von „Funktion“, sondern eine teleologische Analyse. Sie lautet: Die Funktion von x ist es zu -en, wenn es x gibt, weil es Resultat davon ist, dass es x gibt. Sellars 2007: 87. Sellars 2007: 88. 299 Vgl. Sellars 2007: II-IV. 300 Wright 1973, 1976. 297 298 120 -t, und wenn das zu -en ein In dieser Form ist die Analyse unbefriedigend. Sie ist, wie wir gesehen haben, erst als historisch-teleologische Auffassung befriedigend: x muss zu einem historischen Typ (einer REF) gehören (1.1.4.). Die wichtigen Punkte an dieser Stelle sind die Folgenden: 1. Es existieren (mindestens) zwei Auffassungen von Funktionen: Cummins- und WrightFunktionen. 2. Cummins-Funktionen sind relativ normativ: Herzen sollen Blut pumpen relativ zu einer Beschreibung des Systems, zu dem sie gehören. Die Funktion ist eine beobachterrelative Eigenschaft des Herzens. Wright-Funktionen sind objektiv normativ: Herzen sollen Blut pumpen, weil sie zu einem historischen Typ gehören. Die Funktion ist eine objektive relationale Eigenschaft des Herzens.301 3. Es ist unklar, welche Art von Normativität der semantische Funktionalismus braucht. 4. Ein weiteres (bislang nicht angesprochenes) Problem der Übertragung der CumminsFunktionen auf den Funktionalismus besteht im Folgenden: Cummins-Funktionen werden relativ zu einem System analysiert zu dem die Beschreibung einer bestimmten Fähigkeit gehört. Dabei sind die Identitätskriterien für ein solches System beliebig. Man kann beispielsweise eine Flussmündung als System betrachten und dabei die Funktion von Steinen im Flussbett bei der Fähigkeit der Mündung analysieren, das Ufer abzutragen und sich zu verbreitern. Man kann sich natürlich auch viel fantastischere Systeme ausdenken. Was ist die Fähigkeit des Sprachsystems? Und warum sollten wir eine natürliche Sprache als ein System betrachten? Wir sind jetzt an den Punkt gelangt, an dem gesagt werden, was die Biosemantik mit dem Funktionalismus macht: Sie gibt dem Funktionalismus die Funktionen zurück,302 und zwar Echte Funktionen mit objektiver Normativität. Millikan gibt an, welche Funktion einzelnen Sprachformen zukommt. Sie hypostasiert die Sprache zu keinem System, sondern fasst eine natürliche Sprache als ein Gemenge unterschiedlicher historischer Linien von Sprachformen (wie spezifischen Nomen, Indikativen, Imperativen, Ausrufen usw.) auf. Solchen Sprachformen kann eine Funktion unabhängig von einem System zukommen, sobald man die intra-systemische kausale Rollen-Analyse verwirft und stattdessen die historisch-teleologische Analyse akzeptiert: „The selection of language forms takes place on the social level. Language survives when it serves cooperative functions often enough, functions that reward at once 301 Das Vokabular, das hier eingeführt wird, stammt teilweise von Searle. Ich werde Searles Ansicht über Funktionen (Cummins-Style) in Kapitel 3 erläutern und einer Kritik unterziehen. 302 Vgl. Sober 1990. 121 both speakers and hearers (though they may often be rewarded at the end in different ways). Language forms proliferate when aiding speaker and hearer cooperation on common projects, typically, the sharing of information speaker and hearer have a mutual interest in sharing or the coordinating of projects and activities they have a mutual interest in advancing. Languaging is something that it takes a pair of people to do; both must be purposefully involved. Completed speech acts of a kind that have survival value are not the work of a speaker alone, but of a hearer purposefully cooperating with a speaker. Purposeful doings need not be confused with doings guided by intentions, however. There is purpose in what the kidneys do and purpose in the exhibition of behaviors resulting from conditioning. That producing beliefs or desires in a hearer is often part of the natural purpose of language use, both a purpose of the speaker’s speaking and a purpose of the hearer’s reaction in understanding, does not require that either speaker or hearer have intentions concerning beliefs or desires or, indeed, so much as concepts of beliefs and desires.“303 Kommen wir zurück zum Problem des Regelregresses. Wir sagten, dass dem Funktionalismus zufolge natürliche Sprachen als Systeme von Begriffen und Ausdrücken verstanden werden können, die nach bestimmten Regeln verwendet werden. Eine Sprache ist ein durch semantische Regeln beschriebenes Begriffssystem. Diese Auskunft ist unbefriedigend. Erstens sind Begriffe und Ausdrücke etwas, das von Sprechern verwendet wird, und nicht unabhängig von dieser Verwendung besteht. Und zweitens scheint es, wie wir bereits gesagt haben, dass Sprecher, um die Regeln einer bestimmten Sprache lernen zu können, jene Sprache, in der diese Regeln formuliert werden, doch bereits beherrschen müssten. Da auch diese Sprache wiederum Regeln der Verwendung hat, droht ein Regress. Weil wir Erstsprachen lernen, kann eine Theorie nicht richtig sein, die einem Regress zu verfallen droht, denn sie verunmöglicht ein Verständnis, wie wir überhaupt eine Sprache lernen können. Wir wollten deshalb wissen: Wie kommen die Ausdrücke einer natürlichen Sprache zu ihren Bedeutungen? Wie ist es möglich, dass ein Sprachschüler eine natürliche Sprache lernt? Die erste Frage zielt auf Bedeutungen, die zweite auf ein Verhalten. Sellars’ Pointe besteht darin, beide Fragen gleichzeitig zu beantworten, und damit den Regress abzuwenden. Sellars ist selbst der Ansicht, dass seine Antwort im Geist des Pragmatismus erfolgt. Wir sagten, die Grundeinsicht des Pragmatismus sei es, „dass eine wesentliche Verbindung besteht zwischen Bedeutung und Handlung, so dass das Wesen der Bedeutung nur mit Bezug auf die Handlung geklärt werden kann.“304 Ganz richtig weist Sellars eine instrumentalistische Interpretation dieser Einsicht zurück. Es sei ein Kategorienfehler (eine Verwechslung zwischen A-Ebene und B-Ebene) Definitionen von „S bedeutet p“ durch die Rolle geben zu wollen, die S als Instrument im problemlösenden oder Wunsch erfüllenden Verhalten spiele. Der Pragmatismus sei dann ein revolutionärer Schritt in der 303 304 LBM: 85f.; vgl. LTOBC: III; VM: IX. Morris 1977: 202. 122 westlichen Philosophiegeschichte, wenn seine Grundeinsicht im Hinblick auf die sprachliche Bedeutung „is reformulated as the thesis that the language we use has a much more intimate connection with conduct than we have yet suggested, and that this connection is intrinsic to its structure as language, rather than a ‘use’ to which it ‘happens’ to be put“.305 Das Verhalten sollte also nicht als etwas der Sprache Äußerliches aufgefasst werden, sondern als etwas, das die semantische Dimension einer Sprache gleichsam von Innen her auszubilden vermag. Um die pragmatische Grundeinsicht auf diese Weise zu entwickeln und um den Regelregress zu beheben unterschiedet Sellars zwei Arten von Regeln, nämlich Regeln der Kritik (rules of criticism, ought-to-be’s) und Regeln des Handelns (rules of action, oughtto-do’s). Letztere geben an, wie man in bestimmten Umständen handeln soll, erstere hingegen, wie die Dinge unter diesen Umständen sein sollen.306 Handlungsregeln schreiben im Allgemeinen vor, dass man etwas Bestimmtes tun sollte, wenn man in einer bestimmten Situation ist. Regeln der Kritik hingegen geben an, dass man sich in einem bestimmten Zustand befinden sollte, wenn man in einer bestimmten Situation ist. Handlungsregeln müssen angewendet werden können, wenn ihnen gefolgt werden soll, nicht jedoch Regeln der Kritik, denn diese werden gerade nicht angewendet. Ihr normativer Charakter besteht darin, dass sie (wie im Falle des Erstspracherwerbs) Auskunft darüber geben, welche sprachlichen Reaktionen in bestimmten Situationen gezeigt werden sollen. Regeln der Kritik erlauben es uns zu verstehen, inwiefern die Befolgung einer Regel nichts weiter als ein uniformes Verhalten in Übereinstimmung mit der Regel sein kann, ohne dass man dabei eine Regel anzuwenden braucht. Wir hatten gesehen, dass funktionale Rollen normative Regeln sind. Die Antwort auf das Regressproblem lautet in nuce: Funktionale Rollen sind keine Handlungsregeln, sondern Regeln der Kritik.307 Mit der Einführung von Regeln der Kritik akzeptiert Sellars ein Prinzip, das er wie folgt expliziert: „the espousal of a principle or standard, whatever else it involves, is characterized by a uniformity of performance.“308 Ein uniformes Verhaltensmuster selbst kann rein deskriptiv beschrieben werden (es gehört der A-Ebene an), nicht aber die Regel selbst (sie gehört der B-Ebene an). Die pragmatistische Grundeinsicht wird durch die Idee vertieft, wonach Sprachverhalten nicht als regelgeleitetes Verhalten betrachtet wird, sondern als „mustergeleitetes Verhalten“ Sellars 1963: 340, bzw. 2007: 40. Dies entspricht der älteren Unterscheidung von „Seinsollen“ und „Tunsollen“, vgl. Abschnitt 3.1.2. 307 Sellars 2007: 88. 308 Sellars 1963: 216. 305 306 123 (pattern-gouverened behaviour) oder als „regel-gehorchendes Verhalten“ (rule obeying behaviour) „in dem Regeln nicht angewendet werden, das aber dennoch Regeln unterworfen ist.“309 Betrachten wir, wie Sellars diese Unterscheidung einsetzt. Wir trainieren Kinder, Papageien oder Hunde gemäß Regeln der Kritik, d.h. wir bringen es dahin, dass Kinder und Papageien z.B. auf rote Dinge mit dem Ausdruck „rot“ reagieren, und dass Hunde auf das Geräusch „Sitz“ mit Sitzverhalten reagieren. Dass diese Lebewesen dergestalt Regeln der Kritik unterstellt werden, setzt nicht voraus, dass die Subjekte die Begriffe „rot“ oder „Sitz“ beherrschen, es setzt aber voraus, dass der Trainer dies tut.310 Durch Regeln der Kritik werden sprachliche Reaktionen mit außersprachlichen Objekten verbunden (Spracheingänge), aber auch mit innersprachlichen Objekten (Sprachübergänge) und mit Verhaltensweisen (Sprachausgänge). Wir können sagen, dass das Kind (oder der Papagei) mit dem Wort „rot“ auf eine Frage antwortet oder sagt „Das ist rot“, „but in the earlier stage [des Sprachtrainings] we are classifying his utterances as sounds and only by courtesy [im Falle des Papageien] and anticipation [im Falle des Kinds] as words. Only when the child has got the hang of how his utterances function in the language can he be properly characterized as saying ‘This is a book’ or ‚It is not raining’ or ‘Lightning, so shortly thunder’.“311 Anders als Hunde und Papageien werden Kinder im Normalfall kompetente Sprachbenutzer, die nicht nur Regeln der Kritik unterstehen, sondern auch Handlungsregeln beherrschen. Das bedeutet nicht, dass Menschen erst zu kompetenten Sprechern werden, wenn sie gleichsam zu Handlungsregeln übergehen. Sprachverhalten bleibt stets den Regeln der Kritik unterworfenes mustergeleitetes Verhalten, und zwar ein Verhalten in einem komplexen Muster korrekter und inkorrekter Spracheingänge, Sprachübergänge und Sprachausgänge, wie dies Sellars’ Funktionalismus fordert.312 Menschen erwerben so, indem sie in dieses komplexe Muster hineinwachsen und fähig sind, sich selbst Handlungsregeln zu unterstellen, die für sie spezifische zweite Natur (2.4.). Anders als im Falle des Papageien unterstellen wir dem Kind im Sinne eines „Vorgriffs der Vollkommenheit“313, dass es gleichsam ein vollwertiges Mitglied einer Sprachgemeinschaft in diesem Sinne ist. Denn solche Mitglieder sind „first language learners and only potentially Haag 2007: 55. Der Trainer bringt das Kind oder den Papageien dazu der folgenden Regel (der Kritik) zu entsprechen: „Auf die Präsenz roter Objekte (unter bestimmten Bedingungen) soll man reagieren, indem man das Geräusch ‚Das ist rot’ produziert oder dazu disponiert ist es zu produzieren“. Eine entsprechende Handlungsregel lautet: „Man soll in der Gegenwart roter Objekte sagen: ‚Das ist rot’“. Die entsprechende Handlungsregel für den Trainer lautet: „Man muss Kinder oder Papageien dazu bringen, dass sie auf die Präsenz roter Objekte (unter bestimmten Bedingungen) reagieren, indem sie das Geräusch ‚Das ist rot’ produzieren oder dazu disponiert sind, es zu produzieren“. 311 Sellars 2007: 85. 312 Vgl. Sellars 1973. Dank an Johannes Haag, der mich (nicht nur) hier zu Präzisierungen angeregt hat. 313 Gadamer 1999, Bd. 1: 299ff. 309 310 124 ‘people’, but subsequentley language teachers, possessed of the rich concpetual framework this implies.“314 Ein designiertes Mitglied einer Sprachgemeinschaft (ein Sprachlerner) ist zunächst einfach ein Gegenstand von sprachlichen Regeln der Kritik, das so bestimmte Dispositionen erwirbt und mit der Zeit ein einheitliches sprachliches Verhaltensmuster (gemäß den Regeln der Kritik) zeigt. Ein kompetentes Mitglied einer Sprachgemeinschaft (ein Sprecher) ist nicht nur Gegenstand dieser Regeln, sondern es beherrscht, erfasst, kennt diese Regeln als Sprecher. Mit anderen Worten, er fällt nicht nur unter Regeln der Kritik, sondern er erfasst auch Handlungsregeln: „It is the same items (people) who are agent-subjects for ought-to-do and the subject-matter-subjects of the ought-to-be.“315 Als Gegenstand (subjectmatter-subjects) von Regeln der Kritik legt ein Mensch bestimmte behaviorale, empirisch beschreibbare Uniformitäten an den Tag, die diesen Regeln entsprechen, als Sprecher einer Sprache (agent-subjects) untersteht er zwar nach wie vor diesen Uniformitäten, beherrschen aber ein komplexes Netz von Sprachübergangsregeln und können diese Regeln als Handlungsregeln auf sich selbst und andere anwenden. Die uniforme Reaktion auf rote Objekte mit der Äußerung von „rot“ z.B. folgt einer Regel der Kritik. Diese könnte in etwa lauten: Ex Regel der Kritik: Auf die Präsenz roter Objekte unter bestimmten Bedingungen soll man reagieren, indem man das Geräusch ‚Das ist rot’ produziert oder dazu disponiert ist es zu produzieren. Diese Kritikregel erklärt das Auftreten der uniformen Reaktion. Diese Regel erklärt das Muster deshalb, weil der Sprachtrainer den Sprachlerner ausbildet. Der Sprachtrainer orientiert sich dabei seinerseits an einer Regel des Handelns, die lauten könnte: Ex Regel des Handelns: Man muss Kinder dazu bringen, dass sie auf die Präsenz roter Objekte unter bestimmten Bedingungen reagieren, indem sie das Geräusch ‚Das ist rot’ produzieren oder dazu disponiert sind, es zu produzieren. Semantische Regeln besitzen also ought-to-be-Normativität. Doch dieser Status kommt ihnen wiederum nur zu, weil die Ursache für die den Regeln der Kritik (ought-to-be’s) entsprechenden Verhaltensuniformitäten die durch Handlungsregeln gelenkten Sprachtrainer sind. Es ist eine (indirekte) Auswirkung des Verhaltens des Sprachtrainers, der dabei Handlungsregeln folgt, dass das Verhalten des Sprachlerners mehr und mehr mit den Regeln der Kritik übereinstimmt und in dieser Weise zu einem uniformen Verhaltensmuster wird, ohne dass der Sprachlerner diese Regeln erfassen müsste. „Trainees 314 315 Sellars 2007: 63f. Sellars 2007: 61. 125 conform to ought-to-be’s because trainers obey corresponding ought-to-do’s.“316 Sprachliche Regeln der Kritik und sprachliche Regeln des Handelns finden sich sozusagen in einem hermeneutischen Zirkel. Aus diesem Grund sagt Sellars, dass der Gebrauch von sprachlichen Zeichen (für den semantische Normen, mithin Regeln, konstitutiv sind) nicht nur durch einen Verweis auf Objekte verstanden werden kann, sondern allein unter der Einbeziehung eines Systems, das von Begriffen wie „Person“ , „ought-to-be’s“, „ought-todo’s“ und „much, much more“ Gebrauch machen muss.317 Mit anderen Worten: Die sich selbst reproduzierende Sprachgemeinschaft ist die kleinste für das Verständnis sprachlicher (begrifflicher) Aktivität erforderliche Einheit.318 Weder der (normative) Status des Sprachtrainers, der Kritikregeln untersteht und Handlungsregeln erfasst, noch der (normative) Status des Sprachlerners, der im Vorgriff der Vollkommenheit Kritikregeln untersteht, lassen sich auf die A-Ebene empirischer Uniformitäten reduzieren. Obwohl Sprachtrainer und -lerner ihrem Status gemäß zur BEbene gehören, befinden sich beide, insofern sie behaviorale Uniformitäten an den Tag legen, auf der A-Ebene. Hierin zeigt sich exemplarisch die begriffliche Nichtreduzierbarkeit und gleichzeitige kausale Reduzierbarkeit von Elementen der B-Ebene auf Elemente der AEbene. Es ist es interessant, dass Sellars diese Unterscheidung zwischen zwei Arten von Normen nicht nur auf Sprachverhalten anwendet, sondern auch auf Artefakte. Hier Sellars’ Beispiel für eine solche Regel der Kritik: (1) Uhrenschlagwerke sollten alle Viertelstunde schlagen.319 Diese Regel trifft auf Uhrenschlagwerke zu und besagt, wie Uhrenschlagwerke sein sollten, mehr noch: was Uhrenschlagwerke sind. Nun sind solche Schlagwerke (erstens) zu diesem Zweck hergestellt worden und sie sollen (zweitens) so gewartet werden, dass sie jede Viertelstunde schlagen. Daraus ergibt sich eine Handlungsregel, die nicht auf Uhren, sondern auf Personen (den Hersteller oder den Wärter) zutrifft: (2) Man soll dafür sorgen, dass Uhrenschlagwerke alle Viertelstunde schlagen (durch ihre Herstellung, durch ihre Wartung). Sellars meint, dass Regeln der Kritik Handlungsregeln implizieren,320 d.h. (1) impliziert, dass Uhrenschlagwerke auf bestimmte Weise hergestellt oder gewartet werden, aber (2) impliziert nicht, sondern setzt voraus, dass Uhrenschlagwerke alle Viertelstunde schlagen Sellars 2007: 87. Sellars 2007: 65. 318 Sellars 2007: 64. 319 Sellars 2007: 59. 320 Sellars 2007: 60. 316 317 126 sollen. Regeln der Kritik sind in diesem Sinne grundlegender als Regeln des Handelns. Trotzdem können letztere nicht auf erstere reduziert werden, weil die Kritikregeln für diese Artefakte (ebenso wie die Disposition abgerichteter Hunde und Papageien) natürlich wiederum von Personen abhängen, denn Personen stellen Artefakte her und richten Tiere ab. Der Begriff der Person involviert bei Sellars jedoch, wie wir gesehen haben, das Ganze einer sich selbst reproduzierenden Sprachgemeinschaft.321 Allerdings kann man die Regeln der Kritik aber auch auf Lebewesen anwenden. Die Herausbildung uniformer sprachlicher Verhaltensmuster bei einem Sprachlerner erfolgt nicht ursächlich aufgrund der direkten Einflussnahme des Sprachtrainers, sondern durch die selektive Verstärkung von Verhaltensweisen (gegenüber anderen) und die gleichzeitige selektive Löschung von Verhaltensweisen (gegenüber anderen). Der ontogenetische Lernprozess, der zu einem uniformen Verhaltensmuster gemäß einer Regel führt, folgt dem Muster der Selektion, wie Sellars bemerkt: „[T]he phenomena of learning present interesting analogies to the evolution of species […] with new behavioral tendencies playing the role of mutations, and the ‘law of effect’ the role of natural selection.“322 Sellars bezieht sich hier auf einen ontogenetischen Lernprozess. Doch Wesen, die eine Sprache lernen sollen, müssen natürlich die Fähigkeit haben, eine Sprache zu lernen. In Sellars’ Bild müssen sie die Fähigkeit haben, natürliche sprachliche Strukturen nach uniformen Mustern als Reaktionen auf bestimmte Reize als Resultat eines gesteuerten Prozesses der Abrichtung hervorzubringen. Ohne diese spezifische Lernfähigkeit könnten Wesen weder als Sprachlerner noch als Sprachtrainer auftreten. Für diese Fähigkeit gilt, wie für alle Fähigkeiten, dass sie gut oder schlecht ausgeübt werden kann oder vielleicht gar nicht zur Ausübung kommt. Auch wenn ein Wesen diese Fähigkeit im Allgemeinen nicht gut oder überhaupt nicht ausübt, so hat dieses Wesen qua Wesen, das durch einen Vorgriff der Vollkommenheit als Sprachlerner in Frage kommt, diese Fähigkeit ebenso sehr, wie ein Uhrschlagwerk die Fähigkeit hat, alle Viertelstunde zu schlagen, auch wenn es dies nur ungenau tut (schlechte Anfertigung) oder gar nicht tut (wurde niemals aufgezogen, hat einen irreparablen Defekt, leidet unter Materialmängeln usw.). Man kann also für designierte Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in Analogie zum Fall des Artefakts eine Regel der Kritik aufstellen. Nun gehören designierte Mitglieder der Sprachgemeinschaft, d.h. Wesen, die durch einen Vorgriff der Vollkommenheit als Sprachlerner in Frage kommen, vorwiegend der menschlichen Gattung an: „Der Mensch kann eine Sprache 321 322 Sellars 2007: 65. Sellars 1963: 327, bzw. 2007: 34. 127 lernen.“ Menschen, die dies aus irgendwelchen Gründen nicht können, hören damit nicht auf Menschen zu sein, aber sie haben einen schwerwiegenden Defekt oder Mangel. Deshalb kann man sagen: „Der Mensch sollte eine Sprache lernen können.“323 Es scheint, dass es zu dieser Regel der Kritik (diesem „Wie-Menschen-sein-sollten“) keine entsprechende Handlungsregel gibt. Denn keine Person bringt den Menschen dazu eine Sprache zu lernen. Sprachtrainer bringen bestimmte Menschen dazu eine Sprache zu lernen. Es sei denn, man unterstelle ein transzendentes Subjekt, das diese Aufgabe übernimmt. Doch sieht man von dieser Option ab, so scheint es, dass an dieser Stelle der hermeneutische Zirkel, der Regeln der Kritik und Handlungsregeln gegenseitig aufeinander bezieht, aufgebrochen wird, und man sich die Frage stellen muss, woher eine solche Fähigkeit stammt, die nicht durch Handlungsregeln instituiert wird, aber offenbar Regeln der Kritik untersteht, mithin eine normative Dimension aufweist. Denn mit der Einführung von Regeln der Kritik akzeptiert Sellars ja das Prinzip, dass „the espousal of a principle or standard, whatever else it involves, is characterized by a uniformity of performance.“324 Ein uniformes Verhaltensmuster wie das Sprachenlernen bei Menschen kann rein deskriptiv beschrieben werden (es gehört der A-Ebene an), nicht aber die Norm selbst (sie gehört der B-Ebene an). Woher stammt die dazugehörige Norm? 1.2.7. Sellars: Tierliche Repräsentations-Systeme (TRS) Sellars verweist auf die natürliche Selektion als einer Vorrichtung zur Herstellung uniformer Verhaltensmuster. Er wählt dabei das Beispiel des Bienentanzes. Bienentänze als uniforme Verhaltensmuster, die einer bestimmten Regel folgen, sind das Resultat eines Prozesses der natürlichen Selektion. Bienen, die einen Futterplatz in weniger als 90 Meter Entfernung vom Stock gefunden haben, unterstehen folgender Regel der Kritik: „Bienen, die einen Futterplatz in weniger als 90 Meter Entfernung gefunden haben, sollten einen Tanz bestimmter Art ausführen“. Bienen folgen (wenn man so will) „ought-to-bee’s“. Dies ist Sellars’ Beschreibung: „(a) The pattern (dance) is first exemplified by particular bees in a way which is not appropriately described by saying that the successive acts by which the pattern is realized occur because of the pattern. (b) Having a ‘wiring diagram’ which expresses 323 Mit anderen Worten: Menschen bilden eine spezifische normative Kategorie. Ich werde den Begriff einer normativen Kategorie in Kapitel 3 einführen. Der Ausdruck „spezifisch“ wird hier im Sinne von „artgemäß“ verwendet. 324 Sellars 1963: 216. 128 itself in this pattern has survival value. (c) Through the mechanisms of heredity and natural selection it comes about that all bees have this ‘wiring diagram’.“325 Dieses Beispiel ist, wie wir gesehen haben (1.1.5.), für die Biosemantik zentral, suggeriert es doch nicht nur eine Antwort auf die Frage, warum bestimmte Wesen bestimmte Fähigkeiten (etwa die Fähigkeit eine Sprache zu lernen) haben, sondern es suggeriert zugleich, dass diesen Fähigkeiten eine Norm zugrunde liegen muss. Diesen Fähigkeiten kommt eine objektive normative Dimension dann zu, wenn man das, wozu sie befähigen, als ihre Funktionen im Sinne einer Wright-Funktion versteht, und d.h. als selektierte Wirkungen. Das Seinsollen einer solchen biologischen Fähigkeit (ihre normative Dimension, ihre Regel der Kritik) ist objektiv, insofern sie unabhängig von einem Tunsollen (einer Handlungsregel) besteht. Die Regel der Kritik für den Bienentanz wird als Norm nicht schlechterdings durch den Überlebenswert des Verhaltensmusters gegeben, sondern durch Verhaltensweisen, die aufgrund des Verhaltensmusters einen Überlebenswert haben, etwa durch das Auffinden von Futterplätzen. Jene (nicht andere) Bienen haben überlebt, deren Tänze dazu geführt haben, dass sie Futter finden. Natürlich zeichnen sich Sprecher einer Sprache dadurch aus, dass sie sowohl Regeln der Kritik als auch Handlungsregeln unterstehen und diese beiden Klassen von Regeln aufeinander verwiesen bleiben. Doch das entscheidende Moment in Sellars’ Ansatz (verstanden als Antwort auf den Regelregress und Vertiefung der pragmatistischen Grundeinsicht) ist die Einführung uniformer Verhaltensmuster, die der A-Ebene angehören, die Kritikregeln unterstehen, welche der B-Ebene angehören. Die Bienensprache ist in diesem Sinne Sprache genug, um ein Paradigma für eine sowohl normative als auch naturalistische allgemeine Zeichentheorie abgeben zu können. Es gilt für die biosemantische Theoriekonstruktion wie für Sellars, dass im Bereich des Geistigen die Sprache in der Ordnung des Erkennens einen gewissen Vorrang hat. Millikan hebt genau diese Aspekte hervor, und verbindet sie mit dem Sellarsschen Thema des Abbildens: „The analogy with bee dances retains the theme that conforming to the rules of a language is an intrinsically social activity. A bee dance is of use only if sister bees watch it and follow its direction. But the implication is clear that coming to follow the patterns prescribed by the rules of one’s language community is not just a game but has some broader utility for the child or for its community. It has a value beyond that of displaying certain social graces (say, as in playing a decent game of chess or bridge in some social circles). Moreover, it is hard to believe that Sellars has overlooked that a bee dance is a tiny map of the location of some nectar. The bee dance not only has utility for the bees, but the fact that it maps the location of 325 Sellars 1963: 326, bzw. 2007: 33f; zitiert in LBM: 83. 129 nectar by a certain rule of projection helps to explain why or how it can have this utility. It helps to explain the mechanism involved.“326 Was Millikan hier meint ist, dass Sellars natürlich nicht übersehen hat, dass Bienentänze Abbilder sind, sondern dass er mit den wenigen Bemerkungen über die Bienentänze in die Richtung weist, in der Morris’ Projekt eines semiotischen Behaviorismus weitergeführt und normativ transformiert werden kann.327 Die Hinweise betreffen tierliche Repräsentationssysteme und die natürliche Selektion als unermüdliche Produzentin mustergeleiteten Verhaltens. Wir haben zu Beginn dieses Abschnitts die Frage, warum Millikan auf Bienentänze gelangt und behauptet, dass natürliche Sprachen „in deep respects just like any other animal’s communication system“ seien.328 Die Antwort lautet, dass sich in tierlichen Kommunikationssystemen jene Form der Normativität findet, die Sellars einführt, um zu erklären, wie eine Sprache ein durch semantische Regeln beschriebenes Begriffssystem sein kann. Hier treffen sich also die normative Transformation des semiotischen Behaviorismus von Morris und die biosemantische Transformation des normativen Naturalismus von Sellars. Wir müssen uns aber einem prinzipiellen Einwand gegen Millikans biosemantische Transformation von Sellars’ normativem Naturalismus stellen. Obschon Sellars seinen Begriff des Abbildens hauptsächlich für sprachliche Vorkommnisse entwickelt, muss das Abbilden doch sowohl sprachliche als auch mentale Repräsentationen betreffen.329 Darüber hinaus betrifft es auch das, was Sellars als „tierliche Repräsentationssysteme“ (TRS) (animal representation systems) bezeichnet. Ein TRS kann dann als repräsentationales System betrachtet werden, wenn es in Analogie zu unseren Regeln des Spracheingans, Sprachausgangs und Sprachübergangs betrachtet werden kann. Doch dies kann nicht mehr zutreffen, sobald man umgekehrt tierliche Signalisation als Paradigma für äußere intentionale Zeichen betrachtet und die Sprache in Analogie dazu versteht. Und dies ist es, was die Biosemantik vorschlägt. LBM: 83. Vgl. dazu auch Sellars 1980: „Such representational systems or ‘cognitive cartography’ can be brought about by natural selection and transmitted genetically, as in the case of the ‘language’ of bees. Undoubtedly a primitive form of representational system is also an innate endowment of human beings. The concept of innate abilities to be aware of something as something, and, hence, of pre-linguistic awarenesses, is perfectly intelligible. [Vgl. ebenso Sellars 2007: 292] […] Primitive representational abilities show analogies to the more sophisticated forms which became available with language acquisition (otherwise they wouldn’t be representational).“ Die erste Hälfte beschreibt die Richtung, in die Millikan gehen wird, die zweite Hälfte hingegen die umgekehrte Richtung. Millikans Theoriekonstruktion zufolge werden nicht tierliche Repräsentationssysteme in Analogie zu sprachlichen Repräsentationen verstanden, sondern umgekehrt sprachliche in Analogie zu tierlichen. Die evolutionäre Entwicklungsrichtung ist auch die richtige explanatorische Richtung. 328 WQP: 10. 329 Vgl. Sellars 2007: 282: „What I have held is that the members of a certain class of linguistic events are thoughts.“ 326 327 130 Sellars hat diese Spur jedoch in seinen späten Überlegungen selbst gelegt. Ratten beispielsweise verhalten sich ausgesprochen intelligent. Es scheint, dass sie so etwas wie mentale Landkarten ihrer Umgebung ausbilden, mit deren Hilfe sie sich orientieren und für sie wichtige Dinge finden oder ihnen gefährliche Dinge umgehen. Wie können wir uns dies vorstellen? Nun, primitive kausale Inferenzen können wir in Analogie zu innersprachlichen Übergängen (nämlich zu materialen Inferenzen) auch Tieren zugestehen. Folgt man Humes Idee eines assoziativen Übergangs zwischen (der Repräsentation) einer Ursache und (der Repräsentation) einer Wirkung, können bestimmte tierliche Verhaltensweisen als mustergeleitet (pattern-gouverned) betrachtet werden. Denn inferenzielle Muster sind „uniformities in the occurrence of representational states. Certain kinds of representational states tend to be followed (or to be followed in the absence of) certain other kinds of representational states“.330 Solch mustergeleitetes Verhalten wird nicht (und dies ist ein wichtiger Punkt) durch eine Absicht, sich gemäß einem Muster zu verhalten, hervorgebracht, „but because the propensity to emit behavior of the pattern has been selectively reinforced, and the propensity to emit behavior which does not conform to this pattern selectively extinguished.“331 Eine solche inferenzielle Einbettung unterscheide nämlich erst Repräsentationen von etwas (o) als etwas (F) von bloßen Reaktionen auf etwas (o), das etwas (F) ist. Die Analogie zu Spracheingängen besteht in der Ausbildung einer Repräsentation als Reaktion auf Sinnesreize. Die Analogie zu Sprachausgängen sind Repräsentationen der eigenen Verhaltensweisen eines Tieres. So meint Sellars eine Ratte könne sich als springend repräsentieren und dies wiederum könne als einfache Form der Absicht zu springen verstanden werden.332 Ein Lebewesen kann also als TRS betrachtet werden, wenn seine Zustände Manifestationen eines Systems von Dispositionen und Neigungen sind mit deren Hilfe das Lebewesen eine Art mentale Karte seiner Umgebung und seiner selbst konstruiert und sich und sein Verhalten innerhalb dieser Karte lokalisiert. Ein Lebewesen verwendet keine Karte, wie Kartenleser es tun, sondern es instantiiert vielmehr eine Karte. Wir übersetzen das, was wir auf einer Landkarte sehen, in Aussagen oder Absichten.333 In gewisser Weise fungieren die Repräsentationen der Landkarte für den Kartenleser als Prämissen für dessen Sellars 2007: 293. Sellars 2007: 86f. 332 Dagegen wendet Jay Rosenberg ein, dass er sich selbst als springend durch den Gedanken oder die Aussagen „Ich springe“ repräsentieren kann, dass es ihm aber schwer falle, eine Analogie zur scheinbar unabdingbaren Verwendung von „ich“ bei sprachlosen Wesen zu finden. (Rosenberg 2007: 109). So schwer ist das nicht. Ich komme darauf in Kapitel 4 zurück („Schimpansenargument“). 333 Wir übersetzten, wie Morris sagen würden, Zeichen in Symbole. 330 331 131 Aussagen und Absichten. Die Zustände eines TRS hingegen bilden selbst eine Karte, die das Verhalten eines Lebewesens in einer Umgebung lenkt. Mithilfe dieser Karte orientiert sich eine Ratte in ihrer Umgebung, findet das Nest, meidet Fallen, findet Paarungspartner und meidet die Hauskatze, findet Futterverstecke, meidet Gift usw.. Diese Karte (der Kern des TRS) bildet eine Struktur, die der räumlichen Umgebung des Lebewesens (auf die eine oder andere Weise) ähnlich ist, indem sie sie (auf abstrakte Weise) abbildet. Ohne eine solche Abbildungsrelation würde die Karte ihre Aufgabe (Funktion) nicht erfüllen können, das Verhalten eines Wesens mit TRS in einer Umgebung lenken zu können. TRS sind also Karten mit deren Hilfe Lebewesen navigieren. Ein repräsentationaler Zustand wird durch zwei Eigenschaften charakterisiert. Ein TRS kann Einzeldinge in seiner Umwelt repräsentieren und es kann diese Einzeldinge als von bestimmter Beschaffenheit seiend repräsentieren. Ein solcher Zustand (ein R-Vehikel) erfüllt somit zwei Aufgaben: Er repräsentiert etwas (a) als etwas (F), und zwar indem er eine Rolle spielt sowohl im Auffinden oder Vermeiden bestimmter Einzelobjekte (z.B. den Partner oder die Katze) und indem er eine Rolle spielt im Auffinden (oder Vermeiden) bestimmter Dinge (z.B. Artgenossen oder Feinde). Repräsentationale Zustände (als Teil eines Systems) haben also eine propositionale Struktur, die ein referentielles Element (Bezug auf a) und ein charakterisierendes Element (Charakterisierung als F) umfasst, und zwar in Analogie zu einfachen Aussagesätzen einer natürlichen Sprache.334 Diese Beschreibung von TRS sagt jedoch nichts darüber aus, wie ein Zustand eines solchen Systems korrekt oder inkorrekt sein kann. Die bloße mechanische und behaviorale Produktion von strukturierten Abbildern reicht dazu offenbar nicht aus, es fehlt die normative Dimension. Sellars zufolge gilt: „in thinking of pictures as correct or incorrect we are thinking of the uniformities invovled as directly or indirectly subject to rules of criticism“.335 Das Problem scheint also darin zu bestehen, dass TRS in keiner Weise (weder direkt noch indirekt) Gegenstand von Regeln der Kritik sein können.336 Aber warum? Regeln der Kritik müssen von Gegenständen (subject-matter subjects), die unter sie fallen, nicht 334 Vielleicht ist die Analogie eher jene zu „Jumblese“, da in jener Sprache Relationen zwischen Namen (a, b) ohne Hilfe logischer Symbole ausgedrückt werden. So kann etwa das komplexe Zeichen ‚a b’ einfach bedeuten, dass a (zeitlich) nach b kommt. TRS haben so die Möglichkeit nicht-logische Komplexe aus repräsentationalen Elementen zu bilden. Diese Repräsentationen sind piktorial komplex, nicht aber logisch komplex. Doch im Unterschied zu unseren repräsentationalen Systemen sind TRS zwar piktorial, aber nicht logisch komplex. So kann man die visuelle Wahrnehmung der Umgebung eines TRS als piktorial komplexe Repräsentation der visuellen Umgebung hic et nunc verstehen. Wie wir gesehen haben: Nur sofern ein solcher komplexer Zustand Bestandteil eines repräsentationalen Systems ist (d.h. Analogien zu Sprachübergängen und Sprachaustritten zulässt), kann er als Repräsentation der Umgebung des Lebewesens gelten (und nicht als bloße Reaktion darauf). Diese Art der Repräsentation kann von ihrer propositionalen Struktur her, ihrer Einbettung in ein System und aufgrund ihrer Orientierungsfunktion als Abbild verstanden werden. 335 Sellars zitiert nach Rosenberg 2007: 116. 336 Rosenberg 2007: 116. 132 erfasst und als Verhaltensregeln verwendet werden können Für Sellars erscheint die Annahme, Regeln der Kritik könnten ein Verhaltensmuster eines TRS charakterisieren, unabhängig davon, dass Personen (agent subjects) sie als Regeln des Handelns erfassen und verwenden, unsinnig, und zwar aufgrund des hermeneutischen Zirkels zwischen Regeln der Kritik und Regeln des Handelns. Damit etwas einen normativen Status haben kann, muss es im logischen Raum der Gründe verortet werden können. Trainieren wir einen Hund, dann sind wir es, die die für das Hundeverhalten relevanten Regeln der Kritik in Regeln des Handelns übersetzen. TRS können an sich selbst nichts dergleichen, sie können dies nur gleichsam für uns, und deshalb unterstehen sie per analogiam Regeln der Kritik und nicht, wie designierte und akkreditierte Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, buchstäblich. Wir haben aber bereits gesehen, dass der Begriff der Funktion es erlaubt, Regeln der Kritik unabhängig von Regeln des Handelns zu konzipieren. Im Falle der TRS kann man weiter sagen, dass die Karten, die durch TRS instantiiert werden, eine Rolle beim Auffinden und Vermeiden von Orten, Individuen und Dingen spielen, dass also diesen Karten (und damit auch den R-Zuständen) eine Funktion bei diesen Verhaltensweisen zukommt. Die Karten und die Verhaltensweisen der TRS sind biologische Anpassungen, die den Effekt hatten, die Fitness der TRS zu erhöhen. Doch alles in allem scheint der Erfolg dieser Verhaltensweisen eine rein statistische Angelegenheit zu sein. Dies kommentiert Rosenberg wie folgt: „When the chips are down, the concepts of a strategy’s ‘effectiveness’ is purely statistical – a matter of the frequency with which its behavioural implementations prove successful – and, by Sellars’ own lights, there is nothing normative about that. For primitive animal RSs [TRS], the teleology of representational states is evidently as close as we can come to their normativity.“337 Die biosemantische Entgegnung liegt auf der Hand. Erstens müssen das Abbilden der Karten und die Verhaltensweisen des Findens und Meidens im Zusammenhang gesehen werden: Das Vorliegen einer Abbildungsregel zwischen den Karten (R-Vehikeln) und Merkmalen der Umwelt (Adaptoren) der diese Karten instantiierenden TRS ist eine Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der Echten Funktionen der Verhaltensweisen des Findens und Meidens (gemäß einer Normalen Erklärung). Will die Ratte den Futtervorrat finden, dann ist die Hervorbringung eines R-Vehikels, die den entsprechenden Ort in der Umgebung der Ratte abbildet, eine Normale Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der Echten Funktion des K-Mechanismus, der die Ratte in Richtung Futtervorrat bringen soll. Zweitens ist die statistische Theorie biologischer Echter Funktionen falsch. Ein biologisches Merkmal, das in den häufigsten Fällen seine biologische Funktion nicht erfüllt, 337 Rosenberg 2007: 117 (meine Hervorhebung). 133 verliert dadurch nicht seine Funktion.338 Echte Funktionen sind keine statistischen Werte, sondern selektierte Wirkungen. Echte Funktionen verfügen sowohl über eine teleologische als auch über eine normative Dimension, und es ist diese normative Dimension, die erklärt, wie R-Inhalte von R-Vehikeln (Abbilder) zu IR-Inhalten werden. Es besteht deshalb kein Grund zur Annahme, dass der eigentliche Anwendungsbereich semantischer Begriffe die Sprache ist und semantische Beschreibungen von TRS notwendig analogisch sind. Somit steht der biosemantischen Theoriekonstruktion, die ihren Ausgang bei einem tierlichen Verhalten wie dem Bienentanz nimmt, nichts mehr im Wege. Millikan zeigt sich darin als Schülerin von Sellars, dass sie das Projekt eines normativen Naturalismus verfolgt. Aber Sellars sieht nicht, dass der hermeneutische Zirkel zwischen Regeln der Kritik und Handlungsregeln aufgebrochen werden kann; er sieht nicht, dass biologischen Funktionen genuine Normativität zukommen kann; und er sieht nicht, dass seine Auffassung, wie Sprache zu Bedeutung kommt, auf diese Form der Normativität angewiesen ist. Sobald man den Blick frei hat, um diese Dinge sehen zu können, kann man in inneren und äußeren TRS mehr als Analogiebildungen zu genuin sprachlichem Verhalten sehen, das als alleiniger Lokus der Intentionalität in Frage käme.339 Es ist vielmehr, wie wir mithilfe von Darwin einsehen können umgekehrt, man kann in tierlichen Repräsentationssystemen Fälle genuiner Intentionalität sehen, sodass wir die intentionale Dimension unseres Sprechens und Denkens nach diesem Paradigma theoretisch rekonstruieren können. Deshalb sind natürliche Sprachen „in deep respects just like any other animal’s communication system“.340 Ich komme auf die irrige statistische Deutung in Kapitel 3 zurück. Vgl. Brandom 1994: 61. 340 WQP: 10. 338 339 134 1.3. Vier Probleme der Biosemantik Bislang wurde die Biosemantik dargestellt (1.1.1-1.1.7.) und rekontextualisiert (1.2.1.-1.2.7.) und der ihr zugrunde liegende Naturalismus bestimmt (1.3.). Dabei hat sich Folgendes gezeigt: Die Biosemantik ist eine allgemeine Theorie der Repräsentation (1.1.2.-1.1.3.) und – weiter gefasst – der Zeichen (1.2.1.-5.). Sie beantwortet Kants Frage nach dem Grund der Beziehung von Repräsentationen auf ihr intentionales Objekt (1.1.2.) unter Rückgriff auf die Begriffe Echte Funktion, Normale Erklärung und Abbildungsregel (1.1.4.-1.1.7). Die These lautet, dass der IR-Inhalt eines R-Vehikels bestimmt durch jene Sachverhalte, mit denen das R-Vehikel in Übereinstimmung mit einer Abbildungsregel korrespondieren muss, damit ein kooperierender K-Mechanismus seine Echte Funktion gemäß einer Normalen Erklärung ausüben kann. Methodisch folgt die Biosemantik dem Verfahren der Theoriekonstruktion (1.1.6.). Dieses Verfahren wird, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, durch die Methode der explanatorischen Vereinheitlichung gerechtfertigt, die der Philosophie und den Naturwissenschaften gemeinsam ist. Das vereinheitlichende Argumentationsschema bietet Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Selektion. Die Biosemantik wurde auf den vorhergehenden Seiten mehr dargestellt als evaluiert. Aber natürlich wirft das Projekt zahlreiche Fragen auf. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die Biosemantik zu verteidigen, indem sie von fünf Problemen der Teleosemantik ausgeht, die Varianten grundlegender philosophischer Problemstellungen sind (1.1.1.): (1) Betreibt die Teleosemantik die Wiederbelebung eines veralteten Begriffs der natürlichen Teleologie? (2) Braucht die Teleosemantik einen normativen Begriff der Funktion? (3) Kann die Teleosemantik das Sumpfmannproblem lösen? (4) Soll die Teleosemantik produzenten- oder konsumentenorientiert sein? Problem (1): Natürliche Teleologie. Die Biosemantik ist eine naturalistische teleologische Theorie, die auf Darwin Bezug nimmt. Aber hat nicht Darwin die Teleologie endgültig aus den Naturwissenschaften verbannt? Und hat nicht Kant ein für allemal gezeigt, dass allen teleologischen Urteilen ein Als-ob anhaftet? Es wird häufig angenommen, die modernen Naturwissenschaften hätten die Teleologie aus der Natur verbannt und auf Finalursachen rekurrierende teleologische Erklärungen vollständig durch auf Wirkursachen rekurrierende 135 mechanisch-nomologische Erklärungen ersetzt. Im Gegensatz zu mechanischen oder nomologischen Erklärungen werden teleologische Erklärungen als suspekt beurteilt. Solche Erklärungen scheinen nämlich unerwünschte Zutaten wie vitalistische Lebenskräfte, Rückwärtskausalität und die Unterstellung eines Zweck setzenden Wesens zu enthalten. Sie erscheinen unvereinbar mit mechanisch-nomologischen Erklärungen und widersetzen sich empirischer Überprüfung. Bereits in der frühneuzeitlichen Philosophie werden teleologische Beschreibungen und Erklärungen als anthropomorphe Projektionen interpretiert und kritisiert. Zunächst scheinen entscheidende Etappen in der Entwicklung der Wissenschaft in der Neuzeit diese These zu bestätigen. Insbesondere wird behauptet, dass Darwins Origins of Species die Teleologie endgültig aus dem Bereich der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie verbannt habe.341 Wie kann sich die Biosemantik auf die Teleologie berufen? Und wie kann sie in einem darwinistischen Rahmen operieren, wenn Darwin doch gerade die natürliche Teleologie verbannt haben soll? Ich werde zeigen, dass Darwin die Teleologie keineswegs verbannt hat, und dass ein normativer Naturalismus auf das Erklärungsschema der Evolutionstheorie zurückgreifen kann. Dies ist das Thema von Kapitel 2. Problem (2): Natürliche Normen. Das Problem der Fehlrepräsentation betrachtet Millikan als „Normativitätsproblem“. Das Problem der Fehlrepräsentation ist ein Normativitätsproblem, weil Repräsentationen nur falsch sein können, wenn sie bestimmte Objekte repräsentieren sollten. Ohne eine normative Dimension kann eine Repräsentation keinen intentionalen Inhalt haben, und Kants Frage bleibt unbeantwortet. Der Kern aller teleosemantischen Ansätze besteht in einer Gründung der Intentionalität in Funktion, die Funktion gibt einer Repräsentation das Maß, von dem sie abweichen kann, sie verleiht ihr eine normative Dimension. Die These lautet allgemeiner gesagt: Es gibt natürliche Normen. Gibt es sie? Nicht alle stimmen damit überein. Nicht einmal alle Teleosemantiker. Ich habe bereits wiederholt Neanders Formulierung zitiert, es sei allen teleosemantischen Ansätzen gemein, „that a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of content“.342 Nun werden teleosemantische Theorien nicht nur von Millikan oder Neander vertreten, sondern auch von Papineau und Dretske. Dretske und Papineau glauben zwar, dass es natürliche Funktionen gibt, aber sie bestreiten die Normativität. So unterscheidet etwa Papineau strikt zwischen Fakten und Normen. Normativität wird präskriptiv aufgefasst. „Wherever the normativity of content comes 341 342 Searle 1997: 26. Neander 2006: 550. 136 from, it can’t be from biology, since biology deals in facts, not prescriptions.“343 Die Reaktion von Neander und Millikan auf diese Vorbehalte ist defensiv. Beide weisen darauf hin, dass der Ausdruck „normativ“ in der Teleosemantik deskriptiv verwendet werde, im Unterschied zu seiner präskriptiven Verwendung. Meines Erachtens muss ihre Strategie nicht defensiv, sondern offensiv sein. Sie muss sich der Frage annehmen, was deskriptive und präskriptive Normativität gleichermaßen als Normativität auszeichnet. Und sie muss sich die Frage stellen, ob sie die angedeutete Unterscheidung zwischen Tatsachen und Normen akzeptieren soll. Die Teleosemantik braucht nicht nur natürliche Normativität, sondern sie benötigt ein umfassendes Verständnis natürlicher Normativität. Ich werde zeigen, dass die Theorie funktionaler und spezifischer normativer Kategorien dies leisten kann. Zu diesem Zweck werde ich die Teleosemantik mit der Tugendethik in Beziehung setzen. Dies ist das Thema von Kapitel 3. Problem (3): Der Sumpfmann. Die Biosemantik ist eine externalistische Theorie des Geistes, die besagt, dass es für den Geist essenziell ist, eine biologische Vorgeschichte zu haben. Kritiker weisen hier auf eine kontraintuitive Konsequenz hin, die als „Sumpfmannproblem“ bekannt ist. Von einer Person P wird durch irgendein Wunder ein qualitativ identisches Duplikat D angefertigt (der Sumpfmann). Doch P gehört zu einer biologischen Art, hat eine Selektions- und Lerngeschichte, D hingegen nicht. Folglich hat P gehaltvolle Wahrnehmungen, Erinnerungen und andere geistige Zustände, der ununterscheidbare D jedoch nicht. Doch dies erscheint vielen Kritikern als höchst unplausibel. Ich möchte die Intuition, die zum Sumpfmannproblem führt, ausräumen, indem ich die Biosemantik als elegante Lösung einer Schwierigkeit anbiete, die den sogenannten Animalismus betrifft. Der Animalismus ist die These, dass Menschen essenziell Tiere sind. Diese These liefert die Rechtfertigung dafür, den Menschen (und alle anderen denkbaren rationalen Lebewesen) als wesentlich zugehörig zum Gegenstandsbereich der Theorie der Evolution durch natürliche Selektion zu betrachten und seine zweite Natur in dieser eigenständigen Seinsschicht zu lokalisieren. Die Biosemantik löst eine Schwierigkeit im Hauptargument für den Animalismus. Gegen den Animalismus wird häufig vorgebracht, dass die wesentliche Eigenschaft des Menschen nicht in seinem Tiersein bestehe, sondern in seinem Personsein. Zum Personsein gehört konstitutiv Selbstbewusstsein. Ich werde ein begriffliches Argument dafür liefern, dass Tiere über die relevante Art von Selbstbewusstsein verfügen. Da ich es an Schimpansen entwickle, nenne ich es „Schimpansenargument“. 343 Papineau 2001: 280. 137 Problem (4): Konsumentenorientierung. Es scheint, als müssten produzenten- und konsumentenorientierte Versionen der Teleosemantik nicht inkompatibel sein. Das trifft in einem Sinn sicher zu, nämlich in dem Sinn, dass konsumentenorientierte Versionen einen P-Mechanismus annehmen, der die Aufgabe hat, R-Vehikel hervorzubringen, sowie einen K-Mechanismus, der die R-Vehikel benutzt. Als Produziertes kommt einem R-Vehikel ein repräsentationaler Inhalt zu, als Konsumiertes ein intentionaler Inhalt. Es gibt zwei Arten von Inhalt. In einem anderen Sinn trifft es natürlich nicht zu, da produzentenorientierte Versionen die Ansicht vertreten, dass bereits die Echte Funktion des P-Mechanismus für den intentionalen Inhalt sorgt. Es gibt auch hier zwei Arten von Inhalt, aber die Zuständigkeit für die zweite Art des Inhalts (den intentionalen Inhalt) wird unterschiedlich gesehen. Und das ist es, worauf in der Teleosemantik alles ankommt. In diesem Sinne sind die beiden Versionen in der Tat inkompatibel. Doch die Konsumentenorientierung scheint Probleme mit sich zu bringen: Sie führt zu unplausiblen Inhaltszuschreibungen, sie führt zu unplausiblen Verhaltenserklärungen und sie kann nicht verständlich machen, dass es Inhalte gibt, die keinen unmittelbaren biologischen Nutzen haben. Diese vorgebrachten Einwände werden vorwiegend Wahrnehmungsüberzeugungen im Hinblick vorgebracht. auf Die Wahrnehmungen Biosemantik ist und eine konsumentenorientierte Version. Wird der Inhalt von Wahrnehmungen durch die Bedingung festgelegt, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Funktion ausüben kann, dann scheinen Wahrnehmungsinhalte nicht durch die aktuellen kausalen Objekte der Wahrnehmung restringiert zu sein. Und das ist der Ausgangspunkt der Einwände. Doch sie alle setzten die Gültigkeit Korrelationsprinzips, das eines Prinzips voraus, zum Wesen von nämlich des Nomischen Wahrnehmungen und Wahrnehmungsüberzeugungen gehören soll: (NKP) Wahrnehmungen können eine Eigenschaft E nur repräsentieren, wenn die R-Vehikel mit Instantiierungen von E nomisch korreliert sind. Ich werde dieses Prinzip zurückweisen. Die Zurückweisung entzieht den drei genannten Einwänden den Boden. Allerdings werde ich die in NKP ausgedrückte Intuition nicht fallen lassen, sondern durch eine kontingente leibliche Relation zu Wahrnehmungsgegenständen ersetzen. Dabei werden nicht allein Merleau-Pontys Begriff der „intentionnalité motrice“ und Gibsons Begriff der „affordance“ hilfreich sein, die ich als „Aneignung“ bzw. „Eignung“ übersetzen und im Kapitel 5 erläutern werde, sondern 138 auch Reids Wahrnehmungstheorie, die zu Recht als „semiotischer Realismus“ bezeichnet worden ist.344 Im Folgenden sollen also diese Probleme umfassend diskutiert und einer Lösung zugeführt werden. Ich habe diese Lösungsstrategien bereits in 1.1.1. vorgestellt und daraus die Struktur der vorliegenden Arbeit entwickelt. 344 Staudacher 2008. 139 2. NATURALISMUS 2.1. Natürliche Teleologie Der Naturalismus hat in der deutschsprachigen Philosophie einen gemischten Ruf.345 Im Hinblick auf Sellars’ Projekt habe ich die Biosemantik als eine Form des normativen Naturalismus charakterisiert, weil sie zeigen kann, inwiefern die normative B-Ebene und die natürliche A-Ebene integriert werden können. Der Schlüssel dazu liegt in dem Gedanken, dass Echte Funktionen über natürliche Normativität verfügen, und dass es sich bereits bei biologischen Funktionen um Echte Funktion in diesem Sinn handelt. Doch inwiefern soll hier von einer „naturalistischen Theorie“ und von einem „Naturalismus“ die Rede sein? Es gibt viele Formen des Naturalismus, und es ist wenig hilfreich, sich in diesem Gestrüpp von Forderungen, Positionen und Kritiken zu verorten. Hier kann es nur darum gehen zu sagen, worin der Naturalismus der Biosemantik besteht. Es ist dennoch zuerst wichtig, zu wissen, was damit nicht gemeint sein soll: Die Biosemantik ist weder ein Szientismus noch ein Physikalismus. Dies werde ich im Abschnitt 2.2. darlegen. Die allgemeinste Forderung des Naturalismus lautet, dass die Philosophie in Kontinuität mit den Naturwissenschaften zu sein hat. Ich werde diese Kontinuität und mithin den Naturalismus der Biosemantik durch den Begriff der Vereinheitlichung als eine Form des Verstehens und der Erklärung erläutern. Diese Form des Verstehens und der Erklärung findet sich vorwiegend in der Evolutionstheorie. Ich werde die Biosemantik deshalb am Schluss des Abschnitts 2.3. als „Biologischen Naturalismus“ beschreiben. Unlängst hat John McDowell auf interessante Weise an den Begriff der zweiten Natur erinnert. Er ist der Ansicht, dass es zwei Arten des Naturalismus gibt, und dass nichts uns dazu zwingt, einen Naturalismus zu akzeptieren, der nur den logischen Raum der Naturgesetze kennt. Ich glaube, dass McDowell mit dem letzten Punkt richtig liegt. Ich glaube aber nicht, dass sich daraus zwei Arten des Naturalismus ergeben. Dies ist das Thema des Abschnitts 2.4. Die Biosemantik ist jedoch nicht nur eine naturalistische, sondern auch eine teleologische Theorie, die auf Darwin Bezug nimmt. Aber hat nicht Darwin die Teleologie endgültig aus den Naturwissenschaften verbannt? Und hat nicht Kant ein für allemal gezeigt, dass allen teleologischen Urteilen ein Als-ob anhaftet? Ich glaube, dass weder das eine noch das andere zutrifft. Das werde ich zuerst in diesem Abschnitt über natürliche Teleologie darlegen. Dazu werde ich sowohl in diesem als auch in den folgenden Abschnitten 345 Vgl. Keil 1993; Keil und Schnädelbach 2000; Nannini et al. 2000; Goebel et al. 2004; Birnbacher 2006; Sukopp 2007; Honnefelder 2007; Janich 2008; Becker und Detel 2009. 140 ausführlich von der Philosophiegeschichte Gebrauch machen, und zwar in jenem methodischen Sinne, den ich in Abschnitt 1.1.1. dargelegt habe. Die Ausdrücke „Teleologie“ und „teleologisch“ sind notorisch vieldeutig, denn die Implikation und die Extension ihrer Anwendung sind unklar. Dennoch wird häufig angenommen, die modernen Naturwissenschaften hätten die Teleologie aus der Natur verbannt und auf Finalursachen rekurrierende teleologische Erklärungen vollständig durch auf Wirkursachen rekurrierende mechanisch-nomologische Erklärungen ersetzt. Im Gegensatz zu mechanischen oder nomologischen Erklärungen werden teleologische Erklärungen als suspekt beurteilt. Solche Erklärungen scheinen nämlich verdorbene Zutaten wie vitalistische Lebenskräfte, Rückwärtskausalität und die Unterstellung eines Zweck setzenden Wesens zu enthalten. Sie erscheinen unvereinbar mit mechanischnomologischen Erklärungen und widersetzen sich empirischer Überprüfbarkeit. Bereits in der frühneuzeitlichen Philosophie werden teleologische Beschreibungen und Erklärungen als anthropomorphe Projektionen interpretiert und kritisiert. (Ein locus classicus ist der Anhang zum ersten Teil von Spinozas Ethik.) Doch wenn der Ausdruck „Teleologie“ vieldeutig ist, was ist dann mit der These gemeint, die modernen Naturwissenschaften hätten die Teleologie aus der Natur verbannt? Zunächst scheinen entscheidende Etappen in der Entwicklung der Wissenschaft in der Neuzeit diese These zu bestätigen. Insbesondere wird behauptet, dass Darwins Origins of Species die Teleologie endgültig aus dem Bereich der Naturwissenschaft und Naturphilosophie verbannt habe. So spricht Searle für viele Philosophen, wenn er sagt: „Eine der größten Errungenschaften Darwins bestand darin, die Teleologie aus der Erklärung des Ursprungs der Arten verbannt zu haben. Nach Auffassung Darwins vollzieht sich die Evolution mittels blinder, roher, natürlicher Kräfte. Ursprung und Überleben der biologischen Spezies haben keinen immanenten Zweck.“346 Offenbar meinen Searle und andere, Darwin habe gezeigt, dass kein eigener Zweck mit der Entstehung und dem Überleben einer Art verbunden sei. Mit anderen Worten, Darwin soll uns gelehrt haben, dass biologische Arten kein Gegenstand teleologischer Zuschreibungen sind. Arten entstehen weder zu einem bestimmten Zweck, noch erhalten sie sich zu einem bestimmten Zweck. Das ist wenig überraschend. Wozu sind Eichhörnchen da? Wozu überleben Eichhörnchen? Der junge Leibniz meinte, Eichhörnchen seien da, um zu tanzen.347 Er wollte für jede Art einen eigenen Zweck finden. Dieses Vorhaben hat er Searle 1997: 26. Dank an Justin Smith für diesen Hinweis! Der junge Leibniz schrieb in dem Manuskript „Corpus hominis et uniuscujusque animalis Machina est quædam“ von 1680/82: „Wenn es auch schwierig ist, die Zwecke der 346 347 141 schnell wieder aufgegeben. Dazu hatte Leibniz keinen Darwin nötig, der ihm erklärt, dass Arten keinen ihnen eigenen Zweck haben. Worauf wenden wir Ausdrücke wie „Zweck“ überhaupt an? Betrachten wir die folgende Liste, die Spinoza an der bereits erwähnten Stelle anführt: „Weil [die Menschen] ferner in sich und außer sich eine Menge Mittel [media] entdecken, die zur Erreichung ihres Vorteils [utile] nicht wenig beitragen, wie Augen zum Sehen, Zähne zum Kauen, Kräuter und Tiere zur Nahrung, die Sonne zum Leuchten, das Meer zum Fischbestand usw., ist es gekommen, dass sie alle natürlichen Dinge als Mittel zum eignen Nutzen [suum utile media] ansehen.“348 Spinoza geht in dieser Liste von biologischen Merkmalen (Augen, Zähne) über zu Arten (Pflanzen und Tieren), zu Teilen der Erde (das Meer) und schließlich zu Teilen des Universums (die Sonne). Es fehlt nur das Universum selbst. Spinoza scheint an dieser Stelle keinen Unterschied zwischen diesen Dingen machen zu wollen. Es stellt sich aber die Frage, ob einigen dieser Dinge nicht auch nach Darwin Zwecke zukommen. Ich möchte allerdings behaupten, dass Darwin durchaus den ersten Elementen in dieser Liste immanente Zwecke zugesteht. Spinoza trifft eine weitere Annahme, die für die Neuzeit wichtig und bezeichnend ist. Er vertritt die Auffassung, dass die Rede von Mitteln (media) zu einem Zweck (utile) stets ein Subjekt impliziere, das diese Zwecke setze (suum utile media). Zusammengenommen legen die auf Spinozas Liste aufgeführten Gegenstände einer teleologischen Zuschreibung die Annahme eines in diesen Zuschreibungen impliziten Subjekts (eines transzendenten Zwecksetzers) nahe. Doch Darwin hat uns, wie ich meine, gelehrt, dass wir im Hinblick auf Körperteile teleologische Zuschreibungen ohne impliziten oder expliziten Rekurs auf einen solchen Zwecksetzer vornehmen können. Ich werde also in diesem Abschnitt zunächst darlegen, dass Darwin die Teleologie keineswegs verbannt hat, sondern eine bestimmte Auffassung der Teleologie vielmehr rehabilitiert. Damit soll eines der Vorurteile gegen die Teleosemantik aus dem Weg geräumt werden. Betrachten wir zuerst zwei unterschiedliche zeitgenössische Einschätzungen dessen, was Darwin geleistet hat.349 So hat Thomas Henry Huxley gesagt, was ihn an Origins am stärksten getroffen habe, „was the conviction that teleology, as commonly understood, had Dinge und die Absichten der Natur vorweg zu bestimmen […] so können wir doch sagen: die Körper der Lebewesen sind Maschinen zur andauernden Bewegung. […] Also wird es, solange es Spinnen gibt, Webemaschinen geben, solange es Bienen gibt, wird es Honig erzeugende Maschinen geben, und so lange es Eichhörnchen gibt, wird es Tanzmaschinen geben.“ (Quanquam autem de finibus rerum consilioque naturae ante eventum judicare difficile sit […] dicemus: Corpora Animalium esse Machinas perpetui motus. […] Ita quamdiu erunt araneae erunt machinae textrices quamdiu apes mellificatrices, quamdiu sciuri, saltatrices.) Zitiert nach: www.jehsmith.com/philosophy/2008/07/corpus-hominis.html (15.09.2009). 348 Spinoza 1999: 81f. 349 Vgl. Ruse 2003: 89ff. 142 received its death-blow at Mr. Darwin’s hands.“350 Demgegenüber hat Asa Gray Darwins großen Verdienst um die Naturwissenschaften darin gesehen, ihnen die Teleologie zurück gegeben zu haben: „[L]et us recognise Darwin’s great service to Natural Science in bringing back to it Teleology: so that, instead of Morphology versus Teleology, we shall have Morphology wedded to Teleology.“351 Darwin hat in seiner Antwort dieser Einschätzung freudig seine Zustimmung erteilt: „What you say about Teleology pleases me especially, and I do not think any one else has ever noticed the point. I have always said you were the man to hit the nail on the head.“352 Später schreibt Darwin an Lord Farrer: „[I]f we consider the whole universe, the mind refuses to look at it as the outcome of chance – that is, without design or purpose. The whole question seems to me insoluble.“353 Während Huxley glaubt, Darwin habe die Teleologie entsorgt, hebt Gray, von Darwin unterstützt, die Wiederbelebung der Teleologie hervor, während Darwin selbst die teleologische Neigung als etwas betrachtet, das zu Aporien führt. Wie geht dies alles zusammen? Es handelt sich um verschiedene Bedeutungen von „Teleologie“. Erstens weist Darwin, wie Huxley sieht, die natürliche Theologie zurück. Zweitens setzt er die natürliche Teleologie wieder in ihr Recht, wie Gray erkennt, denn er entwickelt ein Verständnis evolutionärer Prozesse von Lebewesen, die „ergebnisoffen sind und gleichwohl eine Tendenz haben“.354 Allerdings lässt sich Darwin doch dazu hinreißen im Ganzen des Universums eine kosmische Teleologie – einen Plan (design) oder Zweck (purpose) – zu sehen. Das gewöhnliche Verständnis der Teleologie, auf das Huxley verweist, speist sich aus dem sogenannten „Argument from Design“: „[A]n organ or organism (A) is precisely fitted to perform a function or purpose; (B) therefore it was specially constructed to perform that function.“355 Huxley bezieht sich hierbei direkt auf William Paleys Verständnis der Teleologie, dem zufolge von einem organisierten Ganzen (einer Uhr oder einem Auge) und seinen tätigen Teilen zunächst auf einen Zweck (die Zeitanzeige oder das Sehen) und schließlich auf einen Zwecksetzer (den Uhrmacher oder Gott) geschlossen werden muss. Man kann die diesem Argument zugrunde liegende mächtige Tendenz, aufgrund der Huxley 1864, zitiert nach Ruse 2004: 138. Gray 1874: 81. Gray spielt hier auf die Debatte zwischen Geoffrey St. Hiliare und George Cuvier an, in der es darum ging, ob Erklärungen, die sich auf den Bauplan von Lebewesen (Morphologie), oder Erklärungen, die sich auf Bedürfnisse von Lebewesen (Teleologie) berufen, explanatorische Priorität zukommen soll. Darwin betrachtete seine Arbeit in der Tat als eine Vereinigung beider Seiten: „It is generally acknowledged that all organic beings have been formed on two great laws – Unity of Type, and the Conditions of Existence. […] On my theory, unity of type is explained by unity of descent. The expression of conditions of existence, so often insisted on by the illustrious Cuvier, is fully embraced by the principle of natural selection.“ (Darwin 1968: 233). Zur Anerkennung der Evolutionstheorie als „Integrationstheorie“ vgl. Lefèvre 2009: 101ff. 352 Darwin 1959: 367. 353 Darwin 1959 II: 395. 354 Lefèvre 2009: 7. 355 Huxley 1864, zitiert nach Ruse 2004: 138. 350 351 143 organisierten Anordnung tätiger Teile (oder aufgrund von Analogien zu solchen Anordnungen) zunächst auf einen Zweck und schließlich auf einen Zwecksetzer zu schließen, als „Paley-Syndrom“ bezeichnen.356 Nun hatte die sowohl Darwin als auch Huxley wohlbekannte Kritik in Humes Dialoge über die natürliche Religion (1779) die Grundlagen dieses Arguments bereits zerstört und Beiträge zu einer Therapie des Paley-Syndroms geleistet. Hume hat den durch das „Argument from Design“ nahegelegten Schluss auf einen transzendenten Zwecksetzer (einen zugleich allwissenden, allmächtigen und allgütigen Schöpfer) sowohl hinsichtlich der begrifflichen Grundlagen für zuverlässiges Schließen als auch hinsichtlich der beiden möglichen Deutungen des Arguments als Analogieargument oder als Schluss auf die beste Erklärung demoliert. Dennoch liegt es selbst für Hume auf der Hand, dass zumindest bestimmte Teile des Universums offenkundig zweckmäßig sind. Dies ist ein nicht zu leugnendes Faktum. Hume wollte, mit anderen Worten, keineswegs das erste Symptom des Paley-Syndroms, nämlich den Schritt von der organisierten Anordnung tätiger Teile auf einen Zweck, kurieren, sondern lediglich das zweite, den Schluss auf einen transzendenten Zwecksetzer.357 Allein eine wirkliche Alternative zur Erklärung des Faktums zweckmäßig organisierter Teile vermochte Hume nicht zu entwickeln, auch wenn einige seiner Vorschläge als veritable Antizipationen von Darwin gelten dürfen.358 Erst eine empirisch reichhaltige und erklärungskräftige (vereinheitlichende) Theorie, die eine wirkliche Alternative zum „Argument from Design“ bietet, ohne zugleich die reale Zweckmäßigkeit von Naturprodukten zu leugnen, kann die durch Humes Kritik hinterlassene Lücke schließen und das zweite Symptom des Paley-Syndroms kurieren. Diese Alternative bietet Darwin. Es ist nicht unwichtig, im Paley-Syndrom zwei Schritte zu unterscheiden, nämlich einerseits den Schluss vom Arrangement der Teile auf einen Zweck und andererseits den Schluss von einem Zweck auf einen Zwecksetzer. Es ist dieser zweite Schritt, den Huxley vor Augen hat, wenn er davon spricht, dass Darwin der Teleologie den Todesstoß versetzt habe. Demgegenüber denkt Gray an den ersten Schritt, und zwar (wie Hume) unter Verzicht auf den zweiten Schritt. Darwins Theorie der Evolution erlaubt es, von Zwecken in der Natur zu sprechen, ohne dass man sich damit (explizit oder implizit, kontingenteroder notwendigerweise) auf einen transzendenten Zwecksetzer beziehen muss. Gray zufolge besteht Darwins Verdienst also darin, dass wir auf naturwissenschaftlich akzeptable Dretske 1995: 146f. Diese Unterscheidung gibt, nebenbei gesagt, einen wichtigen Hinweis, warum Philo, Humes Sprachrohr, im letzten Dialog scheinbar unvermittelt die Zweckmäßigkeit von Naturprodukten zugibt, die er zuvor bekämpft hat. Er bekämpft sie als Prämisse im Design-Argument, nicht aber als augenfälliges Faktum. 358 Dennett 1995: 28ff. 356 357 144 Weise „can think of design without a designer“.359 Diese Formulierung ist zwar effektvoll, aber letztlich eher irreführend.360 Man kann Darwins Verdienst stattdessen wie folgt reformulieren: Darwin fragt danach, wozu bestimmte Merkmale eines Lebewesens da sind (existieren). Antworten auf solche Fragen werden durch ihren spezifischen Beitrag zum Überleben (ihren Überlebenswert) angegeben. Dieser spezifische Beitrag ist der Zweck oder die Funktion dieser Merkmale. Fragen und Antworten dieser Art sind teleologisch, insofern sie das Vorhandensein (die Existenz) eines Merkmals M durch den Zweck oder die Funktion von M erklären. Das Vorhandensein von M wird (genauer gesagt) erklärt durch jene Wirkungen der historischen Vorläufer von M, die zur Anpassung oder Fitness des Lebewesens mit M positiv beigetragen haben.361 Es ist wichtig zu sehen, dass nach Darwin teleologische Erklärungen nicht primär nach der kausalen Rolle der Tätigkeit eines Merkmals M in einem Organismus O fragen, sondern nach dem Grund des Vorhandenseins von M. James Lennox hat anhand eines Beispiels analysiert, inwiefern Darwin auf Finalursachen zurückgreift und teleologische Erklärungen einsetzt. Bei diesem Beispiel handelt es sich um einen auffälligen sexuellen Dimorphismus bei bestimmten Blumen (Primula veris). Darwins Analyse kann wie folgt schematisiert werden:362 (1) Primula veris weist einen Dimorphismus auf (O weist M auf). (2) Der Dimorphismus wirkt sich positiv auf heteromorphe, aber negativ auf homomorphe Kreuzungen aus (M hat die Wirkung W). (3) Heteromorphe Kreuzungen sind fruchtbarer und haben zahlreicheren und kräftigeren Nachwuchs als homomorphe (W ist von Vorteil für O). (4) Die Evolution würde somit nach Dimorphismus in Primula veris selektieren (also gibt es in O eine Selektion nach [selection of] M). (5) Primula veris weist folglich einen Dimorphismus auf, weil dieser sich positiv auf heteromorphe Kreuzungen ausgewirkt hat (also ist W die Ursache für M in O). Darwin bezeichnet die positive Auswirkung als „Final Cause“ des Dimorphismus.363 Die Finalursache erklärt, warum ein Merkmal vorhanden ist. Die Erklärung nennt den spezifischen Beitrag des Merkmals zum Überleben seines Trägers. Die Erklärung gibt den Kitcher 2003: 160. Es handelt sich um eine Variation auf ein Thema von Paley, dem zufolge kein Design ohne Designer gedacht werden kann. 361 Vgl. Brandon 1990: 188. 362 Vgl. Lennox 1993: 414. 363 Vgl. Lennox 1993: 410. 359 360 145 Zweck oder die Funktion des Merkmals an. Dies ist der Sinn von Teleologie, den Gray meint und Darwin akzeptiert. Und in diesem Sinn kann man sagen, dass Darwin die Teleologie keineswegs endgültig aus der Biologie vertrieben, sondern ihr im Gegenteil wieder zu naturwissenschaftlichen Ehren verholfen habe.364 Dies ist ein kaum zu unterschätzender und philosophisch relevanter Verdienst Darwins. Und es ist für die Biosemantik von zentraler Bedeutung. Dennoch sind viele Philosophen der Überzeugung, dass der Begriff der Teleologie (und die damit verbundenen Begriffe von natürlichem Zweck und natürlicher Funktion) mit mentalistischen Vorstellungen unauslöschlich oder gar notwendig verbunden ist und dass Darwins Theorie nolens volens intentionalistisches Vokabular in Anspruch nimmt. Sollte dies zutreffen, ist das teleosemantische Projekt als naturalistisches bedroht. Denn der allgemeinen Charakterisierung der Teleosemantik zufolge gilt, dass „a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of content“.365 Ein Begriff der Funktion, der mentalistische oder intentionalistische Momente involviert, kann das Projekt nicht tragen. Hier ein Beispiel für die Überzeugung einer untilgbaren Verbindung von Teleologie und Zwecksetzer. In ihm wird der Begriff der Teleologie in keinem anderen Sinne verwendet, als ich ihn eben Darwin zugestanden habe, doch er scheint notwendigerweise ein Zweck setzendes Subjekt zu involvieren, und dies bestreite ich: „Darwin’s theory of natural selection is an alternative to both the materialist and the Christian theories for the existence of complex adaptations. As we saw, the materialist is forced to explain complexity and well-adaptedness as a chance sideeffect of natural processes. Darwin’s theory does not resort to chance. He specifies the general biological conditions that determine the existence of adaptations. Darwin’s theory is radically distinct from the teleological explanation, adaptations are not created on Darwin’s theory [meine Hervorhebung] but they emerge out of the confluence of many distinct biological processes, the production of individual differences, the mechanisms of heritability, the basic rules of demography, and the consequence of differential adaptation to local environmental conditions.“366 Mit einer teleologischen Erklärung meint Andrew Ariew dasselbe wie ich, nämlich eine Antwort auf die Frage, wozu M da ist, warum O M hat. Doch Ariew zufolge ist Darwins Erklärung nicht teleologisch, weil eine teleologische Erklärung offenbar auf ein intelligentes Wesen (hier den Schöpfer) zurückgreifen muss. Teleologische Erklärungen unterstellen Zwecke und Funktionen, und wo Zwecke und Funktionen unterstellt werden, wird implizit 364 Ich stimme hier also Lennox 1993, 1994 zu, nicht Ghiselin 1994. Darwin war in der Tat ein teleologischer Denker. 365 366 Neander 2006: 550. Ariew 2007: 169f. 146 ein Zweck setzendes und funktionsbestimmendes Subjekt gesetzt. Die Differenz ist also nicht nur verbal, sie ist substanziell. Hinzu kommt, dass wiederum andere Philosophen den Darwin zugestandenen Begriff der Teleologie nicht als genuine Teleologie akzeptieren wollen. Und zwar aus folgendem Grund: Ich habe gesagt, dass Darwins Theorie Warum-Fragen mit Um-zuAntworten beantwortet, sodass das Vorhandensein eines biologischen Merkmals M durch jene Wirkungen der historischen Vorläufer von M erklärt wird, die zur Anpassung (und mithin zu Fitness) eines O mit M positiv beigetragen haben. Doch die Bezugnahme auf Wirkungen, so scheint es, verwandelt (teleologische) Finalursachen unter der Hand in (mechanistische) Wirkursachen. Wirkursachen müssten, so heißt es, ihren Effekten (zeitlich) vorangehen und (ontologisch) Partikulare sein; sie müssen mittels Naturgesetzen das Auftreten eines Effekts erklären können. Finalursachen hingegen sind Typen von Resultaten, die erklären, warum ein bestimmter Typ instantiiert ist. Wenn nun Vorhandensein eines partikularen Merkmals M dadurch angegeben wird, was seine partikularen historischen Vorläufer bewirkt haben, was wiederum erklärt, warum ein O dieses M hat, dann wird der Zweck (die Funktion) von M auf die (erfolgreichen) wirkkausalen Effekte seiner Vorläufer reduziert und das Vorhandensein von M auf die wirkkausalen Effekte (von erfolgreicher) Reproduktion. Somit handelt es sich nicht um genuine Teleologie im Sinne von Finalursächlichkeit, da die ontologische Ebene jene bloßer Partikulare (und nicht jene von Typen) ist, und die Erklärungen nicht von Resultaten, sondern von Vorläufern ausgehen. Nun hängen diese beiden Vorbehalte gegenüber der für die Biosemantik grundlegenden Überzeugung von Gray und Darwin, dass die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion den Naturwissenschaften die Teleologie zurückgegeben habe, miteinander zusammen. Es scheint nämlich, dass die für uns verständlichste Form der Teleologie auf der Ebene von Handlungen intelligenter Wesen zu finden ist. Wenn wir etwas um eines Zweckes oder Zieles willen tun, wenn unsere Produkte Zwecke oder Funktionen haben, dann deshalb, weil wir (erstens) mental auf ein bestimmtes Ziel abzwecken (oder auf einen bestimmten Zweck abzielen) und weil (zweitens) unsere Vorstellungen des Ziels oder Zwecks einer Handlung oder eines Artefakts Handlungen und Artefakte ja erst hervorbringen und ihnen also zeitlich vorhergehen. Diese Form der teleologischen Erklärung („S tut oder produziert x, damit y, und y ist von S intendiert, insofern ist y die Wirkursache von x“) verbindet das mentalistische mit dem wirkkausalen Element, die in den beiden Vorbehalten gegenüber der Darwinschen Teleologie am Werk sind. Es scheint fast, dass wir uns teleologische Erklärungen nur als mentalistische vorstellen 147 können, weil wir uns Teleologie allein nach dem Modell intentionaler Handlungen oder Herstellungen auf wirkkausale Art und Weise vorstellen müssen. Und es scheint, dass wir uns teleologische Erklärungen nur als wirkkausale vorstellen können, weil wir uns die Teleologie allein nach dem Modell wirkkausaler Reihung und Relation auf intentionale Art und Weise vorstellen müssen. Doch dass uns die intentionale Form teleologischer Erklärungen zwingend und alternativlos erscheint, und dass wir sie derart mit Wirkkausalität verquicken, hat historische Ursachen. Indem wir uns diese historischen Hintergründe vor Augen führen, können wir etwas über die Ätiologie des Paley-Syndroms lernen. Und indem wir etwas über die Ätiologie dieses Syndroms lernen, kann die Zwangsvorstellung, dass ein Zweck stets ein Zweck setzendes Subjekt impliziere, abgebaut und dadurch Platz für Darwins Zurückgewinnung der natürlichen Teleologie geschaffen werden. Diese Zurückgewinnung ist für den normativen Naturalismus, der hier vertreten werden soll, von größter Bedeutung (Kapitel 3). Es lohnt sich bei Thomas von Aquin zu beginnen, denn dessen „Synthese von aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken“ ist als Höhepunkt und Peripetie des teleologischen Denkens interpretiert worden.367 Robert Spaemann und Reinhard Löw sind jedoch der Ansicht, dass erst die Preisgabe des Schöpfungsgedankens in der frühen Neuzeit zunächst zu einer Reduktion der Finalursachen auf Wirkursachen und schließlich zu einer „Krise und Entmachtung des teleologischen Denkens“ geführt habe. Diese Interpretation kann mit Fug bezweifelt werden. In der nachfolgenden Darstellung orientiere ich mich vielmehr an der Interpretation des teleologischen Denkens in der Neuzeit durch Stephan Schmid.368 Schmid betrachtet nicht den Verlust des Schöpfungsgedankens, sondern gerade Thomas’ Versuch einer Zusammenführung von aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken als problematisch für das teleologische Denken. Es ist diese Verbindung, die das teleologische Denken dadurch problematisch macht, dass teleologische Erklärungen nicht mehr unabhängig von einem Subjekt überhaupt verstanden werden können. Thomas zufolge hat jede Veränderung eine Wirkursache. Darauf aufbauend und mithilfe des Prinzips, dass alles, was wirkt, nur dadurch wirkt, dass es auf etwas (Bestimmtes) abzielt (omne quod agit, non agit nisi intendendo aliquid) schließt Thomas, dass jede Veränderung auch eine Finalursache haben müsse.369 Dieses Prinzip der Ubiquität der Finalursache gilt unabhängig davon, ob das Tätige (agens) bewusst (willentlich) oder Spaemann und Löw 1981: 97. Vgl. Schmid 2009. 369 Vgl. Thomas, Summa contra gentiles 3.2.6.: „Omne agens agit propter finem.“ 367 368 148 bewusstlos (natürlich) tätig ist. Dem bewusstlos Tätigen ist das Ziel vorgegeben, das bewusst Tätige wählt sein Ziel aus. Schließlich verbindet Thomas das Prinzip „omne agens agit propter finem“ mit dem Gedanken der göttlichen Schöpfung und Lenkung, dem zufolge alle Veränderung der Lenkung Gottes untersteht. Der Grund für diese Verbindung liegt darin, dass Thomas ein weiteres Prinzip akzeptiert, das Schmid treffend als „cognitioBedingung“ bezeichnet, nämlich das Prinzip, dass Wissen um ein Ziel notwendig ist, damit etwas um eines Zieles willen geschieht.370 Der Rekurs auf den göttlichen Schöpfer und Lenker ermöglicht es Thomas, die cognitio-Bedingung zugleich mit dem Prinzip der Ubiquität von Finalursachen vertreten zu können. Anders als Aristoteles scheint Thomas die Finalursächlichkeit bewusstloser (natürlicher) Veränderungen nur indirekt (vermittelt über Gott) der internen Natur der sich verändernden Dinge überlassen zu wollen, da er sie einem sowohl mentalen als auch externen Ursprung, nämlich Gott, überantwortet. Anders als bei Aristoteles haben natürliche Prozesse und Entitäten also keine nicht durch Gott vermittelte intrinsische Teleologie.371 Die Externalisierung der Ausrichtung eines Prozesses oder einer Entität auf einen Zweck kann allein durch den Rekurs auf ein Wesen geschehen, das einem Prozess oder einer Entität diesen Zweck vorgibt. Natürliche Prozesse und Entitäten werden von Gott auf Ziele festgelegt. Thomas’ Vereinigung von cognitio-Bedingung und Ubiquität entspringt seinem Bemühen, die Philosophie und die Theologie unter ein Dach zu bringen. Schließlich führt die cognitio-Bedingung dazu, dass das Verhalten natürlicher Prozesse und Entitäten nicht durch ihr (ihnen eigenes) Ziel erklärt wird, sondern durch das (ihnen äußerliche) Wissen um ein Ziel. Natürlich sind diese Ziele letztlich die Ziele der natürlichen Prozesse oder Entitäten, doch nur insofern sie durch das göttliche Wissen in ihrem Sein so festgesetzt worden sind. Dieses Wissen um das Ziel geht der Realisierung des Ziels voran. Dadurch wird der Weg zu der Auffassung geebnet, der zufolge Finalursachen keine Ursachen sui generis mehr sind, sondern eine bestimmte Form der Wirkkausalität, nämlich der mentalen Verursachung. Im Wesentlichen findet sich im Anschluss an Thomas die Überzeugung, dass die cognitio-Bedingung für jedes Wirken von Finalursachen notwendig sei.372 Mit einem Willen ausgestattete Vernunftwesen können ihre Ziele und Zwecke prinzipiell selbst festlegen. Im Bereich der bewusstlosen Natur sind Ziele nicht selbst kausal wirksam und damit auch 370 Vgl. Thomas, Summa theologiae, I-II, q. 6, art. 1 co.: „Autem quod fiat aliquid propter finem, requiritur cognitio finis aliqualis.“ 371 Und nur über diese Vermittlung kann Thomas sagen, dass natürlichen Dingen eine ihnen eigene Teleologie zukommt (vgl. Summa theologiae I q. 103 art.1 ad 3, dazu Schmid 2009: I). 372 So tritt etwa Francisco Suárez dezidiert für eine mentalistische Auffassung ein. Damit ein Ziel etwas verursachen kann, ist es notwendig, dass es vorher erkannt worden ist: „[U]t finis causet, necessarium omnino est ut praecognitus sit.“ (Disputationes metaphysicae 23.7.2, dazu Schmid 2009: II). 149 keine Finalursachen. Zweckmäßigkeit in der Natur ist das Ergebnis göttlicher Schöpfung und Lenkung. Wenn beispielsweise ein Organismus O ein Merkmal M hat, und dieses M tätig ist und diese Tätigkeit ein bestimmtes Resultat R zeitigt, dann gilt, dass Gott beabsichtigt hat, dass O M hat, dass M tätig ist und dass aus M’s Tätigsein R folgt. Die Versuche der frühen Neuzeit, mit Finalursachen und teleologischen Erklärungen in der Natur umzugehen, sind Reaktionen auf die durch die Scholastik geschaffene Situation: Zwecke und Ziele sind natürlichen Prozessen und Entitäten erstens äußerlich und können zweitens allein unter Rückgriff auf ein intelligentes Wesen verstanden werden und wirksam sein.373 Einen entscheidenden Schritt nimmt, wie bereits gesagt, Hume. Er unterbindet den Schluss (sei es als Analogieschluss oder als Schluss auf die beste Erklärung) von der augenfälligen Zweckmäßigkeit natürlicher Prozesse und Entitäten auf einen Zwecksetzer. Er zeigt, dass man aus der zweckmäßigen Einrichtung von Teilen der Welt (insbesondere von Organismen) nicht auf die Absichten eines Gottes schließen kann. Somit wird der Rückgriff auf einen Zwecksetzer obsolet. Ein solches Wesen kann nicht als intelligente Wirkursache für die Zweckhaftigkeit von Organismen verstanden werden. Zugleich beharrt Hume darauf, dass die augenfällige Zweckhaftigkeit von Organismen nicht nur augenscheinlich sein kann. Hume löst somit die natürliche Zweckhaftigkeit von der cognitio-Bedingung. Kant geht in seiner Auffassung der Naturteleologie wie Hume von dem Faktum der Zweckhaftigkeit von Organismen aus. Doch anders als Hume führt er die cognitioBedingung wiederum ein, und zwar in transzendentalphilosophisch transformierter Gestalt. Vereinfacht gesagt: Wir können uns Organismen und die Zweckhaftigkeit ihrer Organisation überhaupt nicht anders denken, als dass diese von einem intelligenten Wesen gemäß einer Zweckvorstellung hervorgebracht wurden. Doch diese Notwendigkeit ist der Beschaffenheit unseres diskursiven Erkenntnisvermögens geschuldet, sie lässt keinen Schluss im Sinne des „Argument from Design“ zu. Ein Organismus ist Bestandteil der Natur. Natur ist die Einheit dessen, was unter mechanischen Gesetzen steht. Organismen sind für Kant Naturzwecke in dem Sinn, dass die Teile das Ganze hervorbringen und zugleich das Ganze die Teile. Allerdings können mechanistische Naturgesetze allein die Entstehung von Entitäten und Prozessen, in denen Teile und Ganzes wechselseitig Ursache und Wirkung voneinander sind, nicht erklären. Doch als Bestandteil einer so verstandenen Natur muss ein Organismus (als organisiertes 373 Vgl. die Untersuchungen über Descartes, Spinoza und Leibniz in Schmid 2009: III-V. 150 Ganzes mit tätigen Teilen) als reiner Zufall erscheinen, denn kein Naturgesetz führt zu solchen Phänomenen. Das ist der Sinn des Diktums, es werde keinen Newton des Grashalms geben können. Aufgrund der Nötigung, die Natur als Einheit zu denken, müssen wir uns Naturzwecke deshalb so vorstellen, als ob sie von einem Zweck setzenden Subjekt erschaffen worden wären. Aufgrund der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens, das diskursiv ist, können wir uns einen Vorrang des Ganzen vor den Teilen nur in Analogie zum diskursiven Erkennen vorstellen, das Besonderes unter allgemeine Begriffe fasst. Deshalb müssen wir uns Naturzwecke (Organismen) als von einer Idee (eines Zweck setzenden Subjekts) verursacht vorstellen. Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion der Geschichte der Teleologie erscheint Kants Restauration einer transzendenten cognitio-Bedingung als Ursache für die Zweckhaftigkeit von Organismen auch noch in ihrer transzendentalphilosophischen Transformation als Rückschritt hinter Humes Schritt in Richtung auf Darwins Wiedergewinnung der Teleologie für die Naturwissenschaften. Mithin dürfte es dieser philosophiehistorische Zusammenhang sein, aufgrund dessen es vielen Philosophen als nicht verständlich erscheint, wie man „die Barrikade nehmen könnte, mit der uns Kant den Weg zu jeder Art von objektiver Zweckmäßigkeit versperrt hat“.374 Mir erscheint es hingegen als vordringlich, uns von der Barrikade zu befreien, die es verunmöglicht zu sehen, dass Darwin die natürliche Teleologie in der beschriebenen Art und Weise und ohne jede Form der cognitio-Bedingung wiederbelebt hat. Diese Barrikade ist natürlich das Paley-Syndrom. Kants Auffassung der Naturteleologie scheint mir darüber hinaus nicht frei von internen Spannungen zu sein. Zum einen erklärt Kant, dass es für unser diskursives Erkenntnisvermögen unmöglich sein soll, sich Naturzwecke anders vorzustellen, als von einem Zwecksetzer hervorgebracht, zum anderen verweist Kant aber darauf, dass dies auf ein anderes als unser Erkenntnisvermögen nicht zutrifft. Einem intuitiven Verstand oder einer intellektuellen Anschauung ist es nämlich möglich, mit dem Faktum der Naturzwecke zu Recht zu kommen, ohne sich zur Annahme eines Zweck setzenden Subjekts genötigt zu sehen.375 Auch geht Kant vom Faktum des Naturzwecks (des Organismus) aus, erklärt die Möglichkeit dieses Faktums aber erstaunlicherweise durch die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens. Doch daraus, dass dieses Vermögen Mechanismus und Teleologie nicht zusammen denken können soll, folgt nicht, dass sie nicht zusammen an einem Objekt (nämlich 374 375 dem Organismus) vorkommen können. Gerade die Habermas 1988: 271. Diese Optionen werden Goethe bzw. Schelling ergreifen, vgl. Förster 2002a, 2002b. 151 transzendentale Betrachtungsweise erlaubt es nicht, diese Unvereinbarkeit auf den Gegenstand selbst zu übertragen. Zu diesem Gegenstand selbst (dem Organismus) gelangen wir nicht, aber wir können die Analogie, die unser Nachdenken über diesen Organismus prägt, etwas verändern. Ich habe oben gesagt, dass die für uns verständlichste Form der Teleologie auf der Ebene von Handlungen intelligenter Wesen zu finden sei und die allgemeine Form „S tut oder produziert x, damit y, und y ist von S intendiert, insofern ist y die Wirkursache von x“ habe. Diese Form der teleologischen Erklärung verbindet das mentalistische mit dem wirkkausalen Element, die in den beiden Vorbehalten gegenüber der Darwinschen Teleologie am Werk sind. Unter anderem infolge dieses Paradigmas müssen wir die Zweckhaftigkeit von Organismen als Produkt eines Zweck setzenden Subjekts denken. Doch die Produktanalogie betont nur das Element des Produzierens in der vorgeschlagenen Formulierung: „S tut oder produziert x, damit y, und y ist von S intendiert, insofern ist y die Wirkursache von x“. Doch warum sollten wir nicht das Tun hervorheben? Genauer: Warum sollten wir nicht die Rolle des eigenen Körpers hervorheben, der tätig ist und produziert, ist dieser Körper doch selbst ein Organismus. Eben dies hebt Kant im Opus postumum auch hervor: „Wir erfahren die organische Kräfte an unserem eigenen Korper und gelangen vermittelst der Analogie derselben mit einem Theil dieses ihren Princips zu einem Begriff von der Vegetation desselben indem wir jenes nämlich die Animalität weglassen. [sic!]“376 Eckart Förster kommentiert diese Passage in aufschlussreicher Weise: „It is through experience, indeed, that we have the concept of a natural purpose, but it is not the human artifact and the realization of practical purposes that originally permits the formation of this concept. […] Our own bodily experience functions as the paradigm for the estimation of other objects as organic; it is the primary example by which we judge all others. But as a paradigm for natural purposiveness, it cannot be subject to the ‘as if’ principle of the third Critique: this principle fails to hold in the case of our own bodily organization. [...T]he contrast with the ‘distant analogy’ (5: 375) between natural purposes and human artifacts that lies at the foundation of the Critique of Teleological Judgment could hardly be greater.“377 Wenn wir das Zusammenspiel von Mechanismus und Teleologie an unserem eigenen Leib erfahren und diese Erfahrung nicht dem Prinzip unterworfen ist, dass wir uns unseren Leib vorstellen müssen, als ob ihn ein Zweck setzendes Wesen erschaffen hätte, stellen sich sogleich zwei Fragen: Warum sollte es dann nicht allen Organismen gleichermaßen möglich sein, Organismen in diesem Sinne zu sein? Warum sollten wir bei ihnen, aber nicht bei uns, 376 377 AA XXII: 373. Förster 2000: 27f. 152 genötigt sein, sie uns so zu denken, als ob sie von einem Zweck setzenden Subjekt erschaffen worden wären? Schopenhauers Metaphysik entwickelt genau diese Gedanken. Einerseits können wir die Welt als unsere Vorstellung betrachten, doch dann finden wir auch unseren Leib nur als Objekt unter Objekten.378 Im Unterschied zu anderen Objekten ist unser Leib uns allerdings auch von innen gegeben, insofern wir unsere Handlungen und Bewegungen als von uns ausgeführt und so i.w.S. als willentlich erkennen. Der Wille reagiert auf Motive und äußert diese Reaktionen in zweckmäßigen körperlichen Verhaltensweisen. Die Erkenntnis unseres eigenen Willens sei dabei von ganz anderer Art als jene der externen Objekte, sie sei nämlich nicht über Vorstellungen vermittelt, sondern eine unmittelbare Erkenntnis. Schopenhauer argumentiert weiter, dass mithilfe dieser unmittelbaren Erkenntnis des Willens einsichtig ist, wie der Leib zugleich als Mechanismus und als Naturzweck betrachtet werden kann. Er ist überdies allerdings der Ansicht, dass die Erkenntnis des Willens zugleich auch Erkenntnis des Dinges an sich sei. Den Leib nennt Schopenhauer eine „Objektivation“ des Willens.379 In seiner Metaphysik überträgt Schopenhauer die doppelte Gegebenheitsweise des eigenen Leibes auf die Welt als Vorstellung als Ganze. Er sieht deshalb jede Art von Objekt als Objektivation des Willens. Dies ist die Welt als Wille.380 Schopenhauer glaubt, dass er so durch die Einsicht in die Zweckhaftigkeit des eigenen Leibes „einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur“ in die Hand gebe, denn wir können jede Erscheinung „eben nach Analogie des Leibes beurtheilen und daher annehmen, daß wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das dann noch übrig Bleibende, seinem inneren Wesen nach, das selbe seyn muß, als was wir an uns Wille nennen.“381 Doch worin sieht Schopenhauer die Rechtfertigung für diesen gewagten Analogieschluss? Die Rechtfertigung besteht im Faktum des Naturzwecks, in der offensichtlichen teleologischen Verfasstheit von Organismen.382 Sowohl die motorischen als auch die physiologischen Funktionen des Leibes sind einerseits als Objekte der Vorstellung kausalmechanisch zu betrachten, sie sind jedoch andererseits auch teleologisch zu betrachten, nämlich als Objektivationen des Willens.383 Und weil nicht nur unser Organismus, sondern Schopenhauer 1988, Bd. 1: 145-150. Schopenhauer 1988, Bd. 1: 150-155. 380 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 164-166. 381 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 157. 382 Vgl. Young 1987: 66ff.; Janaway 1989: 250ff. 383 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 160-162. 378 379 153 alle Organismen offenkundig teleologisch verfasst sind, können wir auch sie als Objektivation eines Willens begreifen. Schopenhauer versteht diesen Willen als ein bewusstloses Streben nach einem Zweck. Als Streben nach einem Zweck ist der Wille bewusstseinsaffin, als bewusstloses Streben hingegen naturaffin. Auf diese Weise kann Schopenhauer Naturzwecke im Gegensatz zu Kant als genuin teleologisch verstehen, handelt es sich doch um Objektivationen des Willens als Ding an sich. Die teleologische Betrachtungsweise von Organismen gehört also zu ihrem Wesen, insofern „man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt“ und nicht zur Beschaffenheit des Erkenntnisvermögens. Wie erklärt Schopenhauer die teleologische Verfasstheit von Naturzwecken? Aufschlussreich sind dazu seine Ausführungen im Kapitel „Über Teleologie“ im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung. In Analogie zu unserem bewussten Erkennen von Motiven für unsere willentlichen Handlungen kann Schopenhauer über das bewusstlose Streben nach einem Zweck in Lebewesen sagen: „[D]ie Endursache ist ein Motiv, welches auf ein Wesen wirkt, von welchem es nicht erkannt wird. Denn allerdings sind die Termitennester das Motiv, welches den zahnlosen Kiefer des Ameisenbären, nebst der langen fadenförmigen und klebrigen Zunge hervorgerufen hat: die harte Eierschaale, welche das Vögelein gefangen hält, ist allerdings das Motiv zu der hornartigen Spitze, mit welcher sein Schnabel versehen ist, um jene damit zu durchbrechen, wonach er sie als ferne nutzlos abwirft. Und ebenso sind die Gesetze der Reflexion und Refraktion des Lichts das Motiv zu dem so überkünstlich komplicirten optischen Werkzeug, dem menschlichen Auge […]. Daher müssen wir einsehen, dass der selbe Wille, welcher den Elephantenrüssel nach einem Gegenstande ausstreckt, es auch ist, der ihn hervorgetrieben und gestaltet hat, die Gegenstände anticipirend.“384 Schopenhauer versucht hier offenkundig, Adaptationen zu erklären. Er betrachtet als das hervorbringende Motiv der Entwicklung einzelner Teile eines Organismus (wie etwa Kiefer, Zunge, Spitze, Auge, Rüssel) die Funktion dieser Teile. Die Endursache einer solchen offensichtlichen Adaptation besteht in dem „Weshalb es ist“.385 Dabei hat Schopenhauer im Unterschied zu Darwin einzig die Genese einzelner Organismen im Sinn, nicht die evolutionäre Genese von biologischen Merkmalen oder Arten. Doch ähnlich wie Darwin, aber anders als Kant, konzentriert sich Schopenhauer auf die natürlichen Funktionen der Teile von Organismen, nicht auf den Organismus als Naturzweck, in dem Sinn, dass die Teile das Ganze hervorbringen und zugleich das Ganze die Teile.386 Schopenhauer gelangt aber, und dies ist der entscheidende Punkt, im Ausgang von Kants Philosophie zu einem Verständnis der natürlichen Teleologie als objektive Schopenhauer 1988, Bd. 2: 389. Schopenhauer 1988, Bd. 2: 388. 386 Um Organismen als Ganze verstehen zu können, greift Schopenhauer auf platonische Ideen zurück. 384 385 154 Eigenschaft von Organismen. Er entwickelt eine Auffassung der natürlichen Teleologie als unabhängig von einem vorstellenden und Zweck setzenden transzendentalen Subjekt. Darwin gelangt im Anschluss an Humes Kritik des Design-Arguments ebenfalls zu einem Verständnis der natürlichen Teleologie als objektive Eigenschaft von Organismen. Er entwickelt eine Auffassung der natürlichen Teleologie als unabhängig von einem transzendenten, göttlichen Verstand. Sowohl Schopenhauer als auch Darwin gelangen so zu einem Verständnis natürlicher Teleologie ohne cognitio-Bedingung. Freilich schießt Schopenhauers Metaphysik weit über das Ziel hinaus, da ja nicht nur organische, sondern alle natürlichen Entitäten und Prozesse Objektivationen eines bewusstlosen Strebens nach einem Zweck sein sollen.387 So führt Schopenhauer mit der natürlichen Teleologie wiederum eine kosmologische Teleologie ein: Alle Erscheinungen seien Objektivation eines bewusstlos strebenden Willens. Der menschliche Intellekt erkenne dies, sehe aber zugleich ein, dass dieses Streben nicht gestillt werden könne, was unentwegte Entbehrung und Leid bedeute. Also sei es die Aufgabe des menschlichen Intellekts, den Willen in sich auszulöschen. „Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.“388 Für Schopenhauer war es eine Perversion des Denkens, der Welt keine „moralische Bedeutung“ zuzugestehen. Demgegenüber findet sich bei Darwin zwar die Tendenz, das Ganze als Ausdruck einer Absicht zu betrachten: „[I]f we consider the whole universe, the mind refuses to look at it as the outcome of chance“. 389 Anders als Schopenhauer bleibt er jedoch agnostisch, wie wir schon gesehen haben: „The whole question seems to me insoluble.“390 Das hier von Darwin angesprochene Problem einer kosmischen Teleologie ist einer der Hauptgründe, warum Pioniere der Philosophie der Biologie auf den Teleologiebegriff verzichteten und ihn beispielsweise durch den Begriff der „Teleonomie“ ersetzen zu müssen glaubten.391 Ernst Mayr betrachtet teleonomische Prozesse und teleonomisches Verhalten als Vorgänge, deren Zielgerichtetheit sich dem Einfluss eines evolvierten Programms verdankt, wobei ein solches Programm eine Anordnung codierter oder vorgeordneter Information ist, die einen Prozess oder ein Verhalten regelt, der bzw. das auf ein Ziel hinsteuert. Doch wie wir gesehen haben, gibt es keinen Grund für dieses Manöver. Gray hatte also Recht: Darwin hat der Naturwissenschaft die natürliche Teleologie zurückgegeben, und zwar ohne cognitio-Bedingung. Es handelt sich also um ein Vorurteil, Daher auch Schopenhauers tendenziöses Durchforsten der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Literatur nach Bestätigungen seiner Lehre, vgl. Schopenhauer 1988, Bd. 3: 263ff. 388 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 527. 389 Darwin 1959 II: 395. 390 Darwin 1959 II: 395. 391 Vgl. Ghiselin 1994; Mayr 1974, 1992: 125f. 387 155 wenn man gegen die Biosemantik und die Teleosemantik zeigen zu können meint, dass die Evolutionsbiologie wissenschaftstheoretisch damit überfordert sei, das Kantische Als-ob teleologischer Erklärungen hinfällig zu machen. Insofern stellen sich aus meiner Sicht einem naturalistischen Gebrauch der Teleologie keine Hindernisse in den Weg. Aber was genau heißt hier Naturalismus? Und inwiefern ist die Biosemantik eine naturalistische Theorie? 156 2.2. Was der Naturalismus der Biosemantik nicht ist Häufig wird der Naturalismus von Freund und Feind gleichermaßen unzureichend charakterisiert, nämlich als Szientismus. Dabei wird normalerweise zwischen einem ontologischen und einem methodologischen Naturalismus unterschieden. Der ontologische Naturalismus ist eine These darüber, was es gibt. Nichts existiert als die Natur, nämlich die eine, kausal geschlossene, raumzeitliche Welt.392 Diese Welt ist alles, was es gibt. Der methodologische Naturalismus ist die These, dass jegliches zuverlässige Wissen über die Welt sich einzig und allein durch die naturwissenschaftliche Methode finden lässt. Doch diese Unterscheidung ist wenig befriedigend. Ein methodologischer Naturalist scheint einfach alles von der Untersuchung auszuschließen, was nicht durch die naturwissenschaftliche Methode erforscht werden kann und bezeichnet das resultierende Untersuchungsfeld als das Ganze der Natur. Was Natur ist, wird durch die Methode definiert, und das, worauf sich die Methode legitimer Weise beziehen kann, ist Natur. Die Unterscheidung ist also als Unterscheidung nicht viel Wert. Doch auch die Charakterisierung des vermeintlich Unterschiedenen erscheint merkwürdig. Ein Naturalist scheint ein Monist zu sein, für den es nur die eine Natur und die eine Methode gibt. Es scheint mir aber keineswegs ausgemacht, dass Physik und Biologie nicht unterschiedliche Ebenen der Realität untersuchen, die nicht aufeinander reduzierbar sind. So wird es für das Folgende wichtig sein, dass es im Bereich der Biologie teleologisch zu verstehende Funktionen gibt, nicht aber im Bereich der Physik. Ebenso wenig scheint es mir ausgemacht, dass die Erklärungsarten der Physik und der Biologie von derselben Art sind. So wird etwa die Newtonsche Mechanik von nomischen Erklärungen strukturiert, die Darwinsche Evolutionstheorie hingegen nicht. Darüber hinaus wird bisweilen unterstellt, dass der methodische Naturalismus die naturwissenschaftliche Methode, was immer das sein soll, ohne Wenn und Aber akzeptiere, und dass der ontologische Naturalismus ein bestimmtes monistisches Bild der Natur dogmatisch akzeptiere.393 Doch warum sollte ein Naturalist sich auf die Position einlassen, dass die Naturwissenschaften das letzte Wort haben? Naturwissenschaftliche Methoden sind keineswegs die einzigen Wege zu zuverlässigem Wissen über die Welt. Das naturwissenschaftliche Bild der Natur wird nicht dogmatisch vorausgesetzt, sondern beispielsweise im Falle biologischer Adaptationen als die bessere Erklärung gegenüber vitalistischen oder theistischen Erklärungen betrachtet. 392 393 Vgl. Armstrong 1983: 82. Vgl. Keil und Schnädelbach 2000. 157 Dieser Umstand ist für die Frage nach dem Naturalismus und für den darwinistischen Rahmen der Biosemantik relevant. Manche Textbücher zur Evolutionstheorie definieren eine Adaptation historisch als Merkmal „that evolved because it improved relative reproductive performance“.394 Andere definieren Adaptationen ahistorisch, als Merkmale „that enhance the organism’s reproductive success in its natural environment“.395 Nun ist, sozusagen von innerhalb der Evolutionstheorie gesehen, die erste Definition sicher die zutreffende, und sie wird auch von zahlreichen Autoren angegeben. Doch auf der uns im Moment interessierenden Abstraktionsebene wäre es falsch, diese Definition zu akzeptieren. Der Grund für die Bevorzugung der ahistorischen Definition liegt darin, dass es nicht zur Definition der Adaptation gehören soll, dass sie ein natürlich evolviertes und selektiertes Merkmal ist, sondern zur ihrer Erklärung. So werden verständliche alternative Erklärungen zugelassen. Es geht darum, ob die Evolutionstheorie (und mit ihr die Theorie der Echten Funktionen) in der Lage ist, offensichtliche Anpassungen besser zu erklären als explanatorische Alternativen. Die historisch wichtigste Alternative ist natürlich der Theismus. Betrachten wir eine offensichtliche Adaptation A wie Maulwurfshände, Gebisse oder Flügel. Es handelt sich um offensichtliche Adaptationen, weil unmittelbar deutlich ist, welche Funktion diese Merkmale für ihre Träger inne haben: Mit diesen Pfoten gräbt der Maulwurf, mit diesem Gebiss zerteilt die Hyäne Tiere, mit diesen Flügeln fliegt der Adler. Der Schluss auf die natürliche Selektion lautet wie folgt: (i) F ist die Funktion der Adaptation A. (ii) A ist das Merkmal eines natürlichen Lebewesens. (iii) A ist ein komplexes Merkmal, das aus vielen Teilen besteht, wobei die Teile zur Ausübung von F zusammenarbeiten. (iv) Die beste Erklärung für die Existenz von A ist die natürliche Selektion.396 Stearns und Hoekstra 2005: 519. Ridley 2005: 468 „Adaptation is the condition of organisms being well designed for life in their environments. Adaptation refers to all the structural, functional and behavioral characteristics that enhance the organism’s reproductive success in its natural environment. The exact definition of an adaptation is a very contentious issue in evolutionary biology.“ 396 Vgl. Darwin 1968: 217: „To suppose that the eye with all its inimitable contrivances for adjusting the focus to different distances, for admitting different amounts of light, and for the correction of spherical and chromatic aberration, could have been formed by natural selection, seems, I freely confess, absurd in the highest degree. When it was first said that the sun stood still and the world turned round, the common sense of mankind declared the doctrine false; but the old saying of Vox populi, vox Dei, as every philosopher knows, cannot be trusted in science. Reason tells me, that if numerous gradations from a simple and imperfect eye to one complex and perfect can be shown to exist, each grade being useful to its possessor, as is certainly the case; if further, the eye ever varies and the variations be inherited, as is likewise certainly the case; and if such variations should be useful to any animal under changing conditions of life, then the difficulty of believing that a perfect and complex eye could be formed by natural selection, though insuperable by our imagination, can hardly be considered real.“ 394 395 158 Anders formuliert: Gewisse Merkmale sind trägerreproduzierbare Systeme mit koadaptierter organisierter Komplexität (SKOK). Diese Systeme sind trägerreproduzierbar, weil deren Träger Nachkommen mit SKOK erzeugen können, sie sind koadaptiert, weil sie mit anderen Merkmalen zusammen an einem Träger vorkommen, die gleichfalls Anpassungsleistungen sind, die Komplexität ist eine organisierte, weil heterogene Teile auf eine Weise interagieren, die in einer Gesamtaktivität des SKOK resultiert. Die beste Erklärung für die Existenz von SKOK ist adaptationistisch, d.h. sie sind das Ergebnis der natürlichen Selektion. Die natürliche Selektion ist der methodisch wichtigste Faktor für die Erklärung der Existenz komplexer und organisierter Merkmale wie A. In diesem Sinne ist die Evolutionstheorie adaptationistisch.397 Der Naturalismus wird als metaphysische Position oft genug als dogmatischer Monismus verstanden, der besagt, dass allein die durch die Naturwissenschaften erforschbare materielle Welt (aktual) existiere. Doch eine solche metaphysische These lässt sich durch eine bloße Kontinuität mit Methoden und Ergebnissen natürlich nicht begründen. Im Hinblick auf die ahistorisch definierte Adaptation wird jedoch deutlich, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass als Erklärungsgrundlage für den Naturalisten von vornherein nur Bestandteile der materiellen Welt in Frage kommen. Die theistische Alternative ist eine genuine Alternative, die auf nicht-materielle Ursachen Bezug nimmt und die argumentativ zurückgewiesen werden muss und kann. Vorausgesetzt wird allein der gemeinsame Bezug auf bestimmte Schlussformen, wie etwa den Schluss auf die beste Erklärung, oder rationale Prinzipien der Überzeugungsbildung, wie etwa Humes Evidenzprinzip, demzufolge der Weise „proportions his belief to the evidence“.398 Das bislang Gesagte kann man in dem Slogan zusammenfassen, dass der Naturalismus kein Szientismus zu sein braucht. Doch ebenso häufig wird der Naturalismus von Freund und 397 Dies bedeutet nicht, dass jedes Merkmal eines Lebewesens eine eigenständige adaptationistische Erklärung haben muss, oder dass die Gestalt eines Merkmals perfekt auf ihre Funktion hin zugeschnitten ist, oder dass in der Modellierung, Vorhersage und Erklärung und der Entstehung dieser Merkmale die natürliche Auslese der einzige explanatorisch relevante Faktor ist. Godfrey-Smith 2001: 336 nennt dies „explanatorischen Adaptationismus“: „The apparent design of organisms, and the relations of adaptedness between organisms and their environments, are the big questions, the amazing facts in biology. Explaining these phenomena is the core intellectual mission of evolutionary theory. Natural selection is the key to solving these problems selection is the big answer. Because it answers the biggest questions, selection has unique explanatory importance among evolutionary factors.“ 398 Hume, Enquiry concerning Human Understanding 10.1.4. Wir haben bereits in der Diskussion von Sellars gesehen, dass die Naturwissenschaften als eine methodisch reflektierte und verbesserte Fassung der Problemlösungskapazitäten intelligenter Bewohner des manifesten Weltbilds betrachtet werden können (vgl. 1.2.6.). Somit kommt naturwissenschaftlichen Methoden ein Vorrang im Hinblick auf ontologische Auskünfte zu, nicht aber den Naturwissenschaften als solchen. Sellars drückt diesen Vorrang in seiner Variation des Homo-mensura-Satzes aus, dem zufolge gilt „that in the dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not“. (Sellars 1963: 173, bzw. 1997: 83) 159 Feind unzureichend als Reduktionismus oder Physikalismus charakterisiert. In der Philosophie des Geistes etwa tragen viele Bücher Titel oder Untertitel der folgenden Art: „The Mind and its Place in Nature“, „Reasons in a World of Causes“, „Mentales Leben und materielle Welt“, „Intentionality in a Non-Intentional World“ oder „Mind in a Physical World“.399 Die Form dieses Musters lautet: „X in der natürlichen Welt“, wobei die natürliche die von den Naturwissenschaften beschriebene Welt meint. Die Stelle von „X“ können Objekte wie Rationalität, Intentionalität, Bewusstsein, Modalität, Wert usw. einnehmen.400 Solche naturalistischen Projekte versuchen, bestimmte Lokalisierungsprobleme zu lösen, sie versuchen, bestimmte Entitäten (wie Werte), Eigenschaften (wie Intentionalität) oder Prozesse (wie Handlungen) in einer Welt der Ursachen und Naturgesetze zu lokalisieren. Man kann diese Lokalisierung reduktionistisch verstehen. Wie können beispielsweise intentionale Phänomene auf materielle, physische, kausale oder nomische Phänomene reduziert werden? Unter der Naturalisierung der Intentionalität kann man sich dann etwa ein reduktionistisches Programm vorstellen, das intentionale Ausdrücke (wie „meinen“, „bedeuten“, „bezeichnen“) mithilfe von Ausdrücken analysiert, die selbst nichtintentional, nicht-semantisch, nicht-teleologisch, sondern Bestandteil der Sprache der Physik sind. Doch die Sprache welcher Physik? Zunächst scheinen solche Theorien einfach Die Titel und Untertitel stammen von Broad 1923; Dretske 1988; Heckmann 1994; Jacob 1997; Kim 1998. Es wurde auch gesagt, dass diese philosophischen Projekte einen „Objekt-Naturalismus“ vertreten, von dem ein Subjekt-Naturalismus unterschieden werden kann. (Die Terminologie stammt von Price 2004.) Der O-Naturalisms ist eine ontologische These, der zufolge alles, was existiert, einzig durch die Naturwissenschaften entdeckt wird. Der S-Naturalismus ist eher eine Anleitung zum Philosophieren. Er beruht auf der Ansicht, dass das Denken und Sprechen von Menschen, wie es die Naturwissenschaften beschreiben, Teil der natürlichen Welt sind. Price zufolge ist der O-Naturalist ein Repräsentationalist, Realist, Kognitivist, der S-Naturalist hingegen ein Projektionist, Anti-Realist, Anti-Kognitivist. Price argumentiert, dass der S-Naturalismus Vorrang habe, weil der O-Naturalismus aus der Perspektive des S-Naturalismus akkreditiert werden müsse. Er bezweifelt aber, dass eine solche Akkreditierung erfolgreich sein könne, weil die Einsicht in das Denken und Sprechen von Menschen als natürlichen Wesen den philosophischen AntiRepräsentationalismus fordere und damit den O-Naturalismus obsolet mache. Ich halte die Unterscheidung für verworren und das Argument nicht für schlüssig. Die Unterscheidung ist lediglich eine Auflage der unklaren Unterscheidung zwischen methodologischem und ontologischem Naturalismus. Dem SNaturalismus zufolge sollte die Philosophie sich nicht daran orientieren, was die Naturwissenschaften über die natürliche Welt sagen, sondern daran, was die Naturwissenschaften (und die Sozialwissenschaften) über die Natur des Menschen sagen. Die Projekte des S-Naturalismus gehen also vom Menschen als natürlichem Lebewesen aus und fragen, welcher Ort bestimmten Objekten in Abhängigkeit von der menschlichen Natur zukommt. Aber man kann hinsichtlich der menschlichen Natur ebenso gut Repräsentationalist wie Projektionist sein. Humes Treatise on Human Nature oder Nietzsches Genealogie der Moral sind Versuche eines SNaturalismus. Hume und Nietzsche sind S-Naturalisten der nicht-kognitivistischen oder projektionistischen Sorte. Ihnen zufolge sind Menschen projizierende Wesen. Sie projizieren aus subjektiver Gewohnheit kausale Notwendigkeit in externe Ereignisse, oder sie projizieren auf Naturvorgänge aus Ressentiment moralische Werte. Es gibt allerdings auch Projekte des S-Naturalismus, die kognitivistisch und realistisch sind. Anders als etwa Hume und Nietzsche vertritt die darwinistische Biosemantik Millikans einen intentionalen Realismus und die aristotelische Tugendethik Foots, die in Kapitel 3 mit der Biosemantik zusammengeführt werden soll, einen moralischen Realismus. Im zweiten Fall gibt es keinen schlüssigen Weg vom S-Naturalismus zu einer Ablehnung des O-Naturalismus. Darüber hinaus muss in beiden Versionen eines S-Naturalismus die Frage offen bleiben, ob und wie die Natur des Menschen in der natürlichen Welt zu lokalisieren ist und ob und wie diese Lokalisierung in reduktionistischer Manier vorzunehmen ist. 399 400 160 Formulierungsprobleme zu haben. Dies gilt insbesondere für die These, dass eine vollständige physikalische Beschreibung der Welt ipso facto eine vollständige Beschreibung der Welt sei. Welche Beschreibung ist gemeint? Sollte es sich um die Physik von 1890 oder von 2009 handeln, so dürfen wir zuversichtlich sagen, dass die These falsch ist. Sollte es sich um eine zukünftige oder ideale vollständige Physik handeln? Was wäre eine solche vollständige Physik? Antwort: eine vollständige Beschreibung der Welt. Dann ist die These nichtssagend: Denn wenn die vollständige Beschreibung der Welt zugleich die ideale vollständige Physik ist, dann handelt es sich bei der These um keine These, sondern um eine Wahrheit per definitionem. Und selbst wenn man die These umformuliert und sagt, dass eine vollständige Beschreibung der Welt allein mithilfe physikalischer Eigenschaften, Einzeldingen oder Relationen erreicht werden kann, stellt sich nach wie vor dasselbe Problem. Doch vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, den Physikalismus zu bestimmen. Umgehen wir doch einfach das Problem, wie wir die Physik als gegenwärtige oder ideale bestimmen könnten, indem wir physikalische Einzeldinge, Eigenschaften und Relationen ostentativ definieren. Wir können auf eine besonders paradigmatische Eigenschaft (x ist Wasser), seine Reduktion (x ist H2O) und ein damit verbundenes Naturgesetz hinweisen, und sagen, dass wir dergleichen mit physikalischer Basis meinen. Der Physikalismus besagt, dass unsere Welt ausschließlich eine physische Welt mit Eigenschaften, Gesetzen usw. in diesem eben ausgewiesenen Sinne ist. Eine mögliche Welt, die ein minimaler (d.h. bestehend nur aus Eigenschaften, Gesetzen usw. in diesem Sinne) physischer Doppelgänger unserer Welt ist, ist ein Doppelgänger unserer Welt tout court. Oder wie Frank Jackson es formuliert: „Any world, which is a minimal physical duplicate of our world is a duplicate simpliciter of our world.“401 Die Doppelgängerwelt ist also ein Duplikat unserer Welt, Eigenschaft um Eigenschaft, Relation um Relation, Einzelding um Einzelding, und sie enthält nichts darüber hinaus. Dann ist sie ein vollständiges Duplikat unserer Welt, nichts fehlt (weder Farben, noch Gefühle, Gedanken, Gesetze oder Gedichte). Es fehlen in ihr keine mentalen Zustände der in ihr lebenden Wesen. Nehmen wir Jacksons Version, und nennen wir sie „Minimalistischen Physikalismus“ (MINPH). Aus der Wahrheit von MINPH folgte, dass ein instantan entstandener minimaler physischer Doppelgänger unserer Welt ein vollständiges Duplikat unserer aktuellen Welt wäre.402 Doch dann könnte die Teleosemantik keine Version von Jackson 1998: 12. Diese von Jackson vorgeschlagene Version des Physikalismus ist relativ schwach. Sie bezieht sich nur auf Welten, die hinsichtlich ihrer physischen Beschaffenheit exakte Duplikate unserer Welt sind. Eine stärkere Version würde besagen, dass in einer möglichen Welt mit denselben Naturgesetzen und denselben physischen 401 402 161 MINPH sein, denn ein instantanes Duplikat unserer Welt wäre der Teleosemantik zufolge eine Welt ohne Echte Funktionen und folglich ohne mentale Zustände. Denn eine Instantwelt ist eine Welt ohne Vergangenheit und eine Welt ohne Vergangenheit ist der Teleosemantik zufolge eine Welt ohne Echte Funktionen. Echte Funktionen haben essenziell eine Vorgeschichte. Jackson qualifiziert die Doppelgängerwelt genauer wie folgt: „Thus a minimal physical duplicate of our world is a world that (a) is exactly like our world in every physical respect (instantiated property for instantiated property, law for law, relation for relation), and (b) contains nothing else in the sense of nothing more than kinds or particulars that it must to satisfy (a).“403 Wie steht es angesichts der Klausel (b) mit Echten Funktionen? Echte Funktionen sind Eigenschaften, die beispielsweise durch biologische Strukturen instantiiert werden, aber als Produkte der Natürlichen Selektion wesentlich historisch sind. Das bedeutet, eine biologische Struktur kann eine Echte Funktion nicht instantiieren, ohne Mitglied einer historischen REF zu sein. Wenn Token mit Echten Funktionen physische Instanzen physischer Eigenschaften sind, dann müssen (der Teleosemantik zufolge) diese Instanzen eine Geschichte haben. Nach wie vor könnte eine Instantwelt keine essenziell historischen Entitäten enthalten. Daraus folgt für MINPH entweder, dass Echte Funktionen keine physischen Entitäten sind oder dass eine instantane Doppelgängerwelt nicht möglich ist. Im ersten Falle wäre die Teleosemantik keine Version von MINPH. Daraus würde allerdings nicht folgen, dass der Teleosemantik keine Naturalisierung des Mentalen gelingen könnte, sondern lediglich, dass diese Naturalisierung keine physikalistische im Sinne von MINPH wäre. Den zweiten Fall können wir kaum zulassen. Es ist nicht einzusehen, warum eine instantane Doppelgängerwelt nicht möglich sein soll. Nur würden in ihr keine Wesen mit Echten Funktionen existieren. Folglich handelte es sich um eine Welt aus sogenannten Sumpfmenschen, Sumpfkühen, Sumpffröschen404 usw.405 Zutaten wie in unserer aktuellen Welt, aber mit einer vollkommen anderen Verteilung der physischen Zutaten, für alles gesorgt wäre. Eine solche Welt wäre hinsichtlich der Natur mentaler Zustände nicht von unserer verschieden und in diesem Sinne ihr Duplikat. 403 Jackson 1998: 13. 404 Ich werde auf diese seltsamen Wesen in Kapitel 4 ausführlich zu sprechen kommen. 405 Wie wäre es, eine historische Komponente in MINPH einzuschließen? „Any world, which is a minimal physical and natural historical duplicate of our world is a duplicate simpliciter of our world.“ Das bedeutet aber, dass die Teleosemantik im Sinne von MIMPH eine physikalistische Theorie nur dann ist, wenn MIMPH mithilfe naturgeschichtlicher Doppelgängerwelten formuliert wird, und die Produkte der Evolution, und zwar als Lebewesen, vollständig unter physikalische Naturgesetze fallen. Darüber hinaus kann man die Menschheitsgeschichte zwar kaum ohne Weiteres mit der Naturgeschichte identifizieren, aber dennoch darf man wohl sagen, dass es keine nicht-willkürliche Möglichkeit gibt, die Natur- und die Menschheitsgeschichte auseinanderzuhalten. Wenn diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht, muss eine minimale physikalische Doppelgängerwelt ein weitaus reichhaltigeres Duplikat unserer Welt sein als MINPH fordert, denn sie muss ein natur- und (teilweise) menschheitsgeschichtliches Duplikat sein. Ein solches Duplikat weist jedoch weit über MINPH hinaus, denn es ist nicht klar, ob in einer solchen Welt alle relevanten Eigenschaften der Lebewesen, die sich in ihr entwickelt haben, durch physikalische Eigenschaften, Relationen und Gesetze 162 Doch abgesehen von dem Problem, formulieren zu können, was man unter der Physik des Physikalismus verstehen soll, sehen sich reduktionistische Lösungen von Lokalisierungsproblemen in der Philosophie des Geistes einer Reihe mittlerweile gut bekannter Einwände ausgesetzt: Erstens sei das Mentale multipel realisierbar, zweitens sei es anomal, drittens sei es normativ. Die Teleosemantik ist eine Form des philosophischen Naturalismus, die auf biologische Funktionen zurückgreift, um das Mentale in der natürlichen Welt zu lokalisieren. Biologische Funktionen werden hier als Adaptationen aufgefasst und mit der Evolution durch Natürliche Selektion erklärt. Der Begriff der biologischen Funktion ist wie geschaffen, um auf die drei genannten Einwände zu reagieren. Erstens sind biologische Funktionen multipel realisierbar. Die vielfältigen Fortpflanzungsorgane im Tierreich haben alle die Funktion, die Art zu reproduzieren, doch die physikalische Struktur dieser Organe unterscheidet sich in hohem Maße. Zweitens sind biologische Funktionen anomisch oder anomal, sie sind keinen Naturgesetzen unterworfen. Ja, es kann argumentiert werden, dass es in der Evolutionstheorie keine Naturgesetze gibt. Drittens haben Funktionen eine normative Natur. Es ist die Funktion eines Küchenmessers zu schneiden, auch wenn es stumpf ist; es ist die Funktion der Niere, Blut zu reinigen, auch wenn sie defekt ist; es ist die Funktion der Gorillahand Objekte zu greifen und zu manipulieren, auch wenn sie verkrüppelt ist. Dies sind Dinge, die Küchenmesser, Nieren und Gorillahände für ihre Inhaber tun sollten. Auch wenn dies alles zutrifft, sollten wir die Biosemantik deshalb als einen nichtreduktionistischen Physikalismus auffassen? Ich glaube nicht. Denn der nichtreduktionistische Physikalismus ist ein Physikalismus, der nicht mehr weiß, was er will. Dies will ich im Folgenden zeigen.406 Ursprünglich war Physikalismus reduktionistischer Physikalismus. Die Motivation für den reduktionistischen Physikalismus besteht im Problem der mentalen Verursachung. Unsere Gedanken verursachen bestimmte Handlungen. Karl möchte nach dem Milchglas greifen und glaubt, dass vor ihm eines steht, also greift er nach ihm. Der Griff nach dem Glas ist ein physisches Ereignis, das durch Karls geistige Zustände verursacht wird. Die Motivation besteht genauer darin, erklären zu wollen, wie mentale Verursachung in einer ganz und gar materiellen Welt möglich sein soll. Die Physik erklärt, was zur materiellen Welt gehört, daher der Name „Physikalismus“. Ein mögliches Argument in diese Richtung – wobei es im Moment keine Rolle spielt, ob wir uns auf Token oder auf Typen geistiger Ursachen beziehen – lautet wie folgt: Man geht davon aus, dass eine bestimmte physische Wirkung W (Karls Griff zum erfasst werden können (vgl. 1.3.3). Es bleibt unklar, warum wir dann im Hinblick auf die Teleosemantik überhaupt noch von einem „Physikalismus“ sprechen sollten. 406 Hierbei stütze ich mich auf die Überlegungen von Crane 2007: IV. 163 Milchglas) eine bestimmte geistige Ursache GU hat (Karls Wunsch nach Milch plus seine Überzeugung, dass vor ihm ein Milchglas steht). Weiter nimmt man an, dass alle physischen Wirkungen nur physische Ursachen haben. Daraus folgt, dass W eine ausschließlich physische Ursache (Einzelursache oder Ursachentyp) haben muss. Nennen wir sie PU. Nun verursachen entweder GU und PU unabhängig voneinander W oder GU ist mit PU identisch. Träfe ersteres zu, dann wäre W überdeterminiert, d.h. W hätte mehr als eine vollständige Ursache. Da es aber keine Überdeterminierung gibt, sind GU und PU identisch. Das bedeutet, dass geistige und physische Ursachen Ursachen gleicher Art sind. Es gibt nicht mehrere Arten von Ursachen, sondern nur Wirkursachen. Der reduktionistische Physikalismus (sowohl der Typ- als auch der Token-Identität) trifft also mindestens die folgenden Annahmen: (1) Es gibt eine geistige Verursachung. (2) Die Abgeschlossenheit der Physik trifft zu. (3) Es gibt keine Überdeterminierung. (4) Geistige und physische Verursachung sind homogen. Die reduktionistische Variante ist, wie gesagt, unter schweren Beschuss geraten. Ebenso die häufig, aber nicht immer, damit verbundene Typenidentität. Heute vertreten Physikalisten deshalb eine Art des nicht-reduktiven Physikalismus, der Token-Identität mit Funktionalismus verbindet. Dieser Position zufolge ist ein mentaler Zustand ein funktionaler Zustand, der nicht als Typ mit einem physischen Zustand identisch ist, sondern auf einer physischen Grundlage superveniert. Welche der oben genannten Annahmen möchte der Nicht-Reduktionist aber fallen lassen? Er kann (1) nicht fallen lassen, weil sonst die Motivation für den Physikalismus, die darin bestand, das Problem der mentalen Verursachung zu lösen, verschwinden würde. Und wir hätten dann keinen Grund mehr dafür, das Mentale in der physischen Welt lokalisieren zu wollen. Die Annahmen (2) und (3) wird der Physikalist ebenfalls nicht fallen lassen wollen, denn sie charakterisieren ja den Physikalismus als Position, die mit der Existenz der mentalen Verursachung in Übereinstimmung gebracht werden soll. Lässt man diese Annahmen fallen, fällt auch die andere Seite der Motivation dafür, das Mentale in der physischen Welt lokalisieren zu wollen. Bleibt somit nur (4). Doch wenn der Nicht-Reduktionist (4) zurückweist, dann 164 akzeptiert er ipso facto Folgendes: Es gibt einerseits physische Ursachen und es gibt andererseits eine andere Art von Ursachen.407 Werden (2) und (3) aber beibehalten, dann sind diese zur gewöhnlichen physischen Verursachung hinzukommenden und die geistigen Ursachen charakterisierenden Ursachentypen von anderer Art. Wirkt ein geistiger Zustand im Sinne dieses zusätzlichen kausalen Ursachentyps kausal auf Handlungen ein? Falls nein, dann lässt man die mentale Verursachung fallen und die Motivation für den Physikalismus verschwindet.408 Falls ja, dann lässt man Annahme (2) fallen, die kausale Abgeschlossenheit des Physischen. Falls der mentale Ursachentyp im Verbund mit dem physischen Ursachentyp wirkt, fällt mit der Verneinung der kausalen Überdeterminierung die Annahme (3). In beiden Fällen verschwinden also Merkmale, die den Physikalismus definieren. Wiederum stellt sich die Frage: Warum sollte man den Nicht-Reduktionismus also überhaupt noch einen „Physikalismus“ nennen? Ich sehe kein Motiv dafür. Aus den genannten Gründen sollten wir den Naturalismus der Biosemantik also nicht als einen Fall von Szientismus oder Physikalismus auffassen. So unterscheidet etwa Dretske 1988 zwischen „strukturierenden“ Ursachen und „auslösenden“ Ursachen, Jackson und Pettit 1988 unterscheiden zwischen „Programmerklärungen“ und „Prozesserklärungen“, bei Kim 1998 finden wir eine ausgefeilte „superveniente Verursachung“, die er von physikalischer Verursachung unterscheidet. 408 Tatsächlich scheint etwa den Theorien von Dretske und Kim eine Tendenz zum Epiphänomenalismus inne zu wohnen. 407 165 2.3. Vereinheitlichung und Biologischer Naturalismus Auf einer sehr allgemeinen Ebene kann man den Naturalismus weniger als philosophisches System, denn als den Versuch der philosophischen Anerkennung der beeindruckenden Leistungen und Auswirkungen von Wissenschaften wie Physik oder Biologie betrachten. Ein Naturalist hat ganz einfach Respekt vor den Folgerungen der Naturwissenschaften. Dieser Respekt kulminiert (zusammen mit der Kritik nicht-naturalistischer Methoden in der Philosophie) in der Forderung, dass die Philosophie und die Naturwissenschaften ein Kontinuum bilden sollten. Doch wenn diese vage Charakterisierung das Merkmal des Naturalismus sein soll, „dann ist es schwer zu sehen, wie man heute kein Naturalist sein sollte. Haben wir diesen Respekt nicht alle? Glaubt nicht jeder von uns, die wir in einer wissenschaftsgetränkten Kultur leben, dass alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht?“409 Nun, das hängt davon ab, wen man in dieses Wir einschließt oder mit wem man gerade spricht. Obschon die Charakterisierung vage und beinahe nichtssagend bleibt, ist die angedeutete Position weder selbstverständlich noch trivial. Barry Stroud hat 1996 in seiner „Presidential Address“ gesagt, mit dem Begriff des Naturalismus stehe es wie mit dem Begriff des Weltfriedens: Alle seien irgendwie dafür, aber niemand wisse so richtig, um was es sich dabei handle. Strouds Text wurde acht Jahre später in eine Sammlung von Texten aufgenommen, die sich kritisch mit dem Naturalismus auseinandersetzt.410 In dieser relativ kurzen Zeitspanne zwischen 1996 und 2004 hat sich nicht nur der Optimismus hinsichtlich des Weltfriedens verringert, es ist auch keineswegs so, dass alle irgendwie dafür sind, ganz im Gegenteil. Vor allem sollte derjenige, der für den Weltfrieden ist, etwas darüber sagen können, wie er zu erreichen wäre. Ebenso muss derjenige, der für den Naturalismus eintritt, etwas dazu sagen können, in welchem Sinne Philosophie und Naturwissenschaft kontinuierlich sein können. Genau das möchte ich in diesem Abschnitt tun. Philosophie und Naturwissenschaften streben beide, so möchte ich darlegen, nach einer bestimmten Art der Vereinheitlichung. In ihrer Kraft zur Vereinheitlichung liegt ja, wie eingangs gesagt, die Attraktivität der Biosemantik als philosophische Theorie. Ich werde also im Folgenden zuerst eine Vorstellung davon ausarbeiten, in welchem Sinne die Philosophie nach Vereinheitlichung strebt. Diese Vorstellung möchte ich eher dogmatisch entwickeln als argumentativ untermauern. Ich hoffe, dass sie dennoch eine gewisse Plausibilität beanspruchen kann. Anschließend werde ich an die Vereinheitlichung als Modus 409 410 Keil und Schnädelbach 2000: 9. Stroud 2004. 166 naturwissenschaftlichen Erklärens erinnern und dabei einen besonderen und besonders attraktiven Fall einer Vereinheitlichung hervorheben, der für die Biosemantik unmittelbar relevant ist, nämlich Darwins Theorie der natürlichen Selektion. Philosophische Arbeit ist nicht nur deshalb anspruchsvoll, weil es um „tiefe“ und „hohe“ Dinge geht, sondern v.a. auch deshalb, weil jeder philosophische Gedankengang gleichzeitig dreierlei zu berücksichtigen hat: Er muss in hohem Maße reflexiv, analytisch und systematisch sein, er muss Selbstbesinnung, Trennschärfe und Vereinheitlichung verbinden. Philosophische Arbeiten verbinden im Idealfall die drei genannten Momente und vermögen sie im Gleichgewicht zu halten. Üblicherweise erhält jedoch ein Moment das Übergewicht. Exzessives Übergewicht eines dieser Momente kann zu den bekannten Lastern der philosophischen Arbeit führen.411 Eine Haupttugend philosophischer Arbeit besteht im Vermeiden dieser Exzesse, und die Exzesse werden durch das Bemühen um ein Gleichgewicht zwischen den drei Momenten vermieden. Analyse, Vereinheitlichung und Reflexion haben nicht nur eine synchrone Seite, sondern auch eine diachrone oder historische Seite. Philosophische Projekte stehen in einer Beziehung zur Geschichte der Philosophie, weil philosophische Probleme und Vokabulare durch die Philosophiegeschichte strukturiert sind. Auch der abwehrende Gestus kommt noch von diesem Hintergrund her. Er besagt, dass in der Philosophie bislang alles falsch, auf dem Holzweg, methodisch unzureichend war. Auch der Bezug auf die jüngste philosophische Vergangenheit kommt ohne eine weiter entfernte Vergangenheit nicht aus, weil jede jüngste Vergangenheit sich ja wieder auf ihre jüngste Vergangenheit bezieht. Auch hier gibt es die bekannten Exzesse. Wer nur auf der synchronen Seite lebt, erfindet Räder neu, wer nur auf der diachronen Seite arbeitet, löst keine philosophischen Probleme. Der Bezug auf die Geschichte der Philosophie ermöglicht ein adäquates Verständnis der Entstehung bestimmter Problemstellungen und der Entwicklung bestimmter Denk- und Redeweisen. Wichtiger noch, er leistet einen positiven Beitrag zum Bemühen um ein angemessenes Bild unserer selbst. Schließlich erlaubt eine ernsthafte und auf oberflächliche Aktualisierungen verzichtende Beschäftigung mit historischen (insbesondere klassischen) Autoren die Wahrnehmung übersehener oder vergessener Denkmöglichkeiten. Philosophie ohne Geschichte ist blind, Geschichte ohne Philosophie ist leer. 411 Der Exzess der Analyse produziert Technokraten, der Exzess der Vereinheitlichung Schwadroneure, und der Exzess an Reflexion erzeugt Zweifler. 167 Der Bezug auf die Philosophiegeschichte kann überwiegend analytisch sein, etwa indem man sich auf ein bestimmtes historisches Lehrstück als Vorbild oder Schreckbild bezieht; er kann reflexiv sein, indem man sich in eine bestimme Tradition stellt; und er kann vereinheitlichend sein, und zwar durch ein Verständnis der Philosophiegeschichte insgesamt oder bestimmter Epochen derselben und eine entsprechende vereinheitlichende Erzählung dazu. Auch auf der diachronen Seite drohen dieselben Exzesse im Übergewicht eines Moments wie auf der synchronen Seite. Deshalb müssen sowohl die synchrone als auch die diachrone Seite der drei Momente idealiter ebenso in einem Gleichgewicht gehalten werden wie diese Momente selbst. An dieser Stelle kann man daran erinnern, dass gerade die Aufgabe, alle diese Elemente im Gleichgewicht zu halten (wenn man denn diese Forderung akzeptiert) dazu führt, dass einem Moment eine besondere Bedeutung zukommt, nämlich dem Moment der Vereinheitlichung. Vereinheitlichung ist nicht nur eine Forderung in der philosophischen Arbeit, sondern auch die Forderung der philosophischen Arbeit insgesamt. Sie schließt die Vereinheitlichung in der Arbeit mit ein, sodass es sich um eine Vereinheitlichung auf höherer Stufe handelt.412 Der Gedanke, dass Vereinheitlichung das wichtigste Moment der philosophischen Arbeit ist, wurde häufig durch die Forderung ausgedrückt, dass die Philosophie systematisch zu sein habe. Es ist keineswegs so, dass der systematische Anspruch der Philosophie im 20. Jahrhundert einfach ad acta gelegt worden wäre.413 Auch die Tradition, in die ich die Biosemantik gestellt habe, erhebt diesen Anspruch in einem bestimmten Sinne. Sellars zufolge ist es „the ‘eye on the whole’ which distinguishes the philosophical enterprise“.414 Dieser Forderung nach einem Blick aufs Ganze (statt einem Blick von Nirgendwo) fügt Sellars hinzu: „Otherwise, there is little to distinguish the philosopher from the persistently reflective specialist.“415 Dennoch ist der Philosoph letztlich kein Spezialist, sondern ein reflektierter Generalist. In diesem Sinne ist Sellars’ oft zitierte Charakterisierung zu verstehen: „The aim of philosophy, abstractly formulated, is to understand how things in the broadest possible sense of the term hang 412 Dem könnte man entgegenhalten, dass die Forderung nach einem Gleichgewicht auch in Analogie zur Forderung nach einem reflektierten Gleichgewicht zu verstehen sei, und somit die Reflexion im Vordergrund stehe. In einem engen Sinne bemüht sich die Methode des reflektierten Gleichgewichts auf die Untersuchung aller Seiten eines bestimmten Falles, im weiten Sinne hingegen wird die Ansicht über einen bestimmten Fall gegenüber kontrastierenden Ansichten verteidigt. Das Ziel ist beide Male die Herstellung eines kohärenten Systems von Überzeugungen, die sich gegenseitig stützen. Im weiten Sinn soll sich die Kohärenz des eigenen Systems als größer erweisen als jene konkurrierender Systeme. Abgesehen davon, dass die Vereinheitlichung (im Sinne der Bildung von Kohärenz) hierbei die ganze Last trägt und nicht die Reflexion, bin ich nicht der Ansicht, dass Kohärenz allein für Wahrheit ausreichend ist. 413 Ein Beispiel für diesen Anspruch ist das Werk von Nicolai Hartmann. 414 Sellars 1963: 3, Sellars 2007: 371. 415 Sellars 1963: 3, Sellars 2007: 371. 168 together in the broadest possible sense of the term.“416 Was aber ist das Ziel dieses Blicks aufs Ganze? Es besteht darin, die Spannung zwischen unserem existenziellen Selbstverständnis (dem manifesten Weltbild) und einem explanatorischen Weltverständnis (dem naturwissenschaftlichen Weltbild) aufzulösen und ein „stereoskopisches“ oder „synoptisches“ Bild davon zu entwerfen, auf welche Weise wir Teil einer solchen Welt sind. Sellars Integration beider Bilder ist Ausdruck eines systematischen Strebens, das Philosophie als Vereinheitlichung versteht. Wenn man die hier suggerierte Idee, dass die philosophische Arbeit ganz wesentlich Vereinheitlichung sei, akzeptiert, eröffnet sich ein Weg, die methodische und thematische Kontinuität zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, die für alle Spielarten des Naturalismus so zentral ist, auf eine neue Weise zu fassen. Als Vereinheitlichung ist nämlich auch jene Form der Erklärung gesehen worden, die die wissenschaftliche Erklärung auszeichnen soll. Im Folgenden will ich daran erinnern, dass Vereinheitlichungen eine erklärende Kraft haben können. Ich will diesen Vorschlag jedoch auf die Biologie (genauer: auf die Evolutionsbiologie) beschränken. Anschließend will ich zeigen, dass das Verfahren der Theoriekonstruktion, wie Millikans Biosemantik es einsetzt (1.1.6.), eine Methode zur Vereinheitlichung ist. Beides ist für die Gesamtstrategie dieser Studie wichtig, denn in ihrer Kraft zur Vereinheitlichung liegt die Attraktivität der Biosemantik als philosophische Theorie. Der Bezug der Vereinheitlichung auf die Evolutionsbiologie wird es mir zudem erlauben, den Sinn der Bezeichnung „Biologischer Naturalismus“ zu erläutern und diesen als Ausprägung des normativen Naturalismus zu verstehen. In der zeitgenössischen philosophischen Erkenntnistheorie werden zwei unterschiedliche Projekte verfolgt, die einander bisweilen gegenübergestellt werden, aber zusammengehören. Das erste Projekt bemüht sich um ein Verständnis unseres Begriffs von Wissen und versucht diesen kognitiven Zustand von anderen kognitiven Zuständen zu unterscheiden. Dieses Projekt befasst sich mit der Struktur des Wissens, wobei der Zurückweisung des Skeptikers eine wichtige Rolle zukommt. Das zweite Projekt ist umfassender. Es beschreibt und prüft epistemische Praktiken des Untersuchens und Forschens, der Überzeugungsbildung und des Überlegens. Das Wissen ist nicht das zentrale Thema. Während das erste Projekt sich auf kognitive Zustände konzentriert, befasst sich das zweite Projekt mit epistemischen Tätigkeiten. Es ist umfassender, weil es epistemische Akteure und Praktiken einbezieht. Dabei kommen nicht nur Überzeugungen, sondern auch andere geistige Zustände (wie Gefühle), nicht nur die Berechtigung, sondern auch andere epistemische Normen (wie die Durchführung einer Untersuchung), nicht nur geistige 416 Sellars 1963: 1, Sellars 2007: 369. 169 Zustände, sondern auch vortreffliche Charakterzüge (wie etwa Neugierde oder Aufgeschlossenheit) in den Blick. Sogar das primäre epistemische Ziel des ersten Projekts, die Wahrheit, erhält Konkurrenz. Epistemische Akteure und Praktiken zielen auf kognitiven Erfolg. Darin besteht ihre Funktion. Über Wahrheit hinaus existieren weitere mehr oder weniger würdige Erfolgsziele, wie Weisheit, Nutzen, Macht, Rechtfertigung, reflexives Gleichgewicht oder anhaltende Vertretbarkeit. Grundsätzlich kann man sagen, dass es im ersten Projekt um Wissen, im zweiten um Verstehen geht. Wir können wissen, dass X eingetreten ist, ohne zu verstehen, warum X eingetreten ist. Man kann nicht mehr oder weniger, ganz fest oder nur ein bisschen wissen, man weiß oder nicht. Wissen ist nicht graduell, sondern absolut.417 Wissen ist ein absoluter Begriff aufgrund seiner direkten Beziehung zum Begriff der Wahrheit. Wenn wir tatsächlich Wissen von X haben, so haben wir auch eine wahre Überzeugung über X. Überzeugungen sind nicht mehr oder weniger wahr. Das Wahrheitsprädikat erlaubt kein Mehr und kein Weniger. Ebensowenig das Wissen. Anders steht es mit dem Verstehen. Zwei Personen A und B wissen, dass Hemingway der Verfasser von For Whom the Bell Tolls ist. A ist eine Literaturwissenschaftlerin und Historikerin, die sich intensiv mit dem Spanischen Bürgerkrieg befasst hat, und versteht besser als B, was diese Tatsache bedeutet. Ihr Wissen über die Verfasserschaft des Romans steht in einer engen Beziehung zu anderen Überzeugungen, Thesen, Vermutungen über Krieg und Literatur oder über die Rolle der Intellektuellen im Spanischen Bürgerkrieg. Das Verstehen richtet sich nicht primär auf eine Überzeugung und deren Wahrheit, vielmehr versteht man eine Überzeugung als Teil eines Ganzen. Wissen hingegen findet sich in einzelnen Überzeugungen. Wissen ist absolut und partikular, Verstehen ist graduell und integrierend.418 Wissen resultiert aus den zuverlässigen Vermögen zur Bildung wahrer Überzeugungen, etwa auf der Grundlage von Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Überlegungen. Die epistemischen Eigenschaften von Überzeugungen können durch die zuverlässigen Vermögen eines Akteurs bestimmt werden. Verstehen hingegen ist eine Sache des Gebrauchs, den ein Akteur von diesen Vermögen macht. Wir können also wissen, dass X eingetreten ist, ohne zu verstehen, warum X eingetreten ist. Die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was Verstehen ist, Dretske 1981: 363: „When talking about people, places and topics (things rather than facts), it makes sense to say that one person knows something better than another [...]. But factual knowledge, the knowledge that something is so, does not admit of such comparisons [...]. In this respect knowledge is absolute. It is like being pregnant: an all or nothing affair.“ 418 Es gibt keine guten Gründe dafür, Wissen durch Verstehen, das erste durch das zweite epistemologische Projekt zu ersetzen, wie beispielsweise Goodman und Elgin (1988: 4f., 161) fordern. Vgl. Wild 2008a. 417 170 können in fünf Optionen unterteilt werden.419 Zunächst kann eine grundsätzliche Unterscheidung gemacht werden: Entweder ist das Verstehen gegenüber seinem Objekt (dem Verstandenen) verantwortlich oder gegenüber seinem Subjekt (dem Verstehenden). Die erste Konzeption ist ontologisch und betont entweder die Rolle von Ursachen oder die Rolle der Notwendigkeit. Das Eintreten von X wird entweder verstanden, wenn die Ursache für das Eintreten von X angegeben werden kann, oder wenn eingesehen wird, warum X eintreten musste, wenn also eine nomische Notwendigkeit für das Eintreten von X vorhanden ist. Die zweite Konzeption ist epistemologisch und hebt entweder die Rolle des Vertrauten oder die Rolle von Gründen hervor. Das Verstehen von X kann darin bestehen, eine Verbindung zu etwas bereits Vertrautem und Bekanntem herzustellen. Man erblickt im Eintreten von X eine Verwandtschaft mit dem Eintreten von Y oder Z. Das Verstehen von X kann aber auch darin bestehen, einen guten Grund für die Überzeugung zu haben, dass X eintritt (eingetreten ist, eintreten wird). Neben dem Verstehen aus Ursachen, aus Notwendigkeit, aus Vertrautem oder aus Gründen gibt es eine fünfte Option, nämlich die Vereinheitlichung. Der Grundgedanke ist folgender: Verstehen und Erklären bestehen in der Darlegung einer vereinheitlichenden Darstellung vieler unterschiedlicher Phänomene. Wir verstehen X, wenn wir einsehen, wie es sich mit anderen Phänomenen zu einem Ganzen fügt. Verstehen heißt also in der Vielheit das gemeinsame Muster sehen. Wir verstehen also das Eintreten von X, wenn wir es in ein Ganzes G einfügen können. Das setzt nicht voraus, dass wir G bereits verstehen müssen. Werden wir des Eintretens von X gewahr, ohne G, wissen wir zwar, dass X eingetreten ist, doch wir verstehen es nicht. Erklärungen sollten in der Tat Zusammenhänge und Beziehungen zwischen Phänomenen aufzeigen, deren Zusammenhang zuvor als problematisch, unverständlich oder sogar zweifelhaft erschien. In der Geschichte der Naturwissenschaften sind Keplers Erklärung der von Brahe gesammelten Daten mittels der Theorie der ellipsenförmigen Umlaufbahn, Newtons Theorie der Bewegung sowohl irdischer als auch himmlischer Körper, Darwins Vereinheitlichung biogeografischer Daten durch seine Theorie der gemeinsamen Abstammung durch natürliche Selektion oder die Vereinheitlichung von Elektrizität und Magnetismus durch die Maxwellschen Gleichungen Beispiele für solche Vereinheitlichungen. Eine gute Erklärung bringt unterschiedliche Phänomene unter ein 419 Vgl. Lipton 2004. Diese Darlegung ist natürlich sehr schematisch. Es soll nicht suggeriert werden, dass sich die fünf Optionen gegenseitig ausschließen. 171 Dach. Genau das erwarten wir von einer Wissenschaft. Tatsächlich kann das Versprechen der Vereinheitlichung ein epistemisches Höchstprädikat sein.420 Die Vereinheitlichung ist in Theorien wissenschaftlicher Erklärungen als eigenständiger Ansatz prominent von Philip Kitcher vertreten worden.421 Allerdings scheint dieser Ansatz für sich genommen nicht stabil zu sein. Er kann stärker zur ontologischen oder stärker zu epistemologischen Seite hinstreben. Er scheint als Ansatz für naturwissenschaftliches Verstehen die Unterstützung durch Ursachen nötig zu haben. Als Ansatz für hermeneutisches Verstehen könnte er beispielsweise am Verstehen durch Rückgriff auf Vertrautes anschließen.422 Einige Autoren vertreten die Auffassung, dass die Theorie der Vereinheitlichung nur dann genuin explanatorisch sein kann, wenn sie mit einer kausalen Theorie der Erklärung verbunden wird.423 Kitcher selbst scheint der Kausalität als Erklärungsprinzip nicht mehr so viel Misstrauen entgegen zu bringen wie zuvor.424 Ich möchte diese Option nicht verfolgen. Sie wird m.E. durch eine Idee motiviert, die man nicht zu unterschreiben braucht, nämlich durch die Idee der Einheit der Wissenschaften und durch die damit zusammenhängende Idee, dass Wissenschaften von Nicht-Wissenschaften durch eine 420 Hier ein Beispiel aus der Physik: „The two great ‘pillars’ of twentieth-century science are quantum mechanics, crucial in the microworld, and Einstein’s theory of gravity, which does not incorporate quantum concepts. But we have no single framework that reconciles and unifies them. […] One compellingly attractive feature of superstrings, suggesting that they indeed offer a valid route to unification of all physical forces, is that gravity seems an inbuilt consequence. Some hope that either features of the physical world that we do observe may ‘pop out’ of the theory. If it yielded insight into why the mircoworld is governed (as it is) by three forces, and why it is populated by particular classes of particles, we would be disposed to take its other predictions seriously even if they couldn’t all be directly tested.“ Rees 2004: 48 und 50 (meine Hervorhebung). 421 Kitcher 1981, 1989. 422 Etwa in James’ Pragmatismus oder Gadamers Hermeneutik. 423 Vgl. Woodward 2003: VIII. 424 Godfrey-Smith 2003: 197. Nun kann man einwenden, dass wir ein natürliches Phänomen doch dadurch erklären, dass wir seine Ursache angeben. Kitcher betrachtet das kausale Warum als derivativ gegenüber dem explanatorischen Warum (Kitcher 1989: 477). Kausalerklärungen reflektieren explanatorische Relationen in vereinheitlichenden Theorien. Unabhängig davon existiert für uns keine kausale Ordnung, die durch unsere Erklärungen erfasst werden müsste. Dies ist eine Reaktion auf Humes Analyse der Kausalität, die es als problematisch erscheinen lässt, kausale Begriffe als primitiv für Erklärungen anzunehmen. Die von uns akzeptierten kausalen Urteile entspringen unseren Bemühungen zur Vereinheitlichung von Phänomenen und Phänomenbereichen, nicht umgekehrt. Kitcher meint, unser Alltagswissen über Kausalzusammenhänge basiere auf der Aufnahme des Bildes der Welt, das uns die Naturwissenschaften zur Verfügung stellen (Kicher 1989: 469). Kitcher strebt an diesem Punkt also eher eine Verbindung mit dem Verstehen durch Rückbezug auf Vertrautes an. Ein zweiter Einwand gegen Kitchers Ansatz lautet, dass Vereinheitlichung viele Gesichter hat. So kann die Erstellung eines Klassifikationsschemas oder einer Nomenklatur eine Vereinheitlichung darstellen (wie Linnés Klassifikation der Arten oder die „Dewey Decimal Classification“ für Bibliotheken). Auch ein mathematischer Formalismus, der in unterschiedlichen Bereichen angewendet wird, stellt eine Form der Vereinheitlichung dar. Und schließlich stellt auch der Rückgriff auf einen einheitlichen kausalen Mechanismus zur Voraussage scheinbar heterogener Phänomenbereiche eine Vereinheitlichung dar. Nicht die klassifikatorische, nicht die formalistische, nur die kausale Vereinheitlichung scheint genuin explanatorisch zu sein. Offenbar kann die Theorie der Vereinheitlichung genuin explanatorische Vereinheitlichungen nicht von anderen Formen unterscheiden, ohne auf kausale Erklärungen zurückzugreifen. Aber ich habe bereits gesagt, dass sich die oben skizzierten fünf Verstehenstheorien nicht auszuschließen brauchen. Außerdem muss die Biosemantik kausale Erklärungen zulassen, weil sie Normale Erklärungen braucht (vgl. 1.1.4.). 172 bestimmte Form der Erklärung sauber getrennt sind. Doch Erklärungen funktionieren in unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft auf unterschiedliche Art und Weise, und eine (nicht nur deskriptive, sondern auch normative) Abgrenzung der Wissenschaft von der Nicht-Wissenschaft vermag durch andere Kriterien zu gelingen. Insbesondere sehe ich keinen Grund dazu, sich dazu genötigt zu fühlen, das Modell der Erklärung durch Vereinheitlichung, das in erster Linie anhand des Darwinschen Paradigmas entwickelt worden ist, auf Erklärungen zu übertragen, wie sie in der Physik oder in der Chemie vorherrschend sind. Denn zum einen beruhen Erklärungen in der Evolutionsbiologie nicht auf Naturgesetzen, und zum anderen hat es die Evolutionsbiologie mit einem anderen Gegenstandsbereich zu tun. Bevor ich auf Kitchers Ansatz zu sprechen komme, will ich zeigen, was damit gemeint ist. Ein Kennzeichen physikalischer Theorien besteht sicher in der Suche nach und in der Formulierung von Naturgesetzen. Vor dem Hintergrund des oben eingeführten Schemas kann man sagen: Solche Theorien erklären Phänomene aufgrund von Notwendigkeiten, und allein solche Erklärungen sind genuin explanatorisch. Die Notwendigkeit ist ein Kennzeichen naturgesetzlicher Verallgemeinerungen. Gemäß der empiristischen Auffassung handelt es sich bei Naturgesetzen um wahre, allgemeingültige (ohne Zeiten, Orte und Individuen), kontrafaktisch stabile, empirische (aposteriorische) Verallgemeinerungen. Zwar gehorchen Organismen ebenso wie Steine und Autos den Bewegungsgesetzen oder unterliegen der Gravitation, doch gibt es eigenständige evolutionsbiologische Naturgesetze in diesem Sinne? Freilich finden sich innerhalb der Evolutionsbiologie natürlich allgemeine Modelle, doch handelt es sich dabei um nicht-empirische, apriorische Verallgemeinerungen. So kann beispielsweise Fishers fundamentales Theorem der natürlichen Selektion als mathematisches Theorem interpretiert werden. Bei Fishers Theorem handelt es sich jedoch nicht um eine empirische Verallgemeinerung. Naturgesetze (in der Tradition des Empirismus) sind allgemeingültige Verallgemeinerungen, die nicht logisch oder mathematisch wahr sind, sondern aufgrund der Beschaffenheit der Welt. Es gibt also grob gesagt zwei Verallgemeinerungen in der Evolutionsbiologie: Apriorische (mathematische) Verallgemeinerungen wie Fishers Theorem oder das Hardy-Weinberg-Law einerseits und aposteriorische (empirische) Verallgemeinerungen andererseits. Letztere sind zwar explanatorisch relevant, aber durchgehend kontingent. Der kontingente Charakter der Verallgemeinerungen in der Evolutionstheorie folgt aus der Tatsache, dass die Evolution selbst kontingent verläuft und nur kontingente Regelmäßigkeiten hervorbringt. Die biologische Evolution schafft fortlaufend neue, 173 einzigartige Phänomene, sei es durch die Entstehung neuer, einzigartiger Arten, sei es durch die Schaffung neuer ökologischer Nischen. Laborversuche und artifizielle Modelle scheinen sich in der Biologie gerade deshalb schlecht zu eignen, weil zu einfach Phänomene geschaffen werden können, die nicht dem kontingenten Verlauf der Natur entsprechen. Feldversuche sind aufwendig, und es werden nicht zwangsläufig projizierbare Merkmale an wenigen Instanzen gefunden. Doch gerade die Projizierbarkeit durch (auch nur wenige) positive Instanzen gehört zu den nomologischen Wissenschaften. Zudem gibt es in der Evolutionsbiologie keine fundamentalen Konstanten. Parameter wie Selektionsdruck, Mutationsrate, Migrationsrate sind keine Konstanten. Sie müssen an verschiedenen Orten und Zeiten stets neu gemessen werden. Ihnen geht die Projizierbarkeit physikalischer Konstanten ab.425 Solche Überlegungen sind der Anlass zur Verteidigung von Evolutionären Kontingenzthesen (EKT). Eine Formulierung für EKT lautet: „All generalizations about the living world are just mathematical, physical, or chemical generalizations (or deductive consequences of mathematical, physical, or chemical generalizations plus initial conditions), or are distinctively biological, in which case they describe contingent outcomes of evolution.“426 Diese Formulierung macht den Anschein, als solle EKT für die gesamte Biologie gelten, doch daran kann man zu Recht Zweifel hegen.427 Ich will EKT auf die Evolutionsbiologie beschränken. Verallgemeinerungen in der Evolutionsbiologie sind kontingent, und zwar im folgenden Sinne: „To say that biological generalizations are evolutionarily contingent is to say that they are not laws of nature – they do not express any natural necessity; they may be true, but nothing in nature necessitates their truth.“428 EKT zufolge steht die Biologie quer zur „Newtonschen Tradition“, d.h. zu den Regeln der Forschung, die man in Newtons Maximen findet. So solle man Newton zufolge für gleiche Wirkungen stets gleiche Ursachen annehmen. Doch dies trifft nicht auf die Evolutionsbiologie zu, denn dort müssen verschiedene Ursachen für gleiche Wirkungen veranschlagt werden.429 Vgl. Brandon 1997. Beattie 1995: 46f. 427 Die Philosophie der Biologie hat sich primär in Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie entwickelt. Dabei kann leicht übersehen werden, dass die Philosophie der Biologie auch andere Bereiche berücksichtigen sollte und dass diese Berücksichtigung Thesen über die Biologie als Wissenschaft, die auf die Evolutionstheorie gemünzt sind, zu relativieren vermag. 428 Beatty 1995: 52; vgl. auch Beattie 1997. 429 Über Sinn und Unsinn des Vergleichs zwischen Darwin und Newton vgl. Brandon 2006. Brandon zieht nützliche Parallelen zwischen Newtons erstem Gesetz – dem Trägheitsprinzip – und der evolutionären Drift als erstem Gesetz der Evolutionsbiologie. 425 426 174 Trifft EKT zu, stehen wir vor dem folgenden Problem: Einem qualifizierten Konsens zufolge wurde bislang kaum eine erklärungskräftigere naturwissenschaftliche Theorie entwickelt als Darwins Theorie der Evolution durch die natürliche Selektion. Doch gemäß der empiristischen Auffassung von Naturgesetzen scheint es in der Evolutionsbiologie keine solchen Gesetze zu geben. Offenbar kann die Evolutionsbiologie dann auch nicht genuin explanatorisch sein. Wie soll man auf diese Problemlage reagieren? Es gibt drei Optionen: Man spricht der Evolutionstheorie einen naturwissenschaftlichen oder explanatorischen Status ab. Man liberalisiert die Auffassung darüber, was ein Naturgesetz sein soll. Oder man greift auf einen anderen Begriff der Erklärung zurück. Die erste Option finden wir etwa bei Karl Popper oder Jerry Fodor,430 bei Theisten oder Kreationisten. Ein Beispiel für die zweite Option stellt Sandra Mitchells Arbeit dar.431 Ihr zufolge sind sämtliche Diskussionen über Naturgesetze in der Evolutionsbiologie (und in der Biologie) eingeschränkt durch ein Verständnis von Naturgesetzen, das auf den Logischen Positivismus zurück geht. Sie schlägt einen pragmatischen Zugang vor, der erstens die Variabilität von Verallgemeinerungen in verschiedenen empirischen Wissenschaften berücksichtigt und zweitens die Eigenheit und den Grad an Kontingenz in der Biologie. Der pragmatische Ansatz fragt nach der Rolle von Naturgesetzen in den Naturwissenschaften.432 Verallgemeinerungen können in der Evolutionsbiologie als Naturgesetze funktionieren. Sie müssen beispielsweise akkurat, einfach und kognitiv handhabbar sein und die „Seinsschicht“ (level of ontology) berücksichtigen, um die es geht. Ihre Funktion besteht darin, zuverlässige Erwartungen zu begründen und zu stabilisieren. Doch dies trifft auch auf die sogenannte „Fast and Frugal Hermeneutics“ zu. Somit hätten Verallgemeinerungen wie „Never change a winnig team“ oder „Take first“ Gesetzescharakter. Dies erscheint mir eine unliebsame Konsequenz der Liberalisierung des Gesetzesbegriffs zu sein. Doch wir müssen den Begriff nicht liberalisieren. Sowohl die Evolutionsbiologie als auch die Physik sind wissenschaftliche Theorien, die Vereinheitlichung als Erklärungsprinzip anerkennen. Aber anders als die Evolutionstheorie bezieht sich die Fodor 2008. Zu Popper vgl. Beattie 2001. Vgl. Mitchell 1997, 2000. 432 Insofern logische Notwendigkeit im Logischen Empirismus auf die natürliche Notwendigkeit abgebildet wird, werden die empirischen Bezüge, die die Naturwissenschaften erforschen, nicht adäquat erfasst. Argument: Im Sinne logischer Notwendigkeit sind alle natürlichen Notwendigkeiten kontingent, weil die Wahrheit von Naturgesetzen nicht nur von der logischen Form und der Wahrheit der Prämissen abhängt, sondern auch von anderen Dingen. Also sind sie logisch kontingent. Daraus folgt: Nicht die Tatsache der Kontingenz, sondern die Natur und der Grad an Kontingenz scheidet das Nomologische vom Akzidentiellen (Mitchell 1997: 470). 430 431 175 Physik dazu auf Naturgesetze. Wichtig für die Evolutionstheorie sind die Kontingenz evolutionärer Prozesse, und der Umstand, dass es sich um historische Prozesse handelt. Wir sollten deshalb eher Verallgemeinerungen einer Art erwarten, wie sie in den historischen Wissenschaften möglich sind. Dabei ist der Hinweis von Mitchell auf eine andere Seinsschicht (level of ontology) wichtig. Warum aber sollten wir in Bezug auf die Biologie von einer eigenen Seinsschicht sprechen? Ich habe bereits darauf hingewiesen (2.2.), dass der Physikalismus (reduktiv oder nicht-reduktiv) in der Philosophie des Geistes entweder unplausibel oder schlecht motiviert ist. Etwas Ähnliches, so scheint mir, kann vom Physikalismus im Hinblick auf Lebewesen gesagt werden. Der wichtigste Grund dafür ist, dass die Evolutionsbiologie Phänomene wie die Existenz adaptiver Merkmale von Lebewesen, die Entwicklung des Lebens oder die Entstehung neuer Arten zu erklären versucht. Andere Zweige der Biologie (etwa die Physiologie, die Anatomie oder die Neurologie) bemühen sich um die Etablierung funktionaler Kategorien von Lebewesen, die Genetik wiederum fragt nach der Funktion bestimmter Gene. Funktionen, Adaptationen, Organismen und Arten sind Eigenschaften und Entitäten einer Seinsschicht, die auf einer komplexen physischen und chemischen Supervenienzbasis beruht. Das Interesse der Evolutionstheorie (und anderer Zweige der Biologie) gilt aber nicht der Supervenienzbasis, sondern der Seinsschicht der Lebewesen und Lebensprozesse. Wie es scheint kann das Ziel der Evolutionsbiologie, selbst wenn es Naturgesetze in der Evolutionsbiologie geben sollte, nicht in der Suche nach Naturgesetzen, die der Physik vergleichbar wären, bestehen.433 Der für die natürliche Selektion wichtige Begriff der Fitness beispielsweise benennt eine superveniente Eigenschaft par excellence. Doch was haben fittere Löwen, fittere Rosen, fittere Pilze, fittere Viren oder fittere Außerirdische physisch-chemisch gemeinsam, das sie jeweils fitter macht? Diese Überlegung gilt auch für Adaptationen. Man kann bezüglich biologischer Adaptationen wie folgt argumentieren: (i) Zahlreiche unterschiedliche physische und chemische Strukturen erfüllen dieselbe adaptive Funktion. (ii) Die natürliche Selektion selektiert nach adaptiven Funktionen, nicht nach physisch-chemischen Strukturen. (iii) Gegeben die weite Realisierbarkeit von adaptiven Funktionen, erweitert sich die Supervenienzbasis für Funktionen enorm. Daraus kann man zweierlei schließen. Entweder kann man schließen, dass die Evolutionsbiologie (insofern sie mit Adaptationen befasst ist) keine nomische Wissenschaft ist, weil sie dies aus epistemologischen Gründen für uns nicht sein kann, oder man kann folgern, dass sie dies aus ontologischen Gründen für sich nicht sein kann. 433 Brandon 1997: 445. 176 Alex Rosenberg argumentiert für die epistemologische Variante.434 Sein Grundgedanke lautet, dass unser Erkenntnisvermögen schlechterdings nicht ausreicht, die physische Supervenienzbasis epistemologisch in den Griff zu bekommen. Für kognitiv ungleich kompetentere Forscher als wir wären biologische Adaptationen reduzierbar auf mechanisch-naturgesetzliche Prozesse. Die Fitness von Lebewesen, die wir als relative Wahrscheinlichkeit der Produktion einer größeren Anzahl von Nachkommen betrachten, würde in den Augen solcher Forscher jeglichen Wahrscheinlichkeitscharakter verlieren. Doch der Grund für Rosenbergs Überzeugung besteht in erster Linie in der Idee eines für alle Naturwissenschaften verbindlichen nomologischen Erklärungstyps, zusammen mit der Überzeugung, dass eine Reduktion supervenienter biologischer Eigenschaften und Entitäten möglich sein muss, und dass auf der angestrebten Reduktionsebene ein strenger nomologischer Determinismus herrscht. Doch weder die Idee, dass alle Naturwissenschaften einem Erklärungstyp unterstellt sind, noch die physikalistisch-deterministischen Hintergrundüberzeugungen brauchen wir zu akzeptieren. Wir haben in der Vereinheitlichung ein Modell für Erklärungen in der Evolutionstheorie, das sich von Erklärungen in Physik und Chemie zwar unterscheidet, aber nicht dazu im Gegensatz steht. Sie ist eher den Erklärungen in den historischen Wissenschaften ähnlich. Darüber hinaus hängt für das Projekt des Naturalismus nichts am Physikalismus, sodass die Biosemantik von einer eigenständigen Seinsschicht der Lebewesen ausgehen kann. Der Naturalismus der Biosemantik ist ein biologischer Naturalismus. Kitchers Ansatz ist für die Biosemantik deshalb interessant, weil er nicht physikalische oder chemische Theorien als Vorbild nimmt, sondern Darwins Evolutionstheorie. Wir haben darin ein Paradigma für die Verstehens- und Erklärungsleistungen der Vereinheitlichung. Dieses Paradigma ist, wie ich zeigen werde, das Vorbild für die Biosemantik, die deshalb einen unifikatorischen biologischen Naturalismus vertritt. Tatsächlich ist die Geschichte des Darwinismus eine Geschichte der Vereinheitlichung bestimmter Phänomene durch ein Argumentationsmuster. So schreibt Darwin selbst: „It can hardly be supposed that a false theory would explain, in so satisfactory a manner as does the theory of natural selection, the several large classes of facts above specified. It has recently been objected that this is an unsafe method of arguing; but it is a method used in judging of the common events of life, and has often been used by the greatest natural philosophers.“435 434 435 Vgl. Rosenberg 2006. Darwin 1968: 476. 177 Darwin weist darauf hin, dass seine Theorie eine große Menge von Tatsachen erklärt und dadurch vereinheitlicht. Doch Darwin betrachtet dies nicht nur als ein Charakteristikum seiner Theorie, sondern verweist darauf, dass Erklärung durch Vereinheitlichung eine Methode ist, die sich sowohl im Alltag wie auch bei anderen Naturwissenschaften findet. Laut Kitcher wird die Einheitlichkeit (und dadurch das wissenschaftliche Verständnis) von Phänomenen dadurch gewährleistet, dass die Anzahl der Tatsachen (besser: Tatsachentypen), die die Wissenschaften akzeptieren müssen, reduziert wird: „Science advances our understanding of nature by showing us how to derive descriptions of many phenomena, using the same pattern of derivation again and again, and in demonstrating this, it teaches us how to reduce the number of facts we have to accept as ultimate.“436 Diese Reduktion wird dadurch erreicht, dass man eine maximale Anzahl von Aussagen über Phänomene von einer minimalen Anzahl von Argumentationsschemata (schematic arguments) ableiten kann. Solche Argumentationsschemata vereinen unter einem oder nur wenigen Schemata Aussagen über unterschiedliche Phänomene.437 Erklären heißt, so viele Phänomene wie möglich durch so wenige (und so stringente) Argumentationsmuster wie nötig beschreiben zu können, und zwar in der Form von Konklusionen in Argumentationsmustern. Das basale Argumentationsmuster Darwins nennt Kitcher „einfache Selektion“.438 Die Ausgangsfrage der einfachen Selektion lautet: Warum haben alle Mitglieder der Population P die Eigenschaft E? Die schematischen Sätze der Antwort sind die Folgenden: (1) Die zu P gehörenden Organismen sind Nachfahren einer historischen Vorläuferpopulation P*, die in Umwelt U wohnte. (2) Unter den Mitgliedern von P* existierte eine Variation hinsichtlich Merkmal T: Einige Mitglieder verfügten aufgrund von T über die Eigenschaft E, andere hingegen über E’, andere über E’’ usw. (3) E verschafft einem Organismus von P* in U zusammen mit anderen Merkmalen eine Menge M von Vorteilen und Nachteilen, die einen (erwartbaren) Beitrag zum Reproduktionserfolg r(M) leisten; E’ verschafft einem Organismus von P* in U eine Menge M’ von Vorteilen und Nachteilen, die einen (erwartbaren) Beitrag zum Reproduktionserfolg r(M’) leisten usw. Es gilt r(M) > r(M’) usw. Kitcher 1989: 423. Kitcher 1981: 512, 1989: 432. 438 Kitcher 1989: 444; vgl. 1993: II. 436 437 178 (4) Für zwei beliebige erbliche Eigenschaften E und F gilt: Wenn r(E) > r(F), dann ist die durchschnittliche Anzahl von Nachkommen mit E, die überleben und sich reproduzieren, größer als die durchschnittliche Anzahl von Nachkommen mit F, die überleben und sich reproduzieren. (5) Die Eigenschaften E, E’, E’’ usw. sind erblich. (6) Keine neuen Varianten von T (außer jene mit E, E’, E’’ usw.) tauchen innerhalb der Reproduktionslinie P-P* in U auf. (7) In jeder Generation der Reproduktionslinie P-P* in U erhöht sich die relative Häufigkeit von Organismen mit E. (8) Die Anzahl der Generationen der Reproduktionslinie P-P* ist ausreichend hoch um die relative Häufigkeit von E zu einer totalen relativen Häufigkeit von 1 zu akkumulieren. (9) Alle Mitglieder von P haben E.439 Zu einem solchen Argumentationsmuster gehört eine Klassifikation der verwendeten Sätze als Argumentationsschema und Anweisungen zur Ersetzung der Variablen. Für die einfache Selektion gestaltet sich dies wie folgt: Klassifikation: Die Sätze (1) bis (6) und (8) sind Prämissen. Satz (7) ergibt sich aus den Prämissen (1) bis (6). Satz (9) ergibt sich aus (7) und (8). Anweisungen: (i) Ersetze T durch einen Namen für ein bestimmbares biologisches Merkmal. (ii) Ersetze E, E’ usw. durch Beschreibungen der Form dieses Merkmals. (iii) Ersetze P* durch den Namen einer Vorläuferart. (iv) Ersetze U durch die Spezifikation der Umwelt von P* und P. (v) Ersetze M, M’ usw. durch Spezifikationen der Wirkungen der Formen des Merkmals. (vi) Ersetze r(M), r(M’) durch (nicht-negative) Werte. 439 Diese Aussage ist als „naturhistorisches Urteil“ (natural-historical judgments) zu verstehen. Was dies heißt wird in 3.3.1. ausführlich erläutert. 179 Die einfache Selektion erklärt, warum Organismen einer Population ein Merkmal T mit der Eigenschaft E haben. Der Grund für das Vorhandensein von T ist die Menge M der (für die Vorfahren dieser Organismen) positiven Wirkungen. Es handelt sich dabei um selektierte Wirkungen. Echte Funktionen sind nichts Anderes als selektierte Wirkungen. Auch wenn nicht alle Organismen in einer Population T haben, auch wenn nicht alle Organismen, die das T haben, E auch ausprägen, und auch wenn nicht alle Organismen, die M und E haben, M haben, so sollten diese Organismen als Teile der Reproduktionslinie, die zwischen ihnen und ihren Vorfahren besteht, über T, E und M verfügen. Darin besteht die normative Dimension der biologischen Merkmale einer Art einerseits und der biologischen Funktionen dieser Merkmale andererseits.440 Wenden wir uns wieder dem Argumentationsschema der einfachen Selektion zu. Nicht nur in der Evolution der Arten gibt es Selektionsphänomene, sondern auch im Immunsystem,441 im Zentralnervensystem442 und in Lernprozessen.443 Es gibt aber keine Wissenschaft (eine „Selektionswissenschaft“ oder dergleichen), die diese drei Bereiche vereinheitlichen würde. Kitchers Schema für einfache Selektion lässt sich nicht in dieser Form auf solche Bereiche übertragen. Betrachten wir zur Illustration die Selektion bestimmter Lymphozyten im Blut wie sie die Immunologie dank der Theorie von Frank M. Burnet kennt.444 Lymphozyten sind unterschiedlich beschaffene Blutzellen, die entsprechend ihrer Oberflächengestalt variieren. Diese Zellen interagieren mit Eindringlingen (Antigenen) und diese Interaktion beeinflusst die Aktivierung von weiteren Lymphozyten, denen eine bestimmte Oberflächengestalt eigen ist. Die Aktivierung löst ein Klonen von solchen weiteren Lymphozyten aus, die die Eindringlinge attackieren. Sind die Eindringlinge unschädlich gemacht, so finden sich im Blut Lymphozyten einer bestimmten Art (d.h. mit einer bestimmten Oberflächengestalt) häufiger als andere Lymphozyten. Durch diesen Prozess passt sich das Immunsystem an bestimmte Antigene an. Diese klonale Selektion von Antikörpern scheint noch nicht in das Schema der einfachen Selektion zu passen, denn die klonalen Selektionsprozesse involvieren keine Organismen (Sätze 1, 3, 5, 7) und Klonen scheint keine Reproduktion zu sein (Sätze 3, 4, 7, 8). Offenbar sind die Sätze des Schemas zu restriktiv. Das Problem sind die nicht-variablen Ausdrücke in den schematischen Sätzen des Argumentationsmusters. Aber wir können den Ausdruck „Organismus“ oder „Reproduktion“ ersetzen. In Richard Dawkins’ Ich werde in Kapitel 3 ausführlich begründen und erläutern, dass Merkmale von Organismen und Funktionen von Merkmalen normativ sind. 441 Vgl. Matthen 1984; Darden und Cain 1989; Hull et al. 2001. 442 Vgl. Edelmann 1987. 443 Vgl. Hull et al. 2001. 444 Vgl. Burnet 1957. 440 180 Interpretation der Evolutionstheorie beispielsweise kopieren sich Replikatoren mithilfe von Interaktoren. Das biologische Paradigma für Replikatoren sind Gene, jenes für Interaktoren Organismen. Aber weder muss die Kopie von Replikatoren genetisch erfolgen, noch muss der Interaktor ein Organismus sein. Man könnte also die einfache Selektion durch ein Argumentationsmuster für eine allgemeine Selektion ersetzen. Die Ausgangsfrage der allgemeinen Selektion lautet: Warum haben die Elemente G in Umwelt U die Eigenschaft E? Die schematischen Sätze der Antwort sind dann die folgenden: (1) Es gibt eine Menge von Gs in U. (2) Gs haben das Merkmal T und variieren deshalb im Hinblick auf E, E’, E’’ usw. (3) Das Haben von E befähigt Gs in U (evtl. zusammen mit anderen Merkmalen) zu einer Menge M von Wirkungen, die zu ihrer Produktivität beitragen. Das Maß an Produktivität von Gs mit E ist größer als jenes von Gs mit E’ usw. (4) Für zwei Eigenschaften E und F gilt: Wenn E die Produktivität stärker erhöht als F, dann wird die durchschnittliche Produktivität von Gs mit E größer sein als jene von Gs mit F. (5) Keine neuen Varianten von T (außer jene mit E, E’, E’’ usw.) tauchen innerhalb der Menge der Gs auf. Alle Gs sind in U. (6) Über die Zeit entwickelt sich die Produktivität von Gs mit E zu einem Maximum, jene der Gs mit E’ zu einem Minimum. (7) Gs in U haben E. Erklärung: Produktivität ist die Beschreibung der Effekte eines G mit E. Das Maß der Produktivität ist ein nicht-negativer Wert. Klassifikation: Die Sätze (1) bis (5) sind Prämissen. Satz (6) ergibt sich aus den Prämissen (1) bis (5). Satz (7) ergibt sich aus (6). Anweisungen: (i) Ersetze G durch den Namen für ein Individuum. (ii) Ersetze T durch einen Namen für ein bestimmbares Merkmal. (iii) Ersetze E, E’ usw. durch Beschreibungen bestimmter Formen dieses Merkmals. (iv) Ersetze U durch die Spezifikation der Umwelt von G. 181 (v) Ersetze M durch Spezifikationen der Wirkungen der Formen des Merkmals. Das Problem dieser Ausweitung des Argumentationsmusters der einfachen Selektion besteht darin, dass es die Forderung nach Stringenz zu verletzen scheint. Die Stringenz eines Argumentationsmusters ergibt sich einerseits aus der Anzahl der Phänomene, die es zu vereinheitlichen in der Lage ist, ohne dass die Klassifikation der Sätze oder die Form der Anweisungen verändert wird, andererseits dadurch, dass die nicht-variablen Ausdrücke des Argumentationsmusters unverändert bleiben.445 Das immunologische Beispiel verletzt die Forderung nach Beibehaltung der nicht-variablen Ausdrücke. Doch dabei handelt es sich um eine sehr flexible Forderung. Dies kann man daran erkennen, wie die Sätze eines Argumentationsmusters gebildet werden. Ein solcher „schematischer Satz“ (als Bestandteil eines Argumentationsmusters) wird durch die Ersetzung nicht-logischer Ausdrücke durch Variablen gebildet. Eines von Kitchers Beispielen für einen Satz lautet: „Organisms homozygous for the sickling allele develop sickle cell anemia.“ Dieser Satz kann wie folgt in einen schematischen Satz umgeformt werden: „Organisms homozygous for A develop P“. Doch für diesen schematischen Satz ist wiederum eine Umformung denkbar: „For all X if X is O and A then X is P“. Hier werden nicht-variable Ausdrücke durch Variablen ersetzt, doch das tut der Funktion des Satzes im Argumentationsschema keinen Abbruch. Ein Argumentationsschema besteht aus drei Elementen: Einer Folge schematischer Sätze, einer Anleitung zum Ausfüllen der Variablen und einer Klassifikation der schematischen Sätze. Je stärker das Schema reguliert ist, desto stringenter ist es. Wichtiger ist an dieser Stelle, dass die Ausweitung der einfachen Selektion auf die Immunologie zwei Elemente der einfachen Selektion fallen lässt, nämlich die Forderung nach einer Reproduktionslinie und die Forderung eines relativen Reproduktionserfolgs. Wir können es als Restriktion für die Applikation der Argumentationsmuster der einfachen Selektion betrachten, dass es diese beiden Forderungen nicht aufgeben darf.446 Der Grund für diese Restriktion besteht darin, dass der Grundgedanke von Darwins Theorie der Evolution durch Natürliche Selektion mit der Applikation nicht verloren gehen darf. Der Grundgedanke ist auf den ersten Blick einfach. Einige Wesen sterben, andere pflanzen sich fort. Die Mitglieder einer bestimmten Art bringen in jeder Generation einen Überreichtum an Nachkommen hervor, die untereinander variieren und von denen nur wenige überleben und Kitcher 1989: 433. Damit fallen auch die berühmten Kristalle aus dem Applikationsbereich der natürlichen Selektion, vgl. Dawkins 1987: 176f. Bedau 1991 behauptet, dass die Entstehung bestimmter Kristalle gegen die ätiologische Funktionstheorie spreche. 445 446 182 sich vermehren. Die Überlebenden bringen die kommende Generation hervor und vererben wiederum ihre Merkmale. Einige dieser Merkmale passen ihre Träger besser an eine bestimmte Umwelt an. Damit die natürliche Selektion nach bestimmten Merkmalen greifen kann, braucht es also vier Faktoren: Variation, Vererbbarkeit, relative Fitness und Akkumulation von Merkmalen.447 Lassen wir die Vererbbarkeit und Fitness bzw. die Forderung nach einer Reproduktionslinie und die Forderung eines relativen Reproduktionserfolgs fallen, haben wir damit Kernelemente aus Darwins Idee fallen gelassen. Wenn wir aber Darwins Schema der einfachen Selektion ausweiten wollen, um damit zu einer Vereinheitlichung unterschiedlicher Phänomenbereiche zu kommen, sollten wir keine Kernelemente fallen lassen. Es ist aber zugleich wichtig zu sehen, dass die für die Reproduktion (und mithin für die Reproduktionslinien und –erfolge) zuständigen Vererbungssysteme keineswegs auf die genetische Vererbung (geschweige denn auf die genetische Vererbung mittels sexueller Reproduktion) beschränkt zu werden brauchen. Betrachten wir nun jetzt Erweiterung des Schemas der einfachen Selektion auf das für die Biosemantik zentrale Thema der Teleologie, d.h. der Funktionen, Adaptationen, Ziele, Zwecke und Absichten. Weder geht es darum, biologische Funktionen begrifflich auf intentionale Ziele zu reduzieren, noch darum, intentionale Ziele kausal auf kulturelle Funktionen zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, ein für diese unterschiedlichen Ebenen gemeinsames Muster zu finden, das wir auf der Basis eines Paradigmas analysieren und dann auf andere Phänomene auf dieser Ebene anwenden. Hierbei handelt es sich wiederum um das Verfahren der Theoriekonstruktion, das wir bereits kennen gelernt haben (1.1.6.). Andere Sprachen als das Deutsche haben für die unterschiedlichen Ausdrücke „Funktion“, „Ziel“, „Zweck“ oder „Absicht“ einen Ausdruck. So versammelt beispielsweise das Englische alle Bedeutungsnuancen, die sich in diesen deutschen Wörtern ausdrücken, im Wort „purpose“. Wir können dafür den Ausdruck „Telos“ verwenden. Dabei interessiert uns ein bestimmter Bereich, nämlich der Bereich der belebten Natur, nicht der unbelebten. Wie wir gesehen haben, kann man die Seinsschicht, für die sich die Biologie interessiert und der Darwins einfache Selektion als vereinheitlichende Theorie zugeordnet werden kann, ganz unabhängig von der unbelebten Natur, die Physik und Chemie behandeln. Die Unterscheidung verschiedener Bereiche, die hier interessiert, betrifft also in erster Linie Lebewesen und die Produkte von Lebewesen. Ein plausibler und nützlicher Vorschlag zur Unterscheidung solcher Bereiche stammt von Daniel Dennett.448 Dennett unterscheidet vier „Stufen“ und spricht dabei von verschiedenen 447 448 Sterelny und Griffiths 1999: 31ff. Dennett 1995: 374ff. 183 Wesen, die diese Ebenen bevölkern, nämlich von „Darwinschen“, „Skinnerschen“, „Popperschen“ und „Gregorischen“ Wesen. (1) Darwinsche Wesen haben unterschiedliche Genotypen, prägen Phänotypen aus, und können den Genotyp vererben. Wenn ein bestimmter Phänotyp A dieses Genotyps (im Unterschied zu den Phänotypen B und C) ein Merkmal M ausprägt, dessen Wirkung W zu seinem Überleben beiträgt, dann besteht die Funktion von M in W. A wird gegenüber B und C durch natürliche Selektion selektiert. (2) Skinnersche Wesen sind Wesen, die im Unterschied zu Darwinschen Wesen individuell lernen können. Sie sind in der Lage, mit unterschiedlichen Verhaltensweisen A, B, C auf eine bestimmte Umweltbedingung U reagieren zu können. Sie können zwischen negativem und positivem Feedback F dieser Reaktionen unterscheiden und tendieren dazu, eine Reaktion A mit positivem F beizubehalten und Reaktionen B, C mit negativem F zu löschen. So lernen sie auf U mit A zu reagieren. Die Funktion von A besteht im positiven F, das A in U bewirkt. A wird gegenüber B und C durch das Gesetz der Verstärkung selektiert. Hier sterben Reaktionen anstelle von Individuen. (3) Poppersche Wesen sind in der Lage, ein Ziel Z zu repräsentieren und Mittel A, B, C zur Erreichung von Z in einer internalisierten Umwelt (im Geist) durchzuspielen. Ergibt es sich, dass B und C eher nicht zu Z führen, A aber schon, dann wird A eingesetzt. Die Funktion von A ist es, zu Z zu führen. A wird gegenüber B und C aufgrund instrumenteller Überlegungen selektiert. Hier sterben (wie Popper einst formulierte) Hypothesen anstelle von Individuen. (4) Gregorische Wesen hingegen schaffen sich eine externe Umwelt und platzieren darin Artefakte, die Aufgaben für sie übernehmen. Artefakte A, B, C unterstehen einem Prozess der Herstellung, Verwendung, Tradierung, Verbesserung, in dem einige Artefakte (wie A) weiterhin produziert, konsumiert, tradiert, optimiert werden, andere hingegen nicht (B, C). Die Funktion von A ist es dasjenige zu tun, wofür es produziert, konsumiert usw. worden ist. A wird gegenüber B und C aufgrund natürlicher Selektion, aufgrund von Feedback oder aufgrund von instrumentellen Überlegungen selektiert.449 Anders als Dennett geht es mir nicht um Wesen, es geht mir auch nicht darum eine Art Stufenleiter der Lebewesen aufzustellen, anhand derer wir etwa fragen könnten, ob es auch unter sprachlosen Tieren Poppersche Wesen gibt oder nicht, und schließlich ist es mir auch nicht um Vollständigkeit zu tun. Es geht vielmehr um die Unterscheidung unterschiedlicher 449 Woher die Namen für die ersten drei Wesen stammen, dürfte klar sein. Dennett gibt dem vierten Wesen den Namen des britischen Psychologen Richard Gregory (vgl. Dennett 1995: 377). 184 Ebenen von Entitäten oder Prozessen, die ein Telos haben, sowie um die Suche nach einem Muster, das es uns erlaubt, auf allen Stufen gleichermaßen von Funktionen usw. zu sprechen. Auf allen vier Stufen finden sich Entitäten und Prozesse mit einem Telos. So finden sich auf Stufe (1) Vorgänge, Organe, Körperteile, Körperformen und Verhaltensweisen, die gewisse Wirkungen haben, und da sind, um diese Wirkungen zu haben. Einige (nicht alle) Entitäten und Prozesse sind Produkte der Evolution durch natürliche Selektion. Ein anderes, gleichsam abstrakteres Produkt der Evolution ist die Evolvierbarkeit. Die Evolution der Evolvierbarkeit findet sich etwa in Form der sexuellen Reproduktion bereits auf Stufe (1), wird aber auf den folgenden Stufen nicht nur immer wichtiger, sondern zusehends zu einem beschleunigenden Faktor im Vergleich zu den großen Zeitspannen, die evolutionäre Prozesse auf der Stufe (1) benötigen. Auf der Stufe (2) finden wir die unterschiedlichsten Formen des Lernens. Darunter fallen nicht nur Formen der Konditionierung, sondern auch das Lernen durch Einsicht, das transitive, kausale oder induktive Lernen, wie es Hume beschrieben hat, oder das Lernen neuer Ziele. Auf der Stufe (3) finden sich explizite Repräsentationen von Zielen und Mitteln. Das Repräsentationssystem muss auf dieser Stufe in der Lage sein, zu identifizieren, zu schließen und zu negieren. Sowohl diesen Repräsentationen als auch den genannten Operationen können wir eine Funktion zuschreiben. Auf der Stufe (4) schließlich findet sich eine unübersehbare Menge von „Zeug“, von kulturellen Artefakten sowie Verhaltensweisen, Praktiken, Traditionen, Institutionen, sozialen Rollen, Sprachen, Theorien oder Kunstwerke. Sie kommen nur innerhalb einer kulturellen Welt vor.450 In dieser nach wie vor simplen Unterscheidung unterschiedlicher Stufen haben wir ein Muster eingeführt, das es uns erlaubt, auf allen Stufen gleichermaßen von einem Telos zu sprechen: „In sum, if we look at the whole human person in the light of our history of evolution by natural selection, minding the continuities between humans and other animals, it appears that all levels of purpose have their origin in adaptation by some form of selection. In this sense, all purposes are ‘natural purposes’. Even though there are, of course, many important differences among these kinds of purposes, there is an univocal sense of ‘purposes’ in which they are all exactly the same.“451 Das Muster des Telos (purpose) auf den verschiedenen Stufen bietet die Evolution durch natürliche Selektion. Darwins Theorie führte nicht nur zur Rehabilitierung einer von einem Zweck 450 451 setzenden Subjekt unabhängigen Zum Begriff der „kulturellen Welt“ vgl. 3.2.6. VM: 13. 185 Teleologie, sondern auch zu einer vereinheitlichenden Perspektive auf die Evolution des Lebens. Sie ermöglicht darüber hinaus eine vereinheitlichende Perspektive auf die Entitäten und Prozesse der eingeführten Stufen. Der zentrale Begriff dieser vereinheitlichenden Perspektive auf das Leben ist derjenige der Echten Funktion. Dabei geht es, wie gesagt, weder um die Reduktion von Lebewesen und Lebensprozessen auf physikalische oder chemische Gesetze, Entitäten oder Prozesse noch um die Reduktion der Stufen (2) bis (4) auf die Stufe (1). Eine solche Reduktion wäre nur dann unumgänglich, wenn wir die für die Reproduktion (und mithin für die Reproduktionslinien und -erfolge) zuständigen Vererbungssysteme auf die genetische Vererbung (oder gar auf die genetische Vererbung mittels sexueller Reproduktion) beschränken würden. Meines Erachtens haben jedoch Philosophinnen und Wissenschaftlerinnen wie Eva Jablonka und Marion Lamb deutlich gemacht, dass die Darwinsche Evolution mehrere Dimensionen hat. Wir können deshalb mit guten Gründen genetische, epigenetische, behaviorale, ökologische und kulturelle oder symbolische Vererbungssysteme unterschiedlichen unterscheiden.452 Genen, in Vererbbare unterschiedlichen Variationen 453 Zellen, in finden sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen der Sozialgruppe, in unterschiedlichen ökologischen Nischen von Vorgängergenerationen und in unterschiedlichen symbolischen und institutionellen Kommunikationssystemen. Die Weitergabe von genetischen Varianten hängt von Systemen zur DNA-Replikation ab, jene von epigenetischen Varianten von Zellsystemen, Verhaltensvarianten von Mechanismen des sozialen Lernens, und Variationen der symbolischen Kommunikation von kognitiven Mechanismen und komplexen Zeichensystemen. Ist ein System oder ein Mechanismus vorhanden, können vererbbare Varianten weitergegeben Reproduktionslinien werden werden durch und Reproduktionslinien Systeme und entstehen. Mechanismen Solche gebildet, die intergenerationell wirken. Es lassen sich aber auch Reproduktionslinien innerhalb der Lebensspanne eines Individuums unterscheiden. Individuen etwa, die als Folge des Trialand-Error-Lernens bestimmte Verhaltensdispositionen entwickeln, reproduzieren Vorkommnisse eines bestimmten Verhaltens auf der Grundlage ihrer Fähigkeit zur Konditionierung oder zum Zweck-Mittel-Denken. Aufgrund dieser Fähigkeiten werden bestimmte Verhaltensweisen gegenüber anderen selektiert. Auch hier werden, wie im Falle des sozialen Lernens, Verhaltensvarianten zuerst weitergegeben und dann selektiert, der Mechanismus der Weitergabe ist jedoch nicht das soziale Lernen, sondern das individuelle Vgl. Jablonka und Lamb 2005. Zelluläre epigenetische Vererbung besteht in der Weitergabe von Variationen von Mutter- auf Tochterzellen, die nicht das Resultat von Unterschieden in der DNA sind. Sie tritt in erster Linie während der Mitose auf (der „Zellteilung“). 452 453 186 On-line-Lernen in der Welt (bei Skinnerschen Wesen) oder das individuelle Off-line-Lernen im Kopf (bei Popperschen Wesen). Das verallgemeinerte Argumentationsschema der einfachen Selektion kann also auf die unterschiedlichen Arten der Teleologie (Funktionen, Adaptationen, Zwecke, Ziele, und Absichten) der vier Stufen übertragen werden, ohne dass (wie im Falle seiner Übertragung auf die Immunologie) Kernelemente von Darwin fallen gelassen werden müssen. Durch das Verfahren der Theoriekonstruktion wird ein paradigmatischer Fall analysiert und übertragen. Die Rechtfertigung für diese Übertragung ergibt sich durch das Modell des Erklärens durch Vereinheitlichung. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Vereinheitlichung für sich genommen nicht stabil zu sein scheint. Diese Instabilität ergab sich jedoch aus der Idee, für alle Wissenschaften einen Erklärungstyp zu finden. Dennoch kann die Vereinheitlichung in einem anderen Sinn stärker zu einer ontologischen oder stärker zu einer epistemologischen Seite hinstreben. Es stellt sich nämlich die Frage, welches Paradigma man für das Verfahren der Theoriekonstruktion wählt. Warum sollte man eher das Paradigma der biologischen Funktionen auf Stufe (1) als jenes der expliziten Absichten rationaler Subjekte auf Stufe (3) oder (4) wählen? Warum sollte man für eine allgemeine Theorie der Zeichen eher die tierliche Kommunikation (etwa der Bienen als einer Lebensform mit dieser Kommunikation) als die sprachliche Kommunikation (etwa der Menschen als einer Lebensform dieser Kommunikation) wählen? Ich habe für die Wahl dieses Paradigmas bislang folgende Gründe gegeben: 1. Erstens habe ich im Abschnitt 2.1. über Teleologie gezeigt, dass wir uns keineswegs genötigt sehen müssen, die Teleologie und teleologische Erklärungen so aufzufassen, als würden sie jeder Zeit ein Zweck setzendes Subjekt implizieren. Es gibt deshalb keinen Vorrang des Kantischen Paradigmas rationaler Subjekte gegenüber dem Darwinschen Paradigma der Teleologie biologischer Funktionen. 2. Zweitens bietet uns Darwins einfache Selektion ein ausgezeichnetes Schema zur Vereinheitlichung von Phänomenen des Lebens. Dieses Schema wurde u.a. zur Erklärung von Adaptationen entwickelt und erfolgreich für solche Erklärungen herbeigezogen. Dieses Schema ist in stringenter Weise auch auf andere teleologische Phänomene anwendbar. Dies ist der Grund dafür, das Darwinsche Paradigma gegenüber dem Kantischen Paradigma zu bevorzugen. 3. Drittens zeigt die Auseinandersetzung der Biosemantik mit Sellars, dass die normative Dimension, wie wir sie auf den Stufen (3) und (4) finden, auch auf den Stufen (1) und 187 (2) zu finden ist. Die ersten beiden Stufen entsprechen der A-Ebene, die letzten beiden der B-Ebene bei Sellars. Die Auseinandersetzung zeigt darüber hinaus, dass eine normative Grundlegung der Stufen (3) und (4) (der A-Ebene) nach dem Muster der biologischen Normativität der Stufen (1) und (2) (der B-Ebene) denkbar ist. Es besteht also Grund zur Annahme, dass die Fortführung des integrativen Projekts eines normativen Naturalismus durch die Biosemantik auf der in diesem Abschnitt dargelegten biologischen Grundlage begonnen und durchgeführt werden kann. Der normative Naturalismus der Biosemantik ist deshalb ein unifikatorischer biologischer Naturalismus, wenn man dabei nur mithört, dass die Biologie genuin normfähig ist. Ich werde deshalb auch diesen Ausdruck kapitalisieren und kurz vom „Biologischen Naturalismus“ der Biosemantik sprechen. Blicken wir kurz zurück! Es war ein wichtiger Bestandteil der Argumentation in Abschnitt 2.2., dass die Biosemantik deshalb nicht als nicht-reduktiver Physikalismus betrachtet werden sollte, weil diese Position die ursprüngliche Motivation des Physikalismus verloren hat. Die Motivation für den Physikalismus stellte das Problem der mentalen Verursachung in einer materiellen Welt dar. Dieses Problem hat philosophiehistorisch seine Wurzeln in Descartes’ Substanzendualismus: Wie kann die nicht-ausgedehnte, nicht-räumliche denkende Substanz auf die ausgedehnte, räumliche Substanz einwirken?454 Wie können wir stattdessen die grundsätzliche Motivation für den Biologischen Naturalismus bestimmen? Es wurde auch gesagt, dass der Naturalismus Lokalisierungsprobleme zu lösen versuche, d.h. er versucht bestimmte Entitäten, Eigenschaften oder Prozesse in der natürlichen Welt zu lokalisieren. Es war ein wichtiger Bestandteil der Argumentation in den Abschnitten 2.2. und 2.3., dass die Lokalisierungsgrundlage nicht als jene der Physik oder Chemie aufgefasst werden muss, sondern als jene der Evolutionsbiologie aufgefasst werden sollte. Welches grundsätzliche Lokalisierungsproblem versucht der Biologische Naturalismus zu lösen? 454 Es war Prinzessin Elisabeth von der Pfalz, die Descartes mit Scharfsinn und Beharrlichkeit auf die mit dieser Frage verbundenen Schwierigkeiten hingewiesen hat. 188 2.4. Zwei Naturen, ein Naturalismus Auf die beiden Fragen nach der Motivation und nach der Lokalisierung werde ich mit einem Rückgriff auf die Philosophiegeschichte antworten. Zunächst werde ich den heutigen philosophischen Gebrauch der Ausdrücke „Naturalismus“, „Naturalist“ und „naturalisieren“ durch diesen Rückgriff in ein anderes Licht rücken. Im Anschluss daran schlage ich vor, die Motivation für den Biologischen Naturalismus darin zu sehen, den Menschen in der Natur heimisch werden zu lassen. Das ist die Antwort auf die erste Frage. Im Anschluss daran werde ich auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit McDowell die zweite Frage dahin gehend beantworten, dass der Biologische Naturalismus die zweite Natur des Menschen in seiner ersten Natur zu lokalisieren versucht. Das präzisiert die Metapher des Heimischwerdens. Vom 16. bis zum 18. Jh. ist ein Naturalist jemand, der sich in der Naturgeschichte auskennt. Er ist also jemand, der über Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen Bescheid weiß und diese Tatsachen ohne Bezug auf theologische und religiöse Fragestellungen sammelt, ordnet und für weitere Diskussionen zur Verfügung stellt. Die Modelle dieses Naturalisten sind etwa Aristoteles’ zoologische Schriften oder Plinius’ Naturgeschichte. Als Kenner der Naturgeschichte weiß er über natürliche, lebendige Dinge einfach gut Bescheid. Er hat von diesen Dingen „Wissenschaft“455. Das allerletzte, was ihn interessiert, ist die Physik. Darüber hinaus achtet der Naturalist in erster Linie auf sekundäre Ursachen, und zwar ohne Rücksicht auf primäre Ursachen. Das bedeutet, dass den Naturalisten nicht Gottes Wirken (die causa prima) interessiert, sondern die Wirkungen natürlicher Ereignisse (die causae secundae). Die frühen Naturalisten hatten neben der Naturgeschichte zwei weitere bevorzugte „Wissenschaften“, nämlich die Medizin und die Historie.456 Diese beiden „Wissenschaften“ waren normativ relevant. Während die Medizin lehrte, was ein gesunder und was ein kranker Leib ist, lehrte die Historie, was tugendhafte oder kluge und was lasterhafte oder unkluge Taten und Vorhaben sind. Beide „Wissenschaften“ lehren den Menschen, verstanden als ein Lebewesen innerhalb der Naturgeschichte, in doppelter Hinsicht, wie er zu leben habe. Als „Naturalismus“ wird im 18. Jh. der Nachweis der natürlichen Existenz von Phänomenen bezeichnet. So kann (destruktiv) der Naturalismus eines angeblichen Wobei der Ausdruck „Wissenschaft“ hier als Sammelbegriff für das insgesamt und geordnet Gewusste in einem Bereich anzusehen ist, analog etwa zum Ausdruck „Gerätschaft“. Ich halte den Ausdruck deshalb in Anführungszeichen. 456 Vgl. Hoffmann 2005. Die Historie kann freilich nicht als „Wissenschaft“ im aristotelischen Sinne gelten. Aber gerade dieses Wissenschaftsverständnis stand am Beginn der Neuzeit zur Disposition. 455 189 Wunders nachgewiesen werden457 oder (konstruktiv) der Naturalismus des Magnetismus bewiesen werden (etwa im Gegensatz zu seiner Verurteilung als Betrug).458 „Naturalismus“ bedeutet hier soviel wie „Natürlichkeit“ im Gegensatz zu „Übernatürlichkeit“ oder „Unnatürlichkeit“. Den Naturalismus eines Phänomens nachweisen, heißt nachzuweisen, dass es als natürliches Phänomen existiert und somit einen Platz in der Naturgeschichte verdient. Das Verb „naturalisieren“ schließlich ist ein Rechtsbegriff. Er bezeichnet in der Neuzeit die Einbürgerung von Personen in ein Land, im übertragenen Sinn auch die Einbürgerung von Fremdworten in einer Sprache.459 Noch in Zedlers Universallexikon ist eine Naturalisierung entsprechend der Vorgang „da einem Fremdlinge oder Ausländer von der hohen Landesobrigkeit alle diejenigen Rechte und Freyheiten ertheilet werden, welche sonst nur denen gebohrenen Landeskinder und Einheimischen zustehen.“460 Naturalisieren ist also ein Heimischwerden oder Heimischmachen. In der frühen Neuzeit ist ein Naturalist also jemand, der sich vor dem Hintergrund seiner „Wissenschaft“ darum bemüht, die Natürlichkeit von Lebewesen nachzuweisen, indem er sie nicht in einem bestimmten Land, sondern in der Natur, aus der er seine Kenntnisse bezieht, heimisch macht. Das eminente Objekt für einen solchen altmodischen Naturalisten ist der Mensch, dessen Natürlichkeit er nachzuweisen sucht, mit dem Ziel, ihn in der Natur heimisch werden zu lassen. Die Natürlichkeit des Menschen im Rahmen der Naturgeschichte wird am besten dadurch aufgezeigt, dass er als Tier unter Tieren betrachtet wird, und zwar als Tier mit einer ersten als auch mit einer zweiten Natur. Dadurch bemüht sich der Naturalist den Menschen in der Natur heimisch werden zu lassen, wie es die „Landeskinder und Einheimischen“ der Natur, die Tiere nämlich, bereits sind. Der Begriff der zweiten Natur ist in der frühen Neuzeit durchaus geläufig. In juristischen Kontexten etwa wird der Ausdruck in einem sehr weiten Sinne verwendet und „covers customary law, local mores, folk memory, popular consensus, even culture in general“.461 Der Erznaturalist Michel de Montaigne etwa fasst die kulturelle Gewohnheit als zweite Natur des Menschen: „Die Gewohnheit ist eine zweite Natur [une seconde nature], und „Le naturalisme d’un prétendu prodige.“ (Dictionnaire de L'Académie française, 1762: 198) „…se dit du caractère de ce qui est naturel. ‚Plusieurs défendent le naturalisme du magnétisme: d’aûtres, en plus grand nombre, n’y voient que du charlatanisme’.“(Jean-François Féraud: Dictionaire critique de la langue française, Marseille: Mossy 1787f.: B714) 459 „Naturaliser. v. act. Rendre joüissant des mesmes droits & privileges que les naturels du pays. Il est estranger, il faut des lettres du Prince pour le naturaliser. Quand il sera mort ses biens iront au Roy s’il n’est pas naturalisé. Il s’est fait naturaliser François. Il se dit fig. des mots & des phrases que l’on transporte d’une Langue en une autre. Inpromptu est un mot Latin, mais nous l’avons naturalisé. L’usage seul peut naturaliser des mots estrangers. C’est une phrase Italienne, une phrase Espagnole, qui n’est pas encore naturalisée en France.“ (Dictionnaire de L’Académie française 1694, 110) 460 Zedlers Universallexikon: 1235. 461 Maclean 1992: 173. 457 458 190 sie ist nicht weniger mächtig. Was der Gewohnheit fehlt, das fehlt auch mir.“462 Montaignes Gedanke ist einfach und geht auf Aristoteles’ Ethik zurück.463 Um einen tugendhaften Charakter zu erwerben, müssen Menschen zuerst durch Gewohnheiten Charakterzüge erwerben, denn weder die Tugenden noch die Laster sind angeboren und vorgegeben. Sie beruhen auf natürlichen Anlagen, die sich durch Gewohnheiten ausbilden: „Also entstehen die Tugenden in uns weder von Natur aus noch gegen die Natur. Vielmehr sind wir von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch Gewöhnung werden sie vollständig ausgebildet.“464 Der Erwerb von Charakterzügen durch Gewöhnung, Erziehung und Lernen gehört demnach zur Natur des Menschen. Unsere Disposition zum Erwerb von Charakterzügen überhaupt wie auch unsere Disposition zu denken, zu handeln, zu imaginieren gehören zu unserer natürlichen Ausstattung (zu unserer ersten Natur), und ebenso die Tatsache, dass wir diese Dinge zu lernen imstande sind.465 Doch die spezifischen Ausprägungen dieser Dispositionen sind von bestimmten kulturellen Traditionen abhängig. In ihnen bilden wir unsere zweite Natur aus. Aber es gehört zu unserer Natur, dass wir eine zweite Natur ausbilden.466 Die Bevorzugung der sekundären gegenüber den primären Ursachen und das Interesse für Menschen als Naturwesen hat den Naturalisten bereits im 16. Jh. den Verdacht eingebracht, sie würden den Menschen auf eine Stufe mit dem Tier stellen und nach einer anderen Ursache für die Existenz der Welt und der Lebewesen suchen als Gott.467 Deshalb findet sich in Zedlers Universallexikon nicht nur die Bestimmung der Naturalisten als „diejenigen so die Natur wohl erforscht und eine solche Wissenschaft darin erlanget haben, dass sie von natürlichen Dingen genugsamen Grund zu geben vermögen“, sondern auch die Bestimmung für jene „welche dafür halten, dass die Vernunft den Menschen alles lehre, was ihm zu seiner Seligkeit nöthig, dass er also der Offenbahrung der „L’accoustumance est une seconde nature, et non moins puissante. Ce qui manque à ma coustume je tiens qu’il me manque.“ (Montaigne 1965: 1010) 463 Die Idee lässt sich auch aus Ciceros De finibus 5.25 entnehmen. 464 EN II 1, 1103a23-26. 465 Vgl. dazu das Argument der Biosemantik gegen Sellars hermeneutischen Zirkel (vgl. 1.2.6.). 466 Diese positive Auffassung der zweiten Natur ist von der Idee zu unterscheiden, dass die zweite Natur (die sozialen Konventionen) unsere erste Natur (die Gotteskindschaft oder Unschuldigkeit) verdeckt und korrumpiert. Dieser Gedanke geht auf Augustinus zurück und findet sich, im Anschluss an Rousseau, bei den Romantikern wieder. 467 „Naturaliste. s. m. Qui s’applique particulierement à estudier la Nature, qui fait profession de connoistre les choses de la Nature. Aristote estoit un grand naturaliste. Pline le naturaliste. les naturalistes disent que &c.“ (Dictionnaire de L’Académie française 1694, 110) „NATURALISTE. s.m. Celui qui s’applique particulièrement à l’Histoire naturelle, qui s’attache à la connoissance des plantes, des minéraux, des animaux, &c. Aristote étoit un grand Naturaliste. Pline le Naturaliste. Les Naturalistes disent que etc.“ (Dictionnaire de L’Académie française 1762, 198) 462 191 heiligen Schrift nicht nöthig habe.“468 Diese Auffassung verwirft das strenge Lexikon als „Naturalisterey“. Dieser Vorwurf gehört zum frühneuzeitlichen Naturalisten, denn er versucht den Menschen in der Natur heimisch werden zu lassen, indem er ihn wie die Tiere als Naturwesen betrachtet, und nicht als Ebenbild Gottes. Darüber hinaus sucht der Naturalist nach normativen Richtlinien nicht in Gottes Geboten, sondern in der „Wissenschaft“, die er von der Medizin und von der Historie hat. Man kann den frühneuzeitlichen Naturalismus mit Novalis’ Charakterisierung der Philosophie in Beziehung setzen: „Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu seyn.“469 Der Philosophierende ist Novalis zufolge nicht überall zuhause, er hat das Bedürfnis, überall zuhause zu sein. „Überall“ meint hier, in der natürlichen Welt zuhause zu sein.470 Ein nach wie vor vertretbarer altmodischer Naturalismus wendet sich, anders als der Szientismus, den Naturwissenschaften mithin nicht deshalb zu, damit diese das letzte Wort haben, er sucht vielmehr nach ersten Worten. Der Biologische Naturalismus verlangt, dass wir philosophische Untersuchungen mit jenem Bild beginnen, das naturwissenschaftliche Theorien über die menschliche Natur und deren Platz in der Natur vorzeichnet. Der Biologische Naturalist beginnt innerhalb dieses Bildes und versucht nicht zuerst, eine externe Rechtfertigung für dieses Bild zu geben. Die Fragen, denen er in seinen philosophischen Untersuchungen nachgeht, sind keine Fragen, die ihm durch die Naturwissenschaften vorgegeben werden, es handelt sich vielmehr um traditionelle philosophische Fragen. Die Naturwissenschaften sind eine Ressource zur Beantwortung dieser Fragen, kein Ersatz für die Philosophie und kein exklusiver Quell sinnvoller Fragen. Der Naturalist überlässt das Feld also nicht den Naturwissenschaften, vielmehr möchte er sie zu Rate ziehen und seine begriffliche Arbeit mit ihrem Gang kompatibel halten. Neben dem gemeinsamen Ziel der explanatorischen Vereinheitlichung ist auch dies mit der Kontinuität zwischen Philosophie und Naturwissenschaft gemeint. Im Unterschied zu Novalis verlangt der Biologische Naturalist nicht nach einem Heimischwerden in einem „Naturganzen“. (Wir haben bereits in 2.1. gesehen, dass dieses metaphysische Bedürfnis die Zedlers Universallexikon: 1237. Novalis 1978, Bd. II: 675 („Das allgemeine Brouillon“, Nr. 857). 470 Er ist aber als Naturalist nicht überall nicht zuhause, er hat die „Wissenschaft“ von der Naturgeschichte, in der er sich auskennt und von der er ausgeht (pace Heidegger 1983: 7ff.). Novalis’ Charakterisierung verleiht dem Naturalismus etwas Sentimentales. Normalerweise wird der philosophische Naturalismus als eine harte, nüchterne, sachliche und optimistische Sichtweise verstanden. Demgegenüber ist das hier skizzierte altmodische Bild des Naturalismus tatsächlich sentimental und pessimistisch. Ein Naturalist zu sein bedeutet, Menschen als zerbrechliche Gebilde aus vergänglichem Stoff zu sehen, und so als Teil der natürlichen Ordnung. Wie Pflanzen und Tiere sind Menschen verletzlich und vergänglich, sie sind körperliche Lebewesen, sie sind Staub und werden zu Staub. Darin sind sie Teil der natürlichen Ordnung. Und die natürliche Ordnung wird von den „Wissenschaften“ und von den Naturwissenschaften beschrieben. Diese Art des Heimischwerdens steht im Gegensatz zur Vorstellung des Heimischwerdens in einem theologischen Kosmos. 468 469 192 teleologische Einsicht Schopenhauers verdorben hat.) Vielmehr verlangt er nach einem Heimischwerden unserer Natur in jenem für uns als Lebewesen relevanten Bereich der Natur, nämlich der Naturgeschichte verstanden als Evolutionsgeschichte.471 Wir können die nach wie vor gültige Ansicht des altmodischen Naturalisten wie folgt formulieren: Er will sowohl die erste als auch die zweite Natur des Menschen in einem Verständnis der Natur, wie es ihm durch die biologischen Wissenschaften als Ausgangspunkt vorgegeben wird, heimisch werden lassen oder lokalisieren. Es scheint, als hätte ich mir bislang eine Äquivokation im Begriff der „Natur“ zu nutze gemacht. Ist es nicht etwas Anderes, von der Natur des Menschen zu reden, als sich zu fragen, wie der Mensch in die Natur passt? Einige Kritiker des harten und unsentimentalen philosophischen Naturalismus der Gegenwart sind der Ansicht, dass hier tatsächlich eine Äquivokation vorliegt, die in der Frage, was Naturalismus sei, keine Rolle spielen darf: „Dass die Kultur, wie viele Philosophen sagen, als ‚zweite Natur’ des Menschen gelten kann, kann nicht ernsthaft zur Stützung des biologischen Naturalismus angeführt werden. Jennifer Hornsby hat jüngst einen ‚naiven Naturalismus’ verteidigt, demzufolge es zur Natur des Menschen gehöre, intentionale Zustände zu haben. Ähnlich hat schon Peter F. Strawson von ‚zwei Naturalismen’ gesprochen: Neben dem reduktiven Naturalismus gebe es einen Naturalismus der menschlichen Natur, der natürliche Eigenheiten des Menschen gegen Reduktionsansprüche des ersteren verteidigt. Hornsby und Strawson erliegen hier einer bekannten Äquivokation im Naturbegriff: Wo die Rede davon ist, was in der Natur des Menschen liegt, wird ‚Natur’ im Sinne von ‚Wesen’ oder ‚eigentlicher Beschaffenheit’ verstanden. Verweise darauf, was in diesem Sinne in der Natur der Sache – hier: des Menschen – liegt, begründen noch keinen Naturalismus. Werden sie mit der Auffassung kombiniert, dass die Kultur die (zweite) Natur des Menschen ausmache, können sie sogar einen dezidiert antinaturalistischen Charakter annehmen.“472 Ich stimme darin überein, dass es nicht zwei Naturalismen gibt, mit allem anderen hingegen nicht. Es ist, wie ich im Folgenden zeigen werde, durchaus sinnvoll, sich über die Relation zwischen der Bedeutung von Natur im naturwissenschaftlichen Bild der Welt und der Bedeutung der Natur als Wesen eines Dinges Gedanken zu machen. Denn der altmodische Naturalist ist bemüht, die Natur des Menschen in jener Natur, der er sein Wissen über die Naturgeschichte verdankt, heimisch zu machen. Auch der moderne Biologische Naturalist lokalisiert die Natur des Menschen in der naturwissenschaftlich verstandenen Natur. Insofern bin ich nicht der Ansicht, dass die beiden Bedeutungsebenen des Begriffs „Natur“ die Gefahr einer Äquivokation in sich bergen. Ich werde diese These in einer dialektischen 471 Ich werde den Animalismus in Kapitel 4 verteidigen und die Ansicht vertreten, dass wir essenziell Tiere sind. Deshalb ist der durch die Evolutionstheorie behandelte Bereich der für uns relevante Bereich. 472 Keil und Schnädelbach 2000: 18f. 193 Auseinandersetzung mit McDowells Unterscheidung zwischen zwei Arten des Naturalismus entwickeln und begründen. McDowell glaubt, dass die meisten zeitgenössischen Formen des Naturalismus einer irreführenden und verengten Auffassung der Natur anhängen.473 Der zeitgenössische Naturalismus vertrete die Auffassung, die Realität sei „exhausted by the natural world, in the sense of the world as the natural sciences are capable of revealing it to us“.474 Man kann diese Auffassung als „naturwissenschaftlichen Naturalismus“ bezeichnen. Der naturwissenschaftliche Naturalist vertritt ein Bild der Natur als einem von den Naturwissenschaften verzeichneten und kartografierten Bereich, in dem wir einen Platz finden müssen für Eigenschaften, die für unser Leben bestimmend sind, weil es sich bei diesen Eigenschaften offenbar nicht um basale physikalische, chemische oder biologische Eigenschaften handeln kann. Der Naturalist versucht, diese Eigenschaften in der Natur zu lokalisieren, er löst Lokalisierungsprobleme. Zum Bild dieses Naturalismus gehöre es, dass Intentionalität, Rationalität oder Moralität als etwas betrachtet werden, das einer Lokalisierung in Naturtatsachen bedarf. Trotz der Tatsache, dass Mind and World diesen Naturalismus unvorsichtigerweise mit einem „Naturalismus des Raums der Naturgesetze“ gleichzusetzen scheint, muss man im Auge behalten, dass der naturwissenschaftliche Naturalismus weiter ist als etwa ein reduktiver, nomologischer Physikalismus. So gehören gerade auch – wie McDowell an den ethischen Naturalismus gerichtet meint – die Versuche, unser mentales und moralisches Leben in biologischen Gegebenheiten darüber „what animals of a particular species need in order to do well in the sort of life they naturally live“475 zu einem aus seiner Sicht unzulässig restriktiven naturwissenschaftlichen Naturalismus. Nun setzt McDowell diesen Formen eine liberalere Auffassung von Naturalismus entgegen, einen „Naturalismus der zweiten Natur“. Den aristotelischen Grundgedanken der zweiten Natur haben wir in der Diskussion des Naturalismus der frühen Neuzeit bereits kennen gelernt. McDowells Ziel besteht darin, dass wir die zweite Natur des Menschen als Teil der Natur anerkennen, und uns deshalb nicht weiter gedrängt fühlen müssen, nur dem verengten Naturbegriff anzuhängen. Die zweite Natur des Menschen besteht wesentlich darin, einen Raum der Gründe zu bewohnen, d.h. durch Bildung zu einem für Gründe empfänglichen Wesen heranzuwachsen. Der Begriff der zweiten Natur McDowell hat unterschiedliche Namen für den naturwissenschaftlichen Naturalismus, etwa „neo-Humean naturalism“, (McDowell 1998b: 183, 194), „empiristic naturalism“ (McDowell 1998b: 186), „bald naturalism“, „naturalism of the realm of law“ oder „naturalism of disenchanted nature“ (McDowell 1996). Wichtig ist, dass die Natur „no longer construed as addressed to us“ sei (McDowell 1998b: 176). 474 McDowell 1998b: 173. 475 McDowell 1998b: 176. 473 194 ist jedoch nicht nur auf Menschen beschränkt. McDowell schreibt, dass „the idea of second nature itself is not exclusively applicable to rational animals. It is no more than the idea of a way of being [ …] that has been acquired by something on the lines of training. It can be second nature to a dog to roll over, say, on the command ‘Roll over’.“476 Eine zweite Natur wird von einem Tier erworben, das konditioniert und trainiert werden kann, das der Gewöhnung, des Lernens, der Erziehung und Bildung fähig ist. Selbst wenn wir also von spezifisch menschlichen Fähigkeiten absehen, enthält der Bereich des Natürlichen zweite Naturen, die keineswegs durch strikte Naturgesetzte beherrscht werden. Doch im Naturalismus der zweiten Natur geht es allein um die zweite Natur des Menschen (oder um die zweite Natur rationaler Wesen). Was ist daran Besonderes? Warum müssen wir hier eine zweite und eigene Art von Naturalismus einführen? Der Kontrast, um den es McDowell geht, ist ein Gegensatz zwischen „what can be made intelligible by placement in the space of reasons and everything else. The distinction cannot be equated with a division between first and second nature.“477 Wir haben es also einerseits mit der zweiten Natur des Menschen zu tun, die ganz und gar in den Raum der Gründe gehört, und allem anderen, was natürlich ist. Auf dieser anderen Seite finden wir sowohl erste als auch zweite Naturen. Wie steht es aber mit der ersten Natur des Menschen? So finden sich beispielsweise Überreste der ersten Natur in basalen emotionalen Reaktionen oder in den durch die Psychoanalyse beschriebenen Prozessen.478 Wir haben es mit einem Kontrast zwischen einem Raum der Gründe und allem Anderen in der Natur zu tun, das Naturgesetze zwar einschließt, aber nicht mit dem Raum der Naturgesetze gleichgesetzt werden kann. Diese beiden kontrastiven natürlichen Räume stehen dem Nicht- oder Über-Natürlichen entgegen. Vor dem Hintergrund des Kontrastes zwischen dem Natürlichen und dem Über-Natürlichen kann man trotz aller Unterschiede sagen, dass es für Menschen ebenso natürlich ist, eine zweite Natur zu erwerben, wie es für Gold natürlich ist, bei einer bestimmten Temperatur zu schmelzen. Beides sind natürliche Prozesse, bei denen es mit rechten Dingen zugeht, die ohne Übernatürliches auskommen. Die Einheit all der heterogenen Gegebenheiten, die natürlich sind und die Natur ausmachen, wird also durch den Kontrast zum Nicht- oder Übernatürlichen hergestellt. Wie McDowell sagt, dass „the only unity there needs to be in the idea of the natural […] is captured by a contrast with the idea of the supernatural, the spooky or the occult“.479 McDowell 2000: 98. McDowell 2000: 99. 478 McDowell 1995: 183 n2. 479 McDowell 2000: 99. 476 477 195 McDowells Arbeiten erwecken bisweilen den Eindruck, als ob wir gleichsam von selbst wüssten, was Natur ist, wenn wir uns nur von der irreführenden und engen Auffassung losmachen könnten. Doch über das Wort „Natur“ ist zu Recht gesagt worden, es sei ein Wort „which there is none more ambiguous and equivocal“.480 Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als würde der Naturalismus der zweiten Natur lediglich den restringierten Bereich, den der naturwissenschaftliche Naturalismus als sein Lokalisierungsgebiet anerkennt, ausweiten. Doch dem ist nicht so, denn McDowell macht sich zwei unterschiedliche Bedeutungen von „Natur“ zu Nutze. Für den Naturalismus der zweiten Natur ist die Natur gar kein Bereich (die natürliche Welt), über dem man fragen könnte, ob etwas in ihm lokalisiert werden kann oder nicht, ob es in die Natur eingeschlossen werden kann oder nicht. Vielmehr wird „Natur“ in dem Sinne verstanden, wie man von der Natur oder dem Wesen einer Sache spricht. Freilich ist Natur kein Bereich, in dem Dinge lokalisiert oder heimisch gemacht werden könnten, sondern die Natur ist etwas, das wesentlich zu einer Sache gehört. Diese Natur ist nicht etwas, in das man Sachen stellen kann, sondern etwas, das in den Sachen ist. Innerhalb des naturwissenschaftlichen Naturalismus gibt es, wie wir gesehen haben, Meinungsverschiedenheiten darüber, ob der Physikalismus angemessen ist oder nicht, ob er reduktionistisch sein sollte oder nicht usw. Doch diese Meinungsverschiedenheiten finden innerhalb eines geteilten Rahmens statt, nämlich innerhalb eines Verständnisses der Natur als einem von den Naturwissenschaften definierten Bereich, in dem bestimmte Eigenschaften lokalisiert werden können oder auch nicht. Demgegenüber bewegt sich der Naturalismus der zweiten Natur nicht in diesem Rahmen, da er den Begriff der Natur in einem anderen Sinne versteht, nämlich im Sinne der Natur einer Sache. Dieser Wechsel der Bedeutungsebene hat Folgen. Ich möchte nur eine herausheben. McDowell kann diesen Begriff der Natur nicht als Kontrastbegriff zum Übernatürlichen verwenden. Ebenso wie man nach der Natur natürlicher Dinge fragen kann, so kann man natürlich auch nach der Natur übernatürlicher Dinge fragen. Wir können nach der Natur der Engel oder Gottes fragen ohne glauben zu müssen, dass es sich dabei um natürliche und nicht um übernatürliche Wesen handelt. Offenbar kann der Hinweis auf die Natürlichkeit der zweiten Natur als die Natur einer Sache die Einheit des Kontrastes zum Übernatürlichen nicht fassen. Worin denn sonst besteht die Einheit der Natur? Nun, die Einheit der Natur wird gegeben durch die Idee einer natürlichen Welt, wie sie die Naturwissenschaften beschreiben können. Dies ist die Antwort des naturwissenschaftlichen Naturalisten. Darüber hinaus müssen wir auch noch dasjenige, was 480 Hume, Treatise 3.1.2. 196 wir als die Natur einer Sache auffassen (beispielsweise über die Natur der Normativität oder über die Natur des Menschen), in der natürlichen Welt, wie sie die Naturwissenschaften beschreiben können, lokalisieren. Die Natur einer Sache muss also in der Natur, verstanden als dem Bereich der natürlichen Welt, wie sie die Naturwissenschaften beschreiben können, lokalisiert werden. Dies entspricht den frühneuzeitlichen Bedeutungen von „Naturalismus“ und „naturalisieren“: Wir erkennen die Natürlichkeit eines Phänomens an, wenn wir es in der naturwissenschaftlich aufgefassten Natur lokalisieren können. Und wir lokalisieren ein solches Phänomen, indem wir es in vereinheitlichende Argumentationsschemata einbinden. So werden die beiden unterschiedlichen Bedeutungen im Begriff der Natur zusammengeführt. Als Konsequenz ergibt sich, dass wir keine zwei Arten von Naturalismus zu unterscheiden brauchen. Es kann nur einen geben. Der naturwissenschaftliche Naturalismus schließt den Naturalismus der zweiten Natur ein. Diese Auffassung wird indirekt durch McDowell unterstützt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass sich zweite Naturen auf beiden Seiten des Kontrastes zwischen dem Raum der Gründe und allem Anderen, was natürlich ist, finden lassen. Der naturwissenschaftliche Naturalismus übersehe, dass die zweite Natur von Lebewesen, die für Gründe empfänglich sind, eben auch zur Natur gehöre, denn er nimmt nur die durch die Naturwissenschaften erklärbare Natur in den Blick. Warum aber sollten einige zweite Naturen, nämlich jene der Tiere, durch die Naturwissenschaften erklärbar sein, andere, jene der Menschen, hingegen nicht? Zweifellos gehört die zweite Natur von Tieren zum Untersuchungsbereich bestimmter Naturwissenschaften. Wie es scheint, ist unsere zweite Natur sui generis. Denken wir etwa daran, wie einem Hund Befehle beigebracht werden. McDowell meint, dass „the intelligibility of this behaviour [of the dog] is not in any interesting sense sui generis, by comparison with the intelligibility of, say, pricking up the ears in response to a noise or chasing a squirrel. Apart from how it originates, the second nature of dogs is just like their first nature.“481 Doch aus der Tatsache, dass unsere zweite Natur sui generis ist, folgt natürlich nicht, dass sie nicht durch die Naturwissenschaften erklärt werden kann. Was McDowell braucht, ist ein Argument dafür, dass die Empfänglichkeit für Gründe (unsere begrifflichen oder rationalen Vermögen) nicht naturwissenschaftlich erklärt werden kann, er hat jedoch kein solches Argument: 481 McDowell 2000: 99. 197 „I do not pretend to have an argument that the bald naturalist programme cannot be executed. The point is rather this: […] Given that the motivation [of integrating the mind into nature] is better fulfilled by a different way of thinking, why bother?“482 Doch nach allem, was wir gesehen haben, wird das Ziel, den Geist in der Natur heimisch zu machen, keineswegs besser erreicht durch den Naturalismus der zweiten Natur, denn die Frage bleibt offen, inwiefern die zweite Natur des Menschen in der natürlichen Welt heimisch gemacht werden kann. Diese Frage wird umso drängender, wenn man die explanatorische Vereinheitlichung als Ziel naturwissenschaftlicher und philosophischer Theoriebildung betrachtet, wie ich es in Abschnitt 2.3. vorgeschlagen habe. Wir finden jedoch nicht nur die zweiten Naturen auf beiden Seiten des Kontrastes zwischen dem Raum der Gründe und allem Anderen, was natürlich ist, sondern auch das Phänomen des Inhalts. Es ist durchaus natürlich, im Alltag weit verbreitet und durch die Naturwissenschaften gestützt, dass wir den Zuständen von Tieren Inhalte zuschreiben, indem wir ihnen beispielsweise Erinnerungen, Wahrnehmungen, Absichten oder Irrtümer zuschreiben. Es besteht zunächst kein Grund zur Annahme, alles tierliche Verhalten sei „nothing but a succession of biological needs [and] imperatives“.483 Mind and World vertritt bekanntlich die These, dass Tiere keine Weltorientierung haben. In dieser These inbegriffen ist, dass Tiere nicht im selben Sinne Wahrnehmungserfahrungen haben wie wir. Diese These ist häufig kritisiert worden. Allerdings hat McDowell diese These in der Folge etwas qualifiziert. In einer Antwort auf einen Kritiker schreibt er: „There is an obvious sense in which content that never becomes the content of a conceptual capacity is not conceptual. So I am acknowledging that at least some of the content of a typical world-disclosing experience is not conceptual in that sense. […] What is important is this: if an experience is world-disclosing, which implies that it is categorically unified, all its content is present in a form in which … it is suitable to constitute contents of conceptual capacities. Materially identical content can show up elsewhere in a different form. My experience might disclose to me 482 McDowell 1996: 238. Man könnte sich ein Argument der folgenden Art vorstellen, das vom naturwissenschaftlichen Naturalismus zum Naturalismus der zweiten Natur führt: (i) Alle Arten von Naturalismus fordern, dass wir natürliche Fähigkeiten als zur Natur gehörig betrachten. (ii) Für den zeitgenössischen Naturalismus ist Natur naturwissenschaftliche Natur. (iii) Die Naturwissenschaft kann unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten nicht erklären. (iv) Also kann der zeitgenössische Naturalismus unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten nicht in die Natur integrieren. (v) Doch rationale und begriffliche Fähigkeiten sind natürliche Fähigkeiten von Menschen. (vi) Also sollte der zeitgenössische Naturalismus unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten als zur Natur gehörig betrachten. (vii) Unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten gehören zur zweiten Natur des Menschen. (viii) Die zweite Natur des Menschen kann wegen (iii) naturwissenschaftlich nicht erklärt werden. (ix) Also sollte der zeitgenössische Naturalismus Prämisse (ii) aufgeben, er sollte stattdessen (vii) akzeptieren. Doch ein solches Argument will McDowell gerade nicht liefern. Die Biosemantik ist der Versuch, dieses Argument zu entkräften. 483 McDowell 1996: 117. 198 that an opening in a wall is big enough for me to go through. A cat might see that an opening in a wall is big enough for it to go through.“484 Diese Passage enthält viele subtile Punkte, die ich nicht alle entfalten kann. Hier interessiert Folgendes: Im Gegensatz zum Inhalt tierlicher Repräsentationssysteme ist der Inhalt von mentalen Zuständen der Bewohner des Raums der Gründe offenbar kategorisch einheitlich, deshalb der Form nach begrifflich und steht deswegen für die Ausübung begrifflicher Vermögen zur Verfügung. In unserem Zusammenhang ist jedoch der Umstand von Interesse, dass sich dasjenige, was McDowell „materiell identischer Inhalt“ nennt, auf beiden Seiten des Kontrasts zwischen dem Raum der Gründe und dem Rest der Natur findet. Es bleibt darum die Frage offen, was dieser Inhalt sein soll. In welchem Sinne verfügen sowohl Tiere als auch Menschen über Inhalte? Der Biologische Naturalismus der Biosemantik bietet auf diese Frage eine Antwort an. Anders als McDowell verzichtet die Biosemantik darauf, den Unterschied zwischen uns und anderen Tieren ohne Notwendigkeit zu übertreiben. Anders als McDowell kennt die Biosemantik nur eine Art von Naturalismus. Und schließlich kennt die Biosemantik jene Sorge nicht, die McDowell zufolge die neuzeitliche Philosophie umtreibt, und die in seinen Augen ausgetrieben werden muss, nämlich die Sorge, dass der Geist nicht im Kontakt zur Welt stehen könnte. Der Sorgenaustreiber ist einfach: Betrachtet man Repräsentationen, mentale Zustände oder den Geist als Anpassungen, die im Laufe der Evolution durch natürliche Selektion entstanden sind, so kann es keine echte Sorge darum geben, ob der Geist in Kontakt mit der Welt steht, denn ohne diesen Kontakt wäre niemand da, der sich Sorgen machen könnte. 484 McDowell 2009a: 319. 199 3. NATÜRLICHE NORMEN 3.1. Normative Kategorien 3.1.1. Das Normativitätsproblem Ziehen wir einige der bislang gesponnen Fäden zusammen, um uns der These zu nähern, dass Normen objektive Eigenschaften und Teile der biologischen – und in Abhängigkeit davon der kulturellen – Welt sind. Repräsentationstheorien sind Theorien über R-Inhalt, nicht über IR-Inhalt, denn sie können für sich genommen das Problem der Fehlrepräsentation nicht lösen (1.1.1.-1.1.3.). Die Unterscheidung wahr/falsch ist wesentlich für Theorien des IR-Inhalts. In der semantischen Evaluierbarkeit des IR-Inhalts besteht seine normative Dimension. Eine normative Dimension kommt ins Spiel, weil eine Repräsentation die Aufgabe hat, ein bestimmtes R-Ziel zu repräsentieren. Sie kann diese Aufgabe auch nicht erfüllen, und zwar indem sie auftritt, ohne dass dieses R-Ziel dafür verantwortlich wäre. Sie erfüllt dann nicht die Aufgabe, die sie erfüllen sollte. Deshalb ist das Problem der Fehlrepräsentation ein „Normativitätsproblem“. Das Problem der Fehlrepräsentation ist ein Normativitätsproblem, weil Normen nicht nur Dinge betreffen, die getan werden sollen oder müssen, sondern auch die Frage berühren, wie Dinge sein sollen oder sein müssen. Ohne eine normative Dimension kann eine Repräsentation also keinen IR-Inhalt, kein ihr zugeeignetes R-Ziel, haben. Eine Theorie, die das Normativitätsproblem löst, muss zeigen, inwiefern Repräsentationen über eine normative Dimension verfügen. Diese normative Dimension ist, abstrakt gesprochen, ein Maß, von der die Repräsentation abweichen kann. Woher haben Repräsentationen jedoch das Maß, von dem sie (als Fehlrepräsentation) abweichen können? Die Biosemantik versucht, eine naturalistische Antwort auf das Normativitätsproblem – und damit auch auf Kants Frage: Auf welchem Grunde beruht die intentionale Beziehung einer mentalen Repräsentation zu ihrem Gegenstand? – zu geben (1.1.2.). Dies tun alle Versionen der Teleosemantik: „There are a number of different teleological theories of mental content […] it’s central to all of them that a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of content.“485 Die normative Dimension von Repräsentationen ergibt sich aus der Normativität von Funktionen. Doch was ist mit der Normativität einer Funktion gemeint? „Funktion“ 485 Neander 2006: 550 (meine Hervorhebungen). 200 ist ein normativer Begriff, weil eine Entität oder ein Prozess eine Funktion haben kann, auch wenn sie nicht ausgeführt wird oder nicht ausgeführt werden kann. Die Funktion F einer Entität oder eines Prozesses ist nicht dasjenige, was sie aktuell tun oder zu tun disponiert sind, sondern was sie tun sollen. Doch teleosemantische Theorien brauchen nicht nur normative, sondern auch objektive Funktionen. Die Normativität einer Funktion F darf nicht aus der Absicht eines Zwecksetzers resultieren, der einer Entität eine Funktion zuweist, denn so würde ja die Intentionalität des Zwecksetzers erklären, warum Funktionen eine normative Dimension haben, und nicht die Funktion, warum Intentionalität eine solche Dimension hat. Die Objektivität von Funktionen kann durch Darwins Theorie der natürlichen Selektion etabliert werden, denn Darwins Theorie rehabilitiert die natürliche Teleologie (2.1.). Darwins Theorie lässt sich als Argumentationsschema formulieren und ist so auch auf nicht-biologische Funktionen anwendbar (2.3.). Daraus ergibt sich die Theorie der Echten Funktion, die in Abschnitt 1.1.4. dargelegt wurden: 1. Normativität. Token von Entitäten oder Prozessen kommt eine Funktion F durch ihre Zugehörigkeit zu einem Typ Z mit der Funktion F zu. Weil Token einer Entität oder eines Prozesses zum Typ T mit der Funktion F gehören, kann ihnen F zukommen, selbst wenn sie als Token aktuell oder überhaupt nicht in der Lage sind F auszuüben. Doch weil sie zum Typ T mit der Funktion F gehören, haben sie die Funktion F und sollten F tun können. 2. Teleologie. Funktionen sind bestimmte Wirkungen einer Entität oder eines Prozesse, die diese Wirkungen aufgrund einer Eigenschaft E haben. Jene Wirkungen von E sind relevant, die erklären, weshalb E bzw. weshalb Träger mit E existieren. E ist vorhanden, weil es F tut, und F erklärt, warum E vorhanden ist. Relevant ist, mit anderen Worten, die selektierte Wirkung von E. 3. Objektivität. Selektierte Wirkungen kommen Eigenschaften zu, insofern es sich bei ihnen um Token einer reproduktiv etablierten Eigenschaft handelt, die ihre Träger als Mitglieder einer REF haben, und insofern die Existenz von Mitgliedern einer REF mit diesen Eigenschaften durch das Argumentationsschema der einfachen Selektion erklärt werden kann. Eine REF bildet einen Typ, deren Mitglieder Token sind. In Abhängigkeit von einer REF und in Abhängigkeit von einer reproduktiv etablierten Eigenschaft also haben Mitglieder eine bestimmte Eigenschaft mit einer Funktion. REF existieren ebenso objektiv wie die Evolutions- und Selektionsprozesse, die dazu führen, dass sie bestimmte Eigenschaften mit selektierten Wirkungen haben. 201 4. Historizität. Sowohl die Etablierung einer REF als auch die Etablierung einer reproduzierbaren Eigenschaft einer solchen Familie sind notwendigerweise historische Vorgänge. Da eine Entität oder ein Prozess über eine Funktion nur als Token eines Typs verfügt, der durch die Etablierung einer Reproduktiven Familie mit einer Selektionsgeschichte gebildet wird, sind Funktionen notwendigerweise historisch. Echte Funktionen müssen also normativ, teleologisch, objektiv und historisch verstanden werden. Ich werde Funktionen, die sowohl objektiv als auch teleologisch und historisch sind, als „natürliche Funktionen“ bezeichnen. Von „biologischen Funktionen“ werde ich sprechen, wenn ich mich auf selektierte Wirkungen von Organen, Formen oder Verhaltensweisen von Lebewesen beziehe, von „artifiziellen“ oder „kulturellen“ Funktionen hingegen, wenn sie sich auf die selektierten Wirkungen von Produkten von Lebewesen beziehen. Sowohl biologische, als auch kulturelle Funktionen finden sich im Tierreich und in der Menschenwelt. Doch die kulturelle Welt wird durch Artefakte ungleich stärker strukturiert. Dieser Unterschied, so werden wir sehen, läuft auf einen Unterschied sui generis hinaus (3.2.6.). Nun sind natürliche Funktionen nur dann Echte Funktionen, wenn ihnen eine normative Dimension zukommt. Um das Normativitätsproblem zu lösen, muss die Biosemantik also behaupten, dass es natürliche Normen gibt. Millikan zeigt sich darin als Schülerin von Sellars, dass ihr Ziel darin besteht, die natürliche Dimension von Repräsentationen (ihr R-Inhalt) und die normative Dimension von Repräsentationen (der IR-Inhalt) zu integrieren (1.2.6.-1.2.7.). Echte Funktionen sollen eine biologische Lösung des Normativitätsproblems leisten, denn biologische Funktionen sind natürliche Normen: „Picturing, indicating, and inference are equally involved in human representing, but as biological norms rather than as mere dispositions. It is not facts about how the system does operate that make it a representing system and determine what it represents. Rather, it is the facts about what it would be doing if it were operating according to biological norms. When functioning properly, a [for example indicative] mental representation co-occurs with its represented, pictures what it represents, and (if it is of the right rather sophisticated sort) participates in appropriate inferences.”486 Gibt es biologische Normen? Gibt es natürliche Normen? Nicht alle würden diese Fragen positiv beantworten, nicht einmal alle Teleosemantiker. Ich habe bereits wiederholt Neanders Formulierung zitiert, es sei allen teleosemantischen Ansätzen gemein, „that a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of content“. Allerdings werden teleosemantische Theorien nicht nur von Millikan oder Neander 486 WQP: 10f. 202 vertreten, sondern auch von Papineau und Dretske. Letztere glauben zwar, dass es natürliche Funktionen gibt, aber sie bestreiten deren Normativität. Dretskes Reaktion auf Millikans Normativitätsproblem lautet: „The problem to which Millikan’s biological solution is a solution no longer seems like a problem to me. Beliefs and judgments must be either true or false, yes, but there is nothing normative about truth and falsity. What makes a judgment false (true) is the fact that it fails (or succeeds) in corresponding to the facts, and failing (or succeeding) in corresponding to the facts is, as far as I can see, a straightforward factual matter. Nothing normative about it.”487 Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht das teleosemantische Projekt nicht darin, ein Normativitätsproblem zu lösen, sondern darin, das Problem der Fehlrepräsentation zu lösen. Was solche Theorien brauchen, ist eine Scheidung in korrekte und inkorrekte Fälle. Man mag eine Scheidung in korrekte und inkorrekte Repräsentationen als Einführung einer „deskriptiven Norm“ auffassen oder nicht, doch dabei kann es sich nur um QuasiNormativität und nicht um genuine Normativität handeln. Genuine Normen sind präskriptiv, sie verlangen ein Sollen oder ein Müssen, das Forderungen an Verhaltensweisen stellt. Dretske bestreitet also, dass das Problem der Fehlrepräsentation ein Normativitätsproblem darstellt, weil er eine bestimmte Auffassung von Normativität unterschreibt. Dies ist auch der Punkt von Papineau: „I don’t think that the teleosemantics itself says anything about norms, nor therefore anything about how to reconcile normativity with naturalism. Whatever norms are, I take it that they must involve some kind of prescription, some kind of implication about what ought to be done. This simply isn’t true of the biological facts on which the teleosemantic theory rests.“488 Das eine sind Fakten, Normen das andere. Normativität wird präskriptiv aufgefasst. Alles andere ist nicht Normativität, sondern wird irreführend nur so genannt: „Wherever the normativity of content comes from, it can’t be from biology, since biology deals in facts, not prescriptions.“489 Die Reaktion von Neander und Millikan auf diese Vorbehalte ist defensiv. Sie weisen darauf hin, dass der Ausdruck „normativ“ in der Teleosemantik deskriptiv verwendet werde. (Ein anderes Beispiel für deskriptive Normen wären statistische Normen.) In der präskriptiven Verwendung handelt es sich um Vorschriften, die etwas erfüllen sollten oder die man befolgen sollte. In der deskriptiven Verwendung handelt es sich um Aufgaben, die erfüllt werden können oder auch nicht, sogar wenn der Entität die Disposition dazu fehlt. Letztlich, so scheint es, kommt es nicht darauf an, ob Dretske 2000: 247. Papineau 2003a: 11 n5. 489 Papineau 2001: 280. 487 488 203 Funktionen wirklich als „normativ“ bezeichnet werden.490 Doch das hilft natürlich nicht weiter und geht am Vorbehalt vorbei. Der Vorbehalt lautet ja: Nur präskriptive Normen sind genuine Normen, alles andere kann man „normativ“ nennen, hat jedoch nichts mit Normativität zu tun, so dass präskriptive und deskriptive Normen nichts miteinander gemein haben als den Namen. Schließlich muss man sich auch fragen, ob nicht die präskriptiven Normen ausschlaggebend für das Normativitätsproblem sind.491 Dies alles wäre schlecht für die Biosemantik. Meines Erachtens muss ihre Strategie nicht defensiv, sondern offensiv sein. Sie muss sich der Frage annehmen, was deskriptive und präskriptive Normativität gleichermaßen als Normativität auszeichnet. Und sie muss sich die Frage stellen, ob sie die angedeutete Unterscheidung zwischen Tatsachen und Normen akzeptieren soll. Die Teleosemantik braucht nicht nur deskriptive Quasi-Normativität, sondern ein umfassendes Verständnis natürlicher Normativität. Das Hauptziel dieses Kapitels besteht deshalb darin, die Grundlagen für eine Theorie natürlicher Normen zu liefern. Ohne eine solche Theorie kann die Biosemantik nicht erfolgreich sein. Ich werde die Grundlagen einer solchen Theorie dadurch liefern, dass ich die Normativität, die Millikans Biosemantik benötigt, und die Normativität, die Philippa Foots naturalistische Tugendethik braucht, vereinheitliche. Die Vereinheitlichung der beiden Ansätze zu einer Theorie natürlicher Normen soll nicht einfach die Grundlage für eine spezielle Normativitätstheorie liefern, der gegenüber man auch noch Grundlagen für eine weitere spezielle Normativitätstheorie (etwa für Handlungsnormen) setzen könnte. Vielmehr geht es darum, die Grundlagen für eine Theorie natürlicher Normen als Grundlage einer allgemeinen Normativitätstheorie zu liefern. Um dieses Ziel zu erreichen, werde ich zuerst darlegen, wie das Wesen der Normativität durch die Idee erfasst werden kann, dass die Quelle der Normativität in der Zugehörigkeit zu einer normativen Kategorie besteht, deren definierendes Merkmal die Möglichkeit defekter Mitglieder ist (3.1.4.). Diese Idee bereite ich vor mittels einer Unterscheidung zwischen Seinsollen und Tunsollen (3.1.2.) und einer attributiven Auffassung von „gut“ (3.1.3.). Im nächsten Teil dieses Kapitels soll der Grundgedanke So meint auch Dretske: „I’m not sure the quality we are after is normative […]. That will depend, I suppose, on what one means by ‘normative’. But whatever it is, it is something capable of grounding the difference between the true and the false, right and wrong, correct and incorrect, valid and invalid. It is, in a word, something capable of putting the mis- into representation and the mal- into function.“ (Dretske 2006: 72 n3) 491 Papineau meint: „My knuckles have arguably been biologically designed to hit people with, but it doesn’t in any sense follow that I ought so to use them. Again, a number of human male traits have undoubtedly been designed to foster sexually predatoriness, but it doesn’t follow that men ought to be sexually predatory. Similarly with teleosemantics and judgement. As a teleosemanticist I hold that our beliefs have been biologically designed to track their truth conditions. But I don’t think that this does anything to show they ought to do this.” (Papineau 2003a: 21 n5) 490 204 zunächst anhand funktionaler normativer Kategorien durchgeführt werden. Zuerst wende ich mich biologischen Funktionen zu und analysiere, nachdem ich dargelegt habe, dass alternative Konzeptionen scheitern müssen (3.2.1.-3.2.2.), die Normativität von biologischen Funktionen (3.2.3-3.2.4.). Darauf wende ich mich kulturellen Funktionen zu und deute die Funktionen von Artefakten – indem ich das Verfahren der Theoriekonstruktion anwende (1.1.6.) und das Ziel der theoretischen Vereinheitlichung verfolge (2.3.) – in Analogie zu biologischen Funktionen (3.2.5.-3.2.6.). Anschließend werde ich die Idee der normativen Kategorie um spezifische normative Kategorien erweitern (3.3.1.3.3.3.). Denn nicht alle normativen Kategorien sind funktionale Kategorien. So können beispielsweise biologische Arten defekte Mitglieder haben, auch wenn eine biologische Art keine funktionale normative Kategorie ist. Inwiefern die Zugehörigkeit zu einer biologischen Art eine Norm darstellt, haben Aristoteliker und Aristotlikerinnen wie Foot, Michael Thompson und Rosalind Hursthouse dargelegt. Ich werde ihre Vorschläge aufnehmen und gegen Einwände verteidigen (3.3.1.). Im zweiten Kapitel ihres Buches Natural Goodness, das den Titel „Natural Norms“ trägt, lädt Foot selbst zu einem Vergleich mit Millikan ein, indem sie sich strikt von ihr abzugrenzen versucht – eine Abgrenzung, die in meinen Augen unmotiviert ist. Deshalb soll gegen Thompson und Foot gezeigt werden, dass der darwinistische Ansatz der Biosemantik und der aristotelische Ansatz der Tugendethik vereinbar sind (3.3.2.). 3.1.2. Hartmann über Tunsollen und Seinsollen Um die Einführung des Begriffs einer normativen Kategorie (3.2.4.) vorzubereiten, will ich zwei Überlegungen aufgreifen, die je einen zentralen normativen Begriff, nämlich „sollen“ und „gut“, auf eine Weise interpretieren, die es uns erlaubt, die Trennung zwischen Normen und Fakten aufzuweichen. Es ist ja diese Trennung, die den Vorbehalten Papineaus und Dretskes gegenüber der normativen Lesart von Funktionen zugrunde liegt. Nicolai Hartmann unterscheidet in seiner Ethik (1925) zwischen „Tunsollen“ und „Seinsollen“. Er unterscheidet damit zwei Arten von Normen, nämlich Verhaltensnormen und Seinsnormen. Verhaltensnormen betreffen Personen, Seinsnormen nicht nur Personen, sondern in erster Linie nicht-personale Entitäten.492 Man kann also zwischen zwei Arten von Normen unterscheiden und es besteht deshalb prima facie kein Grund für die Annahme, dass nur präskriptive Normen genuine Normen sind. Wir können einerseits 492 Hartmanns Unterscheidung entspricht in gewisser Weise der Sellarsschen zwischen „ought-to-be’s“ oder Regeln der Kritik und „ought-to-do’s“ oder Regeln des Handelns (vgl. 1.2.6.). 205 sagen, dass eine bestimmte Person bestimmte Dinge tun sollte. Wir können andererseits auch sagen, dass eine Person ein guter Mensch ist, dass eine Tat schlecht ist, dass ein Toaster gut toastet oder dass ein Baum schlechte Wurzeln hat. Ob Menschen, Taten, Toaster oder Bäume schlecht oder gut sind, hängt von der Art von Entität ab, die sie sind. Diese Dinge sollen in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art von Dingen auf bestimmte Weise sein. Direktiva sagen, was Personen tun sollen oder tun müssen. Evaluativa sagen, wie Personen und andere Dinge sein sollen oder inwiefern sie gut oder schlecht sind.493 Hartmann denkt bei Seinsnormen jedoch nicht an Verhaltensmuster, sondern an Werte. Diese sollen verwirklicht werden, weil sie nicht realisiert sind, wie sie realisiert sein sollten, oder weil sie gar nicht realisiert sind, es aber sein sollten. Hartmann behauptet zwar einen logischen Vorrang des Seinsollens vor dem Tunsollen, aber letztlich sind, wie in Sellars Fall, beide Arten von Normen voneinander abhängig. Das Tunsollen entspricht der ersten Grundfrage der Ethik danach, was ich tun soll, was wir tun sollen. Es ist die Frage danach, was einen individuellen oder einen kollektiven Willen bestimmen und leiten soll. Davon unterscheidet Hartmann eine zweite Grundfrage der Ethik: Wofür gilt es die Augen offen zu haben, um daran teilzuhaben? Was ist wertvoll im Leben, ja in der Welt überhaupt? Was gilt es sich zu eigen zu machen, zu begreifen, zu würdigen um Mensch zu sein im vollen Sinne des Wortes? Wofür fehlt uns noch das Organ, so dass wir es erst in uns bilden, schärfer erziehen müssen?“494 In der zweiten Frage geht es darum, was sein soll. Die zweite Frage (eher ein Fragekomplex, als eine Frage) ist reicher und grundlegender. Sie ist grundlegender, weil sie die erste Frage einschließt. Denn um die Frage, was ich tun soll, beantworten zu können, muss ich zuerst „sehen“, was es ist, das getan werden soll. Tun heißt, etwas bewirken, etwas (wie die scholastische Formel lautet) Sein zu verleihen, etwas ins Sein zu bringen, das noch nicht ist. Was so das Tunsollen führt, nennt Hartmann „Seinsollen“.495 Gibt es nicht auch eine Abhängigkeit des Seinsollens vom Tunsollen? Ein Subjekt kann zwar „sehen“, was wertvoll ist (was den Status des Seinsollens hat), aber dieses „Sehen“ des Wertvollen führt nur zu einem Tun, wenn es selbst als eine Tätigkeit aufgefasst wird, die getan werden soll (etwa: „…die Augen offen zu haben [für das, was] wertvoll im Leben [ist]“). Doch gilt auch hier, dass eine Abhängigkeit des Tunsollens des 493 Für die Unterscheidung zwischen Seinsollen und Tunsollen in der analytischen Philosophie vgl. von Wright 1963: 14; Schnädelbach 1990: 83ff. Zur geläufigen Unterscheidung zwischen Direktiva und Evalutiva vgl. etwa Wiggins 1998: 95. 494 Hartmann 1949: 10. 495 Hartmann 1949: XVIII. Das, was sein soll, ist für Hartmann das Wertvolle. Das „Seinsollen ist die formale Bedingung des Wertes, der Wert materielle Bedingung des Seinsollens.“ (Hartmann 1949: 172) Aber diese Deutung des Seinsollens hängt nicht direkt von der Unterscheidung zwischen Tun- und Seinsollen ab. 206 „Sehens“ dessen, was wertvoll ist (was sein soll), vom Seinsollen eines solchen „Sehens“ abhängt. „Das Tunsollen ist folglich immer bedingt durch das Seinsollen, aber nicht an jedem Seinsollen haftet ein Tunsollen.“496 Hartmann verweist auf zwei Bereiche, in denen ein Seinsollen kein Tunsollen impliziert, nämlich auf natürliche Güterwerte und auf Sittenwerte. Ein Subjekt kann einen Wert nur realisieren, wenn er nicht schon realisiert ist, und wenn diese Realisierung in seiner Macht steht: „Ich würde das Seinsollende tun sollen, sofern es nicht schon wäre, und sofern es in meiner Macht stünde. Diese doppelte ‚Sofern’ trennt die beiden Arten des Sollens.“497 Das Seinsollen eines Sittenwertes impliziert kein Tunsollen, wenn es nicht in meiner Macht steht, den Wert zu realisieren. Dies ist Hartmanns Formulierung des Satzes, dass Sollen Können impliziert. Im Falle des Sittenwerts impliziert das Seinsollen das Tunsollen nur unter den Bedingungen des Könnens. Hinzu kommt, dass das Seinsollen ein Tunsollen über den Willen eines Subjekts impliziert.498 Das bedeutet aber nicht, dass ein Wert nicht realisiert werden soll, wenn er es nicht kann oder wenn jemand dies nicht will. Hartmann nennt als Beispiel den Weltfrieden. Gehen wir weiter zu den Güterwerten. Es „gilt von den realen, naturgegebenen Gütern, dass sie sein sollen, so wie sie sind, aber für ein Tunsollen ist hier kein Raum“.499 Im Falle von Güterwerten geht es nicht um Bedingungen, unter denen ein Seinsollen ein Tunsollen impliziert, sondern es ist gar kein Raum für ein Tunsollen. Hartmann denkt hier in erster Linie an materielle Güter (Eigentum) und an geistige Güter (Bildung). Hartmann scheint leider nirgends an natürliche Güter und natürliche Gutheit zu denken, obschon seine Formulierung, dass Güterwerte „sein sollen, so wie sie sind“ und dass „für ein Tunsollen hier kein Raum“ sei, auf natürliche (neben materiellen und geistigen) Gütern verweist. Trotzdem deutet Hartmann hier auf einen wichtigen Bereich des Seinsollens, den es offenzuhalten gilt, nämlich auf die Möglichkeit des Seins natürlicher Normen. Dabei geht es weniger um Naturgüter, die sein sollen, wie sie sind, und denen ihr Güterstatus nur aufgrund dessen zukommt, dass wir sie Werten subsumieren. Vielmehr geht es einerseits um Naturgüter, die für ein Naturwesen ein Gut darstellen, und andererseits um Naturprodukte (Lebewesen und Merkmale von Lebewesen), die auf eine bestimmte Art und Weise sein sollen und unter Umständen eben nicht so sind, wie sie sein sollten. Beispiele für solche Naturgüter finden sich in Aussagen wie „Milde Temperaturen sind gut für diesen Strauch“ oder „Starke Wurzeln sind gut für diese Baum“. Hier werden Aussagen darüber getroffen, wie bestimmte Dinge für bestimmte Arten sein sollen. Hartmann 1949: 171. Hartmann 1949: 171. 498 Hartmann 1949: XIX. 499 Hartmann 1949: 171. 496 497 207 Beispiele für Naturprodukte finden sich in Aussagen über Lebewesen wie „Füchse fangen Mäuse“ oder in Aussagen über Merkmale von Lebewesen wie „Der Fuchsschwanz stabilisiert die Körpertemperatur seines Trägers, während dieser schläft“. Ein Fuchs, der keine Mäuse fangen kann, ist nicht, wie ein Fuchs sein sollte. Ein Fuchsschwanz, der seinen Träger im Schlaf nicht wärmt, erfüllt nicht die Aufgabe, die er erfüllen sollte. Ich möchte zeigen, dass man sowohl Hartmanns Unterscheidung als auch den Vorrang des Seinsollens vor dem Tunsollen akzeptieren kann. Anders als bei Hartmann soll aber das Seinsollen als unabhängig von Tunsollen betrachtet werden, es ist dem Tunsollen ontologisch vorrangig, aber nicht in dem Sinn, dass etwas sein soll, was nicht ist, sondern in dem schwächeren Sinn, dass etwas, das ist, auf bestimmte Weise sein soll. 3.1.3. Geach über „gut“ Wenden wir uns jetzt einem zweiten normativen Begriff zu, nämlich „gut“. Peter Geach hat folgende These vertreten: „good and bad are always attributive, not predicative, adjectives.”500 Diese These ist äußerst folgenreich und für die normative Dimension, wie sie die Biosemantik einzufangen bemüht ist, von großer Bedeutung. Sie wird von Vertreterinnen einer objektivistischen, naturalistischen Tugendethik als wichtigste Prämisse akzeptiert.501 Attributiv verwendete Adjektive sind einem Nomen in der Regel vorgestellt und sind mit ihm in Kasus, Numerus und Genus kongruent. Prädikativ (oder adverbial) verwendete Adjektive sind dem Nomen in der Regel nachgestellt und kongruieren nicht mit ihm. Soviel zur Grammatik. Wie steht es mit der logischen Struktur? Die logische Unterscheidung zwischen attributiven Adjektiven und prädikativen Adjektiven kann mittels der Analyse von Beispielen eingeführt werden: (1) Rex ist ein guter Wachhund. (2) Rex ist gut. (3) Das ist eine große Maus. (4) Diese Maus ist groß. (5) Der Mercedes ist rot. (6) Dies ist ein roter Mercedes. 500 501 Geach 1956: 64. Vgl. Foot 2001: I, 2002b: 63-68, 162f, Thomson 1996: 125-133, 2008: I. 208 Wenn wir einem Subjekt Prädikate zusprechen, so tun wir dies additiv. In (6) ist das Subjekt (ein Auto) sowohl rot als auch ein Mercedes. Hier handelt es sich um eine genuin prädikative Verwendung. Wie steht es mit (3)? Ist das Subjekt (ein Tier) sowohl groß als auch eine Maus? Nehmen wir an, wir täuschen uns und das Auto ist kein Mercedes, sondern ein Audi. Dieser Irrtum hat keinen Einfluss auf die Zuschreibung des Prädikats rot. Anders im Falle von (3), wenn wir eine Ratte mit einer Maus verwechseln. Eine große Maus macht immer nur eine kleine Ratte. Das Adjektiv „groß“ wird dem Subjekt nicht zusätzlich zugeschrieben, sondern als Bestandteil der Beschreibung „…ist eine Maus“. Man kann diesen Unterschied auch durch inferenzielle Differenzen ausdrücken. Aus „X ist ein roter PKW“ und „X ist ein Mercedes“ folgt „X ist ein roter Mercedes“. Hingegen folgt aus „X ist ein kleines Tier“ und „X ist eine Maus“ nicht: „X eine ist eine kleine Maus“. Sprachlich hat es den Anschein, als seien (3) und (6) bzw. (4) und (5) parallele Fälle. Doch entgegen der Oberflächengrammatik legt es die logische Grammatik nahe, einerseits (3) und (4) und andererseits (5) und (6) als parallel zu betrachten. Denn Adjektive wie „groß“ oder „klein“ werden relativ zu einer bestimmten Art gebraucht, mithin attributiv. Größe und Kleinheit sind keine Eigenschaften, die alle großen oder kleinen Dinge gemeinsam hätten, sie kommen Dingen nur zu, insofern sie zu einer bestimmten Art gehören. Wir können den Gebrauch von „groß“ nicht so analysieren, dass wir sagen, wir schreiben einem bestimmten großen Ding zwei Eigenschaften zu, nämlich dass es dieses bestimmte Ding (eine Maus, ein Haus, ein Auto usw.) ist, und zusätzlich, dass es groß ist.502 Farbprädikate hingegen werden prädikativ verwendet. Ein Farbprädikat wird mit anderen Prädikaten additiv prädiziert. Was immer Rotheit oder Gelbheit ist, es ist dasjenige, was alle roten oder gelben Dinge gemeinsam haben. Wie steht es mit „gut“ und „schlecht“? Ist das Subjekt in (1) (ein Tier) sowohl gut als auch ein Wachhund? Nehmen wir an, wir täuschen uns und Rex ist kein Wachhund, sondern ein Blindenhund. Dies hat einen Einfluss auf die Zuschreibung von „gut“. Es entfällt (wahrscheinlich) mit dem Wachhund. Ebenso folgt aus „X ist ein guter Wachhund“ und „X ist ein Tier“ keineswegs: „X ist ein gutes Tier“. Es sind andere Erwartungen, die wir gegenüber einem guten Wachhund hegen, als gegenüber einem guten Tier, und zwar deshalb, weil wir gegenüber einem guten Tier kaum irgendeine präzise Erwartung hegen 502 Millikan zufolge handelt es sich bei den Begriffen für Arten wie Maus, Haus oder Auto nicht um Prädikate, sondern um Substanzbegriffe. Mit Substanzbegriffen identifizieren wir Dinge ohne Bezug auf eine besondere identifizierende Eigenschaften. Es handelt sich um Begriffe, die sich auf Dinge beziehen, die Eigenschaften haben, ohne sich dabei auf Dinge als Träger von Eigenschaften zu beziehen. Während klassifizierende Begriffe Prädikate in Urteilen sind (wie „rot“), sind Substanzbegriffe in erster Linie (aber nicht nur) Subjektbegriffe sind. Substanzbegriffe „must figure as subjects over which a variety of predicates are projectable“. (OCCI: 15) „They need not be predicate concepts applied to prior subject concepts.“ (Millikan 1998a: 59) 209 können, wenn wir nicht wissen, um welche Art Tier es sich handelt. Es scheint also, als handle es sich bei „gut“ ebenfalls um ein attributives Prädikat. Es gibt nichts, was allen guten Dingen gemeinsam wäre (die „Gutheit“) und sie zu guten Dingen machen würde. Gutheit ist (wie Größe und Kleinheit) keine Eigenschaft, die alle guten Dingen gemeinsam hätten, sie kommt Dingen nur zu, insofern sie zu einer bestimmten Art gehören. Manchmal ist die Art, zu der ein Ding gehört, explizit genannt. So sagen wir etwa: „Das ist aber eine gute Suppe!“ Es ist klar, dass wir diese Suppe im Gegensatz zu schlechten Suppen als gut auszeichnen. Eine Suppe (ein Wachhund oder ein Sportler) ist nicht eine Suppe (ein Wachhund oder ein Sportler) und zusätzlich auch noch gut oder schlecht. Demgegenüber kann die Art bisweilen verborgen sein. Das ist der Fall, wenn wir „gut“ scheinbar als prädikatives Adjektiv verwenden: „Diese Suppe ist gut!“ Jetzt ist es nicht klar, ob wir diese Suppe qua Suppe als gut auszeichnen, als Heilmittel oder als Giftmordwaffe. Wie auch immer, wir betrachten sie stets als gut oder schlecht in einer bestimmten Hinsicht. Das Beispiel (2) ist ein Fall für eine lediglich implizite Hinsicht. Warum sollte sich dieser Gebrauch von „gut“ und „schlecht“ im Bereich der Moral verändern? Einigen Philosophen zufolge tut er dies. Für G. E. Moore ist „gut“ eine nichtnatürliche Eigenschaft, die wir Dingen oder Handlungen additiv zuschreiben können. Moore meint, der Gegenstand der Ethik sei die Frage, was gutes Verhalten (good conduct) ist. Dabei trennt er jedoch „gut“ von „Verhalten“ auf unstatthafte Weise: „For ‚good conduct’ is a complex notion: all conduct is not good; for some is certainly bad and some may be indifferent. And on the other hand, other things, besides conduct, may be good; and if they are so, then, ‘good’ denotes some property, that is common to them and conduct.”503 In Analogie könnte man sagen, dass „große Maus“ ein komplexer Begriff ist, denn nicht alle Mäuse sind groß, einige sind klein, andere sind so mittel. Und natürlich gibt es andere Dinge als Mäuse, die groß sind, wie etwa Kuchenstücke, Häuser, Planeten oder Seen. Folglich bezeichnet „groß“ eine Eigenschaft, die diesen Dingen und Mäusen gemeinsam ist. Aber dies folgt keineswegs. Wenn wir sagen, dass andere Dinge als Exemplare einer bestimmten Art groß oder klein sind, so wie Mäuse als Exemplare dieser Art groß oder klein sind, dann folgt nicht, dass Mäuse und andere Dinge etwas teilen, das wir mit „groß“ bezeichnen.504 Moore 1993: 54. Natürlich könnte man sagen, dass alle großen Dinge viel Raum oder Fläche und alle kleinen Dinge wenig Raum oder Fläche einnehmen. Doch das ergibt als Resultat, dass eine große Maus und ein großes Haus klein sind. Die Tatsache, dass attributive Prädikate stets im Hinblick auf eine bestimmte Art gebraucht werden, hat nichts mit dem Umstand zu tun, dass Dinge mehr oder weniger groß, schwer, gut oder lustig sein können. Es ist kriterial vollkommen eindeutig, ob ein Geldschein gefälscht oder echt ist. Dennoch sind „echt“ oder „falsch“ attributive Prädikate. 503 504 210 Der attributiven Analyse von „gut“ zufolge handelt es sich bei Gutheit nicht um eine nicht-natürliche, einfache Eigenschaft, die zu den anderen Eigenschaften einer Entität oder eines Prozesses hinzukäme. Vielmehr sind die Eigenschaften, die es uns erlauben, etwas „gut“ oder „schlecht“ zu nennen, Eigenschaften, die eine Entität oder einen Prozess als Exemplar einer Art auszeichnen. Ein Schachzug, ein Messer, ein Auge oder ein Rennpferd sind gut aufgrund bestimmter Eigenschaften, die ihnen als Schachzug, Messer, Auge oder Rennpferd eigen sind. Attributive Prädikate müssen nicht wie identifizierbare Objekte betrachtet werden, und dennoch können sie eine bestimmte Bedeutung haben. Wir sind also keinesfalls gezwungen, der Analyse von Moore zu folgen. Im Gegenteil hat gerade diese einflussreiche Analyse in der analytischen Ethik unheilsame Folgen gehabt.505 Die These von Geach ist für Projekte, die einen normativen Naturalismus anstreben, von größter Bedeutung. 1. Zunächst vermeidet es Geachs These, dass wir Gutheit als mysteriöse, nicht-natürliche Eigenschaft betrachten müssen. Zwar soll Gutheit von der logischen Form her auf die gleiche Weise ein Prädikat sein wie „rot“ oder „süß“, nur mit dem Unterschied, dass es sich im Gegensatz zu Röte oder Süße bei Gutheit um eine nicht-natürliche Eigenschaft handelt. Aber was soll das sein?506 Die Schwierigkeit, auf diese Frage eine Antwort zu finden, führte zur folgenden Reaktion: Gutheit ist nicht wirklich eine Eigenschaft, die gute Dinge haben oder nicht haben können. Die Gutheit eines Dinges ist vielmehr Ausdruck einer Einstellung, die wir gegenüber bestimmten Dingen einnehmen. Etwas als „gut“ zu bezeichnen, meint in erster Linie, dass man eine Pro-Einstellung gegenüber dem so Bezeichneten einnimmt. Diese projektionistische Reaktion ist nicht zwingend. Betrachten wir nämlich Eigenschaften, die es uns erlauben, etwas „gut“ oder „schlecht“ zu nennen, als Eigenschaften, die eine Entität oder einen Prozess als Exemplar einer Art auszeichnen, dann sind wir weder gezwungen, diese projektionistische Reaktion zu akzeptieren noch sind wir gezwungen, „gut“ als nicht-natürliche Eigenschaft zu betrachten. Bewertungen als gut oder schlecht stehen mithin nicht im Gegensatz zu Tatsachenbehauptungen, sondern bringen vielmehr eine besondere Art von Tatsachen zum Ausdruck. Vgl. Thomson 1996: 125-131, 2008: 37ff., Foot 2002b: XII. Vgl. Geach 1957: 66: „In order to assimilate good to ordinary predicative adjectives like red and sweet they call goodness an attribute; to escape undesired consequences drawn from the assimilation, they can always protest, Oh no, not like that. Goodness isn’t a natural attribute like redness and sweetness, it’s a non-natural attribute. It is just as though somebody thought to escape the force of Frege’s arguments that the number 7 is not a figure, by saying that it is a figure, only a non-natural figure, and that this is a possibility Frege failed to consider.“ 505 506 211 2. Weiter sind wir auch nicht gezwungen Gutheit als eine bestimmte natürliche Eigenschaft aufzufassen. Betrachten wir nämlich die Eigenschaften, die es uns erlauben, etwas „gut“ zu nennen, als natürliche Eigenschaften, die eine Entität oder einen Prozess als Exemplar einer Art auszeichnen, so folgt daraus nicht, dass alle Dinge, die wir als „gut“ bezeichnen, eine (oder mehrere) natürliche Eigenschaften teilen müssen, die dafür sorgen, dass sie gut sind. Denn Messer sind auf eine andere Weise gut oder schlecht als Augen, Ärzte oder Einfälle, doch verwenden wir „gut“ deshalb nicht auf eine andere Weise, wenn wir über Messer, Augen, Ärzte oder Einfälle sprechen. 3. Schließlich ermöglicht uns Geachs These, die Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Normativität zu entwerfen, der vereinheitlichende Kraft zukommt. Wir müssen dabei bedenken, dass Normativität nicht nur im Bereich des Tunsollens (der Handlungsregeln oder der Direktiva) beheimatet ist, sondern grundlegender noch im Bereich des Seinssollens (der Regeln der Kritik oder der Evaluativa). Die besondere Art von Tatsachen, die wir durch den attributiven Gebrauch von „gut“ zum Ausdruck bringen, sind jene Tatsachen, die man mit Hartmanns Unterscheidung im Hinterkopf als das „Seinsollen“ eines Dinges bezeichnen kann. Wenn wir tatsächlich auf dieselbe Art und Weise von guten Taten reden, wie wir von guten Messern, guten Augen, guten Mäusen oder guten Ärzten sprechen, dann eröffnet sich die Möglichkeit für ein allgemeines Verständnis der Normativität. Bei der besonderen Art von Tatsachen, die ein gutes von einem schlechten Messer oder ein gutes von einem schlechten Auge unterscheiden, handelt es sich, wie gesagt, weder um nicht-natürliche Eigenschaften, noch um projizierte Eigenschaften, noch um eine allgemeine natürliche Eigenschaft. Vielmehr handelt es sich um natürliche Eigenschaften, die ein Exemplar haben muss, um als gutes oder schlechtes Exemplar seiner Art gelten zu können. Was uns also auf der Grundlage von Geachs These offensteht, ist die Aussicht auf eine vereinheitlichende Theorie der natürlichen Normativität. 3.1.4. Was sind normative Kategorien? Hartmanns Unterscheidung und Geachs Analyse erlauben es, nicht nur Verhaltensnormen als normativ aufzufassen, sondern auch das Sein von Entitäten und Prozessen, und sie erlauben es, Gutheit und Schlechtheit als etwas aufzufassen, was Entitäten oder Prozesse einer bestimmten Art aufgrund von Tatsachen zukommt. Damit ist den Prämissen der Vorbehalte von Dretske und Papineau gegen ein normatives Verständnis biologischer Funktionen der Boden entzogen. Weder muss genuine Normativität präskriptiv sein, noch 212 muss sie strikt von Fakten unterschieden werden. Die Möglichkeit für eine Theorie natürlicher Normen steht also offen. Wir können mit Millikans treffender Beobachtung beginnen, die das Motto zu diesem Kapitel liefert. Eine Norm ist ein Maß vom dem aktuelle Fakten abweichen können.507 Eine Echte Funktion beispielsweise gibt einem Zustand oder Produkt ein Maß vor, von dem er oder es abweichen oder dem er oder es entsprechen kann, sie ist deshalb im exakten etymologischen Sinne des Wortes eine Norm. Der Ausdruck „Norm“ stammt aus der antiken Baukunst. So meinen Vitruv und Plinius, dass jeder Bau nach Winkelmaß und Setzwaage auszuführen sei und dem Senkblei zu entsprechen habe. Was ich hier „Winkelmaß“ genannt habe, heißt im Lateinischen „norma“. Es handelt sich um ein Instrument, das der Herstellung und Überprüfung rechter Winkel dient. Eine „norma“ ist also (ganz unmetaphorisch) ein Maß. Bereits die lateinische Antike kennt drei Übertragungen dieses Maßes auf andere Bereiche. So kann eine Norm erstens ein technisches Muster oder eine rechtliche Vorschrift sein (so wie es heute Normen für Papierformate oder für Pkws gibt). Zweitens kann die Natur eine Norm sein, etwa wenn Cicero schreibt, dass die Natur die Norm des Gesetzes sei.508 Schließlich kann die Gewohnheit oder der Gebrauch eine Norm sein, etwa wenn Horaz meint, der Sprachgebrauch sei Garant und Richtmaß des Sprechens.509 Da Gebrauch und Gewohnheit auch zweite Natur (altera natura) genannt werden, kann auch die zweite Natur Normen abgeben. Wir haben also von alters her verschiedene Normen: Instrumente, Vorschriften, die erste Natur und die zweite Natur können als Normen fungieren. Eine Norm ist jedoch stets ein Maß, von dem etwas abweichen oder dem etwas entsprechen kann. Nennen wir Gruppen oder Arten, die Mitglieder enthalten, die von einem Maß abweichen können, „normative Kategorien“. Eine Kategorie ist eine normative Kategorie, wenn sie gute und schlechte, intakte und defekte, gesunde und kranke usw. Mitglieder enthalten kann. Wir wollen Begriffe, die die Mitglieder normativer Kategorien in gute und schlechte usw. scheiden, als „normative Begriffe“ bezeichnen. Wir können uns dies anhand einiger Beispiele verdeutlichen. „Arzt“, „Staat“, „Bienenstachel“, „Zirbeldrüse“, „Flugzeug“ oder „Straße“ sind normative Kategorien, „Gesundheit“, „Frieden“, „Stechen“, „Regulierung von Melatonin“, „Fliegen“ „Befahrbarkeit“ sind normative Begriffe. Wir sagen beispielsweise: Ein Arzt sollte die Gesundheit herstellen, ein Staat sollte für Frieden sorgen, eine Straße sollte befahrbar sein, eine Zirbeldrüse sollte Melatonin ausschütten usw. Damit meine ich nicht Wahrscheinlichkeiten, denn es geht nicht um Voraussagen, um kein LBT: 83. „...secundum naturam, quae norma legis est“ (Cicero, De leg. 2, 24, 61). 509 „…usus, […] et ius et norma loquendi“ (Horaz, Ars poet. 71-2). 507 508 213 epistemologisches Sollen. Ich meine eine Forderung durch das, was diese Dinge wesentlich sind. Ein Arzt ist etwas, das die Funktion hat, die Gesundheit herzustellen. Ein Arzt tut dies qua Arzt. Ärzte können auch gute Dichter sein, aber das sind sie nicht qua Arzt. Ein Magen ist etwas, das verdaut. Das tun Mägen qua Mägen. Mägen können auch als Beutel für das Gericht Saumagen herhalten, aber das tun sie nicht qua Magen. Auch wenn Ärzte in einem Land Leute häufiger krank als gesund machen, auch wenn Staaten in der Geschichte häufiger für Krieg als Frieden sorgen, auch wenn viele Bienenstachel niemals stechen, so wird mit dem normativen Begriff doch benannt, was die Mitglieder dieser normativen Kategorien tun sollen. Eine Zirbeldrüse, die kein Melatonin ausschüttet, ist defekt; ein Staat, der nicht für Ruhe und Ordnung sorgen kann, ist ein „failed state“; ein Arzt, der krank macht, ist ein schlechter Arzt, und ein Arzt, der Leute umbringt, ein Schlächter. Nicht alle Klassen von Dingen und nicht alle natürlichen Arten sind normative Kategorien. Gelbe Dinge, Wolken, Gold, Kieselsteine, Tage, Helium, Gewitter, Planeten oder Jahreszahlen sind als solche weder gut noch schlecht, weder defekt noch intakt. Was wäre ein defekter Tag? Einer, der dummerweise nur 22 Stunden gedauert hat? Was wäre ein krankes Jahr? Eines, das immer wieder stehen bleibt? Was wäre ein schlechter Kiesel? Einer, der versehentlich zerbrochen ist? Was wäre ein gutes Gewitter? Eines, das die Blumen zum blühen bringt? Zwar sprechen wir von guten Tagen oder von schlechten Jahren, dabei meinen wir aber nicht die Tage oder Jahre selbst, sondern die Ereignisse innerhalb dieser Zeitspannen. Kieselsteine, Tage und gelbe Dinge sollen als solche überhaupt nichts. Weder Sterne (selbstleuchtende Himmelskörper), noch Berge (stattliche, felsige Erhebung im Gelände) oder Gerüche bilden Kategorien mit defekten Mitgliedern. Erlischt ein Stern und wird zu einem schwarzen Zwerg, so ist das kein defekter Stern; wird ein Berg durch einen gigantischen Meteoriten zertrümmert, ist das resultierende Steinmeer kein abnormaler Berg; hört ein Geruch auf zu riechen, ist er deshalb kein dysfunktionaler Geruch. Diese drei Dinge hören einfach auf zu sein, was sie waren. Natürlich können diese Dinge gut oder schlecht in einer bestimmten Hinsicht sein. Ein Gewitter ist schlecht für das Feld, dieser Berg ist gut für eine sportliche Leistung, jener Stern eignet sich für die Beobachtung, ein Kiesel dient als Stöpsel, das Gold als Zahlungsmittel. Doch hierbei handelt es sich entweder um rein kausale Rollen, die diese Dinge spielen können (1.2.6.) oder um beobachterrelative Eigenschaften, die diesen Dingen nicht als Dingen einer bestimmten Art zukommen. Wie steht es mit Lebewesen? Es gibt (moralisch) gute und schlechte, (körperlich) intakte und defekte, (psychisch) gesunde und kranke Menschen. Offensichtlich ist „Mensch“ eine normative Kategorie. Aber was ist der normative Begriff dazu? Menschen 214 als solche (anders als Menschen qua Lehrer oder qua Ärztinnen) haben offenbar keine Funktion (1.1.2.). Dasselbe gilt für Eichen oder Hunde. Es gibt gesunde und kranke, intakte und defekte Eichen und Hunde, also handelt es sich um normative Kategorien. Aber Eichen und Hunde haben als solche keinen Zweck, keine Funktion (aber vielleicht als Blindenhunde oder Korkeichen). Was macht Menschen, Eichen und Hunde zu normativen Kategorien? Wie wir sehen werden, lautet die Antwort: Die Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies (3.3.). Offenbar gibt es normative Kategorien, die durch Funktionen bestimmt werden, und es gibt normative Kategorien, die nicht durch Funktionen bestimmt werden, sondern durch Artzugehörigkeit. Normative Begriffe sind entweder Zwecke oder Funktionen, die eine normative Kategorie allererst konstituieren, oder Begriffe, die als Subjekte in besonderen Urteilsformen fungieren, die sich auf eine Art (eine Spezies) beziehen. Es gibt also funktionale normative Kategorien und es gibt spezifische normative Kategorien.510 Beide normativen Kategorien enthalten defekte Mitglieder qua jeweilige Kategorie.511 Wir nennen Mitglieder einer funktionalen oder einer spezifischen normativen Kategorie gut oder schlecht als Mitglieder dieser Kategorie. Diese Mitglieder sollen auf eine bestimmte Art und Weise sein (das ist ihr Seinsollen) und ihr Gutsein oder Schlechtsein hängt von der Kategorie ab, zu der sie gehören (darin liegt der Grund für die Attributivität von „gut“ und „schlecht“). Im Folgenden werde ich diesen Grundgedanken zunächst anhand funktionaler normativer Kategorien entwickeln. Ich unterscheide biologische funktionale normative Kategorien (3.2.3.-3.2.4.) und kulturelle funktionale normative Kategorien (3.2.5.-3.2.6.). Mitglieder dieser Kategorien haben Echte Funktionen. Diese Kategorien werden durch REF gebildet. Ich erörtere zuerst die funktionalen normativen Kategorien und weise daraufhin, wie Mitglieder einer solchen Kategorie dazu kommen, eine Norm (ein Maß) zu haben „from which actual facts can depart“. Mein Vorgehen besteht darin, zunächst alternative Theorien aus dem Weg zu räumen, um durch dieses Verfahren der Elimination funktionale normative Kategorien durch die Theorie der Echten Funktion erklären zu können. Die 510 Ich verwende „spezifisch“ etwas altmodisch, und zwar im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Art, zu einer Spezies. So braucht beispielsweise Hume den Ausdruck „specifically“ im Sinne von „gemäß seiner Art“. 511 Die hier skizzierte Grundidee von normativen Kategorien, die über defekte Mitglieder definiert werden, findet sich auch bei anderen Autoren. So schreibt etwa Nicholas Wolterstorf: „Many […] kinds are such that it is possible for them to have properly formed and also possible for them to have improperly formed examples. Let us call such kinds, norm-kinds.” (Wolterstorff 1980: 56). Am prägnantesten und detailliertesten hat diese Idee unlängst Judith Jarvis Thomson in ihren Carus Lectures ausgearbeitet, vgl. Thomson 2008. Thomson spricht von „directive kinds“. Die grundlegende Intuition besteht darin, „that the concept of ‘defect’ lies at the heart of the concept ‘ought’.“ (Thomson 2007: 264) 215 Grundstruktur von biologischen und von kulturellen funktionalen normativen Kategorien werde ich dann anhand der Analyse von Beispielen darlegen. 216 3.2. Funktionale normative Kategorien 3.2.1. Gegen Searles Funktionsthese Man mag unterschiedlicher Ansicht darüber sein, wie man die Zuschreibung von Funktionen in der Biologie analysieren soll. Doch dass viele biologische Merkmale Funktionen haben, ist nicht nur vom Standpunkt des Alltagsverstands aus offensichtlich, sondern auch aufgrund der Praktiken, des Vokabulars und der Erklärungen von Biologen und Botanikern. Solche Funktionen können entdeckt werden, sie werden nicht (aus welchen Gründen und in welchem Modus auch immer) unterstellt. Sie werden nicht zugeschrieben, konstruiert oder erfunden. Auch kulturelle Artefakte512 haben Funktionen. Nun mag es auf den ersten Blick scheinen, als würden weder der Alltagsverstand, noch die wissenschaftliche Praxis davon ausgehen, dass es sich bei diesen Funktionen um Eigenschaften handelt, die wir entdecken, vielmehr scheint es so, als würden diese den Artefakten von ihren Herstellern oder Nutzern verliehen. Doch man kann auch herausfinden, worin die Funktionen von Artefakten bestehen. Finden beispielsweise Archäologen Reste von Artefakten, stellt sich u.a. die Frage, wozu diese Artefakte dienten, und Antworten auf diese Fragen können im Lichte neuer Fakten revidiert oder verworfen werden. Findet Klärchen in Karls Küche einen merkwürdigen Gegenstand, kann sie fragen, wozu dieses Artefakt dient. In beiden Fällen zielt die Frage auf die Funktion der Artefakte. Wir fragen dabei nicht, was der Hersteller oder Benutzer des Objekts damit beabsichtigen, sondern wir fragen danach, wozu Hersteller ein Objekt produziert haben, warum Benutzer sich ein Objekt beschafft haben, warum solche Objekte verbreitet sind und überhaupt existieren. In gewissem Sinne interessieren sich diese Fragen also auch für die kulturellen Funktionen als objektive Eigenschaften von Artefakten. Natürlich können die Intuitionen des Alltagsverstands und die Praxis der Wissenschaft im Hinblick auf die Frage, inwiefern Funktionen tatsächlich objektive Eigenschaften sind, nichts entscheiden, denn die These bringt eine weitgehende ontologische Annahme zum Ausdruck: Biologische Funktionen sind objektive Eigenschaften von biologischen Merkmalen und artifizielle Funktionen sind objektive Eigenschaften von kulturellen Artefakten. Dennoch sind biologische Beispiele und Alltagszuschreibungen im Vorgehen der Theoriekonstruktion von großem Wert, denn Beispiele aus der Biologie bieten nicht nur plausible und unvermeidliche Illustrationen für 512 Ich verwende diesen Ausdruck sehr allgemein, so dass Dinge wie Gebrauchsgegenstände, Institutionen, Instrumente, Kunstwerke, Rituale, soziale Rollen usw. darunter fallen. 217 Funktionen, sondern sie sind das Paradigma Echter Funktionen. Aus der Perspektive der Biosemantik werden in letzter Instanz alle Echten Funktionen und mithin auch die Intentionalität aller Repräsentationen und Zeichen auf biologische Funktionen zurückgeführt. Eine Möglichkeit, die These von der Objektivität der Funktionen zu verteidigen, besteht darin, zu zeigen, dass eine gegenteilige Auffassung unweigerlich in Schwierigkeiten gerät. Das möchte ich am Beispiel von John Searles biologischem Naturalismus zeigen. Dies wird uns auch die Gelegenheit geben, zu sehen, worin sich sein biologischer Naturalismus und der Biologische Naturalismus der Biosemantik (3.3.) unterscheidet. Zunächst führt Searle zwei Unterscheidungen ein, eine zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven und eine zwischen einem epistemischen und einem ontologischen Sinn der ersten Unterscheidung. Epistemisch gesprochen sind Urteile subjektiv oder objektiv, ontologisch gesprochen haben Dinge (Objekte, Ereignisse, Eigenschaften, Prozesse, Tatsachen) eine subjektive oder objektive Existenz. Die Existenz subjektiver Tatsachen ist abhängig von einem Subjekt mit Bewusstsein. Ein Paradebeispiel sind Schmerzen. Das (aufrichtige) Urteil „Ich habe Kopfschmerzen“ ist ein epistemisch objektives Urteil über eine ontologisch subjektive Tatsache. Die Existenz objektiver Tatsachen ist abhängig von keinem Subjekt. Ein Paradebeispiel sind Dinosaurier. Das (wahre) Urteil „Vor 150 Mio. Jahren lebte der Allosaurus“ ist ein epistemisch objektives Urteil über eine ontologisch objektive Tatsache. Natürlich gibt es auch epistemisch subjektive Urteile über ontologisch objektive Dinge, beispielsweise Geschmacksurteile oder falsche Urteile. So ist etwa das Urteil „Der Allosaurus ist schöner als der Tyrannosaurus“ ein Geschmacksurteil. Das Urteil „Der Allosaurus lebte vor 300 Jahren“ hingegen ist ein falsches Urteil (in diesem Falle nicht über eine ontologisch objektive Tatsache, sondern über ein ontologisch objektives Objekt). Gibt es auch epistemisch subjektive Urteile über ontologisch objektive Dinge? Sicher kann ich sagen, dass Kopfschmerzen nicht nach meinem Geschmack sind. Kann ich meinem Schmerz aber auch eine Eigenschaft zuschreiben, die er nicht hat? Kann ich urteilen, dass ich Kopfschmerzen habe, obwohl ich in Wirklichkeit keine habe? Ich meine ja, doch das müssen wir hier offen lassen.513 Searle führt eine weitere Unterscheidung ein, nämlich die Unterscheidung zwischen immanenten (oder intrinsischen) und beobachterrelativen Eigenschaften (eine Untergruppe extrinsischer oder relationaler Eigenschaften). Aber das ist nur eine weitere Fassung der Unterscheidung zwischen ontologisch subjektiven und ontologisch objektiven Dingen, 513 Zu Qualia vgl. 5.3.2.3. 218 fokussiert auf Eigenschaften. Searle möchte sagen können, dass Artefakte ihre Funktion nicht als intrinsische Eigenschaften, sondern als beobachterrelative Eigenschaften haben: „Aus der Perspektive Gottes, von außerhalb der Welt, wären alle Eigenschaften der Welt immanent, einschließlich immanenter relationaler Eigenschaften wie der Eigenschaft, dass Menschen in unserer Kultur die und die Objekte als Schraubendreher ansehen. Gott könnte keine Schraubendreher, Autos, Badewannen usf. sehen, weil es, immanent gesprochen, keine solchen Dinge gibt. Gott würde vielmehr sehen, dass wir bestimmte Objekte als Schraubendreher, Autos, Badewannen usf. behandeln. Aber von unserem Standpunkt, dem Standpunkt von Wesen aus, die keine Götter sind, sondern in der Welt sind, die uns als aktive Handelnde einschließt, müssen wir diejenigen unter unseren Aussagen, welche der Welt Eigenschaften zuschreiben, die völlig unabhängig von jeder beliebigen von uns eingenommenen Einstellung oder Haltung bestehen, von denjenigen Feststellungen unterscheiden, die ihr Eigenschaften zusprechen, die nur relativ auf unsere Interessen, Einstellungen, Haltungen, Zwecke usf. bestehen.“514 Alle mentalen Phänomene haben Searle zufolge eine ontologisch subjektive Existenz und besitzen intrinsische mentale Eigenschaften. Beobachterrelative Eigenschaften erben diese ontologische Subjektivität. Der Schraubendreher existiert als Materiehaufen ontologisch objektiv (als physisch-chemischer Gegenstand mit intrinsischen Eigenschaften), doch die Eigenschaft, ein Schraubendreher zu sein, kommt dem Materiehaufen nur in Abhängigkeit von der ontologisch subjektiven Existenz mentaler Phänomene (Interessen, Einstellungen, Haltungen, Zwecke usf.) zu. Doch das bedeutet nicht, dass wir keine epistemisch objektiven Urteile über jene beobachterrelativen Eigenschaften fällen können. Es kann wahr oder falsch sein, dass ein bestimmtes Objekt ein Schraubendreher ist, und es kann wahr oder falsch sein, dass Karl diesen Schraubendreher falsch verwendet. Anschließend verallgemeinert Searle aber diesen Standpunkt, indem er sagt: „Funktionen sind, kurzum, niemals immanent, sondern immer beobachterrelativ.“515 Dies bedeutet, dass es sich sowohl bei kulturellen Funktionen als auch biologischen Funktionen um beobachterrelative Eigenschaften handelt. Nennen wir dies „Searles Funktionsthese“.516 Ein erster Einwand gegen Searles Funktionsthese könnte sich auf die bereits gemachte Beobachtung stützen, dass Funktionen entdeckt werden können. Searle muss aber keineswegs leugnen, dass wir Entdeckungen über biologische Funktionen machen können, denn epistemisch objektive Urteile lassen sich ja auch über beobachterrelative Eigenschaften fällen. Es war schließlich eine Entdeckung von William Harvey, dass das Herz die Funktion hat, Blut zu pumpen.517 Doch die Tatsache, dass das Herz Blut pumpt, ist Searle zufolge ein kausales Geschehen mit intrinsischen (physisch-chemischen) Searle 1997: 22. Searle 1997: 24. 516 Vgl. für die Funktionsthese auch Searle 1992: 238. 517 Vgl. zu Harveys Entdeckung und ihrer Bedeutung Wild 2006: 157-163. 514 515 219 Eigenschaften. Dieser ontologisch objektiven Tatsache stellt Harveys Entdeckung keine weitere ontologisch objektive Tatsache an die Seite, sondern lediglich eine ontologisch subjektive Tatsache. Inwiefern aber entdeckte Harvey den Blutkreislauf und damit die Funktion des Herzens im Organismus? Searle zufolge muss eine solche Entdeckung „im Rahmen eines Systems früherer Wertzuweisungen (einschließlich Zwecken, Teleologie, und anderer Funktionen) stattfinden.“518 Als Beispiel solcher Wertzuschreibungen nennt Searle, dass wir bereits akzeptieren, dass für Organismen Überleben und Reproduktion einen Wert haben: „Weil wir es in der Biologie als selbstverständlich voraussetzen, dass Leben und Überleben Werte sind, können wir entdecken, dass die Funktion des Herzens darin besteht, Blut zu pumpen.“519 Obwohl die Funktion des Herzens in der beschriebenen Weise von uns abhängig ist, handelt es sich dabei jedoch nicht um manifeste oder „Verwendungsfunktionen“, sondern um latente oder „Nicht-Verwendungsfunktionen“.520 Badewannen, Autos oder Schraubendreher werden von Akteuren verwendet. Die Funktion des Herzens ist nicht davon abhängig, dass Akteure Herzen auf eine bestimmte Art und Weise verwenden. Unsere Herzen tun dies, was auch immer sie tun, und wir isolieren (gegeben eine bestimmte Wertzuschreibung) bestimmte Aktivitäten dieses Organs als seine biologische Funktion. Natürlich kann jemand die Theorie aufstellen, dass z.B. die Entstehung von Autos Ausdruck eines komplexen kausalen und subjektlosen Prozesses ist, mit der Funktion, uns zu Bewohnern einer auf Tempoerhöhung fixierten „Dromokratie“ zu machen.521 Dies wäre laut Searle eine Theorie über die Nicht-Verwendungsfunktion von Autos, doch dazu verwenden wir Autos nicht, dazu werden sie nicht hergestellt, sondern wir verwenden sie, um uns und unsere Güter zuverlässig und zeitsparend über weite Strecken zu transportieren. Dies wäre laut Searle die Verwendungsfunktion des Autos. Wir verwenden Autos aber auch, um uns am Rausch der Geschwindigkeit zu erfreuen oder um mit Statussymbolen aufzuschneiden. Und damit wären wir wieder bei der Dromokratie, unter deren Herrschaft allen Dingen nur Wert im Rahmen einer bestimmten Zeitökonomie zukommt. Doch auch wenn die Unterscheidung zwischen Verwendungsfunktionen und Nicht-Verwendungsfunktionen eher undeutlich ausfällt, so handelt es sich doch um eine Unterscheidung innerhalb der als ontologisch gemeinten Auskunft, dass Funktionen niemals immanent, sondern immer beobachterrelativ sind. Und dies ist die Gegenthese zu der für die Biosemantik fundamentalen These, die (in Searles Vokabular) lautet, dass biologische Searle 1997: 25. Searle 1997: 25. 520 Searle 1997: 30ff. Searles Ausdrücke sind „agentive functions“ und „nonagentive functions“. 521 Virilio 1989: 246ff. 518 519 220 Funktionen nicht beobachterrelativ sind, sondern ontologisch objektive Eigenschaften, über die wir epistemisch objektive Urteile fällen können. Betrachten wir zwei Einwände gegen Searles Funktionsthese. Der erste ist kurz und formal, der zweite ist komplex und verurteilt Searles biologischen Naturalismus zum Scheitern. Ich habe eben mit Bedacht von „nicht beobachterrelativ“ gesprochen, weil biologische Funktionen in der biosemantischen Deutung natürlich keine immanenten Eigenschaften sind. Wie ich bereits angedeutet habe, ist die Disjunktion zwischen „immanent“ und „beobachterrelativ“ nicht vollständig, da beobachterrelative Eigenschaften lediglich eine Unterklasse der relationalen (oder extrinsischen) Eigenschaften bilden. Nun spricht prima facie nichts dagegen, dass es aus der Perspektive Gottes relationale Eigenschaften gibt, die nicht beobachterrelativ sind. Deshalb folgt aus „nicht immanent“ natürlich nicht „beobachterrelativ“. Searles Schluss, dass Funktionen stets beobachterrelativ sind, ist deshalb formal ungültig. Dies der erste Einwand. Für den zweiten Einwand müssen wir uns nochmals Searles Funktionsthese im Hinblick auf Lebewesen vergegenwärtigen. Der Einwand wird darauf hinauslaufen, dass für Searle Lebewesen soziale Tatsachen sein müssen und dass deshalb sein biologischer Naturalismus zirkulär ist. Blickt man in ein Biologielehrbuch, so findet man häufig eine gewisse Reihe von Merkmalen, die Leben oder Lebewesen charakterisieren sollen. Zu diesen Merkmalen gehören neben Reproduktion und Überleben auch Anpassung, Stoffwechsel, Homeostase, Wachstum und Entwicklung, Organisation usw. Von vielen höher entwickelten Organismen kann man sagen, dass sie aus Struktursystemen (Haut, Skelett, Muskulatur), aus Stoffwechselsystemen (Verdauung, Atmung, Kreislauf, Exkretion), Integrationssystemen (Nervensystem, endokrines System, Immunsystem) und dem Reproduktionssystem bestehen. Innerhalb dieser Systeme weisen wir bestimmten Prozessen Funktionen zu. Doch dass wir diese Systeme als relevant für die Zuweisung von Funktionen erachten (oder als selbstverständlich voraussetzen oder als Konstitutionsbedingungen des Gegenstandsbereichs der Biologie betrachten), ist wiederum eine Zuweisung, die wir vornehmen. Sie setzen einen Rahmen beobachterrelativer Eigenschaften (ein System von Werten, wie Searle sagt), in dem wir dann epistemisch objektive Urteile über Funktionen fällen können und Entdeckungen wie diejenige von Harvey gemacht werden. Demgegenüber handelt es bei den physischen und chemischen Eigenschaften von Lebewesen um intrinsische Eigenschaften, die beobachterunabhängig als Eigenschaften materieller Objekte existieren. Doch worin besteht der Grund dafür, dass wir solche beobachterunabhängig existierenden materiellen Objekte eher mit diesem 221 System biologischer Wertzuweisungen als mit einem beliebigen anderen System biologischer Wertzuweisungen ausstatten?522 Gibt es die Möglichkeit epistemisch objektiver Urteile hinsichtlich dieser Systeme? Falls es solche Urteile nicht gibt, fällen wir epistemisch subjektive Urteile über diese Systeme, und dann ist nicht zu sehen, wie in Abhängigkeit davon Funktionszuschreibungen als Entdeckungen Ausdruck epistemisch objektiver Urteile sein können. Falls es solche Urteile gibt, und es scheint sie ja laut Searle zu geben, dann entweder in Abhängigkeit von ontologisch subjektiven oder von ontologisch objektiven Tatsachen. Wenn in Abhängigkeit von ontologisch objektiven Tatsachen, dann ist der Realgrund der Urteile klar, er besteht nämlich in der Existenz eben dieser ontologisch objektiven Tatsachen, die auch Gott selbst sehen könnte. Wenn aber in Abhängigkeit von ontologisch subjektiven Tatsachen, dann bedeutet dies wiederum in Abhängigkeit von beobachterrelativen Systemen höherer Ordnung. Doch auch hier können wir wiederum fragen, wie zwischen alternativen beobachterrelativen Systemen höherer Ordnung zu entscheiden wäre. Die Zuschreibung von Funktionen gegenüber biologischen Organismen, die sich in epistemisch objektiven Urteilen ausdrückt, ist auf die Platzierung dieser Organismen in einem System früherer Wertzuweisung angewiesen. Doch im Hinblick auf diese Wertzuweisungen kann immer und überall gefragt werden, ob sie epistemisch objektiven Urteilen zugänglich sind, und wenn ja, ob diese Urteile auf ontologisch objektiven oder auf ontologisch subjektiven Tatsachen beruhen. Im zweiten Fall stellt sich wiederum die Frage, welche Zuschreibungen diesem Urteil zugrunde liegen. Es liegt auf der Hand, dass wir dieses Spiel ad infinitum weiterspielen können. Offenbar geraten wir in einen Regress, wenn wir die Zuschreibung von Funktionen nicht an einer Stelle auf ontologisch objektive Tatsachen stützen können. Doch offensichtlich sollten wir nicht weiterfragen, denn für Searle gibt es letztlich keine ontologisch objektiven Tatsachen, auf denen Funktionszuschreibungen beruhen.523 Das bedeutet, dass für Searle biologische Funktionen letztlich Bestandteil einer Ontologie sozialer Tatsachen sind. Ebenso wie die Funktion des Schraubendrehers hängt die Funktion des Herzens von uns ab. Und ebenso wie der (mit Heidegger gesprochen) „Bewandtniszusammenhang“, in den das „Zeug“ Schraubendreher gehört und in welchem er seinen Zeugcharakter hat, vom „Dasein“ abhängt, ist ein System von biologischen Wertzuweisungen wie Überleben oder Reproduktion von uns abhängig. Dasselbe trifft, wie Vgl. Searle 1992: 238: „If the only thing that interested us about the heart was that it made a thumping noise or that it exerted gravitational attraction on the moon, we would have a completely different conception of its ‘functioning’ and correspondingly of, for example, heart disease.“ 523 Man kann nicht einfach auf kausale Tatsachen verweisen. Natürlich sind Funktionen letztlich bestimmte kausale Wirkungen, aber es sind Wirkungen, die relativ zu einem Wertestem ausgezeichnet werden, und dieses Wertesystem ist keine kausale Tatsache über eine in Rede stehende funktionale Entität. 522 222 wir eben gesehen haben, auch auf Merkmale zu, die wir als für Leben und Lebewesen konstitutiv erachten. Damit sind die konstitutiven Eigenschaften für Lebewesen – trotz der Unterscheidung zwischen Verwendungs- und Nicht-Verwendungsfunktion – ebenso beobachterrelativ wie die konstitutiven Eigenschaften von Schraubendrehern oder Marmorstatuen. Die intrinsischen Eigenschaften dieser Dinge sind ausschließlich physischchemischer Natur. Aus der Perspektive Gottes sind Lebewesen, Statuen und Werkzeuge nur Materiehaufen. Als solche existieren sie und haben Eigenschaften die völlig unabhängig von jeder beliebigen von uns eingenommenen Einstellung oder Haltung bestehen. Doch die Tatsache, dass es sich bei diesen Materiehaufen um Lebewesen, Statuen und Werkzeuge handelt, mit den für Lebewesen und Artefakte charakteristischen Eigenschaften, besteht nur relativ zu unseren Interessen, Einstellungen, Haltungen oder Zwecken. Es handelt sich eben um soziale Tatsachen. Die merkwürdige Konsequenz besteht also darin, dass Lebewesen, ontologisch gesehen, soziale Tatsachen sind. Searle scheint sich dieser Konsequenz seiner Position nicht bewusst zu sein. Er schreibt über die seiner Position zugrunde liegende „Fundamentalontologie“: „Wir leben in einer Welt, die vollständig aus physischen Teilchen und Kraftfeldern besteht. Einige von ihnen sind in Systemen organisiert. Einige dieser Systeme sind lebende Systeme, und einige dieser lebenden Systeme haben Bewusstsein entwickelt. Mit Bewusstsein einher geht Intentionalität, die Fähigkeit des Organismus, sich Gegenstände und Sachverhalte in der Welt zu repräsentieren. Die Frage ist jetzt: Wie können wir im Rahmen dieser Ontologie die Existenz sozialer Tatsachen erklären?“524 Die Antwort auf die von Searle gestellte Frage lautet, dass wir im Rahmen dieser Ontologie die Existenz sozialer Tatsachen gar nicht erklären können, weil diese Ontologie bereits voraussetzt, was sie erklären will, nämlich die Existenz sozialer Tatsachen, und zwar an der von mir mit einer Kursivierung markierten Stelle, den Lebewesen. Warum? Nun, wir schreiben Lebewesen Funktionen zu aufgrund eines Systems von Wertzuschreibungen, die für Lebewesen konstitutiv sind. Doch diese Wertzuschreibungen sind wiederum beobachterrelativ. Searle vertritt seit langem eine Position, die er als „biologischen Naturalismus“ bezeichnet. Er hat diese Position an verschiedenen Orten formuliert und verteidigt. Hier ist eine seiner Formulierungen: „Bewusstsein und andere Formen geistiger Phänomene sind biologische Vorgänge, die in menschlichen und bestimmten tierischen Gehirnen vorkommen. Sie sind genauso ein Teil der biologischen Naturgeschichte der Tiere wie die Laktation, die Absonderung von Galle, die Mitose, Meiose, Wachstum und Verdauung. Wenn wir 524 Searle 1997: 17 (meine Hervorhebungen). 223 uns einmal daran erinnern, was wir über das Gehirn wissen, und unsere dualistische Kinderstube vergessen, ist der allgemeine Umriss für die Lösung des sogenannten Leib-Seele-Problems, ob für Mensch oder Tier, ziemlich einfach. Geistige Phänomene werden durch niederstufige neuronale Prozesse in menschlichen und tierischen Gehirnen verursacht und sind selbst höherstufige oder Makromerkmale dieser Gehirne. Wir wissen natürlich noch nicht genau, wie dies funktioniert, wie die besondere Neurobiologie menschlicher und tierischer Nervensysteme die ganze enorme Vielfalt unseres geistigen Lebens verursacht. Aber daraus, dass wir noch nicht wissen, wie dies funktioniert, folgt nicht, dass wir nicht wissen, dass es funktioniert.“525 Searle ist also der Auffassung, dass es sich bei bewussten Eigenschaften um Eigenschaften des Gehirns handelt. Lebewesen mit einem Geist526 haben mentale Zustände nur aufgrund der ihnen intrinsischen Fähigkeit, mentale Zustände hervorzubringen: „In one way or another all other mental notions – such as intentionality, subjectivity, mental causation, intelligence etc. – can only be fully understood as mental by way of their relations to consciousness.“527 Bewusstsein ist eine höherstufige biologische Eigenschaft des Gehirns, wie Verdauung eine höherstufige biologische Eigenschaft des Verdauungssystems ist. Searle zufolge verfügen allein Lebewesen mit nicht-intentionalem Bewusstsein über ursprüngliche oder intrinsische Intentionalität.528 Die abgeleitete oder derivative Intentionalität z.B. von Maschinen oder Sätzen wird durch die ursprüngliche Intentionalität von menschlichen Personen erklärt, für ursprüngliche Intentionalität ist Bewusstsein konstitutiv, Bewusstsein wiederum wird durch neuronale Prozesse des Gehirns hervorgebracht. Sätze oder Maschinen haben die Funktion etwas zu repräsentieren nur als beobachterrelative Eigenschaft. Denn einige Verwendungsfunktionen betreffen Artefakte, die repräsentieren (Sätze), andere betreffen nicht-repräsentationale Artefakte (Schraubendreher). Da biologische Funktionen beobachterrelativ sind und ein System früherer Wertzuschreibungen voraussetzen, kann Searle natürlich nicht sagen, dass es die objektive Funktion des Hirns ist bewusste Zustände zu erzeugen. Das Hirn tut dies einfach, und zwar als Teil eines Lebewesens, das wiederum nur als soziale Tatsache existiert. Wir können Searles biologischen Naturalismus in einem Schema darstellen: [SchemaS] Hirn ! Bewusstsein ! Intentionalität !biologische Funktionen Im Gegensatz zu diesem Schema sieht das Schema für den Biologischen Naturalismus der Biosemantik wie folgt aus: Searle 2005, 144. Darunter fallen auch viele nicht-menschliche Tiere, vgl. Searle 2005. 527 Searle 1992: 84. 528 Searle 1992: 156. Fodor und Lepore 1994 haben die Rückführung der Intentionalität auf nichtintentionales Bewusstsein kritisiert, vgl. die Antwort von Searle 1994. 525 526 224 [SchemaB] Lebewesen ! biologische Funktion ! Intentionalität ! Bewusstsein Nicht nur setzt das SchemaB beim Begriff der Funktion (von Teilen und Äußerungen von Lebewesen) an, sondern es setzt bei einem normativen Begriff der Funktion an. Demgegenüber setzt das SchemaS bei einer nicht-normativ verstandenen biologischen Entität (dem Hirn) und einer nicht-normativ verstandenen Eigenschaft dieser Entität (dem Bewusstsein) an, und erklärt daraus die Intentionalität und biologische Funktionen. Wir haben jedoch gesehen, dass in Searles Fundamentalontologie lebende Systeme soziale Tatsachen sein müssen und insofern voraussetzen, was sie hervorbringen sollen, nämlich bewusste Lebewesen mit intrinsisch intentionalen Zuständen. Der biologische Naturalismus wird von einem weiteren Problem geplagt. Searle zufolge haben intentionale Zustände Satisfaktionsbedingungen und diese sind intentionalen Zuständen intrinsisch.529 Die Satisfaktionsbedingung einer Überzeugung ist ein Umstand, der vorliegen muss, damit die Überzeugung wahr ist (Wahrheitsbedingung), die Satisfaktionsbedingung eines Wunsches ist der Umstand, der hervorgebracht werden muss, damit der Wunsch erfüllt wird (Erfüllungsbedingung). Überzeugungen sind Zustände, die wahr oder falsch sein können, Wünsche sind Zustände, die erfüllt oder unerfüllt sein können. Solche Satisfaktionsbedingungen formulieren aber normative Anforderungen an Überzeugungen oder Wünsche. Was ist die Quelle dieser Art der Normativität? Wie das Gehirn solche Zustände hervorbringen kann, wird von Searle im Gegensatz zur Biosemantik völlig im Dunklen gelassen. Dasselbe gilt für das Bewusstsein. Hirne bringen einfach Bewusstsein hervor, die Neurologie sagt wie. Das ist kein Naturalismus, sondern dogmatischer Szientismus. Um Szientismus handelt es sich, weil die explanatorische Aufgabe ganz an eine Naturwissenschaft abgegeben wird. Um Dogmatismus handelt es sich deshalb, weil eine These dadurch begründet wird, dass ein bestimmtes Ergebnis prinzipiell einfach auffindbar sein muss, auch wenn unklar ist, wie man es finden könnte. Aus diesem Ansatz heraus kann aber die normative Dimension der Satisfaktionsbedingungen nicht verständlich gemacht werden, weil an keiner Stelle erkennbar ist, woher sie stammen sollte. Ich habe den biologischen Naturalismus Aggrippas Trilemma unterworfen, denn ich habe Searle vorgeworfen, dass die Frage nach dem Grund objektiver Urteile über biologische Funktionszuschreibungen (die Tatsache, dass wir Funktionen entdecken können) entweder in einen Regress führt oder zur Annahme, dass biologische Funktionen letztlich soziale Fakten sind. Diese Annahme jedoch führt einen Erklärungszirkel in Searles Ontologie ein. Letztlich muss er dogmatisch darauf beharren, ohne eine Erklärung dafür 529 Searle 1992: 51, 238. 225 geben zu können, dass das Hirn irgendwie Bewusstsein hervorbringt und dass gewisse bewusste Zustände aus irgendeinem Grund über Satisfaktionsbedingungen mit einer normativen Dimension verfügen. Keines dieser Probleme trifft den Biologischen Naturalismus der Biosemantik. Was könnte Searle in dieser Situation tun? Könnte er auf einen Kantischen Ansatz zurückgreifen und behaupten, dass wir uns, gegeben die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens, Lebewesen notwendigerweise als Naturzwecke denken müssen? Doch sein biologischer Naturalismus lässt eine solche transzendentalphilosophische Wendung nicht zu. Darüber hinaus haben wir bereits gesehen, dass Kants Auffassung der Teleologie weder (von außen betrachtet) alternativlos noch (von innen betrachtet) spannungsfrei ist (2.1.). Könnte Searle auf Gott als Funktionszuschreiber zurückgreifen? Biologische Entitäten haben beobachterrelative Funktionen, insofern sie von Gott erschaffen worden sind. Wiederum lässt Searles biologischer Naturalismus dies nicht zu. Anders als die Biosemantik erkennt er die theistische Option nicht einmal als Alternative (2.2.). Denn Gott würde ja lediglich eine Welt mit lauter intrinsischen chemischen oder physischen Eigenschaften vorfinden. Searle könnte bezüglich biologischer Funktionen einfach ein Reduktionist sein und beispielsweise die Funktion des Herzens, Blut zu pumpen, mit einer bestimmten Wirkung des Herzens identifizieren. Doch Searle ist kein Reduktionist dieser Sorte. Dass das Herz Blut pumpt, ist ihm zufolge zwar eine kausale Tatsache, aber eine Tatsache, die wir aufgrund eines Systems früherer Wertzuschreibungen besonders schätzen. Funktionen sind einfach von uns besonders geschätzte kausale Wirkungen eines Systems. Dies erklärt die Normativität von Funktionen: Ein Herz, das kein Blut pumpt, mangelt einer kausalen Wirkung, die wir als wertvoll erachten. Doch dies führt letztlich wiederum zu der Annahme, dass biologische Funktionen letztlich soziale Fakten sind, was einen Erklärungszirkel in Searles Ontologie einführt. Zudem habe ich dafür argumentiert, dass biologische Funktionen nicht auf physikalische Prozesse reduziert werden müssen, um einer naturalistischen Theoriekonstruktion zu dienen (2.2.). 3.2.2. Gegen die Organismustheorie Wir sollten Searles Funktionsthese und seinen biologischen Naturalismus also verwerfen. Was bleibt, ist die Objektivitätsthese, der zufolge biologische Funktionen objektive Eigenschaften von bestimmten Entitäten und Prozessen sind, nämlich von Teilen von 226 Lebewesen und von Äußerungen von Lebewesen. Dies erklärt, warum wir Funktionen entdecken können. Und wenn wir den biosemantischen Funktionsbegriff akzeptieren, kann auch erklärt werden, warum Funktionen eine normative Dimension zukommt, nämlich dadurch, dass Funktionen abhängig von REFs bestehen und selektierte Wirkungen sind. Biologische Funktionen sind also Echte Funktionen. Doch der Schritt von der Objektivitätsthese zur Echten Funktion ist nicht ohne Alternative. Denn man kann die Objektivitätsthese vertreten, ohne die Objektivität von Funktionen und korrekte Funktionszuschreibung von einem historischen Prozess der Selektion abhängig zu machen. Wir haben bereits in Abschnitt 1.2.6. Cummins-Funktionen diskutiert. Dieser Auffassung zufolge sind Funktionen intra-systemische kausale Rollen. Das Herz hat als Bestandteil eines Zirkulationssystems, das Nährstoffe, Sauerstoff, Abfall usw. transportiert die kausale Rolle Blut zu pumpen.530 Demgegenüber gibt Wright keine intra-systemische kausale Rollenanalyse von „Funktion“, sondern eine teleologische Analyse, der zufolge das Herz die Funktion hat Blut zu pumpen, weil es Blut pumpt, und das Blutpumpen erklärt, warum das Herz vorhanden ist.531 Wir haben gesehen, dass diese Analyse durch die Zugehörigkeit zu einem Typ ergänzt werden muss (1.1.4.). Dies leistet die Zugehörigkeit zu einer REF. Die Echte Funktion des Herzens besteht in jenem kausalen Beitrag, den Vorfahren der heute existierenden Herzen geleistet haben, und diese Wirkung erklärt, warum Herzen vorhanden sind. Die Echte Funktion des Herzens ist deshalb seine selektierte Wirkung.532 Bei den Cummins-Funktionen stellten sich folgende Probleme (1.2.6.): Erstens ändert sich die Funktion eines Elements je nach Beschreibung der Fähigkeit eines Systems. Zweitens sind die Identitätskriterien für ein solches System beliebig. Man kann beispielsweise eine Flussmündung als System betrachten und dabei die Funktion von Steinen im Flussbett in ihrem Beitrag zur Verbreiterung der Mündung oder zur Stauung von Treibgut analysieren. Drittens sind Cummins-Funktionen relativ: Herzen sollen Blut pumpen relativ zu einer Beschreibung des Systems, zu dem sie gehören. Sind jedoch die Leistungen des Systems ebenfalls beobachterrelativ (etwa im Sinne von Searles „System früherer Wertzuweisung“), dann ist die Funktion des Herzens, Blut zu pumpen, eine Zur Erinnerung (aus 1.2.6.): Die Funktion von x in S wird wie folgt analysiert: x hat die Funktion zu -en in S nur relativ zu einer Beschreibung B über S’s Fähigkeit zu -en, wenn x tatsächlich die Fähigkeit hat in S zu -en und A eine angemessene Auffassung über die Fähigkeit zu -en ist durch den Rückgriff auf x Fähigkeit in S zu -en. 531 Zur Erinnerung (aus 1.2.6.): Die Funktion von x ist es zu -en, wenn es x gibt, weil es -t, und wenn das zu -en ein Resultat davon ist, dass es x gibt. 532 Zur Erinnerung (aus 1.1.4.): Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt: (i) M ist Mitglied einer REF. (ii) Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt. (iii) Unter den Vorfahren von M existierte eine positive statistische Korrelation zw. E(x) und F(x), so dass gilt: p(F/E) > p(F). (iv) Die Umstände (ii) und (iii) sind Bestandteil der Erklärung dafür, dass M existiert und dass M E hat. 530 227 beobachterrelative Eigenschaft des Herzens. Auch ihre Normativität wäre beobachterrelativ: Ein Herz, das kein oder kaum Blut pumpt, ist ein defektes oder krankes Herz nur relativ zum System früherer Wertzuweisungen. Denn das Zirkulationssystem hat die Aufgabe, Nährstoffe, Sauerstoff, Abfall usw. zu transportieren nur relativ zu einem System früherer Wertzuweisungen, weil „wir es in der Biologie als selbstverständlich voraussetzen, dass Leben und Überleben Werte sind“.533 Um den Problemen der Searleschen Aufnahme der Cummins-Funktionen zu entgehen, könnte man das System, relativ zu dem ein Element eine Funktion hat, nicht als ein System früherer Wertzuweisungen betrachten, sondern als objektive Entität mit einer bestimmten systematischen Verfasstheit. Der Organismus wäre ein solches objektives Bezugssystem und den Teilen des Organismus kämen Funktionen zu (im Sinne von intrasystemischen kausalen Rollen), weil sie eine kausale Rolle im Organismus spielen. Die Funktion eines Merkmals stellt einfach dessen Beitrag zur Gesamtaktivität des Organismus dar. Funktionen sind so zwar objektive Eigenschaften von Teilen von Organismen, jedoch ohne Rückgriff auf die Selektionsgeschichte. Man kann dies als „Organismustheorie der Funktion“ bezeichnen.534 Doch erneut stellen sich die Fragen der Typenzugehörigkeit und der Normativität von Funktionszuschreibungen. Inwiefern gehört ein Teil eines Einzelorganismus zu einem Typ? Inwiefern gehört ein Organismus zu einem Typ? Und inwiefern können Defekte eines biologischen Merkmals eingefangen werden? Natürlich kann man die kausale Rolle eines Organs wie der Niere relativ zu einem einzelnen Organismus ausfindig machen. Nehmen wir an, man könnte Nieren allein aufgrund morphologischer Merkmale identifizieren. Was ist die Funktion der Niere? Entweder fordern die Beiträge defekter Nieren zur Gesamtaktivität eines Einzelorganismus eine andere Funktionszuweisung als die Beiträge intakter Nieren zu einem anderen Einzelorganismus, oder wir schreiben der defekten Niere keine Funktion zu, der intakten Niere hingegen schon. Eine defekte Niere hätte also entweder eine andere Funktion oder sie hätte keine Funktion. Im ersten Fall wäre eine Vervielfältigung von Funktionen der Niere die Folge. Im zweiten Fall wäre die Folge eine Zuordnung der Nieren zu unterschiedlichen Kategorien, nämlich sowohl zu einer funktionalen als auch zu einer nichtfunktionalen Kategorie. Beide Konsequenzen erscheinen mir unerwünscht. Sie zerreißen die Leistung, die Gray als Darwins großes Verdienst gelobt hat, „that, instead of Morphology versus Teleology, we shall have Morphology wedded to Teleology“ (2.1.). Und wie eben gesagt, vervielfältigen diese 533 534 Searle 1997: 25. Vgl. Davies 2000; McLaughlin 2001; Toepfer 2004. 228 Konsequenzen entweder die Funktionen eines Typs oder die Kreuzklassifikationen eines Typs. Beides steht aber dem Ziel der Vereinheitlichung entgegen, für das ich in Abschnitt 2.3. argumentiert habe. Darüber hinaus wären defekte oder kranke Teile lediglich an einer abweichenden Morphologie erkennbar, nicht aber an einer Fehlfunktion. Normalerweise betrachten wir aber Teile als defekt oder krank, insofern sie dysfunktional sind. Ein plastisches Zentralnervensystem, das einen Gewebeschaden kompensiert, wäre dann, trotz intakter Funktion, krank oder defekt, obwohl es seiner normalen Fähigkeit nachkommt, Ausfälle zu kompensieren. Es sieht also so aus, als müssten wir von typischen Beiträgen von biologischen Merkmalen sprechen, wenn wir diese Probleme vermeiden möchten. Welche Optionen bieten sich an, will man nicht auf den Begriff der Echten Funktion zurückgreifen? Man könnte sagen: Der typische Beitrag und mithin die Funktion eines Merkmals ist der statistisch häufigste Beitrag eines Merkmals zur Gesamtaktivität des Organismus. Doch diese Antwort reicht nicht aus. Ein Merkmal, das in den allermeisten Fällen einen bestimmten Beitrag nicht leistet, braucht allein deswegen nicht defekt zu sein. So haben Spermien nicht nur die Funktion mehr oder weniger ziellos herumzuschwimmen, sondern eine Eizelle zu befruchten, auch wenn sie dies in den überwiegenden Fällen nicht tun. Weiter könnte die gezielte Verbreitung einer Augenkrankheit die Statistik der kausalen Beiträge dieses Organs zur Gesamtaktivität von Organismen gehörig beeinträchtigen, doch wir würden trotzdem nicht davon sprechen, dass die Augen ihre Funktion geändert haben. Schließlich würde die gewählte Zeittiefe für die statistische Auswertung eines Beitrags zur Gesamtaktivität von Organismen die Statistik ebenfalls beeinflussen. Diese drei Einwände laufen einerseits darauf hinaus, dass unter einem statistischen Gesichtspunkt die Objektivität der Funktionszuschreibungen (um die es hier ja geht) nicht aufrecht erhalten werden kann. Andererseits steuern sie aber auf eine bestimmte Lösung zu: Die Einbeziehung der Evolution räumt nämlich alle drei Einwande aus: Spermien können die Funktion haben, Eizellen zu befruchten, wenn dies die Wirkung ist, aufgrund derer Spermien (bzw. die sie produzierenden Organe bzw. die diese Organe produzierenden Gene) selektioniert worden sind. Augen behalten auch nach einer gezielten maliziösen Einflussnahme ihre Funktion, wenn diese Funktion die Wirkung ist, aufgrund derer Augen (bzw. die sie produzierenden Gene) selektioniert worden sind. Die relevante Zeittiefe für die Bestimmung der Funktion eines Teils ist (vereinfacht gesagt) die historische Epoche der 229 Selektion. Funktionale Normen sind keine statistischen Normen, es sind Normen, die aus der Zugehörigkeit zu einem Typ mit einer bestimmten Geschichte entstammen.535 Die Organismustheorie hat gegenüber der Theorie der Echten Funktionen weitere Nachteile. (a) Sie könnte allein eine Theorie von biologischen Funktionen sein, nicht aber von kulturellen Funktionen. Denn die Zuschreibung von Funktionen ist auf Teile beschränkt, die zu einem Organismus gehören. Demgegenüber vermag die Theorie der Echten Funktionen kulturelle und biologische Funktionen zu vereinen, indem sie das erweiterte Argumentationsschema der einfachen Selektion anwendet (2.3.). (b) Stirbt ein Lebewesen, so leisten seine Teile keinen Beitrag zu seiner Gesamtaktivität mehr und sie verlieren dadurch ihre Funktion. Stirbt der Vogel, so werden aus den funktionalen Kategorien „Niere“ oder „Flügel“ nichtfunktionale Kategorien. Es wäre also streng genommen falsch oder metaphorisch, auf den Vogel zu zeigen und zu sagen: „Dies ist ein Flügel, damit können Vögel fliegen.“ Denn dieser Flügel hat diese Funktion nicht mehr. Der Theorie der Echten Funktionen zufolge bleibt dieser Flügel aber ein Flügel, insofern er zu einer REF gehört. Zwar kann er seine Funktion nicht mehr ausüben, doch diese Unfähigkeit ist kein Grund, ihm die Funktion nicht zuzuschreiben. Auch der verkümmerte Flügel eines lebenden Vogels hat diese Funktion, selbst wenn der Vogel damit niemals wird fliegen können. (c) Wir haben gesehen, dass sich die biologischen Merkmale von Organismen, die Funktionen haben, in Teile und in Äußerungen einteilen lassen, wobei Teile entweder Organe oder Formen sind, Äußerungen hingegen entweder Verhaltensweisen oder Produkte (1.1.4.). Wir dürfen uns also nicht nur um den Beitrag von Teilen kümmern, sondern müssen die Beiträge von Teilen, Formen, Verhaltensweisen und Produkten eines Organismus zu dessen Gesamtaktivität berücksichtigen. Die architektonischen Produkte von Tieren erfüllen im Allgemeinen drei Funktionen: Sie dienen der Reproduktion, sie bieten Schutz vor Umwelteinflüssen und sie helfen beim Beutefang in je spezifischer Weise.536 Auch die funktionalen Artefakte von Menschen können auf diese Weise grob klassifiziert werden. Auch wenn solche architektonischen Produkte aktuell keinen Beitrag zur Gesamtaktivität eines Organismus leisten, so können ihnen doch Funktionen zugeschrieben werden. Das Nest dient der Aufzucht der Jungen und dem Schutz vor Umwelteinflüssen. Deshalb gibt es das Nest, und zwar im folgenden Sinne: deshalb hat es der Vogel gebaut und deshalb hat dieser Vogel die Fähigkeit solche Nester zu bauen, unabhängig davon, ob das Nest aktuell oder jemals einen Beitrag zur Schließlich wird man nicht nur die Funktion eines bestimmten Typs von Teil in einem Einzelorganismus bestimmen wollen, sondern die Funktion in einer bestimmten Art von Organismus. Doch auch die Zugehörigkeit eines Einzelorganismus zu einer Art scheint mir nicht ohne Geschichte auskommen zu können. Vgl. dazu 3.3. 536 Vgl. Hansell 2005: 1-32. 535 230 Gesamtaktivität dieses Vogels leistet. Erklären wir das Vorhandensein des Nestes durch seine Zugehörigkeit zu einer REF22 und durch seinen historischen Beitrag zum Überleben der Art, zu der unser Vogel gehört, so haben wir damit nicht nur seine Funktion beschrieben, sondern auch erklärt, warum das Nest vorhanden ist und eine Funktion haben kann, unabhängig von seinem aktuellen Beitrag zur Gesamtaktivität eines Organismus. Alles in allem ist die Theorie der Echten Funktionen also die bessere Option für objektive Funktionszuschreibungen als die Organismustheorie. Und zwar besser aufgrund ihrer Fähigkeit die Typenzugehörigkeit und die Normativität von funktionalen Entitäten und Prozessen zu erklären, besser aufgrund ihrer Fähigkeit unsere alltäglichen Redeweisen über Funktionen einzufangen und vor allem besser aufgrund ihrer Fähigkeit zur Vereinheitlichung. Die Organismusthese ist als alternative Objektivitätsthese weniger attraktiv als die Theorie der Echten Funktionen. 3.2.3. Biologische funktionale normative Kategorien: die Standardsicht In der Biologie ist die Rede von „Funktionen“ ubiquitär. So findet man Fachartikel und Buchkapitel über die Evolution der Gestalt und Funktion von Primatenzähnen, über die visuellen Funktionen von retinorezipienten Nuklei, über die Funktion von Tierarchitektur oder über die Form und Funktion der Pupille. Allerdings taucht der Begriff der Funktion in den Indizes biologischer Lehrbücher und Fachmonografien eher selten auf. Dies ist wenig verwunderlich, handelt es sich doch um einen impliziten Grundbegriff, der in vielfältiger verbaler Gestalt zu Tage tritt.537 Tritt der Begriff der Funktion jedoch selbst in Erscheinung, so scheint er bisweilen der These zuwiderzulaufen, dass biologische Funktionen Echte Funktionen sind. Dies hat damit zu tun, dass in der Biologie routinemäßig eine funktionale von einer evolutionären Erklärungsebene unterschieden wird.538 Betrachten wir ein Beispiel. In einer Monografie aus dem Bereich der Sozioökologie erläutern die Autoren, was Sozioökologie ist. Diese Disziplin untersuche, warum eine soziale Art eine bestimmte Form von Gemeinschaft bildet, und sie stelle die Frage, wie sich die jeweilige Gemeinschaftsbildung auf Überleben, Reproduktion, Kooperation und Konkurrenz der Individuen (des jeweiligen Geschlechts einer Art) auswirkt. Fragen nach dem Warum und dem Wie können in der Biologie auf Vgl. Butler 2000 („The evolution of tooth shape and tooth function in primates“); Ibbotson und Dreher 2005 („Visual Functions of the Retinorecipient Nuclei in the Midbrain, Pretectum, and Ventral Thalamus of Primates“); Hansell 2005: 1-32; Land und Nilsson 2001: 87-90. Für die Verwendung analoger funktionaler Begriffe (wie „Zweck“, „Aufgabe“, „Job“, „regulieren“, „kontrollieren“, „auslösen“, „versorgen“, „stützen“, „schützen“, „signalisieren“, „ablesen“, „entgiften“ usw.) in der Biologie vgl. Krohs 2004. 538 Diese Unterscheidung geht auf Tinbergen 1963 zurück. 537 231 unterschiedlichen Ebenen gestellt werden, etwa auf der Ebene der Physiologie oder der Entwicklung. Die Sozioökologie zielt auf eine andere explanatorische Ebene: „Socioecology frames the questions and answers in terms of how individuals’ evolved survival, mating, and rearing strategies interact with the physical and social environments to produce the sort of society that we see.“539 Es klingt ganz so, als würde die Sozioökologie Fragen und Antworten auf einer evolutionären Erklärungsebene stellen und sich auf Echte Funktionen beziehen. Doch die Autoren bestreiten dies, denn „the evolutionary history of a species is itself another valid level of explanation for the species’ behavior and society“.540 Hier ist ein weiterer Versuch: „The ‘functional’ level gets closer to what is meant, because in biology a trait’s function is often understood by the difference the trait makes to survival or mating or rearing“.541 Dies muss man so verstehen, dass die Funktion eines Merkmals in dem Beitrag besteht, den es zur Fitness eines Individuums leistet, d.h. zur Wahrscheinlichkeit, dass das betreffende Lebewesen mehr Nachkommen zeugt als Artgenossen. Dies entspricht aber nicht unserem wesentlich auf die Vergangenheit bezogenen Begriff der Echten Funktion. Wie um die Verwirrung um die Verwendung des Begriffs zu vergrößern, weisen die Autoren auf eine dritte Bedeutung hin: „However, ‘function’ also has mechanistic connotations or meanings. So, we will usually talk in terms of ‘payoffs’ in this book: the payoff is the consequence that the trait has for an individual’s ability to survive, or to mate, or to rear healthy offspring.”542 Offenbar wird der Begriff der Funktion mechanisch verstanden. Wie hängen diese unterschiedlichen Auffassungen zusammen? Bei den Funktionen von Merkmalen auf der evolutionären Ebene („evolved survival, mating, and rearing strategies“) wird auf die Herkunft des Merkmalträgers geachtet, da nach Entstehung und Weitergabe eines Merkmals aufgrund seines Beitrags zur Fitness der Vorfahren eines Individuums gefragt wird. Auf der funktionalen Ebene hingegen wird auf die Zukunft des Merkmalträgers geachtet, weil nach dem Beitrag des Merkmals zur Fitness eines aktuellen Individuums (oder einer aktuellen Gruppe) gefragt wird. Der Funktionsbegriff ist also temporal janusköpfig, er ist herkünftig und zukünftig. Merkmale, die zum Überleben von Lebewesen beitragen, weil sie das Lebewesen an seine (physische, biologische und soziale) Umwelt anpassen, werden als „Adaptationen“ bezeichnet. Ist eine Adaptation ein herkünftiges oder ein zukünftiges Merkmal? Manche Textbücher zur Evolutionstheorie definieren eine Adaptation historisch als Merkmal „that Harcourt und Stewart 2007: 4 (meine Hervorhebung). Harcourt und Stewart 2007: 5. 541 Harcourt und Stewart 2007: 5. 542 Harcourt und Stewart 2007: 5. 539 540 232 evolved because it improved relative reproductive performance“.543 Andere Autoren definieren Adaptationen ahistorisch, als Merkmale „that enhance the organism’s reproductive success in its natural environment“.544 Wir haben bereits gesehen, dass Adaptationen nicht von vornherein durch die Evolution definiert werden sollten, weil die Evolutionstheorie Adaptationen erklären soll, und zwar besser als beispielsweise theistische Erklärungen (2.2.). Doch wir operieren jetzt innerhalb der Biologie und damit schon unter Ausschluss der theistischen Alternative. So können wir folgende Unterscheidung einführen: Biologische Merkmale mit einer herkünftigen oder evolvierten Funktion können als „Adaptationen“ bezeichnet werden, und zwar im Sinn der historischen Definition. Freilich können wir auch fragen, wie die biologischen Merkmale eines aktuellen Individuums (oder einer aktuellen Gruppe) zur Fitness des Individuums (oder der Gruppe) beitragen. Hier geht es um die Bewertung von zukünftigen Payoffs. Solche Merkmale können als „adaptive Merkmale“ bezeichnet werden. Möchte man mit Bezug auf Adaptationen und adaptierte Merkmale die Wahrscheinlichkeit erklären, dass ein aktueller Organismus insgesamt in seiner Umwelt überlebt und sich reproduziert, so spricht man auch von „Adaptiertheit“.545 Adaptationen und adaptive Merkmale hängen zweifellos zusammen, denn Merkmale, die einen Beitrag zur Fitness der historischen Vorfahren eines Individuums geleistet haben, können natürlich auch einen Beitrag zur Fitness eines aktuellen Individuums leisten. Und ein Merkmal, über das ein aktuelles Individuum verfügt, weil es einen Beitrag zur Fitness der Vorfahren geleistet hat, muss tatsächlich einen Beitrag zur Fitness der Vorfahren geleistet haben. Allerdings müssen Merkmale, die tatsächlich einen Beitrag zur Fitness der Vorfahren geleistet haben, keinen Beitrag zur Fitness eines aktuellen Individuums leisten, denn das Merkmal des aktuellen Individuums kann ja seine Funktion auch nicht erfüllen, etwa weil es selbst funktionsuntüchtig ist oder weil sich Umweltbedingungen verändert haben. Ein Individuum mit artspezifischen Adaptationen kann deshalb insgesamt schlecht adaptiert sein. Intakte Adaptationen leisteten nicht nur einen Beitrag zur Fitness der Vorfahren aktueller Individuen, sondern können natürlich auch einen Beitrag zur Fitness aktueller Individuen leisten. Insofern besteht zwischen Adaptationen einer Art („evolved survival, mating, and rearing strategies“) und adaptierten Merkmalen eines Individuums („the consequence that the trait has for an individual’s ability to survive, or to mate, or to rear healthy offspring“) kein Gegensatz. Andererseits kann ein aktuelles Individuum jedoch auch ein biologisches Merkmal aufweisen, das einen Beitrag zur Fitness leisten könnte, ohne dass es jemals einen solchen Beitrag für die Stearns und Hoekstra 2005: 519. Ridley 2005: 468. 545 Vgl. Brandon 1996: 48-50. 543 544 233 Vorfahren des Individuums geleistet hätte, etwa wenn das Merkmal neu ist oder die Umweltbedingungen sich verändert haben. Ein Individuum kann also über adaptive Merkmale verfügen, die keine Adaptationen sind. Ich komme auf diesen Fall, der in den Augen einiger Kommentatoren ein Problem für die Theorie der Echten Funktion darstellen soll, am Schluss dieses Abschnitts zurück. Im Moment interessieren biologische Merkmale, die Adaptationen sind und somit eine Echte Funktion haben. Peter Godfrey-Smith definiert eine biologische Funktion wie folgt: „A current token of a trait T in an organism O has the function of producing an effect of type E just in case past tokens of T contributed to the fitness of O’s ancestors by producing E and were selected for (over alternative items) because of this contribution to the fitness of O’s ancestors.“546 Analog die Definition von Neander: „Die (oder eine) [Echte] Funktion eines Bestandteils (X) eines Organismus (O) ist es, das zu tun, was Bestandteile von Xs (homologem) Typ als Beitrag zur Gesamtfitness von Os Ahnen getan haben und was bewirkt hat, dass der Genotyp, dessen phänotypischer Ausdruck X ist, durch natürliche Selektion (proximal) selektiert wurde.“547 Diese beiden Definitionen sind prägnante Formulierungen dessen, was als „Standardsicht” biologischer Funktionen bezeichnet worden ist.548 Die Standardsicht ist historisch und teleologisch: Das Vorhandensein von biologischen Merkmalen mit Funktionen wird durch ihre evolutionäre Selektionsgeschichte erklärt. Sie beruht auf der Idee, dass biologische Merkmale mit Funktionen zu einem Merkmaltyp gehören müssen. Dieser Typ wird entweder als reproduktiv etablierte Eigenschaft der Mitglieder einer REF verstanden oder selbst als REF aufgefasst (1.1.4.). In der Standardsicht sind also biologische Funktionen Echte Funktionen. In beiden Definitionen finden sich Begriffe, die bereits an anderer Stelle diskutiert worden sind. Unter den Begriffen „Merkmal“ (Godfrey-Smith) oder „Bestandteil“ (Neander) haben wir sowohl Teile als auch Äußerungen eines Lebewesens verstanden, d.h. Organe, Formen, Verhaltensweisen und Produkte von Lebewesen (1.1.4.). Den Begriff des Vorfahren oder Ahnen haben wir im Zusammenhang mit der Diskussion der REF erläutert Godfrey-Smith 1994b: 359. Neander 2002a: 94. 548 Allen und Bekoff 1995. Es handelt sich um jene Sicht, die sich bei vielen Philosophinnen und Philosophen der Biologie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre herausgebildet hat. Vgl. Allen und Bekoff 1995; Buller 1998a; Godfrey-Smith 1993, 1994b; Griffiths 1992, 1993; Kitcher 1993; Matthen 1997; Mitchell 1995; Neander 1991a, 1991b, 1995; Price 1995. Für umfassendere und kritische Diskussionen der Standardsicht vgl. die Sammelbände Allen et. al. 1998; Ariew et al. 2002; Buller 1998b; Perlmann 2004; Schlosser und Weingart 2002. 546 547 234 (1.1.4.). Wir müssen jedoch etwas zu den Begriffen „Fitness“, „Homologie“, und „Proximalität“ sagen. Fitness: Die eingangs gegebenen Formulierungen der Standardsicht bestimmen die Echte Funktion eines biologischen Merkmals eines Lebewesens als dasjenige, das zur Fitness der Vorfahren des Lebewesens beigetragen hat. Verstehen wir Fitness als den relativen, lebenszeitlichen Reproduktionserfolg, inklusive der Wahrscheinlichkeit zu überleben,549 so fallen Funktion und Fitnesserhöhung nicht zusammen. Denn die Funktion eines Merkmals wird als dessen Beitrag zur Fitness der Vorfahren bestimmt. Echte Funktionen sind Fitness-Komponenten eines Merkmals, die Komponenten der Fitness von Vorfahren waren.550 Die Echten Funktionen von Merkmalen eines lebenden Organismus sind also jene Wirkungen, die zur Fitness der Vorfahren beigetragen haben und aufgrund dieses Beitrags selektiert worden sind. Analogie / Homologie: Neander nimmt in ihre Definition der biologischen Funktion den Ausdruck „homolog“ auf. Es wäre zu wenig, wenn nur analoge Merkmale Echte Funktionen hätten. Denn so würde ein großer Teil der Merkmale von Lebewesen aus dem Bereich der Echten Funktionen fallen. Analogien sind per definitionem funktional. Die strömungsgünstigen Körper von Schwertfischen, Pinguinen und Delfinen sind Analogien, weil ihre Strukturähnlichkeit sich durch ihre Funktion erklären lässt. Der Ausdruck „Analogie“ kann also nicht in die Definition aufgenommen werden, weil diese sonst den Begriff der Funktion enthalten würde. Homologien sind Strukturähnlichkeiten aufgrund gemeinsamer evolutionärer Herkunft. So weisen die Wirbeltierextremitäten von Maus, Adler und Blauwal denselben Grundbauplan auf. Die Flügel von Vögeln und Fledermäusen sind als Wirbeltierextremitäten homolog, als Flügel analog. Die Verwendung des Begriffs „Homologie“ in Neanders Definition ist etwas erweitert, weil sie nicht darauf festgelegt ist, nur von homologen Merkmalen zwischen Arten zu sprechen, wie dies in der Biologie häufig der Fall ist. Neanders Gebrauch von „homolog“ lässt z.B. auch iterative Homologien zu, wie es meine beiden Nieren oder die Daumen an meinen Händen sind. Funktionale biologische Kategorien sind homologe Kategorien, denn Echte Funktionen kommen biologischen Merkmalen nur als Mitgliedern einer REF zu, mithin nur Mitgliedern einer biologischen Abstammungslinie mit gemeinsamer evolutionärer Herkunft. Analoge Gruppen können aus homologen Gruppen gebildet werden, es sind Gruppen zweiter Ordnung.551 Stearns und Hoekstra 2005: 522. Vgl. Griffiths 1993. 551 Vgl. Neander 2002b; Matthen 1998, 2000. 549 550 235 Proximalität: Merkmale mit Echten Funktionen werden nicht nur selektiert, sondern können auch im weiteren Verlauf der Geschichte ihrer Träger eine positive Rolle spielen. Die natürliche Selektion stützt bildlich gesprochen ihre einmal getroffene Wahl, weil sich diese durch fortwährende Nützlichkeit auszeichnet. Selektierte Wirkungen waren nicht nur nützlich, sie bleiben nützlich. Biologische Merkmale können ihre Echte Funktion im Verlaufe der Evolution jedoch auch verändern, anreichern oder verlieren. Das heißt, sie bleiben nicht auf eine bestimmte Art und Weise nützlich. Die Standardsicht sollte Funktionswandel und Funktionsdegeneration nicht ausschließen. Dies kann (a) entweder dadurch geschehen, dass ein Merkmal eine alte Funktion verliert und eine neue annimmt, oder (b) dadurch, dass es seine alte Funktion behält und zusätzlich eine neue Funktion bekommt, oder (c) dadurch, dass ein Merkmal einer Art seine Funktion verliert. Deshalb führt Neander die proximale Selektion an. Die proximale Selektion beachtet nicht nur die historische Epoche der Entstehung einer Echten Funktion, sondern ebenso das Wirken der natürlichen Selektion in der letzten evolutionär signifikanten Epoche einer Art. In erster Linie brechen durch Speziation (Entstehung einer neuen Art) evolutionär signifikante Epochen an. Deshalb ist für die Theorie der Echten Funktion die biologische Art die relevante Bezugsgröße.552 Betrachten wir kurz drei Beispiele. (a) Funktionswandel. Bei Menschen wird in der Epiphyse (Zirbeldrüse) das Hormon Melatonin produziert. Die Melatoninausschüttung reguliert in erster Linie den Schlaf-wach-Rhythmus (und deshalb eignet sich Melatonin als Basis für Medikamente gegen Jetlag). Bei Fehlfunktion bewirkt die Epiphyse – außer einem gestörten Tagesrhythmus – beispielsweise eine beschleunigte Geschlechtsentwicklung. Die Epiphyse war ursprünglich ein lichtempfindliches Organ im Zwischenhirn, das seine Funktion im Laufe seiner Evolution verändert zu haben scheint. Die evolutionsgeschichtlich alte Art der neuseeländischen Brückenechse (Sphenodon punctatus) beispielsweise hat in der Mitte ihres Schädels eine mit einer durchsichtigen Membran überzogene Spalte, durch die Licht auf ihre Epiphyse fallen kann. Auf diesem Weg wird nicht der Wachrhythmus des Reptils reguliert, sondern der Farbwechsel seiner Haut. Die Funktion dieses Organs hat sich also gewandelt, denn die Funktion bei dem evolutionsgeschichtlich älteren Reptil ist eine andere als bei den jüngeren Säugetieren.553 Die Standardsicht kann den Funktionswandel einfangen, weil sie bestimmt, was sich wandelt, nämlich die Funktion relativ zu einer evolutionär signifikanten Epoche. (b) Exaptation. Die Vorderextremitäten von Meeresschildkröten haben die Funktion, diesen 552 553 Auf diesen wichtigen Punkt werde ich in den Abschnitten 3.3.1.-3.3.3. ausführlich eingehen. Vgl. Heldmaier und Neuweiler 2004: 424-428. 236 Tieren die schwimmende Fortbewegung zu ermöglichen. Zur Eiablage begeben sich Meeresschildkröten an Land und graben mithilfe ihrer Vorderextremitäten Löcher, in die sie ihre Eier ablegen. Offenbar haben die Vorderbeine eine zusätzliche Funktion erworben. Zur Normalen Erklärung der Ausübung der Echten Funktion eines Merkmals gehört die Nennung Normaler Bedingungen für die erfolgreiche Ausübung. Die Normale Bedingung für die Ausübung der älteren Funktion (Schwimmen) ist eine andere als jene für die Ausübung der neueren Funktion (Graben), und zwar in erster Linie deshalb, weil zu der Normalen Bedingung der älteren Funktion das Leben im Wasser gehört, zu jener der neuen Funktion hingegen das Leben auf dem Festland.554 (c) Verkümmerten Merkmalen sollten keine Echten Funktionen zugeschrieben werden, bloß weil es sich um Nachfahren von Merkmalen mit Echten Funktionen handelt. So können beispielsweise Grottenolme nicht sehen. Es erscheint daher müßig, ihren Augen die Funktion zuzuschreiben, zu sehen, auch wenn die Augen ihrer noch nicht in Höhlen lebenden Vorfahren durchaus in der Lage waren zu sehen.555 In der letzten evolutionär signifikanten Epoche der Grottenolme haben die Augen keinen Beitrag zur Fitness geleistet.556 Inwiefern bilden Merkmale mit biologischen Funktionen eine normative Kategorie? Einem biologischen Merkmal gelingt es nicht immer, seine Echte Funktion zu erfüllen. Dafür gibt es drei Möglichkeiten: Entweder misslingt die Ausübung aufgrund äußerer Umstände oder weil das Merkmal schlecht oder nur teilweise funktioniert oder weil es ganz und gar defekt ist.557 Trotzdem hat das Merkmal eine Funktion, und zwar aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem Typ mit einer Funktion. Solche Typen werden, wie wir gesehen haben, durch REFs gebildet (1.1.4.). Die Rechtfertigung, einem Merkmal eine Funktion zuzuschreiben, obwohl es sie nicht ausführt, liegt in der Zugehörigkeit zu einem Typ. Aufgrund dieser Zugehörigkeit hat ein Merkmal-Token auch dann eine Funktion, wenn es sie nicht erfüllt. Ein solches Token sollte etwas Bestimmtes tun, weil es zu einem Typ mit einer Funktion gehört. Dadurch werden auch nicht-normale oder abnorme Merkmal-Token 554 Zum Begriff der Exaptation vgl. Gould und Vrba 1982. Eine Diskussion der Exaptation im Rahmen der Standardsicht findet sich bei Millikan in WQP: II. 555 Zum Problem verkümmerter Merkmale vgl. Griffiths 1992. 556 Ganz im Gegenteil sind Exemplare mit funktionstüchtigen Augen zur Versorgung eines kostenintensiven Organs gezwungen, für das sie keine Verwendung haben. Einigen Auffassungen der regressiven Evolution zufolge existiert deshalb ein selektiver Druck nach Exemplaren ohne das versorgungsintensive Organ. Das schließt nicht aus, dass passive Faktoren zur Fixierung und Akkumulation von Verkümmerungen des Auges geführt haben. 557 Es kann viertens auch der Fall sein, dass ein biologisches Merkmal fehlt. Doch dann ist die Nichterfüllung seiner Funktion natürlich kein Fall einer vollständigen oder partiellen Fehlfunktion oder der Abwesenheit von Normalen Bedingungen. Die Abwesenheit eines Merkmals mit einer biologischen Funktion ist ein Defekt des Lebewesens, nicht des Merkmals. Ich komme im Zusammenhang der Diskussion spezifischer normativer Klassen darauf zurück. 237 eingeschlossen.558 Denn auch Merkmal-Token, die nicht oder teilweise oder falsch funktionieren, gehören zu einem Merkmaltyp mit einer Funktion. Ein solcher Typ bildet eine normative Kategorie. Funktionale normative Kategorien sind normativ, insofern sie Elemente enthalten können, die defekt sind. Biologische Merkmale mit Echten Funktionen, wie sie die Standardsicht definiert, bilden biologische funktionale normative Kategorien. Auch ein blindes, ein kurzsichtiges oder ein in Stockdunkelheit gehülltes Auge ist ein Auge, weil es zu einer normativen Kategorie gehört, deren Elemente eine Echte Funktion haben. Das Verständnis biologischer Funktionen als normativer Kategorien ist nicht müßig, es leistet sozusagen begriffliche Arbeit, und zwar in vier Hinsichten: (1) Funktionale normative Kategorien sind für die Biologie unverzichtbar, weil biologische Kategorien durch ihre Funktion definiert werden. Die Physiologie z.B. befasst sich mit den Funktionen von Teilen (Organen und Formen) von Lebewesen, die Neurologie mit der Funktion von Teilen des Gehirns usw. Solche Wissenschaften stellen ein Fundament für die Medizin dar und zwar genauer für deren Verständnis von Krankheit und Gesundheit, von defekten und intakten Teilen. Bei den Gegensatzpaaren „krank versus gesund“ oder „defekt versus intakt“ handelt es sich um normative Begriffspaare. Die Normativität dieser Begriffspaare, bezogen auf die Organe und auf die Formen von Lebewesen, leitet sich von den Echten Funktionen dieser Teile ab. (2) Die Bildung funktionaler normativer Kategorien hat darüber hinaus den Vorteil, dass sie eine Abstraktion von konkreten Strukturen erlaubt. Diese Abstraktionsleistung ermöglicht die Bildung umfassender Kategorien und erlaubt es, Zusammenhänge zu erkennen. Die Ethologie etwa befasst sich mit den Funktionen von Äußerungen von Lebewesen, insbesondere von Verhaltensweisen. Sie klassifiziert solche Verhaltensweisen aufgrund von Funktionen.559 Wie wir gesehen haben, sind Erklärungen in der Biologie stets auch Vereinheitlichungen. Funktionale normative Kategorien sind Kategorien, die in einem Gegenstandsbereich zur Vereinheitlichung beitragen. Die Grundlage dieser Vereinheitlichungen ist wiederum das verallgemeinerte Argumentationsschema der einfachen Selektion (2.3.).560 (3) Funktionale normative Kategorien geben der Biologie eine objektive Grundlage. Ob biologische Merkmale eine Funktion haben, kann entdeckt und intersubjektiv überprüft Es handelt sich, wie Neander 2002b: 393 sagt, um „abnormality inclusive categories“. Vgl. die Diskussion über den Begriff des Verhaltens in Abschnitt 1.2.5. und WQP: VII. 560 Insofern gilt Dobzhanskys berühmtes Diktum „Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution“ (vgl. Dobzhansky 1973). Das Diktum war ursprünglich nicht in erster Linie auf die Theorie der natürlichen Selektion, sondern auf die Theorie der gemeinsamen Abstammung bezogen, doch es hat mittlerweile aus guten Gründen eine andere Funktion erhalten als die von ihrem Erfinder intendierte. 558 559 238 werden, spezifische Funktionszuschreibungen können empirisch widerlegt werden.561 Biologische Funktionen sind objektiv, insofern sie nicht beobachterrelativ und nicht eliminierbar sind.562 Im Zuge der Kritik an Searles Funktionsthese (3.2.1.) habe ich gesagt, dass Funktionen ontologische Objektivität zukommt. Sie existieren nicht als beobachterrelative Eigenschaften. Was spricht für die ontologische Objektivität biologischer Funktionen? Wenn wir biologische Funktionen als Echte Funktionen verstehen, können wir ein einfaches Argument für den Funktionsrealismus aufstellen. Man kann das Argument intuitiv zunächst so formulieren: Lebewesen haben Merkmale mit Funktionen entwickelt, lange bevor wir sie als Merkmale mit Funktionen konzeptualisiert haben, und daher unabhängig von uns. Ebenso haben wir Menschen Merkmale mit Funktionen entwickelt, lange bevor wir sie konzeptualisiert haben. Das Argument für den Realismus für biologische Funktionen lautet entsprechend: (i) Biologische Funktionen sind selektierte Effekte und damit das Ergebnis der natürlichen Selektion. (ii) Evolution durch natürliche Selektion ist ein realer und beobachterunabhängiger Prozess. (iii) Die direkten Ergebnisse solcher Prozesse sind gleichfalls real und beobachterunabhängig. (iv) Also sind biologische Funktionen real und beobachterunabhängig. (4) Die Standardsicht kann verschiedene Schwierigkeiten beheben, die die teleologische Natur von Funktionen, die auch von Gegnern der Standardsicht nicht bestritten wird, jeder Funktionstheorie bereitet. Wir haben bereits gesehen, wie die Behebung einer Schwierigkeit aussieht, nämlich der Normativität von Funktionszuschreibungen. Ich nenne zwei weitere Schwierigkeiten, die die Standardsicht behebt, bevor ich auf grundlegende Einwände gegen die Standardsicht zu sprechen komme. (a) Rückwärtskausalität. Wenn die Existenz eines Merkmals durch die Wirkung dieses Merkmals erklärt wird, dann haben wir es scheinbar mit einer Art von Rückwärtskausalität zu tun. Dies erweckt den Anschein, es handle sich um eine bloß analoge Zuschreibung, die auf dem Modell der Handlung beruht. Bei einer Handlung gehen die Wirkungen einer Handlung ihrem Auftreten als Handlungsintention voraus. Bei biologischen Funktionen gehen einem aktuellen Merkmal-Token Token voraus, die Wirkungen haben, welche erklären, warum das aktuelle Token existiert und eine bestimmte Wirkung als Funktion hat. Seit Darwins Rehabilitierung der natürlichen 561 Vgl. das Beispiel der unscheinbaren Schnecke Cepaea nemoralis. Ernst Mayr hatte über das Gehäuse dieser Schnecke behauptet: „There is no reason to believe that the presence or absence of a band on a snail shell would be a noticeable selective advantage or disadvantage.“ (Mayr 1942: 75) Demgegenüber haben Cain und Sheppard 1954 Hinweise darauf gegeben, dass die Farbe der spiralförmigen Bänder auf den Schneckengehäusen Funktionen der Tarnung zu erfüllen scheint (vgl. dazu auch Cook 2008). Zur Bedeutung dieser Schnecken im Kontext evolutionstheoretischer Debatten vgl. Millstein 2009. 562 Zur Nicht-Eliminierbarkeit vgl. die Abschnitte 2.2.-2.3. 239 Teleologie brauchen wir weder Rückwärtskausalität noch Handlungsanalogien, um dies zu verstehen. Darwin therapiert das Paley-Syndrom (2.1.). (b) Abgrenzungen. Die Funktion eines biologischen Merkmals muss von (i) bloßen Dispositionen, (ii) Nebeneffekten und (iii) dem Funktionieren-als unterschieden werden. (i) Viele biologische Merkmale können verbrennen oder gegessen werden; Arterien können verstopfen, Füße riechen usw. Doch diese Dispositionen sind keine biologischen Funktionen. Denn es handelt sich dabei nicht um selektierte Wirkungen, nicht einmal um selektiere Dispositionen dieser Merkmale. (ii) Viele biologische Merkmale haben zahlreiche Wirkungen und Eigenschaften. So macht das Herz Klopfgeräusche, der Magen gurgelt, Füße hinterlassen Abdrücke, Handbewegungen wirbeln Luft auf usw. Doch diese Wirkungen sind Nebeneffekte, weil es sich nicht um selektierte Wirkungen dieser Merkmale handelt. (iii) Fällt ein Igel von einer Mauer, federt sein Stachelkleid den Sturz ab, der Flug der Gänse zeigt den nahenden Winter an usw. Diese Merkmale funktionieren als Abfederung, als Wettervorhersage usw. Doch keine dieser Funktionen-als ist eine selektierte Funktion. Trotz dieser Vorzüge ist die Standardsicht natürlich nicht ohne Widerspruch geblieben.563 Fassen wir nochmals die wesentlichen Punkte zusammen: Entscheidend dafür, dass biologische Funktionen eine normative Dimension haben, ist ihre Zugehörigkeit zu einer normativen Kategorie. Normative Kategorien sind dadurch definiert, dass sie defekte Mitglieder enthalten können. Merkmal-Token, so haben wir gesagt, gehören zu einem Merkmal-Typ, der durch eine REF gebildet wird. Dies scheint zwei merkwürdige Konsequenzen zu haben: Erstens hat ein neu entstandenes Merkmal, das durchaus adaptiv ist, per definitionem keine Echte Funktion, weil es nicht zu einer REF gehört. Es scheint aber seltsam, dass ein adaptives Merkmal keine Funktion haben soll.564 Zweitens kommt die Echte Funktion dem Typ eines Merkmals zu und nur abgeleitet dem Token. Aber wie können Typen Wirkungen haben? Überfordert dies nicht die ontologische Kategorie des Typs?565 Ich diskutiere diese beiden Einwände, indem ich mit dem zweiten Einwand beginne. Friedemann Buddensiek beispielsweise kritisiert Neanders Formulierung der Standardsicht in dieser Richtung. Er tut dies aber aufgrund einer falschen Annahme, die er ausgehend von der folgenden Passage bei Neander trifft: Vgl. Cummins 1975; Ehring 1985; Davies 2000; McLaughlin 2001; Cummins 2002; Töpfer 2004. Vgl. McLaughlin 2001. 565 Buddensiek 2006: 188ff. 563 564 240 „Biological proper functions belong primarily to types and only secondarily to their biological parts and processes. A particular piece of genetic material, or a particular instance of a trait (your thumb, Reagans’s nose) cannot be selected by natural selection which operates over whole populations.“566 Da die Kritik auf einer falschen Annahme beruht, können wir die Kritik selbst zunächst außer Acht lassen, und uns auf die Annahme konzentrieren. Dies wird zusätzlich zu einer Klärung dessen beitragen, was es heißt, dass biologische Merkmale eine funktionale normative Kategorie bilden. Buddensiek versteht Neander im Hinblick auf die zitierte Stelle so, als würde sie sagen, Populationen seien Typen.567 Doch Neander weist im Kontext dieser Stelle nur darauf hin, dass biologische Merkmale im Gegensatz zu Merkmalen von Artefakten nicht direkt Gegenstand eines Selektionsprozesses sein können. Die Evolution wählt keine Nase aus und pflanzt sie Reagan ins Gesicht, doch der Baumeister wählt ein Element aus und setzt es ein. Gemäß der Standardsicht kann die Echte Funktion unseres beweglichen Daumens, die darin besteht, den gezielten Griff nach und das Festhalten von Objekten zu ermöglichen, wie folgt erklärt werden: Durch diese Wirkung hatten Daumen zur Fitness unserer Vorfahren beigetragen, was dazu geführt hatte, dass der zugrunde liegende Genotyp, dessen phänotypischer Ausdruck das Vorhandensein von Daumen ist, im Genpool unserer Vorfahren proportional häufiger repräsentiert war als Alternativen ohne dieses Merkmal. Dieses Merkmal findet sich bei uns nach wie vor, und es hat seine Funktion weder verändert noch ist es verkümmert, d.h. es ist durch die natürliche Selektion proximal selektiert worden. Verkürzt kann man sagen: Die selektierte Wirkung des Daumens von Wesen meiner Art ist der gezielte Griff nach und das Festhalten von Objekten, und deshalb ist dies die Funktion meiner Daumen. Aber ich habe meine Daumen nicht, weil sie die natürliche Selektion dort hingesetzt hat, sondern weil ich zu einer Art gehöre, die diesen Merkmaltyp hat. Auch Menschen ohne Daumen gehören zu einer Art mit diesem Merkmaltyp. Auch verformte oder gebrochene Daumen haben die angegebene Funktion. Die Typenzugehörigkeit, um die es geht, ist also nicht die Zugehörigkeit zu einer biologischen Art oder Population, sondern die Zugehörigkeit (meines Daumens) zu einem biologischen Merkmal (dem Daumen). Dieses Merkmal besitzen Lebewesen (Menschen) zwar, insofern sie zu einer Art (der Mensch) gehören, aber dabei handelt es sich nicht um den funktionalen Typ, nach dem wir hier suchen. Lebewesen, Populationen, Arten haben keine Funktionen, sondern deren Teile und Äußerungen. Teile und Äußerungen von Lebewesen sind natürlich keine Populationen. 566 567 Neander 1991a: 174. Buddensiek 2006: 189f. 241 Aufgrund dieses Missverständnisses finden sich bei Buddensiek eine Reihe von Fragen, auf die er keine Antwort gibt, weil er der Ansicht zu sein scheint, dass allein die Fragen das Verständnis biologischer Funktionen als Echten Funktionen ad absurdum führen: „Es ist ferner eine etwas lockere Redeweise, von biologischen ‚proper functions’ zu sagen, sie ‚gehörten’ primär zu Typen, nur sekundär zu Tokens. Was heißt hier ‚gehören’? Was heißt ‚primär gehören zu’ im Unterschied zu ‚sekundär gehören zu’? Und inwiefern sollten Funktionen primär zu Typen, sekundär zu Tokens gehören können?“568 Die Redeweise ist nicht locker. Nehmen wir wiederum den Daumen und seine Echte Funktion F (der gezielte Griff nach und das Festhalten von Objekten). Daumen bilden eine REF21, die wir als „D-REF21“ bezeichnen können. Daumen werden durch Mitglieder einer REF1 (die für die Hervorbringung von Daumen verantwortlichen genetischen Merkmale unseres Genotyps) hervorgebracht, die die Direkte Echte Funktion haben, Daumen hervorzubringen. Daumen sind ja keine direkten, sondern indirekte Reproduktionen voneinander. Der Typ wird also durch D-REF21 gebildet. Meine Daumen haben Vorfahren als Mitglieder von D-REF21. Die Bildung des Typs ist also ein kontinuierlicher, raumzeitlicher Prozess, wobei die Mitglieder des Typs durch die Reproduktion auf eine spezifische kausale Weise miteinander verbunden sind. Die Mitglieder von D-REF21 sind raumzeitlich und kausal miteinander verbunden. Weil meine Daumen Vorfahren in DREF21 haben, verfügen sie über eine Echte Funktion. Aus diesem Grund gehören sie zu einer biologischen funktionalen normativen Kategorie. Allerdings scheinen die Fragen, die Buddensiek aufwirft, keine besonderen Probleme mehr zu bereiten. Echte Funktionen gehören primär zu Typen, weil sie Token nur als Mitgliedern einer REF, die den Typ bildet, zukommen. Aus demselben Grunde gehören Echte Funktionen nur sekundär zu einem Token. Die Echte Funktion gehört zum Typ, weil Vorfahren eines aktuellen Tokens bestimmte Wirkungen ausübten, was dazu führte, dass aktuelle Token dieses Typs existieren. Buddensieks Fragen liegt folgende Annahme zugrunde: Nur Token können Wirkungen und mithin Funktionen haben, Typen können keine Wirkungen haben, denn Typen sind abstrakte Kategorien, abstrahiert aus den Wirkungen, die bestimmte Token haben.569 Aber eine REF ist keine abstrakte Kategorie, sondern eine raumzeitlich Buddensiek 2006: 189. Buddensiek 2006: 189: „Es ist nicht die Funktion des Typs Herz, Blut zu pumpen. Es ist ein Merkmal jedes Tokens des Typs (der Herzen), eine bestimmte Funktion (Blut zu pumpen) zu besitzen und auszuüben, und dieses Merkmal bestimmt gegebenenfalls die Typenzugehörigkeit. […] Typen pumpen kein Blut, und sie können auch nicht die Funktion haben, Blut zu pumpen.“ 568 569 242 ausgedehnte, kausal verbundene Familie.570 Zu einem Typ zu gehören wird hier also auf eine ähnliche Weise verstanden, wie zu einer Familie zu gehören. Natürlich kann man darauf beharren, dass nicht die Habsburger auf dem Thron Österreichs saßen, sondern bestimmte Familienmitglieder. Aber warum sollte man? Es trifft sicher zu und ist keine metaphorische Redeweise, dass die Habsburger Hunderte von Jahren auf Österreichs Thron saßen. Ebenso kann man darauf beharren, dass nur bestimmte Herzen Blut pumpen. Aber diese Herzen sind Mitglieder einer Familie, die Blut pumpt. Ohne die Existenz dieser Familie würde kein Herz Blut pumpen können. Es sei, so Buddensiek, ein Merkmal jedes Herz-Tokens eine bestimmte Funktion zu besitzen und auszuüben. Doch das ist falsch. Manche aktuellen Herzen pumpen kein Blut und üben die Funktion mithin auch nicht aus. Doch wenn sie sie nicht ausüben, warum haben sie dann die Funktion Blut zu pumpen? Nun, aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Typ, der die Funktion hat, Blut zu pumpen, und nicht umgekehrt: Aktuelle Herzen gehören nicht zum Herztyp, weil sie Blut pumpen. Es ist die Zugehörigkeit zu einem Typ, der auch nicht funktionierenden Herzen die Funktion zukommen lässt, Blut zu pumpen. Dieser Typ umfasst also defekte Mitglieder. Und deshalb ist er eine normative Kategorie. Wenden wir uns nun dem ersten Einwand zu, nämlich dem Problem der Adaptiertheit eines Merkmals ohne Echte Funktion, auf das wir bereits am Anfang dieses Abschnitts gestoßen sind. Bevor ein Merkmal selektiert worden ist, hat es keine Echte Funktion, aber es hat natürlich bestimmte Wirkungen, die für seinen Besitzer nützlich sein können. Ist es nun nicht seltsam, dass ein solches Merkmal per definitionem keine Funktion haben soll? Ist es nicht seltsam, dass ein solches Merkmal nach ein paar Generationen plötzlich eine Funktion erhalten soll? Nein, ist es nicht. Ein adaptives Merkmal kann eine kausale Rolle spielen ohne eine Echte Funktion zu haben. Die Funktionen eines durch eine Mutation entstandenen biologischen Merkmals bestehen einfach in seinen mehr oder weniger zahlreichen kausalen Rollen, die es spielt, und im günstigen Fall leistet eine dieser Rollen einen Beitrag zur Erhöhung der Fitness seines Trägers. Die Funktion kann in beiden Fällen auf kausale Rollen reduziert werden. Für den günstigen Fall gilt: Würde das neue Merkmal keine kausale Rolle spielen, so wäre es kein adaptives Merkmal. Eine Adaptation hingegen hat eine Echte Funktion, ohne irgendeine kausale Rolle zu spielen und ohne seine selektierte kausale Rolle zu spielen. Diese normative Dimension unterscheidet die Echte Funktion der Adaptation von der die Fitness erhöhenden Wirkung des adaptiven Merkmals. Sie kommt einem Merkmal-Token als Mitglieder eines Typs zu, den wir für Echte Funktionen als eine REF bestimmt haben. Es ist deswegen nicht seltsam, 570 Vgl. den individualistischen Artbegriff, der in Abschnitt 3.2.3. eingeführt wird. 243 dass ein adaptives Merkmal erst nach ein paar Generationen plötzlich eine Echte Funktion erhält, vielmehr erklärt dies erst, wie ein Merkmal-Token überhaupt eine Echte Funktion haben kann. Es wäre eher seltsam, wenn ein Merkmal-Token eine Echte Funktion hätte, ohne Vorfahren zu haben. Folglich ist es keineswegs seltsam, dass ein adaptives Merkmal per definitionem keine Echte Funktion hat. Es hat eine Cummins-Funktion, insofern es einen kausalen Beitrag zur Fitness seiner Träger leistet. Worin besteht die Verbindung zwischen dem kausalen Beitrag eines adaptiven Merkmals und der Echten Funktion seiner Nachfahren? Merkmale mit einer Echten Funktion üben diese erfolgreich aus gemäß einer Normalen Erklärung. Eine Normale Erklärung erklärt, wie Mitglieder einer REF ihre Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt haben (1.1.4.). Die Art und Weise wie ein neues adaptives Merkmal seine kausale Rolle gespielt hat, folgt derselben Erklärung. Nur kann es sich um keine Normale Erklärung handeln, da zum Zeitpunkt der erfolgreichen Ausführung noch nicht klar ist, ob das Merkmal gleichsam Gründer einer Familie werden wird oder nicht. Familiengründungen können misslingen, und dann ist ein vermeintlicher Gründer natürlich kein Gründer einer Familie. 3.2.4. Das Auge als Beispiel Wir sollten nun die Darstellung und Verteidigung der Standardsicht auf die Diskussion um die natürliche Normativität zurückführen. Inwiefern ist es sinnvoll, von einem Mitglied einer biologischen funktionalen normativen Kategorie zu sagen, es sei „gut“ bzw. es sei „schlecht“? Und inwiefern wird mit einem normativen Begriff benannt, was die Mitglieder dieser normativen Kategorien tun sollen? Welche Arten von Tatsachen sorgen dafür, dass Mitglieder einer biologischen funktionalen normativen Kategorie gute Mitglieder sind? Ich möchte diese Fragen anhand eines Beispiels beantworten, nämlich anhand des Auges. Die Antwort auf solche Fragen findet sich in Biologiebüchern, die von tierlichen Augen handeln, etwa in Animal Eyes von Michael Land und Dan-Eric Nilsson.571 Die Biologie liefert eben nicht nur Fakten, wie Dretske und Papineau meinen, sondern aufgrund ihres Gegenstands, den biologischen Merkmalen, liefert sie auch natürliche Normen. Das Tierreich kennt zahlreiche Formen, die wir als „Augen“ bezeichnen. Quallen und Seesterne verfügen über Flachaugen, bei Plattwürmern und Muscheln finden sich Grubenaugen, der Nautilus und Meeresschnecken haben Lochaugen, Insekten Facettenaugen, Tintenfische und Mäuse verfügen über Linsenaugen, wobei sich die Linsenaugen der Wirbeltiere und der Tintenfische unabhängig voneinander entwickelt 571 Land und Nilsson 2001, vgl. auch Land und Nilsson 2006. 244 haben dürften.572 Trotz der Vielheit kann man die Frage stellen, was diese unterschiedlichen Sinnesorgane zu Augen macht. Diese Frage ist nicht müßig. Will man beispielsweise die Evolution des Auges untersuchen, muss man wissen, die Evolution von was man untersucht. Was also ist ein Auge? In erster Annäherung kann man Augen als lichtempfindliche Organe der räumlichen Wahrnehmung betrachten. Einige primitive Organismen bewegen sich aufgrund von Lichtverhältnissen entweder zum Licht hin oder vom Licht fort. Nun würde man die Organe für diese positive oder negative Fototaxis nicht als Augen bezeichnen wollen. Wenn wir jedoch sagen, Augen seien multidirektionale, lichtempfindliche Organe zur räumlichen Wahrnehmung, dann scheiden Fotorezeptoren von Bakterien oder die Lichtsinneszellen von Würmern aus, die lediglich Hell-dunkelDifferenzierung ausmachen können. Hier nun die Definition von Land und Nilsson: „We define an eye as an organ of spatial vision, in which different receptors view slightly different directions in space. Such an eye may achieve this simply by shadow (planarian eye) or by more sophisticated optical arrangements. This definition would exclude structures, such as the photoreceptors of fly larvae, where the shadowing is unidirectional. Spatial vision requires simultaneous comparison of light levels in different directions.“573 Die Definition für das Auge, die sich im ersten Satz dieses Zitats findet, weist das Auge als eine funktionale Kategorie aus. Augen haben die Funktion, ihren Trägern räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen, und sie tun dies, indem sie multidirektional Lichtintensitäten absorbieren. Anders formuliert: „Eyes are devices for extracting useful information from the light reflected or emitted from objects in the world around us.“574 Die Räumlichkeit dieser Wahrnehmung bedeutet also nicht, dass ein Lebewesen mit Augen allein schon deshalb, weil es über Augen verfügt, einen (egozentrischen oder allozentrisch strukturierten) Raum mit Objekten wahrnimmt, sondern lediglich, dass es Lichtintensitäten von unterschiedlichen Raumstellen unterschiedlich stark absorbiert. Augen haben als PMechanismen lediglich die Funktion, Strukturen auszubilden, die die Extraktion nützlicher Informationen erlauben. Deshalb gilt: „In terms of function there is only gradual difference between the eyes of flatworms and humans.“575 Tieraugen bilden eine REF, deren Mitgliedern die Echte Funktion zukommt, ihren Träger lichtbasierte multidirektionale Das Linsenauge der Wirbeltiere bildet also für sich eine homologe Kategorie, zusammen mit dem Auge der Tintenfische jedoch eine analoge Kategorie. 573 Land und Nilsson 2001: 14. 574 Land und Nilsson 2001: 16. 575 Land und Nilsson 2001: 4. 572 245 räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen. Anders als für Darwin576 stellt es heute keine besondere Schwierigkeit mehr dar, sich die Entstehung des Auges und der unterschiedlichen Augentypen als einen Prozess der Evolution durch natürliche Selektion vorzustellen. Augen „entstehen in der Evolution leicht, schnell und beim geringsten Anlasse“.577 Der entscheidende externe Faktor kann dabei als „an ongoing selection favouring better spatial resolution“ betrachtet werden.578 Wenn Augen nun eine normative Kategorie bilden, müssen wir zwischen guten und schlechten, besseren und schlechteren Augen unterscheiden können, und die hierfür relevanten normativen Begriffe müssen sich bereits in der Funktionsbestimmung finden lassen. Ein Auge muss einerseits lichtempfindlich sein, und es muss andererseits die Richtungen, aus denen Licht kommt, unterscheiden können. Jedes Auge muss also sowohl zur Auflösung als auch zur Lichtempfindlichkeit fähig sein. Auflösung ist die Genauigkeit der Richtungsbestimmung von Licht, Empfindlichkeit ist die Fähigkeit der Lichtabsorption. Ein gutes Auge kann somit als ein Auge bestimmt werden, das unter variierenden Lichtintensitäten über eine gute Auflösung verfügt: „Eyes can be characterizied by their resolution and sensitivity. Resolution is the fineness, in angular terms, with which the optical environment is sampled. Sensitivity is quantifiable as the number of photons a receptor receives when the eye is viewing a scene of standard luminance.“579 Die normativen Begriffe für die Kategorie des Auges sind Auflösung und Empfindlichkeit. Je besser ein Auge unter variierenden Lichtintensitäten auflöst, desto besser ist es qua Auge. Aus dieser Perspektive haben Adler bessere Augen als Schnecken, was jedoch nicht bedeutet, dass Schnecken defekte oder abnormale Augen hätten. Augen, die nicht lichtempfindlich sind, Augen die nicht auflösen, sind defekte Augen. Somit ist das Tierauge eine biologische, funktionale normative Kategorie. Die Echte Funktion bestimmt, was Augen sind, wie Augen sein sollen und was gute Augen sind. 576 Darwin 1968: 217 „To suppose that the eye with all its inimitable contrivances for adjusting the focus to different distances, for admitting different amounts of light, and for the correction of spherical and chromatic aberration, could have been formed by natural selection, seems, I freely confess, absurd in the highest degree. When it was first said that the sun stood still and the world turned round, the common sense of mankind declared the doctrine false; but the old saying of Vox populi, vox Dei, as every philosopher knows, cannot be trusted in science. Reason tells me, that if numerous gradations from a simple and imperfect eye to one complex and perfect can be shown to exist, each grade being useful to its possessor, as is certainly the case; if further, the eye ever varies and the variations be inherited, as is likewise certainly the case; and if such variations should be useful to any animal under changing conditions of life, then the difficulty of believing that a perfect and complex eye could be formed by natural selection, though insuperable by our imagination, can hardly be considered real.“ 577 Dawkins 2001: 214. 578 Land und Nilsson 2001: 8 (meine Hervorhebung). 579 Land und Nilsson 2001: 55. 246 Natürlich können auch die Leistungen eines Adlerauges genauer spezifiziert werden, entsprechend ändert sich auch der Rahmen dessen, was als ein gutes und was als schlechtes oder defektes Adlerauge zu gelten hat. Die REF, die nun den normativen Rahmen für die Beurteilung von Augen abgibt, ist nun die Familie der Habichtartigen (Accipitridae) – zu der die meisten, aber nicht alle Greifvögel, die wie als „Adler“ bezeichnen, gehören – oder eine spezifische Art, wie etwa der Steinadler (Aquila chrysaetos).580 Hierbei müssen wir nicht nur die Fähigkeiten eines Auges – nicht nur den PMechanismus – einbeziehen, sondern auch die Fähigkeiten der K-Mechanismen, die die Extraktion nützlicher Informationen ermöglichen. Hier erst kann es darum gehen, zu bestimmen, was (welche Objekte, Eigenschaften, Sachverhalte) Lebewesen sehen. Augen stellen den Lebewesen lediglich R-Vehikel mit einem R-Inhalt zur Verfügung. Visuelle RVehikel korrespondieren mehr oder weniger gut mit der Verteilung von Lichtenergie in der optischen Umgebung eines Lebewesens, und zwar je nach Auflösung und Empfindlichkeit. Die Echte Funktion der visuellen Vehikel ist von der Echten Funktion der Augen – der PMechanismen – abgeleitet, die Gutheit eines visuellen Vehikels von der Gutheit von Augen. Welche Art von Informationen aus den visuellen Vehikeln extrahiert wird, darüber entscheidet der K-Mechanismus. Erst durch einen Konsumenten wird diesen Vehikeln ein IR-Inhalt verliehen (1.1.4.). Land und Nilsson unterscheiden an anderer Stelle eine Reihe von Funktionen von VS. Sie unterscheiden (a) Interaktionen mit unbelebten Objekten, (b) Interaktionen mit belebten Objekten und (c) komplexe Aktionstypen höherer Wirbeltiere. Zu (a) zählen die Beibehaltung der Fortbewegungsrichtung, die Umgehung von Hindernissen, Orientierung mittels Orientierungspunkten, Entfernungen oder Himmelskörpern, das Wiederfinden von Wohn- und Futterplätzen etc. Unter (b) fallen Finden und Verfolgen von Beute, Entdeckung und Vermeidung von Feinden, Entdeckung und Verfolgung von Paarungspartnern, Erkennung von Gruppenmitgliedern etc. Bei (c) schließlich finden sich eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher tierlicher, aber vorwiegend menschlicher Tätigkeiten, wie die Herstellung und Handhabung von Werkzeugen, das Herstellen von Bildern oder der Genuss eines Films. Zwar sprechen Land und Nilsson hier von einer „list of functions of eyes in animals“,581 doch nun ist mit „Funktion“ nicht mehr die Funktion des Auges als P-Mechanismus gemeint, sondern die Funktion des visuellen Systems für ein Lebewesen. Darin eingeschlossen finden sich nun natürlich die K- Wie wir bereits im Zusammenhang mit der proximalen Selektion und den evolutionär signifikanten Epochen gesagt haben ist die biologische Art der angemessene Rahmen der Beurteilung der Gutheit eines Merkmals. Ich werde für diese Behauptung ausführlich in 3.3. argumentieren. 581 Land und Nilsson 2006: 173. Der Verweis auf die „standard luminance“ kann im Sinne einer Normalen Bedingung aufgefasst werden. 580 247 Mechanismen.582 Das Adlerauge ist auch in dieser Hinsicht besser als das Auge einer Schnecke, weil es seinem Träger mehr Information zur Verfügung stellen kann. Wie finden wir nun heraus, was es ist, das bestimmte Lebewesen sehen? Wiederum ist die biologische funktionale normative Kategorie des Auges hierbei nicht müßig, sondern leistet Arbeit. Als Faustregel kann man sagen: „We might infer what an animal is adapted to see by discovering what is sees best.“583 Das, was ein Lebewesen am besten sieht, ist dasjenige, worauf es aufgrund der Echten Funktion seiner Augen auf eine bestimmte Art und Weise reagiert. Da die Frage auf das VS als eine Adaptation zielt, ist der Rahmen für diese Frage natürlich nicht ein individueller Organismus, sondern mindestens eine biologische Art. Springspinnen (Salticidae) sind in der Forschung aufgrund ihrer guten Augen und ihres ausgeklügelten visuellen Systems bekannt. Die Augen der Angehörigen der Springspinnen-Familie sind zu einer hohen räumlichen Auflösung fähig.584 Weiterhin zeigen diese Spinnen gegenüber Artgenossen ein besonderes, inter- und intrasexuelles differenziertes Signalverhalten, das sich auf visuelle Reize stützt.585 Diese Spinnen weben keine Netze, sie schleichen und springen ihre Beutetiere an. Dazu müssen sie Beutetiere erkennen und von Artgenossen unterscheiden können. Beutetiere werden attackiert, Artgenossen lösen das artspezifische Signalverhalten aus.586 Einige Springspinnenarten weisen raffinierte Formen von Mimikry auf. So ist z.B. die Springspinne Myrmarachne assimilis eine Ameisen-Mimin. Ihr Modell ist die aggressive Asiatische Weberameise.587 M. assimilis profitiert davon, dass ihre Raubfeinde sie nicht von Weberameisen unterscheiden können und aus diesem Grund hält sich M. assimilis unter diesen Ameisen auf. Doch gerade weil Weberameisen aggressiv sind, muss M. assimilis zugleich vermeiden, selbst Opfer der Ameisen zu werden; sie muss es vermeiden, Weberameisen zu attackieren oder von ihnen attackiert zu werden. Da nun M. assimilis Beute fangen muss, unter Weberameisen lebt, Attacken des Modells aber vermeiden muss, scheint sie Beutetiere, Artgenossen und Modelle unterscheiden zu können.588 Tests ergeben, dass M. assimilis die drei Obzwar Land und Nilsson im Allgemeinen konsistent zwischen dem Organ Auge und dem visuellen System und den jeweiligen Funktionen unterscheiden, ist dies lediglich ein weiteres Beispiel dafür, dass der Begriff der Funktion für die Biologie zwar grundlegend, aber ungeklärt ist. 583 Osorio et al. 2005: 99. 584 Vgl. Land 1969a, 1969b; Harland und Jackson 2004. 585 Vgl. Jackson und Pollard 1997. 586 Die Springspinne Salticus scenicus beispielsweise scheint Artgenossen und Beutetiere anhand der Beine der Artgenossen zu unterscheiden, und zwar anhand von Reizen wie Dicke, Dichte und dem Vertikalwinkel 25°30° relativ zum Körper, vgl. Drees 1952. 587 Vgl. Nelson 2005; Nelson und Jackson 2007. 588 Die Art von Mimikry, die die Spinne vor potenziellen Fressfeinden, die Weberameisen meiden, schützt, wird als „Batesian Mimikry“ bezeichnet. Bates-Mimikry ist eine Form der Mimikry, die als „täuschendes Signal“ bezeichnet werden kann. Signale sind (nach der Theorie von Maynard-Smith und Harper 2003) Strukturen oder Verhaltensweisen eines Senders, die die Funktion haben, das Verhalten eines Empfängers zu beeinflussen. Bei täuschenden Signalen profitiert allein der Sender von der Verhaltensänderung des 582 248 Stimulusklassen Artgenosse, Beute, Modell unterscheiden kann. Dazu testet man diese Spinne mit Artgenossen, Beutetieren, Modellen sowie Ameisen, die dem Mimen und dem Modell optisch weniger ähnlich ist als der Mime dem Modell. Diese Tests erfolgen allein aufgrund optischer Reize, unbeeinflusst von chemischen Reizen, die von den vier Stimulusklassen eventuell ausgehen könnten. Der Schlüssel für den Test ist folgende Frage: Exemplaren welcher Stimulusklasse gegenüber zeigt M. assimilis das typische Signalverhalten S? M. assimilis reagiert auf Artgenossen stets mit S, auf Beutetiere hingegen nie mit S. Sie reagiert auf beide Ameisenarten selten und kurz mit S. Offenbar kann M. assimilis Modelle (Weberameisen) und Mimen (Artgenossen) unterscheiden, und zwar allein aufgrund optischer Reize. Was also sieht M. assimilis? Sie sieht Artgenossen, Beutetiere und Modelle.589 Der Mechanismus, der es dieser Spinne beispielsweise erlaubt, die Information aus ihren visuellen Vehikeln zu extrahieren, dass es sich bei einem Objekt um ein Modell handelt, legt den IR-Inhalts des Vehikels fest. Natürlich repräsentiert M. assimilis keine Weberameisen, denn sie differenziert nicht zwischen diesen und anderen Ameisen. Sie repräsentiert lediglich ihr Modell. M. assimilis wird mit Attrappen getestet, um chemische Einflüsse auf ihr Diskriminierungsvermögen zu vermeiden. Reagiert jener K-Mechanismus des visuellen Systems von M. assimilis, der Artgenossen identifiziert und das Signalverhalten S auslöst, auf eine Artgenossenattrappe, so handelt es sich um eine Fehlrepräsentation. Denn der K-Mechanismus benötigt für die Ausübung seiner Funktion das Vorliegen einer Korrespondenz des visuellen Vehikels mit der Präsenz eines Artgenossen.590 Fassen wir zusammen! Biologische Funktionen sind Echte Funktionen. Ein x hat die biologische Funktion F, insofern x existiert, weil Vorfahren von x selektioniert worden Empfängers, bei zuverlässigen Signalen profitieren beide davon. Im Falle der Bates-Mimikry ist der Empfänger des Signals (die signalisierende Struktur ist hier die Morphologie des Mimen) ein Raubfeind der vom Modell (hier die Weberameise) ablässt, und deshalb (aufgrund der Mimikry) ebenso vom Mimen (hier M. assimilis). Täuschende Signale gelten für die Biosemantik nicht als Repräsentationen, weil der Produzent und der Konsument nicht kooperieren und keinem Prozess der Ko-Evolution unterworfen sind. Zuverlässige Signale hingegen involvieren die Kooperation von Produzenten und Konsumenten. Es spielt dabei keine besondere Rolle, dass diese Signale die Funktion haben, das Verhalten eines Empfängers zu beeinflussen oder zu manipulieren. In gewisser Weise manipulieren auch Chamäleons oder Honigbienen das Verhalten ihrer Artgenossen durch ihre Farbwechsel bzw. durch ihre Tänze. Entscheidend ist, dass bei zuverlässigen Signalen beide Parteien profitieren. Dies gegen die Einwände von Sterelny 2001: 201ff. gegen Millikan. 589 Andere Springspinnen sehen anderes: Portia (eine spinnenfressende Springspinne) unterscheidet visuell drei verschiedene Spinnenklassen, und zwar indem sie auf eine Klasse mit dem Signalverhalten für Artgenossen reagiert und auf zwei Klassen von Beutespinnen mit zwei unterschiedlichen Jagdtechniken reagiert. (Harland und Jackson 2004) P. fimbriata (eine springspinnenfressende Springspinne) hat eine spezifische Jagdtechnik („cryptiv stalking“) für andere Springspinnenarten, attackiert aber keine Artgenossen. (Jackson und Blest 1988). Sie identifiziert andere Springspinnenarten offenbar mittels der frontalen Hauptaugen, nicht anhand der Beine. Allerdings meidet P. fimbriata myrmecomorphe Springspinnen ebenso wie Ameisen und scheint diese nicht unterscheiden zu können. 590 Die Reaktion S, die einige Exemplare von M. assimilis aufgrund der Wahrnehmung von Ameisen kurz an den Tag legen, muss hingegen nicht zwingend als Ausdruck einer Fehlrepräsentation interpretiert werden. Es könnte sich auch um einen Bestandteil des Wahrnehmungsprozesses handeln. Die Spinne will gleichsam sicher gehen, dass es sich nicht um einen Artgenossen handelt. 249 sind, weil sie F getan oder hervorgebracht haben. Biologische Funktionen bilden natürliche normative Kategorien. Augen sind ein Beispiel einer biologischen funktionalen normativen Kategorie. Augen sollen eine bestimmte Funktion erfüllen, und das macht sie zu guten Augen, defekte Augen erfüllen diese Funktion nicht. Die Normativität kommt Augen qua Augen als beobachterunabhängige, objektive, historische Eigenschaft zu. Augen produzieren R-Vehikel, die die Besitzer der Augen auf eine bestimmte Art und Weise verwenden können. Die Verwendung der visuellen Vehikel durch einen Konsumenten legt den IR-Inhalt fest. 3.2.5. Kulturelle funktionale normative Kategorien Funktionen finden sich nicht allein bei biologischen Merkmalen, sondern auch bei Maschinen, sozialen Rollen, kulturellen Verhaltensweisen, Sprachformen, Institutionen usw. Ich werde diese Dinge zusammenfassend als „Artefakte“ bezeichnen und deren Funktionen als „kulturelle Funktionen“. Häufig wird nun behauptet, kulturelle Funktionen könnten auf dieselbe Art und Weise verstanden werden wie biologische Funktionen, ohne dass der Vorschlag jedoch ausgearbeitet würde.591 Demgegenüber gehen zahlreiche Autoren davon aus, dass kulturelle Funktionen auf Intentionalität von Subjekten angewiesen sind. Grob gesagt hat ein Artefakt X nur dann die Funktion F, wenn X von einem Subjekt mit der Absicht erschaffen oder verwendet wird, dass X F tut.592 Kulturelle Funktionen wären somit primär von einem Subjekt intendierte Wirkungen. Nennen wir dies die „subjektiv-intentionale Theorie“. Doch offenbar läuft die 593 unglaubwürdigen Subjektivismus hinaus. subjektiv-intentionale Theorie auf einen Es kann nämlich nicht zutreffen, dass eine subjektive Intention ausreicht, damit ein Artefakt eine Funktion hat. Hier sind vier Vorbehalte gegen die subjektiv-intentionale Theorie: 1. Wer brennende Radios an Affenbrotbäume in der Savanne hängt mit der Absicht, Elefanten zu fangen, hat damit noch keine Elefantenfalle gebaut. Ein Artefakt muss offenbar zumindest prinzipiell in der Lage sein, die ihm zugedachte Funktion auszuführen. Nicht jede verrückte Absicht, mit der ein Artefakt verwendet oder hergestellt wird, verleiht ihm eine Funktion. Offenbar muss es sich um eine Vgl. Bigelow und Pargetter 1987: 184ff.; Neander 1991b: 462. Vgl. die Diskussion bei McLaughlin 2001: III. 593 Vgl. Mitchel 1995. 591 592 250 realisierbare Absicht handeln. Das Material und die Anordnung des Materials müssen in der Lage sein, eine Funktion überhaupt zu erfüllen. 2. Zweitens wird die Funktion eines Artefakts auch nicht allein über eine realisierbare subjektive Absicht bestimmt, die den dispositionalen Eigenschaften des Artefakts gerecht wird. Wer seinen PKW vor einer Einfahrt abstellt, um den Nachbarn zu ärgern, der platziert den PKW zeitweilig so, dass er eine bestimmte kausale Rolle spielen kann. Aber weder verleiht er dem PKW seine Funktion als PKW noch ändert er damit die Funktion des PKW. Die Funktion von Automobilen hat offensichtlich etwas mit den Gründen für ihre Produktion, ihre Distribution und ihre Nutzung zu tun. 3. Drittens sind bei artifiziellen Funktionen keineswegs nur einzelne Subjekte beteiligt, sondern häufig mehrere. Dies gilt umso mehr für Artefakte (wie Automobile) unter den Bedingungen einer massiv ausdifferenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaft wie moderne westliche Gesellschaften es sind: Erfinder, Hersteller, Verteiler, Käufer, Verbraucher, Instandhalter sind alle an der Funktionalität eines Artefakts beteiligt. Hinzu kommt, dass die vorherrschende Verwendungsfunktion, die die Herstellung eines Artefakts bestimmt, durch eine andere Funktionen überlagert werden kann. Offenbar ist es die Funktion von Automobilen, uns und unsere Güter rasch über weite Strecken zu transportieren. Aber möglicherweise haben Autos auch die Funktion, uns zu Bewohnern einer „Dromokratie“ zu machen, unter deren Herrschaft allen Dingen Wert nur im Rahmen einer bestimmten Zeitökonomie zukommt. Wir verwenden Autos auch, um uns am Rausch der Geschwindigkeit zu erfreuen oder um mit Statussymbolen zu beeindrucken.594 4. Viertens spricht die Tatsache, dass Artefakte ihre Funktion ändern können, gegen die subjektiv-intentionale Theorie. Die Absicht eines Erfinders kann durch die Geschichte des Gebrauchs eines Artefakts irrelevant werden. So sind beispielsweise Pfeifenreiniger ursprünglich für die Reinigung von Tabakspfeifen hergestellt, verteilt, erworben und benutzt worden, doch später wurden dieselben Objekte als Kinderspielzeug hergestellt, verteilt, erworben und benutzt.595 Solche Funktionswechsel können nicht durch die Absichten von Erfindern oder Herstellern erklärt werden. Meine These lautet, dass die Funktion F eines Artefakts eine kollektiv und historisch selektierte Wirkung ist. Wie wir in Abschnitt 3.2.6. noch sehen werden, muss die These lauten, dass die Funktion eines Artefakts eine kollektiv und historisch selektierte Wirkung 594 595 Virilio 1989: 246ff. Preston 1998: 241. 251 innerhalb einer kulturellen Welt ist. Ein Artefakt X hat also, genauer gesagt, eine Echte Funktion F, wenn Token von X aktuell existieren, weil Vorfahren von X mit Erfolg einen Beitrag innerhalb eines Bereichs der kulturellen Welt durch die Ausübung von F geleistet haben, was (proximal) zur Herstellung und Nutzung von X durch kollektive Selektion führte. Vorfahren des Artefakts sind öffentlich auf bestimmte Weise hergestellt und benutzt worden und erhalten dadurch ihre Funktion. Es ist dieser historische Prozess, der die Existenz und die Funktion des Artefakts erklärt. Sowohl die Absichten von Erfindern und Herstellern als auch die Bedürfnisse und Wünsche von Nutzern sind lediglich Faktoren in dem Prozess, der dazu führt, dass Artefakte Funktionen haben. Es wird sich zeigen, dass die Prozesse der kulturellen Selektion mit der natürlichen Selektion vergleichbar sind. Betrachten wir die Funktion eines Artefakten als kollektiv selektierte Wirkung, die erklärt, warum dieser Artefakt existiert und warum er auf eine bestimme Art und Weise (einem Design gemäß) hergestellt wird, entfallen die genannten vier Schwierigkeiten. Vorfahren von Artefakten sind öffentlich auf bestimmte Weise hergestellt und erfolgreich verwendet worden und haben dadurch ihre Funktion erhalten. Es ist dieser historische Prozess, der erklärt, warum bestimmte Artefakte wie Pkws nach einem Design hergestellt werden. Erfindungen, die den intendierten Effekt nicht haben können, werden nicht selektiert. Temporale Umwidmungen von Artefakten zu unterschiedlichen Zwecken stellen kein Problem dar, denn wir können Artefakte zeitweilig für beliebige subjektive Zwecke verwenden, ohne dass sie dadurch ihre selektierte Funktion verlieren. Artefakte werden über viele Generationen hinweg ihrem Zweck entsprechend verwendet und verbessert. Die Hersteller von Artefakten folgen dabei weniger ihren Absichten, als den Vorgaben der Überlieferung, d.h. sie folgen dem Design für ein Artefakt. Wie Hume sagt: „If we survey a ship, what an exalted idea must we form of the ingenuity of the carpenter who framed so complicated, useful, and beautiful a machine? And what surprise must we feel, when we find him a stupid mechanic, who imitated others, and copied an art, which, through a long succession of ages, after multiplied trials, mistakes, corrections, deliberations, and controversies, had been gradually improving?”596 596 Hume 1993: 69. Der Dialogpartner Philo benutzt diese Fragen, um gegen die Hypothese eines Schöpfergottes und eines einzigen Schöpfungsaktes für diese Welt wie folgt zu argumentieren: „Many worlds might have been botched and bungled, throughout an eternity, ere this system was struck out; much labour lost, many fruitless trials made; and a slow, but continued improvement carried on during infinite ages in the art of world-making. In such subjects, who can determine, where the truth; nay, who can conjecture where the probability lies, amidst a great number of hypotheses which may be proposed, and a still greater which may be imagined?“ (Hume 1993: 69) 252 Und natürlich können Artefakte im Verlauf dieses Prozesses neue Funktionen annehmen, ihre Funktion verändern oder ihre Funktion verlieren.597 Auch bei kulturellen Funktionen handelt es sich um Echte Funktionen. Artefakte sind Mitglieder von REFs, die reproduktiv etablierte Eigenschaften haben, aufgrund derer sie bestimmte Wirkungen ausüben sollten. Aufgrund dieser Wirkungen wurden die Artefakte mit diesen Eigenschaften selektiert, sie existieren und haben diese Eigenschaften, weil sie bestimmte Wirkungen ausgeübt haben. Ich werde meine These anhand der Analyse zweier Beispiele darlegen. Das Küchenmesser-Beispiel dient dazu, den Gedanken des Designs einzuführen, sodass wir uns die Echte Funktion von Artefakten als etwas vorstellen können, das gemäß einem Design ohne spezifischen Designer entsteht. Das Ärzte-Beispiel dient dazu, die historische und normative Dimension kultureller Funktionen hervorzuheben. Ein Küchenmesser hat die Funktion Lebensmittel zu zerschneiden. Dazu sind Küchenmesser da, dafür hat man sie gekauft, deswegen unterhält man sie. (Natürlich kann man sie für andere Zwecke brauchen, aber ebenso kann man einen Igel brauchen, um einen Angreifer abzuwehren.) Gute Küchenmesser schneiden sauber, schnell und regelmäßig, schlechte nicht. Ob das Messer aus Plastik, Stein, Stahl oder Porzellan besteht, ob es lang oder kurz, breit oder schmal ist, spielt an sich keine große Rolle. Genauer gesagt sind Material und Form des Küchenmessers in erster Linie im Hinblick auf seine Funktion relevant. Was ein Küchenmesser ist, wird also durch seine Funktion festgelegt. Ein Küchenmesser hat ein entscheidendes Merkmal: die Klinge. Eine Klinge hat bestimmte Eigenschaften, wie Härte, Länge, Breite, Schliff. Mithilfe dieser Eigenschaften soll ein Benutzer eine bestimmte Wirkung auf Lebensmittel ausüben können. Für diese Art Wirkung werden Klingen hergestellt und unterhalten. Der Designer, der Hersteller, der Käufer und der Instandhalter wählen bestimmte Eigenschaften aus, um Wirkungen zu erzielen. Die Funktion des Küchenmessers besteht nun in der Wirkung von Eigenschaften eines seiner Merkmale auf Lebensmittel, die von den genannten Instanzen ausgewählt werden, um diese Wirkung zu erzielen. Die Funktion des Küchenmessers ist deshalb nichts anderes als das Resultat eines kollektiven und historischen Prozesses der Auswahl bestimmter Eigenschaften zur Erzielung einer Wirkung. Artefakte wie Küchenmesser werden durch ihre Funktion definiert. Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Küchenmessern wird gleichfalls anhand dieser Funktion vorgenommen. Die Funktion ist die Norm, die eine Kategorie von 597 Natürlich handelt es sich hier um Phänomene, die vergleichbar sind mit Funktionswandel, Exaptationen und Verkümmerung (vgl. 3.2.3.). 253 Artefakten definiert, und zugleich die Norm, die diese Kategorie in gute und in schlechte, in intakte und in defekte Exemplare scheidet. Ein Küchenmesser kann von seiner Norm abweichen: Es kann nicht schneiden oder es kann schlecht schneiden. Aber warum ist etwas, das nicht schneidet, dennoch ein Küchenmesser? Wir sagten doch, Küchenmesser würden durch ihre Funktion definiert. Damit etwas eine Funktion F haben kann, muss es F nicht aktuell oder potenziell ausüben können, es muss ganz einfach zur Kategorie der Dinge gehören, die die Funktion F haben. Aber warum gehört ein Artefakt zu einer Kategorie, die die Funktion F hat? Bislang lautet unsere Antwort: Insofern es zu einer REF gehört, deren Mitglieder einem Prozess der Selektion unterliegen. Analysieren wir nun aber das Beispiel selbst genauer, bevor wir es unter diese bereits eingeführten Begriffe bringen. Eine erste Antwort auf die Frage, warum ein Küchenmesser zu einer Kategorie mit der Funktion F gehört, könnte lauten: Wer etwas mit dem richtigen Material, mit dem richtigen Verfahren und in der richtigen Form als Küchenmesser herstellen möchte, der stellt ein Küchenmesser her. Sein Produkt ist ein Küchenmesser. Diese Antwort weist in die richtige Richtung. Aber die Erwähnung der Absicht eines Subjekts führt auf einen Holzweg. Wer die Absicht hat, etwas herzustellen, das aus einem Material besteht, aus dem Küchenmesser bestehen, sich des Verfahrens bedient, mit dem Küchenmesser hergestellt werden, und die Form hat, die Küchenmesser haben, kann in dieser Absicht scheitern. Stellt er (aus welchen Gründen auch immer) beispielsweise ein Ding mit einer Klinge her, deren Schneide rund wie eine Ahle ist, so hat er kein Küchenmesser hergestellt. Er wollte zwar ein Küchenmesser herstellen, aber es ist kein Küchenmesser geworden. Er kann sagen: „Ich hatte zwar die Absicht ein Küchenmesser zu fabrizieren, aber es ist keines geworden.“ Wir haben streng genommen kein misslungenes Küchenmesser, sondern die misslungene Absicht, etwas herzustellen. Ein misslungenes Küchenmesser ist kein schlechtes Küchenmesser, sondern etwas, dem es nicht gelungen ist, ein Küchenmesser zu sein. (Ebenso wenig ist ein missratener Gugelhupf kein Gugelhupf.) Was fehlt? Natürlich das Gelingen. Erst ein Küchenmesser, das als Küchenmesser gelungen ist, kann ein gutes oder ein schlechtes Küchenmesser sein. Wer etwas mit dem richtigen Material, mit dem richtigen Verfahren und in der richtigen Form für ein Küchenmesser mit Erfolg herstellt, der stellt ein Küchenmesser her. Ob der Hersteller ein Küchenmesser fabrizieren möchte und ob es jemals als Küchenmesser gebraucht wird, ist zweitrangig. Was entscheidet über das Gelingen der Herstellung eines Küchenmessers (oder eines Gugelhupfs)? Was gemäß einem Küchenmesser-Design (oder einem GugelhupfRezept) gelingt, ist ein Küchenmesser (oder Gugelhupf). Nun, was gemäß einem X-Design (X-Rezept usw.) gelingt, ist ein X. Das X-Design ist das Maß, das bestimmt, ob etwas ein X 254 ist. Warum also ist etwas, das nicht schneidet, dennoch ein Küchenmesser? Weil es einem Küchenmesser-Design entspricht. Die Entsprechung eines Dinges mit einem X-Design, weist dieses Ding der Kategorie X zu. Diese Entsprechung muss nun so sein, dass ein Weg vom Design zum Ding führt. Das Design muss Bestandteil der Hervorbringung des Dinges sein. Ein wundersam aus einem kosmischen Blitz entstandenes Ding, das wie ein Küchenmesser beschaffen und wie ein Küchenmesser verwendbar ist (ein SumpfKüchenmesser), ist deshalb noch kein Küchenmesser. Es ist etwas, das (auf wundersame Weise) wie ein Küchenmesser beschaffen und als Küchenmesser verwendbar ist. Von einem nach einem Design hergestellten Küchenmesser würden wir nicht sagen, dass es wie ein Küchenmesser beschaffen und als solches verwendbar ist, sondern einfach, dass es ein Küchenmesser ist. Aber wir sagten: Was ein Küchenmesser ist, wird durch seine Funktion definiert. Warum führen wir nun das Design ein? Was ist mit der Funktion passiert? Ist sie durch das Design ersetzt worden? Nein, denn Design wird selbst durch Funktion bestimmt. Das Design für ein Küchenmesser ist ein Design für ein Ding mit einer bestimmten Funktion. Ebenso wie es gute oder schlechte Küchenmesser gibt, gibt es gute oder schlechte Designs für Küchenmesser. Das X-Design bestimmt also nicht die Funktion von X, sondern umgekehrt: Die Funktion bestimmt das Design. Und das Design legt fest, ob etwas überhaupt zur Kategorie X gehört oder nicht. Wir sagten: Funktionen sind ausgewählte Wirkungen oder Dispositionen. Ein X-Design hat nun die Funktion F* zur Hervorbringung von Xen zu führen, die eine Funktion F haben. Diese Funktion F* wird durch die Funktion F bestimmt, die Xe haben sollen. Das X-Design hat nicht die Funktion F, sondern die Funktion F* zur Herstellung von Xen zu führen, die die Funktion F haben. X-Designs werden ausgewählt, um Xe mit F hervorzubringen. Die Funktion F eines X ist es, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Diese Wirkungen werden durch ein X-Design bestimmt, indem dieses Design bestimmte Eigenschaften für das X vorgibt, die diese Wirkungen hervorbringen sollen. Die Funktion F bestimmt also sowohl die Xe als auch die X-Designs. Sowohl Xe als auch X-Designs können gut oder schlecht sein. Ein gutes X erfüllt die Funktion F, ein gutes Design erfüllt die Funktion F* (Dinge mit F hervorzubringen) gut. Mein Modell für die Analyse des Messerbeispiels ist natürlich die Evolutionsbiologie. Genauer gesagt: Das verallgemeinerte Argumentationsschema für die einfache Selektion aus Abschnitt 2.3. An die Stelle des Küchenmesser-Designs und der Herstellung treten z.B. beim Herzen das genetische Programm und die ontogenetische Entwicklung. Das genetische Programm hat die Funktion F* (im Laufe der 255 ontogenetischen Entwicklung) Organe hervorzubringen, die die Funktion F haben, Blut zu pumpen. Was diese Organe sind, wird durch ihre Funktion F festgelegt. Entsprechend der Funktion F können sie gute oder schlechte Exemplare sein. Entsprechend der Funktion F* kann etwas ein genetisches Programm für Blutpumporgane sein, und dieses Programm ist entweder gut oder schlecht. Die Merkmale des genetischen Programms und entsprechend die Merkmale des Herzens, die die Blut pumpende Wirkung hervorbringen, sind das Produkt einer natürlichen Selektion. Der Verlauf der Evolution selektiert gewisse Merkmale im Gegensatz zu anderen. Insofern diese Merkmale bestimmte Wirkungen haben, handelt es sich um selektionierte Wirkungen, also um Funktionen. Diese Funktionen kommen der Kategorie der Herzen oder der genetischen Programme zu, und derivativ davon dem Mitglied der Kategorie, dem Exemplar. Insofern kann eine Funktion ein Maß liefern, von dem ein faktisches Exemplar abweichen kann. Wie so etwas in concreto verläuft entnehmen wir, wie im Fall der Augen, biologischen Abhandlungen. Die Analyse der Beispiele ist weit genug fortgeschritten. Wir können nun die bereits eingeführten Begriffe zur Anwendung bringen. Wie kommt es zur Privilegierung bestimmter Wirkungen? Die Antwort erhalten wir von der natürlichen Selektion und der kulturellen Selektion. Zu den Faktoren der kulturellen Selektion gehören individuelle und kollektive Intentionen sowie objektive Prozesse, die nicht direkt von den Intentionen von Subjekten abhängen. Eine zweite wichtige Frage lautet: Wie kommen Funktionsträger dazu zu einer Funktionskategorie zu gehören? Die Antwort lautet, dass Entitäten mit Funktionen zu einer REF gehören. Küchenmesser werden durch Firmen reproduziert, Dokumente durch Schreiber oder Kopiergeräte, Herzen durch Vererbung, Ärzte durch Universitäten. Küchenmesser, Ärzte, Dokumente oder Herzen sind REFs, die defekte Mitglieder enthalten können, und zwar Mitglieder, die ihre Funktion nicht ausüben können. Es gibt defekte Messer, lausige Ärzte, kranke Herzen und missratene Kopien. Deshalb handelt es sich bei diesen Familien um funktionale normative Kategorien. Inwiefern eignet kulturellen Funktionen eine normative Dimension? Die Hochstelltaste auf der Tastatur meines Laptops etwa hat die Funktion, die Funktionen der anderen Tasten systematisch auf bestimmte Weise zu verändern, sodass beispielsweise anstelle des „e“ ein „E“ auf dem Bildschirm erscheint. Erscheint jedoch statt des „E“ ein „ “ oder explodiert der Laptop, dann besteht die angemessene Reaktion nicht darin, dass ich mir sage, dass die Funktion der Hochstelltaste offenbar darin besteht, die Funktion der E-Taste von einem „e“ auf ein „ “ umzustellen oder in einen Auslöser für eine Bombe zu verwandeln, sondern darin, dass die Hochstelltaste offenbar nicht tut, wozu sie da ist. Das, was x (meine Hochstelltaste) tatsächlich bewirkt, wenn ich sie betätige, ist nicht identisch 256 mit ihrer Funktion. Sie ist auch nicht identisch mit der Disposition von x (damit, was x kann). Auch wenn ich die Hochstelltaste meines defekten oder manipulierten Laptops nicht betätige, hat sie doch die Disposition unter bestimmten Bedingungen die genannten unerwünschten Wirkungen („ “ oder Bumm!) hervorzubringen. Doch diese Disposition beschreibt natürlich nicht ihre Funktion. Um die bisherige Darlegung der kulturellen Funktionen zu vertiefen und um insbesondere den historischen Aspekt der Prozesse hervorzuheben, die zur Ausbildung von Artefakten führen, werde ich ein weiteres Beispiel analysieren, nämlich dasjenige des Arztes. Die antiken Philosophen wurden nicht müde zu wiederholen, dass der Zweck der Heilkunst die Gesundheit sei. Obwohl selbst vertrauenswürdige Ärzte bisweilen Mittel verschreiben, die nicht unmittelbar der Gesundheit dienen (sondern z.B. der Kontrazeption oder der Kosmetik), ist diese Bestimmung der Heilkunst sicher keine schlechte. Das Gut, das der Medizin ihre Aufgabe gibt und ihr Wesen bestimmt, ist die Gesundheit.598 Nehmen wir weiter an, die Heilkunst solle tatsächlich positiv tätig sein, und nicht nur für die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen sorgen. Natürlich gibt es auch die Auffassung, das Ziel des Arztes, die Aufgabe der Medizin sei, die Untersuchung der Ursachen und der Behandlung von Krankheiten. Es ist nun freilich ein Unterschied, ob man die Aufgabe des Arztes in der Herstellung der Gesundheit in einem umfassenden Sinne betrachtet oder in der Behandlung von Krankheit. Es dürfte jedoch klar sein, dass das Ziel der Heilkunst nicht in einer Behandlung von Krankheiten bestehen kann, die diese verstärkt oder verlängert, sondern sie heilt oder zumindest ihre Auswirkungen eindämmt oder lindert. Insofern ist das Ziel die Gesundheit, nicht die Krankheit. Ein guter Arzt zielt auf die Gesundheit und erreicht sie (häufig genug), ein schlechter Arzt zielt auf die Gesundheit, erreicht sie aber (häufig genug) nicht. Natürlich muss selbst der gute Arzt bisweilen für Zustände des körperlichen Unwohlseins sorgen, doch nur um sein Ziel zu erreichen, nur als Mittel. Ist die Erreichung von körperlichem Unwohlsein aber das Ziel des Arztes, ist er kein Arzt, sondern ein Verbrecher oder Folterknecht. Der schlechte Arzt vermag den Zustand des körperlichen Wohlergehens nicht zu erzeugen, der noch schlechtere Arzt erzeugt im Gegenteil Zustände körperlichen Unwohlseins. Der Begriff der Gesundheit scheidet also den guten vom schlechten Arzt. Ärzte bilden also eine kulturelle funktionale Allerdings dürfte die bekannte Definition von Gesundheit der WHO die Heilkunst etwas überfordern, denn sie fordert sowohl vollständiges als auch umfassendes Wohlergehen. Diese Definition lautet: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946, Präambel, Abs. 2) Beschränken wir uns deshalb auf das körperliche Wohlergehen, und fordern wir von der Heilkunst als Ziel die Erreichung eines Zustands des körperlichen Wohls. 598 257 normative Kategorie. Das Curriculum gibt das Design zur Herstellung von Ärzten ab, die medizinische Fakultät ist der Reproduktionsmechanismus für Ärzte. Weil Ärzte aufgrund bestimmter geregelter Verfahren (dem Curriculum) ausgebildet werden, denen die Funktion zukommt, die Ausbildung von Ärzten zu gewährleisten, bilden Ärzte eine REF2.599 Ein als Mediziner ausgebildeter Mann wie Josef Mengele, der seine Tätigkeit als Verbrecher und Folterer ausübt, bleibt auch dann Arzt, wenn der Zweck seiner Berufsausübung nicht die Gesundheit ist, sondern ganz im Gegenteil Qual, Krankheit und Tod. Mengele ist Arzt, weil er gemäß einem universitären Curriculum zum Arzt ausgebildet worden ist. Nun kann man Ärzten ihre Befähigung absprechen, wenn sie ausdrücklich das Ziel der Heilkunst anhaltend schwerwiegend verletzen. Selbst die scheinbar deskriptive Klasse „Arzt“, in die all jene fallen, die zum Mediziner ausgebildet worden sind, ist Normen unterworfen. „Arzt“ bleibt also eine normative Kategorie. Man kann Ärzten ihre Befähigung absprechen, wenn sie ausdrücklich das Ziel der Heilkunst nicht verfolgen oder es schwerwiegend verletzen. Mengele wurde in den 1960er Jahren von den Universitäten Frankfurt und München depromoviert.600 Die normative Kategorie „Arzt“ und der normative Begriff „Gesundheit“ reichen aus, um jemanden wie Mengele nicht nur auf die ganz und gar defekte Seite der Ärzte zu verfrachten, sondern ganz aus der normativen Kategorie auszugliedern. Er ist kein Arzt mehr.601 In Abschnitt 3.2.4. habe ich mithilfe einer Monografie aus dem Bereich der Biologie dargelegt, was ein Auge ist, und was ein gutes Auge ist. Evolutionäre Thesen über die Entwicklung von Augen erklären, wie sich das Auge in einem historischen Prozess entwickelt und funktionell ausdifferenziert hat. Ich habe auf die Antike und auf die jüngere Geschichte zurückgegriffen um zu erläutern, was ein Arzt ist und was einen Arzt zu einem guten bzw. schlechten Exemplar der normativen Kategorie macht, zu der er gehört. Nun sind aber das Design für Ärzte und der Reproduktionsmechanismus für Ärzte ebenfalls einem historischen Prozess unterworfen. Über die Design- und Reproduktionsgeschichte, 599 In einer Gesellschaft, in der sich Ärzte durch die direkte Weitergabe ihrer Fähigkeit reproduzieren, bilden Ärzte eine REF1. 600 Vgl. Harrecker 2007: 226-241. 601 Natürlich würde man spontaner moralische Gründe gegen Mengeles Verteidigung vorbringen wollen, etwa dass es moralisch vollkommen verwerflich sei, Menschen zu quälen, sie als Mittel zu benutzen, oder rassisch zu diskriminieren. Stellen wir uns nun vor, Mengele würde sich verteidigen und sagen, sein Ziel sei tatsächlich die Gesundheit gewesen, aber die Gesundheit einer Rasse, und zu diesem Ziel sei es nötig, Mitgliedern anderer Rassen Leid zuzufügen. Das ist in vielerlei Hinsicht pervers, mir geht es um eine Hinsicht: Das Ziel der Humanmedizin besteht primär in der Erreichung eines Zustands des körperlichen Wohlergehens von einzelnen Menschen, und nur sekundär einer Menschengruppe. Natürlich kann sich ein Arzt die Verbesserung der Gesundheit von Grubenarbeitern zur Lebensaufgabe machen. Aber dies ist ein sekundäres gesundheitspolitisches Ziel, das er als Arzt über die Verbesserung der Gesundheit von einzelnen Grubenarbeitern verfolgt. 258 über deren Entstehung, über Funktionserwerb und Funktionswandel von Artefakten geben nicht Werke der Biologie, sondern beispielsweise Werke der Geschichtsschreibung Auskunft. Das ist wenig verwunderlich, denn evolutionsbiologische Erklärungen gleichen eher historischen als nomologischen Erklärungen. Laurence Brockliss und Colin Jones untersuchen die Entwicklung der Ärzteschaft, der medizinischen Ausbildung und der Hospitäler in Frankreich von der frühen Neuzeit bis zum Vorabend der Französischen Revolution. Diese Entwicklung wird durch externe Faktoren (wie das Verschwinden der großen Pestepidemien oder die Verbreitung neuer Geschlechtskrankheiten), durch soziale und ökonomische Faktoren und durch interne Faktoren (medizinische Entdeckungen und Techniken) bestimmt. Brockliss und Jones analysieren die Herausbildung eines medizinischen Kerns (core) von Ärzten, Chirurgen und Apothekern, der durch zentralisierte und regulierte medizinische Institutionen ausgebildet und durch eine medizinische Körperschaft (medical corporative community) kontrolliert wird. So dehnte beispielsweise die Pariser Medizinische Fakultät zusehends die Kontrolle über die Ausbildung, Prüfung und Akkreditierung über Ärzte, Chirurgen und Pharmazeuten gegen den Widerstand der letzten beiden Gruppierungen mithilfe des Pariser Parlaments aus. Davon mehr und mehr geschieden, existiert eine unbestimmte und heterogene medizinische Penumbra (penumbra), die aus einer „plethora of different types of popular medical practitioniers, male and female, rich and poor, educated and uneducated and so on“ bestehe.602 So stellte der Hof, im Gegenzug zu der eben erwähnten Entwicklung in Paris, seine medizinische Versorgung durch Rückgriff auf die Penumbra (auf Barmherzige Brüder und Schwestern, Hebammen, Empiriker usw.) sicher und verspottete die Produkte der Medizinischen Fakultät, was sich z.B. in Molières medizinischen Komödien zeigt. Im Übergang zum 18. Jahrhundert erweiterte der Kern seinen Aufgabenbereich, indem er z.B. die Behandlung von Katarakten, von Frauen- und Kinderkrankheiten, die Geburt und die Hygienevorsorge übernahm. Damit stieß der Kern in Zuständigkeitsbereiche vor, die ehedem der Penumbra vorbehalten waren. Aufgrund der Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs und aufgrund der Vereinheitlichung der institutionellen Kontrolle über Ausbildung, Prüfung und Akkreditierung wächst der Kern (die Zahl der Ärzte, Chirurgen und Apotheker) zu Ungunsten der Penumbra. Innerhalb des nunmehr universitär und curricular organisierten Kerns tritt ein Prozess der Ausdifferenzierung in Gang.603 Kern und Penumbra bilden in der Neuzeit die medizinische Welt, innerhalb derer zunächst schlechte von guten Medizinern unterschieden werden, dann wirkliche und 602 Brockliss und Jones 1997: 14. Der Gegensatz von Kern und Penumbra korrespondiert in gewisser Weise mit dem heutigen Gegensatz zwischen „Schulmedizin“ und „Alternativmedizin“. 603 Brockliss und Jones 1997; vgl. auch Brockliss 2004. 259 angemaßte, schließlich innerhalb der wirklichen Mediziner wiederum gute und schlechte. Brockliss und Jones beziehen sich in keiner Weise auf evolutionäre Modelle, und doch stellt ihre Rekonstruktion der Entwicklung der Ausdifferenzierung der medizinischen Welt ein Fallbeispiel dar für die oben skizzierte Theorie einer sozialen Rolle (Arzt) als funktionaler normativer Kategorie, die durch Prozesse der Selektion, der Reproduktion und der Akkumulation innerhalb einer bestimmten kulturellen Umwelt ausgebildet wird. Diese Prozesse involvieren intentionale Zustände der beteiligten Akteure, doch sind die Prozesse und ihr Resultat, die Ausbildung einer normativen Kategorie, nicht auf die intentionalen Zustände dieser Akteure reduzierbar.604 Meine These lautete, dass die Funktionen von Artefakten historische und kollektiv selektierte Wirkungen sind. Vorfahren von Artefakten sind kollektiv auf bestimmte Weise hergestellt und verwendet worden und erhielten dadurch ihre Funktion. Es ist dieser historische Prozess, der die Existenz und die Funktion von bestimmten aktuellen Artefakten erklärt. Ich habe versucht diese These zu stützen, indem ich alternative Auffassungen kritisiert habe, und indem ich zwei unterschiedliche Beispiele für Artefakte analysiert habe, und zwar als Paradigmen, die es uns erlauben sollen, kulturelle Funktionen im gleichen Sinne als Echte Funktionen zu verstehen, wie biologische Funktionen. Das entspricht dem Vorgehen der Theoriekonstruktion der Biosemantik. Führen wir uns die Struktur nochmals vor Augen, die diesem Stück Theoriekonstruktion zugrunde liegt. Ein Herz hat die Funktion Blut zu pumpen. Das kann es gut oder schlecht machen. Jemand hat ein gutes, starkes Herz oder ein schlechtes, schwaches Herz oder gar einen Herzfehler. Die Eigenschaften des Herzens, die dazu führen, dass es seine Sache gut macht, sind normative Eigenschaften des Herzens, d.h. Eigenschaften, die eine bestimmte Wirkung haben sollen. Ein Küchenmesser hat die Funktion Lebensmittel zu zerschneiden. Mit Küchenmessern muss man Nahrungsmittel zerschneiden können, dazu sind sie da, dafür hat man sie gekauft, dafür unterhält man sie usw.. Ein gutes Küchenmesser schneidet gut, sauber, schnell und regelmäßig. Die Eigenschaften eines Küchenmessers, die dazu führen, dass es seine Sache gut macht, sind normative Eigenschaften des Küchenmessers, d.h. Das Resultat der Studie (die Etablierung und Ausdifferenzierung des Kerns zu Ungunsten der Penumbra) entspricht im Übrigen keineswegs der Intention der Verfasser, die sich um den Nachweis bemühen, dass die Grenzen zwischen Kern und Penumbra nicht nur in der frühen Neuzeit durchaus fließend und permeabel sind, sondern es auch im Verlaufe des 18. Jhs. bleiben. Die Autoren möchten sich damit gegen zwei Thesen stellen, nämlich gegen die These einer kontinuierlichen und kumulativen Entwicklung und Etablierung einer rationalen Medizin gegenüber purer Scharlatanerie und gegen die These eines diskontinuierlichen historischepistemischen „Bruchs“ infolge der Reorganisation des Klinikwesens im Gefolge der Französischen Revolution (vgl. Foucault 1973). Unter der Hand entgleitet den beiden Historikern jedoch das Beweisziel. Die Phänomene und ihre Beschreibungen verweisen im Gegenteil auf die Etablierung eines Kerns als normativer Kategorie und die Abwertung der Penumbra (vgl. Rattner Gelbart 2000). 604 260 Eigenschaften, die eine bestimmte Wirkung haben sollen. Die Funktion eines Arztes ist es, die Gesundheit wieder herzustellen. Ein guter Arzt tut dies, ein schlechter heilt seine Patienten nicht, verschlechtert ihren Gesundheitszustand oder bringt sie um. Die Tugenden eines Arztes sind jene Eigenschaften, die dazu führen, dass er seine Sache gut macht. Es sind normative Eigenschaften von Ärzten d.h. Eigenschaften, die eine bestimmte Wirkung haben sollen. Herzen entwickeln sich gemäß einem Genom. In großen Teilen der modernen Welt werden Küchenmesser aufgrund eines Designs hergestellt und Ärzte werden nach einem universitären Curriculum ausgebildet. Auf diese Weise bilden Messer und Ärzte REFs. Echte Funktionen kommen der Kategorie des Messers oder des Arztes zu, derivativ einem Mitglied der Kategorie. Insofern kann eine Funktion ein Maß liefern, von dem ein faktisches Exemplar abweichen kann. Deshalb bilden Ärzte oder Messer funktionale normative Kategorien. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen biologischen und kulturellen Funktionen. Der wichtigste Unterschied zwischen biologischen und kulturellen funktionalen normativen Kategorien besteht nun im Folgenden: Biologische Merkmale haben Echte Funktionen nur als Teile oder Äußerungen von Lebewesen, Lebewesen selbst hingegen haben als solche keine Echten Funktionen. Artefakten hingegen kommen als ganzen Echte Funktionen zu. Die Teile von Artefakten haben eine Funktion im Hinblick auf die übergeordnete Funktion des Artefakts. Dieser Gedanke findet sich auch in der Rolle des Designs wieder: Die Herstellung von Artefakten wird durch ein Design vermittelt. Das Design hat die Funktion, zur Herstellung von Artefakten beizutragen, und die Funktion des Designs wird durch die Funktion jener Artefakte bestimmt, die es hervorzubringen die Funktion hat. Im folgenden Abschnitt möchte ich ausführen, was es heißt, dass funktionale normative Kategorien kulturell sind. Sie sind es, insofern sie zu einer kulturellen Welt gehören. Die am Anfang dieses Abschnitts formulierte These muss also erweitert werden und lauten, dass die Funktion F eines Artefakts X eine kollektiv und historisch selektierte Wirkung innerhalb einer kulturellen Welt ist. Die Ausbildung einer kulturellen Welt ist, wie ich zeigen möchte, selbst ein biologisches Merkmal unserer Art. Deshalb ist diese Erweiterung der These nicht trivial oder zirkulär. 3.2.6. Kulturelle Welt und Kreativität Sicher drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, ob nicht auch Artefakten nur deshalb eine kulturelle Funktion zukommt, weil sie Bestandteil einer von intentionalen Subjekten geschaffenen kulturellen Welt sind und weil ihr Design letztlich Ausdruck der Absichten 261 von intentionalen Subjekten ist. So wäre die Normativität der kulturellen Funktionen letztlich von der Intentionalität der Subjekte abhängig. Aus der Perspektive der Biosemantik hat dies auch seine Ordnung. Allerdings müssen wir sowohl die kulturelle Welt, in der wir Artefakte vorfinden, als auch die individuelle Intention, die Artefakte hervorbringen hilft, als biologische Phänomene verstehen. Die Normativität, die den Funktionen von Artefakten zukommt, kommt ihnen zwar als kulturelle zu, hängt aber letztlich von biologischen Faktoren ab. Ich möchte zuerst einen Vorschlag machen, inwiefern die kulturelle Welt als biologisches Phänomen betrachtet werden kann, und dann zeigen, inwiefern es sich bei den Funktionen von vollkommen neu erschaffenen Artefakten nicht um kulturelle, sondern um biologische Funktionen handelt. Der Begriff der kulturellen Welt wird auch die im vorherigen Abschnitt vorgestellte Analyse der kulturellen Funktionen von Artefakten abschließen. Ich möchte den Begriff der kulturellen Welt, innerhalb derer Artefakten eine Echte Funktion zukommt, anhand von Martin Heideggers These einführen, dass der Mensch im Unterschied zum Tier „weltbildend“ sei. Es gehört zur Natur des Menschen, dass er weltbildend ist. Menschen wachsen in die von ihnen gebildete Welt hinein, und erwerben so eine zweite Natur. Auch der Erwerb einer zweiten Natur gehört zur Natur des Menschen (2.4.). Allerdings werde ich Heideggers Welt nicht in einem transzendentalphilosophischen oder idealistischen Sinne deuten, sondern eher in einem naturalistischen und pragmatistischen Sinne als ökologische Nische des Menschen.605 In Grundbegriffe der Metaphysik diskutiert Heidegger die folgende These: „Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.“606 Es ist dem Stein egal, ob er auf der Erde, im Wasser oder in der Sonne liegt. Zwar wird er je nachdem kalt, nass oder warm, doch das macht für den Stein keinen Unterschied. Anders die Eidechse, für die es sehr wohl einen Unterschied macht, ob sie auf einer warmen oder auf einer kalten Felsplatte liegt. Doch die Eidechse erfasst sie nicht als etwas, das man benutzen kann, um darauf zu liegen, um sich aufzuwärmen, um einen besseren Überblick zu haben, um daraus Faustkeile zu schlagen, um seine Mineralstruktur zu erforschen usw. Erst dem Menschen sei der Stein als Stein oder die Platte als Platte und als Teil einer Welt gegeben. Anders als der Stein ist das Tier zwar offen für eine Welt, aber nur dem Menschen ist die Welt offen. Das Tier ist offen für seine Welt, nämlich seine arteigene ökologische Nische. Darin kann Die folgende Darstellung stellt eine Zusammenfassung des in Wild 2008b: V ausgearbeiteten Ansatzes dar. Der Unterschied zwischen idealistischen und pragmatistischen Interpretationen findet sich beispielsweise auch in den Deutungen der Sprachphilosophie des frühen Heideggers. Eine kritische Diskussion dieser beiden Ansätze findet sich bei Liptow 2009. 606 Heidegger 1983: 261. 605 262 es auf Geschlechtspartner, Gefahren und Gelegenheiten reagieren. Dem Menschen aber, so will ich Heideggers Welt deuten, ist als ökologische Nische eine ganze Welt offen. Heidegger unterscheidet verschiedene Bedeutungen von „Welt“. Es gibt erstens die Welt als die Summe dessen, was es gibt, und darin Unterscheidungen in Regionen (die Welt der Primzahlen, der Musik, der Azteken, des Atomphysikers usw.). Zweitens gibt es die Welt als unsere alltägliche Umwelt. Schließlich die Welt als Inbegriff eines Ganzen.607 In der Welt im ersten Sinne sind die Dinge. Heidegger spricht hier von „Innerweltlichkeit“. Für das Dasein und sein In-der-Welt-Sein nun ist die zweite Bedeutung entscheidend. Der Satz „Der Mensch ist weltbildend“ meint zunächst einfach, dass er in einer von ihm gebauten Welt wohnt und wirkt. Dies zeigt sich in den alltäglichen Verrichtungen mit Dingen. Die Dinge, so Heidegger, sind uns zuerst „zuhanden“, sie sind „Zeug“. Wir hantieren mit Zeug, wir haben es zur Hand. Es gibt vielerlei Arten von Zeug, wie Werkzeug, Schuhzeug, Schreibzeug, Flugzeug, Schleckzeug, Flickzeug, Fahrzeug, Schlagzeug, Häkelzeug, Esswaren, Hausrat, Operationsbesteck, Schminkutensilien usw. Es sind Dinge, die kulturelle Funktionen haben, die da sind, um etwas zu bewirken. Zeug ist strukturiert, d.h. jedes Zeug verweist auf anderes. Diesen strukturierten Zusammenhang nennt Heidegger „Zeugzusammenhang“. Zuhandenheit und Zusammenhang zeichnen Zeug aus, mit dem wir praktisch umzugehen lernen und umgehen. Unsere Welt besteht aus praktischen Zeugzusammenhängen. Heidegger meint, dass wir uns zunächst von diesen Praktiken her verstehen. Wir verstehen uns, indem wir uns in einer Welt bewegen, die aus diesen Bezügen besteht. Wir verstehen uns in dieser Welt, sobald wir etwas können, sobald wir uns auf etwas verstehen. Darum ist das Verstehen ein Grundvollzug. Das Verstehen der Welt ist zunächst vorsprachlich. Die Sprache ist nur – wenn auch ein ungeheuer wichtiges – weiteres Zeug, mit dem wir praktisch umzugehen lernen. Das Verstehen und das Lernen des Umgangs mit Zeug ist nicht etwas, das zu uns gleichsam von außen hinzutritt, sondern das Verstehen und das Lernen dieses Umgangs entspricht dem Erwerb einer zweiten Natur. Was Heidegger „In-der-Welt-Sein“ nennt, ist diese zweite Natur. Wir erwerben eine zweite Natur im Umgang mit Zeug, d.h. durch das Hineinwachsen in eine kulturelle Welt. Der Mensch kommt nicht nur nicht wie ein Ding unter Dingen in der Welt vor, sondern er versteht sich vom Zeug und der durch Zeugzusammenhänge gebildeten Welt her, indem er mit dem Zeug praktisch umgeht. Wir verstehen uns also nicht als etwas, das der Welt gegenüber steht, sondern das mitten in der Welt ist. 607 Zu Heideggers Begriff der Welt vgl. Heidegger 1975 und 1993: 63-88. 263 Die Welt und unsere sich in ihr entfaltende zweite Natur ist jedoch nicht identisch mit der Natur oder mit der natürlichen Welt.608 Und wie steht es mit den Tieren? Sie haben, so Heideggers These, keine Welt, sie sind weltarm. Das Tier ist lediglich für seine Umwelt, für seine ökologische Nische offen. Es gehört zum Bereich der Natur, zur natürlichen Welt. Dann muss es bereits im Bereich der Natur so etwas wie eine Welt geben, für die das Tier offen ist, eine Art Vorstufe für das In-der-Welt-sein des Menschen. Warum sollten wir die kulturelle Welt der praktischen Zeugzusammenhänge nicht auch als Bestandteil der natürlichen Welt auffassen, und damit die zweite Natur des Menschen im Bereich der Natur lokalisieren? Wie bei McDowell bleibt die Frage offen, wie sich unsere kulturelle Welt und unsere zweite Natur zur natürlichen Welt und zu unserer ersten Natur verhalten (2.4.). Tiere können Verhaltensänderungen an nachfolgende Generationen weitergeben. Dies bedeutet, dass sich bei Tieren nicht nur ein genetisches System der Vererbung findet, sondern auch ein nicht-genetisches Vererbungssystem für Verhaltensmuster. Ein entscheidender Vererbungsmechanismus ist das sozial vermittelte Lernen. Der Prozess des sozialen Lernens und der Weitergabe von Verhaltensweisen ist also nicht notwendig an symbolische oder sprachliche Kommunikation gebunden.609 Doch Verhaltensweisen sind noch keine Artefakte und kein Zeug. Wir haben allerdings bereits gesehen, dass Verhaltensweisen nur eine Gruppe jener biologischen Merkmale sind, die ich als „Äußerungen“ bezeichnet habe, die andere Gruppe sind Produkte. Nun kann man reichhaltigere, materielle Kulturen bei Menschenaffen finden.610 Werkzeuge werden in mindestens zwei Populationen derselben Art auf verschiedene Weise hergestellt, verwendet Heidegger betont: „Zur entdeckten Natur, d.h. zum Seienden, sofern wir uns zu ihm als enthülltem verhalten, gehört es, dass es je schon in einer Welt ist, aber zum Sein der Natur gehört nicht Innerweltlichkeit. […] Es gibt noch ein Seiendes, zu dessen Sein in gewisser Weise Innerweltlichkeit gehört. Dieses Seiende ist alles das, was wir das geschichtliche Seiende nennen, […] d.h. all der Dinge, die der Mensch, der im eigentlichen Sinne geschichtlich ist und existiert, schafft, bildet, pflegt, die Kultur und die Werke. Dergleichen Innerweltliches ist nur, genauer entsteht nur und kommt nur zum Sein als Innerweltliches. Kultur ist nicht so wie Natur. […] Welt ist nur, wenn und solange ein Dasein existiert. Natur kann auch sein, wenn kein Dasein existiert. […] Als Grundbestimmung der Existenz fixierten wir das In-der-Welt-sein. Diese Struktur ist gegen die Innerweltlichkeit abzugrenzen, die eine mögliche Bestimmung der Natur ist. Es ist aber nicht notwendig, dass Natur entdeckt ist, d.h. innerhalb der Welt eines Daseins vorkommt.“ (Heidegger 1975: 240f. und 248) Die beispielsweise im Alltag, durch Entdeckungsreisen oder Wissenschaft entdeckten Naturdinge werden zu etwas Innerweltlichem, sobald sie in den Gesamtzusammenhang unserer Welt treten. Würden wir Menschen jedoch infolge einer Katastrophe verschwinden, hörten die Sonne, die „Behringstraße“ genannte Meerenge oder Wasser natürlich nicht einfach auf zu bestehen, sondern blieben Naturdinge. Aber sie verlören ihre Innerweltlichkeit, denn sie würden nicht mehr angebetet, befahren oder gesammelt. Kulturdinge hingegen wie Werkzeuge, Institutionen oder Gemälde würden zu sein aufhören, was sie sind, denn sie wurden durch uns geschaffen. Stiefel, Laptops und Stifte mögen als materielle Naturdinge noch vorhanden sein, nicht aber als innerweltliches Schuh-, Schreib- und Fahrzeug. 609 Zu den „behavioural inheritance systems“ vgl. Avita und Jablonka 2000; Jablonka und Land 2004: 155ff. Zum sozialen Lernen vgl. Heyes und Galeff 1996. 610 Zum Kulturbegriff bei Tieren vgl. van Schaik 2007. Für eine Zusammenstellung der SchimpansenWerkzeuge vgl. Whiten et al. 1999. 608 264 und weitergegeben. So stellen Schimpansen Werkzeuge her, indem sie einen Ast bearbeiten, um mit ihm Termiten zu angeln. Schimpansen angeln aber auf unterschiedliche Weise. Einige Populationen streifen die am Stöckchen krabbelnden Termiten mit der Hand ab, andere hingegen ziehen das Stöckchen durch den Mund. Die Schimpansen stellen Werkzeuge her, benutzen sie aber lokal auf unterschiedliche Weise, d.h. es gibt Unterscheide zwischen Populationen. In der Werkstatt der Schimpansen finden sich nicht nur zurecht gestutzte Grashalme und Stöckchen für das Angeln von Termiten, sondern beispielsweise auch Bohrstöcke für Termitenhaufen, für Honig, Harz oder Knochenmark, Astharken, um fruchttragende Zweige heran zu ziehen, Blatttupfer zur Wundbehandlung, Zahnstocher und sogar eine Art Hammer und Amboss aus Stein um Nüsse zu knacken. Geeignete Hämmer und Nüsse werden bisweilen über längere Strecken zu den Nussbäumen bzw. zur Werkstatt getragen. Nicht nur stellen Schimpansen Werkzeuge her, es existieren unterschiedliche Schimpansenpopulationen in West-, Werkzeugkulturen Zentral- und innerhalb Ostafrika. isolierter Techniken von Werkzeugherstellung und -gebrauch werden an die nächste Generation weiter gegeben. Eine Heideggersche Welt ist natürlich ungleich dichter. Denken wir nur daran, was man mit Werkzeugen alles machen kann. Man stellt sie nicht nur her und verwendet sie, man bewahrt sie auf, nimmt sie mit, leiht sie aus, verbessert sie, und benutzt sie, um andere Werkzeuge herzustellen. Zwar gibt es Anzeichen dafür, dass Menschenaffen unter experimentellen Bedingungen Werkzeuge für den späteren Gebrauch aufbewahren, doch die ganze Dichte des Umgangs mit Werkzeug, wie der Mensch sie kennt, scheint ihnen nicht offen zu stehen. Insbesondere werden Werkzeuge nicht mitgenommen, geteilt, ausgebessert oder verbessert. Erst durch diesen potenzierten Umgang entsteht eine Welt. Aber eine solche Welt ist nicht nur ungleich dichter, sie ist wesentlich dicht. Sie ist die Summe der Praktiken und als ganze strukturiert durch Zeugzusammenhänge, und nicht ein natürliches Habitat, in dem auch noch tradierte Verhaltensweisen und Werkzeuge vorkommen. Der Mensch lebt in einer Welt, in der Werkzeug und anderes Zeug nicht unter anderen natürlichen Dingen auch vorkommen mögen, vielmehr besteht diese Welt ganz und gar aus Zeug. Trotz dieser Unterschiede können wir die dichte kulturelle Welt des Menschen und die völlig lose kulturelle Welt des Schimpansen unter einen gemeinsamen biologischen Begriff bringen. Mein Vorschlag lautet nun, dass der Begriff der ökologischen Nische dies leisten kann. Was ist eine ökologische Nische? Eine solche Nische ist nicht identisch mit der räumlichen Umwelt, in der ein Tier lebt. Vielmehr umfasst eine Nische die funktionalen Zusammenhänge zwischen einer biologischen Art und bestimmten Faktoren der Umwelt. 265 Zu diesen Faktoren gehören etwa Nahrungsquellen oder Fressfeinde, Temperatur oder Luftfeuchtigkeit. Sie ermöglichen das Überleben und den Fortbestand der Art. Reh und Haselmaus im selben Wald fressen nicht dasselbe und werden nicht von denselben gefressen; Birken oder Palmen können nicht in jedem Klima und in jedem Boden gedeihen. Man kann eine Nische auch als Gesamtmenge des selektiven Drucks auf eine Art (oder besser: Population) beschreiben. Nun wird die Evolution oft als ein Prozess der Anpassung einer Art an eine Umwelt aufgefasst. Die Umwelt stellt das Problem, die Anpassung ist die Lösung. Der Biologe Richard Lewontin hat dies als „Schloss-Schlüssel-Modell“ der Evolution bezeichnet und kritisiert.611 In diesem Modell sind Nischen der stabile Faktor, der von den Organismen einer Art unbeeinflusst bleibt. Es trifft freilich nicht zu, dass die Nische stabil bleibt, vielmehr verändern Organismen ihre Nischen, nämlich durch ihren Metabolismus, ihr Verhalten oder ihre Präferenzen. Erdwürmer beispielsweise müssen das Erdreich, in dem sie wohnen, beträchtlich umgestalten, damit es zu ihrer physiologischen Beschaffenheit passt. Sie bauen Gänge, sondern Schleim ab, eliminieren Kalzit, ziehen abgestorbene Gräser unter den Boden usw. Dadurch wird die Erde durchlässiger und nährstoffreicher. Biber bauen Dämme, wodurch sie einen Fluss in eine Art Teich verwandeln. Als Folge davon bleibt der Wasserstand stabil, vergrößert sich das Aufenthaltsgebiet der Biber, können Wasserpflanzen, die Bibern als Nahrung dienen, wachsen und sicher durch das Wasser transportiert werden. Viehzüchter beginnen Nahrungs- und andere Ressourcen zu halten. Sie gewinnen Milch von Kühen und stellen neuartige Nahrungsmittel her. Auch sie verändern dadurch ihre Nische. Die Lebensweise des Viehzüchters wird in der Generationenfolge Nachkommen mit Laktosetoleranz bevorteilen. Der Erdwurm verändert seine Umgebung, der Biber baut sie um, der Viehzüchter schafft sie neu. Prozesse dieser Art hat man als „Nischenkonstruktion“ bezeichnet.612 Eine durch Konstruktion modifizierte Nische hat, wie das Beispiel des Viehzüchters zeigt, Rückwirkungen auf die sie besetzende Art (und auch auf andere Arten), so dass Nischenkonstruktion ein Bestandteil der Evolution sein kann. Durch Nischenkonstruktion ändern Lebewesen den Selektionsdruck ihrer Umwelt. Wie ist dies gemeint? Ein wichtiges Moment der Nischenkonstruktion besteht darin, dass umgebaute Nischen weitergegeben werden können, denn die von einer Generation vorgenommenen Umweltveränderungen kommen auch der folgenden Generation zugute. So können spätere Bibergenerationen von dem umgebauten Fluss profitieren. Nischen bilden somit eine Art ökologisches Vererbungssystem. Ebenso wie 611 612 Zur Kritik am Schloss-Schlüssel-Modell vgl. Lewontin 1983. Zur Nischenkonstruktion vgl. Odling-Smee, Laland und Feldman 2003. 266 Verhaltensweisen werden sie auf nicht-genetische Weise weitergegeben, und ebenso wie vererbte Verhaltensweisen beeinflussen sie den Lebensstil und die Entwicklung einer Art. Die Theorie der Nischenkonstruktion erlaubt es Organismen einen direkten Einfluss auf die Umwelt und die Evolution zu nehmen. Dieses erweiterte Verständnis der Evolution steht dem nur genzentrierten Ansatz entgegen. Sowohl die Idee eines ökologischen als auch diejenige eines behavioralen Vererbungssystems erleichtert die Anwendung evolutionärer Erklärungen auf den Menschen. Einerseits sind solche Erklärungen nicht nur auf die Gene beschränkt, andererseits kann man über jene adaptionistischen Erklärungsansätze menschlicher Verhaltensweisen und Institutionen hinwegsehen, die ihren Gegenstand oftmals eher verzerren als erhellen. Auch der Mensch konstruiert seine Nische und diese Nische nimmt Einfluss auf seine Evolution und Entwicklung. Er ist an diese selbst gebaute Nische angepasst, er bewohnt sie. Betrachten wir einige generelle Züge der menschlichen Nischenkonstruktion, die erklären, warum diese Nische im Vergleich zu den Nischen anderer Tiere wesentlich dicht ist. 1. Im Unterschied etwa zu tierlichen Verhaltenstradierungen und Werkzeugkulturen zeichnet sich die Nische des Menschen durch ein hohe quantitative Dichte an Artefakten aus, ja sie besteht nur aus Artefakten, d.h. zu bestimmten Zwecken hergestellten Objekten und Institutionen. 2. Im Falle des Menschen sind sämtliche Umweltfaktoren seiner Nische entweder Artefakte oder durch Artefakte modifiziert. Feuchtigkeit oder Temperatur werden beispielsweise durch Häuser und Kleider modifiziert, Nahrung durch Zerlegung, Zubereitung, Viehzucht, Ackerbau, Kontrolle und Transport, Feinde durch Waffen, Fallen oder Forschung. Die Nischenkonstruktion ist total. 3. In den Werkzeugkulturen der Schimpansen werden in erster Linie bestimmte Fertigkeiten zur Herstellung von Werkzeugen durch sozial vermitteltes Lernen weitergegeben. Demgegenüber werden beim Menschen sowohl die Werkzeuge (und andere Artefakte) als auch die Techniken ihrer Herstellung und Verwendung weitergegeben. Die Weitergabe von Artefakten und von Techniken ihrer Herstellung umfasst Veränderungen und Verbesserungen, die eine Generation gegenüber den Vorgängern vorgenommen hat, sie erfolgt also selektiv und kumulativ. 4. Menschen sind nicht nur ökologische Nischenbauer, sondern spezifischer auch „epistemische Nischenbauer“. Wir haben von der Weitergabe von Zeug und den Techniken seiner Herstellung und Verwendung gesprochen. Die Artefakte einer Welt 267 sind gleichsam doppelt codiert. Sie dienen einem bestimmten Zweck, sie haben eine Um-zu-Struktur – das ist ihre pragmatische Codierung – und sie können als Anleitungen aufgefasst werden – dies ist ihre epistemische Codierung. Die epistemische Codierung betrifft nicht nur Herstellung und Verwendung. Häufiger betrifft sie Unterhalt (Instandhaltung und Reparatur) von Zeug. Schließlich betrifft die epistemische Codierung auch die Verbesserung von Zeug, denn die Um-zu-Struktur gibt Möglichkeiten der Modifikation vor. Schließlich verändern Menschen ihre Umwelt auch, um die Lösung kognitiver Aufgaben entweder zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen.613 5. Menschen verwenden Produkte, um sie zur Herstellung oder Repräsentation anderer einzusetzen. Das Zeug ist also nicht nur Bestandteil der Nische und Instrument der Nischenkonstruktion, sondern auch Instrument zur Herstellung von Bestandteilen zur Nischenkonstruktion. Menschliche Nischenbildung ist reflexiv. Wir haben es also mit Nischenkonstruktion zu tun. 614 kumulativer, epistemischer, reflexiver und totaler Diese vier Elemente sind bei anderen Tieren, wenn überhaupt, nur isoliert und lose, zusammen jedoch gar nicht vorzufinden. Die so charakterisierte Nische des Menschen nun ist, so die These, die Heideggersche Welt. Unsere ökologische Nische besteht, wie die Heideggersche Welt, aus strukturiertem Zeug, aus Werkzeug, Schuhzeug, Schreibzeug, Nähzeug, Esswaren, Hausrat usw. Die Strukturiertheit des Zeugs ist Bestandteil der kumulativen, reflexiven Weitergabe, denn es werden nicht nur Artefakte, sondern mit den Artefakten Techniken ihrer Herstellung und Verwendung – mit anderen Worten: des Designs – und Artefakte zur Herstellung und Einige Beispiele sollen diesen Aspekt veranschaulichen: Wir verändern unsere Umwelt um das Gedächtnis zu entlasten, etwa indem wir Informationen in der Umwelt speichern. Nur schon das häufige Begehen eines Weges ist eine Art Externalisierung einer Gedächtnisleistung. Auch Markierung und Positionierung entlasten das Gedächtnis. Schrift und Bild, Erzählung und Gesang sind externe Speichermedien, die das Gedächtnis entlasten oder die Memorisierung erleichtern. Die moderne Welt ist voller Notizbücher, Tagebücher, Kalender, Laptops und anderer Informationsmedien. Weiter richten wir unsere Umgebung bei vielen Verrichtungen so ein, dass sie uns Nachdenken und Suchen erspart. Die Einrichtung einer Küche erspart dem Koch das Nachdenken über Geräte, ebenso die Einrichtung einer Schreinerei. Der Koch arrangiert die Zutaten in der Reihenfolge ihrer Verwendung. Die epistemische Zurichtung des Arbeitsplatzes trägt entscheidend dazu bei, dass Tätigkeiten leicht, schnell und fehlerfrei ausgeübt werden können. Weiterhin können wir komplizierte Aufgaben in einfache Wahrnehmungsprobleme umwandeln, etwa indem wir Figuren vor uns aufstellen, Figuren in den Sand oder auf eine Tafel zeichnen. Wir können komplizierte Wahrnehmungsprobleme in einfachere verwandeln: Wer ein Feld überblicken muss, löst diese Aufgabe besser von erhöhter Stellung; wer an einer bestimmten Stelle einen Nagel einschlagen will, markiert die Stelle. Anspruchsvolle Lernaufgaben schließlich können in einfachere verwandelt werden. Katzen bringen ihren Jungen lebende Beutetiere, damit sie das Jagen und Töten erlernen. Wir arrangieren die Umgebung von Kindern auf eine Weise, die Lernprozesse ermöglicht, anregt und erleichtert. Nicht nur Erwachsene instruieren dabei Kinder, sondern die arrangierte Umwelt tut desgleichen. 614 Die These der kumulativen und epistemischen Nischenkonstruktion findet sich bei Sterelny 2003. Alternative Theorien zur Evolution menschlicher Kognition sind die Soziobiologie, Evolutionäre Psychologie oder die Kognitive Paläoanthropologie. 613 268 Verwendung von anderen Artefakten (mitsamt den Techniken ihrer Herstellung und Verwendung) weitergegeben. Zeug kommt nicht nur unter anderen Dingen auch in der menschlichen Welt vor. Aufgrund der Totalität des Nischenbaus besteht unsere Welt aus praktischen Zeugzusammenhängen. Die diese Welt strukturierenden Artefakte werden gemeinsam hergestellt und benutzt. Sie sind nicht das Produkt eines Einzelnen, sondern das Ergebnis fortlaufender Anstrengungen.615 Artefakte öffentlicher (das Zeug) und historischer kommen Modifikationen kulturelle Funktionen und (ihre Vorhandenheit) als strukturelle Bestandteile unserer ökologischen Nische (der kulturellen Welt) zu. Die kulturelle Welt, in der Artefakte über Echte Funktionen verfügen, ist nicht in erster Linie ein intentionales Produkt von menschlichen Subjekten, sondern ein biologischer Bestandteil der Natur des Menschen.616 Der kumulative, epistemische, reflexive, totale, ökologische Nischenbau erläutert den Begriff einer Heideggerschen Welt im Sinne des Biologischen Naturalismus’. So vermögen wir einerseits zu verstehen inwiefern der Mensch in der Natur lokalisiert werden kann, und wir können diese Lokalisierung andererseits als eine normative begreifen. Wenden wir uns nun dem Problem neu erschaffener Artefakte zu. Es scheint zwei Fälle zu geben, die für das Verständnis kultureller Funktionen als Echten Funktionen problematisch sind, nämlich neue Artefakte (wie etwa Neuerfindungen) und singuläre Artefakte (wie etwa Kunstwerke). Für solche Artefakte gibt es keine Vorfahren, sie sind nicht Mitglieder einer REF.617 Sollen wir, wie im Falle biologischer Merkmale, sagen, dass neue oder singuläre Artefakte zwar funktionale Rollen haben, aber keine Echten Funktionen? Nun, zuerst kann man darauf hinweisen, dass Neuerfindungen (unabhängig davon, ob sie kopiert werden oder nicht) anders als spontane Mutationen nicht vom Himmel fallen. Sie sind das Resultat 615 Wir verstehen die Artefakte (das Zeug) und deren kulturellen Funktionen (die Vorhandenheit) in unserer Nische (der kulturellen Welt) nicht aufgrund der Absichten anderer, vielmehr verstehen wir, was andere beabsichtigen, aufgrund ihres In-der-Nische-Seins. Was wir bislang unberücksichtigt gelassen haben, ist die Situation, in der sich ein Handelnder befindet. Häufig müssen wir nicht direkt auf mentale Zustände zurückgreifen, um zu verstehen oder vorherzusehen, was ein anderer tun wird. Es reicht, wenn wir wissen, in welcher Situation er sich befindet. Beim Gehen auf dem Bürgersteig oder im Stadtverkehr übernehmen sowohl die impliziten als auch die expliziten Regeln und die Beschaffenheit der Wege die Rolle von Verhaltenserklärern. Sobald man etwas über die Absichten des Anderen herausfinden möchte, kommt der Ablauf ins Stocken. Will man herausfinden, ob der entgegenkommende Passant links oder recht passieren möchte, findet man sich unversehens im bekannten Links-rechts-Passanten-Tanz. Situationen sind durch den Zeug- und Zeichenzusammenhang strukturiert. Wer jemandem bei der Arbeit zusieht, verfolgt nicht die mentalen Zustände des Arbeitenden, sondern seine Hantierung mit Geräten. So gibt die Handhabung von Zuhandenem ebenfalls Aufschluss über Absichten. 616 Wiederum soll nicht ausgeschlossen werden, dass intentionale Zustände zur Nischenkonstruktion beitragen oder Bestandteil der Normalen Bedingung der Echten Funktionen von Artefakten sind. Aus der Perspektive der Biosemantik ist das Haben intentionaler Zustände nicht abhängig vom Bewohnen einer kulturellen Welt (und mithin auch nicht abhängig von der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft), sondern abhängig von der Zugehörigkeit zu einer biologischen Art. 617 Vgl. Vermaas und Houkes 2003: 265f.; Lewens 2004: 141ff. 269 eines Selektionsprozesses, dem unterschiedliche Vorfahren oder Vorstudien eines Prototyps oder eines Werks ausgesetzt wurden. Die Funktion von technischen Artefakten legt es nahe, dass ein Artefakt über bestimmte Eigenschaften verfügen muss, die es wahrscheinlich oder zumindest möglich machen, dass das Artefakt eine bestimmte Wirkung unter bestimmten Umständen überhaupt ausführen kann. Es reicht also nicht aus, dass ihm eine Funktion zugeschrieben wird. Die Zuschreibung von Funktionen ist eine epistemologische Angelegenheit, doch die Funktionen von Artefakten hängen von ontologischen Bedingungen ab. Diese objektiven Bedingungen sind ebenso Bestandteil der Normalen Erklärung für die Ausübung einer Funktion, wie die Absicht des glücklichen Erfinders. Stellen wir uns darüber hinaus vor, jemand baut eine Maschine. Doch damit diese Maschine funktioniert, fehlt eine bestimmte Verbindung zwischen zwei Elementen. Zufällig fällt eine Nuss in die Maschine, stellt die Verbindung her, und bringt sie zum laufen. Hat die Nuss nun die Funktion, diese Verbindung herzustellen? Ja, sie erfüllt eine kausale Rolle in Anhängigkeit von einem Design für die ganze Maschine. Dieses Design mag Ausdruck der Absicht eines Erfinders sein, es involviert jedoch nicht nur diese Ansichten, sondern es involviert Eigenschaften von Materialien, Naturgesetze, Echte Funktionen bereits bestehende Artefakte usw.618 Doch wie auch immer wir die Absicht des Erfinders oder Schöpfers eines Artefakts oder die Absicht des Urhebers oder Entwerfers eines Designs verobjektivieren, es trifft nach wie vor zu, dass neuartige oder singuläre Artefakte ihre Funktion durch die Absichten eines Individuums erhalten, und nicht durch einen öffentlichen und kollektiven historischen Prozess der Herstellung, Verteilung, Nutzung, Wartung, Verbesserung und Veränderung. Ich bin jedoch der Ansicht, dass dies kein Problem für die hier vorgeschlagene Sichtweise bedeutet. Die Lösung besteht darin, die Echten Funktionen neuer oder singulärer Artefakte nicht als kulturelle, sondern als biologische Funktionen zu betrachten. Bei den Funktionen solcher Artefakte handelt es sich um Äußerungen eines Lebewesens mit Adaptierten Abgeleiteten Echten Funktionen. Sie sind eher verwandt mit der Funktion des Farbwechsels eines Chamäleons vor einem Bücherregal mit ausschließlich anthroposophischer Literatur (das Farbmuster ist völlig neuartig und bei keinem Chamäleon jemals zuvor aufgetreten), als mit der Funktion von Automobilen (1.1.4.). Technische Neuerfindungen haben die biologische Funktion, bestimmte Probleme zu lösen, die nicht notwendigerweise Probleme des Erfinders sind. Ihre Funktion leitet sich 618 Analog verhält es sich mit der Anekdote des Malers Apelles. Dieser wollte beim Malen eines Pferdes dessen Schaum auf dem Gemälde nachahmen. Das sei ihm so misslungen, dass er aufgab und den Schwamm, mit dem er die Farben vom Pinsel abzuwischen pflegte, gegen das Bild schleuderte. Als dieser auftraf, habe er eine Nachahmung des Pferdeschaums hervorgebracht. 270 von dem Vermögen der instrumentellen Intelligenz oder des Zweck-Mittel-Denkens ab. Wir sind nicht gezwungen, uns das Zweck-Mittel-Denken allein als Ausdruck des Vermögens vorzustellen, durch Versuch und Irrtum zu lernen. Wir können das ZweckMittel-Denken auch als eine Tätigkeit der Vorstellungskraft denken. Das Zweck-MittelDenken ist eine Fähigkeit, über die auch Poppersche Wesen verfügen (2.2.).619 Diese spielen Szenarien vor ihrem inneren Auge durch und machen sich dies für die Entscheidung zwischen alternativen Handlungsabläufen zunutze. Wenn wir einen Schritt weiter gehen und Gregorische Wesen berücksichtigen, so kommen nicht nur verschiedene Handlungsabläufe ins Bild, sondern auch Artefakte. Nun können auch Artefakte als Bestandteile von alternativen Handlungsabläufen vor dem inneren Auge durchgespielt werden. Dies können sich Gregorische Wesen für eine Entscheidung zwischen alternativen Zusammensetzungen von Artefakten zunutze machen (2.2.). Neuerfindungen erhalten ihre Funktion also abgleitet vom Vermögen der Vorstellungskraft ihrer Erfinder, Artefakte zu einem bestimmten Zweck neu zusammenzusetzen. Das Resultat dieses Prozesses ist eine Vorstellung eines neuen Artefakts, eine Art mentales Design für ein neues Artefakt. Die Funktion dieses Designs besteht darin, ein Objekt hervorzubringen, das ein Problem zu lösen verspricht. Dieses Objekt (das Artefakt) ist ein Mittel zu einem Zweck, dessen Funktion sich von dem Vermögen des Zweck-Mittel-Denkens ableitet.620 Und der Zweck, das zu lösende Problem, ist der Adaptor der Neuerfindung. Erst wenn diese neuartigen Artefakte Teil eines öffentlichen und historischen Prozesses der Reproduktion oder der Konsumation werden, erst wenn sie Bestandteil der kulturellen Welt (unserer ökologischen Nische) werden, kommt ihnen auch eine kulturelle Funktion zu.621 Die Schöpfung von Hier zwei Beispiele für Poppersche Wesen, die sich des Zweck-Mittel-Denkens bedienen. Ein Rabe sieht im klirrenden Winter eine Stange, an der an Schnüren gefrorenes Trockenfleisch hängt. Im Flug ist es nicht möglich, das harte Fleisch mit dem Schnabel zu packen. Was tun? Der Rabe setzt sich auf die Stange, zieht ein Stück Schnur mit dem Schnabel zu sich hoch, legt es auf die Stange, setzt den Fuß darauf, holt das nächste Stück hoch, legt es wiederum auf die Stange, setzt den Fuß darauf usw. Schließlich hält er das Fleisch in den Krallen und pickt Stücke heraus (vgl. Heinrich 1996). Der Psychologe Wolfgang Köhler untersuchte kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Intelligenz von Menschenaffen. So ließ er beispielsweise außerhalb des Schimpansenkäfigs Bananen auslegen, und zwar in einer für Schimpansenarme zu großen Entfernung. Im Käfig befanden sich zwei Bambusrohre von unterschiedlichem Durchmesser, mit denen die Schimpansen Futter heranziehen konnten. Doch ein Schilfrohr allein reichte nicht an die Bananen heran. Ein Schimpanse namens Sultan entdeckte, während er mit diesen Rohren spielte, dass sich das dünnere in das dickere Rohr stecken lässt. Jetzt konnte er die ersehnten Bananen erreichen (vgl. Köhler 1921). 620 Für eine Analyse des Zweck-Mittel-Denkens auf teleosemantischer Grundlage vgl. Papineau 2005. 621 Longy 2007 und 2009 löst das Problem eines neuen Artefakts, das niemals seine Funktion F ausgeübt hat, wie folgt: Bei einem solchen neuen Artefakt A kann die Wirkung von Vorfahren nicht erklären, warum A existiert und warum A die Funktion hat, F zu tun. Doch A hat eine Eigenschaft E, die zeitlos mit einer bestimmten Wirkung verbunden ist. Ist diese Wirkung F, dann hat A die Funktion F, auch wenn keine Vorfahren vorhanden sind, deren Besitz von F erklärt, warum A existiert und die Funktion F hat. Objektive Gründe für die Auswahl von Eigenschaften mit bestimmten Wirkungen übernehmen im Falle von Neuerfindungen oder singulären Artefakten die Rolle, die tatsächliche Wirkungen und deren Folgen für die Fitness von Organismen bei biologischen Funktionen spielen. Objektive Gründe dafür, dass eine bestimmte Eigenschaft oder Entität eine bestimmte Wirkung hat, können darin gefunden werden, dass sie zu einer 619 271 singulären Artefakten wie Kunstwerken kann in Analogie dazu als biologische Äußerung mit Nicht-Relationalen Abgeleiteten Echten Funktionen betrachtet werden. Deren Funktion kann möglicherweise darin gesehen werden, bestimmten Erfahrungen ihres Schöpfers auf Ausdruck zu verleihen. Dies bedeutet weder, dass Kunstwerke wesentlich Expressionen sind, noch dass sie ihre Bedeutung durch den Schöpfer erlangen. Dies geschieht erst durch ihre Integration in die kulturelle Welt (vgl. die Überlegungen zur Lyrik in Abschnitt 1.1.7.).622 Sowohl biologische Funktionen als auch kulturelle Funktionen sind stets Echte Funktionen, die Mitglieder einer biologischen oder kulturellen funktionalen normativen Kategorie besitzen. Funktionale normative Kategorien werden durch REFs gebildet. Die Normativität, das Seinsollen, der Mitglieder dieser Kategorien stellt der Biosemantik jene Normativität zur Verfügung, die sie benötigt, um die normative Dimension von RVehikeln, mithin deren Intentionalität, naturalistisch zu erklären, denn diese Normen sind beobachterunabhängig, ontologisch objektiv und kommen zunächst Teilen und Äußerungen von Lebewesen zu, dann aber auch Artefakten in einer kulturellen Welt. Damit verfügen wir über die Grundlagen für einen Biologischen Naturalismus. Ich habe bereits skizziert, wie sich der intentionale Aspekt in der Biosemantik gestaltet, und zwar anhand von tierlichen Repräsentationen wie Bienentänzen, kognitiven Repräsentationen wie Überzeugungen, sprachlichen Repräsentationen wie Aussagesätzen und künstlerischen Repräsentationen wie sie die Lyrik der Moderne hervorbringt. Ich werde den semantischen Aspekt der Biosemantik anhand des Inhalts von (visuellen) Wahrnehmungen detaillierter im Kapitel 5 vorstellen. Im Moment bin ich noch mit dem biologischen Aspekt der Biosemantik befasst. Zu diesem biologischen Aspekt gehört nicht nur die bislang geleistete Verteidigung der Existenz natürlichen Normen, sondern auch die Naturalisierung (Beheimatung) des Menschen, insbesondere seiner zweiten Natur, in der natürlichen Welt. Ein erster Schritt wurde im Abschnitt über kulturelle Funktionen getan. Doch es fehlt ein wesentlicher Schritt, nämlich der Animalismus, demzufolge Menschen essenziell Tiere sind. natürlichen Art gehören. Natürliche Arten umfassen nicht nur REFs, sondern auch zeitlose Arten wie Metalle. Sie gelangt schließlich zu folgender tentativen Bestimmung: X hat die Funktion F: (i) X ist Mitglied einer natürlichen Art. (ii) Mitglieder von X tun F mit einer Wahrscheinlichkeit p aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer natürlichen Art. (iii) X existiert wegen (ii). 622 Die Kunsttheorie von Dewey entwickelt Vorstellungen dieser Art (vgl. Dewey 1989a). Zur Integration von Deweys Philosophie in eine teleosemantische Perspektive vgl. Godfrey-Smith 1996: V-VI. Die hier suggeriere Perspektive hat in meinen Augen den Vorteil, dass sie evolutionstheoretische und sozialkonstruktivistische Erklärungen von Kunstwerken nicht als Gegensätze betrachten muss. Sie trennt den Schöpfungsakt eines singulären Artefakts als biologische Äußerung von der Integration des Artefakts in die kulturelle Welt, in der es erst zu einem Kunstwerk mit einer kulturellen Funktion wird (vgl. Wilson 2005). Für eine Theorie des Kunstwerks als einer kulturellen funktionalen normativen Kategorie vgl. Zangwil 2007; Parsons und Carlson 2009, wobei ersterer eine strikt intentionalistische Sicht, letztere hingegen eine kollektivistische Sicht vertreten. 272 Ich werde diesen Schritt anhand der Diskussion spezifischer normativer Kategorien vorbereiten und schließlich in Kapitel 4 nehmen. 273 3.3. Spezifische normative Kategorien 3.3.1. Thompson und Foot über Lebensformen Unter den Begriff einer natürlichen Norm – verstanden als normative Kategorie, die defekte Mitglieder qua Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie enthalten kann – finden sich, so habe ich behauptet, zwei verschiedene Sorten natürlicher Normativität, nämlich einerseits die Normativität von Funktionen und andererseits die Normativität von Lebewesen. Funktionen und Lebewesen stellen ein Maß dar, von dem Entitäten und Prozesse abweichen können. Ich habe gezeigt, inwiefern dies der Fall für funktionale normative Kategorien ist. Es gibt nun nicht nur defekte Mitglieder funktionaler Kategorien, sondern auch defekte Mitglieder von biologischen Arten. Lebewesen können krank sein, unfähig zu bestimmten Äußerungen oder ihnen fehlen bestimmte Teile, und mit beidem die entsprechenden Fähigkeiten. Es gibt gute und schlechte, außergewöhnliche oder abnorme Teile, Äußerungen und Exemplare einer Art. Und es gibt gute und schlechte Bedingungen für Exemplare einer Art, außergewöhnliche oder abnorme Bedingungen, unter denen Exemplare einer Art leben.623 Wie steht es mit der anderen Sorte normativer Kategorien, den spezifischen normativen Kategorien? Woran haben gute und schlechte, defekte und intakte, gesunde und kranke Exemplare einer Art ihr Maß? Eine der Biosemantik kongeniale philosophische Theorie, die es uns erlaubt, diese Fragen zu beantworten, stellt die Tugendethik in der naturalistischen Ausprägung dar, die ihr Foot und Hursthouse gegeben haben.624 In diesem Abschnitt möchte ich diesen Ansatz mit dem Ziel einführen, ein Verständnis der spezifischen normativen Kategorien zu entwickeln und verteidigen (3.3.1.). Ich werde zeigen, dass der – pace Foot und Hursthouse – mit dem 623 Natürlich können Lebewesen als Bestandteile der kulturellen Welt eine kulturelle Funktion übernehmen. Wir züchten Obstbäume und Hunde zu verschiedenen Zwecken und bilden die Hunde auch entsprechend aus. Hierbei handelt es sich um Echte Funktionen, doch nicht um natürliche Funktionen, die Lebewesen als Mitglieder einer bestimmten Art zukommen. Und natürlich können Lebewesen Funktionen im Sinne kausaler Rollen haben. Beispielsweise kann es als die Funktion von Würmern betrachtet werden, als Nahrungsressource für Maulwürfe zu dienen. Doch dafür sind Regenwürmer nicht selektiert worden, es handelt sich lediglich um ein Funktionieren-als. Andererseits übernimmt eine Regenwurmpopulation eine Funktion im Hinblick auf die Beschaffenheit eines bestimmten Stück Bodens, und es könnte deshalb so aussehen, als wäre dies eine selektierte Wirkung dieser Organismen, weil die Wirkungen ihres Verhaltens einen Beitrag zur Nischenkonstruktion leistet. Doch wie wir bereits gesehen haben (1.1.3.), kann eine Funktion nur derivativ einem Organismus oder einer Population zugeschrieben werden. Eigentlich handelt es sich um die Funktion eines Vermögens (eines K-Mechanismus) eines Organismus oder der Individuen einer Population. 624 Vgl. Foot 2001, 2002b: XII; Hoursthouse 1999, 2004. Ich betrachte die Arbeiten von Hursthouse als Konkretisierungen von Foot, wie sie es selbst tut. Die Erneuerung dieser aristotelisch ausgerichteten Tugendethik im 20. Jh. geht zurück auf Anscombe 1958 und Geach 1977. Nussbaum 1999 und McIntyre 1999 vertreten verwandte Auffassungen. Die Tugendethik hat jedoch viele Gesichter (vgl. Swanton 2003; Annas 2006). 274 darwinistischen Rahmen der Biosemantik kompatibel ist (3.2.3.). Schließlich möchte ich die Übertragung des Ansatzes auf die Bewertung moralischer Aspekte unserer Lebensform darlegen und einige Einwände zurückweisen, ohne diese Übertragung jedoch im vollen Umfang darzulegen oder verteidigen zu können (3.3.3.). Es ist nicht unerheblich, diese Darlegung mit einzubeziehen, denn ihr Zweck besteht darin, plausibel zu machen, dass natürliche Normen die Grundlage nicht nur intentionaler, sondern auch moralischer Normativität abzugeben vermag.625 In Natural Goodness übernimmt Foot als Ausgangspunkt die von Geach vertretene These, dass „gut“ kein prädikatives, sondern ein adverbiales Adjektiv ist (3.1.3.). Gutheit ist kein autonomes Prädikat, sondern stets die Gutheit einer bestimmten Art von Dingen. Betrachten wir zunächst solche Redeweisen wie: (1) „Dieser Baum hat gute / schlechte Wurzeln.“ (2) „Hitze ist gut für Kakteen, aber schlecht für Lilien.“ (3) „Was für ein gesundes / krankes Exemplar!“ Mit Redeweisen wie (1) zeichnen wir bestimmte Bedingungen als gut oder schlecht für Lebewesen aus. Welche Bedingungen für ein Lebewesen gut oder schlecht sind, hängt davon ab, um welche Art Lebewesen es sich handelt. Bedingungen werden als „gut“ oder „schlecht“ im Hinblick auf eine Art spezifiziert, die Ausdrücke werden also attributiv gebraucht. Natürlich gibt es etwas, das diese Bedingungen insgesamt gut macht, nämlich der Umstand, dass sie zum Gedeihen von Lebewesen beitragen. Ob etwas für ein Lebewesen gut oder schlecht ist, hängt von seinem positiven oder negativen Beitrag zum Gedeihen des Lebewesens ab. Die Gutheit oder Schlechtheit der Bedingungen hängt also letztlich davon ab, dass etwas ein Lebewesen ist, und davon, um welche Art von Lebewesen es sich handelt. Weiterhin beschreiben wir mithilfe solcher Redeweisen wie (2) bestimmte Teile von Lebewesen als gut oder schlecht. Eine Pflanze kann gute (starke, kräftige) Wurzeln haben dafür, dass es sich bei dieser Pflanze um eine Eiche handelt. Würden wir vergleichbare Wurzeln bei einer Sonnenblume finden, so würde wir nicht von starken und kräftigen Wurzeln, sondern von abnormen Auswüchsen und Wucherungen sprechen. Ob die Teile gut oder schlecht sind, hängt letztlich wiederum davon ab, dass etwas ein Lebewesen ist, und um welche Art von Lebewesen es sich handelt. Schließlich bezeichnen wir mittels solcher Redeweisen wie (3) bestimmte Exemplare als gut oder 625 Für die Ausführung dieser These vgl. Kapitel 3. 275 schlecht. Unter die Schlechtheit eines Lebewesens fallen etwa Krankheiten, körperliche Defekte, Verhaltensabnormitäten. Nehmen wir die uns bereits bekannten Springspinnen (3.2.4.) Stellen wir uns vor, diese Familie wäre noch nicht bekannt. Ein Mitglied dieser Spinnenfamilie besitzt nicht nur relativ zu seiner Körpergröße enorm große Hauptaugen, sondern es verfügt zusätzlich noch über kleine Seitenaugen. Handelt es sich um eine kranke Spinne mit augenartigen Auswüchsen? Oder um das Resultat eines verrückten Laborexperiments? Oder nehmen wir Springspinnen, die Ameisen mimen. Handelt es sich bei einem Exemplar um abnorme Ameisen mit acht Beinen und mehreren Augen? Wiederum, so scheint es, hängt die Entscheidung darüber, ob es sich bei einem Exemplar um ein abnormes oder normales, um ein krankes oder gesundes, um ein defektes oder intaktes Lebewesen handelt, davon ab, um welche Art von Lebewesen es sich handelt.626 Die Gutheit oder Schlechtheit von Bedingungen, Teilen und Exemplaren scheint darüber hinaus nicht beobachterrelativ zu sein, sondern hängt davon ab, zu welcher Art von Lebewesen ein Organismus gehört. Es sind biologische Tatsachen bestimmter Art, die für Gutheit und Schlechtheit bei Lebewesen ausschlaggebend sind. Was würde beispielsweise jemand sagen, der die Auffassung vertritt, dass die Zuschreibung von „gut“ oder „schlecht“ Ausdruck einer Pro-Einstellung sei? Was sagt ein Vertreter dieser Anschauung auf die Frage, was es für eine Eiche heißt, gute Wurzeln zu haben oder unter guten Bedingungen zu wachsen? Die Antwort müsste in etwa lauten: „Gute Wurzeln sind Wurzeln, die wir wählen würden, wenn wir Eichen wären, und ebenso sind gute Bedingungen solche, die wir wählen würden, wenn wir Eichen wäre.“ Diese Antwort zeugt von einer bestimmten Form des Anthropomorphismus, die uns auf geradezu lächerliche Weise von der Natur anderer Lebewesen unterscheidet. Die Absurdität dieser Antwort liegt in der zwanghaften Projektion unserer Vorstellungen auf den Baum.627 Dabei gibt es offensichtlich eine andere Antwort: Gute Wurzeln und gute Bedingungen für eine Eiche sind solche, die Mitglieder seiner Art typischerweise gedeihen lassen. Natürlich kann ein Baum schlechte oder gute Wurzeln relativ zu unseren Vorstellungen und Präferenzen haben. Wollen wir einen Krüppelbaum züchten oder jemandem einen besonders missratenen Baum schenken, sind andere Wurzeln gut bzw. schlecht. Aber die Pointe ist, dass ein Baum einer Art gute oder schlechte Wurzeln qua Mitglied dieser Art haben kann, ganz unabhängig von unseren Vorstellungen und Präferenzen. Die Gutheit oder Schlechtheit der Wurzeln qua Teile eines Lebewesens einer Art hat nichts mit unseren Vgl. die Entwicklung dieser Überlegung bei Thompson 2004. Eine der bedauerlichen Auswirkungen des Paley-Syndroms (2.1.), nur dass hier der Zweck nicht zur Unterstellung eines transzendenten, sondern eines immanenten Zwecksetzers führt. 626 627 276 Vorstellungen oder Präferenzen zu tun. Es handelt sich, wie Foot sagt, um natürliche Qualitäten und natürliche Defekte eines Wesens. Wir können also festhalten, dass die oben diskutierten Redeweisen von der Gutheit von Teilen, Bedingungen und Exemplaren offenbar etwas damit zu tun haben, dass es sich um Lebewesen handelt und vor allem damit, um welche Art von Lebewesen es sich handelt. Und zweitens können wir festhalten, dass die Gutheit bei Lebewesen keine Sache der Beobachtereinstellung ist. Allgemein kann man der attributiven Auffassung von „gut“ und „schlecht“ zufolge von einem Objekt nicht einfach sagen, dass es gut ist, sondern man muss stets mitsagen, zu welcher Art von Objekten es als gutes Exemplar gehört. Da es nun keinen Grund zur Annahme gibt, dass sich der Gebrauch von „gut“ im moralischen Bereich schlagartig ändert, verwenden wir auch „moralisch gut“ attributiv. Bestimmte Dispositionen oder Prozesse sind nicht Charakterzüge oder Handlungen und additiv dazu auch noch gut, sondern es sind gute oder schlechte Ausprägungen bestimmter Charakterzüge oder Handlungen. Ebenso sind bestimmte Lebewesen nicht Menschen und additiv dazu auch noch gut, sondern diese Lebewesen sind gute Menschen. Moralisch gute Menschen und moralisch gute Taten sind nun Menschen bzw. Taten, die dazu führen dem Gedeihen ihrer Art zu Gute zu kommen – oder wie Hume sagen würde: Es handelt sich um Charakterzüge oder um Taten aufgrund von Charakterzügen, die uns selbst oder anderen angenehm oder nützlich sind. Solche Charakterzüge sind Tugenden. Entsprechend lautet die allgemeine These von Foot, „that moral judgment of human actions and dispositions is one example of a genre of evaluation itself actually characterized by the fact that its objects are living things“.628 Damit stellt sich Foot zwei Aufgaben: 1. Sie muss eine Form der Bewertung der Gutheit und Schlechtheit für Lebewesen finden. Dies verlangt nach einer Theorie über „natural goodness and defect in living things“.629 Mit anderen Worten: Lebewesen müssen als eine natürliche normative Kategorie aufgefasst werden. 2. Sie muss zeigen können, dass die für Lebewesen entwickelte Auffassung natürlicher Normativität die Grundlage dafür abzugeben vermag, dass menschliche Handlungen und Dispositionen einer moralischen Bewertung unterzogen werden können, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie Menschen als Lebewesen betrifft. Foot 2001: 4. Vgl. auch Foot 2002a: 43.: „...there is a conceptual connexion between life and good in the case of human beings as in that of animals and even plants. Here, as there, however, it is not the mere state of being alive that can determine, or itself count as, a good, but rather life coming up to some standard of normality.“ 629 Foot 2001: 3. 628 277 Die erste Aufgabe verlangt nach einer Theorie natürlicher Normen und die zweite nach einer Anwendung der Lösung der ersten Aufgabe auf die Moralität von Menschen. Mir geht es zunächst darum, die erste These aufzunehmen und zu verteidigen. Die gesuchte Form der Bewertung der Gutheit und Schlechtheit für Lebewesen findet Foot bei Thompson:630 Ein Lebewesen sei defekt, wenn ihm ein Merkmal oder ein Vermögen fehlt, das typisch für die „Lebensform“ (life-form) ist, zu der ein solches Lebewesen gehört. Es ist die Lebensform, die das Maß vorgibt, von dem Exemplare abweichen können, sie ist die Kandidatin für die gesuchte spezifische normative Kategorie. Ich möchte allerdings drei Thesen an Thompsons Position unterscheiden: 1. die These, der zufolge etwas nur dann ein Lebewesen ist, wenn es Teil einer Lebensform ist, 2. die These, dass die Zugehörigkeit zu einer Lebensform Lebewesen einem normativen Standard unterstellt, und 3. die These, dass es sich bei dem Begriff der Lebensform um einen nichtempirischen Begriff handle. Die ersten beiden Thesen akzeptiere ich, nicht aber die dritte These. In diesem Abschnitt will ich die ersten beiden Thesen darstellen und zeigen, dass Lebensformen spezifische normative Klassen sind. Thompson zufolge zeigt sich die Normativität der Lebensform in der besonderen Form von Urteilen über Lebewesen. Solche Urteile haben einerseits die Form der oben diskutierten Redeweisen (1) bis (3). Diese Redeweisen von der Gutheit von Teilen, Bedingungen und Exemplaren bringen eine normative Dimension dadurch ins Spiel, dass sie Individuen vor dem Hintergrund arttypischer Ausprägungen von Teilen, Äußerungen und entsprechenden Fähigkeiten bewerten. Um eine solche Bewertung vorzunehmen, so haben wir gesehen, müssen wir wissen, dass es sich um ein Lebewesen handelt und um welche Art von Lebewesen es sich handelt. Doch auch scheinbar nicht-normative, eine Lebensform scheinbar nur beschreibende Urteile verfügen über eine normative Dimension – Urteile wie „Das Hermelin wechselt im Winter den Pelz“, „Springspinnen haben Seitenaugen“, „Der Berggorilla ist schwarz“. Solche Urteile finden wir in biologischen Texten über das Hermelin, über Springspinnen oder über den Berggorilla. Thompson ist der Ansicht, das Entscheidende an der Speziesspezifität normativer Urteile über Lebewesen sei ihre logische Form. Die Form solcher Urteile lautet: „S ist / hat / tut F“ (oder „Se sind 630 Thompson 1995 (= Thompson 2008: I), 2004. 278 / tun / haben / F“). Thompson nennt solche Urteile „aristotelisch-kategorische Urteile“ (Aristotelian categoricals) oder „naturhistorische Urteile“ (natural-historical judgements).631 Er meint, es handle sich um eine Urteilsform sui generis. Solche Urteile zeichnen sich erstens durch nicht-statistische Generalität aus. Wir bilden allgemeine Aussagen wie „Der Berggorilla hat schwarzes Fell“ oder „Der Berggorilla ist ein Pflanzenfresser“ oder „Der Berggorilla lebt in Gruppen“. Das sind keine statistischen Aussagen, sondern Beschreibungen der Lebensform Berggorilla. Wie im Falle von Funktionen müssen keinesfalls die überwiegende Anzahl der Mitglieder einer normativen Kategorie ihrem Maß entsprechen: Die meisten Spermien erfüllen ihre Funktion nicht und die meisten Erwachsenen haben keine 32 Zähne. Sie zeichnen sich zweitens durch Atemporalität aus. Der Indikativ Präsens ist diesen Urteilen nicht zufällig, sondern drückt aus, dass nicht bestimmte individuelle Berggorillas zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort beschrieben werden, sondern die Lebensform Berggorilla. Drittens zeichnen sie sich durch die eigenartige Verwendung des Singulars aus. Wir sprechen von dem Berggorilla (Gorilla beringei beringei), wenn wir die Lebensform charakterisieren. Viertens schließlich unterstützen diese Urteile, trotz ihrer verallgemeinernden Form, eine bestimmte Schlussform nicht. Wir können von „Der Berggorilla hat schwarzes Fell“ und „Guido ist ein Berggorilla“ nicht schließen, dass Guido schwarzes Fell hat, denn Guido ist ein Albino. Die möglichst vollständige naturhistorische Beschreibung einer Lebensform umfasst nun solche naturhistorischen Urteile, deren Gesamtheit das Maß der normativen Bewertung für ein Exemplar einer Lebensform abgibt: „If, though, we want to apply ‘normative’ categories to sub-rational nature, and apart from any relation to ‘our interests’, then the question inevitably arises, and not so unreasonably: Where does the standard come from? What supplies the measure? The system of natural historical propositions with a given kind as subject supplies such a standard for members of that kind. We may implicitly define a certain very abstract category of ‘natural defect’ with the following simple-minded principle of inference: From: “The S is F”, and: “This S is not F”, to infer: “This S is defective in that it is not F”. It is in this sense that natural historical judgements are ‘normative’, and not by each proposition’s bearing some sort of normative infrastructure. The first application of concepts of good, bad, defect and pathology is to the individual, and it consists in a certain sort of reference of the thing to its form or kind.“632 631 Thompson 2008: 64f. Mit „Naturgeschichte“ meint Thompson nicht die Evolution einer Lebensform, sondern die synchrone Beschreibung der Lebensform. Ich werde aber zeigen, dass Thompson und Foot nicht ohne Geschichte auskommen können. Die Lebensform muss diachron verstanden werden. 632 Thompson 2008: 80f. Vgl. Foot 2001: 33: „Thus, evalutation of an individual living thing in its own right, with no reference to our interests and desires, is possible where there is intersection between two types of propositions: on the one hand, Aristotelian categoricals (life-form descriptions relating to the species), and on the other, propositions about particular individuals that are the subject of evaluations.“ 279 Wir können nun einsehen, warum die Gutheit bei Lebewesen keine Sache der Beobachtereinstellung ist. Sie hängt von zwei Sorten Tatsachen ab, nämlich einerseits von Tatsachen über eine bestimmte Lebensform und andererseits von Tatsachen über ein Individuum, das dieser Lebensform angehört. Eine Lebensform ist wie eine Echte Funktion „a measure from which actual facts can depart“.633 Wir haben bereits gesehen, dass biologische Merkmale durch ihre Echte Funktion konstituiert werden (3.2.3.-3.2.4.). Das Tierauge ist, was es ist, weil es eine bestimmte Funktion ausübt. Eine Definition des Auges weist das Auge als eine funktionale Kategorie aus. Augen haben die Funktion, ihren Trägern räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen, und sie tun dies, indem sie multidirektional Lichtintensitäten absorbieren. Token, die diese Funktion nicht ausüben können, sind defekte Augen. Analog dazu ist Thompson der Ansicht, dass Lebewesen Entitäten sind, die essenziell zu Lebensformen gehören. Wir fassen etwas als Lebewesen und seine Tätigkeiten als biologische Vollzüge allein vor dem Hintergrund einer Gesamtheit von naturhistorischen Urteilen. Thompson meint nämlich, dass Definitionen von „Leben“ oder „Lebewesen“ mittels Merkmalen wie „Selbsterhaltung“, „Anpassung“, „Stoffwechsel“ oder „Reproduktion“ auf einer grundlegenderen Auffassung darüber beruhen, was es für eine Entität bzw. einen Prozess bedeutet, ein Lebewesen bzw. Leben zu sein. Leben sei der Prozess der Aufrechterhaltung einer bestimmten Lebensform.634 Etwas sei (und dies ist Thompsons zweite These) ein Lebewesen, insofern es einer bestimmten Lebensform angehört. Der Grund dafür liegt darin, dass die Frage, was es für eine Entität bzw. einen Prozess bedeute ein Lebewesen bzw. Leben zu sein, beantwortet werden kann, indem wir darauf hinweisen, dass jene Entitäten Lebewesen sind, die Subjekte in naturhistorischen Urteilen sein können. Was solchermaßen Subjekt dieser Urteilsform ist, gehört zu einer Lebensform. Bei diesem grundlegenderen Begriff einer Lebensform handle es sich deshalb (dies Thompsons dritte These) um keinen empirischen Begriff, weil die Urteilsformen für die Bildung empirischer Urteile über Lebewesen immer schon in Anspruch genommen werden. Foot betont nun (und sie klärt damit Thompsons Position), dass die Merkmale und Fähigkeiten, die in den normativen, naturhistorischen Urteilen einer Lebensform genannt werden, im Lebenszyklus dieser Lebensform eine Rolle spielen müssen. Wir müssen also einerseits darauf achten, dass Lebensformen einen typischen Lebenszyklus durchlaufen. So betrachten wir z.B. die unterschiedlichen Gestalten, die ein Frosch im Laufe seines Lebens annimmt, als Gestalten einer Lebensform. Wir müssen andererseits darauf achten, welche 633 634 LBT: 83. Vgl. Thompson 2008: 34-48. 280 Rolle die in den Lebensformbeschreibungen genannten Teile, Äußerungen und Fähigkeiten für das Gedeihen der Mitglieder einer Lebensform und der Lebensform im Ganzen spielt. Es muss für das Gedeihen der Individuen und der Art einen Unterschied machen, ob sie über diese Merkmale verfügen oder nicht. Foot weist richtig darauf hin, dass das Fehlen eines lediglich für die Art charakteristischen Merkmals kein Defekt sein muss. Beispielsweise ist es für den Berggorilla typisch, dass seine Handflächen schwarz sind. Es wäre aber kein Defekt eines Gorillas, wenn dessen Handflächen gefleckt wären. Der Gorilla hat typischerweise zwei Hände und zehn bewegliche Finger, der Mangel dieser Teile oder der für sie charakteristischen Eigenschaften jedoch würde einen Defekt bedeuten, denn Hände sind für das Gedeihen eines solchen Tiers eminent wichtig.635 Merkmale müssen also eine Rolle im Leben eines Individuums einer bestimmten Art spielen. Nur Merkmale, die eine Funktion im Leben einer Art haben, sind defekt oder intakt. Entsprechend ist auch das Lebewesen defekt oder intakt. Foot vertieft die Normativität von naturhistorischen Urteilen dadurch, dass sie darauf hinweist, dass sie teleologisch geordnet sein müssen. Die in diesem Urteilen beschriebenen Teile und Äußerungen von Lebewesen müssen eine Rolle im Gedeihen einer Art spielen. Damit scheiden wir nicht nur irrelevante Merkmale (wie die gefleckte Hand des Gorillas) aus der normativen Zuordnung von Tatsachen über eine Lebensform und Tatsachen über ein Individuum aus, sondern wir scheiden auch Merkmale aus beiden Tatsachenmengen aus, die gar keine biologischen Merkmale sind. So wird das Fell von Gorillas taufeucht und glänzt oder die Blätter von Eichen rascheln im Wind, aber dies spielt im Lebenszyklus dieser Wesen keine Rolle. Mit anderen Worten: Es sind Merkmale mit einer Echten Funktion, die für normative Urteile über Mitglieder von Lebensformen relevant sind. An dieser Stelle greifen funktionale und spezifische normative Kategorien ineinander. Bei vielen Lebewesen spielen Merkmale nur im Hinblick auf Nahrung und Reproduktion eine Rolle. Doch wenn wir soziale Tiere, wie etwa den Gorilla, ins Auge fassen, werden die Hinsichten reichhaltiger. Wir können dann normative Struktur von Lebensformen auf der Grundlage von aristotelisch-kategorischen Urteilen in vier Schritten beschreiben: 1. Wir beschreiben den Lebenszyklus, der beim Gorilla nicht nur (i) Selbsterhaltung und (ii) Fortpflanzung als Zwecke umfasst, sondern auch (iii) den Genuss der für diese 635 Foot 2001: 30. 281 Wesen charakteristischen Freuden und die Vermeidung der für sie charakteristischen Leiden sowie (iv) eine charakteristische Ausgestaltung des sozialen Zusammenlebens.636 2. Wir versammeln Beschreibungen, die angeben, wie in einer bestimmten Lebensform typischerweise Nahrung aufgenommen wird, wie Entwicklung stattfindet, welche Mittel der Verteidigung zur Verfügung stehen, wie die Fortpflanzung gesichert wird, welche Verhaltensweisen sich finden, wie der Sozialverband strukturiert ist usw. Diese Beschreibungen bestehen aus aristotelisch-kategorischen Urteilen. Diese Urteile bilden zusammen eine Naturgeschichte der Art. 3. Von diesen Urteilen werden Normen abgeleitet, die von einem Gorilla eine bestimmte Fellfarbe, eine bestimmte Ernährung und ein bestimmtes Sozialverhalten verlangen. Doch wie wir anhand der Footschen Klärung von Thompsons Position gesehen haben, muss sich die normative Dimension dieser Urteile auf die vier unter (1) beschriebenen Zwecke beziehen. Es werden also Merkmale wichtig, die im Leben einer Art eine Rolle spielen. Die zur Erreichung dieser Zwecke wichtigen Elemente sind Teile (Organe und Formen) und Äußerungen (Verhaltensweisen und Produkte) von Gorillas sowie deren kognitiven und konativen Vermögen. 4. Schließlich werden durch die Anwendung dieser Normen auf ein Exemplar der betreffenden Lebensform Urteile über das Exemplar gefällt. Ein solches Exemplar kann so sein, wie es sein sollte, oder aber in bestimmten Hinsichten defekt sein.637 Unter den genannten Zwecken ist (iv), die charakteristische Ausgestaltung des sozialen Zusammenlebens wichtig, insbesondere wenn das Zusammenleben weitgehend kooperative Züge beinhaltet. Wir können sagen, um wiederum das für die Biosemantik wichtige Beispiel der Biene aufzunehmen, dass es im Lebenszyklus von Bienen Tätigkeiten gibt, die nicht in erster Linie im Hinblick auf eine individuelle Biene relevant sind, sondern im Hinblick auf die Mitglieder ihres Sozialverbands. Foot spricht hier von „fremdnützigen Qualitäten und Mängeln“ (other-regarding goodnesses and defects) und kommentiert: „Take, for instance, the dance of the honey bee which tells other bees of a source of food. No doubt an individual bee that does not dance does not itself suffer 636 Vgl. Hursthouse 1999: 202: „A good social animal (of one of the more sophisticated species) is one that is well fitted or endowed with respect to (i) its parts, (ii) its operations, (iii) its actions, and (iv) its desires and emotions; whether it is thus well fitted or endowed is determined by whether these four aspects well serve (1) its individual survival, (2) the continuance of its species, (3) its characteristic freedom from pain and characteristic enjoyment, and (4) the good functioning of its social group—in the ways characteristic of the species.“ 637 Vgl. Foot 2001: 33f. 282 from its delinquency, but ipso facto because it does not dance, there is something wrong with it, because of the part that dancing plays in the life of its species.“638 Die gesuchte Theorie über „natürliche Gutheit“ stellt also auf die Lebensform ab, die das Maß vorgibt, von dem ein Lebewesen abweichen kann. In diesem Sinne sind Lebensformen (biologische Arten) spezifische normative Kategorien. Es handelt sich bei den von spezifischen normativen Kategorien abgeleiteten Normen für individuelle Lebewesen um Normen, die erklärt werden können „in terms of facts about things belonging to the natural world“.639 Betrachten wir noch einmal die für eine Lebensform charakteristische Normativität an einem Beispiel. Dieses Beispiel wird uns eine Schlussregel in die Hand geben. Hier ist ein naturhistorisches Urteil im Sinne Thompsons: (1) Die Honigbiene tanzt, um Futterquellen für das Bienenvolk anzuzeigen.640 Die in (1) genannte Fähigkeit der Honigbiene spielt sowohl eine Rolle im Hinblick auf die Fortpflanzung als auch auf das Überleben der Bienen. Das Urteil (1) ist also eingebettet in den erforderlichen teleologischen Rahmen, den wir im dritten Schritt genannt haben. Aus (1) ergibt sich nun als normative Aussage: (2) Die Honigbiene muss in der Lage sein, Futterquellen für das Bienenvolk anzuzeigen.641 Im Hinblick auf eine individuelle Honigbiene können nur natürliche Qualitäten und Defekte formuliert werden. Aus (2) ergibt sich: (3) Eine Honigbiene, die Futterquellen nicht anzeigt oder nicht anzuzeigen in der Lage ist, ist in dieser Hinsicht defekt. Teleologische Aussagen wie (1) stellen im Rahmen von Urteilen über Lebensformen die faktische Basis in der Form von Urteilen wie (2) für normative Urteile wie (3) zur Verfügung. Das „müssen“ in (2) ist deshalb ein normatives Müssen. Natürlich nicht im Sinne eines Tunsollens, sondern im Sinne eines Seinsollens (3.1.2.). Gegen die Theorie der natürlichen Gutheit spezifischer normativer Kategorien können verschiedene Einwände vorgebracht werden. Ich werde in diesem Abschnitt einige Foot 2001: 35. Foot 2001: 36f. 640 Foot 2001: 31. 641 Man müsste präzisieren, dass weibliche Honigbienen in einer bestimmten Phase ihres Lebenszyklus diese Fähigkeit haben und ausüben müssen. Vgl. die auffällige Analogie zu Sellars’ Regeln der Kritik wie z.B. „Uhrenschlagwerke sollten alle Viertelstunde schlagen“ aus Abschnitt 1.2.6.! 638 639 283 Einwände aufnehmen und zurückweisen. Dabei werde ich mich auf Einwände gegen Lösung der ersten Aufgabe durch Foot und Hursthouse richten.642 Die erste Aufgabe besteht darin, eine Theorie für die Bewertung der natürlichen Qualitäten und Defekte eines Lebewesens zu finden. Dies soll gelingen, wenn die Lebensform das Maß darstellt, vom dem ein Lebewesen abweichen kann. Eine solche Lebensform ist eine spezifische normative Kategorie. Hursthouse hat vier Zwecke vorgeschlagen, anhand derer die Funktion von Merkmalen eines Lebewesens einer Lebensform genauer bewertet werden kann: „A good social animal (of one of the more sophisticated species) is one that is well fitted or endowed with respect to (i) its parts, (ii) its operations, (iii) its actions, and (iv) its desires and emotions; whether it is thus well fitted or endowed is determined by whether these four aspects well serve (1) its individual survival, (2) the continuance of its species, (3) its characteristic freedom from pain and characteristic enjoyment, and (4) the good functioning of its social group—in the ways characteristic of the species.“643 Diese Passage fasst die teleologische Struktur für die Bewertung von Merkmalen (Teilen, Operationen, Verhaltensweisen, Wünschen und Gefühlen) als natürliche Qualitäten und Defekte eines Lebewesens als Exemplar einer Lebensform im Hinblick auf die genannten vier Zwecke zusammen. Die Wahrheit solcher Bewertungen ist objektiv, insofern sie nicht von den Interessen und Einstellungen eines Beobachters abhängt. Hursthouse verweist darauf, dass sich Beschreibungen, die die aristotelisch-kategorische Basis für solche Bewertungen abgeben, in Naturwissenschaften wie Botanik, Zoologie, Ethologie usw. finden und dass es sich deshalb um naturwissenschaftlich gestützte Bewertungen handle. Nicht anders soll es bei einer naturalistischen Theorie auch sein. Hier setzt nun ein erster Einwand ein. Warum sollen die Zwecke der Selbsterhaltung, der Fortpflanzung, der Freuden und Leiden und des Zusammenlebens gegenüber anderen Zwecken, warum sollten der Beitrag von Teilen, Operationen, Verhaltensweisen und Wünschen und Gefühlen aber zu diesen Zwecken wissenschaftlich privilegiert sein? So könnten Biologen doch ein Interesse daran haben, wie Lebewesen in einem neuen, im Gegensatz zu ihrem historischen Habitat zu Recht kommen, oder umgekehrt. Oder es könnte Veterinäre geben, die sich für die Gesundheit von Einzeltieren interessieren und dabei beispielsweise den Alarmrufen eine gesundheitsschädigende Rolle zuschreiben müssen, weil diese das Risiko für Individuen erhöhen. Schließlich interessieren Die Einwände stammen in erster Linie von Copp und Sobel 2004. Sie schreiben: „The underlying aim of both Hursthouse and Foot is to apply the lessons learned in understanding goodness of this kind in the plant and animal world to goodness in humans. […] Yet we have reservation about the project that arise independently of worries about the extension of the model to the case of humans.“ (Copp und Sobel 2004: 534). Es handelt sich mithin zunächst um Vorbehalte gegen die Lösung der ersten Aufgabe. 643 Hursthouse 1999: 202. 642 284 sich Evolutionsbiologen doch eher für die Fitness eines Lebewesens, wobei bisweilen das Überleben des Individuums oder das Gedeihen der Art keine Rolle spielt, im Gegensatz zum Wohl nahe verwandter Individuen. Man kann, so scheint es, nicht schlechterdings behaupten, dass die Merkmale und Zwecke einen objektiven Status beanspruchen, wenn unklar ist, welche der möglichen wissenschaftlichen Hinsichten für die Untersuchung einer Art relevant sind.644 Die Entgegnungen liegen auf der Hand. Zunächst werden Individuen als Mitglieder einer Art evaluiert. Deshalb ist beim Alarmruf der Beitrag zum Gedeihen der Art relevant, nicht der Beitrag zum Überleben des Individuums. Der imaginäre Veterinär untersucht die gesundheitsschädigende Rolle des Alarmrufs eines Individuums nicht qua Zugehörigkeit dieses Individuums zu einer Art, sondern nur im Hinblick auf das Individuum. Doch die zweite These von Thompsons Position lautet, dass individuelle Lebewesen stets als Exemplare einer bestimmten Lebensform betrachtet werden müssen. Zweitens ist innerhalb der Evolutionstheorie gerade dies die relevante Perspektive, um die Funktion altruistischen Verhaltens oder des Verzichts auf Reproduktion von Individuen als Mitglieder einer Lebensform festzustellen. Gehört es zu einer Lebensform, dass die Mitglieder in stabilen sozialen Gruppen leben und darin nahe Verwandte privilegieren, dann erscheinen Merkmale als sinnvoll, die einen Beitrag zum Gedeihen der Gruppe oder der Sippe leisten. Wir haben bereits gesehen, dass Echte Funktionen Fitness-Komponenten eines Merkmals sind, die Komponenten der Fitness von Vorfahren waren (3.2.4.). Es sind deshalb die historischen Aspekte des Gedeihens einer Art, die relevant für die Bewertung von Merkmalen von Individuen als Mitglieder dieser Art im Hinblick auf die genannten Zwecke sind.645 Beliebige Forschungsinteressen (wie jene des imaginären Veterinärs), beliebige neue Habitate oder von Lebensformen losgelöste Fragen nach Fitnesskomponenten geben im Gegensatz zu einer historischen, auf die jeweilige Lebensform gerichteten Perspektive, keine objektiven Hinsichten ab. Kommen wir zu einem zweiten Einwand. Warum sollte für Lebewesen die Lebensform das normative Maß sein? Warum sollte die Art die relevante Hinsicht für die Bewertung von Individuen sein, und nicht entweder eine kleinere Einheit (Herde oder Population) oder eine größere Einheit (Genus oder Klasse)? David Copp und David Sobel vermuten, dass die naturalistische Tugendethik die Art als Maß wählt, um der Intuition der Universalisierbarkeit von moralischen Werten gerecht zu werden, die für Moraltheorien Copp und Sobel 2004: 534ff. Denken wir an das Beispiel der Sozioökologie aus Abschnitt 2.4.4. zurück. Wir haben gesehen, dass man die Fragen nach dem geleisteten historischen Beitrag eines Merkmals zur Fitness (Adaptation) und dem wahrscheinlichen aktuellen Beitrag (adaptives Merkmal) methodisch unterscheiden kann. Nun hängen Adaptationen und adaptive Merkmale zusammen. Es besteht kein Gegensatz zwischen Adaptationen (den „evolved survival, mating, and rearing strategies“) und adaptiven Merkmalen („the consequence that the trait has for an individual’s ability to survive, or to mate, or to rear healthy offspring“). 644 645 285 unerlässlich scheint. Das wäre natürlich problematisch für die Tugendethik, weil so die Lösung der ersten Aufgabe durch Anforderungen an die zweite Aufgabe diktiert würde.646 Doch es gibt davon unabhängige Gründe, die Art als Maß zu wählen. Betrachten wir zuerst die kleineren Einheiten, nämlich Herde (oder analoge Bezeichnungen) und Population. Zunächst gehört es zu Lebewesen als Mitgliedern einer Lebensform, dass sie in Herden leben oder nicht. Ob das Leben in einer Herde relevant ist oder nicht und auf welche Weise dies relevant ist, hängt davon ab, zu welcher Lebensform ein Individuum gehört. Ein Zwergflusspferd ist kein asoziales Flusspferd, sondern gehört zu einer solitären Lebensform. Ein Bonobo in einer Schimpansengruppe ist kein asoziales Individuum, sondern ein Individuum, das in der Gruppe einer Lebensform lebt, zu der es nicht gehört. (Tatsächlich wurden die eher umgänglichen Bonobos vor der Entdeckung, dass es sich um eine eigene Art handelt, zu deren Nachteil in Zoos mit den eher gehässigen Schimpansen zusammen gehalten.) Die Bildung von kleineren Einheiten gehört zur Art und Weise wie Mitglieder einer Lebensform leben oder gedeihen. Pavianweibchen etwa leben in großen Gruppen, die aus hierarchisch und relativ stabilen Verwandtschaftsgruppen bestehen, deren Mitglieder bisweilen Männchen zur Fortpflanzung und zum Schutz ihres Nachwuchses vor Infantizid rekrutieren. Demgegenüber gehört es zu den artspezifischen Eigenheiten keiner Lebensform, dass sie in Populationen lebt oder nicht. Populationen bestehen einfach aus potenziell sich kreuzenden Individuen einer Art in einem bestimmten Gebiet.647 Populationen werden also wiederum im Hinblick auf Arten bestimmt. Bei kleineren Einheiten lautet die Antwort auf die Frage, warum Lebewesen natürliche Qualitäten oder Defekte denn nicht einfach als Mitglieder einer Gruppe oder einer Population haben, dass gute oder schlechte Mitglieder einer Gruppe oder Population gute oder schlechte Mitglieder im Hinblick auf die Art sind, zu der sie gehören. Wie steht es mit größeren Einheiten? Wir haben bereits gesehen, dass Merkmale mit Echten Funktionen tatsächlich ohne Rücksichtnahme auf die Art bestimmt werden können. Wir können sagen, was ein gutes Auge für die Klasse der Vögel (Aves), für die Ordnung der Greifvögel (Falconiformes), für die Familie der Habichtartigen (Accipitridae) oder für Steinadler (Aquila chrysaetos) ist. Dabei müssen wir bedenken, dass die Echten Funktionen biologischer Merkmale letztlich in ihrem Überlebenswert für eine Art bestehen. Die letztlich relevante REF für die Bestimmung der Echten Funktion eines biologischen Merkmals ist die Art. Denn Merkmale müssen bestimmte Wirkungen haben, die die Fitness ihrer Träger gegenüber Alternativen erhöht. Lebewesen ohne das in Frage stehende Copp und Sobel 2004: 537. Vgl. Mayr 2001: 84. Allerdings können beispielsweise auch Gruppen als Elemente betrachtet werden, die eine Population bilden (vgl. Sterelny und Griffthis 1999: 41), doch das spielt hier keine Rolle. 646 647 286 Merkmal stellen nur eine Alternative dar, wenn sie zur selben Art gehören. Und der Beitrag zur Fitness muss wiederum im Rahmen der Art gesehen werden, weil Lebewesen sich als Mitglieder einer Art reproduzieren, weil sie ja mehr Lebewesen derselben, nicht einer beliebigen Art hervorbringen. Auch im Falle von Lebewesen ist die Art der Bezugsrahmen. Für Lebewesen ist die Art der relevante Bezugsrahmen aufgrund der Objektivität, die dem Art-Taxon zukommt. Die Art ist keine beliebige biologische Einheit. Zu den großen Themen der Evolutionstheorie gehören die Entstehung, die Erhaltung und das Aussterben von Arten. Die Art ist deshalb die grundlegende Einheit der Evolution. Innerhalb einer Art werden Gene weitergegeben, innerhalb einer Art wird ein biologisches Merkmal aufgrund seiner adaptiven Leistungen häufiger. Die generationenweise Vererbung von Merkmalen verlangt eine kausale Relation zwischen Mitgliedern einer Art. Solche Kausalverbindungen finden sich nur zwischen raumzeitlich verbundenen Entitäten. Also muss es sich bei Arten um raumzeitlich verbundene Entitäten handeln. Eine solche Entität kann nun ontologisch als Individuum aufgefasst werden. Für die Auffassung, dass biologische Arten für die Evolutionstheorie Individuen sein müssen, haben vor gut dreißig Jahren Michael Ghiselin und David Hull argumentiert. Zahlreiche Autoren sind ihnen darin gefolgt. Ich werde ihnen darin auch folgen. Ghiselin und Hull kontrastieren das Individuum als ontologische Kategorie mit der Klasse oder Menge. Mengen sind abstrakte Entitäten, die aus homogenen, nicht-kohäsiven Elementen bestehen, Individuen hingegen sind konkrete Entitäten, die aus heterogenen, kohäsiven Teilen bestehen. Ghiselin und Hull zufolge können nur Individuen als raumzeitliche Akteure auftreten, nicht jedoch Klassen und Mengen. Biologische Arten müssen jedoch in der Evolutionstheorie als Akteure betrachtet werden, und zwar in dem Sinne, dass sie entstehen, sich entwickeln und verschwinden. Wären Arten keine Individuen, könnten sie nicht evolvieren, da sie jedoch evolvieren, müssen sie Individuen sein.648 Arten können 648 Ghiselin 1987: 129: „If species were not individuals, they could not evolve, indeed they could not do anything whatever.“ Für die Analogie zwischen biologischen Arten und Individuum kann auch außerhalb dessen, was die Evolutionsbiologie braucht, argumentiert werden. Betrachten wir die folgenden sieben Charakteristika von materiellen Dingen wie Steinen oder Hüten: (i) Sie sind konkret und einzeln. (ii) Sie sind den Sinnen zugänglich. (iii) Sie sind räumlich lokalisierbar, d.h. sie füllen zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz eine ganz bestimmte Portion des Raumes aus und sind somit objektiv lokalisierbar. (iv) Sie sind zeitlich lokalisierbar, d.h. sie fangen zu einem Zeitpunkt zu existieren an und hören zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren auf. (v) Sie sind partikulär, d.h. sie exemplifizieren verschiedene Eigenschaften, sie selbst aber können nicht von etwas anderem exemplifiziert werden. (vi) Sie verändern sich, d.h. zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Existenz können Gegenstände unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. (vii) Sie existieren nur kontingenterweise, d.h. die Nicht-Existenz eines jeden Dinges ist möglich. Die Charakteristika (iii) bis (vii) treffen ohne Weiteres auf biologische Arten zu: Berggorillas leben in Ostafrika, sie entstanden vor X Jahren und sie werden voraussichtlich einmal aussterben. Gorillas sind schwarz, warmblütig, selten, groß usw., aber kein Ding ist (außer in einem metaphorischen Sinne) „gorillamäßig“. Der Berggorilla hat sich im Laufe seiner Entwicklung verändert. Und natürlich existieren Gorillas nicht notwendig. Wie steht es mit den Charakteristika (i) und (ii)? Nun, wir betrachten nicht nur kompakte sinnliche Einzeldinge als Individuen, sondern auch historisch-kollektive Entitäten wie Fußballmannschaften. Fußballmannschaften haben Teile, die 287 somit als raumzeitliche Individuen betrachtet werden. Doch durch die Bestimmung der ontologischen Kategorien ist noch wenig über biologische Arten gesagt. Deren Teile müssen kausal verbunden und kohäsiv sein. Achten wir nun auf diesen Aspekt, so können wir den individualistischen Artbegriff präzisieren. Hull zufolge sind die relevanten Einheiten der Evolution nicht Organismen, die durch Ähnlichkeiten zu Klassen gruppiert werden, sondern genealogische Linien, die durch Reproduktionsprozesse gebildet werden.649 Die Mitglieder einer Art sind Bestandteile einer phylogenetischen genealogischen Linie zwischen zwei permanenten Artaufspaltungen oder zwischen einer permanenten Aufspaltung und dem Aussterben einer Art.650 Die Kohäsion einer solchen historischen Linie wird durch die Abstammung zwischen ihren Teilen gegeben, und innerhalb einer Population oder zwischen Populationen dadurch, dass sie zu demselben Genpool beitragen. Sie wird andererseits aber auch dadurch gegeben, dass eine Art eine genealogische Linie ist, die eine eigene ökologische Nische besetzt. Dadurch werden Mitglieder einer Art nämlich einer bestimmten Menge von Selektionsdrücken ausgesetzt. Eine Art ist also ein Individuum, dessen Teile Lebewesen sind, die sich untereinander fortpflanzen können und dieselbe Nische besetzen. Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Art (i) ein raumzeitliches Individuum ist, (ii) dessen Teile eine phylogenetische genealogische Linie bilden, und (iii) diese Teile stammen voneinander ab, teilen einen Genpool und besetzen eine ökologische Nische.651 Arten sind mithin nichts anderes als REFs. Die Teile oder Mitglieder von Arten teilen aufgrund ihrer Verwandtschaft und aufgrund des ökologischen Selektionsdrucks reproduktive etablierte Eigenschaften, und bilden somit eine Reproduktive Etablierte Familie erster Ordnung (1.1.4.). Klassen oder Mengen sind keine solchen Familien. Ihnen kommt als abstrakten, nicht-raumzeitlichen, nicht-kohäsiven, nicht kausal verbundenen Entitäten nicht derselbe Grad von materieller Realität zu wie Individuen. Arten gehören zu derselben ontologischen Kategorie wie Einzellebewesen, nämlich der des raumzeitlichen Individuums.652 Ihnen kommt deshalb derselbe Grad an materieller Realität zu wie Lebewesen. wiederum als Einzeldinge betrachtet werden können, doch zusammen bilden sie ein konkretes Einzelding. Ein Einzelding wie eine Fußballmannschaft braucht den Sinnen nicht in gleicher Weise zugänglich zu sein wie ein Hut oder wie ein Stein. 649 Vgl. Hull 1978. 650 Zum phylogenetischen Artkonzept vgl. Ridley 1989. 651 Punkt (ii) liefert das „grouping criterion“: Arten sind Individuen als monophyletische Linien von Organismen. Punkt (iii) liefert „ranking criterions“: Diese Linien werden durch Prozesse wie tatsächliche Fortpflanzung und durch die Einheit der Nische erzeugt und erhalten. Man mag einwenden, dass dies Lebewesen, die sich nicht sexuell fortpflanzen, ausschließt. Das mag sein. Doch im Moment spielt dies keine Rolle, denn ich brauche einen Artbegriff für „the more sophisticated species“. 652 Arten sind auf eine vergleichbare Art kohäsiv wie es Individuen sind. Löst man etwa die Organisation der Zellen eines Organismus auf, so ist der Organismus zerstört, auch wenn die einzelnen Zellen nicht beschädigt werden. Aber ebenso zerstört man die Art, wenn man die einzelnen Individuen einer Art isoliert. Vgl. auch 288 Ich meine, dass wir nun eine ausreichende Antwort auf die Frage in der Hand haben, warum die Art das relevante normative Maß für die Bewertung von Lebewesen sein soll. Erstens sind Arten jene Kategorie, die die Evolutionstheorie grundlegend braucht, und zweitens garantiert die Art einen Grad an Objektivität und Beobachterunabhängigkeit, den die Theorie natürlicher Normen erreichen möchte. Im Vergleich zum Art-Taxon können größere Einheiten wie Familie, Klasse oder Ordnung getrost als beobachterrelative Klassen betrachtet werden. Relevant sind evolutionsbiologisch ontologisch und explanatorisch Arten.653 Der Grund dafür, Lebewesen im Hinblick auf Lebensformen zu bewerten, ist also nicht willkürlich oder unlauter durch einen Vorgriff auf moralische Intuitionen der Universalisierbarkeit.654 3.3.2. Aristotelische Lebensformen als biologische Arten Als naturalistische Theorie muss sich die Tugendethik die Frage stellen, wie ihr Verständnis der Lebensform eines Wesens, auch jene des Menschen, in der Natur, wie sie die Naturwissenschaften versteht, lokalisiert werden kann. Wir haben bereits gesehen, dass die Theorie natürlicher Normen, wie sie Foot im Anschluss an Thompson entwickelt, gegen Einwände gedeckt werden kann, indem man auf die Evolutionstheorie zurückgreift. Wir haben gesehen, dass sich die naturalistische Tugendethik und die Biosemantik sowohl im Hinblick auf die Auffassung normativer Kategorien als auch im Hinblick auf die Ausbildung von Überzeugungen und Wünschen aufgrund biologischer Vermögen theoretisch ergänzen. Die Biosemantik behauptet, dass mentale Fähigkeiten von Menschen Brogaard 2004: 228: „Most species taxa can withstand some disruption of their population structure but some cannot. Conversely, most organisms cannot continue to exist if their internal structure were moderately changed; but other organisms can withstand some tearing apart. But notice that these may be differences of degree, not of kind.“ 653 Die darwinistisch motivierte Fokussierung auf die Art als normatives Maß verhindert z.B. auch die Zuschreibung von Defekten, wie wir sie bei Aristoteles finden. So ist Aristoteles der Ansicht, der Hummer sei ein defektes Wesen, weil er zwar Scheren habe, wie andere Arten seines Genus auch, diese aber nicht brauche um zuzupacken, sondern um sich fortzubewegen. Das Zupacken jedoch sei der natürliche Gebrauch der Scheren (De partes animalium 4.8 684a 32). Robben wiederum gehören zu den lebend gebärenden Wesen, und diese verfügen normalerweise über äußere Ohren. Die Robbe sei ein defektes Wesen, weil sie keine solchen Ohren habe (De partes animalium 2.12. 657a22-24); vgl. dazu auch Granger 1987. 654 Copp und Sobel 2004: 536f. erheben noch einen eher schwachen Einwand: Warum sollen nur arttypische Merkmale eines Lebewesens gute Qualitäten sein können? Man könnte sich doch vorstellen, dass neue oder rare Merkmale eine Qualität darstellen. Wären außerordentliche Geschwindigkeit oder ungewöhnliche Härte des Gehäuses keine Vorteile für eine Schnecke? Warum nicht? Die Theorie der natürlichen Normen behauptet primär, dass ein Lebewesen einen Defekt hat, wenn ihm ein für seine Lebensform typisches Merkmal fehlt, das für die Erreichung der vier Zwecke, die das Gediehen der Art fördern, relevant ist. Dies schließt nicht aus, dass ungewöhnlich gut ausgebildete Merkmale, wie die Härte des Gehäuses, eine natürliche Qualität sein können. Warum sollten nicht auch neue Merkmale einen Beitrag zur Erreichung der vier Zwecke leisten? Man muss nur bedenken, dass es sich zwar um adaptive Merkmale, nicht aber um Adaptationen handelt. 289 zu ihnen als einer durch die natürliche Selektion entstandenen Lebensform oder biologischen Spezies gehören. Behaupten die Vertreterinnen und Vertreter des ethischen Naturalismus dasselbe? Nein. Sie scheinen eine Verankerung in der Biologie abzulehnen, weil die in der Form von aristotelisch-kategorischen Urteilen beschriebenen Lebensformen alle relevanten Tatsachen enthalten und deswegen eine weitere Verankerung überflüssig ist. Foot ist der Meinung, dass ihre Verwendung von Ausdrücken wie „Zweck“, „Funktion“ oder „Rolle“ einem alltäglichen Sinn dieser Auffassungen entsprechen, nicht dem technischen Sinn der Evolutionsbiologie.655 Und Hursthouse kontrastiert ihre aristotelische Auffassung explizit mit einer darwinistischen.656 Aber natürlich können sie beide nicht abstreiten, dass naturgeschichtliche Urteile auf biologischen Fakten beruhen.657 Welche Gründe werden gegen die Auffassung angeführt, eine Lebensform als biologische Spezies im Sinne der Evolutionstheorie zu verstehen? Im Folgenden werde ich drei Überlegungen verwerfen, die zeigen sollen, dass Lebensformen aristotelische zeitlose Klassen sein sollen, nicht aber darwinistische historische REFs. Der ersten Überlegung zufolge sei der Begriff der Lebensform kein empirischer Begriff, der zweiten Überlegung zufolge sei der Begriff der Lebensform nicht historisch, und der dritten Überlegung zufolge müsse zwischen der Funktion eines Merkmals innerhalb einer Lebensform und einer Adaptation strikt unterschieden werden. 1. Ich habe in Abschnitt 3.3.1. drei Thesen in Thompsons Position unterschieden: Erstens die These, der zufolge etwas nur dann ein Lebewesen ist, wenn es Teil einer Lebensform ist, zweitens die These, dass die Zugehörigkeit zu einer Lebensform Lebewesen einem normativen Standard unterstellen, und drittens die These, dass es sich bei dem Begriff der Lebensform um einen nicht-empirischen Begriff handle. Der dritten These liegt die folgende nicht stichhaltige Überlegung zugrunde: Damit die Biologie Lebewesen empirisch untersuchen und über Lebewesen empirische Entdeckungen machen kann, muss sie Lebewesen identifizieren können. Doch wenn wir etwas als Lebewesen identifizieren können, können wir nicht empirisch entdecken, dass es sich um ein Lebewesen handelt, denn dies haben wir bereits vorausgesetzt. Der Foot 2001: 32 n10, 40 n1. Hursthouse 1999: 257. Kitcher 2006: 164f. wirft Foot und Hursthouse denn auch vor, dass sie auf einer aristotelischen Auffassung über Lebensformen beruhe, die von Darwin zurückgewiesen worden sei (vgl. auch Kitcher 1999 und die Replik von Byron 2000). Ich werde in diesem Abschnitt aber zu zeigen versuchen, dass die Auffassung, die der naturalistischen Tugendethik zugrunde liegt, einer darwinistischen Auffassung von Arten nicht entgegen zu stehen braucht. Kitchers Artbegriff (vgl. Kitcher 2003: V-VI), demzufolge Arten Mengen ohne Essenzen sind, weicht von dem hier vertretenen individualistischen und historischessenzialistischen Artbegriff ab. 657 Hursthouse 1999: 202, 229; Foot 2001: 92. 655 656 290 Begriff des Lebewesens, mit dem wir Entitäten und Prozesse als Lebewesen oder Leben identifizieren, ist deshalb kein empirischer Begriff. Auf ähnliche Weise kann man im Hinblick auf Kriterien für Lebewesen argumentieren. Lebewesen werden z.B. durch Stoffwechsel charakterisiert. Dass und wie Lebewesen stoffwechseln ist eine empirische Entdeckung. Aber wir müssen Lebewesen bereits aufgrund anderer Kriterien identifiziert haben, bevor wir die empirische Entdeckung machen, dass Lebewesen stoffwechseln. Die Kriterien, anhand derer wir Entitäten und Prozesse als Lebewesen oder als Leben identifizieren, sind deshalb keine empirischen Kriterien. Nun ist es richtig zu sagen, dass der biologischen Forschung kein ausgereifter Begriff des Lebens und des Lebewesens zugrunde liegt. Man findet vage Bestimmung, wie etwa, dass das Leben ein Prozess sei, der Stoffwechsel und Reproduktion involviere usw.658 Es scheint allerdings für die biologische Forschung auch gar keine Notwendigkeit zu bestehen, einen solchen Begriff zu etablieren. Die Biologie erforscht die Entstehung und die Entwicklung des Lebens und der Lebewesen, es gehört nicht zu ihren Aufgaben Definitionen von Leben und Lebewesen zu geben. Vielmehr geht sie von einem lebensweltlichen Vorbegriff von „Leben“ und „Lebewesen“ aus und findet über das Leben und über Lebewesen etwas heraus. Natürlich ist es dazu erforderlich, dass man imstande ist, Lebewesen und Lebensprozesse vorgängig zu identifizieren, dazu dient der lebensweltliche Vorbegriff. Mit Sicherheit gehört es zu diesem Vorbegriff (auch wenn man im Hinblick auf Pflanzen und Pilze wird Abstriche machen müssen), dass Lebewesen gezeugt werden, dass sie wachsen, sich entwickeln, sich ernähren, reagieren, sich verhalten, verletzt werden und sterben. Dieser Vorbegriff setzt nicht voraus, dass wir in einem naturwissenschaftlichen Sinne wissen, was Leben ist, ebenso wenig wie der Vorbegriff von Luft, Gold oder Wasser voraussetzt, dass wir über die chemische Beschaffenheit dieser Stoffe Bescheid wissen. Man kann mithilfe solcher Vorbegriffe unterschiedliche Dinge ungeschieden zusammenwerfen, die nach genauerer Untersuchung getrennt werden müssen. Ebenso können die Vorbegriffe sich als falsch herausstellen, weil sie kriterial zu eng sind und lediglich einen Teilaspekt herauspicken. Schließlich kann ein Vorbegriff selbst aufgrund von Entdeckungen, die über den durch ihn bezeichneten Gegenstandsbereich gemacht werden, modifiziert, angereichert, völlig verändert oder entsorgt werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgendes Bild: Vorbegriffe identifizieren Entitäten und Prozesse auf empirische Weise und wissenschaftliche Entdeckungen sind empirischer Natur. Vorbegriffe und wissenschaftliche Entdeckungen sind nicht voneinander getrennt, sondern aufeinander 658 Stearns und Hoekstra 2005: 524. 291 angewiesen und beeinflussen sich gegenseitig. Es gibt also weder Grund zu der Annahme, dass Vorbegriffe für Leben und Lebewesen nicht empirisch sein müssten, noch gibt es Grund zu der Annahme, dass diese Vorbegriffe gegenüber wissenschaftlichen Entdeckungen des von ihnen bezeichneten Gegenstandsbereichs immun sind. Im Gegenteil erscheint die Annahme plausibler, dass die Vorbegriffe für Leben auf vortheoretischen empirischen Verallgemeinerungen beruhen und dass diese vortheoretischen Verallgemeinerungen durch wissenschaftliche Entdeckungen modifiziert, angereichert oder gar völlig verändert werden. 2. Foot und Thompson bestehen darauf, dass ihre Auffassung natürlicher Normen nichtdarwinistisch ist, und sie versuchen funktionale normative Kategorien den spezifischen normativen Kategorien unterzuordnen. Funktionen müssen nämlich in naturhistorische Beschreibung integriert werden, sie sind stets relativ zu einer Art oder Lebensform: „Natural teleological judgments may thus be said to organize the elements of a natural history; they articulate the relations of dependence among the various elements and aspects of a given kind of life.“659 Somit wären spezifische und funktionale normative Kategorien integriert, wobei den spezifischen normativen Kategorien (den naturhistorischen Urteilen) der Vorrang vor den funktionalen normativen Kategorien (den teleologischen Urteilen) gebührt. Doch diese Unterordnung funktionaler unter spezifische normative Kategorien kann nicht gelingen. Erstens sind funktionale Aussagen über biologische Merkmale nicht auf deren Unterordnung unter speziesspezifische Naturgeschichten angewiesen. Funktionale biologische Vorgänge, wie Verdauen oder Sehen, funktionale biologische Entitäten wie Magen oder Auge, sind nicht allein speziesbezogen beschreibbar und bewertbar. Was ein Auge ist, was ein gutes Auge ist, kann unabhängig davon, welche Rolle das Eulenauge im Leben der Schleiereule oder ein Katzenauge im Leben der Hauskatze spielt, beschrieben werden, und zwar durch die Angabe der Funktion des Organs. Diese wiederum ergibt sich aus der Evolution des Auges (3.2.4.). Weiter überschätzt Thompson die drei (in Abschnitt 3.3.1. genannten) Merkmale der naturgeschichtlichen Urteilsform. Auch funktionale Normen haben ein hohes Maß an Generalität, Atemporalität und Singularität in der Beschreibung. So ist der Bienenstachel zum Stechen da, auch wenn die meisten Bienen das niemals tun. Dasselbe kann im Falle von Hornissen und Wespen auch gesagt werden. Biologische Homologien und Analogien haben Funktionen unabhängig von bestimmten Lebensformen. Der Grund dafür, dass solche funktionalen Merkmale eine Norm angeben können, liegt nicht in ihrer Einbettung in die Beschreibung einer 659 Thompson 2008: 78. 292 spezifischen Lebensform, sondern in der evolutionären Geschichte des Merkmals, seiner Zugehörigkeit zu einer REF. Nun sind aber nicht nur biologische Funktionen (biologische funktionale normative Kategorien), sondern auch alle Beschreibungen von Lebensformen (spezifische normative Kategorien) implizit auf diesen historischen Bezug angelegt. Nichts an der Form aristotelisch-kategorischen Aussagen verweist auf das, was Elisabeth Anscombe als „Aristotelische Notwendigkeiten“ bezeichnet hat. Eine Aristotelische Notwendigkeit ist etwas, das notwendig ist, insofern und weil davon etwas Gutes für eine Art abhängt: Wölfe müssen in Rudeln jagen, Eichen müssen Wurzeln schlagen, Katzen müssen ihren Jungen das Töten beibringen, Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass andere Dinge tun, ohne gezwungen zu werden usw. Aristotelische Notwendigkeiten sind auf das Gedeihen und Gelingen einer Lebensform gerichtet. Aristotelisch-kategorische Aussagen sind für sich genommen auch über eine Lebensform als misslingende denkbar. Die meisten Wasserfrösche werden vor Erreichung der Geschlechtsreife gefressen, als Kaulquappen und als Fröschchen. Der Satz „Wasserfrösche sterben vor Erreichung der Geschlechtsreife“ ist ein möglicher Satz einer pessimistischen Naturgeschichte des Wasserfrosches. Manche Wasserfrösche können nicht quaken, weil ihre Quakblasen verzogen sind, andere können sich nicht fortpflanzen, weil sie defekte Geschlechtsorgane haben usw. Daraus lassen sich aristotelisch-kategorischen Aussagen bilden, die atemporal, generell und singulär sind, und es ergeben sich entsprechende Normen: Defekte Frösche erleben die Geschlechtsreife, Kranke Frösche haben funktionstüchtige Geschlechtsorgane, und abnormale Frösche können quaken. Aber das ist natürlich absurd, denn wir beurteilen diese Dinge aufgrund ihres Gelingens, nicht ihres Misslingens. Gelingendes Leben auf einer rein biologischen Stufe zeichnet sich durch Überleben, Reproduktion und Gedeihen aus. Den zur Zeit vorhandenen Lebensformen ist genau dies gelungen. Ein gelingendes Leben für eine biologische Lebensform kommt also nicht ohne Bezug auf den historischen Prozess aus, der ihr Überleben, ihre Reproduktion und ihr Gedeihen erlaubt.660 Deshalb sind die spärlichen Kommentare von Thompson und Foot gegen Darwins Rückwärtsblick unzutreffend, wenn etwa Thompson über seine gleichsam atemporalen naturgeschichtlichen Beschreibungen meint: „The bare description of this sort of order has nothing to do with natural selection either; these propositions are in no senses hypotheses about the past“.661 Aber das trifft nicht zu. Die gleichsam 660 Dies gilt sogar für eine ausgestorbene Lebensform (wie die Dinosaurier). Die Dinosaurier, deren Lebensform wir beschreiben können, sind jene, denen es bis zu einem gewissen Zeitpunkt gelungen ist, eine Lebensform zu bilden. 661 Thompson 2008: 79. 293 atemporalen naturgeschichtlichen Beschreibungen kommen ohne impliziten Bezug auf die Vergangenheit nicht aus, wenn sie eine gelingende Lebensform beschreiben sollen. Darüber hinaus sind Beschreibungen von Lebensformen immer Beschreibungen von Wesen mit Vorfahren. Gerade der Umstand, dass ein Lebewesen nur als Lebewesen gesehen werden kann, wie Thompson behauptet, wenn es als Teil einer bestimmten Lebensform betrachtet wird, ordnet es in einen historischen Zusammenhang ein. Aristotelisch-kategorischen Urteile müssen als natur-geschichtliche Urteile gelten. 3. Bei Foot findet sich eine ähnliche Überlegung. Sie rekapituliert die teleologische Stoßrichtung ihrer Auffassung, indem sie sagt, dass Fragen danach, warum ein Wesen ein bestimmtes Merkmal habe, befriedigend durch eine Verortung dieses Merkmals innerhalb der Lebensform, der das Wesen angehört, beantwortet werden kann. Sie verweist ausdrücklich darauf, dass sie eine solche Frage nicht als historische Frage verstehe wie Millikan LTOBC. Dabei zitiert sie David Wiggins Äußerung, dass es in der Ethik darauf ankomme, was die Moral geworden sei, nicht wie sie entstanden sei.662 Schließlich sei es unabdingbar, die Funktion eines Merkmals innerhalb einer Lebensform von einer Adaptation zu unterscheiden. Adaptationen verorte man in der Geschichte eines Lebewesens, Funktionen hingegen würden sich auf die Rolle im Leben der Individuen einer Lebensform beziehen.663 Hier werden unterschiedliche Dinge auf unterschiedlichen Ebenen durcheinander geworfen. Es kann (erstens) hinsichtlich der Frage, ob die Frage, was ein biologisches Merkmal für ein Lebewesen leistet, historisch zu verstehen sei oder nicht, keine Rolle spielen, was den Moralphilosophen interessiert. Die Theorie natürlicher Normen soll ja die erste Footsche Aufgabe lösen, nicht die zweite. Darüber hinaus berücksichtigt die Theorie der Echten Funktion nicht nur die „tiefe“ Vergangenheit eines Merkmals, sondern auch die rezente Vergangenheit und die proximale Selektion, wie wir im Zuge der Diskussion der Standardsicht über funktionale normative Kategorien gesehen haben (3.2.4.). Auch im Hinblick auf moralische Normen ist die Perspektive der Evolutionstheorie ja nicht darauf eingeschränkt, darauf zu blicken, wie diese Normen entstanden sind, es kann auch in den Blick genommen werden, warum sie sich erhalten haben und erhalten.664 Wir haben (zweitens) gesehen, dass die Funktionen von biologischen Merkmalen nicht allein im Hinblick auf deren Funktion innerhalb einer bestimmten Lebensform betrachtet werden können, und wir haben (drittens) festgehalten, dass Urteile über Lebensformen implizit auf die historischen Foot 2001: 40 n1. Foot 2001: 32 n10. 664 Vgl. Nichols 2002. Vgl. auch die auf Millikans Biosemantik gestützte These von Harms 2000. 662 663 294 Komponenten des gelingenden Überlebens Bezug nehmen. Schließlich ist (viertens) nicht ersichtlich, wie Foot den Problemen für Funktionsbeschreibungen entgegentreten will, die lediglich auf die funktionale Rolle eines Merkmals innerhalb eines Systems abstellt. Wir haben diese Theorien bereits kritisiert (1.1.4., 1.2.6., 3.2.1.-3.2.4.) und gesehen, dass nur eine historisch-teleologische Theorie diese Probleme zu lösen vermag. Gerade die Theorie der Echten Funktionen beantwortet Fragen danach, warum ein Wesen ein bestimmtes Merkmal hat. Dass ein Lebewesen bestimmte Merkmale hat und dass diese Merkmale bestimmte Aufgabe erfüllen sollen, wird erklärt durch die Geschichte sowohl der biologischen Art, zu der das Lebewesen gehört, als auch durch die Geschichte dieser Merkmale. Es reicht deshalb nicht aus, wie Foot suggeriert, einfach terminologisch zwischen „Funktion“ und „Adaptation“ zu unterscheiden. Innerhalb eines naturalistischen Bildes müssen die biologischen Funktionen von Merkmalen befriedigend erklärt werden können. Eine solche Erklärung liefert Darwins Evolutionstheorie. Da weder die besonderen Merkmale der aristotelisch-kategorischen Urteile, noch der Bezug auf atemporale Lebensformen für eine strikte Entgegensetzung eines aristotelischen Verständnisses und eines darwinistischen Verständnisses der Lebensform als natürlicher normativer Kategorie (und dies ist es ja, was uns vorrangig interessiert) sprechen, stellt sich die Frage, warum die Vertreterinnen der naturalistischen Tugendethik so erpicht darauf sind, sich von der Evolutionstheorie abzugrenzen. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste Grund wird von Thompson in einem Manuskript unverblümt genannt: „The core of all these objections [against Foot’s theory], to put the matter crudely, is that any such naturalism will express a sort of reductive empiricism perhaps coupled with an alarming and idiotic moral conservatism.“665 Ich bin auf diese Art von Zweifeln bereits eingegangen und behandle sie nicht weiter. Der zweite Grund scheint in der Ansicht zu bestehen, dass eine darwinistische Auffassung von Lebensformen nicht dazu imstande ist, einer Lebensform so etwas wie ein Wesen oder eine Essenz zuzuschreiben.666 Wie wir gesehen haben, können Arten mit guten Gründen als Individuen betrachtet werden.667 Allerdings haben die Pioniere dieser Michael Thompson, „Forms of Nature: First, Second, Living, Rational, Phronetic“ (Mss. Juli 2009: 2). Zumindest kann man die kryptischen Bemerkungen von Foot 2001: 32 n10 über Dawkins so verstehen. 667 Foot 2001: 32 n10 beispielsweise spielt kurz auf diese Auffassung an, doch augenscheinlich ohne sie zu verstehen, und vermengt sie mit einer sehr gleichsam kosmologischen Form der Teleologie: Im Kontext der Evolutionstheorie „it is supposed to make sense to speak of the good of a species, as if a species were itself a gradually developing, one-off going organism, whose life might stretch for millions of years. Perhaps the extinction of a species is imagined a kind of death, and therefore as if it were an evil…“ Foot hat durchaus Recht, wenn sie der Evolutionstheorie diese Vorstellung unterstellt. Allerdings geht es nicht um Fantasien, 665 666 295 Auffassung die Unterscheidung zwischen Individuum und Klasse mit der Unterscheidung „x hat kein Wesen“ und „x hat ein Wesen“ gleich gesetzt. Und Ernst Mayrs wiederholter Hinweis, dass das vordarwinistische Denken ein typologisches Denken sei, wobei der Typ bestimmt, zu welcher Art ein Individuum gehöre, und das nachdarwinistische Denken ein Denken in Populationen sei, worin alleine die unterschiedlichen Individuen existieren, und Typen bloße Abstraktionen darstellen, hat ein Übriges getan. Denn Mayr identifizierte diese Unterscheidung mit derjenigen zwischen Essenzialismus und Antiessenzialismus. Der hier verworfene traditionelle Essenzialismus besagt, dass alle Mitglieder und nur die Mitglieder einer Art eine gemeinsame Essenz teilen, die für die typischen Eigenschaften dieser Mitglieder verantwortlich ist.668 Ob diese Essenz sich nun gleichsam in den Mitgliedern befindet (in re) oder außerhalb ihrer (ante rem), spielt keine Rolle. Unterschiede zwischen Mitgliedern einer Art sind auf externe Einflüsse zurückzuführen, die die Ausprägung der die Essenz manifestierenden Eigenschaften verhindern. Aber offensichtlich scheinen die Kräfte der Evolution sowohl gegen die Annahme zu arbeiten, dass bestimmte Eigenschaften allen Mitgliedern einer Art und nur ihnen zukommen, als auch gegen die Annahme, dass die Grenzen der Zugehörigkeit zu einer Art klar und deutlich sind. Der graduelle Vorgang der Entstehung neuer Arten macht Artgrenzen vage, konvergente Evolution und gemeinsame Abstammung lassen Merkmale über Artgrenzen hinweg als Analogien bzw. als Homologien auftreten, und der Verlauf der Evolution führt diachron zu starken Variationen innerhalb einer Art, und die Heterogenität des Genpools führt synchron ebenfalls zu artinternen Variationen, die Unterschiede innerhalb der Art erklären. Variation ist keine Störung der Artessenz, sondern eine vitale Eigenschaft biologischer Arten. 669 Es macht deshalb den Anschein, als könnte die Darwinistische Auffassung von Arten als Individuen, die in Form verstreuter Populationen existieren und aus sehr unterschiedlichen Organismen bestehen, auf keinen Fall mit dem Essenzialismus in Übereinstimmung gebracht werden. Doch diese Konsequenz ergibt sich nicht, wenn eine biologische Art zugleich ein Individuen und eine natürliche Art mit einer Essenz ist. Biologische Arten werden (neben chemischen Elementen) in der philosophischen Diskussion – etwa bei Putnam oder bei Kripke – geradezu als Musterbeispiele für natürliche Arten mit einer Essenz angeführt. Darüber hinaus erlaubt uns die Artzugehörigkeit, einem Lebewesen bestimmte Eigenschaften mit großer Zuverlässigkeit sondern um eine ontologische Klassifikation. Und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass deshalb die Art oder Dinge, die der Art zustoßen, als gut oder schlecht bewertet werden. Gut oder schlecht sind Lebewesen qua Mitglieder einer spezifisch normativen Kategorie. 668 So charakterisiert Hull 1994: 313 den Arten-Essenzialismus wie folgt: „...each species is distinguished by one set of essential characteristics. The possession of each essential character is necessary for membership in the species, and the possession of all the essential characters sufficient.“. 669 Vgl. Hull 1965; Sober 1980. 296 zuzuschreiben und diese voraussagen zu können. Von einer schnurrenden Katze auf „Katzen schnurren“ zu schließen oder von „Katzen schnurren“ darauf zu schließen, dass Susi schnurrt, ist kein schlechter Schluss, solange man bedenkt, um welche Art von Urteil es sich handelt. Dieser zweite Punkt ist sowohl für den Erwerb von Artbegriffen als auch für die wissenschaftliche Arbeit fundamental. Kinder erlernen Begriffe für Arten in kurzer Zeit anhand von wenigen Einzelexemplaren. Wissenschaftler erwerben Erkenntnisse über Arten und bestimmten Arten anhand der Untersuchung von wenigen Einzelexemplaren. Es scheint Gruppen von Merkmalen zu geben, die wir bei Lebewesen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Art häufig gemeinsam antreffen. Da Arten durch aristotelischkategorische Urteile beschrieben werden, dürfen wir nicht erwarten, dass ein Lebewesen alle Merkmale der für seine Lebensform typischen Merkmalsgruppe besitzt. „Katzen schnurren“ ist ein solches Urteil. Aus ihm folgt nicht, dass Susi schnurren kann, nur weil Susi eine Katze ist. Ebenso wenig folgt daraus, dass ein Mitglied einer anderen Art nicht soll schnurren können. Es gibt drei Gründe dafür, dass Lebewesen einer Art über solche relativ stabilen und deshalb induktiv wertvollen Merkmalsgruppen verfügen: (i) Lebewesen einer Art sind Kopien oder Reproduktionen von Lebewesen derselben Art. (ii) Ein Lebewesen einer Art durchläuft einen bestimmten Entwicklungsprozess, den es mit seinen Artgenossen teilt. (iii) Ein Lebewesen einer Art bewohnt dieselbe ökologische Nische wie seine Artgenossen. Es sind also externe (nämlich genealogische, entwicklungsbedingte und ökologische) Faktoren, die dafür sorgen, dass Mitglieder einer Art eine Gruppe von Merkmalen teilen. Richard Boyd zufolge können biologische Arten wie andere natürliche Arten auch aufgrund von Ähnlichkeiten zwischen Mitgliedern als etwas betrachtet werden, dem eine Essenz zukommt. Eine solche Essenz liegt vor, wenn sich bei Mitgliedern einer Art eine stabile Merkmalsgruppe findet, deren Stabilität durch einen zugrunde liegenden Mechanismus erklärt werden kann. Natürliche Arten sind Boyd zufolge „homöostatische Eigenschaftsgruppen“ (homeostatic property clusters). Bei homöostatischen Eigenschaften handelt es sich um Eigenschaften, die sich gegenseitig gegenüber externen Einflüssen und Veränderungen stützen.670 Entsprechend kann nun eine Art definiert werden und zwar durch „shared properties and by the mechanisms (including both ‘external’ mechanisms and genetic transmission) which sustain their homeostasis.“ 671 Allerdings schenkt Boyd Beispielsweise bilden Hydrogen und Oxygen eine solche homöostatische Gruppe. Nicht alle Kombinationen chemischer Elemente bilden stabile Gruppen. Die Eigenschaften der chemischen Elemente, die Hydrogen und Oxygen binden, sind auch verantwortlich für charakteristische Eigenschaften von Wasser. Weil diese Eigenschaften durch die homöostatische Gruppe Hydrogen und Oxygen erklärt werden können, handelt es sich bei den Eigenschaften von Wasser um eine homöostatische Eigenschaftsgruppe. 671 Boyd 1999b: 81. 670 297 dem Umstand, dass Arten in erster Linie genealogische Individuen sind, zu wenig Beachtung. Die Identitätsbedingungen einer Art sind nicht auf Ähnlichkeiten zwischen ihren Mitgliedern zurückzuführen, sondern darauf, dass Arten historische Individuen sind. Millikan nun vertritt eine an Boyds Auffassung angelehnte Sicht auf biologische Arten.672 Sie betont jedoch die historischen Relationen, die Mitglieder einer Art zusammenhalten. Demgegenüber sind die von Boyd betonten Ähnlichkeiten zwischen Mitgliedern sekundär. Die Ähnlichkeiten (die homeostatischen Merkmalsgruppen) zwischen Mitgliedern einer Art folgen in erster Linie aus ihrer genealogischen Verbundenheit, und in zweiter Linie aus den Mechanismen, die entwicklungsgeschichtlich und ökologisch für Homogenität sorgen. Variable Abweichungen zwischen den (Eigenschaften von) Mitgliedern einer Art erklären sich durch genetische Variationen, unvollkommene Reproduktionen und Veränderungen in der Umwelt.673 Für Millikan ist eine biologische Art eine historische Art (historical kind). Im Unterschied zu ahistorischen Arten (eternal kinds) spielen bei historischen Arten die historischen Relationen zwischen den Mitgliedern eine entscheidende Rolle, denn sie erklären warum Mitglieder einer Art zueinander gehören und bestimmte Merkmalsgruppen gemeinsam haben. Die Stabilität der Merkmalsgruppen der Mitglieder einer biologischen Art ergibt sich aus der Tatsache, dass aktuelle Mitglieder Kopien von Vorfahren sind. Eine biologische Art ist also wesentlich eine REF.674 Bestimmte Eigenschaften werden von den meisten Mitgliedern einer biologischen Art geteilt, weil es sich um reproduktiv etablierte Eigenschaften handelt. Vgl. Millikan 1999a; OCCI: II. Millikan 1999b: 55f: „The copying processes that generate [biological kinds] are not perfect, nor are the historical environments that sustain [biological kinds] steady in all relevant respects. Moreover, as Boyd has argued, these kinds have often naturally and irreducibly vague boundaries.“ 673 Wie steht es mit stabilen Abweichungen zwischen Gruppen von Mitgliedern einer Art? Bisweilen wird behauptet, dass die Theorie historischer Essenzen ein Problem mit dem biologischen Polymorphismus habe, d.h. mit der Ausbildung stabiler Gruppen innerhalb einer Art, die sich phänotypisch ebenso stabil unterscheiden (vgl. Ereshefsky und Matthen 2005). Es gibt mindestens drei Arten von Polymorphismus: (i) den bei vielen Arten stark ausgeprägten Geschlechts-Dimorphismus (etwa bei Gorillas), (ii) die Stadien im Lebenszyklus einer Art (etwa bei Fröschen) und (iii) der soziale oder arbeitsteilige Polymorphismus (etwa bei Ameisen). Jede Theorie über biologische Arten muss den Polymorphismus erklären können. Daraus ergibt sich ein Polymorphismusproblem. Das Argument lautet nun, dass jeder auf Ähnlichkeit aufbauende Artbegriff ein Problem mit dem Polymorphismus habe, dass der auf homeostatischen Eigenschaftsgruppen basierende Artbegriff auf Ähnlichkeiten aufbaut, und dass dieser folglich am Polymorphismusproblem leide. Verstehen wir biologische Arten mit Millikan aber wesentlich als historische Arten, dann wird die Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern einer Art gegenüber genealogischen, entwicklungsbiologischen und ökologischen Faktoren sekundär. Mitglieder einer Art und stabile Gruppen von Mitgliedern innerhalb einer Art, sind sich aufgrund historischer Relationen untereinander ähnlich. Die Polymorphismen erklären sich aus ökologischen und entwicklungsgeschichtlichen Mechanismen. Es gehört zu allen Mitglieder von Froscharten, dass sie eine bestimmte Metamorphose durchmachen, es gehört zu allen Ameisenkolonien, dass sie sozial ausdifferenziert sind und es gehört zu allen Mitgliedern von Gorillas, dass sie das Resultat zwischengeschlechtlicher Reproduktion sind. Für diese Polymorphismustypen können, so die Vermutung, Normale Erklärungen gefunden werden, d.h. Mechanismen, die erklären, warum bestimmte Arten diese Typen von Polymorphismus aufweisen. 674 Historische Arten „link one member of the kind to another by some sort of causal connections among them or by causal or historical relations to the same historical individuals or some historical setting. Members of different biological lineages derived on separate occasions by crossing members from the same pair of 672 298 Der biosemantischen Auffassung über biologische Arten zufolge haben Arten zwar keine traditionellen Essenzen in dem Sinne, wie Mayr, Hull und Ghiselin „Essenz“ verstehen, doch Arten weisen stabile Merkmalsgruppen auf, und der Grund, warum sie über solche Gruppen verfügen, besteht darin, dass Arten REFs bilden. Dies macht es möglich, dass sich Autoren wie Putnam oder Kripke auf biologische Arten als Paradebeispiele für natürliche Arten mit Essenzen beziehen können, und es erklärt, warum wir relativ stabile Induktionsschlüsse im Hinblick auf Lebewesen bilden können.675 Der (wie Millikan sagt) „ontologische Grund“ für solche Schlüsse liegt in der Tatsache, dass Mitgliedern einer Art aufgrund historischer Reproduktionsprozesse Merkmale einer stabilen Merkmalsgruppe zukommen. Dieser ontologische Grund übernimmt in mancherlei Hinsicht die Rolle des traditionellen Essenzbegriffs.676 Denn eine solche Merkmalsgruppe versammelt Eigenschaften, die man als „historische Essenz“ einer Art bezeichnen kann.677 Anders als Arten mit traditionellen Essenzen haben Arten eine historische Essenz, (a) obwohl nicht alle Mitglieder einer Art alle Merkmale einer solchen Gruppe haben müssen, und (b) obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine andere Art (oder andere Klassen von Dingen) über dieselbe Merkmalsgruppe verfügt. Der Punkt (a) besagt, dass Mitglieder einer Art von den Merkmalsgruppen, die die historische Essenz der Art bestimmten, abweichen können. Wir können die einzelnen Elemente einer solchen Merkmalsgruppe nun durch aristotelisch-kategorische Urteile in Thompsons Sinne ausdrücken. Die Quellen unvollkommener Homeostase der Merkmalsgruppe einer Art und die Abweichungen davon bei einzelnen Lebewesen liegen in der unvollkommenen Reproduktion oder in der Heterogenität des Genpools und der Umwelteinflüsse. Dies erklärt, warum Urteile über solche Arten aristotelisch-kategorische Aussagen sein müssen. Arten sind als genealogische Individuen realisiert, die durch historische und kausale Relationen der Reproduktion zwischen Organismen gebildet werden. Dies erklärt, warum Urteile über solche Arten natur-historische Aussagen sein müssen. Dies ergibt zusammen genommen eine enge Beziehung zwischen dem individualistischen und historisch-essenzialistischen Artkonzept der Biosemantik und dem vermeintlich nicht-historischen Begriff der Lebensform. Ein Darwinsches Artkonzept erst erklärt, was eine Lebensform ist (nämlich ein genealogisches Individuum), wodurch species are clearly examples of kinds having historical grounds.“ (Millikan 1999b: 100) Auch Kreuzungen zwischen Arten, die zu Exemplaren mit stabilen Merkmalsgruppen führen, können eine historische Art bilden, denn es sind stets dieselben Prozesse der Hybridisierung, die dazu führen, dass diese Exemplare über stabile Merkmalsgruppen verfügen. Doch natürlich handelt es sich dabei nicht um eine biologische Art, wenn diese Exemplare unfruchtbar sind. 675 Zur dieser Verbindung von Induktion und natürlichen Arten vgl. Kornblith 1993. 676 Vgl. OCCI: 23. 677 Vgl. Griffiths 1999. 299 Lebewesen eine Lebensform bilden (nämlich durch historische Reproduktionsrelationen), und warum eine solche Lebensform das Maß gibt, von dem einzelne Lebewesen abweichen können (nämlich durch die in unvollkommenen historischen Reproduktionsrelationen fundierten stabilen Eigenschaftsmerkmalen). In diesem Sinne sind die Lebensformen der Tugendethik nicht anderes als biologische Arten. Es sind Arten im eben etablierten Sinne, die spezifische normative Kategorien bilden. Der Punkt (b) besagt, dass Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen alleine kein Hinweis auf eine gemeinsame Lebensform sind. Nehmen wir an, wir fänden jetzt eine Fischpopulation F, die physikalisch auf keine Weise von einer Fischart F*, die vor Millionen von Jahren ausgestorben ist, zu unterscheiden wäre. Wenn zwischen F und F* keine genealogische Verbindung besteht, handelt es sich bei F und F* nicht um dieselbe Art. Möglicherweise sind alle Mitglieder von F* defekt, aber keines der mit ihnen physisch identischen Mitglieder von F war aufgrund der physischen Beschaffenheit krank. Welche Echte Funktion das Organ O von F und das physisch gleiche Organ O* von F* hat, hängt von der Geschichte der jeweiligen Art ab. Ebenso wären die Mitglieder einer biologischen Art A* in einer mit der unseren biologisch identischen Parallelwelt keine Lebewesen derselben Art, wie unsere Lebewesen der Art A, auch wenn Mitglieder von A und A* ununterscheidbar wären, auf dieselbe Art und Weise gesund oder krank wären und ihre Teile und Äußerungen über dieselben Echten Funktionen verfügen würden. Denn A und A* bilden nicht ein, sondern zwei genealogische Individuen. Und schließlich wäre ein durch ein kosmisches Zufallswunder entstandenes Fischexemplar Fritz, das in jeder Hinsicht der neu entdeckten Population F gleichen würde, kein Mitglied der Population. Fritz wäre niemals weder krank noch gesund und seine Teile und Äußerungen hätten keine Echten Funktionen. Fritz ist natürlich Sumpffritz. Dem Sumpfmannproblem werde ich mich im folgenden Kapitel 4 widmen. 3.3.3. Natürliche Gutheit für Menschen Betrachten wir nun die Lösung der zweiten Aufgabe durch die naturalistische Tugendethik: Sie muss zeigen können, dass die für Lebewesen entwickelte Auffassung natürlicher Normativität die Grundlage dafür abzugeben vermag, dass menschliche Handlungen und Dispositionen einer moralischen Bewertung unterzogen werden können, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie Menschen als Lebewesen betrifft. Nun, kann ich hier die naturalistische Tugendethik nicht im vollen Umfange verteidigen, und dies ist auch nicht meine Absicht. Es scheint mir durchaus sinnvoll, die Tugendethik nicht puristisch zu 300 betreiben, sondern konsequenzialistische Elemente miteinzubeziehen, wie etwa Humes Moralphilosophie dies tut, der zufolge Tugenden Charakterzüge sind, die uns selbst oder anderen angenehm oder nützlich sind. Tugenden, so hatte ich deshalb gesagt, können als gute und robuste Charakterzüge betrachtet werden, die sowohl eine motivierende Komponente als auch eine Komponente des verlässlichen Erfolgs einschließen, und uns oder anderen sowohl angenehm als auch nützlich sind. Worum es mir geht, ist die Plausibilisierung der Idee, dass Normativität eine Frage der Zugehörigkeit zu einer normativen Kategorie ist, und dass der von der Biosemantik eingesetzte Normativitätsbegriff nicht nur scheinbare oder Quasi-Normen beansprucht, sondern auf Normativität im grundlegenden Sinne dieses Begriffs zurückgreift. Dies kann u.a. dadurch gezeigt werden, dass natürliche Normen auch die Grundlage für moralische Bewertungen liefern können. Ich habe in den vorhergehenden Abschnitten den Begriff der Lebensform, den die naturalistische Tugendethik favorisiert, durch den Begriff einer biologischen Art ersetzt. Dies birgt natürlich die Gefahr, diffuse Vorwürfe eines „Biologismus“ auf sich zu ziehen. Ich glaube aber nicht, dass meine Ausführungen solche Vorwürfe rechtfertigen. Vielleicht ist es nützlich, sich etwas vor Augen zu führen, was ich bereits gesagt habe: Es gehört zur Natur des Menschen, dass er eine zweite Natur erwirbt. Im Abschnitt 2.4. habe ich mit Bezug auf Aristoteles gesagt, dass Menschen, um einen tugendhaften Charakter zu erwerben, zuerst durch Gewohnheiten Charakterzüge ausbilden müssen. Denn weder Tugenden noch Laster sind angeboren oder „genetisch determiniert“. Aber sie beruhen auf natürlichen Anlagen, die sich durch Gewohnheiten ausbilden. In diesem Sinne meint Aristoteles, dass die Tugenden bei uns weder von Natur aus noch gegen die Natur entstehen, sondern wir seien eher von Natur aus fähig, sie anzunehmen und durch Gewöhnung auszubilden.678 Der Erwerb von Charakterzügen durch Gewöhnung, Erziehung und Lernen gehört demnach zur Natur des Menschen. Unsere Disposition zum Erwerb von Charakterzügen überhaupt wie auch unsere Disposition zu denken, zu handeln, zu imaginieren gehören zu unserer natürlichen Ausstattung (zu unserer ersten Natur), und ebenso die Tatsache, dass wir diese Dinge zu lernen imstande sind. Dies widerspricht nicht der oben vorgeschlagenen Bestimmung einer biologischen Art als raumzeitliches Individuum, dessen Teile eine phylogenetische genealogische Linie bilden, wobei diese Teile voneinander abstammen, einen Genpool teilen und eine ökologische Nische besetzen. Der letzte Aspekt ist für unsere Art in ungleich stärkerer Weise als bei anderen Lebewesen relevant. Die ökologische Nische des Menschen hatte ich als kulturelle 678 EN II 1, 1103a23-26. 301 Welt beschrieben. Und das Bewohnen einer kulturellen Welt gehört zur historischen Essenz unserer biologischen Art. Gemäß der zweiten Aufgabe muss eine naturalistische Tugendethik zeigen, dass ihre Auffassung natürlicher Normen die Grundlage dafür abzugeben vermag, bestimmte menschliche Dispositionen und Taten einer moralischen Bewertung unterziehen zu können. Dies ist die zweite Aufgabe für Foot. Moralische Gutheit und moralische Schlechtheit kann nun in Analogie zu natürlichen Qualitäten und Defekten betrachtet werden.679 Natürlich unterscheidet sich die für unsere Art typische Weise des Gedeihens und die dafür erforderlichen Merkmale von anderen Tieren: „There are, for instance, physical properties such as the kind of larynx that allows of the myriad sounds that make up human language, as well as the kind of hearing that can distinguish them. Moreover, human beings need the mental capacity for learning language; they also need powers of imagination that allow them to understand stories, to join in songs and dances – and to laugh at jokes.“680 Menschen, die ihre Rolle in einer Gemeinschaft nicht einnehmen, sind im Hinblick auf die soziale Gruppe defekt.681 Ausdrücke wie „Gutheit“, „Defekt“, „Lebensform“ oder „Zweck“ können auf jede Art von Lebewesen auf die gleiche Weise angewendet werden, nämlich relativ zu der Art, der ein Lebewesen angehört. Weder ist es erforderlich eine spezifische Art der Normativität zu fordern, die nur unserer Lebensform entspricht, noch ist es erforderlich, die Natur unserer Lebensform nicht gleichermaßen als etwas zu betrachten, dass in der Natur des Naturwissenschaftlers lokalisiert werden kann, wie die Natur von Bienen oder Gorillas. Nun verfügen Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen über einen durch Gründe bestimmbaren Willen: „The other animals act. So do we occasionally, but mostly we act from reason, as they do not, and it is primarily in virtue of our actions from reason that we are ethically good or bad human beings.“682 Moralische Bewertungen betreffen, und dies ist wichtig, nicht in erster Linie den Menschen qua Menschen, sondern die Qualitäten und Defekte ihres Willens: Wie sehr lässt ein Mensch seinen Willen durch Gründe bestimmen und richtet entsprechend seine Haltungen Foot sagt, dass „the grounding of a moral argument is ultimately in facts about human life“ (Foot 2001: 24) und dass „the fact that a human action or disposition is good of its kind will be taken to be simply a fact about a given feature of a certain kind of living being“ (Foot 2001: 5). 680 Foot 2001: 43. 681 Foot 2001: 44. 682 Hursthouse 1999: 217. 679 302 und Handlungen aus?683 Es sind nun moralische und intellektuelle Tugenden, die uns für Gründe empfänglich machen. Doch weil Menschen die Fähigkeit, ihren Willen durch Gründe bestimmen zu lassen im Zuge ihres Erwerbs einer zweiten Natur erwerben, „there is a ‘natural-history story’ about how human beings achieve this good [die Tugenden und den guten Willen] as there is about how plants and animals achieve theirs“.684 In analoger Weise können wir sagen: Es sind biologische, funktionale Systeme zur Ausbildung von Überzeugungen und zur Produktion und Rezeption von artikulierten Lauten, die uns für Gründe empfänglich machen. Trotz aller kulturellen Differenzen im Erwerb einer zweiten Natur benötigen Menschen qua Menschen gewisse Fähigkeiten nötig, um sich und ihre Art gedeihen zu lassen.685 Wir ziehen Kinder groß (Reproduktion), brauchen Wohnung und Kleidung und Nahrung (Überleben), sind angewiesen auf Zuneigung und Freundschaft (soziale Gruppe). Tugenden sind nun Mittel zur Erreichung dieser Zwecke.686 Ebenso wie für die Biosemantik ist für die Tugendethik die Biene das Wappentier, hat doch Geach die Rolle der Tugenden durch folgenden Satz auf den Punkt gebracht: „Virtues play a necessary part in the life of human beings as do stings in the life of bees.“687 Bestimmte Charakterzüge von Menschen sind konstitutiv dafür, dass es sich bei einem Menschen um ein moralisch nicht-defektes Exemplar seiner Art handelt. Solche Charakterzüge sind Tugenden. Tugenden machen also einen guten Menschen als guten Menschen aus. Tugenden leisten einen Beitrag nicht nur zum Gedeihen des guten Menschen, sondern auch zum Gedeihen seiner Art. Tugenden sind Dispositionen eines Menschen, auf seine oder anderer Wünsche, Emotionen, Überlegungen und Handlungen gut zu reagieren.688 Tugenden wie Mut oder Güte können als gute und robuste Charakterzüge betrachtet werden, die sowohl eine motivierende Komponente als auch eine Komponente des verlässlichen Erfolgs einschließen, und uns oder anderen sowohl angenehm als auch nützlich sind. Die Güte beispielsweise ist eine Tugend, die sowohl die Motivation eines Menschen, sich für das Wohlergehen anderer einzusetzen, als auch einen gewissen Erfolg dabei umfasst. Gütige Vgl. Foot: 2001: 72. Foot 2001: 51. 685 Foot 2001: 43. 686 Foot 2001: 44f: „Men and women need to be industrious and tenacious of purpose not only so as to be able to house, clothe, and feed themselves, but also to pursue human ends having to do with love and friendship. They need the ability to form family ties, friendships, and special relations with neighbours. They also need codes of conduct. And how could they have all these things without virtues such as loyalty, fairness, kindness, and in certain circumstances obedience?“ 687 Geach 1977: 17: „Men need virtues as bees need stings. An individual bee may perish by stinging, all the same bees need stings; an individual man may perish by being brave or just, all the same men need courage and justice.“ Vgl. Foot 2001: 35; Hursthouse 1999: 209. 688 Swanton 2003: 19. 683 684 303 Menschen sind imstande auf Notsituationen auf eine Weise adäquat zu reagieren, die Not zu lindern vermag. Die Frage, ob eine solche Disposition gut ist oder nicht, wird dadurch bestimmt, ob der entsprechende Charakterzug den Zwecken unserer Art als sozialen Tieren nützlich und angenehm ist. Zu diesen Zwecken gehören, wie gesagt, das individuelle Überleben über die Lebensalter hinweg, das Überleben von Mitgliedern der Art, der Genuss der für Menschen charakteristischen Freuden und die Vermeidung der für sie charakteristischen Leiden sowie eine funktionstüchtige Ausgestaltung des sozialen Zusammenlebens. Die zur Erreichung dieser Zwecke wichtigen Elemente sind Teile (Organe und Formen) und Äußerungen (Verhaltensweisen und Produkte) von Menschen sowie deren kognitiven und konativen Fähigkeiten. Nicht-defekte Mitglieder von sozialen Tierarten, wie etwa dem Menschen, streben nach den genannten vier Zwecken und verfügen über die Elemente, die zur Erreichung dieser Zwecke dienlich sind. Analog wie Stachel im Leben der Bienen eine Funktion erfüllen und eine natürliche „fremdnützige“ Qualität darstellen, spielen Tugenden im Leben von Menschen eine solche Rolle. „Human beings who are good in so far as they are courageous defend themselves, and their young, and each other, and risk life and limb to defend and preserve worthwhile things in and about their group, thereby fostering their individual survival, the continuance of the species, their own and others’ enjoyment of various good things, and the good functioning of the social group.“689 Menschen sind moralisch gut sofern ihre Charakterzüge die vier Zwecke eines sozialen Tieres auf gedeihliche und für ihre Lebensform typische Weise fördern.690 Wenden wir nun die oben formulierte Schlussregel auf eine Tugend an, beispielsweise auf den Mut. (1*) Der Mensch ist mutig, um seine Angehörigen, seine Freunde, seine Überzeugungen angemessen zu verteidigen. Daraus ergibt sich: (2*) Der Mensch muss mutig sein. Und: (3*) Ein Mensch, der nicht mutig ist, ist in dieser Hinsicht defekt. 689 690 Hursthouse 1999: 209. Hursthouse 1999: 224. 304 Fassen wir zusammen! Wir finden Normativität in Bereich der Lebewesen qua Lebewesen. Wir bewerten Exemplare einer Gattung anhand unterschiedlicher Ziele. Dazu gehören (bei höheren sozialen Lebewesen) das individuelle Überleben, die Erhaltung der Art, die Formen von Lusterlangung und Unlustvermeidung und die Organisation des Sozialverbandes. Diese Ziele werden durch verschiedene Mittel erreicht. Dazu gehören bestimmte körperliche Merkmale, bestimmte Reaktionsweisen, bestimmte Verhaltensweisen und bestimmte konative und kognitive Fähigkeiten. Was für einen Gorilla qua Gorilla gut oder schlecht ist, ob er gesund oder krank, intakt oder defekt ist, ob er normal oder abnormal ist, hängt von dem ab, was Gorillas als Art sind. Wir bewerten Charakterdispositionen und Taten in analoger Weise wie wir gute, gesunde Exemplare einer Spezies bewerten. So ist auch die Normativität, auf die sich moralische Bewertungen beziehen, nichts, was rätselhafter Weise erst mit uns entstehen würde. Kommen wir zu Einwänden! Tugendethiken werden mit anderen ethischen Ansätzen, insbesondere mit konsequenzialistischen und deontologischen Ansätzen, häufig durch eine Reihe von sehr groben Charakterisierungen unterschieden. So richte sich das Augenmerk der Tugendethik nicht primär auf Handlungen, sondern auf Akteure, ihr Thema sei das gute Leben und die Tugend, nicht aber die Pflicht und das Richtige, sie befasse sich eher mit der Frage, was für eine Person man sein solle, nicht mit der Frage, was man tun solle, sie richte sich eher auf das Seinsollen als auf das Tunsollen. Diese Charakterisierungen sind keineswegs falsch, aber sie sind irreführend, weil sie den Anschein erwecken, die Tugendethik habe nichts über Handlungen, Richtigkeit und Tunsollen zu sagen. Betrachten wir, was deontologische Ansätze ganz abstrakt über moralisch richtige Handlungen sagen, dann wir sichtbar, dass auch die Tugendethik eine normative Theorie ist.691 Eine Handlung ist moralisch richtig, wenn sie mit den korrekten moralischen Regeln übereinstimmt. Was aber ist eine korrekte moralische Regel? Diese Frage kann auf unterschiedliche Weise beantwortet werden. Vielleicht sind jene moralischen Regeln korrekt, die von Gott oder der Tradition vorgegeben sind, vielleicht können wir sie durch eine Liste charakterisieren, vielleicht werden sie durch ein moralisches Prinzip geordnet, etwa durch Universalisierbarkeit oder den kategorischen Imperativ, vielleicht handelt es sich auch um Regeln, die rationale Wesen hinter dem Schleier der Unwissenheit auswählen würden usw. Was auch immer es ist, es bestimmt die korrekten moralischen Regeln, die es uns erlauben, Handlungen als moralisch richtig (gut) oder als moralisch falsch (schlecht) zu bewerten. Diesem allgemeinen Muster folgt auch die Tugendethik. Eine Handlung ist moralisch 691 Vgl. dazu Hursthouse 1999: I. 305 richtig, wenn sie mit der Handlung übereinstimmt, die ein tugendhafter Mensch unter den gegebenen Umständen ausführen würde. Ein tugendhafter Mensch ist nun natürlich ein Mensch, der bestimmte tugendhafte Charakterzüge besitzt und es versteht, gemäß diesen Charakterzügen zu handeln. Was aber sind tugendhafte Charakterzüge und Tugenden? Diese Frage kann auf unterschiedliche Weise beantwortet werden. Vielleicht sind jene Charakterzüge Tugenden, die von Gott oder dem Commonsense dazu bestimmt sind, vielleicht können wir sie durch eine Liste charakterisieren, vielleicht werden sie durch ein moralisches Prinzip gekennzeichnet, etwa durch ihren Beitrag zu einem glücklichen Leben, durch ihre soziale Nützlichkeit usw. Was auch immer es ist, es bestimmt die tugendhaften Charakterzüge eines Menschen, die es uns erlauben, Handlungen als moralisch richtig (gut) oder als moralisch falsch (schlecht) zu bewerten. Obwohl also die Tugendethik ihr Augenmerk auf Akteure und die Frage „Was ist ein guter Mensch?“ richtet, muss sie doch nicht darauf verzichten, Prinzipien des moralisch richtigen Handelns aufzustellen. Ein weiteres Problem für den tugendethischen Naturalismus scheint darin zu bestehen, dass die vier Zwecke lediglich auf das Funktionieren eines bestimmten Sozialverbandes ausgerichtet sind, nicht aber auf das Gedeihen der menschlichen Gattung im Ganzen. Dies scheint der Intuition der Universalisierbarkeit zu widersprechen. Menschen als solche verdienen dieser Intuition zufolge moralischen Respekt, nicht nur als Mitglieder der Familie, der Sippe, der Volksgemeinschaft oder des Staates. Im Unterschied zu Menschen scheinen Tiere weder die vier Zwecke noch die Förderung des Gedeihens ihrer Art als Ganzes als explizite Intentionen zu verfolgen. Aber indem sie diese Zwecke verfolgen, tragen sie nicht nur zu ihrem individuellen Überleben und dem Funktionieren der Gruppe bei, sondern auch zum Gedeihen ihrer Art. Menschen können diesen Zusammenhang einsehen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Universalisierbarkeit moralischer Bewertungen ein für unsere Lebensform charakteristischer Bestandteil ist.692 Tugenden sind der naturalistischen Tugendethik zufolge Charaktermerkmale, die dem Gedeihen unserer Art im Hinblick auf die vier genannten Zwecke förderlich sind. Kann nun der Status eines Charakterzugs als Tugend auf jene vier Zwecke zurückgeführt werden? Gegen diese Auffassung ist der Einwand erhoben worden erhoben, dass keinesfalls alle Tugenden, die wir in unterschiedlichen menschlichen Gesellschaften finden, den genannten Zwecken dienen. Unverbrüchliche Treue, wahre Freundschaften oder Respekt vor dem Alter mögen ihnen sogar entgegen stehen. Charakterzüge, die weniger als 692 Es ist kaum zu leugnen, dass die Stabilisierung der Intuition der Universalisierbarkeit das Ergebnis eines historischen Prozesses ist. Vgl. dazu Stohr und Wellman 2002: 69: „…given the facts of economic, social, and environmental interdependence of cultures and communities in our world today, we must also think about ourselves in the context of a global community.“ 306 nützlich und angenehm, denn als nobel, edel, groß, unerbittlich, unerschrocken, bewunderungswürdig, Respekt einflößend, ruhmvoll oder würdevoll angesehen werden können, scheinen keinem der vier Zwecke zu entsprechen.693 Dem kann man entgegenhalten, dass solche Charakterzüge aufgrund der vier Zwecke kritisiert werden können und dass sie auf indirekte Weise wiederum den Zwecken dienen. Vor allem muss man nicht behaupten, dass alle Tugenden natürliche Tugenden sind, oder dass Tugenden eine Einheit bilden. Man könnte in Analogie zur Unterscheidung zwischen biologischen und kulturellen Funktionen zwischen natürlichen Tugenden und künstlichen Tugenden unterscheiden, wie etwa Hume dies auf systematische Weise tut. Bisweilen wird naturalistischen Tugendethiken vorgeworfen, dass sie einem bornierten moralischen Konservativismus das Wort reden. Betrachten wir als Beispiele die Homosexualität und das Zölibat.694 Ist es nicht die Funktion der Geschlechtsorgane durch die Zeugung von Kindern zum Gedeihen der Art beizutragen? Wer auf den entsprechenden Gebrauch der Geschlechtsorgane verzichtet, scheint ein defektes Mitglied unserer Art zu sein. Konservative Moralisten sind bisweilen der Ansicht, der homosexuelle Gebrauch sei unnatürlich, liberale Kritiker sind hingegen bisweilen der Ansicht, der zölibatäre Verzicht sei unnatürlich. Offenbar hängt die Natürlichkeit der Betätigung von der moralischen Perspektive ab, die man sowieso schon eingenommen hat. Nun ist es natürlich falsch, dass Homosexuelle und katholische Priester keinen Beitrag zur Reproduktion leisten, denn beide können Kinder und junge Erwachsene aufziehen, erziehen und ausbilden und so innerhalb der kulturellen Welt einen Beitrag zur Reproduktion leisten.695 Wie steht es nun mit der sexuellen Praxis bzw. der Enthaltsamkeit selbst? Organe, die eine Echte Funktion haben, müssen nicht benutzt werden. Es ist nichts falsch an einer Honigbiene, die ihren Stachel niemals benutzt. Warum sollte etwas defekt an einer Person sein, die ihre Geschlechtsorgane nicht zur Fortpflanzung benutzt? Ebenso wenig ist an einem Geschlechtsakt etwas defekt, der nicht zur Reproduktion führt. Sogar Vgl. Swanton 2003: 90ff. Diese Beispiele sollen exemplarisch für ein Problem der Tugendethik sein. Kritik in dieser Richtung findet sich bei Anthony 2000; Hooker 2002; Lenmann 2005. Auch Gowans 2008: 52 glaubt hier ein Problem diagnostizieren zu können: „This reveals a striking asymmetry in their account. [Foot and Hursthouse] are both fond of saying that, even as there is something wrong with a ‘free-riding wolf’ that enjoys the benefits of the hunt without participating in it, so there is something wrong with a human being who is not charitable or just. They also think there is something wrong with animals that do not reproduce, but they do not say in this case that likewise there is something wrong with human beings who choose not to reproduce. Hence, in the determination of the virtues, our natural ends as social animals are appealed to in a highly selective way. What determines the selection, pretty clearly, is an assumed ethical outlook according to which everyone is expected to be charitable and just in some respects (at least) in the sense of promoting the well-being of one’s social group, but not everyone is expected to be temperate in the sense of sometimes engaging in sexual intercourse and reproducing.“ 695 Damit akzeptiere ich nicht die soziobiologische These, dass Homosexualität eine Adaptation sei. Für eine Diskussion dieser These vgl. Horvath 2007. 693 694 307 wenn es die einzige Funktion der Geschlechtsorgane wäre, zur Fortpflanzung beizutragen, muss nicht jeder Gebrauch dieser Organe diese Funktion auch erfüllen. Schließlich dient der Gebrauch der Geschlechtsorgane nicht nur der Fortpflanzung. Bonobos beispielsweise benutzen ihre Geschlechtsorgane sowohl zwischen als auch innerhalb der Geschlechter zur Versöhnung, d.h. als Form der sozialen Wiedervereinigung nach Konfliktsituationen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, die einzige Funktion der Geschlechtsorgane und des Geschlechtsverkehrs bei Menschen bestehe in der Fortpflanzung. Weder Hursthouse noch Foot sind der Ansicht, dass Homosexualität und Zölibat Laster sind.696 Sexualpraktiken sind keine Charaktermerkmale, sondern Praktiken. Tugenden mögen bei der Ausübung von Sexualpraktiken relevant sein (wie Mäßigung oder Rücksicht), doch diese Tugenden betreffen Sexualpraktiken insgesamt, nicht eine spezifische Form davon. Aus der Sicht des tugendethischen Naturalismus gibt es also keinen Grund zu der Annahme, dass Homosexualität oder das zölibatäre Leben gut oder schlecht seien.697 Weder wird also einem verstockten Konservativismus das Wort geredet noch einer liberalen Sichtweise bloß Ausdruck verliehen. Analoges gilt auch für Fälle körperlicher Behinderung. Es ist ein Ausdruck völligen Unverständnisses gegenüber der tugendethischen Position, wollte man sie darauf behaften, dass körperliche Gebrechen einen Menschen zu einem moralisch schlechten Exemplar der Gattung machen. Körperliche Gebrechen sind keine Charakterzüge, sondern Gebrechen. Als solche sind sie in moralischer Hinsicht weder gut noch schlecht. Einige Kritiker der Tugendethik haben den Eindruck, als würde im Übergang von der natürlichen Normativität pflanzlicher und tierlicher Lebensformen zu derjenigen des Menschen der Naturalismus fallen gelassen, weil die Bestimmbarkeit durch Gründe für unsere Lebensform eine zentrale Rolle spielt. Sobald wir uns auf die Empfänglichkeit für Gründe und den durch Gründe bestimmten Willen berufen, scheint es schlechterdings überflüssig zu sein die Ethologie oder irgend eine andere Naturwissenschaft zu Rate zu ziehen.698 Die Tugendethik hält dem entgegen, dass diese Art der Bestimmbarkeit durch Gründe zu unserer zweiten Natur gehöre: „Our characteristic way of going on is a rational way.“699 Dass der Mensch ein rationales Lebewesen sei, gehört zu den Binsenweisheiten der Philosophiegeschichte. Es ist in der Tat schwierig zu leugnen, dass wir, anders als andere Lebewesen, empfänglich für Gründe sind. Welche Rolle spielt denn der Umstand, dass wir Lebewesen sind? Die naturalistische Tugendethik behauptet, dass es eine in der eben Vgl. Hursthouse 1999: 214f.; Foot 2001: 42, 109. Vgl. dazu auch die Kritik von Hooker 2002 und die Antwort von Hursthouse 2002. 698 Copp und Sobel 2004: 539ff. 699 Hursthouse 1999: 122. 696 697 308 dargelegten Weise zu verstehende Verbindung zwischen Normen und natürlichen Tatsachen gibt. Exemplare der menschlichen Lebensform verfügen als Mitglieder dieser Lebensform über natürliche Qualitäten und Defekte. Zu den Besonderheiten unserer Lebensform gehört es, dass wir empfänglich sind für Gründe und unsere Haltungen und Handlungen dem Willen unterstellen können. Natürlich handelt es sich hierbei um keine statistische Beschreibung eines für unsere Art typischen Merkmals, sondern um eine normative Eigenschaft die einem Menschen qua Mensch, als Mitglied einer spezifischen normativen Kategorie zukommt. Diese und andere besonderen Fähigkeiten erwerben wir als unsere zweite Natur. Trotz aller kulturellen Differenzen im Erwerb einer zweiten Natur haben Menschen gewisse Dinge nötig, nicht nur um ihre Art gedeihen zu lassen, sondern auch um als Mitglieder ihrer Art zu gedeihen. Tugenden sind Mittel zur Erreichung dieser Zwecke. Der Naturalismus wird hier also keineswegs fallen gelassen. Vielmehr zeigt sich ein Weg, wie wir unsere zweite Natur in der Natur, wie sie die biologischen Wissenschaften verstehen, heimisch werden lassen können. Hierbei handelt es sich zunächst um eine bloße Behauptung, die die Tugendethikerinnen dem Einwand entgegenhalten. Sie verfügen selbst über keine Theorie darüber, inwiefern Menschen als biologische Wesen Wünsche und Überzeugungen ausbilden, sich durch diese bestimmen lassen und sich innerhalb einer kulturellen Welt bewegen können. Die Biosemantik hingegen ist eine Theorie, die diesen Mangel der Tugendethik behebt. Was folgt aus der Tatsache, dass wir unseren Willen durch Gründe bestimmen lassen können, für die Tugenden und deren normative Dimension? Ein Mensch kann sich z.B. fragen, warum er mutig sein sollte. Ich kann mich und andere stets fragen, warum ich etwas tun sollte, auch wenn es eine gute Handlung und Ausdruck einer guten Einstellung ist. Warum sollte ich mutig sein und mutig handeln? Diese Möglichkeit muss man zugestehen, nur ändert sie nichts daran, dass das mutige Handeln (verstanden als ein Verhalten, das darin besteht, seine Angehörigen, Freunde, Überzeugungen usw. angemessen zu verteidigen) eine natürliche Qualität ist. Damit ist keineswegs gemeint, dass Personen als Individuen gleichsam von Geburt auf entweder feige oder mutig sind. Mut und Feigheit sind Charakterzüge, die man erwerben, trainieren, ausbilden und kontrollieren kann. Sie sind in dem Sinne natürlich, dass sie natürliche Qualitäten von Menschen qua Menschen sind. Menschen sind auch in der Lage über den teleologischen Rahmen und die damit verbundenen Normen nachzudenken. Dies ist für den Naturalisten keine Überraschung. Es gehört zur Natur des Menschen, dass er diese Fähigkeiten erwirbt, und zwar indem er sich eine zweite Natur erwirbt. Menschen erwerben die Fähigkeit, ihren 309 Willen durch Gründe zu bestimmten. Ebenso wenig verändert die Bestimmbarkeit des Willens durch Gründe den teleologischen Rahmen der natürlichen Qualitäten und Defekte. Folgt aus der Behauptung, dass Menschen einen durch Gründe bestimmbaren Willen haben, für normative Forderungen des Tunsollens, dass stets der Wille eines agierenden Subjekts involviert sein muss? Foot zufolge betreffen moralische Bewertungen, wie wir gesehen haben, nicht in erster Linie den Menschen qua Menschen, sondern die Qualitäten und Defekte seines Willens.700 Hartmanns Metaphysik der Normativität zufolge besteht jedes Tunsollen aus zwei Elementen, nämlich der Einsicht in ein Seinsollen und dem Willen, jenes zu realisieren. Das Seinsollen impliziert ein Tunsollen über den Willen von Subjekten. Solche Zweikomponentenanalysen der Normativität des Tunsollens oder Tunmüssens finden sich auch in der zeitgenössischen Diskussion. So argumentiert etwa Peter Stemmer dafür, dass alle Formen der Normativität „aus einem Müssen der notwendigen Bedingung und einem Wollen“ bestehen.701 Er hebt richtig hervor, dass man lernen müsse, Normen als Bestandteil der natürlichen Welt aufzufassen. Sobald zu dem objektiven Müssen der notwendigen Bedingung ein Wollen hinzu komme, entstehe eine neue Eigenschaft aus zwei nicht-normativen Zutaten, nämlich die Eigenschaft der Normativität.702 Hier wurde behauptet, dass es sowohl in der biologischen als auch in der kulturellen Welt normative Eigenschaften gibt, und zwar insofern es normative Klassen gibt. Wir finden natürliche Normen in der Welt vor, und deshalb muss Normativität nicht aus zwei Komponenten heraus entstehen. Es wurde vorgeschlagen Normativität im Sinne der Zugehörigkeit zu einer normativen Kategorie zu verstehen. Der Wille eines Subjekts nun ist keine notwendige Bedingung für ein Tunsollen. Betrachten wir folgende Verhaltensregel für Mitglieder normativer Kategorien: (1) Wenn X Mitglied einer funktionalen normativen Kategorie K mit der Funktion F ist, dann folgt daraus, dass X F tun soll, und dass X defekt ist, wenn X nicht F tut. Dies ist direkt relevant für Forderungen des Tunsollens. Wenn X Arzt ist, dann folgt daraus, dass X Personen heilen soll, und dass X defekt ist, wenn X Personen krank macht. Was X, der Arzt, tun soll, hängt davon ab, was X ist, d.h. zu welcher normativen Kategorie X gehört. Ob X seine Funktion ausüben will oder nicht, ist irrelevant. Ebenso ist es irrelevant, ob X Arzt werden wollte oder nicht. Vgl. Foot: 2001: 72. Stemmer 2008: 43. 702 Stemmer 2008: 36. 700 701 310 Wie kommen wir zu moralischen Normen? Betrachten wir einen Folterer wie Mengele. Wir könnten doch sagen, dass „Folterer“ eine normative Kategorie ist. Nehmen wir als Zweck der Folter die gezielte Zufügung großer Schmerzen. Entsprechend gibt es gute und schlechte Folterer. Judith Jarvis Thomson behandelt einen analogen Fall. Ein guter Juwelendieb sei jemand, der wertvolle Juwelen klaut und nicht wertlosen Strass. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Aber es widerspricht natürlich unseren moralischen Normen. Betrachten wir das erfolgreiche Foltern oder den erfolgreichen Juwelendiebstahl als gut (relativ zu einem normativen Begriff der die entsprechende normative Klasse bestimmt), dann müssen wir, wie es scheint, von dieser Art teleologischen Normativität offenbar eine andere Form der moralischen Normativität unterscheiden. Wir wollten aber einem einheitlichen Verständnis der Normativität Vorschub leisten. Zu diesem Zweck können wir (1) in der folgenden Weise erweitern:703 (2) Wenn X Mitglied einer funktionalen normativen Kategorie K mit der Funktion F ist, dann folgt daraus, dass X F tun soll, und dass X defekt ist, wenn X nicht F tut, falls X nicht Mitglied einer normativen Kategorie K* ist, die K einschließt, sodass X ein defektes Mitglied von K* ist, wenn es F tut. Ein Folterer wie Mengele, der zugleich Mitglied der kulturellen funktionalen normativen Kategorie der Ärzte ist, ist ein defektes Mitglied dieser Kategorie, wenn er seine Funktion als Folterer ausübt. Sowohl ein Juwelendieb als auch ein Folterer sind zugleich Mitglieder der spezifischen normativen Kategorie der Menschen. Verstoßen sie gegen die auf der Zugehörigkeit zu dieser Kategorie basierenden Tugenden, dann sind sie moralisch defekte Mitglieder der Kategorie Mensch. Intuitiv ist es plausibel, dass sowohl der Folterer als auch der Juwelendieb gegen Tugenden (wie Gerechtigkeit oder Güte) verstoßen oder durch Laster (wie Grausamkeit oder Gier) getrieben werden. Ein Folterer ist als Mitglied der normativen Kategorie der Folterer intakt oder defekt. Als Mitglieder der normativen Kategorie Arzt oder Mensch ist der Folterer auf jeden Fall defekt, egal ob er ausgezeichnet oder miserabel foltert. Ebenso der Juwelendieb als Mitglied der normativen Kategorie Mensch, egal ob er ein Meisterdieb oder ein Dummkopf ist, ob er seine Tätigkeit mit Mut und Besonnenheit ausübt oder nicht. Der Umstand also, dass ein Mensch Mitglied einer normativen Kategorie ist, stellt Forderungen an sein Tun und an sein Lassen, die nicht über den Willen des betreffenden Menschen vermittelt sind. Ebenso stellt der Gebrauch von Dingen, die einer kulturellen funktionalen normativen Kategorie angehören, Forderungen an das Tun und Lassen von 703 Vgl. Thomson 2007. 311 Benutzern dieser Artefakte. Bisweilen wird gesagt, die Echte Funktion beziehe sich auf den richtigen Gebrauch eines Artefakts durch aktuelle oder potenzielle Nutzer. Die normative Dimension hängt dann von der Richtigkeit des Gebrauchs ab.704 Wir haben jedoch am Beispiel des PKW, der als Blockade dient, gesehen, dass der Gebrauch eines Artefakts keinesfalls seine Echte Funktion bestimmt. Es ist vielmehr umgekehrt: Die Funktion eines Artefakts legt seinen richtigen Gebrauch fest, und gibt überdies Regeln vor, wie mit einem Artefakt umzugehen ist. Erinnern wir uns an das Beispiel von Sellars (1.2.6.): Uhrenschlagwerke sollten alle Viertelstunde schlagen. Das ist eine Norm, die auf Uhrenschlagwerke zutrifft. Sie sagt etwas über das Seinsollen von Uhrenschlagwerken aus. Solche Schlagwerke sind zu diesem Zweck hergestellt worden und sie sollen so gewartet werden, dass sie alle Viertelstunde schlagen. Daraus ergibt sich eine Handlungsregel, die nun nicht auf Uhren, sondern auf Personen (den Hersteller oder den Wärter) zutrifft: Man soll dafür sorgen, dass Uhrenschlagwerke alle Viertelstunde schlagen. Die funktionale Norm eines Artefakts gibt die Handlungsregel vor. Der Grund dafür ist natürlich, dass Artefakte funktionale normative Kategorien bilden. Damit soll nun nicht behauptet werden, dass die Intentionen, Überzeugungen und Wünsche von Subjekten keine Rolle spielen. Die intentionalen Zustände von Subjekten – gemeint sind sowohl die Intentionen und Absichten von Herstellern als auch die Wünsche, Bedürfnisse und Vorhaben von Nutzern – sind ein Faktor in den Prozessen, die dazu führen, dass hergestellte Produkte Echte Funktionen erwerben oder verändern. Sie sind Bestandteil der Normalen Erklärung dafür, dass Artefakte Funktionen mit Erfolg ausführen, ebenso wie weitere Umweltbedingungen, Naturgesetze oder die Materialbeschaffenheit eines Artefakts Bestandteil der Normalen Erklärung dafür sind, dass Artefakte ihre Echten Funktionen erfolgreich ausüben können. Sprachliche Formen, Worte, Wortverbindungen usw. können im Sinne der Theoriekonstruktion ebenfalls als kulturelle funktionale normative Kategorien betrachtet werden, und aus diesem Umstand leitet sich die sogenannte „semantische Normativität“ ab. 704 Vgl. Scheele 2006. 312 4. SUMPFMANN UND ANIMALISMUS 4.1. Hat die Biosemantik ein Sumpfmannproblem? Im Kapitel 3 wurden die biosemantischen Thesen, dass es natürliche Normen gibt und dass natürliche Normativität genuine Normativität ist, mit der naturalistischen Tugendethik verbunden. Der theoriestrategische Zug bestand darin, diese beiden Theorieformationen sich gegenseitig stützen zu lassen. Die Tugendethik kann zeigen, wie spezifische normative Kategorien aufzufassen sind und die Biosemantik kann darlegen, wie funktionale normative Kategorien zu verstehen sind. Das scheinbar theorieinterne teleosemantische Problem, dass die Darlegung von Normativität auf der Grundlage natürlicher normativer Kategorien motiviert hat, lautete, ob die Teleosemantik einen normativen Begriff der Funktion brauche (1.1.1. & 1.3.). Gegen Dretskes und Papineaus Einwände wurde geltend gemacht, dass IRInhalte, weil sie wahr und falsch sein können, eine normative Dimension aufweisen und dass diese normative Dimension in der natürlichen Welt vorgefunden werden kann. Gegen Millikan und Neander, die zwar im Gegensatz zu Dretske oder Papineau akzeptieren, dass intentionale Repräsentationen über eine normative Dimension verfügen, jedoch defensiv von einer gleichsam nicht-normativen Normativität auszugehen geneigt sind, wurde gezeigt, dass die Biosemantik offensiv einen starken Begriff der Normativität in Anspruch nehmen darf und soll (3.1.1.). Sie darf es, insofern im Begriff der normativen Kategorie alle Formen der Normativität entweder vorgefunden oder abgeleitet werden können (3.1.2.3.1.4. & 3.3.3.), und sie soll es, insofern es sich bei der Biosemantik um einen anspruchsvollen Theorieansatz handelt (1.1.1.), dessen explanatorisches Potenzial in seiner Kraft zu Vereinheitlichung liegt (2.3.). Ein analoges Vorgehen soll auch in diesem und dem nächsten Kapitel befolgt werden. In diesem Kapitel wende ich mich dem dritten Problem der Biosemantik zu, nämlich der Frage, ob die Biosemantik das Sumpfmannproblem lösen kann (1.1.1.). Die Biosemantik besagt, dass es für den Geist essenziell ist, eine biologische Vorgeschichte zu haben. Von einer Person P oder einer Kuh K wird durch irgendein Wunder ein qualitativ identisches Duplikat angefertigt (der Sumpfmann oder die Sumpfkuh). Doch P und K gehören zu einer biologischen Art, sie haben eine Selektions- und Lerngeschichte, die Duplikate hingegen nicht. Folglich haben P und K gehaltvolle Wahrnehmungen, Erinnerungen und andere geistige Zustände, die ununterscheidbaren Duplikate jedoch nicht. Doch dies erscheint vielen Kritikern als höchst unplausibel. Man kann diese Intuition verstärken, wenn man sich vorstellt, dass zwei Sumpfwesen sich reproduzieren und 313 dadurch ebenfalls Wesen ohne geistige Zustände hervorbringen. Ist das nicht kontraintuitiv? Einzelne Autoren sind bereit, die Biosemantik alleine aufgrund dieser intuitiven Unplausibilität zu verwerfen.705 Ich halte dies für überzogen, werde aber diese Intuition nicht direkt angreifen.706 Viele Naturalisten halten Intuitionen philosophisch für wertlos und Gedankenexperimente für nicht der Rede wert.707 Intuitionen scheinen mir nicht wertlos zu sein. Zunächst geben sie uns Anhaltspunkte dafür, wie wir über natürliche Arten denken. Auch meine Vorschläge zu funktionalen Kategorien und biologischen Arten stützen sich teilweise auf solche Anhaltspunkte. Darüber hinaus sind Intuitionen eine Quelle, die Anhaltspunkte für den Inhalt unserer Begriffe liefert. Diese Quelle, wie andere epistemische Quellen auch, ist fehlbar. Intuitionen haben das unverzichtbare erste Wort und sie können als epistemische Leitplanken der theoretischen Arbeit angesehen werden. Sie haben jedoch nicht das letzte Wort. Ich werde deshalb in diesem Abschnitt die Voraussetzungen für die Zuverlässigkeit starker Intuitionen in Frage stellen und den Versuch unternehmen, ein Gleichgewicht zwischen gegenläufigen Intuitionen im Hinblick auf den Sumpfmann zu erzeugen. Schließlich – und darin besteht die Hauptaufgabe dieses Kapitels – werde ich die Biosemantik mit dem Animalismus so zusammenführen, dass die Voraussetzung, die zum Vgl. Block 2007: 19. Vgl. dazu Millikan 1996, 2010; Neander1996; Papineau 1996, 2001; Lalor 1998. 707 Normalerweise werden eine bestimmte Auffassung von Begriffen, die Methode der Begriffsanalyse und der Einsatz philosophischer Intuitionen als Einheit betrachtet. Einige Autoren betrachten Intuitionen als eine besondere Art von apriorischen Urteilen ähnlich denjenigen geübter Mathematiker (vgl. Bealer 1998), andere hingegen betrachten Intuitionen als Urteile über unseren Sprachgebrauch ähnlich den ästhetischen Urteilen kultivierter Kunstkritiker (vgl. Cavell 1976). Bei beiden geht es darum, was wir in bestimmten, aktuellen oder hypothetischen Fällen sagen würden, d.h. ob wir einen bestimmten Begriff zur Anwendung bringen würden oder nicht. Naturalistisch gesinnte Philosophen, die Begriffsanalysen ablehnen, stehen dem Wert von Intuitionen gelinde gesagt misstrauisch gegenüber: „philosophical intuition is epistemologically useless” (Cummins 1998: 125). Im Hinblick auf den Sumpfmann hat Papineau ebenfalls eine solch ablehnende Haltung bezeugt, indem er in seinem und Millikans Namen meint: „[W]e both gave the same response to the intuition that such a being [Sumpfmann] would, contrary to our theories, have contentful beliefs and desires. Namely, that since we were offering a posteriori theories of representation, rather than conceptual analyses of an everyday notion, we were prepared to reject the common-sense intuition that Swampman has contentful states.“707 (Papineau 1996: 130). Doch auch wenn man diese Haltung einnimmt, muss man etwas darüber sagen, mit welchen Gründen man die Intuitionen des Commonsense verwirft und warum der Commonsense solche Intuitionen hat. In meinen Augen ist nicht jeder Gebrauch von Intuitionen mit einer bestimmten Auffassung über die philosophische Methode oder über den sprachlichen Inhalt verknüpft. Die Erörterung von aktuellen und hypothetischen Fällen und die Befragung unserer Intuitionen reflektieren erstens einfach unsere Überzeugungen im Hinblick auf Objektkategorien. Sie können so als Ausgangspunkt dienen, das Wesen einer Objektkategorie zu fassen. Intuitionen sind Daten. Und wie andere Daten auch, können ihnen alternative Datensätze oder alternative Erhebungsmethoden entgegengehalten werden. Darin besteht das Ausbalancieren von unterschiedlichen Intuitionen. Weiter liefern Intuitionen Hinweise auf den Inhalt von Begriffen. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass sie dies auch dann können, wenn die in den Intuitionen ausgedrückten Überzeugungen für den Inhalt der Begriffe nicht konstitutiv zu sein braucht, sondern sie brauchen nur damit verbunden zu sein. Lawrence und Margolis (2003: 279) weisen zu Recht auf folgenden Punkt hin: „Thus intuitions correlate with categorization dispositions and categorization dispositions correlate with content. The result is that intuitions are broadly correlated with content on virtually any theory of content.“ Intuitionen sind ein Instrument, und zwar ein fehlbares Instrument, das die Funktion hat anzuzeigen, ob ein bestimmter Begriff in einem aktuellen und hypothetischen Fall Anwendung findet oder nicht. 705 706 314 Sumpfmannproblem führt, als intuitiv einleuchtende Lösung eines bestimmten Problems erscheint, sodass sich das intuitive Gleichgewicht zugunsten der Biosemantik verschiebt. Die wichtige konstruktive These dieses Kapitels besteht jedoch in dem Nachweis, dass es richtig ist, uns in erster Linie als biologische Wesen zu betrachten. Menschen sind Tiere. Nur so erscheint es gerechtfertigt, für uns charakteristische mentale und andere normative Eigenschaften als biologische Eigenschaften zu verstehen. Dieser Gedanke wird von Millikan lediglich vorausgesetzt, nicht jedoch explizit gemacht, geschweige denn begründet. Deshalb legt dieses Kapitel einen weiteren Grundstein für ein einheitliches naturalistisches Bild unserer Stellung in der natürlichen Welt. Worin besteht das Sumpfmannproblem?708 Das Problem hat natürlich mit dem semantischen Externalismus zu tun. Putnam will mit seiner Zwillingserde zeigen, dass mentale Zustände (wie Überzeugungen) nicht zugleich zwei Bedingungen erfüllen können, nämlich: (1) Mentale Zustände sind interne Zustände in dem Sinne, dass sie keine andere Existenzvoraussetzung haben, als die Existenz eben jenes Individuums, dem diese Zustände zugeschrieben werden. (2) Mentale Zustände werden einem Individuum normalerweise aufgrund ihrer kausalen Relation zu Dingen (Objekten, Eigenschaften, Ereignissen, Tatsachen) in der aktuellen (physischen, sozialen) Umgebung dieses Individuums zugeschrieben. 708 Der Sumpfmann entstammt dem Comic Swamp Thing. In den frühen 1970er-Jahren arbeitet der Wissenschaftler Alec Holland in den Sümpfen von Louisiana an einer bio-restaurativen Formel, mit deren Hilfe Wüsten in Wälder verwandelt werden sollen. Infolge eines Bombenattentats auf sein Labor rennt der mit brennenden Chemikalien überschüttete Holland in die nahen Sümpfe und versinkt. An seiner Stelle erscheint ein pflanzenartiges humanoides Wesen: Swamp Thing, das Ding aus dem Sumpf. Dieses Wesen ist sowohl mit Hollands Erinnerungen als auch mit dessen Persönlichkeit ausgestattet, unterscheidet sich aber in seinem abstoßenden Äußerlichen erheblich von ihm. Die 70-er Jahre sind im Zusammenhang mit dem Aufkommen des semantischen Externalismus auch in der Philosophie eine Zeit der Science-Fiction-Literatur. Nachdem Putnam die Zwillingserde eingeführt hatte, tauchte dort bald auch das Ding aus dem Sumpf auf (zuerst in Stich 1978). Millikan führt die Idee in LTOBC ein: „The position is that intentionality is grounded in external natural relations, Normal and / or proper relations, between representations and representeds, the motions „Normal“ and „proper“ being defined in terms of evolutionary history […]. Let me put the position starkly – so starkly that the reader may simply close the book! Suppose that by some cosmic accident a collection of molecules formerly in random motion were to coalesce to form your exact physical double. Though possibly that being would be and even would have to be in a state of consciousness exactly like ours, that being would have no ideas, no beliefs, no intentions, no aspirations, no fears, and no hopes. (His nonintentional states. Like being in pain or itching, may of course be another matter.) This because the evolutionary history of the being would be wrong. For only in virtue of one’s evolutionary history do one’s intentional mental states have proper functions. Hence does one mean or intend at all, let alone mean anything determinate.“ (LTOBC: 93) Donald Davidson schließlich bringt alle Elemente zusammen und führt so den Sumpfmann drei Jahre nach dem Erscheinen von LTOBC ausdrücklich in die Diskussion ein: „Since some may be a little wary of Putnam’s doppelgänger on Twin Earth. Let me tell my own science fiction story – if that is what it is. […] Suppose lightning strikes a dead tree in a swamp; I am standing nearby. My body is reduced to its elements, while entirely by coincidence (and out of different molecules) the tree is turned into my physical replica. My replica, Swampman, moves exactly as I did; according to its nature it departs the swamp, encounters and seems to recognize my friends, and appears to return their greetings in English. It moves into my house and seems to write articles on radical interpretation. No one can tell the difference.“ (Davidson 2001: 18f.) Soviel zur Geburt von Sumpfmann. 315 Der ersten Auffassung entsprechend könnte ein Individuum auch dann noch über mentale Zustände verfügen, wenn es das einzige existierende Individuum wäre (Solipsismus) oder wenn die Außenwelt nicht existieren würde (Skeptizismus). Aufgrund des Vorranges der Perspektive der ersten Person und der Denkmöglichkeit des globalen Außenweltskeptizismus wird diese Auffassung als „cartesianische“ apostrophiert. Die zweite Bedingung hingegen fordert für mentale Zustände nicht nur die Existenz des Inhabers dieser Zustände, sondern auch die Existenz jener externen Dinge, von denen diese Zustände handeln. Wenn nun mentale Zustände nicht zugleich die Bedingungen (1) und (2) erfüllen können, muss man, wie es scheint, eine Bedingung fallen lassen. Doch diese Konsequenz ist an dieser Stelle noch keineswegs zwingend, denn der Ausdruck „mentaler Zustand“ ist mehrdeutig. Er kann sowohl „Vehikel“ als auch „Inhalt“ meinen. Dies stellt kein gravierendes Problem dar. Mentale Zustände sind als Vehikel interne Zustände, handeln aber als Zustände mit einem Inhalt von externen Umständen. Als Vehikel werden mentale Zustände durch interne Faktoren individualisiert und identifiziert, im Hinblick auf ihren Inhalt jedoch durch externe Faktoren. Soweit besteht keine Unverträglichkeit zwischen (1) und (2). Man muss (1) vielmehr als semantische These reformulieren, nämlich als semantischen Internalismus: (1*) Die Inhalte der mentalen Zustände von S supervenieren allein auf den internen, intrinsischen Eigenschaften von S (z.B. den intrinsischen physischen und chemischen Eigenschaften des Hirns von S). Wir können (1*) etwas charakterisieren. Mentale Zustände sind interne Zustände von S. Ein Zustand ist intern, wenn er die Existenz von nichts Anderem voraussetzt, als jenes S’, das in diesem Zustand ist. Ein Zustand ist intern, wenn er sich über Duplikate hinweg erhält (Zwillingserde). Daraus folgt: Wenn S1 (auf der Erde) und S2 (auf der Zwillingserde) die gleichen internen Zustände haben, so unterscheiden sie sich nicht hinsichtlich des Inhalts dieser Zustände. Es gibt keinen Unterschied im Inhalt von mentalen Zuständen ohne einen Unterschied in den internen Zuständen. Jede korrekte psychologische Theorie darüber, dass ein S gewisse mentale Zustände hat (oder nicht hat) darf mithin ausschließlich interne Eigenschaften von S berücksichtigen. Entsprechend negiert der semantische Externalismus These (1*) und behauptet, dass nicht alle Inhalte mentaler Zustände auf internen Zuständen von S supervenieren. Ein Zustand Z ist nicht-intern (extern), wenn Z die Existenz von etwas Anderem voraussetzt als von S, das sich in Z befindet. Ein Zustand ist nicht-intern (extern), wenn er sich über Duplikate hinweg nicht erhält (Zwillingserde). Zwei intern identische S (auf der Erde bzw. der Zwillingserde) können sich hinsichtlich des Gehalts ihrer mentalen Zustände folglich unterscheiden. 316 Von welchen externen Faktoren hängt nun der Inhalt eines mentalen Zustands ab? Hier gibt es prinzipiell drei verschiedene Möglichkeiten: Der Inhalt mentaler Zustände hängt von der physikalischen, von der sozialen oder von der historischen Umwelt von S ab. Jede korrekte psychologische Theorie über den Inhalt der internen Zustände von S muss Faktoren der physikalischen und/oder der sozialen Umwelt und/oder der historischen Umwelt von S berücksichtigen. Für die Biosemantik ist nun die historische Umwelt entscheidend, und zwar weil IR-Inhalte abhängig von Echten Funktionen sind, Echte Funktionen aber eine wesentlich historische Kategorie sind. Die Biosemantik weist also in gewisser Weise sowohl (1*) als auch (2) zurück. Intentionale Zustände supervenieren keineswegs allein auf den internen, intrinsischen Eigenschaften eines Wesens. Zwar werden mentale Zustände einem Wesen normalerweise aufgrund seiner kausalen Relation zu Dingen in seiner aktuellen physischen oder sozialen Umgebung zugeschrieben. Doch der Grund für den Besitz intentionaler Zustände liegt keineswegs in der Zuschreibung über diese Relationen, sondern in der Geschichte des Lebewesens und den dadurch entstandenen Funktionen seiner kognitiven Vermögen. Da Echte Funktionen also wesentlich historisch sind (1.1.4.) und Lebewesen wesentlich zu Arten mit historischen Essenzen gehören (3.3.2.), kann ein wundersam entstandenes Wesen ohne jede Vorgeschichte, das sich gleich wie eine erwachsene Person verhält (der Sumpfmann), der Biosemantik zufolge keine intentionalen Zustände haben. Worin besteht jetzt das Sumpfmannproblem für die Biosemantik? Von einer Person P wird durch irgendein Wunder ein qualitativ identisches Duplikat D angefertigt (der Sumpfmann). Doch P gehört zu einer biologischen Art, hat eine Selektions- und Lerngeschichte, D hingegen nicht. Folglich hat P gehaltvolle Wahrnehmungen, Erinnerungen und andere geistige Zustände, der ununterscheidbare D jedoch nicht. Dies erscheint vielen Kritikern als höchst unplausibel. Es widerspreche sowohl der unmittelbaren als auch der philosophisch gepflegten Intuition, einen ununterscheidbaren Doppelgänger als etwas sui generis Verschiedenes aufzufassen. Es scheint ja für unseren praktischen Umgang mit D keinen Unterschied zu machen, ob D biologische Vorfahren hat oder nicht. Alles scheint dafür zu sprechen, dass D ebenso über intentionale Zustände verfügt, wie P. Wenn es für unseren Umgang mit D als einem mentalen Wesen keinen Unterschied macht, ob er Vorfahren hat oder nicht, dann kann es auch für den Besitz intentionaler Zustände keinen Unterschied machen, ob ein Wesen mit intentionalen Zuständen Vorfahren hat oder nicht. Aus diesem Grund verfehlen teleosemantische Theorien ihr explanatorisches Ziel, nämlich die Erklärung der Intentionalität. Man kann diesen Einwand gegen die Teleosemantik dramatisieren, indem 317 man darauf verweist, dass auch die Kinder und Enkel zweier Sumpfmenschen keine genuin intentionalen Zustände verfügen,709 oder indem man sie als „aristokratische Theorie des Geistes“ betrachtet, in der die Abstammung über Intentionalität entscheide,710 und man kann für den Sumpfmenschen gleiche Rechte fordern.711 Wie weit auch immer man die Zuspitzung rhetorisch vorantreiben will, der wesentliche Punkt besteht darin, dass zwei in ihrem Verhalten ununterscheidbare und mithin qualitativ identische Wesen derart verschieden sein sollen, dass das eine Wesen (die Person P) über einen Geist verfügt, das andere (deren Duplikat D) hingegen nicht. Und dies scheint unseren grundlegenden Intuitionen zu widersprechen. Ich halte den Anspruch auf einen starken Status für Intuitionen in der Philosophie für weitgehend fragwürdig, bin jedoch zugleich, wie bereits dargelegt, nicht der Ansicht, dass Intuitionen wertlos sind und sich die Diskussion von Gedankenexperimenten nicht lohnt. Die philosophische Zuverlässigkeit von Intuitionen scheint auf zwei Grundsätzen zu beruhen: Erstens auf der Vorstellung eines kompetenten Begriffsbenutzers, die wiederum auf einer bestimmten Auffassung von Begriffen und privilegiertem epistemischem Zugang zur Bedeutung von Begriffen beruht. Zweitens beruht sie auf der Annahme, dass philosophische Gedankenexperimente, wie sie der Sumpfmannfall veranschaulicht, dazu geeignet sind, die Kompetenz der Begriffsbenutzer und den Zugang zu ihren Begriffen in geschärfter Weise hervortreten zu lassen. Beide Voraussetzungen scheinen fragwürdig. Die sogenannte „experimentelle Philosophie“712 hat den Gedanken des kompetenten Begriffsbenutzers auf zwei Weisen in Frage gestellt. Erstens unterscheiden sich die Intuitionen für die Anwendung von bestimmten Begriffen relativ zu Hintergrundannahmen, die mit der kulturellen Herkunft der Begriffsbenutzer variieren. So wenden westliche und östliche Sprecher des Englischen den Begriff des Wissens unterschiedlich an und zeigen entsprechend signifikante Unterschiede im Hinblick auf mutmaßlich kontraintuitve Folgen externalistischer Erkenntnistheorien.713 Der Rückgriff auf den kompetenten Sprachbenutzer scheint für sich selbst genommen kein Entscheidungskriterium für oder gegen eine Implikation einer philosophischen Theorie liefern zu können. Zweitens setzt der Rückgriff auf die semantische Introspektion kompetenter Begriffsbenutzer einen direkten Zugang zum Vgl. Block 2007: 19. So Patrick Suppes, zitiert nach Tim Schroeder Homepage: http://wwwcsli.stanford.edu/events/Coglunch//schroeder.html. (zuletzt besucht am 04.04.2010). 711 Vgl. Anthony 1996. 712 Vgl. Knobe 2008. Für Millikans Problematisierung, die anders geartet ist als die hier vorgeschlagene, vgl. LBM: 7, Millikan 2010. 713 Vgl. Stich 1988; Weinberg, Nichols, Stich 2001; Nichols, Stich, Weinberg 2003. Zur Unterscheidung zwischen westlichen und östlichen Denkweisen vgl. Nisbett 2003. 709 710 318 Inhalt von Gedanken und Begriffen voraus, macht also internalistische Voraussetzungen, die man nicht zu teilen braucht. Millikan bezeichnet diese Voraussetzung als „Bedeutungsrationalismus“ (meaning rationalism) und meint damit die Annahme, dass Introspektion oder Reflexion alleine darüber Auskunft geben, ob die eigenen Gedanken und Begriffe klar, kohärent und nicht widersprüchlich seien.714 Natürlich scheint es zum Commonsense zu gehören, dass man weiß, was man denkt. Für Millikan handelt es sich hierbei lediglich um eine weitere Form des Mythos des Gegebenen. Der Rückgriff auf den Commonsense ist für sich genommen keine ausreichende Basis für die Annahme, dass Gehalt, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit der eigenen Gedanken und Begriffe allein introspektiv evaluiert werden könnten. Der zweiten Annahme zufolge sind Gedankenexperimente besonders geeignet, die begrifflichen und sprachlichen Intuitionen kompetenter Sprachbenutzer hervortreten zu lassen. Diese Annahme erscheint mir ebenfalls fragwürdig. Zum einen sind die Begriffe kompetenter Sprachbenutzer nicht unter Bedingungen erworben worden, wie sie in Gedankenexperimenten hergestellt werden. Gedankenexperimente beruhen in den überwiegenden Fällen auf der Herstellung qualitativ identischer Situationen mit einem entscheidenden und anscheinend leicht zu lokalisierenden Unterschied, wobei die Herstellung dieser Situation zumeist auf einer in den Augen des Alltagsverstands lediglich fantastischen Wahrscheinlichkeit beruht. Dazu gehören Farbgeschäfte, die explodieren und als Resultat ein Muster auf einer Leinwand erzeugen, das sinnlich nicht von Van Goghs Sonnenblumen zu unterscheiden ist; Zwillingserden mit einer chemisch unterschiedlich beschaffenen Substanz, die sonst ganz und gar unserem Wasser entspricht; Hellseher, die aufgrund eines besonderen Tumors zuverlässig über bevorstehende Ereignisse Auskunft geben können; Menschen, die durch kosmischen Zufall in Sumpfgebieten entstehen, sich verhalten, wie andere Mitglieder unserer Spezies, nur dass sie weder eine Selektions- noch eine Lerngeschichte hinter sich haben. Nichts weist darauf hin, dass sich unsere Begriffe und Intuitionen gegenüber solchen spezifischen Situationen auf sicherem Terrain bewegen können, vielmehr scheinen die Gedankenexperimente darauf hinzuarbeiten, dass wir uns über die Anwendbarkeit unserer Begriffe und die Ausbildung von Intuitionen unsicher werden. Gedankenexperimente schaffen keine Situationen, die Intuitionen schärfen, sondern solche, die Intuitionen verunsichern. Die wichtigste Möglichkeit nun, Intuitionen zu verunsichern, besteht darin, dass die Anordnung des Gedankenexperiments dazu zwingt, einen möglicherweise entscheidenden Aspekt einer Problemlage einfach zu 714 Vgl. WQP: XIV. 319 übersehen, weil er aus der experimentellen Anordnung ausgeschlossen wird. Ich möchte dies an einem Beispiel aus der Tierethik illustrieren. Stellen wir uns vor, wir hätten aus irgendeinem Grunde nur die Möglichkeit eines von zwei Wesen vor dem sicherem Tod zu retten. Bestimmt wäre es falsch, keines der beiden Wesen zu retten. Welches soll nun gerettet werden? Eines der beiden Wesen sei ein schwer krankes menschliches Waisenkind, das nur noch wenige Monate zu leben hat, das andere Wesen sei ein edles, seltenes, gesundes, junges Wildtier. Wen sollen wir retten? Sowohl der utilitaristischen Ethik Peter Singers als auch der deontologischen Ethik Tom Regans zufolge müssen wir die Interessen bzw. die Rechte beider Wesen als prinzipiell gleichwertig betrachten. Die Abwägung erfolgt bei Singer über ein Kalkül der Maximierung von intrinsisch positiven Erlebnissen (Lust) und der Minimierung von intrinsisch negativen Erlebnissen (Unlust). Die Abwägung bei Regan erfolgt aufgrund ähnlicher Überlegungen, da sich beide Wesen hinsichtlich ihres absoluten inhärenten Wertes nicht unterscheiden, also muss man zu einer Abwägung intrinsischer Werte übergehen. Beide Betrachtungsweisen konstruieren die moralische Situation so, dass sie lediglich aus zwei Elementen besteht, nämlich aus den beiden zu rettenden Wesen.715 Demgegenüber sieht die Tugendethik die moralische Situation von Anfang an anders. Sie besteht aus drei Elementen, nämlich den beiden Wesen und dem in die Handlungspflicht genommenen Akteur. Wäre es für diesen Akteur tugendhaft sich so zu verhalten, dass er von der sozialen Nähe des pflegebedürftigen Kindes abstrahiert? Wäre es tugendhaft sich so zu verhalten, dass er von den Folgen seiner Handlung auf sein gutes Leben abstrahiert? Natürlich nicht. Der tugendhafte Akteur berücksichtigt sowohl die Frage der sozialen Nähe als auch die Frage, ob es für einen wirklich tugendhaften Menschen zulässig ist, die Fürsorge für ein Wesen auszuschlagen, denn das Wildtier würde seiner Fürsorge nach der Rettung nicht bedürfen, das Kind hingegen schon. Es wäre ein Ausdruck mangelnder sozialer Nähe, mangelnden Mitleids und fehlender Übernahme von Fürsorge, würde der Akteur nicht das Kind retten. Da es sich dabei um einen Mangel an Tugenden handelt und für den Tugendethiker das richtige Handeln sich an dem bemisst, was ein wahrhaft tugendhafter Mensch tun würde, wäre es falsch, das Kind nicht zu retten. Nun nimmt sich die Situation so aus, dass der tugendhafte Akteur auf jeden Fall gezwungen ist, etwas zu unterlassen, das ein tugendhafter Akteur nicht unterlassen darf, nämlich einem Wesen zu helfen. Es ist klar, was der Akteur aus der eben vorgeschlagenen Perspektive tun muss, aber dies bedeutet nicht, dass er dabei nicht gezwungen wird, eine gebotene Handlung unterlassen zu müssen. 715 Singer 1994; Regan 1988; für einen Kritik an diesen Ansätzen vgl. Wolf 2004. 320 Der Akteur, wenn er tugendhaft ist, wird sich dies vorwerfen müssen. Kein Dritter, insofern er tugendhaft ist, wird dem Akteur dies vorwerfen dürfen. Es ist nun für meine Zwecke weniger entscheidend, wie der Akteur sich der Tugendethik gemäß zu verhalten hätte, wichtiger ist der Umstand, dass der Tugendethiker darauf beharren muss, die moralische Situation nicht so zu konstruieren, dass lediglich die beiden zu rettenden Lebewesen in Betracht kommen. Es ist Ausdruck einer mangelnden und verfehlten moralischen Wahrnehmung, die Situation allein im Hinblick auf die beiden moralischen Objekte, nicht aber unter Einbeziehung des moralischen Akteurs zu betrachten.716 Wer die moralische Situation so konstruiert, hat aus der Sicht des Tugendethikers bereits die Unfähigkeit demonstriert, eine moralische Situation adäquat zu erfassen, was natürlich ein Ausdruck eines moralisch unzureichenden Charakters ist.717 Analog ist die Situation beim Sumpfmann. Sie ist so konstruiert, dass die Vergangenheit des Sumpfmanns keine Rolle spielt. Doch dies verfehlt die kognitive Situation. Wenn uns eine Person sagt, sie hätte persönliche Erinnerungen an ein bestimmtes Ereignis und sich durchgehend so verhält, als hätte sie solche Erinnerungen an dieses Ereignis, wir aber wissen, dass diese Person unmöglich Zeuge des besagten Ereignisses hat sein können, dann werden wir natürlich nicht glauben, dass sie tatsächlich Erinnerungen hat, auch wenn sie sich in allem genau gleich verhält, wie eine Person, die tatsächlich Zeuge des besagten Ereignisses gewesen ist. Ebenso verhält es sich im Falle des Sumpfmanns. Keine seiner persönlichen Erinnerungen ist eine Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, weil Sumpfmann ex hypothesis noch nichts erlebt hat. Er kann keine Erinnerungen haben. Wenn wir nur das erinnerungsbezogene Verhalten einer normalen Person und seines Sumpfmannduplikats vergleichen, ohne die Vergangenheit der beiden Wesen zu berücksichtigen, dann verfehlen wir die kognitive Situation. Darin besteht die Analogie zum moralischen Fall, den ich vorhin diskutiert habe: Ein für die (moralische bzw. kognitive) Situation erheblicher Aspekt wird ausgeklammert und dadurch die (moralische bzw. kognitive) Situation als solche verfehlt. Es ist ein Ausdruck eines moralisch unzureichenden Charakters, die moralische Situation lediglich dyadisch zu verstehen, und ebenso ist es ein Ausdruck eines verfehlten Verständnisses der kognitiven Leistung der Erinnerung, die Situation ohne Bezug auf die Vorgeschichte der normalen Person und seines Sumpfmannduplikats zu rekonstruieren. Dementsprechend ist auch die in der Naturethik verbreitete Unterscheidung zwischen „anthropozentrischen“ und „pathozentrischen“ Ansätzen verfehlt, wenn sie, wie es geschieht, als ein sich ausschließendes Oppositionspaar aufgefasst wird, vgl. dazu Krebs 1997. 717 Tugendethische Ansätze in die tierethische Debatte führen auf sehr unterschiedliche Weise ein Becker 1983 und Hursthouse 2006. Die hier vorgeschlagene Betrachtungsweise lehnt sich an die Tugendethik im Allgemeinen an und nicht an eine jener beiden Positionen. 716 321 Natürlich ist der Vergleich der moralischen und der kognitiven Situation nicht symmetrisch, denn bei der kognitiven Situation würden wir zugeben wollen, dass Sumpfmann doch zumindest glaubt, solche persönliche Erinnerungen zu haben. Doch weil Sumpfmann der Biosemantik zufolge keine mentalen Zustände hat, kann er auch nicht der Überzeugung sein, solche Erinnerungen zu haben. Was bringt uns dazu zu glauben, dass er solche Überzeugungen hat? Nun, er verhält sich ganz so, als ob er solche Überzeugungen hätte. Das wird auch von der Biosemantik nicht bestritten, ganz im Gegenteil, sie gibt gerne zu, dass sich Sumpfmann so verhält, als ob er Überzeugungen hätte und wir interpretieren ihn auch so, aber er hat keine Überzeugungen. Vielleicht spricht für das Haben der Überzeugung noch, dass sich Sumpfmann solcher Überzeugungen bewusst ist und dass er über das bestimmte Gefühl einer solchen Überzeugung verfügt. Warum sollten das Bewusstsein oder das sichere Bewusstsein hier ausschlaggebend sein? Schließlich kann man auch nicht ins Feld führen, dass die Äußerungen von Sumpfmann so sind, dass sie Ausdruck von Überzeugungen sein müssen. Die Intentionalität sprachlicher Repräsentationen ist der Biosemantik zufolge unabhängig von der Intentionalität sprachlicher Zustände (1.1.6.). Aus diesem Grund ist der Umstand, dass sich Sumpfmann im Medium einer existierenden Sprache einer bestimmten Sprachgemeinschaft bedient, alleine kein Hinweis darauf, dass er Inhaber intentionaler Zustände ist. Ich habe einige grundlegende Zweifel an der Methode geäußert, philosophische Intuition durch Gedankenexperimente hervorzubringen und dadurch philosophische Dispute zu entscheiden, diese aber nicht zurückgewiesen. Zugleich habe ich mit dem Verweis auf das Erinnerungsvermögen damit angefangen, eine Art Gegenintuition aufzubauen. Ich möchte weiter daran arbeiten, diese Art von Gegenintuition aufzubauen. Das Ziel besteht nach wie vor darin, ein intuitives Gleichgewicht zwischen der Biosemantik und der Gegenseite herzustellen. Wir haben Varianten des Sumpfmannproblems bereits in unterschiedlicher Gestalt angetroffen und es in theoretische Kontexte eingebettet.718 Dem in Abschnitt 3.3.2. eingeführten Begriff der historischen Essenzen zufolge können 718 So habe ich darauf hingewiesen, dass in Jacksons Überlegungen zum „minimalen Physikalismus“ (MINPH) die geforderte physikalische Doppelgängerwelt keine essenziell historischen Entitäten enthalten kann, und der Biosemantik zufolge auch keine Wesen mit intentionalen Zuständen. Denn in ihr würden keine Wesen mit Echten Funktionen existieren und folglich handelte es sich um eine Welt aus Sumpfmenschen, Sumpfkühen, Sumpffröschen usw. (2.2.) Im Verlauf der Diskussion um kulturelle funktionale normative Kategorien am Beispiel des Küchenmessers haben wir gesehen, dass ein Artefakt einer bestimmten Kategorie angehört, auch wenn es seine Funktion niemals erfüllen kann, weil es gemäß einem Design hergestellt wird, dass die Funktion hat, zur Herstellung von Artefakten mit einer bestimmten Funktion zu führen. Ein wundersam aus einem kosmischen Blitz entstandenes Ding, das wie ein Küchenmesser beschaffen und wie ein Küchenmesser verwendbar ist, ist deshalb noch kein Küchenmesser. Es ist etwas, das miro modo wie ein Küchenmesser beschaffen und als Küchenmesser verwendbar ist. Von einem nach einem Design hergestellten Küchenmesser würden wir nicht sagen, dass es wie ein Küchenmesser beschaffen und als solches verwendbar ist, sondern einfach, dass es ein Küchenmesser ist. Was als Küchenmesser fungiert, ohne zur funktionalen normativen Kategorie der Küchenmesser zu gehören, ist ein Sumpf-Küchenmesser (3.2.5.). 322 biologische Arten eine Essenz haben, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine andere Art über dieselbe Merkmalsgruppe verfügt. Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen sind alleine kein Hinweis auf eine gemeinsame Lebensform. Nehmen wir nun an, wir fänden heute eine Fischpopulation F, die physikalisch auf keine Weise von einer Fischart F*, die vor Millionen von Jahren ausgestorben ist, zu unterscheiden wäre. Wenn zwischen F und F* keine genealogische Verbindung besteht, handelt es sich bei F und F* nicht um dieselbe Art. Dasselbe würde für zwei gleichzeitig existierende, genealogisch jedoch völlig voneinander isolierte Fischpopulationen gelten. Es ist einfach einem ungeheuren Zufall zu verdanken, dass sich eine bestimmte Fischart nacheinander bzw. nebeneinander zwei Mal entwickelt hat. Wir haben keinen Grund zur Annahme, dass Exemplare der beiden Fischarten zur selben Spezies gehören. Dasselbe gilt für Mitglieder einer biologischen Art A* in einer mit der unseren biologisch identischen Parallelwelt, auch wenn die Mitglieder von A (in unserer Welt) und die Mitglieder von A* (der Parallelwelt) ununterscheidbar sind, auf dieselbe Art und Weise gesund oder krank werden und ihre Teile und Äußerungen über dieselben Echten Funktionen verfügen. A und A* bilden nicht ein, sondern zwei genealogische Individuen, zwei unterschiedliche Arten. In diesen drei Beispielen haben wir es mit unterschiedlichen Arten zu tun, deren Mitglieder ununterscheidbar sind. Wir können dennoch zugeben, dass die bloße physische Ähnlichkeit (sogar die bloße qualitative Identität) zwischen Lebewesen kein Grund ist, sie derselben Art zuzurechnen. Entscheidend ist die Zugehörigkeit zu einem genealogischen Individuum. Verlassen wir uns alleine auf die Ähnlichkeit, so betrachten wir diese Exemplare nicht so, wie man Mitglieder einer biologischen Art betrachten muss, d.h. wir konstruieren die biologische Situation auf eine ebenso unzulängliche Weise wie zuvor die moralische und die kognitive Situation im Hinblick auf Erinnerungen. Gehen wir einen Schritt weiter. Nehmen wir an, wir fänden einen einzelnen Fisch, der wie ein etwas zu kleines Exemplar der zeitgenössischen Fischart F aussieht und über zwei sehr lange, spitz zulaufende rote Bauchflossen verfügt. Handelt es sich um ein zwergwüchsiges Mitglied von F mit einer außergewöhnlichen Bauchflosse? Oder handelt es sich um ein Exemplar einer bislang unbekannten Art? Über diese Frage entscheidet wiederum die genealogische Zugehörigkeit zu der Fischart F. Nehmen wir nun weiter an, wir begegnen einem einzelnen Fisch, Sumpffritz, der durch ein kosmisches Zufallswunder entstanden ist. Dieses Ding sieht aus wie ein Fisch und verhält sich wie ein Fisch und scheint, wie eine genetische Analyse ergibt, zur Art F zu gehören. Wenn wir wissen, dass dieser Fisch durch ein Zufallswunder entstanden ist, so bleibt unklar, ob es sich bei diesem Wesen überhaupt um ein Lebewesen handelt. Sumpffritz wäre niemals krank oder gesund 323 und seine Teile und Äußerungen hätten keine Echten Funktionen. Warum sollte nun die bloße Ähnlichkeit mit Lebewesen einer bestimmten Art uns dazu veranlassen, Sumpffritz als Mitglied der Art F und als Lebewesen zu betrachten? Wir haben bereits gesehen, dass die Ähnlichkeit zwischen Einzellebewesen allein keinen Grund darstellt, sie derselben biologischen Art zuzurechnen. Warum sollte die Ähnlichkeit nun ein Grund sein, sie derselben ontologischen Kategorie zuzurechnen? Der Sumpffisch gibt Anlass dazu, die Verbindung zwischen dem Grundbegriff der Biosemantik – dem Begriff der Echten Funktion als funktionale normative Kategorie – und dem Grundbegriff der naturalistischen Tugendethik – dem Begriff der Lebensform als spezifische normative Kategorie – abermals zu festigen. So akzeptiert Thompson das Folgende als Konsequenz seiner Entwicklung des Begriffs der Lebensform: „What should we say about a creature who comes to be from sand or swamp muck by the agency of lightning or by quantum-mechanical accident – a creature part for part the same as I am, standing nearby, and just considered physically? […] Philosophers have doubted whether such a thing could have thoughts, or whether its thoughts would have content. If you shout the name ‚Thompson!’, each will turn his head, it is supposed, but while I am wondering ‚What’s N.N. doing here?’, the new-comer will not be. We must accept this skepticism and carry it further: the thing has no ears to hear with and no head to turn; it has no brain-states, no brain to bear them, and no skull to close them in; prick it, and it does not bleed; tickle it, and it does not laugh; and so forth. It is a mere congeries of physical particles and not so much as alive. […] In supposing my imagined double to be a product of sheer accident, we have severed all links with any specific such wider context; we can associate him with no determinate life-form at all; and so the ground of all vital description is removed.“719 Es liegt auf der Hand, dass der für die Tugendethik grundlegende Begriff der Lebensform und der für die Biosemantik grundlegende Begriff der Echten Funktion aus demselben Holz geschnitzt sind. Thompsons Ausführungen lassen nun weitere Zweifel daran aufkommen, ob man zur Annahme berechtigt ist, dass sein Duplikat überhaupt ein Mensch ist, weil er zu keiner Lebensform gehört. Ist der „Arm“ des Doppelgängers tatsächlich ein Arm? Handelt es sich um einen verkrüppelten Flügel? Oder handelt es sich einfach um eine Wucherung? Wenn wir den Doppelgänger keiner Lebensform zuordnen können, bleiben diese Fragen offen. Ja, es bleibt offen, ob wir seinen „Arm“ überhaupt als „Arm“ oder seinen verkrüppelten Flügel überhaupt als „Flügel“ bezeichnen sollen. Arme und Flügel kommen Lebewesen zu. Nur handelt es sich bei dem Duplikat überhaupt um ein Lebewesen? Man möchte dem entgegnen: Ist das nicht offenkundig? Nein. Wir können uns dazu eines beinahe Science-Fiction-Falls bedienen. Astrobiologen beschäftigt u.a. das 719 Thompson 2008: 60f. Die Rede von „wider context“ übernimmt Thompson an dieser Stelle von Anscombe. Gemeint ist natürlich die Lebensform. 324 Problem, ob es uns gelingen würde, extraterrestrisches Leben überhaupt als solches zu erkennen, wenn wir auf es stoßen würden. Da uns Lebensformen, die nicht auf DNA- und Proteinbasis bestehen, unbekannt sind, scheint es eine offene Frage zu sein, was als Indiz für andere Lebensformen betrachtet werden könnte.720 So existieren Spekulationen über Lebensformen auf der Basis von Silikon oder Ammoniak.721 Es ist keineswegs klar, ob wir eine Lebensform als solche erkennen würden. Und ebenso wenig ist es ausgeschlossen, dass sich materielle Gebilde finden lassen, die zwar wie terrestrische Lebewesen aussehen und gebaut sind, aber keine Lebewesen sind. Am aussagekräftigsten sind nun Spuren von Lebensformen, die Analogien zu den uns bekannten terrestrischen Lebewesen aufweisen. 1996 wurden im Marsmeteorit ALH84001 Magnetit-Ketten gefunden, die den Magnetosomketten der uns bereits vertrauen maritimen Magnetobakterien verblüffend ähnlich sind.722 Handelt es sich bei den Spuren in ALH84001 um magnetische Fossilien? Wie jüngere Forschungen zeigen, können primitive Lebewesen auch unter (beispielsweise thermisch) extremen Umweltbedingungen prosperieren. Entsprechend kann Leben auch unter extremen Bedingungen angetroffen werden, wie es etwa unter der Eisdecke der Antarktis der Fall ist.723 Funde von Marssonden weisen auf das Vorkommen von Wassereis und auf eine kohlendioxidhaltige Atmosphäre hin. Diese Bedingungen können als extreme Bedingungen die notwendigen Voraussetzungen für das Prosperieren von extremophilen Lebensformen bilden.724 Weiter hat es den Anschein, als könnten nicht-biologische Magnetitketten mindestens sechs Eigenschaften für biologische Magnetitketten nicht erfüllen.725 Wenn diese Eigenschaften als robuste Biosignaturen betrachtet werden dürfen, so können etwa ein Viertel der magnetischen Spuren auf ALH84001 auf biologischen Ursprung zurückgeführt werden.726 Aus diesen Gründen wurden die auf ALH84001 gefundenen Spuren von einigen Astrobiologen als Fossile extraterrestrischer Lebewesen angesehen.727 Dennoch werden diese Evidenzen dafür, dass es sich bei diesen Spuren tatsächlich um biologische und nicht nur um geologische Sedimentierungen handelt, als nicht völlig durchschlagend betrachtet. Die Untersuchungsmethoden für diese enorm kleinen Strukturen sind aufwendig und fehleranfällig. Weiter weisen die terrestrischen Vgl. Pace 2001; van Loon 2005. Vgl. Bains 2004. 722 Für einen Überblick vgl. McKay et al. 2003. 723 Vgl. Rothschild et al. 2001; Siegert et al. 2001. 724 Vgl. Cavicchioli 2002. 725 Biogene Magnetite (wie die Kristalle der bakteriellen Magnetosome) haben eine restringierte Größe, einen hohen Grad an chemischer Reinheit, weisen kaum kristallografische Mängel auf, besitzen eine spezifische kristalline Morphologie, verfügen über eine Axis-Ausrichtung 111 bzw. 112 und treten in kettenartigen Gebilden auf. 726 Vgl. Thomas Keprta et al. 2000. 727 Vgl. McKay. et al. 1996. 720 721 325 Magnetosome Abweichungen von den extraterrestrischen Magnetitspuren auf ALH84001 auf.728 Schließlich scheinen Magnetite, wie sie auf dem Meteoriten gefunden worden sind, auch aus anorganischen Prozessen hervorgehen zu können; allerdings kann dieser Prozess nicht reproduziert werden.729 Diese Beispiele sollen Zweifel an der Annahme schüren, dass wir uns nicht in der ontologischen Zuordnung einer Entität täuschen können. Weder wäre es im Falle extraterrestrischer Entitäten klar, ob wir sie als Lebewesen erkennen würden oder nicht und ebenso ist es im Falle vermeintlich extraterrestrischer Fossilien unklar, ob es sich um biogene Spuren handelt oder nicht. Wir haben jedoch keinen Grund zur Annahme, dass es im Hinblick auf die ontologische Kategorie eine Unklarheit geben könnte. Entweder handelt es sich bei einer extraterrestrischen Entität um ein Lebewesen oder nicht. Der sicherste Anhaltspunkt besteht darin, dass wir eine solche Entität einer Lebensform (einer spezifischen normativen Klasse) zuordnen können. Und entweder handelt es sich bei den Magnetiten auf ALH84001 um Fossilien oder nicht. Wir sollten deshalb zögern, Sumpffritz ohne weiteres als ein Lebewesen zu betrachten. Nach allem, was wir wissen, spricht seine Genealogie gegen die Annahme, dass es sich bei ihm um ein Lebewesen handelt. Was bringt uns dazu, Sumpffritz oder den Sumpfmann als Lebewesen zu betrachten, die biologische Funktionen einer bestimmten Art ausüben? In Abschnitt 2.1. habe ich das Paley-Syndrom eingeführt. Ihm liegt die Idee zugrunde, dass von einem organisierten Ganzen und seinen tätigen Teilen zunächst auf einen Zweck und schließlich auf einen Zwecksetzer geschlossen werden muss. Die diesem Schluss zugrunde liegende Neigung, aufgrund der organisierten Anordnung tätiger Teile zunächst auf einen Zweck und schließlich, auf einen Zwecksetzer zu schließen ist das Paley-Syndrom.730 Wie ich gezeigt habe, gibt es nach den Attacken Humes und der Theorie von Darwin keinen Grund dafür, im Falle zweckmäßig organisierter Lebewesen auf einen transzendenten oder transzendentalen Zwecksetzer zu schließen. Es ist nun wichtig, im Paley-Syndrom zwei Schritte zu unterscheiden, nämlich einerseits den Schluss vom Arrangement der Teile auf einen Zweck und andererseits den Schluss von einem Zweck auf einen Zwecksetzer. Darwin erlaubt es uns im Falle von Lebewesen nicht nur, auf den zweiten Schritt zu verzichten, sondern auch, von Zwecken in der Natur zu sprechen, ohne dass man sich damit auf einen Zwecksetzer beziehen muss. Darwin fragt danach, wozu bestimmte Merkmale eines Lebewesens da sind (existieren). Antworten auf solche Fragen werden durch ihren spezifischen Beitrag zum Überleben im Verlauf der Geschichte einer Vgl. Busek et al. 2001. Vgl. Golden et al. 2001. 730 Dretske 1995: 146f. 728 729 326 Art angegeben. Nehmen wir Darwins Beitrag auf eine Weise theoretisch ernst, wie es die Biosemantik oder die Theorie der Lebensformen nahe legt, dann müssen wir nicht nur gegenüber dem zweiten Schritt in Paleys Überlegung misstrauisch sein, sondern auch gegenüber dem ersten. Hume beispielsweise wollte keineswegs das erste Symptom des Paley-Syndroms, nämlich den Schritt von der organisierten Anordnung tätiger Teile auf einen Zweck, kurieren, sondern lediglich das zweite, den Schluss auf einen transzendenten Zwecksetzer. Doch Darwins Theorie führt uns dazu, auch dem ersten Schritt zu misstrauen. Selbst was, wie Sumpfmann oder Sumpffritz, wie ein zweckmäßig organisiertes Lebewesen erscheint, braucht deswegen noch keines zu sein, denn weder kommen den Tätigkeiten dieser Sumpfwesen Funktionen zu, noch gehören sie zu einer Lebensform. Die Neigung von einem organisierten Ganzen und seinen tätigen Teilen auf einen Zweck zu schließen und die Neigung, von einem Zweck auf einen Zwecksetzer zu schließen, entstammen beide dem Bereich des Umgangs mit Artefakten, d.h. mit kulturellen funktionalen normativen Kategorien (3.2.5.). Doch ebenso, wie es nicht überall, wo sich ein Zweck oder eine Funktion finden lassen, einen Zwecksetzer geben muss, muss dort, wo ein organisiertes und tätiges Ganzes vorliegt, ein Zweck oder eine Funktion gefunden werden. Die unmittelbare Ursache für das Paley-Syndrom besteht natürlich in unserer Neigung aufgrund sinnfälliger Ähnlichkeiten oder gar Gleichheiten auf eine gemeinsame Natur, einen gemeinsamen ontologischen Status der sinnlich wahrgenommen Gegenstände zu schließen. Zwei Beispiele sollen dies abschließend illustrieren. Thomas von Aquin zufolge üben Engel, wenn sie die Erscheinung von Menschen annehmen, keine Lebensfunktionen aus. Sie sehen zwar in solchen Situationen aus wie Menschen, gehen, sehen, essen und sprechen wie Menschen, doch in Tat und Wahrheit trifft es weder zu, dass sie gehen, noch dass sie sehen, essen oder sprechen.731 Die täuschend vollständige Ähnlichkeit ist kein Grund, Engel in Menschengestalt als Menschen zu betrachten. Ebenso wenig ist sie ein Grund, Engel in Menschengestalt zur ontologischen Kategorie der Lebewesen zu zählen. Wir können einem Menschen zu trinken geben, nicht aber dem Engel; wir können den Menschen gehen sehen, nicht aber den Engel usw. Arthur Dantos Methode zur Klärung, ob ein materieller Gegenstand den ontologischen Rang eines Kunstwerks beanspruchen darf, führt zum selben Ergebnis.732 In Dantos Galerie sinnlich ununterscheidbarer Artefakte finden sich zahlreiche Zufallskreationen: In einem Pariser Vorort explodiert ein Farbladen und durch ein Wunder wird auf eine leere Leinwand eine exakte Kopie des letzten Seerosenbildes von Claude Monet gespritzt. Niemand wird sagen, dass das 731 732 Summa theologiea 1 q 51 art. 3. Vgl. Danto 1981. 327 explosionsgenerierte Bild ein Kunstwerk ist. Monets Gemälde hingegen ist ein Kunstwerk. Es handelt sich also um zwei Objekte unterschiedlicher ontologischer Art. Wir können beispielsweise in Monets Bild den Zug zur Abstraktion oder das verwelkende Rot der Rosen hervorheben, nicht aber im Explosionsprodukt; wir können das Seerosenbild als Höhepunkt seines Altersstils verehren, nicht aber das Explosionsprodukt usw. Weder den Engel noch das Explosionsprodukt sollten wir trotz der augenfälligen sinnlichen und behavioralen Gemeinsamkeiten ein und derselben ontologischen Kategorie zuordnen. Man müsste schon ein Erzempirist sein, um die Natur einer Sache oder deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten ontologischen Kategorie mit der sinnlichen Erscheinungsweise dieser Sache zu identifizieren. Keine der in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen haben den Zweck, das Sumpfmannproblem zu lösen. Sie verfolgen vielmehr das Ziel, erstens die Voraussetzungen philosophischer Intuitionen aufgrund von Gedankenexperimenten in Frage zu stellen, und zweitens die vorhandenen Alltagsintuitionen hinsichtlich des Sumpfmannes und vergleichbarer Kreaturen in ein instabiles Gleichgewicht zu bringen. Im Folgenden werde ich diese Strategie weiter verfolgen. Ich werde einen theoretischen Kontext schaffen, in welchem es intuitiv durchaus plausibel erscheint, nur Wesen mit einer bestimmten Art von Vergangenheit intentionale Zustände zuzuschreiben. Vor diesem Hintergrund wird die durch das Gedankenexperiment des Sumpfmanns problematisierte Vergangenheitsorientierung der Biosemantik nicht mehr als Problem erscheinen, sondern als Lösung. 328 4.2. Das Argument für den Animalismus Der angesprochene theoretische Kontext ist der sogenannte „Animalismus“.733 Für den Animalismus sind Menschen essenziell Lebewesen – genauer gesagt: Tiere. Lebewesen gehören zu einer Lebensform, d.h. zu einer biologischen Art, und biologische Arten sind historische Individuen mit historischen Essenzen. Dafür habe ich in Kapitel 3 argumentiert.734 Nun muss ich dafür argumentieren, dass jeder Mensch essenziell ein Tier ist. Daraus folgt, dass jeder Mensch zu einer biologischen Art gehört und eine historische Essenz hat. Da die Biosemantik zeigen will, dass intentionale Repräsentationen letztlich biologische Kategorien sind, insofern sie auf Echten Funktionen beruhen, ist für sie die Voraussetzung wesentlich, dass wir als Inhaber und Verwender intentionaler Repräsentationen biologische Wesen sind. Die Biosemantik ist nicht nur eine Theorie für die sogenannte „Kognition“ von nicht-menschlichen Tieren, sondern auch eine Theorie für die Intentionalität der inneren und äußeren Repräsentationssysteme höherer Tierarten wie Menschen. 733 Der Ausdruck „Animalismus“ mag wie eine hässliche Eindeutschung einer ursprünglich englischen Wortprägung erscheinen. In der Tat handelt es sich um eine ursprünglich deutsche Wortprägung, die hässlich gemeint war. Werner Sombart hat in seinem Spätwerk Vom Menschen (1938) das kontrastive Begriffspaar „Animalismus“ und „Hominismus“ gebildet. Unter Animalismus fallen alle Lehren, die den Menschen nicht als eine besondere Art von Seiendem auffassen, sondern ihn als Teil der natürlichen Welt der Tiere betrachten. Sombarth zufolge begeht der Animalismus damit einen verhängnisvollen Fehler: „Der Mensch steht außerhalb, neben, hinter der Natur und führt sich selbst; das Tier steht in der Natur und wird von ihr geführt, es bildet einen Teil der Natur und ihres ‚Plans’, den es bewusstlos ausführen muss. Dieser Gedanke der Gegenüberstellung des naturfreien Menschen und des naturgebundenen Tiers ist heute allgemein bei allen denen, die endlich, nach langer Nacht, wieder Einsicht gewonnen haben in das Wesen des Menschen. […] Insofern der Gegensatz der beiden Auffassungen darin zum Ausdruck kommt, daß im einen Falle der Mensch als Mensch, im anderen Falle als eine Tierspezies angesehen wird, können wir jene als hoministische (zum Unterschiede vom humanistische), diese als animalistische bezeichnen.“ (Sombart 1938: 8, 89) Die These des von Sombart verpönten Animalismus’ lautet: „Es gibt im Menschen nichts, was nicht auch im Tier wäre.“ (ibid. 96) Während der Hominismus in der deutschen Tradition fortlebe, habe sich im „dunklen“ 19. Jahrhundert in Frankreich und in den angelsächsischen Nationen der Animalismus immer mehr zur herrschenden Auffassung aufgespielt. Descartes, die französischen Materialisten, Newton, Stuart Mill und Marx sind seine Vorreiter, Darwin sein Höhepunkt. Sombart wirft dem Animalismus vor, die Grenzen des Bereichs der unbelebten, materiellen Welt, für den die naturwissenschaftliche Rationalität zuständig ist, zu überschreiten. Die entscheidende Überschreitung stelle Darwins Evolutionstheorie dar, die zweite die Anwendung von Mechanismus und Biologismus auf den Menschen. Sombarts „Animalismus“ ist cum grano salis mein „Biologischer Naturalismus“ (vgl. 2.3.). Der zeitgenössische Animalismus als These über die menschliche Identität ist ein wichtiger Teil des Biologischen Naturalismus. 734 Autoren wie Mayr, Ghiselin oder Hull, die die individualistische Antwort auf die Frage, was biologische Arten sind, auf den Weg gebracht haben, stellten sich explizit gegen die Idee, dass biologischen Arten eine Essenz oder ein Wesen zukomme. Auch dem Menschen, als biologische Art, komme somit kein Wesen zu. Allerdings sind dies keine „traditionellen“ Essenzen. Der im Kapitel 3 dargelegten Auffassung über biologische Arten zufolge haben Arten zwar keine traditionellen Essenzen, sondern weisen stabile Merkmalsgruppen auf, und der Grund, warum sie über solche Gruppen verfügen, besteht darin, dass Arten REFs bilden. Die individualistische Antwort impliziert also keineswegs, dass Arten kein Wesen haben können. Betrachtet man den Menschen metaphysisch als Tier und somit als wesentlich zugehörig zu einer biologischen Art, so folgt daraus, dass es so etwas wie ein Wesen des Menschen im Sinne des Essenzialismus stabiler Merkmalsgruppen geben kann. Vgl. dazu Machery 2008. 329 Nun scheint es doch tatsächlich eine naheliegende und offensichtliche Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, zu sein, dass er ein Tier ist. Der Mensch ist ein Tier in dem Sinne, dass Menschen Lebewesen sind und eine biologische Art bilden. Diese Antwort ist anscheinend unbefriedigend, denn die Mehrheit der philosophischen Tradition akzeptiert sie nicht. Der Animalismus behauptet demgegenüber: Jede menschliche Person ist mit je einem Tier numerisch identisch. Der Animalismus ist also in erster Linie eine These darüber, was wir metaphysisch sind. Entgegen den klassischen Auffassungen, denen zufolge der Mensch ein Tier plus X ist, gehört der Zusatz „plus X“ nicht essenziell zu dem, was der Mensch oder die menschliche Person metaphysisch ist. Warum spreche ich von „Tier“ und nicht von „Lebewesen“? Man stelle sich die folgende Situation vor: Ich sitze auf einem Stuhl. Auf eben diesem Stuhl befindet sich auch ein Lebewesen. Lebewesen kann man grob einteilen in Pilze, Pflanzen und Tiere. Nun sitzt auf dem Stuhl, auf dem ich sitze, mit Sicherheit weder ein Pilz noch eine Pflanze, sondern ein Tier. Die Frage lautet nun, ob ich, ein Mensch, mit diesem Tier identisch bin. Natürlich kann man auch fragen, ob ich, ein Mensch, mit diesem Lebewesen identisch bin. Nura ist die Bezeichnung „Tier“ genauer, da wir weder Pilze noch Pflanzen sind. Wie andere Tiere können Menschen von Biologen untersucht und von Medizinern behandelt werden; wie andere Tiere ist ein Mensch ein Lebewesen, eine komplexe Struktur, die sich und seinesgleichen durch Entwicklung, Assimilation, Reproduktion und Selbststeuerung erhält; wie andere Tiere gehört der Mensch zu einer biologischen Art. Der Mensch ist also ein Tier in dem Sinne, dass Menschen wie andere Tiere Lebewesen sind und eine biologische Art bilden. Die vorgeschlagene Antwort ist anscheinend wiederum unbefriedigend. Man mag zwar zugeben, so die Reaktion auf die vorgeschlagene Antwort, dass wir (irgendwie) mit einem Tier verbunden sind. Wir haben zwar (wie man sagen könnte) einen Tierkörper, doch wir sind nicht dieses Tier. Wir könnten unseresgleichen ebenso gut als Gespenst, Geist, Computer, Außerirdische oder Engel antreffen. Um die These zu verteidigen, dass wir Tiere sind, möchte ich zunächst eine Voraussetzung machen, die nicht selbstverständlich ist, von der ich aber erwarte, dass sie von vielen Leserinnen und Lesern geteilt wird. Diese Voraussetzung lautet: Wir sind keine immateriellen Seelen, immateriellen Substanzen und keine Gedankenbündel, sondern ein Stück materieller Natur. Ich möchte damit die Idee, dass wir eine immaterielle Natur haben, nicht leichthin verwerfen, sondern vielmehr so vorgehen, den Animalismus zunächst als eine plausible Variante der Auffassung einzuführen, dass wir irgendwie materieller Natur sind oder zumindest auf einer materiellen Grundlage irgendwie supervenieren oder emergieren. Die Probleme sowohl des Substanz- als auch des 330 Eigenschaftsdualismus sind bekannt genug, sodass nicht zuerst der Dualismus zurückgewiesen werden muss, sondern eine nicht-dualistische Variante vorgeschlagen werden sollte, die dann gegebenenfalls auf Einwände durch Dualisten zu reagieren hätte. Auf welche Weise sind wir also materieller Natur? Anders gefragt: Welche Art Ding bin ich metaphysisch gesprochen? Die Antwort, die ich geben möchte, lautet, dass ich numerisch identisch mit einem Tier bin. Als Präzisierung der Animalismus-These bietet sich die folgende Formulierung an: Er, sie, ich und alle menschlichen Personen sind mit Tieren numerisch identisch.735 Diese These wird von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich verteidigt und als „Animalismus“ bezeichnet. Der Animalismus ist eine These darüber, was wir sind. Was also interessiert, sind menschliche Personen. Es mag Personen geben, die keine Tiere sind (Engel, Gott oder Prof. Simon Wright736). Und es mag Tiere geben, die keine Personen sind (wie Austern, Katzen, Embryonen oder Wachkoma-Patienten). Doch Personen, die Tiere sind, haben dieselben Identitätsbedingungen wie Tiere, die keine Personen sind. Um der Animalismus-These Kontur zu geben, muss der Ausdruck „Person“ etwas genauer gefasst werden. Lockes Definition ist eine mögliche Option. Eine Person sei „a thinking intelligent being that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking thing, in different times and places”737. Diese Definition lässt auch erkennen, weshalb Embryonen oder Leute in Wachkoma keine Personen sind. Es trifft trotzdem zu, dass ich und alle Menschen einmal Embryonen waren, und es ist möglich, dass jemand von uns ein Wachkomapatient wird. Embryonen und Wachkomapatienten sind Tiere, aber (nach Lockes Definition) keine Personen. Dem Animalismus zufolge ist eine menschliche Person nun ein solches „thinking intelligent being“, das zu einem Tier auf dieselbe Art und Es ist nicht leicht, eine treffende Formulierung der Animalismus-These zu finden. Ein Vorschlag lautet: Alle Personen sind mit Tieren identisch. Diese Formulierung impliziert, dass es keine Personen geben kann, die nicht Tiere sind, und einige Animalisten (wie etwa Peter Van Inwagen) glauben, dass Engel und Gott existieren, und zwar als Personen, aber natürlich keine Tiere sind. Andere Animalisten (wie Olson) wollen dies nicht von vornherein ausschließen. Vielleicht so: Wir sind mit Tieren identisch. Aber wer sind „wir“? Nun: Du und ich und alle Wesen derselben natürlichen Art sind mit einem Tier identisch. Das Problem besteht nun im Folgenden: Wenn man sagt, dass Personen eine natürliche Art bilden, dann müssten alle Personen (Gott, Engel) mit einem Tier identisch sein, was aber nicht der Fall zu sein braucht. Dann wäre aber der Animalismus falsch, wenn es andere Personen als Tiere gibt. Man könnte auch einfach sagen wollen: Du und ich und alle Individuen, die zu Homo sapiens gehören, sind mit einem Tier identisch. Das ist natürlich nicht informativ, weil man sagt, dass Tiere (Mitglieder von Homo sapiens) mit Tieren identisch sind. Die vorgeschlagene additive Formulierung scheint mir diesen Schwierigkeiten am besten Rechnung zu tragen. Dabei ist es wichtig in Erinnerung zu behalten, dass der Animalismus eine These darüber ist, was ich bin, was Sie sind usw. Was interessiert, sind also menschliche Personen. Es mag Personen geben, die keine Tiere sind (wie Engel, Gespenster, Götter oder Außerirdische Intelligenzen). Und es mag Tiere geben, die keine Personen sind (wie Austern, Katzen, mein Embryo oder Leute im Wachkoma). Aber Personen, die Tiere sind, haben dieselben Identitätsbedingungen wie Tiere, die keine Personen sind. Ich bin einer Katze diesbezüglich ähnlicher als einem Gespenst oder einem Engel. 736 Im Comic Captain Future existiert das „lebende Gehirn“ Simon Wright von seinem Körper getrennt in einem Behälter. Sinne und Sprache werden durch Sensoren und einen Sprachprozessor ermöglicht. 737 Vgl. Locke, Essay 2.27.9. 735 331 Weise wie ich oder sonst jemand in der engsten aller denkbaren Beziehungen steht, nämlich in jenem der Identität. Tiere sind, wie andere Organismen auch, grob gesagt komplexe Strukturen, die sich und ihresgleichen durch Entwicklung, Assimilation und Reproduktion erhalten. Wir können die enge Beziehung zwischen mir und meinem Tier vorläufig, d.h. ohne die Animalismus-These vorauszusetzen, z.B. wie folgt charakterisieren: Die Person kann ein Tier schon allein dadurch bewegen, dass sie dies beabsichtigt; die Person kann die Außenwelt durch die Sinnesorgane eines Tiers wahrnehmen; die Person kann sich Nahrung zuführen, indem das Tier etwas isst usw. Eric Olson hat ein einfaches Argument für den Animalismus vorgeschlagen, das ich akzeptiere.738 An dieser Stelle möchte ich mich selber sozusagen als Versuchstier gebrauchen und dabei meine Fähigkeit anwenden, die erste Person Singular zu gebrauchen. Die Pointe dieser Formulierung des Arguments für den Animalismus ist vergleichbar mit der Pointe des Gebrauchs der ersten Person Singular in Descartes’ Meditationen, denn es geht darum eine Argumentation aufzubauen, die alle, die den Ausdruck „ich“ korrekt zu gebrauchen wissen, auf sich anwenden können. Allerdings hängt im Gegensatz zu Descartes’ Meditationen nichts an der Besonderheit des Gebrauchs von „ich“. Dabei setze ich voraus, dass der Ausdruck „ich“ ein referentieller Ausdruck ist. Diese Annahme scheint trotz der prominenten Widerrede von Elisabeth Anscombe durchaus plausibel.739 Diese Überlegungen sind natürlich bereits in die eben eingeführte Formulierung der Animalismus-These investiert: Er, sie, ich und alle menschlichen Personen sind mit Tieren numerisch identisch. Ich sitze jetzt auf einem Stuhl und denke an etwas oder über etwas nach. Ich kann also zu mir sagen: „Ich bin das denkende Wesen, das auf meinem Stuhl sitzt.“ Auf eben diesem Stuhl befindet sich auch ein Lebewesen. Es handelt sich um keine Morchel und um keine Palme, sondern um ein menschliches Tier. Die Frage lautet nun: Bin ich mit dem Tier identisch? Das Animalismus-Argument für die positive Antwort auf diese Frage lautet in der ersten Person formuliert wie folgt: (1) Es gibt ein menschliches Tier, das hier (auf diesem Stuhl) sitzt. (2) Dieses Tier denkt. (Falls es mehr als eines gibt, so denken sie alle.) (3) Ich bin das denkende Wesen, das hier sitzt. (Anders gesagt: Das einzige denkende Ding auf meinem Stuhl ist nichts anderes als ich.) (4) Also bin ich dieses Tier (das jetzt gerade denkt). 738 739 Vgl. Olson 2003. Vgl. Anscombe 1975; dagegen argumentiert überzeugend Van Inwagen 2002. 332 Falls das stimmt, dann bin ich weder eine immaterielle Substanz, noch ein Bündel mentaler Zustände, noch ein funktionales Analogon zu einer Software, noch eine durch ein Tier konstituierte Person, noch ein Körper oder ein Gehirn usw., sondern ein Tier. Die Schritte des Animalismus-Arguments sollten zunächst etwas kommentiert werden. Zuerst die erste Prämisse. Manche Leute stören sich an der Redeweise „menschliches Tier“ oder „Tier“ zur Bezeichnung von Menschen. Man kann die erste Prämisse auch so reformulieren: Es gibt einen Menschen, der hier (auf diesem Stuhl) sitzt, solange Sie mit „Mensch“ ein Mitglied der Art Homo sapiens meinen. Damit ist immer noch ein Mitglied einer biologischen Art gemeint. Also ein Tier. Nun zur zweiten Prämisse. Da ich denke, bin ich auch ein Wesen mit geistigen Zuständen. Dem Animalismus-Argument zufolge bin ich ein Tier mit geistigen Zuständen, zumindest für eine gewisse Zeit. Es ist für ein Tier nicht wesentlich, dass es geistige Zustände hat, denn es gibt Tiere (und andere Arten von Lebewesen) ohne geistige Zustände. Auch ich hatte als Embryo keine geistigen Zustände. Ich bin also nicht wesentlich ein denkendes Tier, sondern wesentlich ein Tier. Natürlich bin ich phasenweise auch noch Person, Denker, Schweizer, Sprecher des Deutschen, Sänger oder Bartträger usw. Nichts davon bin ich wesentlich. Wichtig ist nun die dritte Prämisse. Man kann sich fragen, warum auf dem Stuhl nicht zwei verschiedene Dinge sitzen sollten, nämlich ich und das Tier in mir? Falls ich nicht mit meinem denkenden Tier numerisch identisch bin, dann stecken in diesen Schuhen, die ich jetzt trage, dann befinden sich an dieser Stelle, an der ich eben jetzt sitze und schreibe, zwei denkende Entitäten: ich und das denkende Tier. Wer von uns beiden denkt, dass ich nicht mit meinem denkenden Tier numerisch identisch bin, das Tier oder ich? Falls das Tier dies denkt, ist sein Gedanke natürlich falsch. Falls ich das denke, möchte ich gerne wissen, woher ich weiß, dass ich diesen Gedanken denke, und nicht mein Tier. Doch diese Überlegungen sind absurd. Vielleicht will man nun doch an der zweiten Prämisse rütteln und fragen: Warum sollten wir akzeptieren, dass auf diesem Stuhl, auf dem ich sitzend an etwas denke, ein denkendes Tier sitzt? Das Tier denkt doch nicht, ich denke. Diese Zurückweisung der zweiten Prämisse ist merkwürdig. Falls man akzeptiert, dass auf dem Stuhl ein bestimmtes Tier sitzt, und falls man akzeptiert, dass man an etwas denkt, aus welchem Grund sollte man leugnen, dass das Tier, das auf demselben Stuhl sitzt, dieselben Kleider trägt wie ich, dieselbe Temperatur hat wie ich und aus denselben Materieteilchen besteht, nicht an dasselbe denkt? Wer die zweite Prämisse bestreitet, muss entweder akzeptieren, dass er von anderer Natur ist als dieses Tier auf dem Stuhl (von immaterieller Natur), oder er muss akzeptieren, dass auf dem Stuhl gleichzeitig zwei verschiedene Dinge sitzen, nämlich ein gedankenloses Tier und ein denkendes Wesen. Aber warum sollte dieses Tier nicht denken? 333 Ich und mein Tier befinden sich zur selben Zeit am selben Ort, haben dieselbe materielle Beschaffenheit, bestehen aus denselben Materieteilchen. Was hindert das Tier daran, an X zu denken, während ich an X denke? Wie könnte eine Erklärung lauten für diese erstaunliche Koinzidenz zwischen mir, dem Denker, und meinem gedankenlosen Tier? Soweit ich sehe, gibt es keine Erklärung, die plausibler ist als der Schluss, dass ich und alle menschlichen Personen jeweils mit genau einem denkenden Tier identisch sind. Die Biosemantik liefert natürlich eine positive Theorie dafür, dass Tiere Gedanken haben und an etwas denken können. Wenn jede menschliche Person mit einem Tier numerisch identisch ist, so folgt daraus, dass jede menschliche Person wesentlich ein Tier ist. Alle Prädikate, die auf eine bestimmte Person zutreffen, treffen auch auf diese Person als Tier zu. Die numerische Identität mit einem Tier bedeutet also, dass alle Eigenschaften, die ich habe, auch Eigenschaften dieses Tiers auf meinem Stuhl sind und umgekehrt. Es geht also nicht darum, dass ich qua funktionierender Körper mit einem Tier identisch bin. Vielmehr ist der Referent von „ich“ immer ein bestimmtes Tier (und nicht nur „qua“ X). Das läuft darauf hinaus, dass ich wesentlich (in einem metaphysischen Sinn) ein Tier bin. Das bedeutet: Ich, der Denker, bin nicht wesentlich eine Person, sondern ein Tier. „Person“ ist für Wesen wie uns nur ein Phasenbegriff (wie Sprecher oder Sänger), kein Wesensbegriff. Wenn ich aufhöre, eine Person zu sein, dann existiere ich (der Referent von „ich“) weiter (wie ich weiter existiere, wenn ich aufhöre, ein Sprecher oder Sänger zu sein). Wenn ich aufhöre, ein Tier zu sein, dann existiere ich nicht mehr. Jede meiner qualitativen Eigenschaften kommt mir immer als Tier zu, denn das ist es, was ich bin. Hört eine Person auf, ein Tier zu sein, so hört sie damit auf zu sein, was sie ist. Warum sollte nun ein Objekt wesentlich nur ein Ding sein können? Wäre es nicht möglich, dass ein Objekt wesentlich zwei oder mehr Dinge sein könnte? Diese Annahme scheint mir absurd. Der Grund ist der: Ein Objekt hört auf zu existieren, wenn es aufhört das zu sein, was es wesentlich ist. Wäre ein Objekt seinem Wesen nach mehr als ein Ding, so würde es mehr als einmal aufhören können, zu sein, was es ist. Es würde also aufhören können zu sein, jedoch weiter existieren. Doch ein und dasselbe Objekt kann nicht zwei sich ausschließende Eigenschaften besitzen. Dies wäre, wie Hume es ausdrückt, „ein Widerspruch in sich, ja es wäre sogar der glatteste aller Widersprüche, wonach es einem Dinge möglich sein soll, zugleich zu sein und nicht zu sein.“740 740 Vgl. Hume, Treatise, 1.1.7.4. 334 Das Leben von Tieren und anderen Lebewesen endet normalerweise mit dem Tod.741 Dem Animalismus zufolge endet auch meine Existenz mit meinem Tod. Stirbt das Tier, sterbe ich. In meinem Sarg liegt eine Leiche. Wenn meine Existenz mit dem Tod endet, bin diese Leiche nicht ich. Soll man dagegen sagen: Da mein Körper eine Leiche werden wird, ich jedoch nicht, bin ich nicht mit meinem Körper identisch? Dieser Überlegung liegt eine äquivoke Verwendung des Begriffs „Körper“ zugrunde. „Köper“ kann hier sowohl „Lebewesen“ als auch „lebloses materielles Objekt“ bedeuten. Natürlich ist auch ein Lebewesen ein materielles Objekt (es wird durch ein materielles Objekt konstituiert), aber eine Leiche oder ein Kadaver ist kein Lebewesen. Menschen können nacheinander auf zweierlei Weise existieren: als lebende und als tote Menschen. Aber nur lebende Menschen sind Tiere. Auch wenn es zutrifft, dass meine Existenz mit meinem Tod endet, so spricht das nicht gegen die Behauptung, dass ich ein Tier bin. Lebewesen sind (wie Wasserfontänen) einem Prozess dauernder Assimilation unterworfen: Neue Materie wird aufgenommen, alte Materie ab- und ausgestoßen, es findet ein ständiger Austausch statt, der als „Fließgleichgewicht“ bezeichnet worden ist. Kadaver hingegen sind (wie Bronzestatuen) Körper allein aufgrund der Stabilität des sie konstituierenden Materials. Weder die alltägliche Vorstellung eines Lebewesens noch das biologische Konzept eines Organismus erlauben es, dass Lebewesen ihren Tod überleben. Was müsste man denn tun, um ein Tier zu töten, wenn es nicht ausreicht, es in einen Kadaver zu verwandeln? Einige Animalisten, wie Olson 2004, sind der Ansicht, dass Tiere nach ihrem Tod weiter bestehen. Andere Animalisten bestreiten, dass ein Tier nicht mehr existiert, wenn es tot ist. Lebewesen existieren auch nach ihrem Tod weiter (vgl. Carter 1999). Wenn ein Lebewesen eines Tages ein Kadaver sein wird, scheint die Annahme natürlich, dass dieses Lebewesen und der Kadaver ein- und dasselbe Ding sind. Daraus kann man ein Argument zugunsten des Animalismus gegen den psychologischen Personalismus gewinnen: (1) Jemandes Tod hinterlässt eine tote Person. (2) Die tote Person und die lebende Person weisen keine psychische Kontinuität auf. (3) Die tote Person ist mit der (ehemals) lebendigen Person identisch. (4) Also ist psychische Kontinuität für personale Identität nicht notwendig. Mir scheint aber weder die Annahme plausibel, dass Lebewesen ihren Tod überstehen, noch bin ich der Ansicht, dass der Animalismus ein zusätzliches Argument benötigt. 741 335 4.3. Das Ersetzungsproblem Das Animalismus-Argument steht nun vor einem Problem. Ich habe gesagt, dass das Tier auf meinem Stuhl aus denselben Materieteilchen bestehe wie ich. Man könnte also den Ausdruck „Tier“ im Argument durch „Körper“ oder durch „Materiehaufen“ ersetzen. Betrachten wir die Ersetzungen durch „Materiestück“. Das Animalismus-Argument sieht nun wie folgt aus, wobei die dritte Prämisse gleich bleibt: (1) Es gibt ein Materiestück (das heißt: ein instabiles Aggregat von Materieteilchen, das die Form meines Körpers hat), das hier (auf diesem Stuhl) sitzt. (2) Dieses Materiestück denkt. (3) Ich bin das denkende Wesen, das hier sitzt. (4) Also bin ich dieses Materiestück (das jetzt gerade denkt). Viele Animalisten lassen diese und ähnliche Ersetzungen zu. Daraus ergibt sich natürlich ein Problem für den Animalismus, das sogenannte „Ersetzungsproblem“. Wenn das Argument durch diese Ersetzung auch einen Materialismus ergibt, warum soll das Argument überhaupt für den Animalismus sprechen? Wenn wir den Ausdruck „Tier“ im Animalismus-Argument durch andere Ausdrücke ersetzen können, beispielsweise durch „Körper“, durch „Materiestück“ oder „Gehirn“, wie können wir dann weiterhin den Animalismus vertreten? Dieses Problem empfinden Animalisten als besonders bedrückend. Einige Animalisten reagieren auf radikale und revisionistische Weise auf dieses Problem: Sie bestreiten, dass Materiestücke oder Körper oder Gehirne wirklich existieren. Die einzigen wirklich existierenden zusammengesetzten Entitäten sind Lebewesen. Olson nennt dies „biologischen Minimalismus”. Der biologische Minimalismus sei „the view that […] material things compose something if and only if their activities constitute a life.“742 Es gibt keine Artefakte wie Statuen, Stühle oder Häuser, keine Dinge wie den Mond, die Sterne, Steine oder Flüsse, keine nicht-elementaren Körperteile wie Hand, Hirn oder Herz. Die einzigen zusammengesetzten Dinge sind Lebewesen. Ich kann deshalb weder ein Hirn, noch ein Körper, noch ein Materiestück sein, sondern nur ein Tier. Warum? Nun, weil 742 Vgl. Olson 2007: 226. Auch Animalisten wie Peter Van Inwagen und Trenton Merricks zufolge konstituieren die Teile eines materiellen Aggregats ein genuines Objekt nur dann, wenn die Tätigkeiten dieser Teile ein Leben konstituieren (Van Inwagen 1990: 81-3), wobei „Leben“ hier in einem biologischen Sinne verstanden wird. Die einzigen materiellen Objekte, die es gibt, sind Organismen und deren elementare Bestandteile (Atome oder „simples“). So schreibt Van Inwagen (1990: 121): „Was ist die Grundlage meiner Einheit? Anders gefragt, was verbindet die elementaren Bestandteile, aus denen ich bestehe, zu einem einzigen Seienden? Mir erscheint folgende Antwort plausibel: Was sie zusammenhält ist der Umstand, dass ihre Tätigkeiten ein Leben konstituieren, einen homeo-dynamischen Sturm von Bestandteilen, ein selbsterhaltendes, ausreichend individuiertes Ereignis.“ 336 Hirne, Körper oder Materiestücke auf der uns interessierenden metaphysischen Ebene nicht existieren. Beachten wir, warum viele Animalisten die Ersetzungen akzeptieren. Sie betonen, dass ich und mein Tier aus denselben Materieteilchen bestehen. Deshalb liege es nahe, dass ich und mein Tier identisch seien. Das Ersetzungs-Problem lautet: Das Materiestück besteht auch aus denselben Materieteilchen wie das Tier, warum bin ich also kein Materiestück? Konsequenterweise muss man die Ersetzungen akzeptieren; und um den Animalismus retten zu können, muss der biologische Minimalismus akzeptiert werden. Diese Konsequenz scheint mir überzogen. Aus der Perspektive der Biosemantik geht das besser. Ich bestreite nicht, dass unbelebte zusammengesetzte Körper existieren, sondern ich bestreite, dass Körper oder Materiestücke denken können, auch wenn sie wie „mein“ Tier geformt sind und aus denselben Materieteilchen bestehen. Deshalb kann im AnimalismusArgument das Tier nicht ersetzt werden. Warum können nur Tiere an etwas denken, nicht aber Materiehaufen oder Körper? Ich habe als eine Theorie für intentionale Zustände die Biosemantik vorgeschlagen. Eine Folge des biosemantischen Externalismus ist der Sumpfmann. Ich könnte mir vorstellen, dass ich (auf meinem Stuhl sitzend) von einem kosmischen Blitz getroffen in meine atomaren Bestandteile zerlegt und durch ein kosmisches Wunder wieder als ununterscheidbarer Körper aus denselben Materieteilchen rekonstruiert werde. Doch dieser Instantmensch gehört, anders als ich, zu keiner biologischen Art und hat weder eine Selektions- noch eine Lerngeschichte, und folglich hat er keine intentionalen Zustände. Wenn ich also mein Tier bin und dies nicht nur als bloßer Materiehaufen, dann sind die Ersetzungen im Animalismus-Argument unzulässig. Die Biosemantik benötigt also die revisionistische und unglaubwürdige These des biologischen Minimalismus nicht.743 Es sind Tiere, die als biologische Lebewesen intentionale Zustände haben, nicht Materiehaufen oder Körper. Es passt durchaus zu unseren Intuitionen, dass es Tiere sind, die denken, und nicht Ansammlungen von Materieteilchen oder bloße Körper. Es passt weiterhin zu unseren Man mag einwenden, dass es ebenso unglaubwürdig ist, die Sumpfmann-Geschiche zu akzeptieren. Ich glaube nicht, dass es ebenso unglaubwürdig ist. In unserem normalen, durchschnittlichen, ontologischen Inventar (NDO-Inventar) kommen leblose Naturdinge und Artefakte ebenso vor wie Lebewesen. Der biologische Minimalismus bestreitet ein Element des manifesten Weltbildes. Sumpfmänner kommen in unserem NDO- Inventar nicht vor, und das nicht, weil sie fiktiv sind (wie etwa Sherlock Holmes oder Anna Karenina), sondern weil sie völlig willkürliche und unwahrscheinliche Fiktionen sind, deren Entstehungsbedingungen die Zuverlässigkeit unserer Intuitionen schwer evaluierbar machen. Meine Lösung des Ersetzungsproblems ist besser, weil sie nicht gegen unser NDO-Inventar verstößt, sondern nur gegen Intuitionen im Rahmen einer wenig welthaltigen Fiktion. Auch das Argument, dass es für leblose Dinge und Artefakte (im Unterschied zu Lebewesen) keine guten Theorien der metaphysischen Komposition gibt, ist nicht stichhaltig, weil es sie sehr wohl gibt (vgl. Elder 2004). 743 337 Intuitionen, dass nicht nur Lebewesen existieren, sondern auch Materiehaufen wie Felsen, unbelebte zusammengesetzte Körper wie Hämmer, oder Organe wie das Hirn. Wie ist es nun mit Körpern oder Materiestücken, die wie mein Tier geformt sind, wie mein Tier aussehen, und sich wie mein Tier verhalten? Denken sie? Warum sollten Körper oder Materiehaufen allein aus diesen Gründen denken? Körper und Materiehaufen gehören nicht zur richtigen ontologischen Kategorie, um denken zu können, Tiere hingegen gehören zu der richtigen ontologischen Kategorie. Was unterscheidet nun einen bloßen Körper wie den Sumpfmann von einer Person? Nun, die Person ist ein Tier. Die Person gehört als Tier zu einer biologischen Art und hat somit eine Selektions- und Lerngeschichte, der Sumpfmann hingegen nicht. Denn wie ich zu zeigen versucht habe, gehören Lebewesen (und mithin auch Tiere) zu einer Lebensform, d.h. zu einer biologischen Art, und biologische Arten sind historische Individuen mit historischen Essenzen. Der Biosemantik zufolge hat das Tier gehaltvolle Wahrnehmungen, Erinnerungen und andere intentionale Zustände, sein ununterscheidbares Instantduplikat jedoch nicht. Der Unterschied zwischen mir, dem Tier, und dem Sumpfmann, dem Materiehaufen oder dem bloßen Körper besteht erstens darin, dass das Tier denkt, nicht aber der Materiehaufen, und zweitens darin, dass das Tier zu einem historischen Individuum gehört, der Materiehaufen hingegen nicht. Diese beiden Unterschiede werden durch die Biosemantik in systematischer Weise aufeinander bezogen, weil sie ja die Fähigkeit des Tiers, intentionale Zustände zu haben, aus seiner Zugehörigkeit zu einer historischen Art erklärt. Wenn wir also die Intuition akzeptieren, dass Tiere denken, wenn wir weiterhin den biologischen Minimalismus ablehnen, so ergibt sich aus dem Argument für den Animalismus und dem Ersetzungsproblem ein theoretischer Kontext, in dem nicht mehr das Sumpfmannproblem als Problem erscheint, sondern der Umstand, dass Sumpfmann (der Materiehaufen und Körper) und ich (das Tier) grundsätzlich verschieden sind. Wir können die Ersetzung der zweiten Prämisse – dieses Materiestück oder dieser Körper denkt – nicht akzeptieren, weil Materiestücke oder Körper nicht denken, Tiere hingegen schon. Die Biosemantik erklärt diesen intuitiv plausiblen Unterschied. Doch dieser Unterschied hat zur Folge, dass der Sumpfmann (ein Materiestück oder Körper) nicht denkt. Wenn wir den Sumpfmann auf diese Weise betrachten, erscheint er nicht länger als eine intuitiv starke Grundlage gegen die Biosemantik. Der Animalismus liefert der Biosemantik eine Grundlage für die von ihr gemachte Voraussetzung, dass Menschen wesentlich Tiere sind. Im Gegenzug kann der Animalismus einsehen, dass er in Verbindung mit der Biosemantik nicht länger unter dem Druck des Ersetzungsproblems auf die revisionistische Bahn des biologischen Minimalismus fliehen 338 muss. Animalismus und Biosemantik sind wie Tugendethik und Biosemantik natürliche Verbündete. Wie steht es mit der Ersetzung durch „Hirn“? Betrachten wir die sicherlich merkwürdig klingende Möglichkeit, dass ich mein Hirn bin. Dies bedeutet, dass ich numerisch identisch mit meinem Gehirn bin und dass ich bei dem Gebrauch von „ich“ auf mein Hirn referiere. Man kann sich das entsprechende Argument wie folgt vorstellen: (1) In jenem Bereich, in dem sich Materieteilchen nach der Art eines (gesunden und wachen) menschlichen Lebewesens angeordnet finden, existiert auch genau ein denkendes Wesen. (2) Nur ein (gesundes und waches) Lebewesen mit einigen gehirnartig angeordneten Materieteilchen ist ein denkendes Wesen. (3) In jenem Bereich, in dem sich ein (gesundes und waches) menschliches Lebewesen befindet, befinden sich auch einige gehirnartig angeordnete Materieteilchen. (4) In jenem Bereich, in dem sich ein (gesundes und waches) menschliches Lebewesen befindet, befindet sich auch ein Gehirn. Wenn (2), (3) und (4) zutreffen, dann findet sich in jenem Bereich, in dem sich Materieteilchen nach der Art eines (gesunden und wachen) menschlichen Lebewesens angeordnet finden, sowohl ein denkendes Lebewesen als auch ein denkendes Hirn. Hirn und Lebewesen sind jedoch nicht identisch. Ich bestünde also aus (mindestens) zwei Denkern, nämlich dem Hirn und dem Lebewesen. Dann muss (1) falsch sein. Doch dies scheint nicht akzeptabel. Alle meine Gedanken würden dann nämlich von einem zweiten Denker geteilt, der numerisch von mir verschieden ist. Da die Gedanken beider Denker inhaltlich identisch sind, kann ich, wenn ich einen Gedanken denke, nicht wissen, ob ich das Lebewesen oder das Gehirn bin. Bin ich gar beide? Wenn ich denke, dass ich nicht mein Hirn bin, sondern dieses Lebewesen, dann liege ich möglicherweise falsch. Würde mein Hirn wird in einen anderen Organismus verpflanzt, der am Leben erhalten wird, so wüsste ich nicht, ob ich als das alte Tier oder als Hirn im neuen Tier weiterexistieren werde. Oder existiere ich in beiden weiter? Trenton Merricks zufolge ist (4) falsch.744 Es gibt kein Gehirn. Es gibt nur gehirnartig angeordnete Materie. Um dem Ersetzungsproblem und dem eben skizzierten Zweidenkerproblem zu entkommen, verpflichtet sich also auch Merricks auf einen biologischen Minimalismus. Dieser Ontologie kann die Biosemantik nicht folgen, weil sie auf die Realität von biologischen Funktionen verpflichtet ist. Hirne 744 Vgl. Merricks 2001. 339 haben bestimmte biologische Funktionen und gehören somit zu einem Typ. Es gibt Gehirne und nicht nur gehirnartig angeordnete Materie. Merricks glaubt, bestreiten zu müssen, dass Hirne existieren, weil er sonst kein Mittel gegen das Ersetzungsproblem sieht. Warum sollte man akzeptieren, dass ich mein Gehirn bin und dass es das Gehirn ist, das denkt? Dies scheint zunächst auf der Ebene der Alltagssprache falsch zu sein. Wir schreiben intentionale Prädikate nicht Gehirnen zu, sondern in erster Linie intentionalen Lebewesen. Nicht meine Beine besteigen den Berg, sondern ich besteige den Berg und benutze dazu meine Beine. Nicht mein Hirn wünscht es sich, diesen Berg zu besteigen, sondern ich wünsche dies und benutze in gewisser Weise dazu auch mein Hirn.745 745 Neuestens vertritt Derek Parfit die Ansicht, dass das Hirn für Tiere wie uns konstitutiv sei (vgl. Parfit 2008), da dass das Hirn alle kognitiven und konativen Prozesse kontrolliere und steuere. Also kann man dasselbe Tier erhalten, indem man einen Prof. Simon Wright erschafft. (Im Comic Captain Future existiert das „lebende Gehirn“ Simon Wright von seinem Körper getrennt, in einem Behälter. Sinne und Sprache werden durch Sensoren und einen Sprachprozessor ermöglicht. Wrights Behälter verfügt über Traktorstrahlen und ermöglichen ihm schwebende Mobilität, sogar im Weltraum, da Wright nicht atmen muss.) Entweder muss man leugnen, dass Wright ein bewusstes Wesen ist, oder aber dass er ein Tier ist. Wenn man die zweite Option wählt, soll das Problem darin bestehen, dass man Wrights Hirn wieder in einen tierischen Körper einpflanzen kann, und warum sollte er sich dadurch in ein Tier zurückverwandeln (vgl. Noonan 1998, 305f.)? Die erste Option erscheint aus Gründen der behavioralen Äquivalenz zwischen Wright und uns als unplausibel. Was ist dazu zu sagen? Zur zweiten Option ist dasselbe zu sagen, das bislang gegen den Sumpfmann gesagt worden ist. Zur ersten Option ist zu sagen, dass sich Wright durch Rückverpflanzung seines Hirns tatsächlich wieder in ein Tier verwandelt. Ein Grund ist der folgende: Tiere gehören zu Arten und müssen sich deshalb fortpflanzen können, d.h. über Organe verfügen, die die Echte Funktion der Reproduktion haben. Diese Organe können natürlich fehl- oder gar nicht funktionieren. Selbst der sterile Maulesel hat solche Organe, Wright hingegen nicht. Schließlich kann man gegen Parfits Prämisse einwenden, dass nicht alle kognitiven und konativen Prozesse, die dasjenige ausmachen, was wir die Persönlichkeit eines Menschen oder eines anderen Lebewesens nennen, ausschließlich durch das Hirn kontrolliert werden. Das Hirn ist nicht unser exklusives Kontrollorgan. Steinhart 2001 verweist auf vier miteinander vernetzte organische Systeme: Das zentrale Nervensystem (das außer dem Hirn auch das Rückenmark einschließt), dass enterische System (im Magen-Darm-Trakt, das für Bauchgefühle wie Ekel zuständig ist), dass Immunsystem (für das man Metaphern wie das „immunologische Selbst“ oder „immunologisches Gedächtnis“ geprägt hat, vgl. Tauber 1994) und das endokrinale System (dessen Hormonproduktion Wachstum, Entwicklung, die Funktionen vieler Organe und Stoffwechselvorgänge reguliert). Wenn wir also Jupps Hirn in Japps Körper verpflanzen, haben wir damit nicht Jupps Persönlichkeit verpflanzt. 340 341 4.4. Selbstbewusstsein: Das Schimpansen-Argument Die Animalismus-These lautet: Er, sie, ich und alle menschlichen Personen sind mit Tieren numerisch identisch. Ein offensichtlicher Einwand gegen den Animalismus lautet, dass Menschen von anderen Tieren grundlegend verschieden sind. Wir sind Personen, keine Tiere. Warum also im Animalismus-Argument das „Tier“ nicht durch den Ausdruck „Person“ ersetzen? Nehmen wir an, es gibt eine Eigenschaft F, die nicht-menschlichen Tieren (NichtPersonen) abgeht, für uns – für das, was wir sind – aber zentral ist. F würde nun für einen biologischen Bruch oder Graben zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen sorgen. Zwar ist jede Person zugleich ein Tier (d.h. ein Tier konstituiert mich), sie ist aber numerisch von ihm verschieden. Wo ich bin, sind zwei, ein Tier und eine Person. Um dem Zweidenkerproblem zu entkommen, muss man ergänzen, dass Tiere keine Gedanken haben und nicht denken, sondern nur Personen. Das Person-Sein ist keine biologische Kategorie. Menschen sind wesentlich Personen, nicht Tiere. Was macht denn das besondere Sein einer Person aus? Erinnern wir uns, dass wir zunächst davon ausgegangen sind, dass wir keine immateriellen Seelen, immateriellen Substanzen und keine Gedankenbündel sind, sondern (irgendwie) ein Stück materieller Natur. Dem Personalismus zufolge sind wir auch keine immateriellen Entitäten, sondern durch ein Tier konstituierte psychische, behaviorale oder selbstbewusste Entitäten. Personen zeichnet also gegenüber bloßen Tieren entweder eine besondere Form der psychischen Kontinuität aus oder sie zeichnen sich durch eine besondere Verhaltensfähigkeit aus oder sie zeichnen sich einfach dadurch aus, dass sie eine subjektive Perspektive auf die Welt haben. Die bereits angeführte Definition von Locke (4.2.) entspricht der Sichtweise des Personalismus. Ihr zufolge ist eine Person „a thinking intelligent being, that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking thing, in different times and places”746. Lockes Definition unterstreicht sowohl eine bestimmte Form der psychischen Kontinuität („consider itself as…the same thinking thing, in different times and places“) als auch besondere Fähigkeiten („reason and reflection“) und schließlich noch die subjektive Perspektive („consider itself as itself“). Was meint der Personalist damit, dass wir durch ein Tier konstituierte besondere Entitäten (nämlich Personen) sind? Das Paradigma für Konstitution sind Statue und Lehmklumpen. Nehmen wir an, aus einem Lehmklumpen werde eine Staute geformt, diese werde zerstört, und übrig bleibe der Lehmklumpen. Beide Dinge (Statue und Lehmklumpen) bestehen aus derselben Materie (denselben Materieteilchen), doch es 746 Vgl. Locke, Essay 2.27.9. 342 handelt sich um zwei (qualitativ) verschiedene Dinge. Es scheint also, als könnten zwei (qualitativ) verschiedene Dinge ko-lokalisiert sein und so raumzeitlich koinzidieren. Während die Statue existiert koinzidiert sie raumzeitlich mit dem Lehmklumpen, aber vor ihrer Herstellung und nach ihrer Zerstörung existiert zwar der Lehmklumpen, nicht aber die Statue. Der Lehmklumpen überlebt (wenn man so sagen will) die Statue. Folglich existieren Staue und Klumpen für eine gewisse Zeit ko-lokalisiert. Dieses Beispiel kann nun auf Personen und Tiere übertragen werden: So wie für einen bestimmten Zeitpunkt Statue und Lehm ko-lokalisiert existieren (in derselben Materie realisiert sind), existieren eine Person und ein Tier ko-lokalisiert. Die Person wird durch das Tier konstituiert. Doch das Tier existiert vor der Person (als Embryo) und bisweilen auch nach der Person (bei vegetativen Patienten oder als Leiche). Gegen diese Sichtweise könnte man nun dreierlei einwenden: (a) Der Statue (bzw. der Person) kommt keine eigene Existenz zu. Es existiert nur der Lehmklumpen (bzw. das Tier), der für eine gewisse Zeit die Form einer Statue (bzw. einer Person) annimmt. (b) Dem Lehmklumpen (bzw. dem Tier) kommt keine eigene Existenz zu. Es existiert nur die Statue (bzw. die Person), der Lehmklumpen (bzw. das Tier) ist einfach ein unterschiedliches Arrangement von Materieteilchen. (c) Weder Lehmklumpen (bzw. Tier) noch Statue (bzw. Person) existieren. Alles, was existiert, sind Materieteilchen. Die Position (c) ist sicher unattraktiv, denn sie leugnet die Existenz sowohl von Lebewesen als auch von Personen. Die Position (b) ist schwer verständlich. Möglicherweise entspricht Descartes’ Dualismus diesem Bild. Ich bin eine Person und das heißt: Ich bin eine denkende Substanz. Mein Körper ist eine Tiermaschine, doch diese Tiermaschine ist lediglich ein Modus der ausgedehnten Substanz. Somit kommt ihr keine eigenständige Existenz zu. Die Position (a) entspricht dem Animalismus. Sie legt nahe, dass ich mit einem biologischen Lebewesen (mit einem Tier) identisch bin, das zeitweilig und kontingenterweise auch eine Person ist. Wir sind wesentlich Tiere und (sehr häufig) zeitweilig auch noch Personen in dem von Locke angezeigten Sinn.747 Dass ich wesentlich (im metaphysischen Sinne von: essenziell) ein Tier bin, mag stimmen, das ist aber nicht die Eigenschaft, die wir wesentlich (im normativen Sinne von: wichtig) für uns finden. Wir fassen uns nicht als Tiere, sondern als Personen (oder als Sprecher oder als Kinder Gottes usw.) auf, und das ist uns wichtig. Es ist konstitutiv für unser Selbstverständnis, dass wir uns als Personen, Sprecher, Gotteskinder usw. auffassen, nicht als Tiere. Dies trifft bis zu einem gewissen Grad sicher zu, stellt aber kein Einwand gegen den Animalismus dar. Man mag vielleicht zu bedenken geben, dass doch metaphysisch als wesentlich 747 343 Was ist hiervon zu halten? Zunächst kann der Animalismus durchaus zugeben, dass es Eigenschaften gibt, die mich und andere Menschen von anderen Tieren unterscheiden, nämlich so, wie es Eigenschaften gibt, die Biber von anderen Tieren unterscheiden. Jede Eigenschaft, die mir zukommt, muss aber gemäß der Animalismus-These eine Eigenschaft dieses Tieres sein, das ich bin. Die Biosemantik hat nun zu zeigen, dass und wie es uns möglich ist, bestimmte Eigenschaften wie psychische Kontinuität, bestimmte Fähigkeiten wie Reflexion oder Rationalität als Tier zu haben. Auch wenn wir diese Eigenschaften möglicherweise als sehr besondere Tiere haben, so eben doch als Tiere. Ich werde nun wie folgt vorgehen. Die meisten Personalisten machen Selbstbewusstsein zu dem entscheidenden Kriterium für das Person-Sein. Ich werde zunächst auf Zirkularitätsprobleme hinweisen, die sich erstens zeigen, wenn der Personalist das Selbstbewusstsein an der erinnerten psychischen Kontinuität festmachen möchte, und die sich zweitens zeigen, wenn Selbstbewusstsein auf deflationistische Weise an der Fähigkeit des richtigen Gebrauchs der ersten Person Singular festgemacht wird. Schließlich werde ich mithilfe des „Schimpansenarguments“ zeigen, dass nicht-menschliche Tiere als Tiere über eine anspruchsvolle Form von Selbstbewusstsein verfügen. Es gibt somit keinen Grund für die Annahme, dass das Selbstbewusstsein als konstitutives Element dessen, was es heißt, eine menschliche Person zu sein, dagegen spricht, dass menschliche Personen wesentlich Tiere sind. Im Gegenteil. Bevor ich damit beginne, ist es sicher angebracht, den schillernden Ausdruck „Selbstbewusstsein“ etwas zu verdeutlichen. In einer sicher etwas vagen, doch hinreichenden Formulierung lautet eine entsprechende Selbstbewusstseins-These: Ein Wesen hat nur dann einen Geist (intentionale Zustände), wenn es Bewusstsein von sich als Wesen mit Geist (intentionalen Zuständen) hat. Ich glaube durchaus, dass die Selbstbewusstseins-These ihre Berechtigung hat, nicht in dem starken Sinn zwar, dass Selbstbewusstsein für das Haben von jeglicher Art intentionaler Zustände konstitutiv ist, sondern im folgenden Sinn: Ein geistiges Wesen muss zusätzlich auch ein Bewusstsein seiner intentionalen Zustände haben können. Darüber hinaus kann die Möglichkeit der Zuschreibung von Selbstbewusstsein gegenüber sprachlosen Lebewesen zu differenzierteren Auffassungen ausgezeichnet werden soll, was uns auch normativ als wesentlich erscheint. Die Beispiele des Embryos und des Wachkomapatienten zeigen jedoch, dass der Animalismus offenbar ethisch relevant ist. Darüber hinaus lässt sich mit dem Animalismus auch eine (historisch fundierte) Begründung des „Kerngehalts“ der Menschrechte finden, nämlich für Folterverbot und Lebensrecht. Es ist also für unser Selbstverständnis keinesfalls unwichtig, dass wir Tiere sind. 344 jener Arten von Selbstbewusstsein führen, die wir Menschen mit den Tieren teilen bzw. nicht teilen.748 Das vertraute psychische Kriterium für die diachrone Einheit der Person besteht im Zusammenhängen der Erinnerungen (und Antizipationen). Das Erinnerungskriterium ist jedoch von einem Zirkel bedroht. Wenn man zugesteht, dass das Haben von geistigen Zuständen (wie es Erinnerungen und Antizipationen sind) einen Träger oder Inhaber dieser Zustände voraussetzt, dann muss man diesem Träger der Erinnerungen bereits diachrone Einheit zugestanden haben. Der Zirkel besteht also darin, dass das Erinnerungskriterium für die diachrone Einheit der Person bereits auf die diachrone Einheit der Person als Trägerin oder Inhaberin der Erinnerungen zurückgreifen muss. Diesen Zirkel räumt man aus, indem man das Lebewesen (und dessen diachrone Einheit) als Träger oder Inhaber der geistigen Zustände voraussetzt. Wenn jedoch das Lebewesen (das Tier) als Träger der Erinnerungen einer Person in Frage kommt, warum sollten wir die menschliche Person nicht gleich mit einem Tier identifizieren? Es ist ein Tier, das sich erinnert. Da ich diese Tier bin, erinnere ich mich. Dieses Tier ist mit mir numerisch identisch, nicht mit der Person, an die ich mich erinnere, denn es gibt Dinge, an die ich mich nicht erinnere oder nicht erinnern kann. Dennoch sind sie mir zugestoßen. Wem sind sie zugestoßen? Nun, dem Tier, das ich bin. Die sogenannten „Einfachen Theorien“ der personalen Identität (wie sie etwa von Reid oder Roderick Chisholm vertreten werden) beharren auf der Existenz einer nichtreduzierbaren Perspektive der ersten Person. Es soll diese einfache und nicht-reduzierbare Perspektive sein, die das Kriterium für das Person-Sein zur Verfügung stellt. Dieses Beharren kann durch einen Verweis auf die kriterienlose Selbstreferenz im 748 Ich möchte an dieser Stelle eine Lesart der Selbstbewusstseins-These ausschließen. Einer möglichen Lesart zufolge heißt Bewusstsein von sich als Wesen mit Geist, dass das Wesen über eine Theorie des Geistes (eine „Theory of Mind“) verfügt. Bewusstsein von sich selbst ist so betrachtet eine Form des Selbstwissens, weil ein Wesen mit einer Theorie des Geistes über ein Wissen über seine mentalen Zustände (oder über sein Selbst) verfügt. Selbstwissen ist auf eine Theorie des Geistes angewiesen, weil es die Selbst- und Fremdapplikation von Zeichen oder Begriffen für geistige Zustände (oder für Wesen mit geistigen Zuständen) voraussetzt. Mich interessiert aber mehr, welche Art von Selbstbewusstsein ein Wesen haben muss, um überhaupt in der Lage zu sein, seine geistigen Zustände durch die Selbst- und Fremdapplikation von Zeichen oder Begriffen wissend zu erfassen. In einer sehr starken Variante behauptet diese Lesart, dass Wesen ohne Theorie des Geistes keinerlei bewusste Zustände haben. Zwar zeigt eine Katze, der ich sadistisch die Vorderbeine breche, alle Anzeichen von akutem Schmerz. Sie zeigt bloßes Schmerzverhalten. Meines Erachtens ist diese Variante des Vorschlags nicht haltbar. Ihr liegt eine „Higher-Order-Theory“ des Bewusstseins zugrunde, die nicht nur die angedeuteten Folgen zeitigt, sondern auch theoretische Probleme aufwirft. Bewusste Zustände sind nicht Zustände, von denen ein Wesen Bewusstsein hat, sondern Zustände, mit denen es von etwas Bewusstsein hat. Ein Häher kann (mithilfe einer visuellen Repräsentation) eine Nuss wahrnehmen, ohne Bewusstsein von dieser Wahrnehmung zu haben. Ich gehe also im Folgenden davon aus, dass (einige) nicht-menschliche Tiere bewusste Erlebnisse haben, und dass das Haben bewusster Erlebnisse jedoch nicht impliziert, dass sie sich dieser Erlebnisse bewusst sein müssen. 345 Selbstbewusstsein untermauert werden. Die Person bezieht sich in Gedanken (mit „IchGedanken“) kriterienlos auf sich selbst bzw. auf ihre aktuellen geistigen Zustände. Diese Bezugnahme ist epistemisch privilegiert, weil Irrtum ausgeschlossen sein soll. Ich kann mich weder darüber täuschen, dass ich mich auf mich beziehe, noch kann ich mich über meine Gedanken täuschen. Auch semantisch ist dadurch die Referenz der Ich-Gedanken gesichert. Gemeint ist stets der Denkende. Man kann die Struktur, die der Einfachen Theorie zugrunde liegt, als „Ego-hic-nunc-Struktur“ bezeichnen. Wenn ich hier und jetzt IchGedanken denke, dann stehen sowohl die Referenz als auch die Wahrheit solcher Gedanken außerhalb jeden Zweifels. Die Einheit einer so aufgefassten Person über die Zeit hinweg kann nun so verstanden werden, dass sie durch die Erinnerung (und Antizipation) des Denkenden konstituiert wird. Das Problem besteht im Folgenden: Jede Erinnerung ist zunächst ein aktueller geistiger Ich-Zustand: „Ich (hic et nunc) erinnere mich, dass ich (hic et nunc) gestern ge-x-t habe“. Die Perspektive der ersten Person gibt für sich genommen keinen Anhaltspunkt für die Wahrheit dieser Zuschreibung. Die semantischen und epistemischen Privilegien der Ego-hic-nunc-Struktur können nicht ohne Weiteres auf mein vergangenes (oder zukünftiges) Ich übertragen werden. Ganz im Gegenteil: Eine Erinnerung ist nicht aus der Perspektive der ersten Person als Erinnerung kenntlich. Damit ein Zustand eine Erinnerung ist, muss er auf angemessene Weise verursacht worden sein. Weder garantiert das bloße Erinnerungsgefühl oder die bloße Tatsache, dass der Denkende hic-et-nuncErinnerungsgedanken hat, diese Bedingung für Erinnerungen noch kann aus der hic-et-nuncPerspektive der ersten Person ein Ich-Gedanke überhaupt als Erinnerung erfasst werden. Etwas Anderes als die auf hic et nun restringierte Erste-Person-Perspektive muss also die diachrone Einheit des Subjekts der erinnerten Erlebnisse garantieren. Wiederum bietet sich als Kandidat ein Lebewesen als Subjekt der erinnerten Erlebnisse an. Der Animalismus bietet sich also als natürlicher Ausweg sowohl aus dem Zirkel des Erinnerungskriteriums als auch aus der Gegenwartsgefangenschaft der Einfachen Theorie an. Es ist die Existenz des Lebewesens als Inhaber von Erinnerungen, die die zeitliche Identität einer menschlichen Person garantiert. Die Ausprägung einer besonderen Fähigkeit zur Erfassung seiner selbst durch das Denken von Ich-Gedanken oder das Selbstbewusstsein ist eine Eigenschaft, die sich ein Menschentier erwerben kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Referent der Ich-Gedanken jene Entität sein soll, die durch die Fähigkeit, Ich-Gedanken zu unterhalten, erst konstituiert wird. Der Referent der IchGedanken ist der Träger jener Gedanken, auf die ich mich beziehe, wenn ich mir selber 346 Gedanken zuschreibe. Dem Animalismus zufolge beziehe ich mich damit auf das mit mir numerisch identische Tier. Wir bekommen einen weiteren Zirkel zu fassen, wenn wir uns einer deflationistischen Selbstbewusstseinstheorie zuwenden.749 Hierbei ist nicht die Fähigkeit entscheidend, IchGedanken zu denken, sondern die Fähigkeit den Ausdruck „ich“ korrekt zu gebrauchen. Auch der Deflationist versteht unter Selbstbewusstsein das Haben von Ich-Gedanken mit reflexivem Selbstbezug. Sprachlich erfolgt reflexiver Selbstbezug durch das Personalpronomen der ersten Person Singular, durch „ich“. „Ich habe Zahnschmerzen“ ist ein Ich-Gedanke, wobei „ich“ nicht einfach durch einen Eigennamen oder eine definite Beschreibung ersetzt werden kann, da Fehlidentifikation ausgeschlossen werden soll. Ich kann mich kaum darüber irren, dass ich Zahnschmerzen habe, aber ich kann mich darin irren, dass Markus Wild Zahnschmerzen hat. Entscheidend ist nun, dass der Deflationist behauptet, eine Theorie darüber, was es heißt, Ich-Gedanken zu erfassen, erkläre alles, was spezifisch für Selbstbewusstsein ist. Das bedeutet, dass eine Theorie darüber, wie wir Gedanken haben können, die immun gegen Irrtum sind, alles erklärt, was spezifisch für Selbstbewusstsein ist. Folglich haben wir, wenn wir die Beherrschung von „ich“ erklärt haben, erklärt, wie wir Gedanken haben können, die irrtumsimmun sind. Die Fähigkeit zu Ich-Gedanken wird, so der Deflationist, vollständig erklärt durch die Beherrschung von „ich“. Und die Regel für die Beherrschung von „ich“ lautet: Wenn ein Sprecher „ich“ sagt, so bezieht er sich auf sich selbst, und zwar als Hervorbringer von „ich“. Wenn ein Sprecher also ein „ich“-Token verwendet, dann bezieht er sich auf sich als Hervorbringer dieses Tokens. Dazu muss der Sprecher aber wissen, dass er der Hervorbringer dieses Tokens ist. Das Problem besteht nun darin, dass die Anwendung dieser Regel wiederum IchGedanken voraussetzt, weil ein Ich-Sager im Gebrauch von „ich“ die Regel implizit auf sich selbst anwendet. Diese Voraussetzung wird aber durch die Fähigkeit zur Anwendung der Regel nicht erklärt. Also erklärt die Beherrschung der Regel von „ich“ nicht alles, was spezifisch für Selbstbewusstsein ist. Mehr noch: Das Explanandum des Deflationisten (die Ich-Gedanken) ist Teil des Explanans (die Beherrschung der ersten Person Singular). José Luiz Bermúdez hat in diesem Zusammenhang von einem Erklärungszirkel gesprochen. Dieser Erklärungszirkel verunmöglicht zudem eine Erklärung der Entstehung der realen Fähigkeit der Beherrschung von „ich“. Und es ist sicher nicht zu viel verlangt, die Bedingungen für den Erwerb einer solchen Fähigkeit erklären zu wollen. 749 Ich folge hier Ausführungen von Bermúdez 1998. 347 Will man nun nicht ausschließen, dass eine nicht-zirkuläre Erklärung von Selbstbewusstsein möglich ist (oder den Zirkel nicht als konstitutiv für Selbstbewusstsein betrachten), kann man eine Prämisse des Deflationismus verwerfen, nämlich das folgende Sprache-Gedanke-Prinzip: Die Fähigkeit, überhaupt gedankliche Inhalte zu denken, beruht auf der Fähigkeit zur Beherrschung von sprachlichen Ausdrücken oder von Begriffen für diese Inhalte. Anders formuliert: Die gedanklichen Inhalte, die man einem Wesen überhaupt zuschreiben kann, werden allein durch die Begriffe und Äußerungen bestimmt, die dieses Wesen hat oder tätigt. Ich habe dieses Prinzip bereits in meinen Ausführungen zu den Häher-Gedanken verworfen. Bermúdez’ Vorschlag lautet, die Verbindung zwischen geistigen Zuständen und Sprachbeherrschung aufzulösen. Stattdessen brauchen wir eine Theorie für nicht-sprachliches und nicht-begriffliches Selbstbewusstsein. Biosemantisch gewendet: Wir brauchen eine biologische Funktion für ein Bewusstsein von sich als Wesen mit Geist. Bermúdez’ Strategie besteht darin, Verhaltensformen sprachloser Wesen ausfindig zu machen, die die Zuschreibung von Zuständen mit nicht-begrifflichem Erste-PersonGehalt erfordert. Zu diesem Zweck untersucht er vier Verhaltensbereiche und unterscheidet verschiedene Formen des Selbst: Die Wahrnehmungserfahrung liefert ein ökologisches Selbst, die somatische Propriozeption ein körperliches Selbst, der SelbstWelt-Dualismus ein perspektivisches Selbst und die Interaktion ein psychisches Selbst. Das alles wirkt etwas disparat. Vor allem scheint sich der Zirkel zu wiederholen, den wir vermeiden wollten. Ich veranschauliche dies am ökologischen Selbst. Viele Tiere können (beispielsweise) in ihrem visuellen Wahrnehmungsfeld invariante Information über die Position der Gliedmaßen ihres eigenen Körpers von variablen Informationen über die aktuelle Umwelt unterscheiden. Diese Unterscheidung ist grundlegend für zielgerichtetes Verhalten. Man stelle sich nur die Fortbewegung eines 60 Kilogramm schweren OrangUtans hoch oben in den Baumkronen vor! Doch auch wenn dieser Orang-Utan seine Gliedmaßen von Ästen und anderen Objekten unterscheidet, so reicht dies scheinbar nicht für so etwas wie Selbstbewusstsein, denn die Gliedmaßen müssen ja als seine Gliedmaßen auftauchen. Und dies setzt wiederum Selbstbewusstsein voraus. Der Zirkel, so scheint es, fällt auf Bermúdez zurück. Dem kann man entgegenhalten, dass die (äußere) Wahrnehmung der Gliedmaßen als Invarianten im visuellen Feld mit der (inneren) körperlichen Eigenwahrnehmung des Lebewesens korreliert. (Bewusste Empfindungen haben wir sprachlosen Tieren ja zugestanden.) Aufgrund dieser Korrelation ist Körperwahrnehmung eine Form der Selbstwahrnehmung. Freilich handelt es sich hierbei nur um eine Art des 348 Selbstbewusstseins, von der man nur (aber immerhin) sagen kann, das Tier habe ein Körperselbst. So kann beispielsweise die Solidität von Objekten gefühlt werden und dabei fühlt ein Tier auch, dass es selbst solide ist. Tiere können sich (ihre Position) im Raum verorten. Weiter sind die räumlichen Inhalte ihrer Wahrnehmungen egozentrisch ausgerichtet, die Dinge sind nah, fern, oben, unten, links, rechts, mittig usw. Die berühmten Spiegeltests schließlich zeigen, dass Tiere über ein körperliches Selbst verfügen. Dieses Körperselbst ist wichtig für die flexible Verhaltenssteuerung, wie das Beispiel des Orang-Utans zeigt. Diese Art des Selbstbewusstseins ist nicht in einem begrifflichen Sinne irrtumsimmun. Fremdkörperliche Propriozeptionen (wenn man so sagen möchte) können (bei uns) sogar empirisch vorgetäuscht werden. Dieser Mangel an Irrtumsimmunität ist nicht weiter schlimm, denn wir suchen ja nach einer (biologischen) Voraussetzung für den Gebrauch der ersten Person Singular, und es ist erst dieser Gebrauch, der Irrtumsimmunität generiert. Wichtig hierbei ist die Funktion des Körperselbst: Falls ein Tier seine Gliedmaßen nur als Objekte unter anderen Objekten betrachtet, dann ist die normale biologische Funktion der Repräsentation des eigenen Körpers nicht erfüllt. Und die biologische Funktion scheint auf der Hand zu liegen: Nur Informationen über es selbst als es selbst ermöglichen es dem Tier, sich in einer Situation überhaupt flexibel zu verhalten.750 Man mag nun einwenden, dass wir doch nach einem Bewusstsein von sich als einem Wesen mit geistigen Zuständen suchten. Dennoch kann ich festhalten, dass das Körperselbst den Zirkel auffangen kann: Die Fähigkeit zur Beherrschung von „ich“ wird erklärt durch ein vorbegriffliches Bewusstsein meiner selbst als körperliches Wesen. Anders formuliert: Sie wird erklärt durch die Fähigkeit zu einer vorbegrifflichen Repräsentation meines Körpers, die die Funktion hat einem Lebewesen einer Situation entsprechendes flexibles Verhalten zu ermöglichen. Die Frage lautet nun: Wie kommen wir über die nichtsprachlichen Verhaltensevidenzen eines sprachlosen Tiers zur begründeten Behauptung, es Die Paviane im afrikanischen Okawangodelta sehen, dass gefährliche Löwen auf sie zurennen und fliehen in die entgegengesetzte Richtung. Dieselben Paviane scheinen auch zu wissen, wann Löwen für sie ungefährlich sind (sie erkennen irgendwie satte Löwen), und verhalten sich dann lediglich vorsichtig. Erdhörnchen reagieren auf Schlangen nicht damit, dass sie sich in ihre Erdhöhlen verkriechen, denn anders als etwa Schakale können Schlangen ihnen ins Erdloch folgen. Deshalb werden Schlangen zunächst zum Schein attackiert, auf ihre Aggressivität hin getestet, der Nachwuchs wird gewarnt usw. Um die von einer Schlange ausgehende Gefahr abzuschätzen, muss ein Erdhörnchen Informationen über die Temperatur, die Größe und die Art der Schlange gewinnen. Ein brütender Regenpfeifer muss mit seinem Tanz, der einen gebrochenen Flügel vortäuscht, einen potenziellen Nesträuber von seiner Brut weglocken. Nähert sich der Räuber dennoch dem Nest, muss der Vogel sein Verhalten entsprechend risikoreicher gestalten. Er muss seine Position relativ zu Räuber und Nest und seinen Flügeltanz so verändern, dass der Räuber auf den Regenpfeifer aufmerksam wird. Die Repräsentation der Bewegung des Nesträubers relativ zum Nest und zum Regenpfeifer lenkt das Verhalten des Vogels. Diese Repräsentation beinhaltet Informationen über die Position des Vogels und seine Bewegung. Somit beinhaltet diese Repräsentation Informationen über den Vogel selbst. 750 349 verfüge über die Fähigkeit sich selbst als Wesen mit bewussten Zuständen zu erfahren? Ich möchte nun ein Argument dafür vorschlagen, dass sprachlose Tiere sich als Wesen mit (mindestens) einer Art von bewussten Zuständen erfahren können. Ich nennen es das „Schimpansenargument“, weil ich es am Beispiel dieser Spezies durchführe. Es könnte jedoch auch anhand anderer Tierarten, wie Elstern, Papageien, Elefanten oder Tümmlern durchgeführt werden. Ein bekanntes Experiment zur Selbsterkennung („self-recognition“) ist Gordon Gallups Spiegeltest: Tiere benutzen ihr Spiegelbild, um einen auf ihren Körper gemalten Farbflecken mit Finger, Rüssel oder Schnabel zu finden. Schimpansen (oder Tauben, Elstern, Delfine und Elefanten) erkennen sich selbst in diesem Sinne im Spiegel. 751 Die Selbsterkennung ist wie gesagt stets auf das Körperselbst bezogen und das „Selbst“ im „Selbsterkennungs-Test“ muss präzisiert werden: Es handelt sich eigentlich um Körperselbst-Erkennungs-Tests. Menschenaffen erkennen also ihren Körper. Sie haben in diesem Sinne ein Körperselbst. Wir können nun die Fähigkeiten von Schimpansen zu dieser Art von Körperselbsterkennung mit einer anderen Fähigkeit kombinieren. Es gilt als gut gesichert, dass Schimpansen eine Vorstellung davon haben, was ihre Artgenossen sehen bzw. was sie nicht sehen können. Schimpansen unterscheiden zwischen der Sichtbarkeit von Objekten, wenn diese sich in der direkten Sichtlinie von Artgenossen befinden, und der NichtSichtbarkeit von Objekten, wenn sich zwischen der Blickrichtung des Artgenossen und dem Objekt ein opakes Hindernis befindet. Schimpansen können also Blickrichtungen verfolgen. Sie verstehen, was es heißt, dass jemand etwas sieht oder nicht sieht: Sie können daraus Aufschluss über den Informationsstand und das Verhalten ihrer Artgenossen gewinnen. Schimpansen unterscheiden auch, ob sie selbst von einem Artgenossen gesehen werden oder nicht. Nehmen wir nun diese beiden Fähigkeiten zusammen! Die erste Fähigkeit besteht darin, dass Schimpansen ihr Körperselbst im Spiegel erkennen, und die zweite darin, dass sie den Unterschied zwischen Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit von sich selbst und Tauben können auf Videoschirmen unterscheiden, ob sie ein echtzeitliches Video ihrer selbst oder ein altes Video von sich vor sich haben. Diese Tauben können dieselbe Unterscheidung auch dann noch ausführen, wenn ihnen ihr Echtzeit-Videobild mit einigen (5-7) Sekunden Verzögerung vorgespielt wird (Tauben schneiden besser ab als dreijährige Kleinkinder.). Dies bedeutet, dass Tauben ihre eigenen Bewegungen von den Bewegungen anderer unterscheiden können. Im Unterschied zu Gallups Spiegeltest ist dieser Versuch nicht darauf angewiesen, dass sich das Tier aufgrund des Spiegelbilds an einer Stelle seines Körpers berührt. Die Versuchsanordnung gleicht vielmehr den spontanen Bewegungen, die Menschen ausführen, wenn sie auf einem Bildschirm sehen, dass sie in diesem Moment in Echtzeit gefilmt werden. Die Selbsterkennung ist jedoch stets auf das körperliche Selbst bezogen, entweder auf ein ungewöhnliches Merkmal des eigenen Körpers oder auf die aktuellen bzw. eben ausgeführten Bewegungen des eigenen Körpers. 751 350 anderen Objekten für Artgenossen erkennen. Als unproblematische Zusatzprämisse führe ich ein, dass Schimpansen zwischen Artgenossen und Nicht-Artgenossen unterscheiden können. Aus dieser Zusatzprämisse folgt, dass sie sich (ihr Körperselbst) als artgenössisch erkennen. Das trifft auch auf das eigene Spiegelbild zu. Das begriffliche Argument für Zustandsbewusstsein ist nun das Folgende: (1) Ein Schimpanse S schreibt Artgenossen Zustände des Sehens zu. (2) S erkennt sich (im Spiegel) als Artgenossen. (3) S schreibt sich Zustände des Sehens zu. Vorausgesetzt habe ich, dass Schimpansen etwas bewusst als etwas sehen können. Folglich hat der Schimpanse S (der sich im Spiegel erkennt) ein Bewusstsein von sich (und von seinen Artgenossen) als Wesen mit bewussten Zuständen. (Mit dem Ausdruck „Wesen“ meine ich an dieser Stelle einfach das Körperselbst.) Diese Folgerung entspricht, wie ich meine, der Selbstbewusstseins-These. Das Schimpansen-Argument harmoniert auch mit einer abgeschwächten Form von Peter Strawsons Symmetrie-These. Strawson zufolge besteht eine notwendige Bedingung für die Zuschreibung bewusster Zustände (Erfahrungen) gegenüber sich selbst darin, dass man sie auch „to others who are not oneself“ zuschreiben kann.752 Mit den „others who are not oneself“ scheint Strawson „other minds“ zu meinen. Ich bin nicht sicher, ob man diese Interpretation akzeptieren muss, und wir können folgende Ersetzung vornehmen: Artgenossen oder „other bodily selfs who are not my bodily self“. Dies ist die eben erwähnte Abschwächung der Symmetrie-These. Die zweite Fähigkeit der Schimpansen besteht ja in der Zuschreibung eines Informationsstands und möglicher Verhaltensweisen gegenüber Artgenossen aufgrund ihrer Blickrichtung (dasselbe können übrigens auch Häher). Und Artgenossen sind für den Schimpansen „other bodily selfs who are not my bodily self“. Das Argument für Selbstbewusstsein bei nicht-menschlichen Tieren beruht weder auf einer besonderen Fähigkeit der Introspektion noch auf einer Fähigkeit zur Beherrschung sprachlicher Ausdrücke. Es beruht auf einer biologischen Fähigkeit den eigenen Körper durch den Raum zu manövrieren, einer Fähigkeit, die, wie gezeigt, von deflationistischen Erklärungen des Selbstbewusstseins implizit in Anspruch genommen wird. Nichtdeflationistische Ansätze zum Selbstbewusstsein sind, sofern sie auf das Erinnerungskriterium setzen, bereits an ein Lebewesen als Träger und Garant von 752 Strawson 1959: 99. 351 Erinnerungen verwiesen. Beide Ansätze können also so behandelt werden, dass sie das Lebewesen, das sich mithilfe eines Ausdrucks oder durch Ich-Gedanken auf sich bezieht, immer schon in Anspruch genommen haben. Zusammen mit dem Nachweis, dass nichtmenschlichen Tieren mithilfe eines Arguments zweifellos Selbstbewusstsein, verstanden als Bewusstsein von eigenen intentionalen Zuständen, zugeschrieben werden kann, ergibt sich, dass der Animalismus es zulässt, dass Tiere Personen in Lockes Sinne sein können, auch wenn sie sich nicht sprachlich auf sich selbst als sie selbst beziehen. 352 5. EINE BIOSEMANTISCHE THEORIE DES SEHENS 5.1. Konsumenten und Produzenten Blicken wir kurz zurück auf die These des Animalismus: Jede menschliche Person ist mit einem Tier numerisch identisch. Im vorangegangenen Kapitel meine ich plausibel gemacht zu haben, dass diese These wahr sein kann – ich schreibe „kann“, weil ich sie nicht gegenüber Alternativen, sondern lediglich als solche verteidigt habe (4.2.). Wenn wir die Biosemantik akzeptieren, so stellt sich dem Argument für den Animalismus das Ersetzungsproblem nicht auf eine Weise, die ihn zwingt, den „biologischen Minimalismus“ anzunehmen (4.3.). Meines Erachtens hat die Biosemantik auf das Ersetzungsproblem eine einfache und elegante Antwort parat, die man getrost als Gegenintuition gegen den Sumpfmann-Einwand betrachten darf. Philosophische Gegenintuitionen, so habe ich argumentiert, müssen weder widerlegt noch ausgeräumt, sondern ausbalanciert werden (4.1.).753 Schließlich habe ich ein Argument dafür entwickelt, dass sprachlosen Tieren, wie beispielsweise Schimpansen, Selbstbewusstsein im relevanten Sinne zugestanden werden muss, nämlich ein Bewusstsein von den eigenen mentalen Zuständen (4.4.). Den Menschen als Tier betrachten, heißt nicht, ihn als Wesen zu betrachten, dass weder Intentionalität noch Selbstbewusstsein hat, denn schon als Tier hat der Mensch Selbstbewusstsein und Intentionalität. Das für Menschen spezifische soziale, kulturelle oder sprachliche Leben ist keine für Selbstbewusstsein und Intentionalität konstitutive Bedingung. Die Biosemantik betrachtet den Menschen also nicht primär als eine Sonderform rationaler Wesen (d.h. als endliche oder leibliche Inhaber eines diskursiven Verstandes), sondern primär als eine Sonderform sinnlicher Lebewesen. Das Sonderbare am Menschen ist nicht der Umstand, dass er als Verstandeswesen auch noch endlich oder leiblich existiert, sondern der Umstand, dass er als sinnliches Lebewesen über diskursive und kulturelle Fähigkeiten verfügt. Weder für die Philosophie des Geistes noch für die Moralphilosophie wird der Mensch qua Verstandeswesen betrachtet, sondern in beiden Bereichen qua Lebewesen (2.1. & 3.3.). Wie andere Tiere auch nehmen Menschen durch ihre Sinne Informationen aus ihrer Umwelt auf. Dazu sind sie wie andere Tiere auch auf ihre körperlichen Sinnesorgane 753 Millikan hat eine weitere Strategie entwickelt, um mit durch Gedankenexperimente gewonnen Intuitionen umgehen zu können (vgl. WQP: 262-264). Der Proponent führe ein Gedankenexperiment ein und weigere sich, selbst Position zu beziehen. Der vernünftige Grund für die Weigerung besteht, wie ich ausgeführt habe, darin, dass Gedankenexperimente die Bedingungen verändern, unter denen wir unsere Intuitionen ausgebildet haben, denn die Echte Funktion unseres Vermögens kann nur unter historisch Normalen Bedingungen ausgeübt werden. Nun lasse der Proponent aber andere Philosophen, die Intuitionen entwickeln, ihre Ansichten vorbringen. Sie werden sich widerstreiten. Die Strategie des Proponenten besteht nun darin, zu zeigen, dass die sich widerstreitenden Intuitionen der unterschiedlichen Parteien auf die eine oder andere Weise auf den vom Proponenten gemachten theoretischen Vorschlag Bezug nehmen. 353 angewiesen. Es liegt also aufgrund der vorangegangenen Argumentation nahe, Menschen zuerst als sinnliche Lebewesen in den Blick zu nehmen. Genau dies soll in diesem Kapitel geschehen. Ich habe mich in der Diskussion des Selbstbewusstseins und bereits zuvor (3.2.4.) in erster Linie auf die visuelle Wahrnehmung bezogen. Der mentale Zustand, auf den ich mich bei der Entwicklung des Arguments für Selbstbewusstsein exemplarisch bezogen habe, ist das Sehen. In diesem Kapitel nun soll gezeigt werden, was Sehen aus der Sicht der Biosemantik ist.754 Wie in den bisherigen Kapiteln auch, werde ich ein für die Biosemantik grundlegendes Thema systematisch rekonstruieren, das sich in Millikans Arbeiten verstreut zwar vorfindet, jedoch nicht eigens ausgearbeitet ist. Erst diese Ausarbeitungen geben der Biosemantik den Boden, auf dem sie als Theorieformation wirklich zu stehen vermag. Nach der Verteidigung des Normativen Naturalismus (Kap. 2), der Existenz natürlicher Normen (Kap. 3) und des Animalismus (Kap. 4), möchte ich in diesem letzten Kapitel eine biosemantische Theorie der Wahrnehmung formulieren. Und wie in den vorhergehenden Kapiteln werde ich von einer gegen die Biosemantik vorgebrachten Argumentation ausgehen und diese nicht nur zurückweisen, sondern mit ihrer Hilfe auch zeigen, wie die biosemantische Theorie der Wahrnehmung fundiert sein muss. Betrachten wir also zunächst die angesprochene Argumentation gegen die Biosemantik. 5.1.1. Ein Biologiemärchen Wie zu Beginn dieser Studie gesagt, kann man grundsätzlich zwei Versionen der Teleosemantik unterscheiden, nämlich eine produzentenorientierte und eine konsumentenorientierte Version (1.1.1.). Die Biosemantik ist eine konsumentenorientierte 754 In der Tat gehören seit Aristoteles das Wahrnehmungsvermögen neben dem Bewegungsvermögen zu den distinkten Merkmalen höherer Tiere, wobei die visuelle Wahrnehmung überwiegend und mit gutem Grund als wichtigste Form der Wahrnehmung betrachtet wurde und wird. Aristoteles widmet dem Sehen, als dem edelsten Sinn, große Aufmerksamkeit (De an., II.5-12). Wie Aristoteles betont, verhilft uns der Sehsinn mehr als andere Sinne zur Erkenntnis der Dinge und erfreut uns um seiner selbst willen (Met., A 980a25). Kant folgt in dieser Nobilitierung Aristoteles (Anthropologie, § 19; AA VII: 156). Im 20. Jh. ist diese Konzentration auf den Sehsinn Gegenstand von Kritik geworden. Der Pragmatismus fordert eine Ablösung der „Zuschauertheorie“ der Erkenntnis durch eine an der Praxis ausgerichtete Auffassung (so Dewey 1998). Die Bevorzugung des Sehsinns führe zu einem falschen Model der Erkenntnis als akkuratem Abbilden der Realität (so Rorty 1979). Die Metaphysik sei einseitig geprägt durch eine Orientierung am Sehen (so Heidegger 1976: 203-238). Das Sehen wird zum Inbegriff der disziplinierenden Macht der Moderne (so Foucault 1976). Mir scheinen alle diese Vorbehalte aus einem übertrieben Bedürfnis der Abgrenzung entstanden zu sein. Zweifellos weisen andere Sinne Besonderheiten auf, die beachtet werden wollen. So scheint Tönen anders als visuellen Eindrücken eine Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit anzugehören, die es eigens zu berücksichtigen gilt (vgl. Dokic 2007). So scheint eine stärkere Privilegierung des Tastsinns und der Leiblichkeit eine veränderte Akzentuierung in der Philosophie der Wahrnehmung zu erlauben (vgl. Gibson 1979; Noë 2004). Doch ignoriert man das Bedürfnis nach Abgrenzung und die Rhetorik des Neubeginns, dann sieht sich der Vorrang der visuellen Wahrnehmung zu Recht in keiner Weise in Frage gestellt. 354 Version.755 Gegen die Konsumentenorientierung hat Paul Pietroski einen viel beachteten Einwand vorgebracht.756 Ihm zufolge führt die konsumentenorientierte Version sowohl zu unplausiblen Zuschreibungen von intentionalen Inhalten als auch zu einem Unvermögen, zwischen intentionalen und teleologischen Verhaltenserklärungen unterscheiden zu können. Rufen wir uns kurz die wesentlichen Elemente der Konsumentenorientierung in Erinnerung (1.1.3.). R-Vehikel müssen durch einen K-Mechanismus – Interpretanten im Sinne von Peirce (1.2.2.) – interpretiert werden, um einen IR-Inhalt zu haben. Der IRInhalt besteht in jenen Bedingungen, mit denen das R-Vehikel gemäß einer (abstrakten) Abbildungsregel korrespondieren muss, damit der K-Mechanismus seine Funktion erfüllen kann. Die Funktion des Konsumenten spielt somit die entscheidende Rolle in der Festlegung des intentionalen Inhalts. Es ist wichtig zu betonen, dass auch Produzenten eine Funktion haben. Deren Aufgabe besteht darin, R-Vehikel hervorzubringen, die gemäß einer Abbildungsregel mit Sachverhalten korrespondieren. K- und P-Mechanismen müssen bei der Hervorbringung von Repräsentationen oder Zeichen also kooperieren. Die Konsumentenorientierung bedeutet somit nicht, dass Produzenten in der Biosemantik keine Rolle spielen (1.1.4.).757 Pietroski benutzt nun eine Art „Biologiemärchen“, um seine Kritik zu formulieren: Es waren einmal die Kimus, sehr einfache Lebewesen, die friedlich und farbenblind am Fuße eines Berges lebten. Zu ihrem Leidwesen wurden sie jeden Morgen von den räuberischen Snorfs heimgesucht. Eines Tages aber bildete der Kimu Jack in Folge einer spontanen Mutation einen Mechanismus aus, der es ihm erlaubte, bestimmte Wellenlängen des Lichts wahrzunehmen, die bei uns der Wahrnehmung der Farbe Rot entsprechen. Aufgrund dieses „Rot-Sensors“ wurde Jack empfänglich für die entsprechende Wellenlänge und ihre Emissionsquellen zogen ihn auf wundersame Weise an. Er bestieg jeden Morgen den Berg, an dessen Fuße die Kimus lebten, um dem Sonnenaufgang näher zu sein. So entging Jack den Raubzügen der Snorfs, die niemals Berge bestiegen. Ebenso erging es jenen Nachkommen Jacks, die den Rot-Sensor ererbt hatten. Und wenn sie nicht gestorben sind, vermehren sie sich noch heute. Der Biosemantik zufolge muss der Inhalt der durch rote Objekte oder Regionen ausgelösten Repräsentation der Rot-Sensoren von Jacks Nachkommen wie folgt bestimmt werden: Die durch den internen Mechanismus produzierten R-Vehikel erlauben es den Inhabern des Rot-Sensors, sich von Snorfs weg zu bewegen. Kimus mit Rot-Sensoren Vgl. WQP: IV; Matthen 2006. Vgl. Pietroski 1992; Macdonald und Papineau 2006: 7-9. 757 Wie Millikan über sich schreibt: „As a corrective to the emphasis that others in the teleosemantic business have placed on the function of the representation producers, Millikan […] has recently been emphasizing the devices that use or ‘consume’ representations. The official statement of Millikan’s position, LTOBC, however, emphazises producer and consumer equally. It also distinguishes the functions of these two from a third and quit different thing, the representation itself. The roles that these three items play are distinct but equally important for an analysis of mental semantics.“ (WQP: 125f.) 755 756 355 haben gegenüber ihren sensorlosen Artgenossen also einen entscheidenden Vorteil, und aus diesem Grund haben die Inhaber des Rot-Sensors überlebt und sich reproduziert. Der IR-Inhalt der R-Vehikel, die der Rot-Sensor produziert, muss also in etwa lauten „snorffreie Richtung!“, wie Pietroski richtig folgert: „For assuming that the relevant consumers of B-tokens [die R-Vehikel des RotSensors] in kimus are the mechanisms that guide kimu behavior, and assuming […] that such mechanisms have the save conduct of kimus as their Proper Function, then what B-token consumers need when they consume B-tokens is that the region indexically specified by the particular B-token be relatively snorf-less.“758 Selbst wenn niemals ein Snorf die Ursache dafür gewesen ist, dass der Rot-Sensor eines Nachfahrens von Jack ein R-Vehikel hervorgebracht hat, hat das Vehikel den IR-Inhalt „snorffreie Richtung!“. Ansonsten fehlt diesen Kimus die Fähigkeit, Snorfs von anderen Dingen zu unterscheiden. Sie sind außer Stande einen Snorf als Fressfeind wahrzunehmen. Nun scheint es laut Pietroski erstens unplausibel, dass Lebewesen, die nicht zwischen A und Nicht-A unterscheiden können, Repräsentationen mit dem Inhalt „A-freie Richtung!“ oder „Nicht-A dort!“ ausbilden. Der IR-Inhalt einer solchen Repräsentation besteht nur akzidentiell und hat keinen direkten Bezug zu den Snorfs. Um Repräsentationen über Snorfs zu bilden, so Pietroski, müssen die einzelnen Kimus doch zuerst einmal Snorfs repräsentieren können, damit diese überhaupt Bestandteil eines IR-Inhalts sein können. Zweitens scheint die Zuschreibung „snorffreie Richtung!“ durch keine empirischen Verhaltensbeobachtungen an Kimus bestätigt werden zu können. Im Gegenteil. Bemalt der Verhaltensforscher einen Snorf mit roter Farbe, werden die Kimus geradewegs auf ihn zu gehen, wie auf andere rote Dinge auch. Dem Verhaltensforscher dürfte sich vielmehr der Schluss nahelegen, dass die Sensoren der Kimus Rotes repräsentieren und nicht „snorffreie Richtung!“. Dieser Schluss dränge sich auch deshalb auf, weil der Sensor nur dadurch aktiv ist, dass er von etwas Rotem affiziert wird. Rote Dinge sind die Ursache für die Aktivierung des Sensors. Drittens verallgemeinert Pietroski seinen Einwand. Man könnte ja sagen, dass Kimus aufgrund ihres Sensors gleichsam Überzeugungen ausbilden. Der Inhalt dieser Überzeugungen würde lauten, dass sich in einer bestimmten Richtung keine Snorfs befinden. Die Wahrheit einer solchen Überzeugung hängt nun in keiner Weise von Snorfs ab, sondern von Objekten, die Licht in einer bestimmten Wellenlänge reflektieren, das bei uns Rotwahrnehmungen verursachen würde. Es scheint unplausibel zu sein, dass der Inhalt einer Wahrnehmungsüberzeugung nicht durch Objekte, Eigenschaften oder Sachverhalte spezifiziert wird, die kausal für die Ausbildung dieser Wahrnehmungsüberzeugung verantwortlich sind, und es scheint unplausibel zu sein, dass der Inhalt einer 758 Pietroski 1992: 274. 356 Wahrnehmungsüberzeugung durch Objekte, Eigenschaften oder Sachverhalte spezifiziert wird, die weder kausal für die Ausbildung dieser Wahrnehmungsüberzeugung verantwortlich sind, noch vom Inhaber der Überzeugung unterschieden werden können.759 Millikan akzeptiert die Inhaltszuschreibung „snorffreie Richtung!“, denn diese Zuschreibung ergibt sich aus der Biosemantik. Die Kritik hingegen muss man nicht akzeptieren. Im Folgenden werde ich drei Reaktionen auf Pietroskis Einwand diskutieren. Die Dreizahl entspricht nicht der eben vorgestellten Zählung der Einwände, sondern eher einer tiefer liegenden Problemschicht, die uns der Einwand freizulegen gestattet. In einer ersten Reaktion werde ich Pietroskis Verallgemeinerung des Einwands und seine Auffassung von Verhaltenserklärungen kritisieren. Pietroski lässt sich nämlich von mangelnden Differenzierungen zwischen Repräsentationsarten und von falschen Ideen über Verhaltenserklärungen in die Irre führen. Auf diesem Wege kann auch festgestellt werde, dass Pietroskis Einwand nicht so sehr auf die biosemantische Auffassung von Überzeugungen zielt, sondern vielmehr auf ihre Auffassung von Wahrnehmungen (5.1.2.). Danach werde ich untersuchen, ob die produzentenorientierte Version der Teleosemantik, wie sie etwa Dretske, Neander oder Tye vertreten, besser dasteht (5.1.3.). Diese Untersuchung erlaubt es, auf grundlegende Probleme der produzentenorientierten Version zu stoßen (5.1.3.1.-5.1.3.4.), sie aber gegenüber einigen Einwänden zu verteidigen, die Annahmen betreffen, die sie mit der Biosemantik teilt (5.1.4.). Endlich werde ich mit dem Nomischen Korrelationsprinzip auf die tiefste Schicht stoßen, auf die Pietroskis Einwand verweist (5.1.5.1.). Die Biosemantik verzichtet nämlich auf zwei Momente, die von vielen philosophischen Wahrnehmungstheorien als für Wahrnehmungen konstitutiv akzeptiert werden, nämlich den Gedanken, dass der Inhalt einer Wahrnehmung durch ein bestimmte Objekt innerhalb der Ursachenkette spezifiziert werden muss (5.1.5.2.) und dass eine Wahrnehmungstheorie bei unserer subjektiven Erfahrung von der Welt anzusetzen hat (5.1.5.3.). Kurz: Sie verwirft die Kausale Theorie der Wahrnehmung. Verzichtet sie nicht auf zu viel? Bevor ich in 5.3. die biosemantische Theorie der Wahrnehmung darstelle (5.3.), wird es deshalb nötig sein, diesen Verzicht ausführlich zu motivieren und zu verteidigen (5.2.). 5.1.2. Erste Reaktion: Mangelnde Differenzierungen Pietroskis Biologiemärchen ist nicht so irreal, wie es den Anschein haben mag. Darin liegt ja die Kraft des Beispiels. Zwischen Jacks Nachfahren und den Magnet-Bakterien (1.1.1.) gibt es nämlich Parallelen. Ebenso wie der Kimu durch die Detektion von bestimmten 759 Vgl. Pietroski 1992. 357 Wellenlängen dazu gebracht wird, snorffreie Richtungen zu repräsentieren, wird das Bakterium durch die Detektion des geomagnetischen Feldes dazu gebracht, die Richtung sauerstoffarmer Wasserschichten zu repräsentieren. In beiden Fällen legt dasjenige, das die R-Vehikel kausal hervorbringt (produziert) nicht den IR-Inhalt fest. Es ist die spezifische Weiterverwendung des R-Vehikels (durch einen kooperierenden Konsumenten), die den IR-Inhalt festlegt.760 In beiden Fällen also ist die Ursache der magnetotaktischen bzw. der fototaktischen Reaktion nicht dasjenige, das durch das Lebewesen repräsentiert wird. Weder repräsentiert das Bakterium die Richtung des Nordpols, noch repräsentiert der Kimu den Sonnenaufgang. Was hätten sie davon? Natürlich muss eine Normale Erklärung – die erklärt, wie eine bestimmte Reproduktiv Etablierte Familie ihre Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt hat (1.1.4.) – solche Ursachen einbeziehen. Sie muss das geomagnetische Feld bzw. rote Objekte oder Regionen erwähnen, wenn sie erklärt, wie die Vorfahren der Bakterien bzw. Jack und seine Sippe die entsprechende Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt haben. Jacks Enkel konnten den Snorfs entkommen, indem sie in die Richtung roter Regionen gingen, und die Bakterien navigierten sich in sauerstoffarme Wasserschichten, indem sie den Linien des geomagnetischen Feldes folgten. Würden nun Verhaltensforscher die Bakterien mittels künstlicher magnetischer Felder untersuchen, so hätten sie keine Schwierigkeiten damit, diese Wesen in für sie toxische Wasserschichten zu lotsen. Offenbar kann es nicht die Funktion der Magnetosome sein, sie in für sie letale Umstände zu lenken oder auf Indikationsspulen zusteuern zu lassen! Ebenso wenig kann es die Funktion der RotSensoren sein, die Kimus in die Arme von rot bemalten Fressfeinden zu treiben oder auf Feuerwehrautos zugehen zu lassen. Der Umstand, dass z.B. männliche Kampffische (Gattung Betta) auf vorbeifahrende Feuerwehrautos mit der Einnahme der Kampfposition reagieren, hat Niko Tinbergen nicht zu der Annahme veranlasst, dass die Einnahme der charakteristischen Kampfposition die Funktion hat, sich gegen rote Dinge aggressiv zu verhalten, sondern zu der Annahme, dass es die Färbung der Rivalen ist, die solch aggressives Verhalten auslöst. Der kausale Auslöser eines Verhaltens bestimmt jedoch nicht dessen Funktion. Zur Erklärung des Verhaltens gehört nicht nur die Ursache, sondern sowohl die Einbeziehung der Lebensform der Kampffische als auch die Beachtung der Funktion des Verhaltens. Die Verhaltenserklärungen des Forschers nötigen ihn also nicht dazu, dasjenige als repräsentierten Inhalt anzuerkennen, das sich als unmittelbarer Auslöser von repräsentationalen Aktivitäten und damit unweigerlich gekoppelten Verhaltensweisen 760 In Tat und Wahrheit ist das Navigationssystem vieler magnetotaktischer Bakterien komplexer als der RotSensor der einfältigen Kimus. 358 anbietet. Es legt sich also weder im Falle der Bakterien der Schluss nahe, dass die Magnetosome sie zum Nordpol führen sollen, noch, dass die Sensoren der Kimus sie auf rote Dinge ansprechen lässt. Was der Verhaltensforscher braucht, um die Verhaltensweisen dieser beiden Wesen zu erklären, ist erstens ein Begriff des Verhaltens, der auf Echte Funktionen Bezug nimmt (1.2.5.) und zweitens ein bestimmtes Maß an Einsicht in die Lebensform, zu der diese Lebewesen gehören (3.3.1.-3.3.2.). Beide Momente sind konstitutiv für Verhaltenserklärungen. Pietroskis Verhaltensforscher gleicht jenen Schildbürgern, die den Aal, der alle Weihnachtskarpfen im Teich gefressen hat, zum Tod durch Ertrinken verurteilen, sich dann aber des sich im Wasser so kläglich windenden Delinquenten erbarmen und ihn in einem Akt der Begnadigung wieder aus dem Wasser nehmen. Die Koppelung von repräsentationalen Aktivitäten und bestimmten Verhaltensweisen führt zu einem nächsten Punkt gegen Pietroski. Bei den in Frage stehenden Repräsentationen (der Bakterien, der Kimus, der Kampffische) handelt es sich um „Pushmi-pullyu-Repräsentation“ (PPR).761 Millikan unterscheidet indikative (oder informierende oder deskriptive) Repräsentationen (wie Überzeugungen), imperativen (oder motivierenden oder direktiven) Repräsentationen (wie Wünschen) und PPRs. Veridische Überzeugungen repräsentieren einen vorhandenen Sachverhalt, erfüllbare Wünsche repräsentieren einen herzustellenden Sachverhalt. Eine PPR enthält sowohl imperative als auch indikative Elemente. Primitive tierliche Signale, wie etwa Warn- oder Paarungssignale, sind PPRs. Wir haben Beispiele für PPRs im Kellenschlag des Bibers (1.1.3.), im Schwänzeltanz der Biene (1.1.5.), oder in der visuellen Wahrnehmung von Paarungspartnern bei Springspinnen (3.2.4.) kennengelernt. Auch das Froschauge, das eine Fliege wahrnimmt (1.1.3), produziert ein PPR. Der Wahrnehmung der Fliege (indikativ) folgt instantan das Herausschleudern der Zunge (imperativ). PPRs finden sich auch als Aussagen in natürlichen Sprachen („Nein, Hänschen, wir essen nicht mit den Fingern!“, „Die Sitzung ist hiermit beendet!“, „Das tut der Katze doch weh!“).762 Aus diesem Grund hat die sprachliche Formulierung des Inhalts der Kimu-Repräsentation die Form Vgl. VM: VI, XIII; LBM: IX. Das Fabeltier Pushmi-pullyu taucht auf in Hugh Loftings Kindergeschichte The Voyages of Dr. Dolittle (1922). Es handelt sich dabei um gazellenartige Tiere ohne Schwanz, dafür mit einem Kopf an jedem Ende und Hörnern auf jedem Kopf. In der Übersetzung heißt dieses Tier „StossmichZiehdich“. Dolittle bringt ein solches Tier mit nach England und wird gefragt, was das für zwei Tiere sind: „Oh, that, said the Doctor with a smile. That isn’t two animals, it’s one animal with two heads.“ (Lofting 1922: 43) 762 Folgt man der Wahrnehmungstheorie von Gibson, dann handelt es sich bei Wahrnehmungsrepräsentationen um PPRs. Gibson zufolge repräsentieren die perzeptiven Systeme eines Lebewesens „Eignungen“ (affordances) in der Umwelt für bestimmte Verhaltensweisen (die ich „Aneignungen“ nennen werde). Ich komme darauf in 5.3.3.3. ausführlich zu sprechen. 761 359 „snorffreie Richtung!“. Das Ausrufezeichen soll den direktiven Aspekt dieser PPR sichtbar machen. Ich möchte diesen Punkt nun vertiefen, damit wir dadurch von der falschen Fährte abkommen, auf die uns Pietroski gesetzt hat. Erst wenn wir diese falsche Fährte verlassen, dann können wir erkennen, worin die eigentliche Kraft des Einwands von Pietroski besteht. Kimus und Magnetbakterien verfügen über keine ausdifferenzierten repräsentationalen Fähigkeiten, sondern ihre Repräsentation sind, wie im Falle der meisten einfachen Lebewesen, PPRs. Die falsche Fährte führt nun vom Biologiemärchen zur biosemantischen Theorie von Überzeugungen. Diese falsche Fährte verdankt sich nicht zuletzt der unglücklichen Art und Weise, wie seit Fodors Kritik der Teleosemantik das eben angeführte Froschbeispiel als Beispiel für die teleosemantische Erklärung des Inhalts von Überzeugungen verwendet wird.763 Nun führt zwar ein Weg von der Diskussion des visuellen Systems eines Frosches zu einem Repräsentationssystem, das Überzeugungen auszubilden vermag, aber der Weg ist nicht so kurz, dass die Wahrnehmung des Frosches als Überzeugung behandelt werden kann (1.1.6.). Ebenso wenig hat ein Bakterium die Überzeugung, dass in der und der Richtung günstige Umweltbedingungen zu finden sind. Auch das ungleich komplexere Repräsentationssystem der Bienentänze vermag keine Überzeugungen auszubilden. Das Verhalten von Lebewesen wie Kimus, Bakterien, Springspinnen oder Fröschen wird nicht durch eine der Wunsch-Überzeugungs-Theorie analoge Form der Verhaltenserklärung erklärt, sondern durch PPRs. Es mag nun einleuchtend erscheinen, imperative von indikativen Komponenten zu unterscheiden, aber weshalb als Komponenten ein und derselben Repräsentation? Man sollte diese Komponenten aus folgendem Grund nicht auf zwei unterschiedliche Repräsentationen verteilen: Frösche beispielsweise sind nicht in der Lage, ihr Fressverhalten ihrem Sättigungsgrad anzupassen. Jede vorüberschwirrende Fliege ist nicht nur Anlass für eine Information, sondern stets Gelegenheit für ein bestimmtes Verhalten. Die Repräsentation der Fliege muss also zugleich als indikativ und imperativ betrachtet werden. Doch selbst wenn der Frosch über seinen Sättigungsgrad irgendwie informiert wäre, würde daraus nicht folgen, dass sein Hunger die Rolle eines Wunsches und seine Wahrnehmung einer Fliege die Rolle einer Überzeugung spielen müsste. Und zwar nicht allein deshalb, weil die entsprechenden Repräsentationen nicht die Bedingungen erfüllen, die Überzeugungen der Biosemantik zufolge erfüllen müssen, sondern einfach deshalb, weil der Stand der Sättigung eine interne Bedingung für die Aktivierung einer PPR sein kann. Eine Ausdifferenzierung in indikative und imperative Zustände tritt erst auf, wenn ein 763 Vgl. Fodor 1992; Allen 2001. 360 Lebewesen über ein ausreichendes komplexes und reichhaltiges Repräsentationssystem verfügt – komplex und reichhaltig im Sinne der TRS (1.2.7.) –, das es erlaubt, Informationen über die Umwelt von spezifischen Verhaltensweisen abzukoppeln und sie für verschiedene Verhaltensdispositionen zu verwenden. Wenn eine Repräsentation nicht mehr an ein spezifisches Verhalten gebunden ist, hat sie auch keine imperative Komponente mehr. Sie kann als rein indikativ betrachtet werden. Indikative Komponenten können sich dadurch von Verhalten abkoppeln, dass sie allgemein verwertbare Informationen (etwa in Form einer „mentalen Karte“ des Reviers) bereit stellen, imperative Komponenten dadurch, dass sie bestimmte Bedürfnisse und Triebe als zu erstrebende Ziele repräsentieren (und so beispielsweise unterdrückt werden können).764 Allgemein gilt: Je stärker indikative und imperative Komponenten ausdifferenziert sind, je stärker indikative oder imperative Repräsentationen von bestimmten und unmittelbaren Verhaltensweisen abgekoppelt sind, je expliziter Sachverhalte durch indikative und Ziele durch imperative Repräsentationen repräsentiert werden und je flexibler seine Repräsentations- und Reaktionspaletten verbunden sind, desto höher steht das Lebewesen kognitiv, desto kognitiv komplexer ist es. Kimus sind nicht kognitiv komplex. Denn die indikativen und imperativen Komponenten des durch den Rot-Sensor hervorgebrachten Repräsentations-Typ in keiner der genannten Weisen ausdifferenziert. Es gibt also keinen Grund dafür, die in Pietroskis Biologiemärchen aufgeworfenen Vorbehalte auf die biosemantische Theorie der Überzeugungen zu übertragen. Es scheint vielmehr der Fall zu sein, dass diese Übertragung das Wesen der Theoriekonstruktion grundlegend verkennt (1.1.6.). Weder Pietroskis Einwand, dass die Biosemantik zu unplausiblen Inhaltszuschreibungen und Verhaltenserklärungen führt, noch sein generalisierter Einwand können deshalb überzeugen. 5.1.3. Zweite Reaktion: Kritik der produzentenorientierten Version Wie steht es mit der Anforderung einer kausalen Relation zum Repräsentierten im Falle veridischer Repräsentationen? Es macht ganz den Anschein, als wären produzentenorientierte Teleosemantiken diesem Einwand Pietroskis nicht ausgesetzt, weil sie einerseits den IR-Inhalt durch die Echte Funktion der die R-Vehikel produzierenden PMechanismen festlegen und andererseits fordern, dass solche Funktionen auf der Grundlage kausaler oder informationaler Relationen aufbauen müssen. Wenn der Rot-Sensor der Kimus etwas repräsentieren, dann rote Objekte oder Regionen. Ihr Sensor trägt 764 Für weitere Stufen der Differenzierung vgl. VM: XIII-XVIII und Wild 2008. 361 Information über bestimmte Wellenlängen und er hat die Echte Funktion, diese Information zu tragen. Dass der Kimu dadurch den Snorfs entwischt, ist einfach ein glücklicher Nebenumstand. Läuft ein rothungriger Kimu einem Snorf in die Fänge, dann leidet er nicht unter den Folgen eines Irrtums, sondern unter großen Pech.765 Ich denke nicht, dass die produzentenorientierte Version der Teleosemantik besser fährt. Sie gerät vielmehr in eine Reihe von Schwierigkeiten. Ich werde zunächst eine gut artikulierte produzentenorientierte Version darstellen, nämlich jene von Dretske.766 Im Anschluss daran werfe ich Probleme für diesen Ansatz auf. Dabei handelt es sich um Probleme im Informationsbegriff (5.1.3.1.), um die Verwechslung zwischen R-Inhalt und IR-Inhalt (5.1.3.2.), um das Unvermögen der Inhaltsfestlegung (5.1.3.3.) und um einen grundlegenden Fehler im Hinblick auf phänomenale Inhalte (5.1.3.4.). Zwei auch für die biosemantische Wahrnehmungstheorie nicht unerhebliche Aspekte werde ich hingegen verteidigen, nämlich die These, dass (visuelle) Wahrnehmungen Repräsentationen sind (5.1.4.1.) und die Annahme eines nicht-begrifflichen Inhalts (5.1.4.2.). Dretskes Modell für mentale Repräsentationen sind nicht tierliche Signale wie Bienentänze, sondern technische Geräte wie Thermostate, Luftdruckmesser, Geschwindigkeitsanzeigen oder Tankuhren.767 Ebenso wie solche Geräte die Aufgabe haben, Zustände außerhalb von ihnen anzuzeigen, haben Repräsentations-Systeme die Aufgabe, Zustände des Körpers oder der Außenwelt anzuzeigen (to indicate). Das Anzeigen fasst Dretske als das Tragen von Information über einen Zustand, das Haben der Aufgabe als das Haben einer Funktion: „[A] system, S, represents a property, F, if and only if S has the function of indicating (providing information about) the F of a certain domain of objects.“768 Künstliche Repräsentations-Systeme, wie etwa Messgeräte, erhalten diese Funktion von uns, ihren Erbauern, zugewiesen. Angeborene natürliche RepräsentationsSysteme, wie es Sinnesorgane sind, erhalten ihre Funktionen von der Evolution zugewiesen, erworbene natürliche Repräsentations-Systeme, wie Überzeugungssysteme, primär durch Lernprozesse. Zustände natürlicher Repräsentations-Systeme sind mentale Repräsentationen. Dretske charakterisiert seine Position im Hinblick auf mentale Repräsentationen durch folgende These: Alle mentalen Tatsachen sind repräsentationale Etwas Ähnliches gilt Dretske zufolge auch für die Magnetbakterien, vgl. Dretske 1986. Dretskes und Tyes Ansätze sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar. Im Unterschied zu Tye, der lediglich darauf verweist, dass Repräsentation Kovariation unter idealen Bedingungen sei (Tye 1995: 101, 153), hat Dretske eine ausgearbeitete Theorie der mentalen Repräsentation. Tye 1995, 2000 verteidigt seine Theorie des phänomenalen Gehalts gegen eine Vielzahl von Einwänden, während Dretske 1995 seine Theorie des phänomenalen Gehalts eher vorstellt als verteidigt. 767 Vgl. McGinn 1997: 528: „Who could have thought that so much philosophy could be extracted from reflection on the humble speedometer? Fred Dretske is the world’s leading theorist of this simple measuring device.“ 768 Dretske 1995: 2. 765 766 362 Tatsachen und alle repräsentationalen Tatsachen sind Tatsachen über informationale Funktionen.769 Im Folgenden interessiere ich mich in erster Linie für angeborene natürliche Repräsentations-Systeme und deren Zustände. Erstens werden mentale Repräsentationen durch die Begriffe der Information und der Funktion erklärt. Zum Begriff der Funktion findet sich bei Dretske wenig. Allerdings vertritt er einen Funktionsbegriff, der in relevanten Hinsichten mit dem hier vertretenen, ätiologischen Begriff der Echten Funktion übereinstimmt. Unter Information versteht Dretske grob gesagt Folgendes: Information ist eine objektive Größe, die in Begriffen von gesetzesartigen Beziehungen, die zwischen verschiedenen Ereignissen und Strukturen bestehen, definiert wird.770 Der Begriff der Information ist abhängig von Naturgesetzen, nicht von intentionalen Akteuren, die etwas als Information nutzen. Soll ein Zustand A über einen Zustand B Informationen tragen, so müssen A und B in einer naturgesetzlichen Relation zueinander stehen.771 Dretske versteht Naturgesetze als Relation zwischen Universalien.772 Sein Begriff der Information ist also von dem des Naturgesetzes abhängig. Damit ist auch sein Begriff der Repräsentation von dem des Naturgesetzes abhängig. Zweitens behauptet Dretske, dass alle Aspekte des Mentalen auf die so erklärten mentalen Repräsentationen zurückgeführt werden können. Dies gilt insbesondere für die drei Elemente der Subjektivität, nämlich für (i) die Bewusstheit mentaler Zustände (im Unterschied zu unbewussten mentalen Zuständen, (ii) die Introspektion der eigenen mentalen Zustände (im Unterschied zum bloßen Haben bewusster mentaler Zustände) und (iii) den phänomenalen oder qualitativen Charakter einiger Klassen von mentalen Zuständen, wie Sinneserfahrungen, Körperempfindungen, Emotionen und Stimmungen (im Unterscheid zu Überzeugungen, Absichten oder Wünschen), wobei der phänomenale Charakter die Eigenschaften beispielsweise von Sinneserfahrungen bezeichnen, die dafür verantwortlich sind, wie einem Subjekt diese Erfahrungen erscheinen, wie sie sich für das Subjekt anfühlen. Welche Behandlung lässt Dretske den drei Momenten der Subjektivität angedeihen? Im Hinblick auf (i) vertritt Dretske die These, dass ein mentaler Zustand Z1 aufgrund intrinsischer Eigenschaften bewusst ist, und nicht aufgrund einer externen Relation zu einer höherstufigen Repräsentation Z2, die Z1 repräsentiert. Dretske vertritt also im Hinblick auf (i) einen Repräsentationalismus erster Stufe, keinen Repräsentationalismus Dretske 1995: xiii. Vgl. Dretske 1981, 2008. 771 Vgl. Dretske 1981: 74f. 772 Ohne Universalien keine Naturgesetze. Wenn es also Naturgesetze gibt, dann gibt es auch Universalien, vgl. Dretske 1977: 267. 769 770 363 zweiter Stufe.773 Ein wichtiges Problem besteht hier darin, dass unklar ist, wie sich bewusste von unbewussten mentalen Zuständen unterscheiden sollen. Dies führt u.a. zu der problematischen Position, dass für ein Subjekt unbewusste Zustände als eigentlich bewusst betrachtet werden müssen. Im Hinblick auf (ii) vertritt Dretske einen komplexen Ansatz, den er in unterschiedlichen Fassungen vorgelegt hat. Im Wesentlichen geht es ihm darum, die Introspektion nach dem Modell der versetzten Wahrnehmung zu modellieren. Ein Subjekt weiß, was hinter seinem Rücken geschieht, wenn es in einen Spiegel blickt. Dies ist ein Beispiel für versetzte oder verschobene Wahrnehmung. In Analogie dazu versteht Dretske die Introspektion. Ein Subjekt weiß, was in seinem Geist vorgeht, wenn es sich auf den Inhalt seiner Repräsentationen konzentriert. Da Dretske mentalen repräsentationalen Inhalt (nicht aber die mentalen repräsentationalen Vehikel) strikt externalistisch auffasst, weiß ein Subjekt, was in seinem Geist vorgeht, wenn es gleichsam nach draußen blickt. Es handelt sich bei der Introspektion also um „Extrospektion“. Hinzu kommt, dass ein Subjekt über eine Theorie des Geistes verfügen muss, um zur Introspektion fähig zu sein. Ein heikler Punkt findet sich darin, dass unklar ist, worin eine Theorie des Geistes bestehen soll (4.4.). Ein weiterer heikler Punkt besteht in der Konsequenz, dass ein Subjekt nicht wissen kann, ob es wirklich phänomenale Zustände hat oder nicht (und nur ein Zombie ist, der irrigerweise glaubt, in einem phänomenalen Zustand zu sein).774 Im Hinblick auf (iii) vertritt Dretske die Auffassung, dass der phänomenale oder qualitative Charakter der entsprechenden Klassen mentaler Zustände nicht als eine Menge intrinsischer Eigenschaften des repräsentierenden Vehikels aufgefasst werden sollte, sondern als Repräsentation externer Eigenschaften. Mit anderen Worten: Die scheinbar nicht-intentionalen Eigenschaften der entsprechenden Klassen mentaler Zustände werden auf intentionale Eigenschaften dieser Zustände reduziert.775 Der phänomenale Charakter eines mentalen Zustandes (gebildet durch seine Qualia) wird mithin nicht durch Eigenschaften der Repräsentation selbst konstituiert, sondern durch externe Eigenschaften der (in einer spezifischen Modalität) repräsentierten Objekte.776 Wie steht es mit Dretske ist wie Tye 1995 ist ein Anhänger von FOR („First Order Representationalism“), nicht von HOR („Higher Order Representationalism“) wie z.B. auch Carruthers 2000. 774 Vgl. Dretske 2006. 775 „Qualia in einer Sinnesmodalität M (für S) sind die Weisen, wie Objekte S in M phänomenal erscheinen. Im Einklang mit der repräsentationalistischen These identifiziere ich Qualia weiterhin mit phänomenalen Eigenschaften – jenen Eigenschaften, mit denen ein Objekt (gemäß der These) sinnlich repräsentiert […] wird.“ (Dretske 1995: 73). 776 Diese These wird als „Repräsentationalismus“ oder „Intentionalismus“ bezeichnet. Da es zahlreiche Thesen und Theorien gibt, auf die der Begriff des Repräsentationalismus angewendet wird, müsste man ausdrücklicher von einem „externalistischen Repräsentationalismus im Hinblick auf den phänomenalen Charakter oder Qualia“ sprechen. 773 364 Wahrnehmungshalluzinationen? In solchen Fällen finden sich ja keine repräsentierten Objekte und deshalb auch keine repräsentierten Eigenschaften solcher Objekte. Dennoch haben Wahrnehmungshalluzinationen einen phänomenalen Charakter. Dem Subjekt einer solchen Halluzination scheint es so, als würden vor ihm rosa Elefanten tanzen. Welche Eigenschaften werden hier repräsentiert? Dretskes Antwort lautet, dass das Subjekt, anders als im veridischen Falle, keine instantiierten Eigenschaften, sondern uninstantiierte Eigenschaften repräsentiere, wie „Rosaheit“ und „elefantenhaftes Aussehen“. Solche Eigenschaften versteht Dretske als Universalien, und zwar merkwürdigerweise deshalb, weil im veridischen Falle eine Rosawahrnehmung eine informationale Relation zu einer Instantiierung von Rosaheit unterhält. Das halluzinierende Subjekt repräsentierte folglich unintantiierte Universalien. Verpflichtet sich Dretske damit nicht auf einen abstrakten Universalienrealismus?777 5.1.3.1. Information als Grundlage? Die Grundlage für Dretske Version der Teleosemantik ist sein Begriff der Information. Es ist eine notwendige Bedingung dafür, dass ein R-Vehikel o veridisch als F repräsentiert, dass das Vehikel die Information trägt, dass oF. Hinzukommt, dass das Vehikel Bestandteil eines Systems sein muss, dass die Echte Funktion hat, Vehikel hervorzubringen, die Informationen über Eigenschaften vom Typ F tragen. Das visuelle System etwa hat die Echte Funktion Informationen über bestimmte Farbeigenschaften zu tragen. Zustände des visuellen Systems sind deshalb Repräsentationen von Farbeigenschaften, nämlich veridische Repräsentationen, wenn sie tatsächlich die Information tragen, dass o rot ist; falsche, wenn sie repräsentieren, dass o rot ist, o aber nicht rot, sondern grün ist; halluzinatorische, wenn sie repräsentieren, dass o rot ist, aber kein o existiert. Der RotSensor der Kimus hätte die Echte Funktion Informationen über die Farbeigenschaft Rot zu tragen. Dies legt sogleich die Frage nahe, inwiefern das Haben von Information über Farbeigenschaften für den Kimu biologisch relevant sein soll. Es wird sich zeigen, dass Dretskes Teleosemantik nur äußerlich auf die Natürliche Selektion bezogen bleibt und somit keine naturalistische Antwort auf Kants Frage bereit stellt (1.1.2). Wichtig für diesen Nachweis ist nun Dretske These, dass ein biologisches System, wie der Rot-Sensor oder ein Magnetosom, niemals die Echte Funktion hätte erwerben können, Rot bzw. die Richtung des geomagnetischen Nordpols zu repräsentieren, wenn die Vorfahren dieser Systeme diese 777 Vgl. dazu Schmid 2006. 365 Informationen nicht tatsächlich getragen hätten. Hieraus ergeben sich Probleme für eine produzentenorientierte Teleosemantik. Zunächst ist die Formulierung, es sei die Funktion eines Zustandes, Information über F zu tragen, unverständlich. Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen. Es ist die Funktion von etwas, etwas Bestimmtes zu bewirken oder hervorzubringen. Wenn es aber die Funktion einer Repräsentation sein soll, Informationen über F zu tragen, und ein Zustand nur dann Informationen über F trägt, wenn F tatsächlich vorliegt, dann ist es die Funktion dieses Zustandes, die selektierte Wirkung zu haben, dass F tatsächlich instantiiert ist, d.h. zu bewirken, dass F tatsächlich vorliegt! Doch zumindest ein indikativer, repräsentationaler Zustand kann nicht bewirken, dass sein Repräsentandum vorliegt, nicht einmal im veridischen Fall, und ebenso wenig kann er bewirken, dass er über F Information trägt. Zweitens verbaut sich die produzentenorientierte Version Dretskes die Möglichkeit zu erklären, wie Repräsentations-Systeme, wie sie durch das Magnetbakterium veranschaulicht werden, eine für sie nützliche Umweltbedingung anzeigen können. Es besteht eine naturgesetzliche – und das hießt: informationale – Relation zwischen der Ausrichtung der Magnetosome und der Richtung des geomagnetischen Nordpols. Die Magnetosome repräsentieren demzufolge die Richtung des geomagnetischen Nordpols. Doch das Bakterium braucht keinen Nordpol, es braucht sauerstoffarme Wasserschichten. Zwischen dem geomagnetischen Nordpol und sauerstoffarmen Wasserschichten besteht jedoch keine naturgesetzliche Relation, mithin auch keine informationale Relation. Der produzentenorientierten Version zufolge ist es für die Magnetosome des Bakteriums also schlechterdings unmöglich, eine für diese vorteilhafte Umweltbedingung anzuzeigen, weil es niemals die Funktion erwerben kann, Information über die Richtung sauerstoffarmer Wasserschichten zu tragen. Dretske meint: „The fundamental idea is that a system, S, represents a property, F, if and only if S has the function of indicating (providing information about) the F of a certain domain of objects.“778 Indikationsrelationen sind anspruchsvoll. Ein Zustand s von S ist nur dann ein Indikator für F, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass F vorliegt, wenn s auftritt, gleich 1 ist. Anders gesagt: Wäre F nicht vorgelegen, so wäre S nicht in den Zustand s übergegangen. Dretskes Ausarbeitung des Informationsbegriffs ist von verschiedener Seite vorgeworfen worden, dass die sehr starke wahrscheinlichkeitstheoretische Formulierung (p = 1) verhindere, dass irgendetwas 778 Dretske 1995: 2. 366 Informationen tragen könne.779 Dagegen mag man einwenden, dass Dretske seinen Informationsbegriff nicht immer so strikt versteht, wie er ihn einführt. Auch hohe Zuverlässigkeit reicht offenbar aus.780 Doch selbst bei dieser liberalen Variante bleibt das folgende Problem: Das Tragen von Information (Indikation) ist für Repräsentation vor einem biologischen Hintergrund (i) weder notwendig, (ii) noch erklärt es, was ein Zustand repräsentiert.781 (i) Erstens kann ein Zustand die Funktion erwerben, etwas anzuzeigen, selbst wenn er relativ unzuverlässig ist. Lebewesen entwickeln Detektoren für Beutetiere oder Fressfeinde. Die Entwicklung solcher Detektoren ist nicht dadurch bedingt, dass sie Beute oder Feinde mit der Wahrscheinlichkeit gleich 1 oder größter Zuverlässigkeit anzeigen, sondern, dass sie diese oft genug anzeigen und dass das Verhältnis von Kosten und Nutzen für die Evolution der Detektoren günstig ausfällt. So müssen etwa Detektoren für Fressfeinde weniger daran gemessen werden, dass sie zuverlässig Information über Fressfeinde tragen, mithin am laufenden Band richtige Positive liefern („Ein Feind!“, wenn einer da ist), sondern in erster Linie daran, dass sie weniger falsche Negative („Kein Feind!“, wenn einer da ist) denn falsche Positive („Ein Feind!“, wenn keiner da ist) liefern. Mit anderen Worten: Die Zuverlässigkeit eines Indikators kann niedrig sein, und er kann dennoch adaptiv wertvoll sein und so eine biologische Funktion erwerben. (ii) Zweitens kann ein Zustand zwar bestimme Umweltbedingungen als zuverlässiger Indikator anzeigen, dies bedeutet jedoch nicht, dass es diese Umweltbedingungen sind, die vom Zustand repräsentiert werden. Bewegungen im Spinnennetz zeigen der Spinne zuverlässig die Richtung der Quelle für diese Bewegungen an. Was auch immer die Quelle der Bewegung ist, sie ist für die Spinne uninteressant, wenn es sich nicht um Beute handelt. Der Biosemantik zufolge, produziert ein P-Mechanismus ein R-Vehikel, dessen Struktur mit bestimmten Strukturen in der Umwelt isomorph ist. Bewegt ein Kind mit einem Stöcklein sanft das Netz, so ist das R-Vehikel nicht nur isomorph mit den Bewegungen des Stöckchens, sondern auch mit jenen der Hand, mit beliebigen neuronalen Vorgängen im Nervensystem des Kindes, die mit seinen Handbewegungen korreliert sind, und mit dem Lied, dass es zum Takt der Stöckchenbewegung singt. Nichts davon wird durch das RVehikel repräsentiert, obschon das Vehikel mit diesen Strukturen korrespondiert. Repräsentiert wird vielmehr „Spinnenfutter“; und zwar, weil dies die Bedingung ist, die vorliegen muss, damit das Verhalten der Spinne erfolgreich ist (mehr dazu in 5.1.3.3.). Dretskes Version der Teleosemantik scheint mir aus diesen Gründen als naturalistische Theorie der Repräsentation ungeeignet, weil sie mit der von ihr in Anspruch Vgl. Putnam 1986; Loar 1991. Vgl. Dretske 1986: 18, 1988: 97; Neander 1996. 781 Vgl. Godfrey-Smith 1989, 1992. 779 780 367 genommenen Hintergrundtheorie, nämlich der Theorie der natürlichen Selektion, nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann. Der Grund dafür liegt im Informationsbegriff, der die Idee der Repräsentation konfus (erster Einwand) macht, evolutionäre Erklärungen nicht unterstützen kann (zweiter Einwand) und nicht geeignet ist, die Entstehung von repräsentationalen Systemen, die eine biologische Funktionen haben, verständlich zu machen (dritter Einwand). Keines dieser Probleme trifft die Biosemantik. Natürlich ist die Forderung nach einer informationalen Relation nichts Anderes als die von Pietroski erhobene Forderung nach einer kausalen Relation. Weil diese Forderung mehr Probleme schafft als beseitigt, sollten wir sie fallen lassen. 5.1.3.2. Die Verwechslung von R-Inhalt und IR-Inhalt Zu Beginn von 5.1.3. habe ich darauf hingewiesen, dass es sich bei Dretskes und Tyes Theorie hinsichtlich der Frage, was einen Zustand bewusst mache, um einen Repräsentationalismus erster Stufe (FOR) handelt, der einem Repräsentationalismus zweiter Stufe (HOR) gegenüber gestellt wird. Der Unterschied zwischen diesen Positionen besteht in der Antwort auf die Frage, was einen Zustand Z bewusst macht. FOR zufolge geschieht dies durch intrinsische Eigenschaften von Z, HOR zufolge durch eine bestimmte relationale Eigenschaft von Z, nämlich durch die Repräsentation von Z durch einen höher stufigen repräsentationalen Zustand. Die Frage nun, wie sich bewusste von unbewussten Zuständen unterscheiden, beantworten sowohl Tye als auch Dretske mit dem Hinweis der Verfügbarkeit der Repräsentation durch den Organismus für weitere kognitive Aktivitäten. Eine Repräsentation ist bewusst, wenn sie zur Bildung einer (vielleicht nur sehr simplen) Wahrnehmungsüberzeugung bereit steht (Tye: poised) oder dazu dienlich ist (Dretske: serviceable). Die einem Organismus bewussten Erfahrungen mit phänomenalem Charakter sind Dretske zufolge jene angeborenen natürlichen Repräsentationen, die der Konstruktion von erworbenen natürlichen Repräsentationen dienen, die wiederum der effizienteren Erfüllung der Bedürfnisse und Wünsche eines Organismus dienlich sind.782 Dretske schreibt einer natürlichen systemischen Repräsentation also zwei Funktionen zu. Die erste Funktion besteht darin, Informationen über etwas zu tragen, die zweite darin, der Konstruktion von erworbenen natürlichen Repräsentationen dienlich zu sein. Durch die erste Funktion hat die Erfahrung einen phänomenalen Inhalt, durch die zweite wird sie bewusst. (Im Unterschied zu HOR wird nicht verlangt, dass die Erfahrung durch einen 782 Dretske 1995: 19. 368 zweiten Zustand repräsentiert wird, um bewusst zu sein.) Nennen wir die erste Funktion „Indikatorfunktion“, die zweite „Servicefunktion“. Nun unterscheidet sich die produzentenorientiert Version der Teleosemantik jedoch nicht mehr von der konsumentenorientierten Biosemantik. Die Indikatorfunktion besteht darin, bestimmte Repräsentationen zu produzieren (nämlich angeborene natürliche Repräsentationen), die Servicefunktion darin, diese Repräsentationen für den Organismus auf bestimmte Weise nutzbar zu machen (nämlich für die Konstruktion natürlicher erworbener Repräsentationen, die das Verhalten des Lebewesens steuern). Dies entspricht der biosemantischen Unterscheidung der Funktion von P-Mechanismen und der Funktion von K-Mechanismen. Der entscheidende Unterschied besteht freilich darin, dass Dretske zufolge ein Zustand Z eines P-Mechanismus (etwa des visuellen Systems) bereits als solcher einen IR-Inhalt hat und dass die Relation der Verfügbarkeit für einen K-Mechanismus diesen IR-Inhalt lediglich noch bewusst macht. Allerdings wird dieser Relation aufgetragen, dafür zu sorgen, dass Z für das Lebewesen überhaupt irgendeinen Nutzen erfüllt. Daraus folgt, dass die Indikatorfunktion als solche dem Lebewesen keinen Nutzen bringt, sondern erst die Servicefunktion. Dies bedeutet, dass der Indikator als solcher keine Echte Funktion erwerben kann, sondern nur vermittelt über die Servicefunktion. Der Grund besteht darin, dass der Indikator im Verlauf der Selektionsgeschichte der betreffenden Lebensform den Lebewesen irgendeinen Nutzen verschafft haben muss, um überhaupt eine Indikatorfunktion zu erhalten. Doch dieser Vorteil kann nur aufgrund der Servicefunktion wirksam werden. Daraus folgt: Ein Zustand Z eines P-Mechanismus kann nicht bereits als solcher einen IR-Inhalt haben. Denn der IR-Inhalt wird durch eine Echte Funktion festgelegt und es ist nicht die Indikatorfunktion, die diese Rolle übernehmen kann, sondern die Servicefunktion. Mit anderen Worten: Nicht der Produzent legt den IR-Inhalt fest, sondern der Konsument. Die produzentenorientierte Version der Teleosemantik schreibt bereits den R-Vehikeln einen IR-Inhalt zu und übersieht, dass diese lediglich über einen R-Inhalt verfügen. Der R-Inhalt ist kein Inhalt im eigentlichen Sinne, sondern besteht lediglich in einer Kausal-, Informations- oder Isomorphie-Relation zwischen Vehikel und Strukturen in der Welt. Nichts am R-Vehikel legt nahe, welches die Strukturen wären, die den IR-Inhalt des Vehikels festlegen würden. Wird eine bestimmte Vehikel-Struktur-Korrelation ohne Bezug auf einen kooperierenden Konsumenten ausgezeichnet, dann verfällt man entweder einer Form des Mythos des Gegebenen oder überlässt die Festlegung des Inhalts einer externen Instanz. Im ersten Fall übernimmt die Information oder Indikation die Rolle des Gegebenen, im zweiten Fall übernimmt ein externer Betrachter (etwa der Neurologe) die 369 Aufgabe, die Korrelation festzustellen und ungerechtfertigterweise zu objektivieren. Im ersten Fall wird keine naturalistische Erklärung des intentionalen Inhalts geleistet und in zweiten Fall keine naturalistische Erklärung desselben. Erst der Rückgriff auf die Servicefunktion weicht dieser unangenehmen Alternative aus und führt direkt zur konsumentenorientierten Version der Teleosemantik: zur Biosemantik. 5.1.3.3. Das Problem der Gehaltsbestimmung Die Zuschreibungen von Funktionen gegenüber Merkmalen mit Echten Funktionen sind bekanntlich bedroht durch Unbestimmtheit. Wenn solche Zuschreibungen unbestimmt sind, dann auch die Zuschreibungen von IR-Inhalten auf der Grundlage Echter Funktionen. Wenn die Zuschreibung von IR-Inhalten unbestimmt ist, so ist unklar, unter welchen Bedingungen ein R-Vehikel fehlrepräsentiert. Doch dann ist das Kriterium zur Beantwortung von Kants Frage nicht erfüllt, nämlich die Lösung des Problems der Fehlrepräsentation (1.1.3.). Dieses Problem wird in der Literatur anhand des Beispiels eines Frosches, der nach einer Fliege schnappt, diskutiert. Fodor, der das Beispiel eingeführt hat, ist der Ansicht, dass teleologische Theorien an prinzipieller Unterbestimmtheit leiden, und deshalb das Problem der Fehlrepräsentation nicht lösen können.783 Betrachten wir das Beispiel genauer. Unterschiedlich spezialisierte Typen von Retinazellen von Fröschen reagieren selektiv auf bestimmte Stimulusklassen. So reagiert der „Convex Edge Detector“ (CED) vorwiegend auf kleine, dunkle, bewegte Objekte. Dabei handelt es sich vorwiegend um Insekten (Fliegen, Mücken, Käfer, Ameisen usw.). CED detektiert also Beutetiere. Nehmen wir nun vereinfachend an, dass CED direkt einen Mechanismus auslöst, der für das Schnappen nach Insekten verantwortlich ist. Detektiert der Frosch eine Fliege, so schnappt er sogleich nach ihr, indem er seine Schleuderzunge betätigt. Es ist für Frösche natürlich vorteilhaft, sich Beutetiere als Futter einverleiben zu können. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass spezialisierte Retinazellen eine ganze Reihe von für den Frosch unerheblichen Informationen ausfiltert. So kann der Frosch unmittelbar auf Beutetiere reagieren. Fodor gibt nun folgende Spielregeln vor: CED reagiere auf kleine, dunkle, bewegte Objekte (KDBO), worunter auch Bleikügelchen 783 Vgl. Fodor 1990a. Das Beispiel geht zurück auf den Aufsatz „What the Frog’s Eye Tells the Frog’s Brain“ (1959) von J.Y. Lettvin et al. Die ursprünglich am Leopardfrosch (Rana pipiens) durchgeführten und später vertieften empirischen Untersuchungen wurden für die philosophischen Zwecke massiv vereinfacht. Dagegen haben etwa Allen 2001 und Neander 2006 Einspruch erhoben: Wenn die Teleosemantik eine naturalistische Theorie des Inhalts neuronaler Zustände sein soll, muss sie auch anhand empirische fundierter und reichhaltiger Beispiele durchgeführt werden können. Ich habe durchaus Sympathien für diesen Gedanken. Doch die Frage, ob die Teleosemantik eine Lösung des Problems der Fehlrepräsentation durch die drohende Unbestimmtheit der Funktionszuschreibung beheben kann, muss eine Antwort finden, bevor der Ansatz zum Einsatz kommt. Insofern sind vereinfachte Beispiele gerechtfertigt. 370 gehören, und der Frosch ernähre sich normalerweise nur von Fliegen. Stimuliert man CED mit KDBO, so schnappt der Frosch zu. Was ist die Funktion von CED? Auf KDBO zu reagieren oder auf Fliegen zu reagieren? Um zu überleben, braucht der Frosch Fliegen, deshalb hat er CED. Doch in der historischen Umgebung der Froschvorfahren waren Fliegen immer auch KDBO. Fodor zufolge kann nicht bestimmt werden, worin die Funktion von CED besteht. CED detektiert also KDBO oder Fliegen. So bleibt unklar, welches Element der Disjunktion den Inhalt der Repräsentation ausmacht und deshalb kann nicht gesagt werden, ob der Frosch fehlrepräsentiert, wenn er durch artifizielle KDBO stimuliert wird. Und deshalb könne der Rückgriff auf die Teleologie (auf Echte Funktionen) das Problem der Fehlrepräsentation nicht lösen.784 Ausgehend von diesen Spielregeln liegt die Lösung für eine konsumentenorientierte Teleosemantik auf der Hand: Der Frosch braucht Fliegen, nicht KDBO. Die produzentenorientierte Version hingegen hat keine Mittel in der Hand, den Inhalt des Vehikels zu bestimmen, da es mit mehreren Strukturen ko-variiert. Die Behandlung des Kimu-Falles durch die Biosemantik beruht also auf einem klaren Vorteil dieser Version. Hilft der argumentative Zug hier tatsächlich weiter? Was will der Frosch von Fliegen? Sind sie für ihn nicht nur wichtig, weil er sie verdauen kann? Und da der Frosch auch Mücken frisst, warum sollten wir das Beispiel auf Fliegen beschränken? Geht es also nicht einfach um Froschfutter? Nur um natürliches oder auch künstliches Froschfutter? Fodors Beispiel hat zu einem Sammelsurium von Lösungsvorschlägen für die Funktion von CED geführt: Fliegen,785 Froschfutter,786 Nährstoffe,787 und KDBO788. Viele Autoren behaupten aus unterschiedlichen Gründen, dass auf dieser Ebene Funktionen unbestimmt bleiben müssen,789 andere glauben, dass der Frosch mehrere verschiedene Inhalte repräsentiert.790 Bevor ich auf dieses Problem aus der Perspektive der Biosemantik eingehe, möchte ich auf eine Unterscheidung hinweisen, nämlich auf die Unterscheidung zwischen prinzipieller Unbestimmbarkeit und lediglich kontingenter Unbestimmbarkeit. So ist etwa Dretske der Ansicht, es handle sich um eine nur kontingente Unbestimmbarkeit: Es ist uns epistemisch nicht möglich, den Inhalt zu bestimmen. Dretske meinte zunächst, dass die Funktion auf der Ebene von einfachen Organismen wie Bakterien oder Frösche unbestimmt bleiben müsse, und dass nur das Lernen Zuständen eine bestimmte Funktion 784 Dieses Disjunktionsproblem, so haben wir in 1.1.1. gesehen, ist eine Version des Problems der Fehlrepräsentation. 785 Sterelny 1990: 124ff. 786 Millikan 1991. 787 Price 2001: 80. 788 Neander 1995: 130; Jakob 1997: 134. 789 Dennett 1987: 320; Papineau 2003. 790 Rowlands 2006: 130ff. 371 zuweisen könne.791 Der Vorschlag lautet also, dass wir die epistemologische Seite und die ontologische Seite des Problems der Funktionsbestimmung auseinanderhalten. Auch wenn wir nicht wissen, worin die Funktion besteht, so ist doch anzunehmen, dass es eine solche Funktion gibt. Die Funktion von X erklärt, warum X da ist, und die Existenz von X ist das Resultat eines objektiven Prozesses, nämlich der Evolution des Lebens. Dennett hingegen geht von einer prinzipiellen Unbestimmbarkeit aus. Er vertritt die Auffassung, dass im Hinblick auf die Festlegung von Echten Funktionen der Streit über diese Festlegung gerade zeige, dass es nichts gibt, was Zuschreibungen wahr macht: „When the ‚fact of the matter’ about proper functions is controversial […] there is no ‚fact of the matter’.“792 Man kann die epistemologische von der ontologischen Seite also gerade nicht unterscheiden. Die Zuschreibung einer Funktion gegenüber X erleichtert einfach die Erklärung und die Voraussage dessen, was X tut. Natürlich ist die Existenz von X das Resultat objektiver kausaler Prozesse, nicht jedoch die Funktionszuschreibung. Das Problem dieser beiden entgegengesetzten Auskünfte besteht darin, dass sie die ontologische Objektivität von Funktionen bzw. deren Beobachterrelativität je voraussetzen. In dieser Form können sie uns zunächst nicht bei der Frage weiterhelfen, ob Funktionen bestimmt sind oder nicht. Ich werde nun so vorgehen, dass ich Dennetts Antwort zurückweise und Dretskes Antwort akzeptiere. Ich möchte, anders als Dretske, am Beispiel des Frosches klären, wie wir dennoch dazu kommen können, den Inhalt einer Repräsentation zu bestimmen. Ich akzeptiere also eine Form des intentionalen Realismus. Der Verweis auf unergründliche intentionale Tatsachen scheint mir aus einer naturalistischen Perspektive eher unbefriedigend.793 Bei Dennett korrespondiert die Beobachterrelativität direkt mit der Unmöglichkeit eines epistemisch objektiven Urteils über Funktionen. Ich habe bereits in der Kritik an Searles Funktionsauffassung gezeigt, dass ein solcher Standpunkt nicht stabil ist (3.2.1.). Darüber hinaus setzt dieser Standpunkt voraus, dass die Existenz von Zwecken notwendig mit der Unterstellung eines Zweck setzenden Subjekts verbunden ist. Wie ich bereits nahe gelegt habe, sind wir nicht gezwungen, diese säkularisierte Fassung eines theologischen Erbes anzutreten. Wir können es ausschlagen, und wir sollten dies auch tun (2.1.). Schließlich folgt aus einer Uneinigkeit über Funktionszuschreibungen nicht, dass 791 Dretske 1986, 1988. Dretske änderte freilich später seine Meinung und meinte, dass es für angeborene natürliche Repräsentationen, die ja nicht erlernt sind, eine bestimmte Funktion geben müsse, auch wenn wir diese nicht bestimmten können (Dretske 1995; Dretske 2001: 65ff.) Diese Änderung hat damit zu tun, dass Dretske auf der Grundlage seiner alten Überzeugung nicht zwischen der Funktion natürlichen angeborenen Repräsentationen und natürlichen erworbenen Repräsentationen unterscheiden kann. Ersteren käme andernfalls ja gar keine bestimmte Funktion, und mithin kein IR-Inhalt, zu. 792 Dennett 1987: 300. 793 Ich werde in 5.1.4.2. ein Argument für den intentionalen Realismus zumindest von nicht-begrifflichen IRInhalten liefern. 372 kein „fact of the matter“ vorliegen kann. So können sich Archäologen darüber uneins sein, worin die Funktion eines prähistorischen Artefakts bestand, nur folgt daraus nicht, dass dieses Artefakt keine Funktion hatte. Wie ist nun der Inhalt einer Repräsentation zu bestimmen? Was eigentlich wollten wir vom Froschbeispiel wissen? Wir wollten wissen, was der Inhalt der Wahrnehmung des Frosches ist, der eine Fliege vorbei schwirren sieht. Karl sagt: „Der Frosch sieht die Fliege.“ Der Gebrauch des Wortes „sehen“ ist Alltagsgebrauch. Warum sagt Karl, dass der Frosch etwas sieht? Zunächst: Weil die Fliege bei Tageslicht vor den Augen des Frosches vorbeischwirrt. Das Wort „sehen“ wird in Karls Aussage in einem transitiven Sinn verwendet: etwas sehen. Doch diese Verwendung impliziert den intransitiven Gebrauch von Sehen: überhaupt sehen. Denn Karls Aussage unterstellt, dass die Augen des Frosches intakt und aktiv sind. (Er ist nicht blind, sie sind nicht verschlossen, nicht zugeklebt usw.). Dies ist der Normalfall für Augen, und zwar nicht weil Froschaugen statistisch häufiger sehkräftig sind als sie es nicht sind, sondern weil Augen zum Sehen da sind. Wozu hätte der Frosch sonst Augen? Das Sehen (intransitiv) ist die Funktion von Augen, es ist die Norm, von der blinde Frösche abweichen.794 Wir wollten wissen, was der Frosch sieht und Karls unaufregende und unreflektierte Behauptung war: „Der Frosch sieht die Fliege“. Doch Sehen im transitiven Sinne reicht noch nicht aus für das, was wir über den Frosch wissen wollen. Wir wollen wissen, als was der Frosch sieht, was er sieht. Wir brauchen einen besonderen transitiven Sinne von „sehen“, nämlich den intentionalen Sinn: etwas als etwas sehen. Wir wollten genauer gesagt wissen, wie (falls es möglich ist) wir den intentionalen Inhalt (etwas als etwas sehen) jener Struktur (R-Vehikel) bestimmen könnten, die ein Subsystem des VS des Frosches (nämlich CED) ausbildet, wenn es beispielsweise auf eine vorbei schwirrende Fliege reagiert. Karls zweifellos zutreffende Behauptung, der Frosch sehe die Fliege, könnte man verstehen als „Der Frosch sieht die Fliege als Fliege“. Doch dann erscheint sie nicht mehr fraglos zutreffend, denn mit „Fliege“ gibt Karl kaum eine treffende Antwort. Es könnte sich ja auch um Mücken oder Käfer handeln. Doch diese Unterschiede dürften für den Frosch egal sein. Betrachten wir eine nun keine alltägliche, sondern eine theoretische Antwort auf das Problem. Rowlands zufolge sieht (intentional) der Frosch mindestens drei Dinge: 794 Die dreifache Unterscheidung zwischen intransitivem Sehen, transitivem Sehen und transitivintentionalem Sehen, die grob der Unterscheidung zwischen dem funktionierenden Vermögen zu sehen, dem Sehen mit R-Inhalt und dem Sehen mit IR-Inhalt entspricht, werde ich in 5.3.1.2. wieder aufnehmen und erläutern. 373 „catchable, there!“, „stomachable, there!“, „disgestible, there!“795 Das ist verwirrend. Karl wollte wissen, was der Frosch sieht, und dachte dabei an die Möglichkeit, dass der Inhalt dessen, was der Frosch sieht, bestimmbar sein könnte. Kein Problem, sagt Rowlands, der Frosch sieht alle diese Dinge ganz bestimmt, nur eben einmal mithilfe des Fangsystems, ein andermal mittels des Schlucksystems und dann mit dem Verdauungssystem. Das ist sicher verwirrend. Betrachten wir die Sache nun mithilfe des bislang aufgebauten biosemantischen Ansatzes. CED reagiert auf die Fliege mit der Ausbildung eines bestimmten visuellen Musters, das mit der Gestalt und mit der Bewegung der Fliege hier und jetzt isomorph ist. Dieses Muster ist ein R-Vehikel, denn das VS des Frosches (genauer: CED) hat die Funktion, auf visuelle Reize mit derartigen Musterbildungen zu reagieren. Natürlich reagiert CED auf allerlei Reize, indem es solche Muster bildet. Doch CED ist nicht dysfunktional, sofern es etwa auf KDBO-Reize reagiert. Dabei kann es sich auch um vorbei fliegende Bleikügelchen handeln. CED erfüllt seine Echte Funktion als Produzent und produziert entsprechende Vehikel. Nun wollten wir wissen: Was ist der IR- Inhalt dieser Vehikel? Der IR-Inhalt wird durch den Konsumenten – genauer: durch jene Isomorphie-Relation, die der Konsument braucht, um seine Echte Funktion zu erfüllen – festgelegt; und die Echte Funktion eines Konsumenten muss einen für den Organismus nützlichen Effekt haben. Man sollte sich also fragen: Womit muss das Muster des Froschauges isomorph sein, damit es dem Frosch etwas nützt? Gehen wir einige Antworten durch. Ich setze dabei voraus, dass Bleikügelchen dem Frosch keinerlei Nutzen bringen, was sicher plausibel ist. (i) KDBO? Darunter fällt auch ein Bleikügelchen. (ii) Mit etwas Fangbarem? Fangbar sind auch Bleikügelchen, doch die nützen dem Frosch nichts. Ebenso wenig nützt die Fliege dem Frosch, insofern sie nur fangbar ist. (iii) Mit etwas Schluckbarem? Schluckbar sind auch Bleikügelchen, doch die nützen dem Frosch nichts. Genauso wenig nützt die Fliege allein als schluckbare dem Frosch. (iv) Mit etwas Verdaubarem? Die Bleikügelchen sind nicht verdaubar, sie nützen dem Frosch auch hier nichts. Die Fliege hingegen ist verdaubar. Ebenso sind es Mücken und Käfer, doch nicht in ihrer Eigenschaft als Fliegen, sondern in ihrer Eigenschaft als Froschfutter. Die Tatsache, dass es sich um eine Fliege handelt, und nicht um eine Mücke, ist irrelevant für die Verdaubarkeit. Doch auch das Verdaubare nützt dem Frosch nur, insofern es ihn als Frosch (als Teil einer Lebensform) nährt. Verdaubare Papierkügelchen etwa nähren ihn nicht. Deshalb lautet Millikans Antwort: „Froschfutter“. Das weist in die richtige Richtung. Doch macht Millikan zu wenig deutlich, was ihre Antwort motiviert. 795 Rowlands 1997. 374 Nehmen wir nun an, der böse Psychosemantiker würde den Frosch statt mit Bleikügelchen mit künstlichen Nährstoffkügelchen beschießen. Sieht der Frosch nun dasselbe wie im Fall der Fliege, nämlich Froschfutter? Auf den ersten Blick macht es den Anschein, denn auch Nährstoffkügelchen können dem Frosch als Futter dienen. Es macht für den Frosch anscheinend keinen Unterschied, ob er nach Nährstoffkügelchen oder nach Insekten schnappt. Beides ist Froschfutter. Nun könnten wir uns daran erinnern, dass Normale Erklärungen für Direkte Echte Funktionen nicht nur die kausalen Rollen des involvierten Systems explizieren müssen, sondern auch jene Bedingungen zu berücksichtigen haben, unter denen ein Mechanismus seine Echte Funktion erworben hat und reproduziert worden ist. Solche Normalen Erklärungen nennen somit historische Normale Bedingungen (mit denen die durch CED hervorgebrachten R-Vehikel korrespondieren), die vorliegen mussten, damit das Lebewesen davon profitieren konnte. Wir müssten also auf die Vorgeschichte einer Lebensform zurückblicken und auf jene Bedingungen achten, unter denen Konsumenten einen Nutzen hatten und einen Beitrag zur Erhaltung und zum Überleben der Lebensform leisteten. Die Normale Bedingung, die es braucht, um dem Frosch zu nützen, ist der IR-Inhalt des R-Vehikels. Deshalb sieht (transitiv-intentional) der Frosch Froschfutter, wenn er eine Fliege sieht (transitiv). Doch anders als Bleikügelchen fallen nicht nur Fliegen, sondern auch synthetische Nährstoffkügelchen unter diesen Inhalt. Der Frosch macht hier ebenso wenig eine Unterscheidung wie zwischen Fliegen und Mücken. Warum sollte er? Wir können also nicht sagen, dass es in der historischen Umwelt des Frosches keine synthetischen Nährkügelchen gegeben habe. Diese Differenz ist irrelevant für die Aufgabe des Konsumenten der existierenden Frösche. Die historischen Normalen Bedingungen nennen jene Bedingungen, unter der eine Mechanismus erfolgreich für eine Lebensform tätig war, sie legen aber nicht alle Bedingungen erfolgreicher Aktivität fest. Das Verdauungssystem wird gegenüber dem Schnapp- und Schlucksystem als Konsument ausgewiesen, weil die Einverleibung beliebiger Gegenstände dem Frosch so lange keinen Nutzen bringt, bis sie ihn nähren (bis das Verdauungssystem seine Funktion erfüllt und das Einverliebte in Nährstoffe umwandelt). Doch warum sollten wir an dieser Stelle nicht weitergehen? So meint etwa Papineau: „The biological point of catching flies is to get them into the stomach. No reproductive advantage accrues if a fly is caught, but it isn’t ingested. Again, the biological point of ingesting something into the stomach is to get nutrients into the bloodstream. No reproductive advantage accrues if a fly is ingested but it yields no nutrients into the bloodstream. And so on. In the end, the ultimate point of all 375 functional traits is to produce viable offspring. No reproductive advantage ensues from any intermediate effects if they don’t eventuate in offspring.“796 Natürlich begeht Papineau hier einen Fehler, wenn er sagt „No reproductive advantage accrues if a fly is ingested but it yields no nutrients into the bloodstream“, denn so ist die Fliege entweder kein Froschfutter oder kann nicht als solches verwendet werden. Die Funktion des Verdauungssystems (sein selektierter Effekt) ist es, Nährstoffe in den Blutkreislauf zu bringen. Wenn die Fliege keine Nährstoffe enthält, kann es diese Funktion nicht erfüllen, denn es fehlt ein entscheidender Teil der Normalen Erklärung, nämlich die Normale Bedingung, die vorliegen, muss, damit der Konsument seine Funktion ausüben kann. Wenn die Fliege Nährstoffe enthält, das Verdauungssystem diese aber weder zerlegt noch abgibt, dann kann es seine Funktion ebenfalls nicht erfüllen, diesmal aber nicht, weil die Normale Bedingung für seine Funktionsausübung nicht vorliegt, sondern weil es seine Funktion nicht ausüben kann, es ist dysfunktional (krank) oder afunktional (defekt). Dennoch verweist Papineaus Bemerkung auf einen wichtigen Punkt. Hier droht sozusagen Unbestimmtheit nach hinten. Papineau droht in seinem Einwand die Funktion aller Konsumenten auf Fitness zu reduzieren. Dabei vergisst er jedoch, dass es in der Bestimmung der Echten Funktion eines Konsumenten nicht direkt um die Fitness geht, sondern um den spezifischen Beitrag zur Fitness. Bedenken wir, dass der Konsument das RVehikel benutzen muss, um seine Aufgabe zu erfüllen. Das R-Vehikel ist das Reizungsmuster in CED, das durch die vorbei schwirrende Fliege ausgelöst worden ist. Der Konsument muss dem Frosch nützen, indem es dieses R-Vehikel verwendet. Die Bedingungen, die Vorliegen müssen, sind mit dem Vehikel korrelierende Bedingungen. Doch die Sexualorgane des Frosches brauchen zur Ausübung ihrer Funktion keine Vehikel, die mir dem Vorbeischwirren von Froschfutter korrespondieren. Ebenso wenig der Blutkreislauf und ebenso wenig der Froschlaich. Betrachten wir jedoch die Sache auf diese Weise, dann scheidet nun auch das Verdauungssystem als Konsument aus. Ebenso das Schlucken. Der Frosch reagiert ja nicht mit Verdauen und Schlucken auf das R-Vehikel, sondern mit dem Herausschleudern seiner Zunge. Es ist dieser Mechanismus, der für die Ausübung seiner Funktion das R-Vehikel braucht. Die Schleuderzunge nützt dem Frosch, weil er damit Futter fangen kann. Es reichte in der Umwelt des Froschvorfahren aus, nach KDBO zu schnappen, denn auf diesem Weg wurde häufig genug Froschfutter gefangen. Sowohl „Froschfutter“ (das, was der Frosch braucht) als auch KDBO (womit das R-Vehikel korrespondiert) scheinen gute, für sich genommen jedoch ungenügende Antworten auf die Frage nach dem IR-Inhalt des 796 Papineau 2003b: 109. 376 R-Vehikels zu sein. Man sollte die Antworten deshalb wie folgt kombinieren: CED repräsentiert (der Frosch sieht intentional) kleines, dunkles, bewegliches Froschfutter (KDBF). Für diese kombinierte Antwort ist der Umstand wichtig, dass das Froschauge an das Zungenschleudern gekoppelt ist. Das Zungenschleudern dient der Futteraufnahme, denn über die Zunge gelangt die Jagdbeute in Mund und Magen des Frosches. Das Froschauge alleine repräsentiert nur dunkle, vorüber fliegende Dinge, im Verbund mit dem Zungenschleudermechanismus aber KDBF. Froschauge und Schleuderzunge ko-operieren als Produzent und Konsument. Der Konsument (Zunge) hat die Funktion, dunkle, vorüberfliegende Objekte dem Verdauungssystem zur Verfügung zu stellen. Deshalb gehört zum IR-Inhalt das Froschfutter. Der Produzent (Auge) hat die Aufgabe Vehikel hervorzubringen, deren Struktur mit externen Strukturen über Transformationen hinweg korrespondiert. In die Bestimmung des IR-Inhalts gehen also Elemente der Funktion des Produzenten und Elemente der Funktion des Konsumenten ein. Dies war bereits bei den Kimus der Fall. Der IR-Inhalt „snorffreie Richtung!“ vereint kausale Elemente, die den Produzenten (Rot-Sensor) betreffen, nämlich die Richtung, und akausale Elemente, die die Echte Funktion des Kimu-Verhaltens betreffen, nämlich die Bewegung weg von Snorfs. Millikan scheint also die Rolle des Konsumenten aus theoriestrategischen Gründen zu stark zu betonen, auch wenn sie immer wieder darauf hinweist, dass für die Festlegung des IRInhalts beide Systeme, Produzent und Konsument, kooperieren müssen. Ein letzter Punkt für das Problem der Inhaltsbestimmung bleibt: Wie steht es mit dem Hintergrund der Normalen Bedingungen? Sauerstoff, Licht, Schwerkraft gehören zu diesem Hintergrund, der vorhanden sein musste, damit der Konsument (der Schleuderzungenmechanismus) seine Aufgabe erfolgreich erfüllen konnte. Es scheint nun, als würde die Beschreibung des IR-Inhalts diesen Hintergrund mit nennen müssen, als wäre der Inhalt so etwas wie KDBF-Schwerkraft-Sauerstoff-Licht usw. Doch damit wird der Inhalt auf unkontrollierbare Weise angereichert. Eine erste Antwort könnte lauten: Der Hintergrund ist nicht Bestandteil einer Normalen Erklärung für die Erfüllung der Aufgabe des Konsumenten einer bestimmten Lebensform (biologischen Art). Jeder irdische biologische Mechanismus funktioniert unter Bedingungen der Schwerkraft, jedes irdische Landlebewesen agiert unter Sauerstoffbedingungen, und jedes tagaktive Landlebewesen agiert unter Lichtbedingungen. Warum sollten diese Bedingungen als Bestandteil der Erklärung von Mechanismen und Systemen einer bestimmten Lebensform herangezogen werden? Sie würden zur Erklärung der Funktionsweise des Mechanismus’ (in Cummins’ Sinn von „Funktion“) nichts beitragen. In dieser Form ist die Antwort noch unbefriedigend. Wir sollten den Hintergrund aus dem intentionalen Inhalt unter dem 377 Vorzeichen seiner biologischen Naturalisierung entfernen können. Doch dann ist der Hinweis auf die Irrelevanz des Hintergrunds für unsere Art, natürliche Dinge zu erklären, ein ungenügender Hinweis. Es müsste gezeigt werden, dass der Hintergrund biologisch irrelevant ist. Nun sind Bedingungen für irdische Lebewesen überhaupt in der Tat keine Bedingungen, die für die Evolution einer bestimmten irdischen Lebensform relevant wären. Hier ein Beispiel des Evolutionsbiologen George Williams, der uns auffordert einen fliegenden Fisch zu betrachten, „that has just left the water to undertake an aerial flight. It is clear that there is a physiological necessity for it to return to the water very soon; it cannot long survive in the air. It is, moreover, a matter of common observation that an aerial glide normally terminates with a return to the sea. Is this the result of a mechanism for getting the fish back into water? Certainly not; we need not invoke the principle of adaptation here. The purely physical principle of gravitation adequately explains why the fish, having gone up, eventually comes down.“797 Die Gravitation ist als Hintergrund für alle irdischen Lebewesen vorhanden, ebenso Sauerstoff für alle Landlebewesen und ebenso Licht für alle tagaktiven Lebewesen. Doch der fliegende Fisch ist nicht an das Gesetz der Schwerkraft angepasst. Er vererbt ja seine Fähigkeit zu fliegen nicht als Vorteil gegenüber einem Artgenossen weiter, der nicht unter diesem Gesetz steht. Die Rückkehr des Fisches zum Wasser ist keine biologische, sondern eine physikalische Notwendigkeit. Ebenso wenig sind die Systeme und Mechanismen des Frosches eine Adaptation für das Leben unter den Bedingungen der Schwerkraft. Gegenüber welcher Alternative? Das VS des Frosches produziert keine R-Vehikel als Anpassung an die Schwerkraft oder als Anpassung an Sauerstoff. Dies sind lediglich physikalische bzw. chemische Bedingungen. Das Licht hingegen ist eine wichtige Hintergrundbedingung für das VS und ist Teil der Normalen Erklärung für die Fähigkeit zu sehen im intransitiven Sinn. Ohne Licht keine Evolution von VS. Für das transitive Sehen ist Licht ebenso eine physikalische Notwendigkeit wie die Gravitation im Falle des fliegenden Fisches. Uns ging es um das transitiv-intentionale Sehen einer bestimmten Lebensform. Aus diesem Grund gehören sowohl Bedingungen für alle biologischen, für alle irdischen oder für alle amphibischen Lebensformen als auch physikalische und chemische Bedingungen für biologische Tätigkeiten nicht zur Beschreibung des IR-Inhalts. Bleiben wir also bei KDBF als IR-Inhalt.798 Williams 1996: 11f. Mein Vorschlag kommt im Resultat mit Agar 1993 überein, dem zufolge der Frosch „small, dark, moving food“ repräsentiert. Agar begründet seine Antwort aber damit, dass diese Inhaltsbeschreibung alle kausal relevanten Eigenschaften benenne. In meiner Überlegung spielen aber die involvierten Konsumenten für die Spezifikation der in einer Normalen Erklärung zu nennenden kausalen Eigenschaften die entscheidende Rolle. 797 798 378 5.1.3.4. Die Transparenz der Erfahrung Wir haben bislang gesehen, dass die produzentenorientierte Version der Teleosemantik gegenüber der konsumentenorientierten Version keine entscheidenden Vorteile bietet, sondern im Gegenteil nicht zur Auffassung passen will, dass Funktionen selektierte Wirkungen sind, der Verwechslung von R-Inhalt und IR-Inhalt unterliegt und keine befriedigende Antwort auf das Problem der Bestimmung des IR-Inhalts hat. Wann immer die produzentenorientierte Version diese Schwierigkeiten angehen möchte, tendiert sie von selbst zu einem konsumentenorientierten Version. Ich möchte nun auf ein weiteres Problem der produzentenorientierten Version zu sprechen kommen, das später sehr relevant werden wird (5.3.4.3., 5.3.5.), nämlich das Problem der Transparenz. Dretske und Tye würden davon ausgehen, dass die sensorische Repräsentation der Kimus, sofern sie diese für die Konstruktion kognitiver Repräsentationen zu nutzen verstünden, einen bestimmten phänomenalen Charakter hätte: Die Kimus sehen nämlich rot. Der Rot-Sensor trägt ja Information über rote Objekte (oder ko-variiert mit diesen), er hat die Funktion erworben, diese Information zu tragen, und er produziert natürliche systemische Repräsentationen. Oder in Tyes Variante: der Rot-Sensor stellt den Kimus PANIC-Zustände zur Verfügung.799 Tye und Dretske zufolge ist nun der phänomenale Charakter einer sinnlichen Wahrnehmung identisch mit dem Vorliegen einer bestimmten Art natürlicher angeborener Repräsentation bzw. einer PANIC-Repräsentation. Qualia sind für Tye und Dretske keine intrinsischen Eigenschaften eines Subjekts, sondern externe intentionale Objekte von Repräsentationen. Im veridischen Falle handelt es sich um Eigenschaften der repräsentierten Objekte, im halluzinatorischen Falle um uninstantiierte Eigenschaften. Dretske argumentiert für diese Auffassung („Repräsentationalismus“ oder „Intentionalismus“) auf folgende Weise: Der phänomenale Charakter unserer bewussten Erfahrungen besteht in Eigenschaften F, die ein Objekt o zu haben scheint. Bewusste Erfahrungen sind bisweilen veridisch, d.h. bisweilen besteht der phänomenale Charakter bewusster Erfahrungen in F, die o tatsächlich hat. Unsere bewusste Erfahrung repräsentiert 799 Erfahrungen mit phänomenalem Charakter werden als PANIC-Zustände aufgefasst. Das Akronym steht für: verfügbarer (poised), abstrakter (abstract), nicht-begrifflicher (nonconceptual) intentionaler (intentional) Inhalt (content). Die visuelle Repräsentation einer Farbfläche handelt von der Farbe einer Fläche. Dies ist ihr intentionaler Inhalt. „Abstrakt“ bezieht sich auf Folgendes: Zwei Einzeldinge, die völlig gleich aussehen, können aufgrund visueller Diskrimination alleine nicht unterschieden werden, sie sehen ja genau gleich aus. Also ist der Inhalt der visuellen Repräsentation auf einen abstrakten Inhalt bezogen, nämlich das Aussehen, und nicht auf ein konkretes Einzelding. Um die Farbfläche wahrzunehmen, braucht ein Organismus keine Begriffe für diese Farbe. Der Inhalt ist also nicht-begrifflich. Mithilfe der visuellen Repräsentation von Farben können Organismen etwas über Farben lernen (Bienen können lernen, dass sich dort Futter findet, Menschen können Farbwörter lernen) Der intentionale, nicht-begriffliche Inhalt ist verfügbar für weitere kognitive Prozesse. Bewusste werden von unbewussten Zuständen also durch die Verfügbarkeit bestimmter Zustände unterscheiden. 379 o als F habend. Also sind die Qualitäten der bewussten Erfahrungen (ihr phänomenaler Charakter) nichts Anderes als repräsentierte Eigenschaften externer Objekte (im veridischen Fall).800 Die entscheidende Motivation für diese Argumentation verdankt sich nun der sogenannten Transparenz von Wahrnehmungserfahrungen. Wenn wir uns auf die qualitativen Eigenschaften eines Wahrnehmungsobjekts konzentrieren und diese beschreiben, uns anschließend auf die Eigenschaften unserer Wahrnehmung dieses Objekts konzentrieren und nun diese beschrieben, so werden sich diese beiden Beschreibungen nicht unterscheiden. Unsere Wahrnehmungen sind, wie es scheint, auf die von ihnen repräsentierten Eigenschaften hin durchsichtig oder transparent. Im negativen Sinne meint Transparenz also, dass der phänomenale Charakter einer Erfahrung keine Eigenschaft der Erfahrung selbst ist, auf die wir irgendwie unsere Aufmerksamkeit richten könnten. Im positiven Sinne meint Transparenz, dass wir in einer Erfahrung auf Eigenschaften von Objekten gerichtet sind, nicht auf Eigenschaften der Erfahrung. Tye zufolge ist die Transparenz von Erfahrungen die entscheidende Motivation für seine Theorie, denn sie liefert die beste Erklärung für das schlagende Phänomen der Transparenz.801 Die Transparenz der Erfahrung ist auch die entscheidende Prämisse in Dretskes Argument: Der phänomenale Charakter unserer bewussten Erfahrungen besteht in Eigenschaften F, die ein Objekt o zu haben scheint. Es gibt nun verschiedene Arten der Transparenz. Da gibt es die cartesianische These, dass der Geist sich selbst epistemologisch vollkommen durchsichtig sei. Der Geist „Since the qualities objects are represented as having are qualities they sometimes - in fact (given a modicum of realism) qualities they usually - possess, the features that define what it is like to have an experience are properties that the objects we experience (not our experience of them) have.” (Dretske 1995: 83f.) 801 „The best theory, I suggest, is that visual phenomenal character is representational content of a certain sort – content into which certain external qualities enter.“ (Tye 2000: 48; vgl. Dretske 1995: xiii). Die Idee geht auf eine oft zitierte Passage in G.E. Moore’s „The Refuation of Idealism“ (1903) zurück, worin epistemologische und metaphysische Transparenz zusammen auftreten: „The true analysis of a sensation or idea is as follows. The element that is common to them all, and which I have called ‚consciousness’, really is consciousness. […] When we know that the sensation of blue exists, the fact we know is that there exists an awareness of blue. […] It is to be aware of an awareness of blue; awareness being used, in both cases, in exactly the same sense. […] the moment we try to fix our attention upon consciousness and to see what, distinctly, it is, it seems to vanish: it seems as if we had before us a mere emptiness. When we try to introspect the sensation of blue, all we can see is the blue: the other element is as if it were diaphanous [meine Hervorhebung]. Yet it can be distinguished if we look enough, and if we know that there is something to look for.“ (Moore 1993: 40) Gilbert Harman hat sie wieder aufgenommen: „When Eloise sees a tree before her, the colors she experiences are all experienced as features of the tree and its surroundings. None of them are experienced as intrinsic features of her experience. Nor does she experience any features of anything as intrinsic features of her experiences. And that is true of you too. There is nothing special about Eloise’s visual experience. When you see a tree, you do not experience any features as intrinsic features of your experience. Look at a tree and try to turn your attention to intrinsic features of your visual experience. I predict you will find that the only features there to turn your attention to will be features of the presented tree…“ (Harman 1997: 667) 800 380 hat vor sich keine Geheimnisse, er hat nichts zu verbergen.802 Von dieser epistemologischen Transparenz, um die es Dretske und Tye nicht geht, kann man Transparenz in einem metaphysischen Sinne unterscheiden. Die von ihnen gemeinte Transparenz sagt etwas darüber aus, was Erfahrungen sind. Bewusste Erfahrungen mit phänomenalem Charakter sind durchsichtig, ähnlich wie (saubere) Fenster oder Brillengläser durchsichtig sind: In einer bewussten visuellen Erfahrung eines Ausschnitts der Welt nehmen wir keine Eigenschaften der Erfahrung (des Bewusstseins) wahr, sondern Objekte, Eigenschaften usw. des gesehenen Ausschnitts der Welt.803 Die Frage lautet nun: Nehmen wir notwendigerweise oder normalerweise keine Eigenschaften der Erfahrung wahr? Die These der Transparenz der Erfahrung kann also stark („notwendigerweise“) oder schwach („normalerweise“) verstanden werden. Stark gelesen besagt sie, dass wir einer phänomenal bewussten Erfahrung selbst unmöglich gewahr werden können, es sei denn dadurch, dass wir uns der Objekte gewahr werden, die durch diese Erfahrungen repräsentiert werden. Es gehört dann zur Natur phänomenal bewusster Erfahrungen, dass sie transparent sind. Schwach gelesen besagt diese Transparenzthese, dass es sehr schwierig (und ungewöhnlich) ist, unserer Erfahrungen gewahr zu werden. Je nachdem, ob man die starke oder schwache Lesart anwendet, klingt die Motivation für den Repräsentationalismus nicht mehr so zwingend: „Try to focus your attention on some intrinsic feature of the experience that distinguishes it from other experiences, something other than what it is an experience of. The task seems impossible: one’s awareness seems always to slip through the experience to blueness and squareness, as instantiated together in an external object.“804 Je nachdem, ob man „seems“ oder „impossible“ betont, erhält man eine schwache oder eine starke Lesart angeboten. Intendiert ist die starke Lesart. Es ist unmöglich. Denkbar ist auch eine schwache Lesart: Es scheint fast unmöglich, man kann es aber lernen. 802 Vgl. Shoemaker 1996: 224: „According to this, the mind is transparent to itself. It is of the essence of mental entities, of whatever kind, to be conscious, where a mental entity’s being conscious involves its revealing its existence and nature to its possessor in an immeditate way, [exhibting] a super-certain kind of knowledge which is suited for being the epistemological foundation for the rest of what we know.“ Auch von Farben wird bisweilen behauptet, sie seien epistemologisch vollkommen durchsichtig. Farben sind geheimnislos, sie verbergen sich nicht. „Revelation: The intrinsic nature of canary yellow is fully revealed by a standard visual experience as of a canary yellow thing (and the same goes, mutatis mutandis, for the other colours).” (Johnston 1997: 138; das ist nicht Johnstons Position.) Wer eine Farbe sieht, hat ipso facto das intrinsische Wesen dieser Farbe erkannt. Weder werden Farben ‚an’ etwas erkannt (wie Rotkehlchen), noch gibt es etwas ‚hinter’ den Farben zu erkennen (wie im Fall von Masern). Träfe diese Transparenzthese zu, wären Farben einerseits unabhängig von ihrem Wahrgenommenwerden (weil sie ein intrinsisches Wesen haben), andererseits wären sie nicht auf physikalische Eigenschaften reduzierbar (weil diese durch bloßes Hinsehen nicht manifest würde). 803 Dretske und Tye setzen hier bei der Innenperspektive an. Und das bedeutet: bei unserer Erfahrung von der Welt. Ich werde in 5.2. zu zeigen versuchen, dass der Ansatz bei der Innenperspektive nicht nur irreführend ist, sondern auch den Ansatz bei der Außenperspektive als philosophische Alternative übersieht! 804 Tye 1995: 30. 381 Es ist nun weder unmöglich noch besonders schwierig, sich der Eigenschaften der eigenen Erfahrung gewahr zu werden. Wenn ich meine Brille absetze und einen klaren Sternenhimmel betrachte, sehe ich statt einzelner Sterne kugelförmig angeordnete Ansammlungen zerstreuter Lichtpunkte mit unscharfer Kontur, deren Anzahl ich mithilfe meiner Augenmuskeln variieren kann. Wohlgemerkt hat nicht der ganze Sternhimmel diese visuelle Gestalt, sondern jeder Stern. Es ist mir dennoch bislang nicht eingefallen, diese visuelle Gestalt als eine Eigenschaft der Sterne zu betrachten. Vielmehr handelt es sich um Eigenschaften eines defekten Teils meines visuellen Systems (der Hornhaut). Ein geübter Maler wie Claude Monet kann durchaus gelernt haben, sich auf die Art und Weise zu konzentrieren, wie ihm Kathedralen oder Seerosen erscheinen, und nicht auf die Kathedralen und Seerosen selbst. Auch in diesem Fall richtet der Maler seine Aufmerksamkeit auf Eigenschaften seiner Wahrnehmung und nicht nur auf Eigenschaften des wahrgenommenen Objekts. Man kann weitergehen. Warum sollte sich die Transparenz der Erfahrung allein auf bestimmte sinnliche Qualitäten richten? Transparent ist die alltägliche Wahrnehmung normalerweise nicht nur bezüglich des Bewusstseins, sondern auch bezüglich der im Bewusstsein erfahrenen sinnlichen Eigenschaften. Diese Transparenzthese, die sozusagen auch Eigenschaften von Objekten durchsichtig macht, findet sich etwa bei Heidegger:805 „Niemals vernehmen wir […] im Erscheinen der Dinge zunächst und eigentlich einen Andrang von Empfindungen, z.B. Töne und Geräusche, sondern wir hören den Wind im Schornstein pfeifen, wir hören das dreimotorige Flugzeug, wir hören den Mercedes […]. Viel näher als alle Empfindungen sind uns die Dinge selbst. Wir hören im Haus die Tür schlagen und hören niemals akustische Empfindungen oder auch nur bloße Geräusche. Um ein reines Geräusch zu hören, müssen wir von den Dingen weghören, unser Ohr davon abziehen, d.h. abstrakt hören.“806 Heideggers These handelt nicht nur über Sinnesreizungen (Empfindungen i.e.S.). Sie besagt nicht nur, dass wir (beispielsweise) durch die unterschiedlichen Gestalten der Bilder auf unserer Retina hindurch die Gestalt eines Objekts oder durch die unterschiedlichen Lichtintensität auf den Fotorezeptoren unserer Zapfen die Farbe eines Objekts sehen. Auch diese Konstanzphänomene sind Transparenzphänomene.807 Seine These besagt, dass auch Eigenschaften der Objekte durchsichtig sind. Wir sehen im Normalfall (im alltäglichen Umgang mit Zuhandenem) nicht das Rot eines Buchs, sondern ein rotes Buch. Zunächst scheint Heidegger mit „Niemals […] niemals…“ auf eine starke Transparenzthese zuzusteuern, schwächt jedoch ab („Um ein reines Geräusch zu Ich werde diese These mithilfe von Reid in Abschnitt 5.3. verteidigen. Heidegger 1977: 10f. 807 Vgl. Dretske 1981: 163f. 805 806 382 hören…“). Zwei weitere Zweideutigkeiten zeigen sich in dieser Passage. (i) Aussagen wie „S hört den Wind im Schornstein pfeifen“ „S hört das dreimotorige Flugzeug“, „S hört den Mercedes“ können non-epistemisch oder epistemisch verstanden werden. Man kann einem Hund, Kind oder Erwachsenen die Wahrnehmung eines Mercedes zuschreiben („S hört einen Mercedes kommen“), ohne dem Wahrnehmungssubjekt den Begriff eines Mercedes zuzuschreiben. Subjekte können einen Mercedes auch im nicht-epistemischen Sinne hören. Hingegen hört der Kenner von Fahrzeugmotoren oder der Erwarter eines Mercedes im epistemischen Sinne, dass ein (unbestimmter oder bestimmter) Mercedes kommt. Sie verfügen über den Begriff eines Mercedes. (ii) Die Inhalte von Wahrnehmungen und von Wahrnehmungsüberzeugungen werden nicht getrennt. Grob gesagt können wir davon ausgehen, dass der Inhalt einer Wahrnehmung dem Inhalt einer durch sie hervorgebrachten Wahrnehmungsüberzeugung entspricht. In der zitierten Passage geht Heidegger von Wahrnehmungsurteilen im epistemischen Sinne aus. Er ist der Ansicht, dass wir durch (für sich genommen inhaltslose) Empfindungen hindurch den Mercedes hören. Bei entsprechender Ausbildung, Kenntnis, Erwartung usw. hören wir ihn direkt, wir erschließen nicht, dass es sich um einen Mercedes handelt, ebenso wie eine Kennerin einen bestimmten Sänger hört, eine bestimmte Apfelsorte riecht und schmeckt oder einen bestimmten Malstil sieht und nicht aus ihren Empfindungen oder den Eigenschaften der Objekte erschließt. Es sieht also so aus, dass die These der Transparenz der Erfahrungen nichts über die Natur von Erfahrungen aussagt. Es ist vielleicht normalerweise so, dass wir uns der Eigenschaften von Objekten und nicht der Eigenschaften unserer Erfahrungen dieser Objekte bewusst werden. Allein, es ist keineswegs notwendigerweise so. Selbst wenn dem so wäre, ist damit nicht gesagt, dass unsere Sinneserfahrungen nur auf genuin sinnliche Eigenschaften hin transparent sind, wie etwa Farben, und nicht auf Autotypen, Apfelsorten oder Malstile. Die These der Transparenz der Erfahrung ist als Prämisse in Dretskes Argument nicht haltbar. Und dies heißt, dass die entscheidende Motivation für den externalistischen Repräsentationalismus im Hinblick auf Qualia verfehlt ist.808 Indem wir auf das geachtet hatten, was Dretske angeborene natürliche Repräsentation nennt (worunter in erster Linie Sinneswahrnehmungen fallen), konnten wir feststellen, dass die produzentenorientierte Teleosemantik sowohl hinsichtlich ihrer naturalistischen Verankerung (5.1.4.1.) als auch hinsichtlich ihrer Antwort auf das Problem der 808 Der Qualia-Externalismus ist in letzter Zeit verschiedentlich attackiert worden, wobei nicht nur die Transparenzthese im Zentrum dieser Angriffe steht. Vgl. etwa die Beiträge in Wright 2008. 383 Unterbestimmtheit des IR-Inhalts (5.1.4.3.) hinter der Biosemantik zurück bleibt. Entfaltet man jedoch die theoretischen Elemente für die Bestimmung sowohl der Natur als auch der Natürlichkeit mentaler Repräsentationen, so zeigt sich, dass die produzentenorientierte Teleosemantik die Konsumentenorientierung implizit in Anspruch nimmt. Das ist bei Lichte betrachtet wenig überraschend. Repräsentationen oder Zeichen sind nun einmal dreistellige Entitäten und eine Naturalisierung von Repräsentationen im Rahmen der Evolution des Lebens – die einzige Form der Naturalisierung, auf die es ankommt – muss auf die Verwendung von Repräsentationen oder Zeichen Bezug nehmen. Darin zeigt sich wiederum das pragmatistische Erbe der Biosemantik (1.2.). Schließlich hat sich gezeigt, dass die Hauptmotivation für den Qualia-Externalismus fragwürdig ist. Dies ist freilich keine gute Nachricht für Naturalisten, gilt doch der Qualia-Externalismus als eine der verheißungsvollsten Vorschläge für eine Naturalisierung dieses Aspekts der Subjektivität. Hier zeigt sich die Wahrheit des Slogans, wonach der phänomenale Charakter des Bewusstseins das „schwierige Problem“ für den Naturalismus darstellt, und nicht Intentionalität (1.1.), Normativität (1.1.4., 2.1., 3.1.-3.3.) oder Selbstbewusstsein (4.4.). Ich möchte an dieser Stelle das Qualia-Problem offen lassen (vgl. aber 5.3.2.3.) und lediglich anmerken, dass mir sowohl reduktionistische als auch eliminativistische Strategien zur Lösung dieses Problem nicht überzeugend erscheinen. Qualia sind ein Problem für ein umfassendes naturalistisches Bild unseres geistigen Lebens. Das Qualia-Problem ist ein Problem für den Naturalismus. Trotz aller Kritik an der produzentenorientierten Teleosemantik: Es gibt natürlich Thesen, die beide Formen der Teleosemantik miteinander verbinden. Neben den zentralen funktionalen Elementen, für die ich bislang argumentiert habe, gehören dazu die These, dass sinnliche Wahrnehmungen Repräsentationen sind und dass es nicht-begriffliche IRInhalte gibt. Im Folgenden sollen diese beiden Thesen verteidigt werden. 5.1.4. Zwei Gemeinsamkeiten teleosemantischer Theorien der Wahrnehmung 5.1.4.1. Sehen als Repräsentieren Wie wir gesehen haben, muss man verschiedene Elemente einer Repräsentation unterscheiden. Eine zentrale Unterscheidung ist jene zwischen Vehikel und Inhalt. Teleosemantiker vertreten im Hinblick auf IR-Inhalte einen Vehikelinternalismus und einen Inhaltsexternalismus. Dretske erläutert diese Unterscheidung mithilfe eines Vergleichs. Denkt man an ein Märchen, so kann man an zwei Dinge denken, nämlich an 384 die Wörter, die das Märchen erzählen, oder an das, was die Wörter erzählen. Das erste ist das Märchen-Vehikel, das zweite der Inhalt des Märchens. Märchen sind beispielsweise in Büchern niedergeschrieben, doch das, was sie erzählen, geschieht nicht in diesen Büchern. Anders als die in historischen Darstellungen oder in Reportagen erzählten Ereignisse geschehen und geschahen Märchenereignisse nirgends.809 Dasselbe gilt von mentalen Repräsentationen. Ebenso wie sich Märchen-Vehikel in einem Buch befinden, so lassen sich R-Vehikel im Geist bzw. im Körper eines Lebewesens finden. Doch ebenso wenig wie der Inhalt des Märchens im Buch zu finden ist, müssen sich die IR-Inhalte im Geist oder im Körper finden lassen. Für den Naturalisten sind R-Vehikel natürlich in den Körpern, nicht im Geist, von Lebewesen zu finden, die Inhalte hingegen nicht, denn diese werden durch externe Tatsachen festgelegt. Repräsentationen sind also keine Bildchen im Kopf (im Geist oder im Hirn), wie ein verbreitetes Vorurteil gegen den Repräsentationalismus es will, sondern Vehikel, deren IR-Inhalte durch externe Tatsachen festgelegt werden. Aus demselben Grund sind die Inhalte von Repräsentationen keine essenziell privaten Entitäten. Die Unterscheidung von Vehikel und Inhalt stößt weder unseren CommonsenseMeinungen noch unseren Sprachgebrauch vor den Kopf. Wenn ich die Augen oder Ohren verschließe oder verstopfe, so sehe und höre ich nichts mehr, weil mich weder visuelle noch akustische Reize affizieren können. Einfälle kommen mir in den Sinn, Gedanken gehen mit durch den Kopf, Informationen habe ich im Gedächtnis, Summen rechne ich im Kopf aus, etwas lebt in meiner Vorstellung usw., weil die entsprechenden R-Vehikel in meinem Sinn, Kopf, Gedächtnis oder in meiner Vorstellung sind, nicht weil die repräsentierten Inhalte dort sind. Der Vehikelinternalismus legt eine Erklärung für die Commonsense-Idee eines mit Einschränkungen geltenden privilegierten Zugangs zu den eigenen mentalen Zuständen nahe. Schließlich suggeriert er eine einfache Antwort auf die Frage, wie Gedanken, Wünsche und Absichten direkt unser Verhalten beeinflussen können: Die internen Vehikel sind Ursachen unseres Verhaltens, insofern sie über bestimmte Inhalte verfügen. Für den Repräsentationalisten ist auch Wahrnehmen (Sehen, Hören usw.) Repräsentieren. In einer Repräsentation wird ein Ausschnitt der Welt als so-und-so-seiend repräsentiert, die Umwelt wird auf eine bestimmte Weise repräsentiert. Der Repräsentationalist unterstellt mithin, dass Wahrnehmungen die Umwelt auf eine bestimmte Weise repräsentieren. Anders formuliert: Repräsentationen haben einen Inhalt. Dieser Inhalt kann bezüglich des repräsentierten Ausschnitts der Welt korrekt oder 809 Vgl. Dretske 1995: 34f. 385 inkorrekt, wahr oder falsch sein. Diese Sichtweise, dass Wahrnehmungen repräsentationalen Inhalt haben, wird sowohl von Nonkonzeptualisten als auch von Konzeptualisten geteilt. Sie stellt die gemeinsame Basis ihres Disputs dar. Die Frage in diesem Disput lautet: Wie ist der Inhalt der Wahrnehmung beschaffen? Eine diesem Disput vorgelagerte Frage lautet jedoch: Haben Wahrnehmungen überhaupt einen repräsentationalen Inhalt? Wird etwa im Sehen ein Ausschnitt der Welt als so-und-soseiend, die Umwelt auf eine bestimmte Weise repräsentiert? In diesem Abschnitt möchte ich die repräsentationalistische Auffassung der Wahrnehmung gegen Angriffe verteidigen. Die These (R) lautet, dass Wahrnehmungen Repräsentationen sind. Wahrnehmungen involvieren, dass ein der Wahrnehmung fähiges Lebewesen Repräsentationen bestimmter Art ausbildet und dass diese Repräsentationen einen IR-Inhalt haben. Ich werde meine Verteidigung von (R) an Charles Travis’ Attacke auf den Repräsentationalismus orientieren.810 In der folgenden Auseinandersetzung mit Travis soll es also um die Frage gehen, aus welchen Gründen man Wahrnehmungen einen IR-Inhalt zuschreiben sollte und warum man Wahrnehmungsepisoden so verstehen sollte, dass sie R-Vehikel involvieren. Ist erst einmal gezeigt worden, dass die Wahrnehmung über eine repräsentationale Natur verfügt, stellt sich die Frage, welcher Art der Inhalt visueller Repräsentationen ist. Ich werde den Inhalt als nicht-begrifflichen Inhalt bestimmen und in der (leider sehr verworrenen) Debatte um die Existenz nicht-begrifflichen Inhalts verorten. Weil mich in erster Linie die visuelle Wahrnehmung interessiert, werde ich mich hauptsächlich auf das Sehen, auf die visuelle Wahrnehmung, und auf visuelle Systeme (VS) konzentrieren: (R): Sehen ist Repräsentieren. Auf den ersten Blick scheint es durchaus plausibel zu sagen, dass Wahrnehmungen einen Inhalt haben, dass sie von etwas handeln und dieses etwas auf eine bestimmte Art und Weise erfassen. Was will Travis dagegen vorbringen? Travis meint, dass die These des Repräsentationalismus bezüglich der Sinneswahrnehmung durch die Formulierung „a given perceptual experience has a given representational content“ zum Ausdruck gebracht werden kann. Er bemängelt, dass diese These ohne Argument akzeptiert werde. Seine Vermutung lautet, dies geschehe „faute de mieux“.811 Demgegenüber behauptet Travis, dass in der Wahrnehmung nichts als so-und-so beschaffen repräsentiert werde. Insbesondere gebe es nichts an der Wahrnehmung, was veridisch oder illusorisch sei. Die Travis 2004. Travis 2004: 57. Travis verweist auf eine ganze Reihe von Autoren, die diese Thesen teilen: Davies, Peacocke, McDowell, Harman, Searle, Tye, McGinn. 810 811 386 Sinne seien in dieser Hinsicht „dumm“ und „stumm“. Sie sagen uns nichts.812 Von Austin her entwickelt Travis ein alternatives Modell zum Repräsentationalismus, um das „faute de mieux“ zu konterkarieren. Unsere Sinne repräsentieren nichts als so-und-so seiend, vielmehr stellen sie uns unsere Umgebung in Aussicht, indem sie uns mit darin vorhandenen Dingen konfrontieren und nicht mit darin nicht vorhandenen Dingen.813 Travis umreißt seine Alternative wie folgt: „I cannot be confronted correctly or incorrectly, veridically or deceptively. I simply confront what there is. Perception leads me astray only where I judge erranousley, failing to make out what I confront for what it is. […] It makes us aware, to some extent, of things (around us) being as they are. It is then up to us to make out, or try to, which particular way that is. Perception cannot present things as being other than they are. […] In perception, things are not presented, or represented, to us as being thus and so. They are just presented to us, full stop. It is in making out, or trying to, what it is that we confront that we take things, rightly or wrongly, to be thus and so.“814 Die Spitze besteht darin, dass es in den Sinnen keinen Irrtum geben könne, sondern Irrtum allein dadurch zustande komme, dass wir die Dinge, die die Sinne uns zeigen, kognitiv als so und so beschaffen auffassen und beurteilen. Travis diskutiert verschiedene Fälle des irrtümlichen Beurteilens oder Irreführens (misleading) und führt dabei zwei technische Ausdrücke ein, die kurz erläutert werden müssen, nämlich „faktive Bedeutung“ (factive meaning) und „anzeigen“ (indicating). Nehmen wir Travis’ Beispiel: Sid erscheint betrunken auf der Party, was bedeutet, dass er wieder einmal einen Job verloren hat. Sids Trunkenheit (A) bedeutet, dass er seinen Job verloren hat (B), wenn gilt: Wenn A, dann B. Das meint Travis mit faktiver Bedeutung.815 Wenn nun vernünftigerweise erwartet werden kann, dass A faktiv B bedeutet, dann wird B durch A angezeigt.816 Sids Trunkenheit kann anzeigen, dass er wieder einmal seinen Job verloren hat, weil das z.B. bislang immer so gewesen ist. Natürlich kann man sich täuschen. Insofern kann, was wir sehen, irreführend sein. Anders gesagt: Wir müssen die Dinge, wie sie uns die Sinne präsentieren, erst so und so auffassen (taking) und nur insofern wir der Auffassung sind, die Dinge, wie sie uns die Sinne präsentieren, würden etwas anzeigen (indicating), können uns die Sinne irreführen. Ob unsere Auffassung dessen, was die Sinne anzeigen, irreführt oder nicht, hängt von der faktiven Bedeutung dessen, was wir sehen ab, von der faktischen Beschaffenheit der Welt und unserer Kenntnis davon, nicht vom Gehalt des Sehens. Die Sinne selbst führen nicht Der Titel von Travis’ Aufsatz „The Silence of the Senses“ spielt auf den erfolgreichen Film „The Silence of the Lambs“ an. 813 Travis 2004: 64. 814 Travis 2004: 65. 815 Travis 2004: 66. 816 Travis 2004: 67. 812 387 irre. Travis legt großen Wert darauf, dass faktive Bedeutung und Anzeigen von Repräsentieren unterschieden sind.817 Wenn A faktiv B bedeutet, dann repräsentiert die Wahrnehmung von A nicht B, sondern A ist ein Anlass, B zu erwarten. Was man die Dinge zu bedeuten erwartet, hängt einerseits davon ab, was sie faktisch bedeuten, d.h. wie die Welt beschaffen ist, und andererseits von unserer Kenntnis dieser Beschaffenheit. Ein Repräsentationalist wie Dretske würde zum Beispiel des Betrunkenen Folgendes sagen: Es handelt sich bei Sid um einen Fall indirekten Sehens, und dies besagt nichts gegen (R). Der springende Punkt besteht darin zu behaupten, dass für das Irreführen nicht die Sinne und ihr mutmaßlicher repräsentationaler Gehalt zuständig sind, sondern unsere Erwartungen darüber, was der Zustand A anzeigt (in der Bedeutung, die Travis diesem Ausdruck gibt). Indem ich beispielsweise auf die Anzeige einer Personenwaage blicke, sehe ich indirekt mein Körpergewicht. Die Anzeige zeigt mein Körpergewicht an, weil der Zustand der Anzeige (A) mein Körpergewicht (B) „faktiv bedeutet“. Ich sehe sozusagen, wie schwer ich bin. Selbstverständlich würde ich dies nicht sehen, ohne ein bestimmtes Wissen (Auffassung, Erwartung) über die Personenwaage und ihre Anzeige. Wie könnte ich in diesem Fall irregeführt werden? Entweder, indem ich eine falsche Auffassung einer Waage habe (sie zeigt immer mein Idealgewicht von 80 kg an), indem die Waage nicht richtig funktioniert (die Anzeige geht stets auf 80 kg) oder indem ich auf die falsche Anzeige blicke (und dort steht jemand, der 80 kg schwer ist). Sofern ich sehe, was die Anzeige anzeigt (der Zeiger zeigt auf die 80), gibt es im Inhalt der Wahrnehmung tatsächlich nichts, was irreführend wäre. Doch das beweist noch nichts. Meine Erwartungen oder die Waage führen mich irre, nicht aber der Inhalt meines Sehens. Somit ist hinsichtlich der Frage, ob sehen einen Inhalt hat nichts entschieden. Es darf nicht verwirren, bei dem Ausdruck „anzeigen“ (indicating) an den Gebrauch von „indicating“ in Dretske Informationstheorie zu denken. Wenn man Dretskes Informationstheorie im Hintergrund hat, erscheint Travis’ Gegenüberstellung von Repräsentation auf der einen und „faktiver Bedeutung“ und „Anzeige“ auf der anderen Seite rätselhaft. Für Dretske trägt A über B Information, wenn gilt: Immer wenn A, dann B. Das Tragen von Information hängt – in Travis’ Worten – davon ab „on what as a rule cooccurs with what“.818 Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Travis das Anzeigen durch unsere Sinne vom kognitiven Erfassen einer faktiven Bedeutung abhängig macht, während ein Repräsentationalist wie Dretske das kognitive Erfassen von etwas vom Vorliegen einer informationalen Indikation abhängig macht. Travis glaubt gegen Informationstheoretiker, aus 817 818 Travis 2004: 66f. Travis 2004: 67. 388 der Perspektive der Biosemantik ganz richtig, dass ein Zeichen oder eine Repräsentation nichts bedeutet, wenn sie nicht für etwas genommen wird. Er meint aber zu Unrecht, dass ein solches Nehmen oder Erfassen kognitiver und mithin urteilsartiger oder begrifflicher Natur sein muss. Doch als Konsumenten von Zeichen und Repräsentationen kommen nicht nur diese Weisen des kognitiven Erfassens in Frage. Im Falle des betrunkenen Sid jedoch kann die Biosemantikerin Travis zustimmen: Ich interpretiere Sids betrunkenes Erscheinen auf der Party als Zeichen für etwas (5.3.4.2.). Wie steht es nun mit der direkten Wahrnehmung von Objekten (Travis spricht von „unmediated awareness“)? Aufgrund seiner vorhergegangenen Diskussion des Irreführens glaubt sich Travis in der Position Folgendes behaupten zu können: Das direkte Sehen von Objekten ist eine Art und Weise über die Welt informiert zu sein, und nicht über die Welt fehlinformiert zu werden. Das direkte Sehen erschöpfe sich vollständig im Anzeigen und faktiven Bedeuten, darüber hinaus werden die Dinge nicht noch zusätzlich als so-und-so repräsentiert. Man kann über die Präsenz eines Schweins informiert werden (Travis’ Beispiel), indem man ein Schwein sieht, nicht indem man es als so-und-so sieht. Wenn man ein Schwein zu sehen glaubt, obschon keines vorhanden ist, so wird man nicht durch ein Schwein irregeführt, sondern eben durch etwas ganz Anderes oder durch etwas, was wir für ein Schwein halten, etwa durch eine mechanisch animierte Schweinehälfte.819 Die Sinne zeigen einfach, was da ist (ein Schwein, kein Schwein, ein Scheinschwein). Das Irreführen liege ganz und gar darin, dass man etwas als Anzeige auffasst: „So far, there are no signs of something in perception to mislead other than by being taken to indicate what is not so.“820 Travis geht von den folgenden zwei Formen des Irrtums in der direkten Wahrnehmung aus: Ich sehe ein Objekt, doch ist da keins (kein Schwein). Ich sehe etwas als etwas Anderes (Scheinschwein). Verantwortlich für den Irrtum ist nicht der Inhalt des Sehens, sondern unsere Auffassung des Gesehenen. Wir fassen das, was uns die Sinne präsentieren, als Anzeige für etwas auf. Wenn als Anzeige für etwas Nichtexistentes oder Anderes, dann sind nicht die Sinne irreführend, sondern unser Auffassen. Es gibt jedoch eine weitere Form des Irrtums, die Travis nicht beachtet, und diese ist die für den Repräsentationalismus entscheidende: Ich sehe ein Objekt (es ist vorhanden und nicht etwas Anderes), nehme aber eine Eigenschaft an ihm wahr, die es nicht hat. Es gibt also drei Fälle des Wahrnehmungsirrtums und im dritten Fall sieht S ein Objekt o als F, obschon o G ist. Betrachten wie ein Beispiel. Die Farbe gelb erscheint (für uns) als weiß, wenn sie im Licht einer Natriumdampflampe gesehen wird. Apfelsaft erscheint im Lichte 819 820 Travis 2004: 67f. Travis 2004: 68. 389 einer Natriumdampflampe als weiß (obwohl gelblich). Ich sehe nicht etwas, das nicht vorhanden wäre (das Glas Apfelsaft steht vor mir), ich sehe auch nicht etwas Anderes (ich sehe eine Farbe). Woher stammt der Irrtum in diesem Fall? Laut Travis stammt er nicht aus den Sinnen, ihnen gemäß ist der Apfelsaft weiß. Er stammt daher, dass etwas „being taken to indicate what is not so.“ Das weiße Aussehen des Apfelsafts soll nun was anzeigen, um mich irrezuführen? Dass der Apfelsaft gelb ist? Dann bin ich gerade nicht irregeführt durch meine Auffassung dessen, was angezeigt wird. Dass der Apfelsaft weiß ist? Dann bin ich in der Tat irregeführt, und zwar nicht durch meine Auffassung, sondern durch die Art und Weise, wie mein Sehen einen Ausschnitt meiner Umwelt repräsentiert. Das den Irrtum hervorbringende Missverhältnis besteht nicht zuerst zwischen meiner Auffassung und der Beschaffenheit der Welt, sondern zuerst zwischen dem repräsentationalen Inhalt meines Sehens und der Beschaffenheit der Welt. Das Durcheinander, das Travis anrichtet, wird deutlicher, wenn wir zwischen dem Sehen von Objekten, Eigenschaften und Tatsachen unterscheiden. Ich sehe ein Objekt, nämlich den Apfelsaft. Dieses Objekt erscheint mir auf bestimmte Art und Weise, nämlich weiß. Der Apfelsaft scheint also weiß zu sein. Hier liegt ein Irrtum im IR-Inhalt der Wahrnehmung vor, denn die Farbe des Apfelsafts ist gelb. Wenn ich nun aufgrund meiner Wahrnehmung urteile, dass der Apfelsaft weiß ist, dann stelle ich sehend eine Tatsache fest. Hier liegt nun ein Irrtum in der Auffassung oder im Urteil vor. Man kann zwar sagen, dass ich urteile, dass der Apfelsaft weiß ist, doch Grundlage meines Urteils ist die sinnliche Repräsentation des Apfelsafts als etwas Gelbes, mithin ihr IR-Inhalt. Der Irrtum in der Auffassung leitet sich vom Irrtum im sinnlichen IR-Inhalt her. Wenn ich jedoch weiß, dass das Licht von einer Natriumdampflampe auf das Getränk fällt, dann urteile ich nicht, dass es weiß ist, denn ich weiß, dass diese Art von Licht möglicherweise das Beleuchtete anders erscheinen lässt. Und wenn ich weiß, dass Natriumdampflampenlicht Objekte, die im Sonnenlicht gelb erscheinen, weiß erscheinen lässt, so fälle ich das Urteil, dass das Getränk (der Apfelsaft) gelb ist. Partielle Sinnestäuschungen (und partielle Irrtümer) kommen im Alltag häufig vor, zumindest ebenso häufig wie Verwechslungen und gewiss häufiger als Halluzinationen. Anders als Travis behauptet, ist es nicht so, dass Repräsentationalisten ohne Argumente (R) behaupten. Denn für (R) spricht ein bekanntes und altes Argument, das für die meisten Repräsentationalisten auf der Hand liegt, selten explizit gemacht wird, und als „Meisterargument für die Inhaltsunterstellung“ betrachtet werden darf. Es lässt sich anhand der bekannten Müller-Lyer-Täuschung artikulieren. Zwei Linien A und B sehen ungleich lang aus. Sie sind aber nicht ungleich lang. Bekanntlich beeinflusst unser Wissen 390 davon, dass die Linien eigentlich gleich lang sind, nicht, wie die Linien für uns aussehen. Unsere Neigung zur Auffassung, dass die Linien ungleich lang sind, ist für das Zustandekommen der Sinnestäuschung weder notwendig noch hinreichend. Auch ohne eine solche Neigung würde diese Sinnestäuschung (oder andere) entstehen. Man kann die Neigung zur Auffassung, dass die Linien ungleich lang sind auch als Hinweis darauf nehmen, dass sie gleich lang sind. Hier scheint ein klarer Fall dafür vorzuliegen, dass ein Irrtum in den Sinnen liegt. Die beste Erklärung dafür ist (R): Der Inhalt unseres Sehens der Müller-Lyer ist, dass die Linien ungleich lang sind. Wir sehen die Linien als ungleich lang und das ist falsch, denn die Linien sind nicht ungleich lang.821 Wie erklärt Travis die Müller-Lyer? Die Linien sehen ungleich lang aus, sie scheinen nicht nur so auszusehen. Es kann natürlich durchaus sein, dass zwei Linien deshalb ungleich lang aussehen, weil sie ungleich lang sind. Daher nehmen wir das Aussehen (ungleiche Länge) in beiden Fällen als Anzeige für eine tatsächlich vorhandene Ungleichheit der Linien. Wir erwarten vernünftigerweise, dass das Aussehen der Linien (sie sehen ungleich lange aus) faktiv bedeutet, dass die Linien ungleich lang sind. Unsere Auffassung, dass dies im Falle der Müller-Lyer zutrifft, führt uns in die Irre, nicht das Aussehen der Linie: „What one gets wrong is the arrangement of the world: how the misleading seen thing in fact relates to other things. That mistake neither requires, nor suggests, that in this illusion one line is represented to us as being longer than the other.“822 Wenn ich Travis richtig verstehe, dann ist die Müller-Lyer-Täuschung analog zu komparativen Fällen: Etwas sieht aus wie ein Apfel, also schmeckt es wie ein Apfel. Etwas Anderes sieht aus wie ein Apfel und schmeckt nicht wie ein Apfel – weil es kein Apfel, sondern eine Wachsskulptur ist. Etwas, das aussieht wie ein Apfel, löst in uns die berechtigte Erwartung aus, dass es wie ein Apfel schmeckt. Zwei Linien, die ungleich lange aussehen, lösen in uns die berechtigte Erwartung aus, dass sie ungleich lang sind. Sie sehen nämlich aus wie ungleich lange Linien. Travis gibt eine Beschreibung dafür, was wir bei ungleich aussehender Länge der beiden Linie vorzufinden erwarten. Wir sind in unserer Erwartung irregeführt. Der Irreführung entspringt aus der Diskrepanz zwischen unserer Erwartung und dem Aussehen der Linien. Bisweilen werden Sinnestäuschungen wie die Müller-Lyer zugunsten des Nonkonzeptualismus angeführt. Das ist hier nicht der Fall. Auch ein Konzeptualist wie McDowell führt die Müller-Lyer an, um (an dieser Stelle nur implizit, nicht ausdrücklich wie Travis suggeriert) zu behaupten, dass Wahrnehmungen Inhalte haben: „In the Müller-Lyer illusion, one’s experience represents the two lines as being unequally long.“ (McDowell 1996, 11n9). Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen McDowell 2001 und Schantz 2001. 822 Travis 2004: 68. 821 391 Soweit so gut. Es geht aber um die Frage, ob das Sehen etwas falsch repräsentiert. Die Falschheit entspringt einer Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Länge der Linien und dem Aussehen der Linien. Der Fall des Apfels ist nicht analog. Der Wachs-Apfel sieht aus wie ein Apfel. Unsere Erwartung führt uns irre, wenn wir in den Apfel beißen. Die gleichlangen Linien sehen demgegenüber nicht aus wie gleichlange, sondern wie ungleich lange Linien. Nicht unsere Erwartung führt uns irre, sondern das Sehen repräsentiert zwei gleichlange Linien als von ungleicher Länge. Wenn Travis schreibt, wir würden irregeführt durch „how the misleading seen thing in fact relates to other things“, dann meint er, der hier relevante Irrtum (eine Sinnestäuschung) bestehe darin, dass wir das ungleich lange Aussehen der Linien (the misleading seen thing) komparativ als einen Fall von faktiver Bedeutung (other things) auffassen (wenn zwei Linien ungleich lange aussehen, so sind sie ungleich lang). Das ist falsch. Der Irrtum (die Sinnestäuschung) besteht nicht darin, dass wir das ungleich lange Aussehen komparativ subsumieren, sondern darin, dass die Linien ungleich lang aussehen. Würde die Sinnestäuschung nämlich in dieser komparativen Subsumtion bestehen, dann würde sie verschwinden, sobald wir vernünftigerweise erwarten können, dass das ungleich lange Aussehen von Linien mit Winkeln an den jeweiligen Enden anzeige, dass die Linien gleich (nicht ungleich) lange sind. Doch der Umstand, dass etwas aussieht wie ein Arrangement für eine Müller-Lyer-Täuschung, bringt die Sinnestäuschung nicht zum verschwinden. Der entscheidende Streich wird also wiederum wie folgt geführt: Travis lokalisiert den Irrtum falsch. Der Irrtum liegt nicht in einer Diskrepanz zwischen Aussehen und Erwartung und auch nicht in einer komparativen Subsumtion. Er liegt vielmehr in der Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Länge der Linien und ihrem Aussehen. Die Idee der komparativen Subsumtion ist schlicht falsch. Betrachten wir eine weitere anti-repräsentationalistische Erklärung der Müller-Lyer. Sie stammt von Merleau-Ponty.823 Der Hauptpunkt lautet auch hier, dass im Sehen keine Täuschung vorliege. Merleau-Ponty geht zunächst von einer aus seiner Sicht verfälschenden Wahrnehmungstheorie aus. Ausgangspunkt ist die Theorie, Wahrnehmungen seien Empfindungen. Was sind Empfindungen? Merleau-Ponty weist den Gedanken zurück, Empfindungen seien Eindrücke, d.h. kleinste Elemente der Wahrnehmung, in sich undifferenziert und kontextfrei. So etwas treffen wir in der Wahrnehmung jedoch nicht nur niemals an, es ist auch nicht einmal vorstellbar. Eine zweite Theorie, nach der Wahrnehmungen Qualitäten sind, sei verfälschend, weil sie behauptet, Qualitäten seien Empfindungen, also ein „élément de la conscience“, nicht das Empfundene, also „une propriété de l’objet“, aber die Merkmale des Empfundenen den 823 Merleau-Ponty 1945: 21ff. 392 Empfindungen zuschreibe.824 In dieser Theorie werden die Eigenschaften des Empfundenen auf die Empfindung übertragen und dadurch werde nicht sie, sondern ihr Gegenstand charakterisiert. Millikan bezeichnet dies als „Internalisierung des Inhalts“ (content internalizing). Dabei werden Eigenschaften des repräsentierten Wahrnehmungsobjekts auf das Wahrnehmungsvehikel projiziert. Häufig wird am Repräsentationalismus kritisiert, er nehme Zwischenglieder zwischen Geist und Welt an und mache dadurch die Relation zwischen Welt und Geist zu einem Rätsel. Das ist ein Vorurteil. Was immer die Relation zwischen Geist und Welt sein soll, der Repräsentationalismus erklärt bestimmte Relationen zwischen Geist und Welt, und die Biosemantik geht davon aus, dass bestimmte Relationen zwischen Geist und Welt für das Haben von repräsentationalen Fähigkeiten und mithin von Repräsentationen notwendig sind. Der Repräsentationalismus wird freilich dann zum Problem, wenn Eigenschaften des Repräsentierten auf das R-Vehikel (das Zwischenglied) projiziert werden (Internalisierung) oder umgekehrt (Externalisierung).825 Ein zweites Problem mit der Theorie von Wahrnehmungen als Qualitäten besteht Merleau-Ponty zufolge in der Suggestion, die Bedeutung einer Wahrnehmung sei durch die Qualitäten bereits vollauf bestimmt. Merleau-Ponty meint nun, dass der Grundirrtum solcher Theorien einer Verwechslung zwischen wahrgenommener Welt und Welt des Wahrnehmenden entspringe. Die wahrgenommene Welt sei objektiv und bestimmt, die darin vorhandenen Eigenschaften (Qualitäten) ebenso. Es scheint, als würden wir einen klar abgegrenzten Ausschnitt der Welt wahrnehmen, etwa jenen Ausschnitt, der sich auf unsere Netzhaut projiziert. Die Welt des Wahrnehmenden hingegen sei nicht in diesem Sinne objektiv und bestimmt, im Gegenteil: „Il nous faut reconnaître l’indéterminé comme un phénomène positif.“826 Die wahrgenommenen Dinge können nicht auf die Abbildungsverhältnisse von Oberflächen auf die Netzhaut reduziert werden, denn zum Gesichtsfeld gehöre beispielsweise auch die nicht sichtbare Rückseite von Dingen oder die unbestimmte Grenze des Gesichtsfelds und „à la limite, ce qui est derrière mon dos n’est pass ans présence visuelle“.827 Merleau-Ponty spricht von einem „préjugé du monde objectif“, d.i. das Vorurteil einer Welt-an-sich mit einer bestimmten Beschaffenheit.828 Diese Auffassung der Welt werde auf die Wahrnehmung übertragen, und darin stecke nicht nur der Fehler der Internalisierung des Inhalts, sondern auch das Vorurteil der objektiven Auffassung der Welt. Die Rede von „Sinnestäuschungen“ setze nicht nur voraus, dass die Ibid. 26. OCCI: 110-115. 826 Merleau-Ponty 1945: 28. 827 Ibid. 28. 828 Ibid. 824 825 393 Wahrnehmung bestimmt sei, sondern dass es eine objektive Welt mit einer bestimmten Beschaffenheit unabhängig von der Wahrnehmung gebe. Was sagt Merleau-Ponty vor diesem Hintergrund zur Müller-Lyer? Die beiden Linien seinen „ni égaux ni inégaux“.829 Die Alternative gleich/ungleich sei lediglich in der Welt der Objektivität zwingend, nicht in der Welt der Wahrnehmung. Der Vergleich zwischen den beiden Linien sei erst auf dem Boden der objektiven Welt möglich, die Linien in der Wahrnehmung würden aber sozusagen nicht zu dieser objektiven Welt gehören. Für die Wahrnehmung sind eine isolierte Linie und dieselbe Linie in einem Gestaltzusammenhang nicht dasselbe. Mit dem Gestaltzusammenhang meint MerleauPonty je die Linien der Müller-Lyer im Zusammenhang mit den jeweils nach außen bzw. nach innen zeigenden Winkeln. Wir nehmen Linie A als eine Gestalt wahr und Linie B als eine andere Gestalt. Die Linien in A bzw. B sind nun weder gleich noch ungleich, sondern Bestandteile unterschiedlicher Gestalten. Ein Vergleich zwischen beiden Linien ist eine Aufforderung, die Linien außerhalb ihres Gestaltzusammenhangs wahrzunehmen. Dann sind es andere Linien, denn ihre Länge wird durch den Gestaltzusammenhang konstituiert, nicht durch den Vergleich. Merleau-Ponty schlägt somit gleich drei Behauptungen in den Wind, die der Repräsentationalist gemäß (R) aufstellen muss, wenn er über die Müller-Lyer spricht: (i) Im Sehen der Müller-Lyer werden die beiden Linien als ungleich lang repräsentiert. (ii) In der Müller-Lyer liegt eine Sinnestäuschung vor. (iii) Die Täuschung erklärt sich aus der Diskrepanz zwischen dem Aussehen der Linien und ihrer tatsächlichen Beschaffenheit. Gegenüber (i) behauptet Merleau-Ponty, dass der Vergleich der beiden Linien den Gestaltzusammenhang auflöse und deshalb andere Wahrnehmungsgegenstände konstituiere. Gegenüber (ii) behauptet Merleau-Ponty, dass keine Sinnestäuschung vorliege, sondern sich die Linien als das zeigen, was sie im gegebenen Gestaltzusammenhang sind. Und gegenüber (iii) behauptet Merleau-Ponty nicht nur dasselbe wie gegenüber (ii), sondern verwiest zudem auf das „Welt-Vorurteil“, die Idee einer Welt mit objektiver Beschaffenheit. Wenden wir uns zuerst (i) zu. Es leuchtet nicht ein, warum der Vergleich zwischen den beiden Linien den Gestaltzusammenhang verändern sollte. Natürlich, nur innerhalb des gegebenen Gestaltzusammenhangs sehen die Linien der Müller-Lyer ungleich lang aus. Wären beide Linien ohne Winkel dargestellt, sähen sie gleich lang aus, wäre nur eine Linie mit Winkeln (gegen außen oder gegen innen weisend) abgebildet, so sähen sie wiederum ungleich lang aus. Doch jedes Mal bewirkt eben der Gestaltzusammenhang das ungleiche 829 Ibid. 394 Aussehen der Länge der Linien. Ein Vergleich zwischen den beiden Linien ist also nicht nur innerhalb der „objektiven Welt“ möglich. Sogar wenn wir mit Merleau-Ponty im Gesichtsfeld Unbestimmtheiten und unbestimmte Grenzen des Gesichtsfeldes und der in diesem Feld sich zeigenden Dinge zulassen, so erscheint uns das Gesichtsfeld als eine Einheit. Die Gestalten A und B der Müller-Lyer sind Bestandteile dieser Einheit. Aus diesem Grund sind sie auch vergleichbar. Nichts von dem, was Merleau-Ponty anführt, spricht also gegen (i). Wenn wir uns (ii) zu. Warum behauptet Merleau-Ponty, es handle sich bei der Müller-Lyer um keine Täuschung? Der Grund liegt darin, dass er bei der Diskussion der Müller-Lyer von bestimmten Theorien über diese Täuschung ausgeht, die er als „Intellektualismus“ bezeichnet. Dem Intellektualismus zufolge sind Phänomene wie die Müller-Lyer Sinnestäuschungen, weil der „Getäuschte“ die Hauptelemente (die beiden Linien) nicht isoliert vergleicht, sondern sich durch die Nebenelemente (die Winkel) ablenken lässt. Es handelt sich also um eine fehlende Aufmerksamkeit auf die Hauptelemente.830 Der „Getäuschte“ ist noch nicht genug geschult in der „richtigen“ Wahrnehmung. Weiter glaubt der Intellektualist, dass der „Getäuschte“ auf der Ebene der bloßen Wahrnehmung tatsächlich zwei gleich lange Linien sieht, sich aber infolge der mangelnden Aufmerksamkeit auf diese beiden in der Wahrnehmung gegebenen Hauptelemente zu dem falschen Urteil verleiten lasse, die Linien seien von ungleicher Länge.831 Dies ist also der Sinn von „Täuschung“ mit dem sich Merleau-Ponty auseinandersetzt: Die Linien Müller-Lyer werden eigentlich als gleich lang gesehen, bloße Unaufmerksamkeit ist es, die zum falschen Urteil führt. Soweit ich weiß, vertritt heute niemand mehr diese Deutung der Müller-Lyer. Insbesondere ist der Repräsentationalist nicht auf diese Deutung angewiesen und es bleibt ein vernünftiger Sinn von „Täuschung“, wenn er sagt: Im Sehen der Müller-Lyer werden die beiden Linien als ungleich lang repräsentiert, d.h. anders als sie tatsächlich sind. Lediglich die falsche Theorie, gegen die sich Merleau-Ponty zu Recht wendet, spricht also gegen (ii), nicht das Phänomen selbst. Den Punkt (iii) kann nicht ausführlich gewürdigt werden. Die Redeweise, dass wir die Linien anders sehen, als sie tatsächlich beschaffen sind, setzt für Merleau-Ponty voraus, dass die Welt auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen ist. Darin drückt sich möglicherweise ein „realistisches Vorurteil“ aus, dass die Wissenschaften vom gemeinen Menschenverstand übernehmen.832 Dies scheint mir ein eher notwendiges Vorurteil zu sein, nämlich ein für die Erkenntnis notwendiges. Freilich, die Tatsache, dass wir eine Ibid. 57. Ibid. 58. 832 Ibid. 29. 830 831 395 Vorstellung davon brauchen, dass es eine Beschaffenheit der Welt unabhängig von unserer Repräsentation dieser Welt gibt (hypothetischer Realismus), sagt jedoch nichts darüber aus, dass es tatsächlich eine Art und Weise gibt, wie die Welt unabhängig von unseren Repräsentationen dieser Welt beschaffen ist (ontologischer Realismus). Der Repräsentationalismus, so wie ich ihn verstehe, geht jedoch von diesem „Vorurteil“ aus. Dafür Argumente zu finden ist eine andere Sache.833 Ich habe die Auffassung von Travis zurückgewiesen, dass (R) faut de mieux behauptet werde und habe ein Argument für (R) vorgebracht. Dieses Argument habe ich gegenüber alternativen Perspektiven auf das Phänomen der Sinnestäuschungen am Beispiel der Müller-Lyer verteidigt. Darüber hinaus habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass der Repräsentationalismus und die ihn tragende Unterscheidung zwischen Inhalt und Vehikel weder unseren alltäglichen Denk- und Redeweisen widersprechen noch eine besondere Form des Problem der Relation zwischen Geist und Welt aufwerfen, sofern man die Unterscheidung zwischen Inhalt und Vehikel mit Sorgfalt handhabt. In dieser Hinsicht stimmt die Biosemantik mit der Wahrnehmungsphänomenologie Merleau-Pontys überein. Wir werden sehen, dass sie auch mit Merleau-Pontys Vorstellungen darüber übereinstimmt, was es heißt, ein Objekt zu sehen, denn in der Tat gehören zur visuellen Wahrnehmung auch die nicht sichtbare Rückseite von Dingen und das im Rücken Gelegene (5.1.4.1. & 5.3.3.1.). Nun möchte ich mich aber der zweiten These zuwenden, die von allen Versionen der Teleosemantik unterschrieben wird, nämlich der Existenz einer nichtbegrifflichen Inhalts. 5.1.4.2. Vier Arten nicht-begrifflichen Inhalts Im ersten Kapitel von Hemingways Romans Wem die Stunde schlägt begegnet Robert Jordan dem Bandenführer Pablo, unterhält sich mit ihm und geht ohne ihn weiter. Auf dem anschließenden Weg zum Lager der Bande realisiert Jordan, dass Pablo über Pferde verfügen muss. An dieser Stelle schreibt Hemingway über Jordan: „He remembered now noticing, without realizing it, that Pablo’s trousers were worn soapy shiny in the knees and thighs.“834 Natürlich sind Jordan die Hosen über die Assoziationskette von den Pferden über das Reiten wieder eingefallen. Der mich interessierende Punkt ist der folgende: Jordan erinnert sich, gesehen zu haben, dass die Hosen abgewetzt sind, ohne es realisiert zu haben. Während der Unterhaltung hat er die Hosen natürlich gesehen. Und wenn er die Hosen 833 Dies ist ein Aspekt von Millikans Theorie, den ich hier nicht behandeln kann, vgl. dazu Elder 2004 und Elder 2011, auf Millikan aufbauend. 834 Hemingway 1994: 13. 396 gesehen hat, so hat er auch die abgewetzten Stellen gesehen. Pablo begegnend und vor ihm stehend hatte Jordan ja freie Sicht auf die Hosenbeine und -knie. Aber er hat nur gesehen und nicht realisiert, dass diese Stellen abgewetzt sind. Wir können den Punkt so formulieren: Jordan hat die abgewetzten Stellen gesehen, hat jedoch nicht gesehen, dass die Stellen abgewetzt sind. Das scheint paradox. Hat Jordan die abgewetzten Stellen zugleich gesehen und nicht gesehen? Der Anschein einer Paradoxie verschwindet, wenn wir zwei Formen des Sehens unterscheiden, nämlich Sehen und Sehen-dass. Man könnte eine solche Stelle vielleicht auch so lesen, dass Jordan zwar gesehen habe, dass die Stellen abgewetzt sind, ihm die Bedeutung dieser Beobachtung nicht klar gewesen ist. Erst jetzt wird ihm klar, dass die abgewetzten stellen ein Hinweis auf die schlechte Ausrüstung der Bande ist. Liest man die Stelle so, hat Jordan von Anfang an gesehen, dass die Hosenbeine und -knie abgewetzt sind. Nur hat er den Hinweis während der Unterhaltung mir Pablo nicht verstanden. Wer so liest, liest ungenau. Hemingway sagt: „He remembered now noticing, without realizing it, that Pablo’s trousers were worn soapy shiny in the knees and thighs.“ Das Realisieren bezieht sich eindeutig nicht auf eine Folgerung bezüglich der schlechten Ausrüstung, sondern darauf, dass die Hosen „worn soapy shiny in the knees and thighs“ sind. Auch der Umstand, dass sich Jordan nun erinnert, gesehen zu haben, dass etwas der Fall ist, spricht nicht gegen meine Lesart. Die Dass-Klausel bezieht sich auf den Akt des Erinnerns nach der Begegnung mit Pablo und nicht auf den Akt des Gewahrwerdens während der Unterhaltung mit ihm. Während dieser Unterhaltung sieht Jordan die abgewetzten Stellen, ohne zu sehen, dass sie abgewetzt sind und ohne daraus Schlüsse zu ziehen. Daraus ergibt sich ein weiterer interessanter Aspekt der Unterscheidung zwischen Sehen und Sehen-dass. Jordan erinnert sich nun an die abgewetzten Stellen. Zugleich erinnert er sich, dass er nicht realisiert hat, dass sie abgewetzt sind. Obwohl er nicht gesehen hat, dass die Stellen abgewetzt sind, steht die Wahrnehmung der abgewetzten Stellen seiner Erinnerung zur Verfügung. Da er Pablo jetzt nicht sieht, kann er auch nicht sehen, dass die Hosen abgewetzt sind, aber er kann sich erinnern, dass die Hosen abgewetzt waren. Warum? Weil er die abgewetzten Stellen gesehen hat. Diese Wahrnehmung kann also durchaus eine kognitive Funktion erfüllen, denn ihr Inhalt bleibt der Erinnerung verfügbar. Weiter kann Jordan daraus folgern, dass Pablo in seinen Hosen reitet und vermutlich über keine gute Ausrüstung verfügt. Das bloße Sehen, das ich vom Sehen-dass unterschieden habe, vermag also durchaus eine Rolle in kognitiven Aktivitäten wie erinnern oder folgern zu spielen. Dieses Sehen charakterisiert Hemingway als „noticing without 397 realizing“ und man kann diese Wortfügung als „Wahrnehmen-ohne-bemerken“ übersetzen. Entsprechend ist das Sehen-dass ein „Wahrnehmen-und-bemerken“. Dass man Dinge wahrnehmen kann, ohne sie zu bemerken, sollte nicht erstaunen. So kann ich wahrnehmen, dass jemand sagt, es sei sehr heiß in diesem Raum, ohne zu bemerken, dass er mich veranlassen möchte, ein Fenster zu öffnen oder etwas dergleichen. Ich kann auch hören, dass jemand sagt „Hier drinnen ist es aber heiß“, ohne zu bemerken, dass er gesagt hat, es sei heiß hier drinnen. Was mich interessiert ist der zweite Fall. Mich interessiert, ob man den Unterschied zwischen einem Sehen als Wahrnehmen-ohnebemerken und einem Sehen als Wahrnehmen-und-bemerken aufrecht erhalten und charakterisieren kann. Wenn man den Unterschied aufrecht erhalten kann, so stellt sich die Frage, wie man das Sehen als Wahrnehmen-ohne-bemerken selbst charakterisieren kann. Wie lässt sich, genauer gefragt, der Inhalt dieses Sehens charakterisieren? Sehen verschafft Lebewesen einen besonderen Zugang zu ihrer Umwelt, einigen Lebewesen sogar einen besonders bevorzugten Zugang. Durch Sehen können Lebewesen beispielsweise Gegenstände als dreidimensionale, farbige, bewegte, lokalisierte Objekte erfassen und sie dadurch oder infolgedessen memorieren, klassifizieren oder manipulieren. Zum Sehen braucht ein Lebewesen keine Begriffe. Dafür lassen sich folgende Plausiblitätsargumente vorbringen:835 1. Tiere und Kleinkinder haben Sinnesorgane, mit denen sie Dinge wahrnehmen. Sie verfügen aber (vermutlich) nicht über die passenden Begriffe. Ihre Wahrnehmung ist nicht-begrifflich.836 Um ein x wahrzunehmen (ein Ding, eine Eigenschaft, ein Ereignis), brauche ich nicht zu wissen, was ein x ist und dass es ein x ist. 2. Unabhängigkeit von Wahrnehmungsgehalten und Überzeugungsgehalten. Dies lässt sich anhand der bereits diskutierten Müller-Lyer-Täuschung illustrieren.837 Der Gehalt der Überzeugung hat keinen Einfluss auf den Gehalt der Wahrnehmung, sie steht sogar in direktem Widerspruch zum Gehalt der Wahrnehmung. Unsere Überzeugungen, wie die Dinge sind, lässt unberührt, wie die Dinge uns sinnlich erscheinen. 3. Wie soll man sich empirische Begriffe – Farbbegriffe zum Beispiel – aneignen, wenn es keine Ebene nicht-begrifflicher Gehalte gibt? Ich habe viele Braunwahrnehmungen und Hundewahrnehmungen, die Braunes und Hunde darstellen, bevor ich die Begriffe BRAUN und HUND überhaupt anwenden kann.838 Vgl. Wild 2005. Vgl. Peacocke 2001. Dagegen McDowell 1996: 108-126. 837 Vgl. Fodor 1990: 231-251, Schantz 2001, Crane 2007: 109f. Dagegen Hamlyn 2003. 838 Vgl. Engel 2003. 835 836 398 4. Begriffe lassen sich aus spezifischen Kontexten herauslösen und anderweitig verwenden. Diese Art der Kompositionalität und der Generalität zeichnet begriffliche Gehalte aus. Die Begriffe BRAUN und HUND lassen sich in vielen Kontexten verwenden. Aber die Wahrnehmung dieses braunen Hundes dort ist kontextspezifisch oder situationsabhängig.839 5. Wahrnehmungen können direkt relevant sein für Handlungen. Ich sehe, ob ein Gegenstand in eine Spalte passt, auch wenn ich keinen Begriff von den Maßen der Spalte und des Gegenstandes habe.840 6. Wahrnehmungen sind viel reicher und feinkörniger als Überzeugungen. Wir nehmen differenzierter wahr, als wir mit unseren begrifflichen Ressourcen differenzieren können.841 Um ein bestimmtes Blau zu sehen, brauche ich nicht den Begriff für dieses bestimmte Blau. Und dieses bestimmte Blau sieht als Blau eines gemalten Sees in schlechter nichtgemalter Beleuchtung anders aus als das Blau einer Wollmütze im hellen Sonnenlicht. Diese Argumente842 sollen plausibel machen, dass es nicht-begrifflichen Wahrnehmungsinhalt gibt: Wahrnehmungen wie das Sehen gehören zu den biologischen Fähigkeiten von Organismen (1.), sie sind überzeugungs- und begriffsunabhängige (2.), reiche, feinkörnige (6.), kontextspezifische Repräsentationen (4.), die dem Verhalten (5.) und dem Lernen (3.) zur Verfügung stehen. Argumente dieser Art motivieren die Annahme, dass das Sehen eine basale biologische Fähigkeit ist und darin nicht von höheren kognitiven Fähigkeiten (dem Sehendass) abhängt. Wie soll nun das hier gemeinte Sehen genauer charakterisiert werden? Man kann den Unterschied, wie gesagt, wie folgt ausdrücken: oF sehen (Jordan sieht die abgewetzten Stellen) und sehen, dass o ein F ist (Jordan sieht, dass die Knie abgewetzt sind.). Der Satz mit der Dass-Klausel stellt eine Tatsache fest. Deshalb spricht beispielsweise Dretske hier von einem epistemischen Sehen (epistemic seeing, meaningful perception, cognitive perception, seeing facts). Um sehen zu können, dass oF, brauche ich beispielsweise Begriffe für o oder für F. Doch um o oder um F zu sehen, brauche ich weder den Begriff für o noch den Begriff für F. Dieses Sehen nennt Dretske nicht-epistemisches Sehen (non-epistemic seeing, simple seeing, sense perception, seeing things, seeing properties). Vgl. Kelly 2003. Vgl. Peacocke 2001. 841 Vgl. Tye 2005. 842 Dretske beispielsweise betont vor allem das erste Argument über Tiere und Kleinkinder und das letzte Argument, den Reichtum des sinnlichen Inhalts (Vgl. Dretske 1981: 150-153 und 167f., Dretske 2001: 102). Wir sind zwar begrifflich zuständig für den Inhalt unseres epistemischen Sehens, aber wir sind nicht die Herren unseres Sehens überhaupt: „People are not authorities about what they see.“ (Dretske 1969: 10) 839 840 399 Gegenstände dieses Sehens können sowohl Objekte als auch Eigenschaften sein. Dieses Sehen kann durch seinen negativen Überzeugungsgehalt charakterisiert werden: „There is a way of seeing such that for any proposition P the statement ‚S sees D’ does not logically entail the statement ‚S believes P’.“843 Dretske schlägt die folgende Definition des nichtepistemischen oder nicht-begrifflichen Sehens vor: „S sees D: D is visually differentiated from its immediate environment by S.“844 Etwas sehen bedeutet also, dieses Etwas von seinem unmittelbaren Umfeld unterscheiden zu können. Es reicht nicht, dass dieses Etwas ein VS einfach kausal affiziert. Auch ein weißes Stück Papier auf einer weißen Wand affiziert das Auge eines Betrachters, doch weil das Auge des Betrachters das weiße Stück Papier von der Wand nicht unterscheiden kann, kann der Betrachter es auch nicht sehen. Die Existenz eines solchen Sehens, wie es die oben genannten Argumente motivieren, kann in einem biosemantischen Argument für die Existenz nicht-begrifflichen Sehens ausformuliert werden. Dies ist das Argument: (1) Sehen ist die Funktion eines VS. (2) Funktionen sind Echte Funktionen. (3) Unser visuelles System hat diese Funktion aufgrund seiner evolutionären Geschichte. (4) Die Funktion unseres VS besteht natürlich und objektiv, d.h. unabhängig von kognitiven Projektionen (z. B. Überzeugungen über diese Funktion, Begriffen für das Gesehene usw.). (5) Die Funktion legt den Inhalt des Sehens fest. (6) ALSO ist der Inhalt des Sehens unabhängig von kognitiven Projektionen und besteht natürlich und objektiv. Zweifellos ist jeder dieser Schritte erklärungsbedürftig, doch habe ich bereits einen großen Teil der Erklärungsleistung erbracht. Der Schritt (1) ist zunächst begrifflicher Natur. 843 Dretske 1969: 6. Vgl. ibid. 7: „It must always be remembered, though, that what I am trying to establish is a logical independence, not a psychological independence.“ 844 Später wird Dretske diese Definition variieren. 80er-Jahre: Das visuelle System trägt Information in analoger (nicht digitaler) Form über D. (Vgl. Dretske 1981: 142: „Perception is a process by means of which information is delivered within a richer matrix of information (hence in analog form) to the cognitive centers for their selective use. [...] If the information that s is F is never converted from a sensory (analog) to a cognitive (digital) form, the system in question has, perhaps, seen, heard or smelled an s which is F, but it has not seen that it is F – does not know that it is F. The traditional idea that knowledge, belief, and thought involve concepts while sensation (or sensory experience) does not is reflected in this coding difference.”) 90erJahre: Das visuelle System hat die natürliche Funktion, bestimmte Informationen über D zu tragen (Vgl. Dretske 1995.) Ich habe die Missverständnisse bzw. Fehler, die diese Formulierung implizieren bzw. begehen bereits kritisiert. 400 Abgekürzt kann man ihn so reformulieren: Augen sind zum Sehen da, Augen ermöglichen das Sehen. Die Redeweise von einem visuellen System baut lediglich eine biologische Tatsache in diese Redewiese ein, nämlich die Tatsache, dass zum Vermögen des Sehens physiologisch mehr gehört als Augen. Allgemeiner formuliert lautet derselbe Punkt: Wahrnehmungssysteme sind zum Wahrnehmen da, Wahrnehmungssysteme ermöglichen Wahrnehmungen. Es ist also einfach begrifflich wahr, dass VS die Funktion des Sehens haben. Der Schritt (2) verlangt eine Explikation des unverfänglichen Begriffs der Funktion in Schritt (1) im Sinne des ätiologischen Funktionsbegriffs. Ich habe diese These bereits ausführlich verteidigt (1.1.4., 2.1., 3.2.3.). Schritt (3) akzeptiert eine gut gestützte empirische These über die Naturgeschichte unseres VS. Diese These schließt alle uns bekannten visuellen Systeme ein. Aufgrund seiner organisierten Komplexität kann das VS als eine evolutionäre Anpassung betrachtet werden, d.h. das VS ist eine Akkumulation koadaptierter Merkmale. Und die beste Erklärung für biologische, koadaptierte Strukturen mit organisierter Komplexität sind adaptionistische Erklärungen. Auch aus diesem Grund liegt es nahe, einen ätiologischen Begriff der Funktion zu vertreten, der (biologische) Funktionen als selektierte Effekte beschreibt. Es bleibt freilich denkbar (und einige Autoren argumentieren für diese Überzeugung) dass VS auch durch einen Schöpfer hergestellt worden sind und ihre Funktion von ihm erhalten haben. Da nun die Natürliche Selektion auch unter dieser teleologischen Sichtweise ein objektives Geschehen ist, sind Echte Funktionen objektive Eigenschaften von Merkmalstypen von Organismen. Dies bedeutet: Das Herz hat die Echte Funktion, Blut zu pumpen, ganz unabhängig davon, ob jemand glaubt, dass das Herz Blut pumpe, oder dass irgendjemand bestimmte Auffassungen über Lebewesen vertritt (3.2.1.-3.2.2.), das Herz aus irgendwelche Gründen etwas Anderes als Blut pumpt oder das Herz, weil defekt, Blut nicht auf die richtige Weise (z.B. nicht regelmäßig) oder gar nicht pumpt. Diese Überlegungen motivieren den Schritt (4). Die entscheidende Frage an das Argument lautet nun, in welcher Bedeutung von Sehen die Rede ist und um die Funktion wovon es sich handelt. Der produzentenorientierte Repräsentationalist möchte gerne sagen, dass es sich bei Sehen um einen Zustand mit einem intentionalen Inhalt handelt, der durch die Funktion des VS festgelegt wird. Und dieser Inhalt ist nicht-begrifflich. Nicht so der konsumentenorientierte Repräsentationalist! Das bloße Sehen hat erstens keinen IR-Inhalt, sondern lediglich einen R-Inhalt und es geht zweitens um die Funktion des P-Mechanismus, nicht um die Funktion des K-Mechanismus. Der zweite ist der Grund für den ersten Punkt. Deshalb kann es sich beim „Sehen“ im Argument nicht um ein intentional-transitives Sehen (mit IR-Inhalt) 401 handeln, sondern lediglich um transitives Sehen (mit R-Inhalt). Da nicht-begrifflicher Inhalt ein IR-Inhalt sein muss, kann es sich beim Sehen nicht um Sehen mit nichtbegrifflichem Inhalt handeln. Die Unterscheidung zwischen dem nicht-epistemischen Sehen und dem epistemischen Sehen-dass ist nicht identisch mit der Unterscheidung zwischen nicht-begrifflichem und begrifflichem Inhalt. Weder hat das nicht-epistemische Sehen einen nicht-begrifflichen Inhalt noch ist das epistemische Sehen ausschließlich begrifflicher Natur. Der produzentenorientierte Repräsentationalist verwechselt wiederum R-Inhalt und IR-Inhalt. Aus der Sicht der Biosemantik muss das Argument entweder als Argument für den objektiven R-Inhalt von P-Mechanismen oder als Argument für den IRInhalt von P-cum-K-Mechanismen interpretiert werden. In seiner jetzigen Form ist es zu unterbestimmt. Ich möchte es an dieser Stelle als Argument für den objektiven R-Inhalt eines P-Mechanismus’ (nämlich VS) akzeptieren, nicht als Argument für nicht-begrifflichen IR-Inhalt. Neben der Verwechslung von R- und IR-Inhalt zeigt sich in der Debatte um die Existenz eines nicht-begrifflichen Inhalts (NBI) noch ein weiterer Pferdefuß. NBI wird in dieser Debatte in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Es ist wichtig, zunächst drei dieser Bedeutungen von NBI zu unterscheiden. 1. Die kontrastive Bedeutung von NBI. Offenbar sind Begriffe wie „nicht-epistemisches Sehen“ oder „nicht-begrifflicher Inhalt“ kontrastive Begriffe. Eine Bedeutung von NBI ist nun explizit kontrastiv. Tiere und Kleinkinder zeigen Verhaltensweisen, die man mit Rückgriff auf repräsentationale Inhalte zu erklären wünscht. Die beste Erklärung für diese Verhaltensweisen besteht mithin in der Annahme, dass diese Wesen Repräsentationen mit einem IR-Inhalt bilden und dass diese Repräsentationen diese Verhaltensweisen lenken. Doch offenbar verfügen weder Tiere noch Kleinkinder über begriffliche Fähigkeiten. Es ist also nützlich, eine andere Art von Inhalt zu postulieren, um die kognitiven Repräsentationen von Tieren und Kleinkinder sowohl charakterisieren zu können als auch von den kognitiven Repräsentationen rationaler, d.h. denk- und sprachfähiger Wesen, wie wir es sind, absetzen zu können. In der kontrastiven Bedeutung ist NBI also sozusagen reserviert für Lebewesen, die nicht normale, erwachsene Begriffsbenutzer sind. 2. Die subpersonale Bedeutung von NBI. Subpersonale Prozesse des Nervensystems von höheren Lebewesen können mit einem gewissen Erkenntnisgewinn als Repräsentationen mit einem Inhalt beschrieben werden. Solche Beschreibungen sind nützlich, um etwa die Arbeitsweisen unseres Hirns und seiner Subsysteme zu 402 verstehen. Dabei handelt es sich nicht lediglich um nützliche Beschreibungsweisen, sondern um Beschreibungen der Informationsverarbeitung durch biologische Systeme. So können Informationen durch das VS aufgenommen und verarbeitet, im Gedächtnis gespeichert oder abgerufen werden. Des weiteren können beide Arten von Informationen integriert werden usw. Freilich handelt es sich bei diesen Prozessen um subpersonale Prozesse. Kognitive Subjekte sind sich dieser Prozesse nicht bewusst und sind nicht identisch mit ihren Wahrnehmungen, Erinnerung, Folgerungen usw. auf der personalen Ebene. NBI findet sich allein auf der subpersonalen Ebene, begriffliche Inhalte hingegen gehören zur personalen Ebene. Möglicherweise findet sich bei nichtrationalen Lebewesen wie Tieren und Babys nur die subpersonale Ebene, vielleicht auch nicht. Doch dieser Unterschied ist für die subpersonale Verwendung unerheblich. 3. Die phänomenale Bedeutung von NBI. Das phänomenale Erleben in der sinnlichen Wahrnehmung, in Körperempfindungen oder in Gefühlszuständen gehört zu unserem bewussten, personalen Leben. Aber offensichtlich übersteigt der Reichtum (Dichte, Feinkörnigkeit, Differenziertheit usw.) bewusster Wahrnehmungserlebnisse unsere begrifflichen Ressourcen. Zudem sind begriffliche Fähigkeiten augenscheinlich keine Voraussetzung für das phänomenale Erleben. Wir können davon ausgehen, dass auch Tiere und Babys über phänomenales Erleben verfügen, unabhängig davon, ob wir Tiere nun begriffliche Fähigkeiten zuschreiben wollen oder nicht. In den oben angeführten sechs Argumenten finden sich alle diese Bedeutungen. So verweist das Argument (1.) auf die kontrastive Bedeutung, die Argumente (3.) und (5.) auf die subpersonale Bedeutung, die Argumente (2.), (4.) und (6.) schließlich auf die phänomenale Bedeutung. Bisweilen vermengen sich die unterschiedlichen Bedeutungen auch innerhalb der einzelnen Argumente. Im evolutionären Argument für das nicht-begriffliche Sehen ist die kontrastive Bedeutung implizit ausgeschlossen, denn es geht darin nicht um die Funktion des VS von nicht-menschlichen Lebewesen, sondern von Lebewesen überhaupt. Dem Animalismus zufolge kann man auch nicht sagen, dass das visuelle System als biologisches Vermögen für Wesen, wie wir es sind, unerheblich ist. Da Wesen wie wir wesentlich Tiere sind kann man in dieser Hinsicht nicht von einem strikten Kontrast ausgehen. Für die Charakterisierung des nicht-epistemischen Sehens durch Dretske („S sees D: D is visually differentiated from its immediate environment by S.“) scheint die subpersonale Bedeutung auszureichen. Denn die Differenzierung eines Objekts von dessen Umgebung durch das visuelle System kann als ein Vermögen des Wahrnehmungssubjekts 403 ausgefasst werden, ohne dass sich das Subjekt auf der personalen Ebene dieser Differenzierung in irgend einer Form bewusst sein muss. Doch sind nun die subpersonale und die phänomenale Bedeutung stets gut unterschieden? Werfen wir wiederum einen Blick auf den Qualia-Repräsentationalismus. Tye zufolge repräsentiert ein Schmerzerlebnis eine Gewebeschädigung am eigenen Körper, ein visuelles Erlebnis eine Eigenschaft eines materiellen Objekts. Doch Tye zufolge muss man, um beispielsweise Schmerzen im Fuß zu haben oder um eine rote Rose zu sehen, sich nicht bewusst sein, dass der Fuß beschädigt oder die Rose rot ist (d.h. bestimmte Wellenlängen des Lichts reflektiert und andere resorbiert). Man muss, um Schmerzen zu empfinden oder Rosen zu sehen, nicht notwendigerweise über die Mittel verfügen, in Begriffe zu fassen, was die Schmerzen repräsentieren (Schädigung im Fuß) oder was die Wahrnehmung repräsentiert (Rot der Rose). Der Inhalt von Empfindungen (wie Schmerzen) und Erfahrungen (wie visuelle Wahrnehmungen) ist nicht-begrifflich. In welchem Sinne? Bestimmt verwendet Tye den Begriff nicht im kontrastiven Sinn. Falls aber die subpersonale Bedeutung intendiert ist, besteht das Problem darin, dass keine Notwendigkeit besteht, irgendwelche subpersonalen Zustände überhaupt im Bewusstsein eines Subjekts auftreten zu lassen. Tye würde dann nicht das Schmerz- oder Wahrnehmungsbewusstsein erklären, sondern lediglich subpersonale Prozesse anführen, die solchem Bewusstsein zugrunde liegen mögen. Offenbar intendiert Tye die phänomenale Bedeutung. Bei visuellen Erfahrungen zeigen sich im phänomenalen Erleben Farben für die man nicht zwingend Begriffe haben muss. Natürlich ist sich das Erlebenssubjekt dieser Farben, d.h. der repräsentierten Eigenschaft, bewusst. Analog müsste sich das Subjekt im Falle von Schmerzen im Fuß eines Gewebeschadens im eignen Fuß bewusst sein. Denn der Gewebeschaden ist die repräsentierte Eigenschaft. Auch wenn sich das Subjekt dieser Eigenschaft nicht-begrifflich bewusst ist, so scheint die Beschreibung eines Schmerzerlebnisses als „Gewebeschaden in meinem Fuß“ doch zu komplex, um das phänomenale Erleben zu charakterisieren. Tim Crane hat nun darauf hingewiesen, dass Tye sich hier je nach Kontext auf unterschiedliche Bedeutungen von NBI bezieht: „Meine Einschätzung der hier auftretenden Schwierigkeit lautet, dass Tye sich bei der Beantwortung des Einwands, dass sich ein Subjekt eines Schadens [im Fuß] nicht gewahr sein müsse, auf die subpersonale Auffassung nicht-begrifflichen Gehalts bezieht, aber auf die phänomenologische Auffassung verweist, wenn er die Vorstellung vom nicht-begrifflichen Gehalt verwendet, um Bewusstsein zu erklären. Auf diese letzte Vorstellung ist er angewiesen. Doch dann muss er mehr 404 darüber sagen, warum wir uns Subjekte als sich (auf nicht-begriffliche Art und Weise) des Schadens an ihren Körpern gewahr denken sollten.“845 Diese Einschätzung lässt sich generalisieren. Der Verweis auf ein nicht-begriffliches, repräsentationales Bewusstsein von etwas wird in Ausdrücken beschrieben, die nahe legen, dass sich das bewusste Subjekt dessen, wovon es Bewusstsein hat, wovon seine Repräsentation handelt, gerade nicht bewusst ist. Aus der Perspektive der Biosemantik stellt sich die Problemlage noch einmal anders dar. Wir haben bereits gesehen, dass produzentenorientierte Theorien, wie diejenige von Tye, dazu neigen, IR-Inhalte und RInhalte zu verwechseln (5.1.3.2.). Es ist nun keineswegs klar, inwiefern NBI ein Inhalt im Sinne eines IR-Inhalts ist. Wenn wir NBI in der phänomenalen Bedeutung verwenden, so haben wir einen Inhalt beschrieben, der keinerlei Beziehung zu einem Konsumenten oder Interpretanten aufweist. Wir beschreiben lediglich Charakteristika von NBI wie Dichte, Kontinuität, Feinkörnigkeit, Differenziertheit usw.), ohne uns die Frage zu stellen, inwiefern diese Merkmale etwas charakterisieren, das einen IR-Inhalt hat. Solche Charakterisierungen von NBI bleiben auf der Ebene des R-Inhalts stehen, und mithin auf der Ebene des R-Vehikels. Dabei wird der R-Inhalt mithilfe von Merkmalen eines IRInhalts charakterisiert: Im phänomenalen Erleben erscheinen einem Subjekt die visuellen Szenerien als dicht, feinkörnig, differenziert usw. Dies mag zutreffen. Doch solange man lediglich auf der Ebene des R-Inhalts verbleibt, wird nichts darüber ausgesagt, inwiefern es sich hierbei um IR-Inhalte handeln soll. Und solange man auf der Eben der R-Inhalte bleibt, verbleibt man ipso facto auf der subpersonalen Ebene. Denn R-Inhalte sind Inhalte, die einem R-Vehikel zukommen, insofern es von einem P-Mechanismus produziert worden ist, und nicht Inhalte, die durch die Verwendung des R-Vehikels durch einen KMechanismus festgelegt werden und mithin IR-Inhalte wären. Man muss also erstens den Konsumenten für die R-Inhalte bestimmten, und man muss zweitens zeigen, dass es sich um Konsumenten handelt, die nicht nur die Subsysteme eines Lebewesens betreffen, sondern das Lebewesen als Ganzes. Erst mit diesem zweiten Schritt hat man die subpersonale Ebene verlassen. Ich werde auf der Grundlage dieser Überlegungen eine vierte Bedeutung von NBI etablieren, die sich von der kontrastiven, subpersonalen und phänomenalen Bedeutung unterscheidet. Dabei handelt es sich um die behaviorale Bedeutung von NBI. Der NBI von visuellen Wahrnehmungen ist ein IR-Inhalt, insofern bestimmte Verhaltensweisen des ganzen Lebewesens als Konsumenten der R-Vehikel seines VS in Betracht gezogen werden 845 Crane 2007: 78. 405 können. Ich werde auf diese vierte behaviorale Bedeutung von NBI unten in 5.3.3.2. zurückkommen. 5.1.5. Dritte Reaktion: Kritik der Kausalen Theorie des Sehens 5.1.5.1. Das Nomische Korrelationsprinzip Wir haben gesehen, dass Pietroskis Biologiemärchen auf zwei Ebenen keinen Einwand gegen die Biosemantik darstellt, sondern diese im Gegenteil stärkt. Auf einer ersten Ebene kann der Einwand aufgrund einer Verwechslung von Repräsentationstypen (es handelt sich um PPRs, nicht um Verhaltenserklärung Überzeugungen) (Verhaltensweisen und werden einer über unzureichenden ihre Funktion Idee der individuiert) zurückgewiesen werden (5.1.2.). Auf einer zweiten, tieferen Ebene, konnte gezeigt werden, dass das Biologiemärchen keineswegs für eine produzentenorientierte Teleosemantik spricht. Eine genaue Betrachtung der Produzentenorientierung zeigt, dass diese entweder ihrem vorgeblichen Naturalismus nicht genügen kann (5.1.4.1. & 5.1.4.4.) oder sich in Richtung der Konsumentenorientierung der Biosemantik bewegen muss (5.1.4.2. & 5.1.4.3.). Allerdings gibt es natürlich Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Positionen, die nicht nur die Tatsache betreffen, dass es sich um zwei Versionen der Teleosemantik handelt. Dabei handelt es sich um die Thesen, dass Wahrnehmungen Repräsentationen sind (5.1.5.1.) und um die Behauptung der objektiven Existenz von NBI (5.1.5.2.). Kommen wir nun zu einer dritten, der tiefsten Ebene des Einwandes von Pietroski. Die korrekte Reaktion der Biosemantik auf das Biologiemärchen – nämlich die Beschreibung des Inhalts der Kimu-Repräsentation als „snorffreie Richtung!“ – zeigt, dass die Biosemantik auf ein Prinzip verzichtet, dass Wahrnehmungstheorien gemeinhin akzeptieren und dass sowohl im Commonsense als auch in den Wahrnehmungswissenschaften akzeptiert ist. Die intuitive Idee besteht darin, dass eine Antwort auf die Frage „Was wird gesehen?“ den Gegenstand einer Wahrnehmung als deren Ursache einschließen muss. Was die Biosemantik also scheinbar aus der Hand gibt, ist das Nomische Korrelationsprinzip (NKP): NKP Wahrnehmungen können eine Eigenschaft F nur intentional repräsentieren, wenn die R-Vehikel mit Instantiierungen von F nomisch korreliert sind. Um auf unser Paradigma zurück zu greifen: Die Ausrichtung der Magnetosome des Magnetbakteriums (das R-Vehikel) ist nomisch nicht mit der Richtung von 406 sauerstoffarmem Wasser korreliert, sondern (auf der nördlichen Erdhemisphäre) mit der Richtung des geomagnetischen Nordpols. Die Biosemantik bestimmt den IR-Inhalt als „Sauerstoffarme Richtung!“. Die Magnetosome repräsentieren somit eine Eigenschaft, ohne dass sie mit Instantiierungen dieser Eigenschaft nomisch korreliert wären. Das ist eine Verletzung von NKP. Freilich könnte man darauf erwidern, dass NKP einfach deshalb nicht verletzt ist, weil unser Paradigma eben keine Wahrnehmung ist. Die Bakterien nehmen die Richtung von sauerstoffarmem Wasser nicht wahr, sondern zeigen sie lediglich an. Für genuine Wahrnehmungen (bei Springspinnen oder erwachsenen Personen) kann NKP immer noch beansprucht werden. Allerdings ist Pietroskis Biologiemärchen so konstruiert, dass es eine Analogie zwar nicht zwischen dem Rot-Sensor der Kimus und Überzeugungen, dafür aber zwischen dem Rot-Sensor und genuinen Wahrnehmungen nahe legt: Der Kimu „sieht“ keine roten Flächen, sondern er „sieht“ snorffreie Richtungen, obwohl die Relation zwischen roten Flächen und Snorfs einerseits und dem Rot-Sensor und Snorfs andererseits nomisch vollkommen unerheblich ist. Sie ist jedoch evolutionär keineswegs unerheblich. Wie ich zu zeigen versucht habe, ist die Evolutionsbiologie keine nomologische Naturwissenschaft (2.2.). Aus diesem Grund sind die relevanten Bedingungen für Repräsentationsrelationen nicht zwingend nomische Relationen. Dies ist ein erster prinzipieller Grund, warum die Biosemantik NKP auch auf der Ebene genuiner Wahrnehmungen nicht akzeptieren muss. Ein zweiter prinzipieller Grund besteht darin, dass es für eine repräsentationalistische Theorie zentral ist, Vehikel und Inhalt nicht zu verwechseln. IR-Inhalte finden sich nicht bereits auf der Eben der RVehikel, dort finden sich lediglich R-Inhalte. Wie wir bereits gesehen haben, neigt die produzentenorientierte Version der Teleosemantik dazu, IR-Inhalt und R-Inhalt zu verwechseln (5.1.4.2.). Eine solche Verwechslung äußert sich auch in der Projektion von Eigenschaften des R-Vehikels auf repräsentierte Objekte und vice versa (5.1.5.1.) Auch NKP neigt zu dieser Verwechslung, weil es für eine Wahrnehmung, verstanden als Repräsentation mit einem IR-Inhalt, eine nomische Korrelation zwischen R-Vehikel und einer Eigenschaft F verlangt. Natürlich muss eine Korrelation zwischen R-Vehikel und dem R-Inhalt des Vehikels vorliegen und im Falle der Sinneswahrnehmung ist es auch offensichtlich, dass diese Korrelation faktisch nomisch bzw. kausal ist. Wahrnehmungssysteme haben zwar die Funktion R-Vehikel aufgrund bestimmter kausaler Einflüsse zu produzieren. Doch dieser Umstand alleine legt keine IR-Inhalte fest. Es ist also nicht diese Korrelation, die den IR-Inhalt des betreffenden R-Vehikels festlegt. Was den IR-Inhalt festlegt wird durch die Funktion eines kooperierenden Konsumenten 407 bestimmt. Das, was der Fall sein muss, damit dieser Konsument seine Echte Funktion erfüllen kann, ist der IR-Inhalt, den ein R-Vehikel trägt. Die tiefste Ebene des Einwands aus Pietroskis Biologiemärchen kann in diese Frage gefasst werden: Verzichtet die Biosemantik mit NKP nicht auf zu viel? Ich möchte dem widersprechen und die These vertreten, dass eine biosemantische Theorie der Wahrnehmung nicht nur NKP als notwendigen Bestandteil einer Analyse des Wahrnehmungsbegriffs fahren lassen darf, sondern auch den Ansatz bei Wahrnehmungserfahrungen und die Idee einer Analyse des Wahrnehmungsbegriffs. Kausale Elemente spielen in den Wahrnehmungen faktisch eine Rolle, sind aber kein notwendiger Bestandteil. Wahrnehmungserfahrungen müssen zwar erklärt werden (im Sinne der vereinheitlichenden explanatorischen Integration, wie ich sie in 2.3. präsentiert habe), aber ein philosophisches Verständnis von Wahrnehmungen muss explanatorisch nicht bei der Innenperspektive einsetzen, die, im Gegenteil, auf falsche Fährten führt. Bevor ich im Folgenden diese beiden Punkte darlege und begründe (5.2.) sowie im Anschluss daran eine biosemantische Wahrnehmungstheorie skizziere (5.3.) möchte ich den angezeigten Gedankengang an dieser Stelle im Hinblick auf die Kausale Theorie der Wahrnehmung motivieren. Denn diese Theorie umfasst sowohl kausale Objekte als auch Wahrnehmungserfahrungen und versteht sich darüber hinaus als Analyse des Wahrnehmungsbegriffs. 5.1.5.2. Kausale Theorie des Sehens und veridische Halluzinationen Paul Grice hat die Grundlagen der Kausalen Theorie der Wahrnehmung geliefert.846 Die Kausale Theorie der Wahrnehmung versteht sich als begriffliche Analyse des vortheoretischen Wahrnehmungsbegriffs. Diese Theorie unterstellt, dass die unterschiedlichen Sinnesmodalitäten unter einen einheitlichen alltäglichen Begriff der Wahrnehmung fallen. Da mich in erster Linie die visuelle Wahrnehmung interessiert, will ich mich um diese Unterstellung nicht eigens Sorgen machen.847 Ich werde entsprechend von der Kausalen Theorie des Sehens (KTS) sprechen. Es scheint mir nun zwar unzweifelhaft, dass sowohl unser alltäglicher Gebrauch des Ausdrucks „sehen“ als auch der naturwissenschaftliche Gebrauch dieses Ausdrucks ein kausales Element enthalten, man muss dieses kausale Element jedoch von der Kausalen Theorie der Wahrnehmung Vgl. Grice 1989. Dass diese Unterstellung nicht zwingend ist, zeigt ein Blick auf mittelalterliche Species-Theorien. So benötigen visuelle und akustische Wahrnehmungen vermittelnde „sinnliche Species“, nicht aber taktile, olfaktorische oder gustative Wahrnehmungen. Der Grund dafür liegt darin, dass allein visuelle und akustische Wahrnehmungen Zugang zu räumlich entfernten Objekten verschaffen. 846 847 408 unterscheiden. Dem alltäglichen Gebrauch des Ausdrucks liegt keineswegs implizit ein Satz notwendiger und hinreichender Bedingungen zugrunde, die seine Anwendung regeln. KTS unterstellt, dass für eine Theorie der Wahrnehmung die begriffliche Analyse (und entsprechend eine Begriffsdefinition) ein adäquates Instrument darstellt. Es gibt jedoch Alternativen, etwa die bereits vorgestellte Theoriekonstruktion (1.1.6.). Darüber hinaus scheint die Begriffsanalyse (verstanden als die wohl geformte Angabe von notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Begriffsanwendung) über die Analyse solcher Begriffe wie „Junggeselle“ hinaus bislang keine außergewöhnlichen und gemeinhin akzeptierten Erfolge verbuchen können. Schließlich wird unterstellt, dass der angemessene Kontext, in dem sich der (oder: unser) vortheoretische Begriff der Wahrnehmung auffinden lässt, der alltägliche Wahrnehmungsbegriff ist. Der alltägliche Wahrnehmungsbegriff wird damit zum Ausgangspunkt für eine philosophische Theorie der Wahrnehmung. Warum sollte er das sein? Auf diese Frage könnte man antworten, dass der alltägliche Wahrnehmungsbegriff der adäquate Ausgangspunkt für eine Begriffsanalyse ist. Doch dies wiederholt lediglich die zweite Unterstellung und wir müssen diese Antwort nicht akzeptieren. Weiter könnte man als Antwort geben, dass vortheoretische Begriffe sich natürlicherweise eben im Alltagskontext finden lassen und nicht etwa in wissenschaftlichen Kontexten. Dies trifft aber nicht zu. Auch in wissenschaftlichen Kontexten finden sich vortheoretische Begriffe, die nicht mit Verwendungsweisen in außerwissenschaftlichen Kontexten übereinstimmen müssen. Auf die Frage wird schließlich auch gerne geantwortet, dass wir von irgendeinem Punkt ausgehen müssen und nicht anders können als von unserem alltäglichen Wahrnehmungsbegriff auszugehen. Verweist man nun auf andere Verwendungskontexte des Wahrnehmungsbegriffs (etwa auf wissenschaftliche, historische, ethnologische oder fantastische Kontexte), wird weiter behauptet, dass diese Kontexte von alltagssprachlichen Kontexten abhängen oder ihnen gegenüber parasitär sind. Warum sollten sich in diesen Kontexten nicht auch vortheoretische Begriffe finden, die deshalb keineswegs den vortheoretischen Kontexten anderer Kontexte entsprechen müssen? Lassen wir diese Fragen auf sich beruhen. Betrachten wir den durch KTS zu analysierenden Begriff als den vortheoretischen Begriff eines reflektierten Commonsense. Wie lautet KTS in ihren Grundzügen? KTS zufolge gilt: S sieht ein Objekt o oder eine Eigenschaft F gdw S’ visuelle Erfahrungen kausal von einem Sachverhalt abhängig sind, der o bzw. F einschließt. Oder: S sieht o als F gdw gilt: (1) S hat eine visuelle Erfahrung E von o als F, 409 (2) o ist F, (3) E hängt kausal von der Tatsache ab, dass o F ist. Für das Sehen von o bzw. F oder für das Sehen, dass o F ist, ist es nicht nur eine notwendige Bedingung, dass o bzw. F vorhanden sind oder dass o F ist, sondern ebenso, dass die visuelle Erfahrung E von o, F oder oF nicht wäre, wie sie ist, wenn o bzw. F nicht vorgelegen hätte oder o nicht F wäre. Wie die Dinge visuell erscheinen hängt (im veridischen Falle) davon ab, wie die Dinge sind. Und diese Abhängigkeit muss kontrafaktisch sein. Insofern respektiert KTS also NKP. Betrachten wir nun einen hypothetischen Fall von Sehen in attitudionaler kontrafaktischer Abhängigkeit.848 Das Hirn des vollkommen blinden Geronimo wird mit einem Computer so verbunden, dass ein Neurochirurg in Geronimo die visuellen Halluzinationen von just jenen Szenerien hervorzurufen vermag, die sich tatsächlich vor seinen blinden Halluzinationen. Augen Der abspielen. Neurochirurg Folglich garantiert hat die Geronimo veridische attitudionale visuelle kontrafaktische Abhängigkeit der halluzinierten visuellen Wahrnehmung Geronimos von der optischen Szenerie vor dessen Augen. Solange der Neurochirurg die kontrafaktische Abhängigkeit aufrecht erhält, sieht der blinde Geronimo die Szenerie vor seinen Augen. Auch die kausale Abhängigkeit ist gegeben. Geronimo sieht die Szenerie vor seinen Augen in attitudionaler kontrafaktischer Abhängigkeit, nämlich in Abhängigkeit sowohl von den Szenerien vor seinen Augen als auch von der Auffassung der Szenerien, die der Neurochirurg ausbildet. KTS möchte ausschließen, dass Geronimo im beschriebenen Fall sieht. Der Grund ist ganz einfach der, dass es sich hier nicht um einen normalen kausalen Weg von den Szenerien zum Wahrnehmungserlebnis handelt. Der reflektierte Commonsense würde solche Fälle nicht als genuine Wahrnehmungsfälle klassifizieren. Und da KTS sich als Analyse unseres reflektieren Commonsense-Begriffs des Sehens versteht, muss sie solche Fälle ebenfalls ausschließen. Um auszuschließen, dass der blinde Geronimo sieht, müssen veridische visuelle Halluzinationen ausgeschlossen werden. Eine der Aufgaben der Bedingung (3) besteht darin, solche Halluzinationen auszuschließen.849 Allerdings muss (3) zu diesem Zweck qualifiziert werden. Nicht jede Art kausaler Abhängigkeit ist ausreichend, denn auch im Falle Geronimos lässt sich eine kausale Abhängigkeit rekonstruieren. Es muss sich um die richtige Art kausaler Abhängigkeit handeln.850 Welches ist die richtige Art? Eine offensichtliche Antwort lautet: Damit E eine visuelle Wahrnehmung sein kann, muss 848 Die Qualifikation „attitudional“ bedeutet, dass die kontrafaktische Abhängigkeit durch die propositionalen Einstellungen eines intentionalen Wesens vermittelt ist. 849 Vgl. Lewis 1980. 850 Vgl. Strawson 1974. 410 E auf natürliche Weise oder unter normalen Bedingungen von o oder von F verursacht werden. Damit ist beispielsweise ausgeschlossen, dass über attitudionale Einstellungen vermittelte kausale Abhängigkeiten zugelassen werden. Daraus ergeben sich zwei Probleme. Erstens scheinen Angaben darüber, was „normal“ oder „natürlich“ ist von empirischen Befunden abzuhängen. Das erledigt die Reinheit der Begriffsanalyse. Das zweite Problem besteht darin, dass die Qualifizierung von Fällen nicht-normaler oder nicht-natürlicher kausaler Abhängigkeit ausschließt, die der vortheoretische Begriff des Sehens gerade nicht auszuschließen wünscht, so etwa Fälle des Sehens mit Hilfe von Spiegeln, Brillen, Mikroskopen oder Teleskopen. Anstelle der kausalen Abhängigkeit sollten wir auf die biologischen (natürlichen) Funktionen (3.2.3.) und auf kulturelle (artifizielle) Funktionen (3.2.5.) zurückgreifen, die beides Echte Funktionen (1.1.4.) sind. Die biologischen Funktionen erläutern auf eine prinzipielle Weise, was unter „normalen“ oder „natürlichen“ zu verstehen ist. Doch dies involviert nicht zwingend kausale oder informationale Relationen. Die kulturellen Funktionen erläutern auf eine prinzipielle Weise, warum das Sehen mit Instrumenten ebenso ein Sehen gemäß einer Echten Funktion ist wie das Sehen gemäß biologischer Funktionen. (Allerdings verlangt dies nach einer anderen Behandlungsart des Falles des blinden Geronimo.) Soviel zur Notwendigkeit der kausalen Bestimmung und der Reinheit der Begriffsanalyse. Wie steht es nun mit der Wahrnehmungserfahrung als Erfahrung von der Welt? 5.1.5.3. Superman, Geronimo, Zombies und Olfaktoren Es ist sicher nicht falsch zu sagen, ein Subjekt sehe, wenn die Dinge oder die Szenerie vor seinen Augen in ihm direkt entsprechende, passende visuelle Erfahrungen verursachen. Es fällt schwer, Gegenbeispiele im normalen Verlauf der Dinge zu finden. Selbst außerordentliche und fantastische Fähigkeiten, wie die visuellen Kräfte des Comic-Helden Superman, widersprechen dem nicht.851 Wie testen wir, ob Superman tatsächlich durch Wände sehen kann? Falls Superman in einem Test wiederholt dieselben Beschreibungen der sichtbaren Szenen hinter einer Wand abgibt, wie sie eine Person gibt, die unbehinderten visuellen Kontakt zu diesen Szenen hat, sollten wir Superman zugestehen, dass er diese Szenen sieht und entsprechende Beschreibungen formen, wie etwa: Superman besitzt übermenschliche visuelle Fähigkeiten, die sowohl den für uns zugänglichen Bereich des elektromagnetischen Spektrums („Röntgenblick“ und „Infrarotblick“) als auch den Grad der uns erreichbaren Auflösung weit übertreffen („Mikroskopblick“ und „Teleskopblick“). Mithilfe seines Röntgenblicks sieht er durch opake Objekte, mit dem Infrarotblick im Dunkeln, mit dem Teleskopblick sieht er in weite Fernen und mit dem Mikroskopblick auch im atomaren Bereich. 851 411 „Superman sieht, dass Lois Lane einen roten Apfel isst“. Warum glauben wir Superman, dass er durch Mauern sehen kann? Weil er uns mündliche oder schriftliche Berichte von den Dingen und Ereignissen hinter der Mauer gibt, die wir auch geben würden, stünde die Mauer nicht zwischen uns und diesen Dingen. Entscheidend für das Zugeständnis ist weniger die Tatsache, dass Superman visuelle Erfahrungen hat, sondern dass Superman in der Lage ist, Beschreibungen sichtbarer Szenen zu geben.852 Wir unterstellen vermutlich, dass Superman visuelle Erfahrungen macht, wenn sein Röntgenblick durch Wände dringt. Es sind diese Erfahrungen, so könnte man sagen, die er anschließend beschreibt. Allerdings ist diese Auskunft merkwürdig, denn er beschreibt ja nicht die Erfahrungen, die er macht, sondern die Dinge, die er sieht bzw. zu sehen glaubt. Lois Lanes Apfelmahl ist keine Erfahrung von Superman. Wie auch immer, der Punkt hier und jetzt ist der Folgende: Beschreibungen sind zwar nicht entscheidend für die Tatsache, dass ein Wesen etwas sieht oder nicht, sie lassen uns aber erkennen, ob ein Wesen etwas sieht oder nicht. Lebewesen, die nicht über die Fähigkeit der Beschreibung ihrer Wahrnehmung verfügen, sprechen wir deswegen die Wahrnehmungsfähigkeit nicht ab. Auch Springspinnen sehen etwas. Und wie das Argument in 5.1.5.2. gezeigt hat, sollten wir das Sehen von Lebewesen (auch Superman ist ein Lebewesen) keinesfalls von Beschreibungen abhängig machen. Wie steht es nun mit einem philosophischen Zombie, der über keine visuellen Erfahrungen verfügt und dennoch Beschreibungen von sichtbaren Szenen vor seinen Augen abgibt, die auch eine normale Person abgeben würde, die unbehinderten visuellen Kontakt zu diesen Szenen hat? Der Zombie hat direkten kausalen Kontakt zu den Szenen, er kann sie beschreiben und er hat keine visuellen Erfahrungen. Sieht er die Szenen? Oder nehmen wir den blinden Geronimo. Er leidet an wahren Halluzinationen und hat visuelle Erfahrungen. Er besteht den Beschreibungstest und offenbar sind die Szenen vor seinen blinden Augen kausal irgendwie verantwortlich dafür, dass er diese Erfahrungen hat und diese Beschreibungen gibt. Geronimo kann die Szenen beschreiben, doch er hat künstliche visuelle Erfahrungen und höchst vermittelten kausalen Kontakt zu den Szenen. Sieht Geronimo die Szenen? Beim Zombie und bei Geronimo handelt es sich nicht um bloße 852 Dies bedeutet nicht, dass die Berichterstattung ausschlaggebend dafür ist, was (geschweige denn ob) jemand sieht oder nicht sieht. Es bedeutet lediglich, dass wir die Existenz dieser vom Normalfall abweichenden Fähigkeit irgendwie überprüfen würden, um glauben zu können, dass es sich um ein Sehen handelt. Wenn eine Person, wie etwa Natasha Demkina, behauptet, sie würde von ihrer gewöhnlichen Sehfähigkeit zu dem, was sie als „medical vision“ bezeichnet, umschalten können, so kann man dies durch einen Vergleich zwischen ihren Berichten über das Innere anderer Personen und Röntgenaufnahmen überprüfen. Dass Demkina die Überprüfung nicht bestanden hat, bedeutet nicht, dass es nicht möglich ist, auf diese Weise zu sehen, sondern es bedeutet, dass sie eine Schwindlerin ist. Ebenso würden wir Superman keines Blickes würdigen, wenn seine teichoskopischen Berichte nicht viel zuverlässiger wären als unsere Vermutungen. 412 Fantasien, sondern um Zuspitzungen von tatsächlichen Fällen. Blindsichtige Patienten verfügen über keine visuellen Erfahrungen, sie können trotzdem (je nach Art der Verletzung, die zu ihrer Blindsicht führt) auf spezifische Nachfrage hin die Formen von Objekten mit einer Zuverlässigkeit bestimmen, die signifikant über Zufallswerte hinaus geht. Die Analogie zu Geronimo ist diese: Normalsichtige Personen können nicht nur Ereignisse sehen, die sich in ihrer Umgebung abspielen, sondern auch solche, die in weit entfernten Gebieten vorfallen oder sogar in der Vergangenheit vorgefallen sind, wenn sie entsprechende Filmaufnahmen auf einem Bildschirm verfolgen. Mithilfe solcher visueller Instrumente vermögen wir als „Fern-Seher“ sowohl in räumliche als auch zeitliche Entfernungen zu sehen, als „Tief-Seher“ winzige Dinge oder das Innenleben anderer Lebewesen zu sehen. Geronimo oder Superman dramatisieren lediglich diese Möglichkeiten. Weder der Zugriff auf eine visuelle Erfahrung (wie der Zombie und der Blindsichtige nahe legen) noch der unmittelbare kausale Kontakt zu einer Szenerie (wie Geronimo und visuelle Instrumente nahe legen) scheinen notwendig dafür zu sein, dass wir einem Lebewesen zugestehen, dass es etwas sieht. Der Grund für diese Zuschreibungen besteht darin, dass wir nicht umhin können, die Beschreibungen, die die angeführten Figuren von den visuellen Szenen geben, als Beschreibungen von gesehenen Szenerien anzuerkennen, weil auch wir Normalsichtigen solche Beschreibungen von denselben visuellen Szenen geben würden.853 Natürlich möchte ich damit nicht sagen, dass die Biosemantik alle diese Fälle als Fälle von Sehen akzeptiert, denn so würde auch der Sumpfmann als Wesen gelten, das etwas sieht. Mir geht es an dieser Stelle bei dem Einsatz von Fantasiefiguren und Grenzfällen in erster Linie darum, Gegenintuitionen sowohl gegen die Commonsense-Auffassung des Sehens als auch gegen KTS anzubieten. Weder scheinen das Element der Wahrnehmungserfahrung noch das auf eine „natürliche“ oder „normale“ Weise qualifizierte Element des kausalen Objekts dazu zu gehören, wenn wir einem Wesen zugestehen, dass es sieht. Zugespitzt: Wäre Superman ein Zombie (Superzombie), er vermöchte doch genau zu beschreiben, was der Astronaut Vladim in der Raumstation Sirius 28 gerade tut. Vladims Partner Michail würde eine kompatible Beschreibung geben. Warum nun nicht sagen, dass Superzombie ebenso wie Michail sieht, was Vladim gerade tut? Ein weiterer Punkt, der gegen KTS spricht, ist dieser: Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Haben eines bestimmten Typs von sinnlicher Erfahrung 853 Die relative Beschreibungsunfähigkeit des Blindsichtigen lässt sich in der Dramatisierung dieses Falles durch den Zombie kompensieren. Man kann den Zombie, wie Ned Block es tut, als Superblindsichtigen, d.h. als partiellen Zombie, darstellen. 413 und einem bestimmten Typ wahrnehmbarer Eigenschaften. Zwar nehmen wir normalerweise an, dass wir wissen, dass raue Oberflächen rau sind, weil sie sich rau anfühlen, oder dass rote Dinge rot sind, weil sie rot aussehen. Allein, „normalerweise“ bedeutet nicht „notwendigerweise“. Normalerweise lösen bestimmte sichtbare Eigenschaften in uns bestimme visuelle Erfahrungen aus. Nur wer die Erfahrung eines roten Apfels macht, der vor ihm auf dem Tisch liegt, sieht einen roten Apfel. Aber es ist nicht notwendig, dass der rote Apfel durch eine visuelle Erfahrung wahrgenommen werden muss. Auf diesen Punkt hat Reid bereits im Inquiry into the Human Mind (1764) hingewiesen. Reid bemerkt Folgendes: „The firm cohesion of the parts of a body, is no more like that sensation by which I perceive it to be hard, than the vibration of a sonorous body is like the sound I hear: nor can I possibly perceive, by my reason, any connection between the one and the other. No man can give a reason, why the vibration of a body might not have given the sensation of smelling, and the effluvia of bodies affected our hearing, if it had so pleased our Maker. In like manner, no man can give a reason, why the sensations of smell, or taste, or sound might not have indicated hardness, as well as that sensation, which, by our constitution, does indicate it. Indeed no man can conceive any sensation to resemble any known quality of bodies.“854 Reid behauptet, dass zwischen den Erfahrungen von Härte oder Klang einerseits und der Kohäsion einer Körperoberfläche oder der Vibration eines Hohlkörpers andererseits keinerlei Ähnlichkeit besteht und dass keine Relation zwischen diesen Arten von Phänomenen a priori erkannt werden könne. Allerdings sollte man Reid nicht so verstehen, dass es keine Relationen zwischen Teilen von Sinnesorganen (wie Trommelfell oder Retina) und Eigenschaften von externen Körpern gibt (wie deren Vibration oder Refraktion), denn zweifellos gibt es zwischen der Schwingung von Körpern und der Schwingung des Trommelfells eine Art empirischer Ähnlichkeitsrelation, die wir als Relation der Isomorphie betrachten können. Doch diese Relationen, und das ist Reids Punkt, sind keineswegs notwendig für die Wahrnehmung der Härte eines Objekts usw. Denn die Schwingungen eines Körpers hätten ebenso gut normalerweise Geruchserfahrungen veranlassen können, wie die Dünste eines Körpers solche des Gehörs. Wir können uns also intelligente Lebewesen vorstellen, sogenannte „Olfaktoren“, die die Röte eines Apfels nicht sehen, sondern riechen. Wenn Olfaktoren einen roten Apfel zu Gesicht bekommen, haben sie olfaktorische Erfahrungen eines Typs, die ein normales Exemplar unserer Art hätte, wenn es schwefelhaltigen Wasserdampf riechen würde. Olfaktoren urteilen aufgrund dieser olfaktorischen Erfahrung, dass der Apfel rot ist, wie wir aufgrund unserer visuellen Erfahrung urteilen, dass der Apfel rot ist. Mit abnehmendem Licht vermindert sich die 854 Reid 1997: 57. 414 Wahrnehmungsfähigkeit der Olfaktoren und bei völliger Dunkelheit vermögen auch sie den Apfel nicht mehr wahrzunehmen; der Schwefeldampfduft verschwindet. Wenn wir und diese intelligenten Lebewesen die Farben von Äpfeln beurteilen, kommen wir größtenteils zu übereinstimmenden Ergebnissen. Sowohl die Olfaktoren als auch wir verfügen über sinnliche, von externen Objekten verursachte Erfahrungen. Sowohl sie als auch wir sind in der Lage aufgrund dieser Erfahrungen zuverlässige Urteile über das Aussehen dieser Objekte abzugeben. Wir sehen den Apfel und wir sehen, dass der Apfel rot ist. Wie steht es mit den Olfaktoren? Sehen sie den Apfel? Sehen sie, dass der Apfel rot ist? Dagegen spricht, dass Olfaktoren im Gegensatz zu uns keine visuellen Erfahrungen haben. Dafür spricht jedoch, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen Urteile über sichtbare Eigenschaften zu fällen vermögen. Gegen die Idee, dass Olfaktoren rote Äpfel sehen, könnte man Folgendes vorbringen: Es ist doch so, dass sich Wesen, um als sehende Wesen gelten zu können, doch zumindest auf genuin sichtbare Eigenschaften beziehen können müssen. Schwefeldüfte sind nun einmal keine genuin sichtbaren Eigenschaften, sondern genuin riechbare Eigenschaften. Olfaktoren riechen Äpfel, aber sie sehen sie nicht. Dagegen ist erstens zu sagen: Olfaktoren riechen Äpfel nicht in dem Sinne, wie wir sie riechen. Denn Äpfel riechen für uns nicht nach Schwefel. Ebenfalls riechen sie für Olfaktoren nicht nach Schwefel, sondern sie sehen für Olfaktoren rot aus. Olfaktoren schließen auch nicht aufgrund eines Geruchs, dass der Apfel rot ausschaut, ebenso wenig wie wir aufgrund der Wahrnehmung der Röte darauf schließen, dass der Apfel rot ausschaut. Sowohl wir als auch die Olfaktoren nehmen die Röte des Apfels direkt wahr. Wenn wir also sagen, dass Olfaktoren Äpfel riechen, dann meinen wir nicht dasselbe, was wir meinen, wenn diesen Ausdruck auf unsere olfaktorischen Erfahrungen anwenden. Was meinen wir dann? Nun, wir meinen mit „riechen“ im Falle der Olfaktoren offensichtlich das, was wir bei uns mit „sehen“ meinen. Wir meinen damit also, dass Olfaktoren Äpfel sehen. Wichtiger ist die Frage, was genuin sichtbare Eigenschaften sein sollen. Normalweise definiert man die fragliche Klasse ostentativ und verweist auf Form und Farbe. Doch wir haben gesehen, dass Olfaktoren in der Lage sind, Farben olfaktorisch wahrzunehmen (nicht zu riechen, das können wir auch). Fledermäuse und andere mittels Echolokation navigierende Lebewesen sind in der Lage, Formen zu hören. Ebenso wie Olfaktoren Farben olfaktorisch wahrnehmen, können Fledermäuse Formen hören, und Akustiker (eine andere seltsame Spezies) können Formen akustisch wahrnehmen, so wie wir Formen visuell wahrnehmen. Begabte Synästhetiker, wie Vladimir Nabokov, besitzen die Fähigkeit Farben zu hören, 415 oder genauer: gefärbt zu hören.855 Farben und Formen sind also weder deswegen genuin visuelle Eigenschaften, weil sie Bestandteil visueller Erfahrungen sind (denn sie können auch ein solcher Bestandteil olfaktorischer Erfahrungen sein), noch, weil sie durch die visuelle Sinnesmodalität wahrgenommen werden (denn sie können auch durch andere Modalitäten aufgenommen werden bzw. deren Erfahrungen „einfärben“). Vielleicht ist es besser zu sagen, dass Farbe und Form externer Objekte zwar genuin visuelle Eigenschaften sind, dass aber diese Eigenschaften, um wahrgenommen zu werden, weder Bestandsteil der Wahrnehmungserfahrung sein müssen noch durch eine spezifische Sinnesmodalität repräsentiert werden müssen. Die Wahrnehmung genuin visueller Eigenschaften externer Objekte ist weder anhängig von einer spezifischen Sinnesmodalität (nämlich einem visuellen Vermögen, wie es für unsere Art typisch ist) noch von einer spezifischen Erfahrungstyp (nämlich der visuellen Erfahrung, wie sie für unsere Art typisch ist). Wir können weitergehend sogar sagen, dass ein Wesen visuelle Eigenschaften wahrnehmen kann, auch wenn es weder über eine visuelle Modalität noch über visuelle Erfahrungen verfügt. Die Olfaktoren nehmen Farben wahr, aber sie machen dabei keine visuellen Erfahrungen. Die Fledermäuse nehmen Formen wahr, aber sie verfügen über kein visuelles System. Sehen diese Wesen Farben und Formen? Der Anwendungsbereich auch des reflektierten Commonsense-Begriffs von „sehen“ ist einfach zu unscharf, um auf seiner Grundlage eine Entscheidung darüber zu fällen, ob der Zombie, Geronimo oder der olfaktorische Experte den roten Apfel sehen. Und dasselbe trifft auf KTS als Analyse dieses Begriffs zu. Ich habe oben gesagt, es sei sicher nicht falsch zu sagen, ein Subjekt sehe, wenn die Dinge vor seinen Augen in ihm entsprechend passende visuelle Erfahrungen direkt verursachen. Es ist nicht falsch, so etwas zu sagen, weil es auf die normalen Fälle und für Mitglieder unserer Spezies zutrifft. Die Anwendung ist für imaginäre Fälle (Zombie, Geronimo, Olfaktor) jedoch ebenso unklar wie für pathologische Fälle (Blindsicht), für außergewöhnliche Fälle (Nabokov), für andere Arten (Fledermäuse) und für visuelle Hilfsmittel (Fernseher). In diesen Fällen fehlt entweder eine passende visuelle Erfahrung ganz (Zombie, Blindsicht) oder es handelt sich um keine visuelle Erfahrung (Olfaktor, Fledermaus) oder die kausale Relation zum gesehenen Objekt entbehrt der gewünschten raumzeitlichen Direktheit (Geronimo, Fernseher). 855 „On top of this I present a fine case of colored hearing. Perhaps ‘hearing’ is not quite accurate, since the color sensation seems to be produced by the very act of my orally forming a given letter while I imagine its outline. […] The word for rainbow, a primary, but decidedly muddy, rainbow, is in my private language the hardly pronounceable: kzspygv.“ (Nabokov 1967: 34f.) 416 Ich betrachte die vorhergegangenen Überlegungen als ausreichend, um die Idee zu motivieren, dass eine Theorie der Wahrnehmung nicht nur NKP als notwendigen Bestandteil einer Analyse des Wahrnehmungsbegriffs fahren lassen darf, sondern auch den Ansatz bei Wahrnehmungserfahrungen und die Idee einer Analyse des Wahrnehmungsbegriffs. Ich möchte nun zeigen, warum eine Wahrnehmungstheorie diese Momente nicht nur fahren lassen darf, sondern es auch sollte. 417 5.2. Innenperspektive und Außenperspektive 5.2.1. Sehen als Prozess in der Welt und als Erfahrung von der Welt Das Sehen nimmt beim Menschen einen besonderen Stellenwert ein. Der besondere Stellenwert des Sehsinns für den Menschen zeigt sich nicht nur darin, dass er der biologisch herausragende oder der praktisch nützlichste, sondern auch darin, dass er der ästhetisch ansprechendste und der theoretisch vorzüglichste Sinn ist. Philosophische Theorien des Sehens interessieren sich für das Sehen als Erfahrung von der Welt und dessen Relation zu physischen oder materiellen Objekten (Ontologie), zum phänomenalen Erleben (Phänomenologie) und zum Wissen (Epistemologie). Dabei war und ist die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen (physiologischen, optischen, psychologischen, neurologischen oder biologischen) Theorien des Sehens häufig auch ein Motor der philosophischen Theoriebildung.856 Die visuelle Wahrnehmung zeichnet sich durch verschiedene Arten von Spannungen aus, die sie philosophisch interessant machen. Das Sehen ist, wie andere Formen der Wahrnehmung, ein Prozess in der raumzeitlichen Welt. Durch das Sehen hat die Umwelt Zugang zum Lebewesen. Eine philosophische Theorie der Wahrnehmung könnte von außen ansetzen und Wahrnehmung primär als Prozess in der Welt betrachten. Das Sehen ist aber auch eine Erfahrung von der raumzeitlichen Welt. Durch das Sehen hat das Lebewesen Zugang zur Umwelt. Der überwiegende Teil philosophischer Theorien der Wahrnehmung setzt von innen an und bemüht sich um ein Verständnis der Wahrnehmung als Erfahrung von der Welt. Aus dieser Perspektive – der Innenperspektive – erscheint das Sehen als Prozess in der Welt einfach als empirisch-naturwissenschaftliche Perspektive – der Außenperspektive – auf die Wahrnehmung. Das metatheoretische Ziel einer biosemantischen Theorie der Wahrnehmung besteht darin, den Ansatz der Innenperspektive hinter sich zu lassen und den Ansatz aus der Außenperspektive als einen philosophischen – naturalistischen – Ansatz auszuweisen. Das theoretische Ziel besteht anschließend in der Artikulation einer biosemantischen Theorie der Wahrnehmung. Zuerst muss also die Innenperspektive kritisiert und die Außenperspektive 856 Hermann von Helmholtz bemerkte zu Recht: „Der Punkt an dem sich Philosophie und Naturwissenschaften am nächsten berühren, ist die Lehre von den sinnlichen Wahrnehmungen des Menschen.“ (Helmholtz 1971: 48) 418 nobilitiert werden. Dies geschieht in diesen Abschnitt 5.2. Im nächsten Abschnitt 5.3. wird die biosemantische Theorie der visuellen Wahrnehmung artikuliert.857 Von Außen kann das Sehen als Prozess, wie andere biologische Vorgänge auch, dadurch bestimmt werden, dass seine Funktion charakterisiert wird. Einer gängigen kognitionswissenschaftlichen Überzeugung zufolge besteht die Funktion des Sehens in der Aufnahme visueller Information aus der Umwelt zur Steuerung des Verhaltens und es kann als Quelle von Wissen, Überzeugungen und Wünschen dienen. In einem jüngeren Standardwerk wird visuelle Wahrnehmung definiert als „Prozess des Erwerbs von Wissen über Objekte und Ereignisse in der Umwelt durch die Extraktion von Informationen aus dem Licht, das jene ausstrahlen oder reflektieren“.858 Die visuelle Wahrnehmung unterscheidet sich von anderen Formen der Wahrnehmung durch den Informationsträger Licht (mit Objektoberflächen als Reflektoren) und durch das informationsverarbeitende visuelle System. Das visuelle System (von Wirbeltieren) besteht nicht nur aus Augen (mit Netzhaut bzw. Retina), sondern auch aus der Sehbahn (mit Sehnervenkreuzung bzw. Chiasma opticum), Teilen des Zwischenhirns (mit seitlichem Kniehöcker bzw. Corpus geniculatum laterale) und Teilen der Großhirnrinde (Sehrinde bzw. visueller Cortex). Der Aufbau des Auges ist verantwortlich für die Entstehung eines retinalen Reizmusters (Retinabild), das verschiedene Verarbeitungsstufen (Bild, Oberfläche, Objekt, Kategorie) durchläuft.859 Das visuelle System zeichnet sich durch funktionale Spezialisierung und durch verteilte Codierung aus.860 Zahlreiche Hirnareale sind an der Verarbeitung visueller Reize und der Herstellung visueller Wahrnehmungen beteiligt. Die Außenperspektive wird nun vorwiegend durch Verweise auf empirische Theorien der Wahrnehmung charakterisiert. Diese können grob in vier Gruppen unterteilt werden: konstruktivistische oder kognitivistische Theorien,861 komputationalistische Theorien,862 Gestalttheorien863 und ökologische Theorien.864 Die basale Unterscheidung zwischen Außenperspektive (Sehen als Prozess in der Welt) und Innenperspektive (Sehen als Erfahrung von der Welt) ist sicher zunächst metaphorisch. Ich kann nicht sehen, dass hier eine Definition oder präzise Charakterisierung dieser beiden Perspektive einen großen theoretischen Nutzen bringen wird. Intuitiv ist die Unterscheidung sicher fassbar und sie wird sich im Verlauf der Diskussion verschärfen. 858 Palmer 1999: 5. 859 Vgl. Marr 1982; Palmer 1999: 24-43, 85-93; Goldstein 2002: 41-145. 860 Yantis 2001, 2-3. 861 Richard Gregory oder Irving Rock vertreten die Auffassung, dass Wahrnehmungen Hypothesen über die Welt sind. Wahrnehmung ist mit wissenschaftlicher Forschung vergleichbar: Man bildet aufgrund der vorhandenen Reize Hypothesen über den Ursprung der Wahrnehmung, prüft, bestätigt usw. die Hypothesen (vgl. Bruner 1957; Rock 1985; Gregory 1980; Palmer 1999). Zahlreiche philosophische Positionen sind vom Konstruktivismus maßgeblich beeinflusst worden, so etwa Goodmans Nominalismus oder Kuhns Wissenschaftstheorie. 862 Neuere kognitive (oder komputationale) Theorien versuchen Wahrnehmungstheorien im Anschluss an das Model von David Marr in Analogie zu Computermodellen auszuformulieren (vgl. Marr 1982). 857 419 Von philosophischer Warte aus wird nun gemeinhin gesagt, dass es sich bei solchen Wahrnehmungstheorien bloß um empirische Theorien handelt, d.h. um Theorien, die Wahrnehmungen als kausale Prozesse im Reich der Naturgesetze behandeln und die als Inputs für behaviorale Outputs betrachtet werden können. Demgegenüber hat es die Philosophie der Wahrnehmung mit Erfahrungen von der Welt zu tun, die nicht nur Ursachen sondern Gründe für (bestimmte Arten von) Überzeugungen und Handlungen geben. Die philosophische Betrachtung der Wahrnehmung ist also der empirischen Betrachtung gegenüber zumindest begrifflich unabhängig, wenn nicht sogar begrifflich vorrangig. Sekundär stellt sich die Frage, zu welchen empirischen die philosophischen Wahrnehmungstheorien (in irgendeinem Sinne) passen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ich die Unterscheidung zwischen einem Reich der Naturgesetze und einem Reich der Gründe für dubios halte (2.4.). Sie dient eher als Gesprächsstopper, denn als Einsichtengenerator. Ein Biologischer Naturalismus (2.3.) muss weder die Vollständigkeit der Disjunktion noch die Unvereinbarkeit der Bereiche akzeptieren. Andererseits kann es sich bei einer Betonung der Außenperspektive nicht einfach darum handeln, irgendeine empirische Wahrnehmungstheorie als Grundlage zu akzeptieren und darauf aufbauen philosophische Fragestellungen anzugehen. Dies wäre naiv. Vielmehr handelt es sich bei dieser Betonung eines Ansatzes bei der Außenperspektive darum, den Externalismus der Biosemantik auch methodisch ernst zu nehmen. Was ist mit der „Innenperspektive“ gemeint, mit dem Sehen als Erfahrung von der Welt? Die Innenperspektive bietet sich vielen philosophischen Wahrnehmungstheorien als selbstverständlicher Ausgangspunkt an. Was mit dieser „Innenperspektive“ gemeint ist, 863 Die Gestaltpsychologie wies im frühen 20. Jh. die Idee zurück, dass Wahrnehmungen aus isolierten Reizen konstruiert werden. Im Mittelpunkt steht die These, dass nicht einzelne Empfindungen, sondern ganzheitliche Gebilde (Gestalten) Gegenstand der Wahrnehmung sind. Die durch Husserl begründete Phänomenologie, die sich als Erforschung der intentionalen Struktur des Bewusstseins versteht, hat sich in Anlehnung an die Gestaltpsychologie der Wahrnehmung angenommen. In phänomenologischer Perspektive wird in der Beschreibung des Sehens eine ganze Reihe konstitutiver Faktoren relevant, wie etwa Zeitbewusstsein, Raumerfahrung, Aufmerksamkeit, Leiblichkeit, Handlungsabsichten, Kommunikation und Lebenswelt. Insbesondere Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt, vor dem Hintergrund der Gestaltpsychologie, eine die Leiblichkeit betonende Wahrnehmungstheorie und kritisierte sowohl empiristische als auch rationalistische Theorien (vgl. Merleau-Ponty 1945; 2003: 10-23). 864 Gibson entwarf eine ökologische Psychologie, dessen zentraler Begriff der schwierig zu übersetzende Kunstausdruck „affordance“ ist. Ich werde weiter unten auf diesen Begriff zurückkommen und ihn mit „Eignung“ übersetzten (vgl. Gibson 1979). Nach Gibson ist Wahrnehmung kein inferenzieller Prozess, sondern die direkte Aufnahme relevanter Information aus der Umwelt. Einem aktiven Lebewesen sind alle Informationen in der Umwelt zur Verfügung, das Retinabild ist ein künstlich eingeschränkter Ausgangspunkt. Wahrnehmungen sind direkt, nicht vermittelt über Schlüsse oder Hypothesen. Wahrnehmungen werden nicht aus Empfindungen konstruiert. Visuelle Illusionen stellen jedoch ein Problem für die ökologische Theorie dar; ebenso Fragen der neuronalen Realisierung. Im Anschluss an ökologische und phänomenologische Ansätze gewinnen in der Philosophie zusehends biologische, handlungs- und leiborientierte (embedded and embodied) Theorien des Sehens an Bedeutung (Vgl. Noë 2004; Matthen 2005; VM). 420 kann durch einen beinahe beliebigen Aufsatz zur Wahrnehmungsphilosophie der letzten Jahrzehnte illustriert werden. Hier ein Beispiel von Matthew Nudds: „Suppose that you are looking at a vase of flowers on the table in front of you. You can visually attend to the vase and to the flowers, noticing their different features: their colour, their shape and the way thea are arranged. In attending to the vase, the flowers and their featuresm you are attending to mind-indepentend objects and features. Suppose, now, that you introspectively reflect on the visual experience you have when looking at the vase of flowers. In doing so, you might notice various features of your experience, for example that individual petals on the flowers a difficult to distinguish. Althought in introspection your interest is in the character of your experience, your attention is still to the objects of your experience – to the mind-independent vase and the flowers. Since attending to your experience involves attending to mind-independent objects and features of your experience, your experience seems introspectively to involve those mindindependent objects and features. In general, then, when we introspect a visual experiential episode, it seems that we are related to some mind-independent object or feature that is present and is a part, or a consitutent, of the experience.“865 Das Zitat hilft uns, drei Merkmale herauszustellen, die aufscheinen, wenn man die Innenperspektive wählt. Erstens erscheinen uns aus der Innenperspektive die Dinge und deren Merkmale direkt gegeben. Dies ist das Merkmal der Unmittelbarkeit. Zweitens bemerken wir nicht einerseits Merkmale von Objekten und Merkmale der Wahrnehmung, sondern die Wahrnehmung erscheint uns als ein einheitlicher Vorgang.866 Dies ist das Merkmal der Einheitlichkeit. Schließlich präsentiert uns unsere Wahrnehmung die Dinge und deren Merkmale als vom betrachtenden Geist unabhängig. Dies ist das Merkmal der Objektivität. Ich werde im Folgenden aufzeigen, dass die grundlegende Spannung jene zwischen einer Außenperspektive und einer Innenperspektive ist, und zwar, indem sie auf der Seite der Innenperspektive wiederholt wird. Und ich werde dafür argumentieren, dass ein Ansatz bei der Außenperspektive philosophisch sowohl legitim als auch angezeigt ist, indem ich auf drei Probleme verweise, die sich ergeben, wenn die Innenperspektive bevorzugt wird. Das erste Problem betrifft die Unmittelbarkeit (5.2.2.), das zweite die Einheitlichkeit (5.2.3.) und das dritte die Objektivität der Wahrnehmung (5.2.3.). Ich will dabei deutlich machen, dass der Ansatz bei der Innenperspektive ganz grob mit zwei unterschiedlichen Titeln versehen werden kann. Ist der Ansatz „humeanisch“ konzentriert er sich auf die Konstruktion von Objekten aus Sinnesdaten (wie etwa bei Ayer). Ist der Ansatz Nudds 2009: 334. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die auch in Nudds Beschreibung stillschweigend in Anspruch genommene These von der Transparenz der Erfahrung keine Behauptung darüber darstellt, was Wahrnehmungen notwendigerweise sind, sondern nur, was sie normalerweise sind (5.1.3.4.). Ob die Wahrnehmungserfahrung transparent ist, hängt davon ab, worauf wir unsere geistige Aufmerksamkeit richten. Der Satz „Although in introspection your interest is in the character of your experience, your attention is still to the objects of your experience“ richtet die Aufmerksamkeit darauf, dass „individual petals on the flowers“ nur schwieirg unterscheidbar sind. Doch ebenso gut können wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, dass die individuellen Blütenblätter für uns „difficult to distinguish“ sind. 865 866 421 „kantianisch“ so fokussiert er die Konstitution von Objektivität in der Wahrnehmung (wie etwa bei Strawson). Doch in beiden Fällen bleibt der Ansatz bei der Innenperspektive als Erfahrung von der Welt. Dem möchte ich einen Ansatz gegenüberstellen, den man (ähnlich grob) als „aristotelisch“ bezeichnen kann. Dieser Ansatz begreift Wahrnehmung primär als einen Prozess in der Welt. Dabei handelt es sich jedoch nicht in erster Linie um einen Prozess im Sinne der empirischen Erforschung der Gesetzmäßigkeiten von Wahrnehmungsprozessen, wie sie die Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie unternehmen. Der aristotelische Ansatz der Biosemantik begreift Wahrnehmungen vielmehr als Fähigkeit und Tätigkeit von Lebewesen. Die philosophische Untersuchung der Wahrnehmung sollte also nicht bei unserer Wahrnehmungserfahrung ansetzen, sondern bei der Tatsache, dass Wahrnehmung eine Fähigkeit und Aktivität von Lebewesen ist. 5.2.2. Erstes Problem der Innenperspektive: Unmittelbarkeit Aus der Innenperspektive, der Perspektive der Erfahrung von der Welt, entspringt der besondere Stellenwert des Sehens seiner Unmittelbarkeit, Einheitlichkeit und Objektivität. Dies zeigt sich etwa im Vergleich zu anderen Sinnesmodalitäten. Wir hören ein Objekt (etwa eine Glocke) via die Geräusche, die es erzeugt, wir riechen ein Objekt (etwa einen Apfel) via die Gerüche, die es verströmt, doch wir sehen ein Objekt nicht via sein Aussehen oder via seine Erscheinung, sondern unmittelbar. Wir schmecken etwas nur in unserem Mund, betasten einen Gegenstand nur an einer bestimmten Stelle, doch wir sehen Objekte nicht nur in Relation zu unserem Körper, sondern auch in ihren gegenseitigen objektiven Relationen. Sehend haben wir unmittelbaren Zugang zur Welt und die Objekte dieser Welt scheinen uns ohne vermittelnde Zwischenglieder als objektiv und vollständig zugänglich. Im Sehen ist uns also eine von uns unabhängige Welt gegenwärtig. Das Sehen versetzt uns, wie es scheint, in direkten Kontakt mit den uns umgebenden Objekten. Allgemein erscheint uns das Sehen als unmittelbare Erfahrung von außerhalb von uns existierenden Objekten in einer um das sehende Subjekt zentrierten, einheitlichen raumzeitlichen Welt.867 Weiterhin akzeptieren die meisten Theorien des Sehens eine Kausalbedingung: Ein Subjekt sieht ein Objekt nur dann, wenn das Objekt eine Ursache der visuellen Erfahrung des Subjekts ist.868 Offenbar befinden sich die Perspektive auf die Wahrnehmung als einer Erfahrung von der Welt und die Perspektive auf die Wahrnehmung als eines Prozesses in der Welt in 867 868 Strawson 1979: 97. Vgl. Grice 1989; Vision 1997. 422 einer gewissen Spannung. Sowohl der Konstruktivismus als auch der Kognitivismus beschreiben die Wahrnehmung als einen komplexen Prozess, der ausgehend von einer unterbestimmten und unsteten informationalen Grundlage diese Grundlage in mehreren Verarbeitungsstufen anreichert und so unser visuelles Bild der Welt herstellt. Doch für das wahrnehmende Subjekt stellt sich die visuelle Wahrnehmung nicht so dar. Ihm eröffnet sich unmittelbar eine reichhaltige und detaillierte Welt. Weder ein verarmter Input noch Ebenen der Verarbeitung oder die Konstruktion eines visuellen Bildes gehören zu diesem Offensein für die Welt. Auf der anderen Seite lassen sich die Unmittelbarkeit und Objektivität der visuellen Wahrnehmung leicht Wahrnehmungsirrtümer als trügerisch spielen in erweisen. Sinnestäuschungen Wahrnehmungstheorien eine wichtige und Rolle. Insbesondere der Sehsinn ist anfällig für Täuschungen, Ambiguitäten und sogar für Paradoxien.869 Seit der Antike spielen Illusionen und Halluzinationen für das philosophische Nachdenken über die Sinneswahrnehmung eine entscheidende Rolle.870 Daraus ergeben sich zwei weitreichende Fragen, die die Unmittelbarkeit bzw. die Objektivität des Sehens betreffen. Die epistemologische Frage lautet: Ist die visuelle Wahrnehmung objektiv zuverlässig? Die phänomenologische Frage lautet: Welches sind die unmittelbaren Objekte der visuellen Wahrnehmung? Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Fragen. Wenn die unmittelbaren Objekte der visuellen Wahrnehmung Sinnesdaten sind, was berechtigt uns dann zu der Annahme, Wahrnehmungen würden von dauerhaften und geistunabhängigen Objekten handeln? Dennoch interessiert mich die epistemologische Frage, die den Skeptizismus betrifft, an dieser Stelle nicht weiter. Welche Antworten stehen der phänomenologischen Frage zur Verfügung? Nach einer weit verbreiteten Meinung sind es drei grundsätzliche Antworten: „Es gibt drei Wahrnehmungstheorien, die um philosophische Anhängerschaft konkurrieren: den direkten Realismus, den Repräsentationalismus und den Phänomenalismus. Jede von ihnen kann als Antwort auf folgende Frage aufgefasst werden: Was ist das direkte oder unmittelbare Objekt unseres Geistes, wenn wir wahrnehmen?“871 869 Wie etwa perspektivische Täuschungen, Spiegelungen, Lichtbrechungen, Regenbogen, Mondillusion, Träume, Krankheiten, Halluzinogene, Necker-Würfel, Müller-Lyer-Täuschung, Machbänder, Ames-Räume, Hohlmasken, Escherbilder usw. Vgl. dazu Gregory 2001: 237-307. 870 Eine Illusion kann man als eine Wahrnehmungssituation auffassen, in der zwar ein physisches Objekt wahrgenommen wird, aber anders erscheint als es wirklich beschaffen ist. Eine Halluzination kann als eine Wahrnehmungssituation verstanden werden, in der ein Objekt und Eigenschaften wahrgenommen werden, ohne dass ein entsprechendes physisches Objekt vorhanden wäre. 871 Armstrong 1966: ix. 423 Direkte Realisten glauben, die Objekte der Wahrnehmung seien die physischen Objekte selbst, die unabhängig existieren. Die anderen beiden Theorien gehen davon aus, dass es sich bei den unmittelbaren Objekten der Wahrnehmung nicht um physische Objekte handelt, sondern um erfahrene Objekte (Sinnesdaten). Phänomenalisten sind der Ansicht, physische Objekte seien regelmäßige Muster tatsächlicher oder möglicher Kombinationen von Sinnesdaten, die nicht unabhängig von der Wahrnehmung existieren.872 Repräsentationalisten oder indirekte Realisten873 meinen, dass wir zwar eine Welt physischer Objekte wahrnehmen, aber wir tun dies lediglich indirekt, vermittelt über Sinnesdaten (oder Repräsentationen), die von externen Objekten verursacht werden.874 Es ist nun wichtig zu sehen, dass man die hier angesprochene zu den drei skizzierten Optionen führende Spannung zwischen der Unmittelbarkeit und Objektivität der Wahrnehmung auf der einen Seite und den Illusions- und Halluzinationsargumenten auf der anderen Seite auf eine Spannung zurückführen muss, die sich innerhalb unserer Erfahrung von der Welt verorten lässt. Ein Blick auf Jerry Valbergs ingeniöse Exposition des Problems der Wahrnehmung hilft, diesen Punkt zu fassen. Valberg zufolge gibt es ein genuines Rätsel der Erfahrung.875 Dieses Rätsel ist ein Ausdruck einer Spannung zwischen Erscheinung und Welt. Die Dinge in der Welt erscheinen uns auf unterschiedliche Weisen, doch was uns erscheint, ist eine Welt der Dinge. Diese erscheint uns am direktesten im Sehen. Nichts ist für uns (normalerweise) so robust, wie die sichtbare Welt der Dinge, mögen sich die Dinge in der Welt auch noch so oft und noch so schnell verändern. Die Robustheit der Welt zeigt sich am deutlichsten, wenn und indem wir sie sehen. Wir sagen deshalb bisweilen, dass wir etwas erst glauben, wenn wir es sehen. Dennoch hat diese Welt in der Reflexion eine Tendenz, sich zur Erscheinung zu verflüchtigen. Sie wird zum Schein gegenüber dem, was wirklich ist (sie wird zu einer Scheinwelt) oder sie ist nichts als ein Schein (sie wird sozusagen zu einem Weltschein). Worin nun besteht das Rätsel? Valberg formuliert die Spannung, die dieses Rätsel verursacht, wie folgt: Vgl. Ayer 1940. Vgl. Jackson 1977. 874 Warum sollten das physische und das erfahrene Objekt unterschieden werden? Anlass gibt das Argument von der Sinnestäuschung. Die wohl kürzeste Form dieses Arguments stammt von David Hume: Der Tisch, den wir sehen, scheint kleiner zu werden, wenn wir uns weiter von ihm entfernen; aber der wirkliche Tisch, der unabhängig von uns existiert, erleidet keine Veränderung: Es war somit nur ein Bild, das dem Geist gegenwärtig war (vgl. Wild 2008b). Das gesehene Objekt wird kleiner, wenn wir uns von ihm entfernen, doch das physische Objekt verändert sich nicht. Also ist dem Subjekt nur ein Bild (Idee, Vorstellung, Sinnesdatum, Perzept) des physischen Objekts gegenwärtig, nicht das physische Objekt selbst. Für eine elaborierte Form des Arguments vgl. Robinson 1994: 151ff. 875 Vgl. Valberg 1992. 872 873 424 „We can reason about our experience, or we can (as I shall say) be open to it – that is, to how things are in our experience. If we follow a certain line of reasoning about our experience, we are led to the conclusion that the object of experience is not part of the world, an external object. However, if we are open to our experience, all we find is the world. So, if we reflect in the right ways, we get pulled first in one direction and then another. This, very simply, is the puzzle.“876 Mit „certain line of reasoning“ meint Valberg Illusions- und Halluzinationsargumente. Die Konklusion solcher Argumente lautet, dass das Objekt der Erfahrung nicht Teil einer äußeren Welt ist. Solche Argumente machen im Wesentlichen drei Schritte: 1. Schritt der Kausalität. Wir beginnen beim kausalen Element der Wahrnehmung. Äußere (materielle, physikalische) Dinge verursachen vermittelt über die Sinne und das Hirn eine Wahrnehmung dieser Dinge. 2. Schritt der Skepsis. Wir nutzen eine Möglichkeit aus, die das kausale Element zur Verfügung stellt, indem wir zeigen, dass die Dinge irrelevant sind für die Wahrnehmung von Dingen sind. 3. Schritt der Generalisierung. Aufgrund dieser Möglichkeit schließen wir, dass nicht die Dinge in unserer Wahrnehmung gegenwärtig sind. Solche Argumente sollen zeigen, dass die Dinge in der Welt nicht die direkten Objekte unserer Wahrnehmung sind. Mit dem Offensein für die Welt meint Valberg die folgende These W: „The world (external objects) is (are) present in experience.“877 W ist nun scheinbar weniger eine Konklusion eines Arguments, sondern vielmehr eine gemeinhin implizit akzeptierte These. Es ist wichtig, den Status von W nicht falsch zu verstehen. Es könnte ja zunächst so aussehen, dass sich mit den Illusions- oder Halluzinationsargumenten auf der einen und mit W auf der anderen Seite, eine reflektierte philosophische Perspektive und die naive Alltagssicht gegenüberstehen. Doch beides sind reflektierte philosophische Positionen, denn W stellt überhaupt erst als Reaktion auf die philosophisch durchaus anspruchsvollen Illusions- oder Halluzinationsargumente eine Position dar. Diese Position wird etwa als „naiver Realismus“ bezeichnet. Durch Illusions- und Halluzinationsargumente wird ein wesentliches Merkmal unserer Alltagssicht erkennbar. Das Offensein für die Erfahrung von der Welt ist keine Ausgangsposition, sondern das Ergebnis der Reflexion auf unsere Erfahrung von der Welt. Die Einsicht in die Offenheit stellt sich nicht ein, indem wir auf 876 877 Valberg 1992: 3. Valberg 1992: 42. 425 philosophische Reflexion verzichten – Wie könnte es dann eine Einsicht sein? – , sondern sie ist das Ergebnis philosophischer Reflexion.878 Es gibt in der Philosophie eine verbreitete Reaktion auf dieses Rätsel, die darin besteht in etwa das Folgende zu sagen: Wir sollten einfach darauf verzichten, von einem kausalen Prozess in der Welt zu meiner Erfahrung von der Welt überzugehen. Dieser Übergang gleicht einem Kategorienfehler. Es gibt zwar eine kausale Erklärung für die Prozesse, die von Objekten über das Auge zum Gehirn führen, allein der letzte Schritt, dass dieser Prozess in einer Wahrnehmungserfahrung endet (diese verursacht) ist falsch. Eines sind die körperlich-kausalen Prozesse, ein anderes ist unsere Erfahrung. Diese Reaktion ist problematisch. Das kausale Element, dem zufolge äußere Dinge die Wahrnehmungen dieser Dinge verursachen, ist nun Valberg zufolge keine Dreingabe, sondern Bestandteil meiner Erfahrung von der Welt. Verzichte ich auf das kausale Element, so verzichte ich auf einen Bestandteil meiner Erfahrung der Welt. Wir können das kausale Bild nicht einfach fallen lassen und so tun, als könnten wir W davon freihalten. Der Schritt (1) der Kausalität, der zu den Illusions- und Halluzinationsargumenten führt, gehört zu W. Die Trennung dieser Elemente nimmt auseinander, was in W zusammengehört. Damit kann W ebenso wenig von problematisierenden Überlegungen in Schutz genommen werden, wie man ein Lebewesen vor Nierenleiden durch die ersatzlose Entfernung der Nieren in Schutz nehmen kann. Valberg nennt das kausale Element „the causal picture of experience“.879 Es gehört zu W, dass die Dinge in der Welt unter bestimmten Bedingungen unsere Sinne kausal beeinflussen. Dieses kausale Element muss von der KTS, die ich oben kritisiert habe, unterschieden werden. Das kausale Element ist kein Ausdruck einer philosophischen Analyse der Wahrnehmung, die hinreichende und notwendige Bedingungen für das Vorliegen einer Wahrnehmung nennt, sondern es ist ein Bestandteil von W. Das Rätsel, von dem Valberg spricht, entspringt somit einem internen Konflikt: „We live with the world present to us, yet our picture of the world includes something (the causal picture of experience) on the basis of which we can prove that the world is not present to us.“880 Vgl. Valberg 1992: 21f. Und ibid. 29: „Thus the antinomy is a function of the fact that my experience is a subject-matter on which I can reflect in two very different ways. There is the indirect way: reasoning, in terms of the causal picture of experience, to a conclusion about how things are in my experience. And the direct way: simply being open to how things are in my experience. […] When, having reached the conclusion of the problematic reasoning, I become open to my experience, everything looks as before. And, in a real sense, everything is as before. I already knew the object present to me was a book. Nothing has changed, yet things are different: I am open to what I already knew. The conclusion of the reasoning is overthrown.“ 879 Valberg 1992: 10. 880 Valberg 1992: 45. Man sollte hier nicht einwenden, dass wir diesen Konflikt einem neuzeitlicheuropäischen Weltbild zu verdanken hätten. Das kausale Bild der Wahrnehmung ist nicht allein integraler Bestandteil des Weltbildes der Neuzeit. Es ist auch Bestandteil anderer Weltbilder, wie der Rekurs 878 426 Bei der von Valberg angesprochenen Spannung zwischen W (der Offenheit der Welt in der Erfahrung) und den Illusions- oder Halluzinationsargumenten handelt es sich jedoch nicht um eine Spannung zwischen der Innenperspektive auf die Wahrnehmung als einer Erfahrung von der Welt und der Außenperspektive auf die Wahrnehmung als eines Prozesses in der Welt. Vielmehr handelt es sich um eine Wiederholung dieser Spannung auf der Seite der Innenperspektive. Ich sage deshalb, dass es sich auf der Seite der Innenperspektive wiederholt, weil sowohl die Motivation für die phänomenologische Frage als auch Valbergs Rätsel erst vor dem Hintergrund der Art und Weise verständlich werden, wie sich uns die Welt in der visuellen Wahrnehmung zeigt, nämlich als unmittelbare Erfahrung von außerhalb von uns existierenden, unabhängigen Objekten in einer um uns zentrierten raumzeitlichen Welt. Zu diesem Bild der Dinge gehört ein kausales Element, das die Spannung zwischen W und der Bestreitung von W veranlasst. Der springende Punkt besteht darin, dass die Anhaltspunkte, die zu Valbergs Rätsel führen, alle aus der Innenperspektive gewonnen werden. Diese Struktur der Wiederholung der Spannung zwischen Außen- und Innenperspektive auf der Seite der Innenperspektive findet sich auch in der philosophischen Diskussion um die Natur der Farben. Um dem grundsätzlichen Gedanken, um den es hier geht, nämlich den der Wiederholung der Spannung zwischen Innen- und Außenperspektive auf der Seite der Innenperspektive, mehr Kontur zu verleihen, werde ich mich kurz der Geografie der gegenwärtigen philosophischen Farbdebatten zu. Die innenperspektivische Unmittelbarkeit des Sehens zeigt sich insbesondere an Farben. Farben sind dem Betrachter in normalen Wahrnehmungsumständen gleichsam ganz und gar offenbar. Was Gelb ist, erfährt man am besten, indem man beispielsweise eine reife Zitrone ansieht. Doch es stellt sich die Frage, was Farben sind. Sind Farben Eigenschaften materieller Objekte oder Eigenschaften des Betrachters dieser Objekte? Wenn Farben Eigenschaften physischer Objekt sein sollen, müssen sie physikalisch beschreibbar sein. Einige Wissenschaftler und Philosophen bestreiten, dass Farben ausschließlich physikalisch (unabhängig vom Betrachter) beschrieben werden können. Aus unterschiedlicher Epistemologien auf das kausale Bild belegt. Wie in den Epistemologien und Optiken griechischer Atomisten (bei Demokrit), arabischer Ärzte (bei Ibn al-Haytham), chinesischer Daoisten (bei Dschung Dsi) oder indischer Buddhisten (bei Dharmakirti; zu Dharmakirti vgl. Dunne 2004, 84f. Ebenso wenig ist W eliminierbar. Zwar werden wir nicht mit einem bestimmten Weltbild geboren, sondern wir erwerben ein Weltbild. Wenn wir jedoch darüber nachdenken, wie wir überhaupt ein Weltbild erwerben (wir erwerben z.B. von anderen ein durchschnittliches ontologisches Inventar und eine Sprache für dieses Inventar), so müssen wir W unweigerlich voraussetzen. Wir können, wenn wir überhaupt irgendein Weltbild erwerben, es nicht ohne W erwerben. W ist kein beliebiger Teil eines beliebigen Weltbildes, der sich als illusionärer Teil herausstellen könnte, sondern W haben wir akzeptiert, sobald wir überhaupt ein Weltbild erworben haben. Vgl. Valberg 1992; 49: „The process of acquiring a picture of the world and the process of coming to accept (W) are one and the same process.“ 427 diesem Grund existieren unterschiedliche Farbtheorien.881 Philosophische Farbtheorien unterscheiden sich zunächst durch die Bestimmung der Natur von Farbe. Dem „Subjektivismus“ zufolge sind Farben geistige Eigenschaften visueller Zustände, physische Objekte hingegen sind nicht farbig. Für den „Relationalismus“ sind Farben Relationen zwischen Subjekten und physischen Objekten, etwa Dispositionen physischer Objekte bestimmte Farbwahrnehmungen auszulösen. Der „Objektivismus“ behauptet, dass Farben physische Eigenschaften von Objekten sind. Das Spektrum reicht also von rein betrachterabhängigen zu rein betrachterunabhängigen Theorien, der Relationalismus umfasst Mischformen. Und wie im Falle der phänomenologischen Frage nach dem unmittelbaren Objekt der Wahrnehmung gibt es ein Analogon zum naiven Realismus, das wie dieser durch die fehlgeleiteten Theorien hindurch zu einem geläuterten Standpunkt der Offenheit der Welt in der Erfahrung zurückkehren möchte: Dem „Primitivismus“ zufolge sehen wir Farben als primitive Eigenschaften in der Welt, die nicht auf physikalische Eigenschaften reduziert werden können.882 Wie auch immer man die Natur der Farben bestimmt, man muss auch eine Erklärung dafür geben, wie Farben als Eigenschaften von Objekten gesehen werden, denn in der Unmittelbarkeit des Sehens als Erfahrung von der Welt werden Farben als Eigenschaften wahrgenommen, die zu äußeren Objekten gehören, sie werden sozusagen als intrinsische Eigenschaften gesehen. Reife Zitronen sind gelb. Warum erscheint uns das Gelb als intrinsische Eigenschaft der Zitrone selbst? Diese Frage stellt sich in erster Linie subjektivistischen Farbtheorien, denen zufolge Farben ja Eigenschaften visueller Zustände sind. Einige Subjektivisten sind Sinnesdatentheoretiker. Objekte scheinen einfach deshalb farbig zu sein, weil sie durch Sinnesdaten konstituiert werden. Der indirekte Realismus hingegen fasst Farben als Sinnesdaten auf, die (nicht-farbige) physische Eigenschaften von Objekten repräsentieren. Wir sind uns der Objekte indirekt visuell bewusst, indem wir sie indirekt via Farben sehen. Die räumlichen Eigenschaften der Sinnesdaten fungieren als Indikatoren der räumlichen Eigenschaften der physischen Objekte. Ein Einwand lautet, dass es äußerst unklar ist, was Sinnesdaten sein sollen und wie sie sich zu räumlichen Eigenschaften von Objekten verhalten. Und warum sollten wir überhaupt annehmen, dass Sinnesdaten die direkten Objekte der Wahrnehmung sind? Der Adverbialismus bietet eine Alternative. Adverbialisten betrachten Farben nicht als Sinnesdaten, d.h. nicht als direkte Objekte der visuellen Wahrnehmung, vielmehr sehen wir physische Objekte direkt. Doch deren Farbigkeit ist eine Eigenschaft unseres Sehens. Wir sehen die Zitrone gleichsam 881 882 Vgl. Byrne und Hilbert 1997. Vgl. Byrne und Hilbert 2007. 428 gelblich, wobei „gelblich“ eine adverbiale Modifikation des Sehens ist. Für Objektivisten und Relationalisten stellt sich die Frage, wie wir Farben als Eigenschaften äußerer Objekte sehen, scheinbar weniger dringend. Sie müssen sich zur Frage äußern, ob Farben direkt gesehen werden oder vermittelt über geistige Eigenschaften der visuellen Wahrnehmung. Ist das Gelb der Zitrone ganz und gar eine Eigenschaft des physischen Objektes oder nicht? Zahlreiche Objektivisten sind Repräsentationalisten oder Intentionalisten und vertreten die Ansicht, dass visuelle Wahrnehmungen keine geistigen Eigenschaften aufweisen, außer den direkt repräsentierten Farben der physischen Objekte. Unsere Wahrnehmung ist auf diese Farbeigenschaften hin transparent. Farben sind also repräsentierte Eigenschaften physischer Objekte. Wir sehen die Zitrone als gelb, weil sie gelb ist. Wir haben bereits gesehen, dass die Transparenz der Wahrnehmung kein besonders guter Motivator für diese Auffassung ist (5.1.3.4.). Ein weiterer Einwand lautet, dass uns nicht alle Farben als Eigenschaften von Objekten erscheinen (Nachbilder, das Blau des Himmels) und dass nicht alle Objekte mit derselben Farbe (Gelb) dieselbe Oberflächeneigenschaften besitzen (Zitronen und Fotos von Zitronen). Für den Relationalisten sind Farben (beispielsweise) Dispositionen von Objekten, bestimmte visuelle Wahrnehmungen auszulösen. Entsprechend müssen Farbwahrnehmungen auch durch geistige Eigenschaften charakterisiert werden. Wir sehen die Zitrone als gelb, weil sie in uns eine Gelbwahrnehmung auslöst. Ein Einwand lautet, dass wir nicht bloß Dispositionen sehen, sondern aktuelle Eigenschaften von Objekten, und dass uns Farben nicht wie Relationen erscheinen, sondern als nicht-relationale Eigenschaften von Objekten. Ökologische Farbtheorien, eine wichtige Spielart des Relationalismus, nehmen den Umstand ernst, dass das Farbsehen ein Produkt der Evolution ist und je nach biologischer Art verschieden ausfällt. Artspezifische Farbwahrnehmungen erfüllen bestimmte biologische Funktionen innerhalb bestimmter ökologischer Nischen. Farben sind Relationen zwischen Lebewesen und Objekten in ihrer Umwelt. Die Funktion der Farbwahrnehmung ist die Diskriminierung von Objekten vor Hintergründen oder die Diskriminierung von Objektoberflächen. Weil dies die Funktion ist, nehmen Lebewesen Farben als Eigenschaften von Objekten wahr. Ein Einwand lautet, dass Farben mit diskriminatorischen Reaktionen bestimmter Organismen auf ihre Umwelt gleichgesetzt werden, was aber nichts mit unserem unmittelbaren Sehen von Farben zu tun zu haben scheint.883 883 Vgl. Thompson 1995; Matthen 2005. Ökologische Farbtheorien unterhalten natürlich die größte Affinität zu einer biosemantischen Theorie der Wahrnehmung. Allerdings gehen Vertreter dieser Theorien nicht auf die metatheoretische Frage des richtigen Ansatzes für eines Wahrnehmungstheorie ein. 429 Hier wiederholt sich nun nicht allein die Struktur der Antworten auf die phänomenologische Frage, sondern auch, und zwar wiederum auf der Seite der Innenperspektive, die Spannung zwischen der Perspektive auf die Wahrnehmung als einer Erfahrung von der Welt und der Perspektive auf die Wahrnehmung als eines Prozesses in der Welt. Die Wiederholung findet deshalb auf der Seite der Innenperspektive statt, weil das primäre Problem für alle philosophischen Farbtheorien erst vor dem Hintergrund der Art und Weise verständlich wird, wie sich uns Farben aus der Innenperspektive zeigen, nämlich als intrinsische Eigenschaften von außerhalb von uns existierenden Objekten in einer um uns zentrierten raumzeitlichen Welt. Im Sehen als Erfahrung von der Welt ist die Welt (sind externe Objekte) in der Erfahrung „präsent“ (wie Valberg im Hinblick auf W sagt). Allerdings enthält dieses Bild der Erfahrung von der Welt, Elemente (wie etwa das kausale Element), die Anlass dazu geben, sowohl an der Unmittelbarkeit als auch an der Objektivität Zweifel zu hegen. Formen des Indirekten Realismus (etwa des Relationalismus in den Farbtheorien) sind Weisen, Zweifel an der Unmittelbarkeit zu erheben. Formen des Phänomenalismus (etwa des Subjektivismus in den Farbtheorien) sind Weisen, solche Zweifel an der Objektivität vorzubringen. Doch beide Positionen müssen auf die eine oder andere Art und Weise mit W in Übereinstimmung gebracht werden. Andererseits müssen Formen des Direkten Realismus (wie etwa der Objektivismus in der Farbtheorie) mit den Illusions- und Halluzinationsargumenten zu Rande kommen, die sich aus Elementen von W ergeben. Der springende metaphilosophische Punkt bleibt jedoch der folgende: Diese Spannungen ergeben sich aus der Innenperspektive bzw. aus der Wiederholung des Problems der Vermittlung zwischen der Perspektive auf die Wahrnehmung als einer Erfahrung von der Welt und der Perspektive auf die Wahrnehmung als eines Prozesses in der Welt auf der Seite der Innenperspektive. Der naive Realist und der Farbprimitivist sehen diesen metaphilosophischen Punkt nicht und meinen, sie würden sich auf die Seite des Commonsense schlagen. In Tat und Wahrheit beharren sie einfach auf W, ohne zu sehen, dass W eine reflektierte philosophische Position ist, die sich ebenfalls aus dem Ansatz bei der Innenperspektive ergibt. Sie betrachten die Reaktion auf skeptische Argumente, nämlich W, fälschlich als natürliche Einstellung, die solche Argumente ungerechtfertigterweise hinter sich lassen. Das erste Problem der Innenperspektive besteht also im Folgenden: Der Ansatz bei der Innenperspektive ist ein Ansatz bei der Erfahrung von der Welt, in der uns Objekte in der Welt unmittelbar präsent scheinen, doch er führt mit einem geringen Aufwand an Reflexion dazu, dass uns diese Unmittelbarkeit ständig entgleitet, sei es im Hinblick auf die phänomenologische Frage, sei es im Hinblick auf die Natur der Farben. Offenbar führt der 430 Ansatz bei der Innenperspektive also zu widersprüchlichen Auffassungen über die Wahrnehmung. Wenn ein Ansatz zu widersprüchlichen Auffassungen führt und ein alternativer Ansatz zur Verfügung steht, dann sollte man sich diesem alternativen Ansatz zuwenden. 5.2.3. Zweites Problem des Innenperspektive: Einheitlichkeit Die Rede vom Sehen als einer Erfahrung von der Welt suggeriert, dass es sich beim Sehen um ein einheitliches Phänomen handelt. Die Innenperspektive ist zunächst und zumeist die Perspektive normaler erwachsener Denker (5.2.4.). Dies suggeriert, dass es sich beim Sehen als einer Erfahrung von der Welt eigentlich um Urteile über die Welt, um implizite Beschreibungen der Welt, um die spontane Anwendung von Begriffen auf die Sinneseindrücke oder um das Erfassen von Propositionen handelt – kurz: um ein Sehendass. Beide Ideen zusammen genommen, nämlich die Idee der Innenperspektive als jene normaler Erwachsener und die Idee, dass Sehen für normaler Erwachsene immer Sehendass ist, führen zu der dritten Idee, dass es sich beim Sehen als einer Erfahrung von der Welt um ein einheitliches Phänomen handelt. Sehen ist einfach eine besondere Form des Denkens normaler Erwachsener. Descartes beispielsweise, der mit großer Bestimmtheit bei der Innenperspektive ansetzte, hat diese Folgerung explizit gezogen. Die Wahrnehmung ist eigentlich eine Tätigkeit des Intellekts. Nun möchte ich behaupten: Der Ansatz bei der Innenperspektive führt dazu, dass die Wahrnehmung (das Sehen) vereinheitlicht und überintellektualisiert wird. Ich wende mich in diesem Abschnitt kurz dem Problem der Vereinheitlichung zu. Im nächsten Abschnitt werde ich mit der Überintellektualisierung unter dem Titel „Objektivismus“ zuwenden. Es können verschiedene Ebenen des Sehens unterschieden werden. So hat Dretske, wie wir gesehen haben (5.1.5.2.), nicht-epistemisches Sehen (das Sehen von Objekten oder Eigenschaften) und epistemisches Sehen (Sehen von Tatsachen oder das Sehen-dass) unterschieden. Um eine Zitrone zu sehen muss ein Subjekt weder Begriffe auf ein Objekt anwenden noch Urteile über es fällen, sondern das Objekt muss lediglich auf eine bestimmte Weise aussehen und visuell unterscheidbar sein. Epistemisches Sehen heißt Sehen, dass etwas der Fall ist, dass das Subjekt glaubt oder urteilt, dass X eine Zitrone ist. Veridisches epistemisches Sehen ist Wissen.884 884 Vgl. Dretske 1969. 431 Zweitens kann man mit der Existenz von NBI von einem nicht-begrifflichen Sehen sprechen (das nicht mit dem nicht-epistemischen Sehen verwechselt werden darf).885 Für die Existenz von NBI sprechen, wie gezeigt (5.1.5.2.), beispielsweise die visuellen Fähigkeiten von (mutmaßlich nicht über Begriffe verfügenden) Tieren, die Unabhängigkeit dessen, was wir sehen, von Überzeugungen über das Gesehene oder die Reichhaltigkeit und Feinkörnigkeit visueller Erfahrungen. Auch empirische Befunde sprechen für die Existenz von NBI. Zu den wichtigsten dieser empirischen Entdeckungen gehört die Existenz eines ventralen VS und eines dorsalen VS, wobei das ventrale System für das Sehen von Objekten zuständig zu sein scheint (für das „Was“), das dorsale hingegen für das Verhalten (für das „Wo“ oder „Wie“).886 Die Entdeckung dieser Systeme kann mit der Idee verbunden werden, dass das Sehen unterschiedliche Arten von Repräsentationen mit NBI involviert.887 Allerdings ist der Begriff des NBI, wie gesagt, vieldeutig. Weiter kann man eine Art von Sehen unterscheiden, die Richard Wollheim „Sehenin“ (auch „Darstellungssehen“) genannt hat. Ein Subjekt sieht in X (dem Medium) ein Y (ein Objekt), z.B. in dieser Anordnung von Öl auf Leinwand eine Zitrone. Wollheim zufolge sehen wir ein Bildobjekt Y stets in diesem Sinne, ein Bild sehen, heißt Y in X zu sehen. Und wenn wir in X ein Y sehen, dann sehen wir immer beides, X und Y, zugleich.888 Davon unterschieden werden muss das durch Wittgenstein diskutierte und durch die Kippfigur des Hasen-Enten-Bild illustrierte „Sehen-als“ (auch „Aspektsehen“). Wir sehen nicht zugleich einen Hasen und eine Ente, sondern wechseln plötzlich vom einen Aspekt zum anderen, und wir sehen nicht nur Aspekte in bildlichen Darstellungen, sondern z.B. auch in Gesichtern, Landschaften, Situationen usw. Dabei sehen wir nicht „eine Eigenschaft des Objekts, es ist eine interne Relation zwischen ihm und anderen Objekten“.889 Das Sehen-als ist reichhaltiger als das einfache Sehen oder das Sehen-dass und ähnelt doch dem Denken. Einige Autoren haben Wittgensteins Bemerkungen zum Aspektsehen als Sehtheorie verstanden: Sehen ist immer ein Sehen-als, und Sehen-als ist eigentlich Sehen-dass. Diese Tendenz kann auch unabhängig von Wittgenstein festgestellt werden. Da es sich beim Sehen im normalen Sinn dieses Ausdrucks stets um ein Sehen von etwas als etwas handle, können alle Formen des Sehens auf Arten des durch Urteile, Begriffe oder Proportionen zu charakterisierenden Sehens verstanden werden. Ebenso kann man also Wollheims Darstellungssehen als besonderen Fall des Sehen-dass verstehen: Vgl. Gunther 2003. Vgl. Milner und Goodale 1995. 887 Vgl. Jacob und Jeannerod 2003. 888 Wollheim 1980: 192-210. Konsequenterweise sehen wir Wollheim zufolge kein Bild, wenn wir ein Trompel’œil sehen, solang wir nicht durchschauen, dass es sich um ein Trompe-l’œil handelt. 889 Vgl. Wittgenstein, PU II.xi (Wittgenstein 1984ff., Bd. 1). 885 886 432 Wir urteilen, dass diese und diese Anordnung von Ölflecken eine Zitrone darstellt. Und schließlich haben einige Autoren dafür argumentiert, dass Wahrnehmung auf der personalen Ebene stets ein Sehen-dass ist. Die Vereinheitlichung des Sehens könnte natürlich als Vorteil aufgefasst werden. Wir haben ja gesehen, dass philosophische Erklärungen wesentlich mit Vereinheitlichungen zu tun haben (2.3.). Allerdings glaube ich, dass es sich hier nicht um eine genuine Form der Vereinheitlichung handelt. Vielmehr handelt es sich um die Verallgemeinerung eines voreingenommenen Ansatzes bei der Innenperspektive. Dies wird im folgenden Abschnitt deutlich werden. 5.2.4. Drittes Problem der Innenperspektive: Überintellektualisierung In einer Anmerkung zur oben (5.2.1.) zitierten Passage über das Sehen einer Vase mit Blumen kommentiert Nudds den Ansatz bei der Innenperspektive wie folgt: „Strawson is right when he suggests that a theory of perceptual experience should start from the fact that ‚mature sensible experience (in general) presents itself as, in Kantian phrase, an immediate consciousness of the existence of things outside us.’ (1979:77).“890 Was Nudds und Strawson hier empfehlen, ohne dafür zu argumentieren, ist ein voreingenommener Ansatz bei der Innenperspektive. Nudds verweist hier auf einen Aufsatz von Strawson, der sich kritisch mit der Wahrnehmungstheorie von Alfred Jules Ayer auseinandersetzt. Strawson wirft Ayer vor, dass dieser zwar richtig unsere Erfahrung von der Welt als Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Wahrnehmungserfahrungen und ihrer Relation zu Objekten in der Welt nehme, dass er diesen Ausgangspunkt jedoch entstelle. Das Argument gegen Ayer funktioniert deshalb, weil beide den empfohlenen Ansatz bei der Innenperspektive teilen. Beide versäumen es jedoch gleichermaßen, für diesen Ansatz zu argumentieren. Betrachten wir uns dieses instruktive Paar genauer. Ayer geht davon aus, dass sinnliche Erscheinungen (Sinnesdaten, Sinnesinhalte, Sinneseindrücke, Qualia, Perzepte, usw.) die unmittelbaren Objekte der Wahrnehmung sind. Welche Relation besteht zwischen sinnlichen Erscheinungen und den materiellen Dingen wie Tischen oder Äpfeln, die zu einem überwiegenden Teil unsere Alltagswelt bevölkern, und die deshalb als paradigmatische Dinge betrachtet werden können?891 Ayer argumentiert zugunsten der Unabhängigkeit der Erscheinungen von materiellen Dingen in 890 891 Nudds 2009: 334 n2. Ayer 1973: 68f. 433 der Wahrnehmung. Dies bedeutet keineswegs, dass materielle Dinge wahrgenommen würden, oder dass diese Dinge auf Erscheinungen reduzierbar wären (wie der Phänomenalismus behauptet), vielmehr können Ayer zufolge erst auf der Basis von Erscheinungen Wahrnehmungsurteile über materielle Dinge gefällt werden, da die Alltagswelt materieller Dinge aus den Erscheinungen allererst konstruiert werden muss. Aus der Sicht von Ayers Konstruktivismus, die er als „raffinierten Realismus“ bezeichnet, verhalten sich Wahrnehmungserfahrungen und Objekte in der Welt wie Daten zu Theorien. Die Sinneserfahrungen sind die Daten, aus denen wir die objektive Welt konstruieren.892 Strawson betont nun, dass der Ansatz für eine Theorie des Wahrnehmung in einer adäquaten Beschreibung der sinnlichen Erfahrung eines erwachsenen, reifen Menschen bestehen müsse, denn das Ziel der philosophischen Analyse besteht ja darin, die Voraussetzungen für die zentralen Komponenten unserer Wahrnehmung der Welt herauszuarbeiten, über die beispielsweise ein Kleinkind noch nicht verfügen dürfte. Bei diesen Komponenten handelt es sich natürlich um die Unmittelbarkeit, die Einheitlichkeit und die Objektivität sowohl der Wahrnehmung als auch der wahrgenommenen Objekte in der Außenwelt. Zweitens müsste Ayer zufolge diese adäquate Beschreibung unserer reifen, sinnlichen Erfahrung unabhängig von Beschreibungen sein, die auf die genannten zentralen Komponenten zurückgreifen. Strawson bestreitet, dass Ayers Ansatz beide Bedingungen erfüllt. Wenn wir einen beliebigen Erwachsenen bitten, seine sinnlichen Erfahrungen zu beschreiben, ohne für seine Beschreibungen beanspruchen zu wollen, tatsächlich Urteile über unmittelbar wahrgenommene, einheitliche, objektive Dinge und deren Merkmale zu fällen (also gleichsam unter Bedingungen der Epoché rein phänomenologisch zu beschreiben), so würde er seine sinnliche Erfahrung ganz einfach so beschreiben, als würde er die Welt der materiellen Dinge beschreiben.893 Doch damit bringt der Beschreibende bereits jene Komponenten in Anschlag, von denen die sinnliche Erfahrung für sich genommen Ayer zufolge doch frei sein soll, da sie aus ihr erst konstruiert werden sollen. Eine adäquate Beschreibung der sinnlichen Erfahrung bringt also bereits jene Komponenten (Strawson 892 Ayers frühe Theorie der Wahrnehmung bestand in einer Form eines Phänomenalismus, demzufolge sämtliche Aussagen über materielle Dinge in Aussagen über aktuelle oder mögliche Erscheinungen – Ayer spricht von „Sinnesdaten“ oder „Sinnesinhalten“ (sense-contents) – übersetzbar sind (Ayer 1940). Auf dem Weg zu seiner späten Theorie verwirft Ayer zwar seine frühere Idee einer Reduktion materieller Dinge auf Erscheinungen, verteidigt jedoch auch in seiner späteren „raffinierten Realismus“ (Ayer 1973) nach wie vor die Auffassung, dass Wahrnehmungsurteile über die materielle Welt durch sinnliche Erscheinungen, die er nun als „Qualia“ (Universalien) und als „Perzepte“ (partikuläre Qualia) bezeichnet, gerechtfertigt werden müssen, gegen die Auffassung, dass empirische Urteile und Aussagen nur durch etwas gerechtfertigt werden kann, was selbst die Form von Urteilen oder Aussagen hat, gegen Angriffe auf die Intelligibilität der Unterscheidung zwischen materiellen Dingen und Erscheinungen (wie sie Austin vorgebracht hat) und gegen privatsprachliche Argumente vom Schlage Wittgensteins (vgl. Ayer 1969). 893 Vgl. Strawson 1979: 97ff. 434 nennt sie „Begriffe“) in Anschlag, die wir auch in unsere Beschreibungen der Welt materieller Objekte in Anschlag bringen. Beschreibungen unserer Wahrnehmungserfahrungen haben also denselben Inhalt wie Beschreibungen unserer Wahrnehmungsurteile. Diese Überlegung soll zeigen, dass Ayer den Ausgangspunkt seiner Analyse von Anfang an entstellt und dass die Ebenen der sinnlichen Erscheinungen und der materiellen Objekte nicht voneinander getrennt werden können. Somit fällt Ayers Analogie von Datensatz und Theorie, denn in die Daten, die eine Theorie stützen oder durch sie erklärt werden sollen, dürfen die zentralen Komponenten der Theorie nicht eingehen. Genau dies tun sie aber im Falle einer adäquaten Beschreibung unserer normalen, erwachsenen sinnlichen Erfahrung. Während Ayer das Bild vorschwebt, dass wir in dem, was wir in Wahrnehmungsurteilen beschreiben, über dasjenige, was wir in der Wahrnehmungserfahrung vorfinden, hinausgehen, suggeriert Strawson ein Bild, in dem wir von unseren gewöhnlichen Wahrnehmungsurteilen lediglich einen Schritt zurücktreten, um unsere Erfahrung zu beschreiben. Doch natürlich finden wir dabei die Komponenten des alltäglichen Weltbildes sowohl in den Wahrnehmungsurteilen als auch in den Wahrnehmungserfahrungen vor. In Strawsons Bild kann man sagen, dass der begriffliche Rahmen unserer Alltagssicht unhintergehbar ist. Er ist nicht aus etwas Gegebenem konstruiert, wie Ayer meint, sondern „something given within the given“.894 Zusammengefasst kann man sagen: Ayer konstruiert materielle Wahrnehmungsobjekte aus Wahrnehmungserfahrungen, Strawson meint, dass zentrale Komponenten der Objektivität für die Wahrnehmungserfahrung selbst konstitutiv sind. Man kann Ayers Ansatz als „humeianisch“ und Strawsons Ansatz als „kantianisch“ bezeichnen. Wichtiger als die Differenzen zwischen Ayer und Strawson ist in unserem Zusammenhang die folgende Gemeinsamkeit. Beide stimmen darin überein, dass eine philosophische Untersuchung der Wahrnehmung bei der Frage nach der Relation zwischen Dingen in der Welt und der Erscheinung dieser Dinge für uns ansetzen muss und dass eine solche Untersuchung bei der Wahrnehmung als Erfahrung von der Welt ansetzen muss. Ayer betrachtet die Sinnesdaten als semantische und epistemische Basis unseres alltäglichen Bildes der Dinge. Auch wenn Strawson diese Auffassung zurückweist, so teilt er doch Ayers generelle explanatorische Richtung: Die Grundkomponenten desjenigen, worüber unsere Wahrnehmungen handeln (nämlich die materiellen Dinge und deren Merkmale) sollen in den Inhalten der Wahrnehmung normaler, erwachsener Personen vorgefunden werden, entweder im Sinne einer Konstruktion von Objekten aus vorobjektiven 894 Strawson 1979: 97. 435 Wahrnehmungserfahrungen oder im Sinne einer Konstitution von Wahrnehmungserfahrungen durch zentrale Komponenten der Objektivität. Bei beiden Autoren findet sich somit ein explanatorischer Vorrang der Erfahrung von der Welt, sei dies nun ein Vorrang der reinen Erfahrung (Sinnesdaten) oder der begriffenen Erfahrung (Begriffsschema). Es handelt sich bildlich gesprochen um eine Erklärungsrichtung von Innen nach Außen, von einem Inhalt, der dem Subjekt oder den Subjekten (unvermittelt oder vermittelt) gegeben ist, zu den Objekten der sinnlichen Erfahrung. Man kann diese Erklärung von Innen nach Außen „internalistisch“ nennen. Diese internalistische Erklärungsrichtung behauptet einen methodischen, semantischen und epistemischen Vorrang der Wahrnehmungserfahrung, d.h. sie beginnt bei der Innenperspektive. Weshalb, um auf Nudds zurückzukommen, haben Strawson und Ayer Recht, wenn sie nahelegen, „that a theory of perceptual experience should start [from the] mature sensible experience […] of the existence of things outside us“? Man könnte antworten: Weil die zentrale Frage der Philosophie der Wahrnehmung die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wahrnehmungserfahrung und -objekten ist. Aus diesem Grunde sollte man erstens bei der Wahrnehmungserfahrung ansetzten und zweitens bei der Wahrnehmungserfahrung normaler, erwachsener Personen. Aber warum? Würde die zentrale Frage lauten, welches das Verhältnis zwischen den Wahrnehmungserfahrungen normaler, erwachsener Personen und ihrer Auffassung von Objektivität ist, so könnte man verstehen, warum man bei normalen, erwachsenen Personen und deren Auffassung von Objektivität ansetzt. Doch selbst hier stellt sich die Frage, warum man bei den Erfahrungen und Auffassung dieser Subjekte ansetzt und nicht bei den Objekten der Wahrnehmung oder bei den Aktivitäten von Wahrnehmungssubjekten überhaupt. Wichtiger ist der Punkt, dass die Frage der Philosophie der Wahrnehmung ja nicht allein auf die Wahrnehmung normaler, erwachsener Personen zielen kann. Wir schreiben nicht nur uns und anderen normalen, erwachsenen Personen, sondern auch zahlreichen Tieren Sinneswahrnehmungen zu. Und es spricht zunächst nichts dagegen, dies zu tun – außer der Ansatz bei der Innenperspektive. Der Ansatz bei der Erfahrung normaler, erwachsener Personen, wie ihn Strawson und Nudds fordern, nimmt zweierlei für entschieden an, ohne dafür Argumente zu liefern. Erstens den Ausgangspunkt bei der Erfahrung als einem Zustand und zweitens den Ausgangspunkt bei der Erfahrung als einem Zustand normaler, erwachsener Personen. Natürlich kann man immer entgegnen, dass es doch zunächst einmal darum gehen müsse zu klären, was Wahrnehmung für uns bedeute. Abgesehen von der Zirkularität dieser Entgegnung, birgt dieses Vorgehen die Gefahr der Überintellektualisierung der Wahrnehmung. Man 436 beginnt bei einem bestimmten anspruchsvollen Fall (Wahrnehmung normaler, erwachsener Personen), expliziert die in diesem Fall hervorstechenden Elemente (sei es der Konstruktion oder der Konstitution) und gelangt dahin, die dem bestimmten Fall entnommenen Elemente als konstitutiv für Wahrnehmung überhaupt bzw. andere Formen der Wahrnehmung als derivativ gegenüber dem Ausgangsfall zu verstehen. Überintellektualisierung von X entsteht also durch die Übertragung der hervorstechenden Elemente eines anspruchsvollen Sonderfalles von X auf das Ganze von X. Das ist keine saubere Analyse, sondern schlechtes induktives Denken. Schlecht, weil die Ausgangsbasis (das „sample“) weder ausreichend weit (die Innenperspektive eines Subjekts) noch ausreichend gestreut (die Innenperspektiven normaler, erwachsener Subjekte) ist. Diese Form der Überintellektualisierung findet sich nicht nur in der Philosophie der Wahrnehmung, sondern auch in anderen Gebieten der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Ich will diesen wichtigen Punkt der Überintellektualisierung am Beispiel der Debatte zwischen epistemischem Internalismus und epistemischem Externalismus illustrieren. Der Leitgedanke des epistemologischen Internalismus lautet, dass es für Wissen unabdingbar ist, dass ein Subjekt für eine Überzeugung, die als Wissen gelten können soll, weitere Überzeugungen braucht, die sich auf die erste Überzeugung beziehen. Es genügt nicht, eine Überzeugung zu haben, sondern sie muss in den Augen des Subjekts als Überzeugung besonderer Art betrachtet werden können, z.B. als eine gerechtfertigte Überzeugung. Damit eine Überzeugung ein Wissen sein kann, muss das Subjekt also etwas über diese Überzeugung wissen – oder besser: Das Subjekt muss der Faktoren gewahr sein oder gewahr sein können die der Überzeugung z.B. eine Rechtfertigung verleihen. Die Versuchung ist nun groß, den Externalismus einfach als Negation des Internalismus zu verstehen und zu sagen, er bestreite, dass rechtfertigende Faktoren dem Subjekt bewusst oder zugänglich sein müssen. Wenn ich im vorhergegangenen Absatz von einem Subjekt gesprochen habe, so wird man dabei meistens an normale, erwachsene Personen gedacht haben. Manche Autoren sind hier so expliziet wie Laurence BonJour: „The most generally accepted account is that a theory of justification is internalist if and only if it requires that all of the factors needed for a belief to be epistemically justified for a given person be cognitively accessible to that person, internal to his cognitive perspective…“895 895 BonJour 1992: 132. 437 Aber es geht doch um ein Verständnis von Wissen und was Wissen von einer nur zufällig wahren Meinung unterscheidet (wobei die Aufklärung des Begriffes der Rechtfertigung lediglich ein besonderer Weg ist, zu einem solchen Verständnis zu gelangen). Warum sollten nun das Verb „wissen“, das Substantiv „Wissen“ und damit verwandte Ausdrücke nur auf Personen anwendbar sein? Katzen sehen und hören Mäuse. Deshalb wartet die Katze vor dem Loch, in dem die Maus verschwunden ist. Sie weiß, wo die Maus verschwunden ist. Hasso, der Hund, sieht seine Futterschüssel, er sieht also, dass die Schüssel dort vor ihm steht, er weiß, wo die Schüssel steht. Hans, der Häher, erinnert sich, wo er die Kerne vergraben hat, nämlich in der rechten Geschirrhälfte. Er weiß, an welcher Stelle er die Kerne vergraben hat. Sowohl Hans als auch Hasso sind mittels ihrer kognitiven Vermögen auf die richtige Weise mit bestimmten Dingen oder Sachverhalten verbunden. Diese Verbindung führt dazu, dass Hans und Hasso wissen, wo die Schüssel steht bzw., dass die Kerne in der rechten Hälfte vergraben sind, doch weder Hasso noch Hans wissen, dass sie auf die richtige Weise mit einem bestimmten Ding oder Sachverhalt verbunden sind, sie können weder die Qualität ihrer kognitiven Vermögen noch der aufgenommene Information beurteilen. Alle diese Dinge sind ihrer subjektiven Perspektive nicht zugänglich, was uns dennoch nicht daran hindert zu sagen, dass Tiere wie Hans oder Hasso etwas wissen. Es macht deshalb den Anschein, dass die von Internalismus geforderte Zugänglichkeit für das Subjekt unerheblich für Wissen ist. Tiere sind eben so gute Subjekte von Wissenszuschreibungen wie Personen. Der Externalismus sollte nicht primär als Negation der scheinbaren Default-Position des Internalismus verstanden werden, sondern als Position, die die Überintellektualisierung der Internalisten mit Verweis auf tierliche Subjekte nicht ohne Weiteres durchlassen möchte.896 Es ist klar, dass die Überintellektualisierung auch hier darin besteht, dass ein anspruchsvoller Sonderfall X (das Wissen normaler, erwachsener Personen) und dessen hervorstechende Elemente (kognitive Zugänglichkeit von Rechtfertigungsgründen) als das Ganze von X (Wissen) verstanden wird. Das ist schlechtes induktives Denken, denn weder ist die Ausgangsbasis ausreichend weit noch ausreichend gestreut. Vielleicht möchten Internalisten der Wahrnehmung, des Wissens usw. behaupten, dass es ihnen nur um den Sonderfall geht, und dass man Tieren ihretwegen eine andere Art von Wahrnehmung, Wissen usw. zuschreiben darf. Doch Antworten dieses Typs sind aus zwei Gründen unbefriedigend. Erstens geht damit die Behauptung einher, dass es zwei Arten von X gibt. Es ist keineswegs klar, dass dies der Fall ist und dass die eine Art nicht ein Unterfall der anderen ist, so dass es tatsächlich nur eine Art von X gibt. Zweitens habe 896 Vgl. dazu Alston 1989: VIII-IX; Goldman 1999; Dretske 2000: V; Kornblith 2002: II. 438 ich für den Animalismus im Kapitel 4 argumentiert, demzufolge Menschen wesentlich Tiere sind. Die großzügige Geste, mit der zwei Arten von X unterschieden werden, kann deshalb nicht ohne Weiteres auf Unterscheidungen wie „tierliches Wissen vs personales Wissen“ oder „tierliches Sehen vs personales Sehen“ verweisen. Denn die Subjekte der Zuschreibung sind nicht Tiere und Personen, sondern zwei Arten von Tieren. Deshalb ist der basale Begriff der des tierlichen Wissens oder des tierlichen Sehens. Personales Wissen oder personales Sehen ist der Unterfall, nicht der Überfall. Dass die Unterscheidung von zwei Arten von X in Probleme führt kann wiederum an einem Beispiel aus der Erkenntnistheorie illustriert werden. Ernest Sosa bezeichnet seine erkenntnistheoretische Position als „Vermögens-Perspektivismus“ (VP).897 VP zeichnet sich durch drei Merkmale aus: (i) Im Gegensatz zu generischen Zuverlässigkeitstheorien beruht VP nicht allein auf der Annahme beliebiger zuverlässiger Prozesse oder Mechanismen für den Erwerb von Überzeugungen, um diese als Wissen durchgehen zu lassen, vielmehr ist es erforderlich, dass die entsprechende Überzeugung von einem zuverlässigen Vermögen abgeleitet wird. (ii) VP unterscheidet zwei Arten von Rechtfertigung, nämlich die Angemessenheit (aptness) einer Überzeugung und ihrer Rechtfertigung im vollen Sinne.898 Eine Überzeugung ist angemessen (apt), wenn sie von einem zuverlässigen Vermögen abgeleitet werden kann. Gerechtfertigt hingegen ist sie nur dann, wenn sie auf kohärente Weise in die epistemische Perspektive eines Subjekts passt. (iii) VP unterscheidet tierliches Wissen von reflektiertem Wissen. Das tierliche Wissen verlangt eine Überzeugung, die angemessen ist, d.h. von einem zuverlässigen Vermögen abgeleitet werden kann. Demgegenüber ist für das reflektierte Wissen nicht nur eine angemessene Überzeugung gefordert, sondern auch eine Rechtfertigung, weil die reflektierte Überzeugung auf kohärente Weise in die epistemische Perspektive des Subjekts passen muss. Sosa vertritt also zunächst eine Art von externalistischem VermögensReliabilismus, demzufolge meine Überzeugung Wissen darstellt, wenn sie nicht nur wahr ist, sondern auch auf ein zuverlässiges kognitives Vermögen von mir zurückgeführt werden kann, d.h. auf ein Vermögen, dass eine wahrheitsgeneigte Disposition darstellt. Tierliches Wissen erfordert nicht, dass das Subjekt über eine epistemische Perspektive auf seine Überzeugung verfügt, aus der es beispielsweise die Quelle für seine Überzeugung als 897 „Virtue Perspectivism“ (vgl. „Reliabilism and Intellectual Virtue“, „Knowledge and Intellectual Virtue“, „Methodology and Apt Belief“ in Sosa 1991). Die Übersetzung als „Tugend-Perspektivismus“ wäre irreführend. Wenn Sosa von intellektuellen Tugenden spricht, dann meint er keine exzellenten Charakterzüge, sondern kognitive Vermögen, deren Hauptmerkmal ihre Zuverlässigkeit ist (Sosa 1991: 227). Wenn zuverlässig, sorgen solche Vermögen dafür, dass durch sie hervorgebrachte oder übermittelte Überzeugungen wahr sind (Sosa 1991: 236). Deshalb kann man „Virtue Perspectivism“ als „Vermögens-Perspektivismus“ übersetzen. 898 Vgl. Sosa 1992: 91f. 439 zuverlässig wahrheitsgeneigt evaluieren oder mit seinen übrigen Überzeugungen abgleichen könnte. Doch der Vermögens-Reliabilismus ist lediglich eine notwendige Bedingung für Wissen. Diese Bedingung entspricht dem tierlichen Wissen. Hinzukommen muss, als weitere Bedingung, das reflektierte Wissen, nämlich eine evaluierende Perspektive auf die Zuverlässigkeit des Vermögens. Deshalb bezeichnet Sosa seine Position insgesamt als „Vermögens-Perspektivismus“. Wie steht es nun mit dem tierlichen Wissen? Handelt es sich um eine andere Art von Wissen? Doch wenn dies so ist, stellt sich das Problem, dass wir es mit einer Petitio gegenüber der externalistischen Motivation zu tun haben. Tiere wissen nicht in einem anderen Sinn als wir, dass dort ein Napf steht. Oder handelt es sich um einen Aspekt von Wissen, um eine notwendige Bedingung? Doch dann würde eine tierliche Überzeugung gar kein Wissen darstellen, weil es dem Wissenssubjekt an reflektiertem Wissen, d.h. an einer Perspektive auf die Zuverlässigkeit seiner Vermögen mangelt. Tiere, sofern sie nur über tierliches Wissen und nicht auch über reflektiertes Wissen verfügen, würden folglich gar nicht wissen. Es scheint nun plausibel, dass Tiere nicht über die erforderliche epistemische Perspektive verfügen. Also wissen sie nicht. Sosas Position ist also im Hinblick auf die motivierende Intuition des Externalismus instabil. Entweder läuft sie darauf hinaus, zwei Arten von Wissen zu unterscheiden, oder sie unterscheidet zwei Komponenten von Wissen und bestreitet somit, dass Tiere etwas wissen. Nehmen wir nun an (und vielen Passagen weisen darauf hin), dass Sosa nicht nur zwei Komponenten des Wissens, sondern zwei Arten von Wissen unterscheidet. Warum sollten wir überhaupt eine zweite Art einführen? Sosa ist der Ansicht, dass das reflektierte Wissen besser ist als tierliches: „[B]eyond ‘animal knowledge’ there is a better knowledge. This reflective knowledge does require broad coherence, including one’s ability to place one’s first-level knowledge in epistemic perspective. But why aspire to any such thing? What is so desirable, epistemically, about broad coherence? Broad coherence is desirable because it yields integrated understanding, and also because it is truth conducive…“899 Abgesehen von der fragwürdigen Idee, dass Wissen besser oder schlechter, mehr oder weniger Wissen sein kann,900 stellt sich die Frage, warum das reflektierte Wissen zuverlässiger sein sollte. Wenn die tierlichen Vermögen zuverlässig und wahrheitsgerichtet sind, dann sind sie gut, wenn die Reflexion zuverlässig und wahrheitsgerichtet ist, ist sie ebenfalls gut. Andernfalls ist es in beiden Fällen schlecht. Reflektiertes Wissen, Überzeugungen zweiter Stufe, sind nicht von Natur aus zuverlässiger als Überzeugungen 899 900 Vgl. Sosa 1991: 240, 1997: 422. Vgl. Wild 2008a. 440 erster Stufe. Nun sagt Sosa auch, das reflektierte Wissen sei „desirable because it yields integrated understanding“, und zwar durch die Herstellung von weitreichender Kohärenz. Das hilft leider nicht viel, denn weitreichende Kohärenz und umfassendes Verstehen scheinen beinahe synonym zu sein. Allerdings hilft uns der Hinweis, zu sehen, worum es beim reflektierten Wissen letztlich geht. Es geht gar nicht um Wissen, sondern um Verstehen. Sosa hat einfach das Thema gewechselt. Wir sehen also in diesem Exkurs in die Epistemologie erstens wiederum das Muster der Überintellektualisierung. Wir erkennen darin zweitens die Strategie, zwei Begriffe von X zu unterscheiden. Doch solche Unterscheidungen laufen einfach darauf hinaus, den vorher in der Überintellektualisierung bevorzugten Sonderfall als den eigentlichen Fall zu betrachten. Schließlich können Internalisten aller Schattierungen, die bei der Innenperspektive ansetzen, behaupten, dass dieser Ansatz die einzige Möglichkeit ist, um die Probleme der Wahrnehmung, des Wissens usw. philosophisch zu behandeln. Die Antwort darauf lautet: Wenn es einen Innenperspektive gibt, muss es auch einen Außenperspektive geben. Wie sich der Ansatz bei der Außenperspektive für eine Wahrnehmungstheorie ausnimmt, werde ich in 5.3. darlegen. Unlängst hat auch Tyler Burge behauptet, dass viele Bereiche der Philosophie heute unter „Hyperintellektualisierung“ leiden. So schreibt er etwa über die Handlungstheorie: „Action theory in philosophy, over the last half-century, has been almost as hyperintellectualized as perception theory. Usually discussion begins with cases involving desire, intention, will, and then focuses on sub-cases of intentional action. There is nothing in itself wrong with this focus, of course. But often it is assumed that such approaches encompass all action.“901 Obwohl Burge seinen Ausdruck „Hyperintellektualisierung“ nicht eigens charakterisiert, liegt es doch auf der Hand, das er dem entspricht, was ich hier als „Überintellektualisierung“ beschrieben habe. In seinen jüngsten Publikationen hat Burge mit Blick auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts in großem Umfang dafür argumentiert, dass die Theorie der Wahrnehmung unter Überintellektualisierung leide. So ist es beispielsweise zu einem Standardzug geworden, die Fähigkeit von Subjekten, sich in der Wahrnehmung auf Einzelobjekte zu beziehen, von einer ganzen Reihe von begrifflichen Fähigkeiten abhängig zu machen. Zu solchen begrifflichen Fähigkeit gehören etwa die Fähigkeit zu Anwendung von Sortalen oder von Kausalbegriffen, die Fähigkeit sich selbst spatiotemporal zu lokalisieren, die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, die Akzeptanz von Wahrnehmungsinhalten als Gründe usw. So muss etwa ein 901 Burge 2009b: 256. 441 „humeianisches“ Wahrnehmungssubjekt über die begrifflichen oder sprachlichen Mittel verfügen, um zu verstehen, was es heißt, dass etwas die Ursache von bestimmten Sinnesdaten ist, um Wahrnehmungsobjekte zur Verfügung zu haben. So muss etwa ein „kantianisches“ Subjekt über die begrifflichen oder sprachlichen Mittel verfügen, um zu verstehen, was es heißt, ein Einzelding als geistunabhängig und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgend zu individuieren, um Wahrnehmungsobjekte zur Verfügung zu haben. Das Gemeinsame an Humeianern und Kantianern des 20. Jhs. besteht Burge zufolge in der These, dass ein Subjekt auf irgendeine Weise über konstitutive Bedingungen für die Repräsentation materieller Objekte und ihrer Eigenschaften verfügen muss, etwa indem das Subjekt diese Bedingungen zu repräsentieren in der Lage ist. Burge spricht hier von der These des „Individuellen Repräsentationalismus“.902 Dieser These zufolge muss ein Subjekt konstitutive Bedingungen für die Repräsentation materieller Objekte internalisieren, in sich vorfinden, bei sich implizit oder explizit repräsentieren usw., um überhaupt ein materielles Objekt repräsentieren zu können. Das Problem des Individuellen Repräsentationalismus besteht darin, dass ohne besondere Begründung ein Projekt durch ein anderes ersetzt wird oder dass diese beiden Projekte zumindest nicht ausreichend unterschieden werden. Das erste Projekt versucht darzulegen, welches die konstitutiven Bedingungen für die objektive Repräsentation von materiellen Objekten und ihren Eigenschaften in der Welt sind. Das zweite Projekt hingegen untersucht konstitutive Bedingungen für unsere Konzeption von Objektivität, etwa für unsere Konzeption von geistunabhängigen, eigengesetzlichen Objekten als geistunabhängig und als eigengesetzlich. Es liegt auf der Hand, dass ein Subjekt im zweiten Projekt (z.B. eine normale, erwachsene Person) irgendwie in der Lage sein muss, sich begrifflich oder sprachlich irgendwie sowohl als geistiges Wesen und unterschieden von externen Objekten als auch diese externen Objekte als bestimmten kausalen Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten unterworfen zu verstehen. Es liegt keineswegs auf der Hand, dass ein Subjekt im zweiten Projekt (z.B. ein normaler, erwachsener Rabe) über diese Fähigkeiten verfügen muss, um Repräsentationen von Objekten in seiner Umwelt bilden zu können. Wer, wie etwa Strawson, ein Interesse daran hat, unser Begriffsschema, das Begriffsschema normaler, erwachsener Personen, zu erkunden, sollte nicht auf die Annahme verfallen, dass etwa die visuelle Wahrnehmung materieller Objekte überhaupt von der Fähigkeit eines Subjekts abhängig ist, zwischen seinen visuellen Wahrnehmungen und den materiellen Objekten als solchen zu unterscheiden: 902 Burge 2009a: 285-294; 2010: 12-22. Burge 2010 untersucht sorgfältig die Positionen von Quine, Davidson, Strawson und Evans und weist die argumentationsfreie Akzeptanz des Individuellen Repräsentationalismus nach. 442 „Such a presumption would exclude children and animals, who certainly lack a conception of their perceptions as such, from perceiving physical entities as having specific physical attributes. Such a view would be high-handed and hyperintellectualized. Strawson probably believed this view. But his failure to call attention to its consequences and his failure to argue for it suggest that he slides carelessly between the project of explaining conditions for our conception of objectivity and the project of accounting for conditions on perceptual representation of physical objects.“903 Obwohl ich glaube, im Schimpansen-Argument gezeigt zu haben, dass nicht-menschliche Tiere in der Lage sind, sich selbst als Wesen mit Wahrnehmungen zu repräsentieren (4.4.), meine ich, dass Burge durchaus Recht hat mit seiner Analyse. Die Ersetzung des ersten Projekts durch das anspruchsvollere zweite Projekt bzw. das Versäumnis, beide Projekte angemessen zu unterscheiden und zwischen ihnen hin und her zu pendeln, bezeichne ich als „Objektivismus“. Der Objektivismus ist einfach das Resultat der oben beschriebenen Überintellektualisierung. Ein wichtiger Fall von Überintellektualisierung betrifft die Normativität. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Millikan zu defensiv ist, wenn sie behauptet, dass ihr Verständnis von Normativität als Maßstab, von dem aktuelle Tatsachen abweichen können, ein grundsätzlich anderes Verständnis ist als jenes, wonach Normen das Sollen für ein Subjekt involvieren (3.1.4.). Ich habe demgegenüber behauptet, dass Normativität generell auf die Zugehörigkeit zu funktionalen oder spezifischen normativen Kategorien zurückzuführen sei. In Hartmanns Slogan ausgedrückt: Das Seinsollen ist basaler als das Tunsollen (3.1.2.). Damit blockiere ich, wie im Falle der Erkenntnistheorie, die generöse Unterscheidung zwischen zwei Arten von Normen, nämlich zwischen richtig wichtigen Normen und nicht ganz richtigen, derivativen Normen. In der Philosophie wird Normativität in der Tat vorwiegend mit moralischen oder anderen intentionalen Handlungen assoziiert, die ein Sollen für ein Subjekt involvieren. Dies bedeutet, dass ein Subjekt in der Lage sein muss, sich selbst einer Norm zu unterstellen und sich selbst so auf ein Sollen zu verpflichten. Doch dazu muss das Subjekt in der Lage sein, die entsprechende Norm zu internalisieren, in sich vorfinden, bei sich implizit oder explizit repräsentieren usw. Es ist leicht zu sehen, dass hier etwas dem Individuellen Repräsentationalismus in der Wahrnehmungstheorie Analoges geschieht. Nun ist die Internalisierung moralischer oder prudentieller Sollensnormen natürlich wichtig für normale, erwachsene Personen, und es ist sicher interessant, sich zu fragen, wie diese Internalisierung vor sich geht, wie Normen repräsentiert werden, wie sie handlungsleitend werden können. Doch diese Art von Normativität ist einfach ein anspruchsvoller Sonderfall mit einigen hervorstechenden 903 Burge 2009a: 298. 443 Elementen (wie etwa die Selbstverpflichtung normaler, erwachsener Personen), die gerade deshalb keineswegs angeben müssen, was für Normativität überhaupt konstitutiv ist. Übersieht man diesen Punkt und kommt zu schlechter Induktion, sieht man sich schnell in die Lage versetzt zu behaupten, dass die dem bestimmten Fall entnommenen Elemente konstitutiv für Normativität überhaupt sind bzw. dass andere Formen der Normativität als derivativ gegenüber dem Ausgangsfall verstanden werden müssen. Und genau dies ist die Struktur der Überintellektualisierung. Normen müssen von einem Subjekt, das unter eine Norm fällt, nicht internalisiert oder repräsentiert werden. Die visuelle Wahrnehmung von Lebewesen fällt unter funktionale und spezifische Normen, ohne dass das Lebewesen diese Normen internalisiert oder repräsentiert, ja ohne dass es dazu überhaupt in der Lage sein muss. Ich werde auf Normen in Wahrnehmungsprozessen in Abschnitt 5.3.3.2. zurückkommen. Ich möchte also suggerieren, dass die philosophische Neigung zur Überintellektualisierung und der Objektivismus im Ansatz bei der Innenperspektive nicht nur besonders ausgeprägt zu Tage treten, sondern sich aus diesem Ansatz ergeben. Diesen Ansatz finden wir nicht nur in dem uns hier interessierenden Fall der Wahrnehmung, sondern auch beim Wissen, beim Handeln und bei der Normativität. Mit den in den Abschnitten 5.2.2 bis 5.2.4. dargelegten Überlegungen dürften wir ausreichend Motivation zusammen haben, dem Ansatz bei der Innenperspektive in der Wahrnehmungstheorie mit guten Gründen zu misstrauen und uns nach einer Alternative umzusehen. 444 5.3. Eine biosemantische Theorie des Sehens 5.3.1. Drei Motivationen für die Außenperspektive Die Alternative zur Innenperspektive besteht darin, bei der Außenperspektive anzusetzen. Die Außenperspektive charakterisiert das Sehen als einen Prozess in der Welt. Wie ist dies gemeint? Die visuelle Wahrnehmung ist eine Fähigkeit und eine Tätigkeit von Lebewesen, die bei Erfüllung ihrer Funktion ein Sehen von Objekten und deren Merkmalen in der Umwelt dieser Lebewesen ist. Sie ist der Repräsentation genuin sichtbarer Eigenschaften oder der Repräsentation von Bedingungen der Objektivität vorgelagert und nicht von diesen abhängig. Ich werde in diesem Abschnitt den Ansatz bei der Außenperspektive auf unterschiedliche Weise motivieren, einmal mit Verweis auf den Commonsense, dann durch eine Überlegung, die ich als „Winckler-Beckett-Problem“ bezeichne, und schließlich durch den Fall des blinden Geronimo (den wir bereits aus 5.1.6. kennen). Natürlich bedeutet der Ansatz bei der Außenperspektive nicht, dass die Innenperspektive irrelevant wäre, sondern dass die Innenperspektive aus den bislang genannten und im Folgenden noch zu nennenden Gründen keinen adäquaten Ausgangspunkt darstellt. 5.3.1.1. Commonsense und die Außenperspektive Der Ansatz bei der Außenperspektive kann in erster Annäherung durch Hinweise darauf motiviert werden, wie wir vom Sehen und Tätigkeiten des Sehens im Alltag sprechen. Stellen wir uns vor, ich sehe auf einem Gebirgspfad jemanden vor mir stehen, der zwischen Gebüsch und Holz hindurch in die Landschaft blickt, und dann weiter geht. Nichts weist darauf hin, dass die Person etwas Besonderes gesehen hat, ich bin einfach neugierig auf den Ausblick von jenem Punkt. Ich gelange zu dem Punkt, an dem die Person eben noch gestanden hat, und versuche zu sehen, was sie gesehen hat. Wie mache ich das? Ganz einfach. Ich sehe nach und sehe dann das, was die Person gesehen hat. Ich sehe einen bestimmten Ausschnitt einer bestimmten Landschaft, darin bestimmte Dinge und Relationen zwischen diesen Dingen. Einige Relationen sind stabil, andere ändern sich, einige Dinge sind näher, deutlicher, mit spezifischen Farben und Helligkeiten, andere weiter entfernt, undeutlicher, von unspezifischer Farbe und diffuser Helligkeit usw. Ich sehe dasselbe, was die Person gesehen hat. Ich habe, wie man etwas künstlich sagen könnte, dasselbe Wahrnehmungserlebnis wie sie. Wenn ich also mein Wahrnehmungserlebnis beschreibe, dann habe ich vermutlich auch ungefähr das 445 Wahrnehmungserlebnis der Person beschrieben. Um zu wissen, was die Person gesehen hat, muss ich Folgendes tun: Ich muss mein Wahrnehmungserlebnis beschreiben. Um zu sehen, was sie gesehen hat, muss ich einfach Folgendes tun: Ich muss mich an denselben Ort stellen, auf dem die Person gestanden hat, ich muss meinen Kopf und meine Augen in dieselbe Richtung lenken, ich muss die Augen geöffnet haben. Sofern meine Augen nicht versagen und Licht und Landschaft sich nicht radikal verändert haben oder verändern werden, sehe ich, was die Person gesehen hat, vorausgesetzt, die Person ist nicht sehr kurzsichtig oder blind. Um also zu sehen, was die Person gesehen hat, muss ich zwei verschiedene Dinge tun: Ich muss nachsehen, wie die Person es getan hat, und ich muss sehen, was die Person gesehen hat. Das erste ist eine Tätigkeit, etwas, das ich tue, das zweite ist das Ziel der Tätigkeit. Wie wir später sehen werden, gehört das Ziel dieser Tätigkeit zur Tätigkeit (5.3.3.1.). Sehen ist also normalerweise nicht primär ein Zustand oder ein Wahrnehmungserlebnis, sondern eine zielgerichtete Tätigkeit. Sehen ist darüber hinaus nicht nur eine Tätigkeit erwachsener, normaler Personen, sondern eine Tätigkeit zahlloser Lebewesen. Manchmal wird die Beschreibung der Bedingungen, unter denen etwas gesehen wird, von der Beschreibung des Wahrnehmungserlebnisses getrennt. Wenn wir uns fragen, ob jemand etwas sieht, dann reicht es normalerweise aus, dass wir auf diese Bedingungen Bezug nehmen und auf die Beschreibung des Wahrnehmungserlebnisses verzichten. Wenn ich und die Person beide funktionierende Wahrnehmungssysteme haben, die relevanten Bedingungen dieselben bleiben, und ich mich in Position und Haltung der Person bringe, dann sehen wir dasselbe. Wir lernen, das Wort „sehen“ (und verwandte Wörter) auf andere Personen anzuwenden, indem wir etwas über Bedingungen lernen, die normalerweise vorliegen müssen, damit andere Personen etwas Bestimmtes sehen. Zu diesen Bedingungen gehören sowohl Ermöglichungsbedingungen des Subjekts als auch Ermöglichungsbedingungen der Umwelt. Ermöglichungsbedingungen des Subjekts S sind beispielsweise, dass S funktionierende Augen (ein funktionierendes visuelles System) hat (und nicht teilweise oder vollkommen blind ist, Hirnschäden hat usw.), dass S bei Bewusstsein ist (nicht mit offenen Augen schläft, ohnmächtig ist usw.), dass S die Augen frei hat (offen, unverdeckt, unverbunden usw.), dass S in normaler Verfassung ist (nicht unter Drogen steht, hypnotisiert oder exaltiert ist usw.) Zu den Ermöglichungsbedingungen der Umwelt gehört, dass es hell (und nicht stockdunkel) ist, dass sich ein Objekt (im weitesten Sinne) vor S befindet (und nicht nur helles Licht), dass das Objekt als visuelles Objekt geeignet ist (sichtbar, nicht unsichtbar; nicht verdeckt usw.), 446 dass das Objekt nicht zu weit von S entfernt ist, dass das Zielobjekt nicht zu klein für S ist, dass sich keine opaken Objekte zwischen S und dem Zielobjekt befinden. Die beiden Klassen von Ermöglichungsbedingungen sind nicht sauber getrennt. So ist eine Antwort auf die Frage, ob ein Objekt zu weit entfernt ist, um gesehen werden zu können, oder zu klein ist, um gesehen werden zu können, oder durch andere Objekte verdeckt und deshalb vielleicht nicht gesehen werden kann, davon abhängig, um was für ein Wesen es sich bei S handelt. Ob es sich um einen Menschen, einen Adler, einen Maulwurf oder einen Kryptoniten (wie Superman) handelt, spielt hier evidenterweise eine Rolle. Diese Abhängigkeit der Ermöglichungsbedingungen der Umwelt von jenen des Subjekts ist keineswegs zufällig. Lebewesen und deren Umwelten sind aufeinander bezogen (3.2.6.). Wir können also sowohl die Bedingungen des Subjekts als jene der Umwelt variieren, indem wir beachten, von welchen Subjekten wir sagen, dass sie etwas sehen. Wir können dies von allen Lebewesen sagen, die die oben genannten Bedingungen erfüllen. Dazu gehört eine enorme Bandbreite an Tieren. Tiere mit Augen können unter den erwähnten Bedingungen sehen. Vermutlich sind die Wahrnehmungserlebnisse solcher Wesen aber von unseren Erlebnissen sehr verschieden. Sie ändern sich vermutlich mit der Beschaffenheit der Lebewesen. Egal, ob wir alltägliche, historisch, fiktive oder wissenschaftliche Verwendungen von „sehen“ betrachten, in allen Verwendungen finden wir Ausdrücke des Sehens auf eine enorme Bandbreite von Lebewesen angewendet, und zwar einfach infolge der Erfüllung der oben genannten Bedingungen. Die visuellen Wahrnehmungserlebnisse von Superman unterscheiden sich vermutlich nicht wesentlich von den Wahrnehmungserlebnissen, die wir haben, wenn wir eine gute Brille benutzen, auf Röntgenbilder blicken, mit Nachtsichtgeräten beobachten, durch Mikroskope oder Teleskope spähen. Hier geht es also nicht um Variationen unterschiedlicher Erlebnisarten, sondern um Modifikationen einzelner Ermöglichungsbedingungen. Dass wir dennoch sagen, Superman sieht (mithilfe seiner Superblicke) durch die Wand der Raumstation im All das tödliche Virus, reflektiert lediglich unsere Redeweisen bezogen auf prosthetisches Sehen. Das Sehen durch Mikroskope oder Teleskope ist kein anderes Sehen als Sehen von bloßem Auge, das wir in den oben genannten Bedingungen charakterisiert haben. Für das Sehen von einem Wildschwein macht es keinen Unterschied, ob ich es von bloßem Auge, durch ein Nachtsichtgerät oder durch ein Fernglas erblicke. In allen Fällen sehe ich ein Wildschwein. Wichtig ist weniger das Gerät, sondern die richtige Verwendung des Geräts. Diese Verwendung muss erlernt werden. Sie richtet sich nach der Funktion der Geräte (nach der kulturellen funktionalen Kategorie, zu der sie gehören). Auch Superman hat die richtige Verwendung seiner 447 übermenschlichen Fähigkeiten gelernt und vermag nun seine „Wahrnehmungsgeräte“ richtig zu verwenden. Das Verwenden von optischen Instrumenten und der Einsatz der visuellen Superkräfte aber sind Tätigkeiten. Ebenso sind unsere Sehensarten Tätigkeiten. Alle diese Tätigkeiten sind von außen beobachtbar. Ebenso wie die Tätigkeiten von Lebewesen, die Augen haben, von außen beobachtbar sind, sind sowohl die Ermöglichungsbedingungen des Subjekts als auch jene der Umwelt von außen beobachtbar. Ob ein Lebewesen funktionierende Augen hat, bei Bewusstsein ist, die Augen frei hat, in normaler Verfassung ist, ob es hell ist, sich ein nicht zu kleines Objekt nicht zu weit entfernt vor dem Lebewesen befindet usw. können wir von außen feststellen. Die Außenperspektive auf das Sehen ist also eine natürliche Perspektive. Sie entspricht unserer Alltagseinstellung und lässt sich ohne Probleme auf andere Lebensformen (reale und imaginäre) anwenden. Dabei wird das Sehen als ein Prozess in der Welt aufgefasst, nämlich als Tätigkeit von Lebewesen, die ihre Augen und ihre optischen Instrumente einsetzen. Die Innenperspektive, die Idee, dass das Sehen in erster Linie die Erfahrung einer normalen, erwachsenen Person von der Welt ist, stellt keine natürlich Einstellung dar, sondern, wie Valberg zu Recht betont hat, eine reflektierte Einstellung (5.2.2.). W – „The world (external objects) is (are) present in experience.“ – ist eine reflektierte philosophische Position. W stellt sich nicht ein, indem wir auf philosophische Reflexion verzichten, sondern sie ist das Ergebnis philosophischer Reflexion, die bereits durch philosophisch anspruchsvolle Argumente hindurch gegangen ist. Nichts zwingt uns deshalb dazu, bei der Innenperspektive anzusetzen. Im Gegenteil sollten wir dem Ansatz bei der Innenperspektive mit Misstrauen begegnen, da sie interne Spannungen erzeugt (5.2.2.), zu vorschneller Vereinheitlichung führt (5.2.3.), den Verwirrungen des Objektivismus’ in die Arme läuft und zu Überintellektualisierungen Anlass gibt (5.2.3.). Doch der Ansatz bei der Außenperspektive kann auf systematischere Weise motiviert werden, als durch den bloßen Verweis auf den Commonsense und seine Redensarten über Sehensarten. Damit komme ich zur zweiten Motivation. 5.3.1.2. Das Winckler-Beckett-Problem Die Einführung des Winckler-Beckett-Problems904 erfordert eine gewisse Vorarbeit, die für die weiteren Überlegungen sehr wichtig sein wird. Ich habe bereits von der Unterscheidung zwischen Sehen in einem intransitiven Sinne und Sehen in einem transitiven Sinne Gebrauch gemacht (5.1.3.3.). Was ist mit dieser Unterscheidung genauer gemeint? Ein 904 Der Name leitet sich vom Übersetzer Carl Winckler und vom Dichter Samuel Beckett ab. Es wird sich im Verlauf des Abschnitts zeigen weshalb. 448 Lebewesen kann sowohl sehen (falls es nicht blind ist) als auch etwas sehen (falls es nicht die Augen verschlossen hat, durch Dunkelheit gehindert oder stark geblendet wird usw.). Ersteres ist intransitives Sehen (Sehenintr) oder: Sehen können. Letzteres ist transitives Sehen (Sehentr) oder: Sehen von etwas. Diese Unterscheidung wird im Gebrauch von „sehen“ nicht explizit getroffen, doch unterschiedliche Verwendungskontexte weisen darauf hin, dass die Unterscheidung auch in der Alltagssprache vorhanden ist. So kann auf die Frage „Können Sie etwas sehen?“ auf zwei unterschiedliche Arten geantwortet werden: „Nein, es ist als hätte ich das Augenlicht verloren.“ Oder: „Nein, es ist stockdunkel hier“. Die erste Antwort antwortet auf die Frage „Können Sie etwas sehenintr?“, die zweite hingegen auf die Frage „Können Sie etwas sehentr?“ Ebenso unterscheiden sich die Ausrufe „Ja, ich kann sehen!“ und „Ja, jetzt sehe ich etwas!“. Eine des Sehens fähige Person kann im Stockdunkel im intransitiven Sinn sehen, nicht aber im transitiven Sinn. Zwar verliert sie im Stockdunkel nicht ihre Fähigkeit zu sehen, sie kann dennoch nichts sehen. Deshalb lautet eine verständliche Auskunft einer Person im Stockdunkel auf die Frage „Kannst Du etwas sehen?“ nicht „Nein, ich kann nicht sehen!“, sondern „Nein, ich kann nichts sehen!“. Das intransitive Sehen ist eher eine passive, das transitive Sehen eher eine aktive Fähigkeit eines Lebewesens. Passive Fähigkeiten sind nichts, was ein Lebewesen tut, sondern passive Fähigkeiten machen Lebewesen empfänglich, sie sind dafür zuständig, dass einem Lebewesen überhaupt bestimmte Dinge passieren können, dass es durch bestimmte Objekte überhaupt affiziert werden kann. Man kann eine passive Fähigkeit auch als „Vermögen“ bezeichnen. Bei diesem Vermögen handelt es sich in erster Linie darum, dass ein Lebewesen über funktionstüchtige Augen bzw. über ein funktionstüchtiges visuelles System verfügt (im Sinne von: hat). Natürlich gibt es auch einen Sinn, demzufolge eine blinde Maus sehen kann, insofern sie zu einer Lebensform gehört, die Sehvermögen besitzt. Dieser Fall soll durch das Sehenintr nicht abgedeckt werden, sondern nur Fälle von funktionstüchtigen VS (in dem Sinne, dass ein solches System überhaupt funktioniert, und nicht, dass es sehr gut funktioniert). Auch abnorm kurzsichtige Mäuse vermögen zu sehenintr. Normalsichtige Mäuse, die schlafend oder ohnmächtig sind, deren Augen verbunden oder die sich im Stockdunkel befinden, können sehenintr. Sie verfügen über das Vermögen zu sehen. Das Sehenintr liegt also vor, wenn bestimmte Ermöglichungsbedingungen des Subjekts (nicht der Umwelt) gegeben sind. Das transitive Sehen hingegen ist eher eine aktive Fähigkeit eines Lebewesens. Aktive Fähigkeiten sind etwas, das ein Lebewesen ausübt, und sie ermöglichen einem Lebewesen weitere zielgerichtete Aktivitäten. Man kann eine aktive Fähigkeit auch als „Fertigkeit“ bezeichnen. Bei dieser Fertigkeit handelt es sich in erster Linie darum, dass ein 449 Lebewesen über seine funktionstüchtigen Augen bzw. über sein funktionstüchtiges visuelles System verfügt (im Sinne von: es kontrolliert). Sehentr ist zunächst eine Fertigkeit in dem einfachen Sinne, das ein Lebewesen, wenn es etwas sehen soll, seine Augen öffnen, sie in eine Richtung lenken, sie fokussieren, sie annähern und entfernen muss usw. Das transitive Sehen ist in einem anspruchsvolleren Sinne eine Fertigkeit, wenn es darum geht, nach etwas Bestimmtem mit den Augen zu suchen, etwas zu beobachten, etwas visuell zu verfolgen, die Augen in eine angemessene Entfernung zum Objekt zu bringen oder sie in die richtige Richtung zu lenken usw. Nichts davon spielt beim Sehenintr eine Rolle.905 Innerhalb der aktiven Fähigkeit (der Fertigkeit) des transitiven Sehens muss man unterscheiden zwischen dem Sehen von etwas und dem Sehen von etwas als etwas. Letzteres ist intentionales Sehen, d.h. Sehen mit einem IR-Inhalt. Das Sehen von etwas ist entweder Sehen mit einem R-Inhalt oder Sehen mit einem ausgeliehenen IR-Inhalt. Denken wir an das oben benutzte Frosch-Beispiel. Wir wollten wissen, was ein Frosch sieht, der eine Fliege sieht. Karl sagte: „Der Frosch sieht die Fliege.“ Das Wort „sehen“ wird in Karls Aussage in einem transitiven Sinn verwendet: etwas sehen. Doch Sehen in diesem transitiven Sinne reicht jedoch noch nicht aus für das, was wir wissen wollen. Wir wollen wissen, als was der Frosch sieht, was er sieht. Wir fragen also nach einen anderen transitiven Sinne, nämlich den intentionalen Sinn: etwas als etwas sehen. Diese Unterscheidung innerhalb des transitiven Sehens können wir wie folgt indexieren: transitives Sehen von etwas ist Sehentr und transitives Sehen von etwas als etwas ist Sehenitr (nämlich intentional-transitives Sehen). Sicher siehttr der Frosch etwas, insofern das visuelle R-Vehikel mit der vorbeischwirrenden Fliege ko-variiert. Aber die Festlegung des IR-Inhalts dieser Struktur übernimmt Karl, der sagt, dass der Frosch eine Fliege sieht. Karl legt dem Frosch den IR-Inhalt dessen, was er (der Frosch) sieht, sozusagen aus.906 Er leiht dem Frosch den IR-Inhalt gleichsam aus, freilich aufgrund der Voraussetzung, dass der Frosch siehtintr und etwas siehttr. Doch um zu bestimmen, als was der Frosch die Fliege siehtitr, müssen wir die Echte Funktion des Konsumenten seines R-Vehikels bestimmen. Diese Unterscheidung innerhalb des transitiven Sehens ist entscheidend und entspricht der Unterscheidung zwischen R-Inhalt (sehentr) und IR-Inhalt (sehenitr). R-Vehikel haben einen Inhalt nur in Abhängigkeit von einem Vermögen mit einer Echten Funktion (sehenintr). Diese Unterscheidung wird jedoch oft übersehen, etwa von Neurologen oder Verhaltensbiologen, die Kovariation oder Korrelation zwischen neuronalen Zuständen bzw. Verhaltensweisen und Ereignissen oder Zur Bedeutung der normativen Ausdrücke wie „angemessen“ oder „richtig“ vgl. 5.3.3.2. Heidegger 1983 zufolge gehört es zur Seinsart von Lebewesen (im Gegensatz zur Seinsart von Dasein), dass wir ihnen den intentionalen Gehalt ihrer Verhaltungen gleichsam ausliehen müssen, um uns dessen Verhalten verständlich zu machen. 905 906 450 Strukturen in der Umwelt als IR-Inhalte akzeptieren. Das Sehentr ist eine einfache Fertigkeit, das Sehenitr ist eine anspruchsvolle Fertigkeit. Zum Sehentr gehört es, dass sowohl bestimmte Ermöglichungsbedingungen des Subjekts als auch der Umwelt gegeben sind. Zu ersteren gehören, dass S bei Bewusstsein ist, dass S die Augen frei hat; zu letzten, dass es hell ist, dass sich ein Objekt vor S befindet, dass das Objekt als visuelles Objekt geeignet ist, nicht zu weit entfernt ist, nicht zu klein ist usw. Zum Sehenitr gehört, dass ein (angeborener oder erworbener) Konsument, vorausgesetzt Sehenintr und Sehentr sind gegeben, von den durch einen visuellen Produzenten hervorgebrachten R-Vehikeln auf bestimmte Weise Gebrauch macht. Und aus diesem Grund ist Sehenitr wesentlich eine Tätigkeit. Das Vermögen des Sehensintr ist nun eine notwendige Voraussetzung für die Fertigkeit des Sehenstr. Ein Wesen, das kein Sehvermögen hat, kann nicht etwas sehen. Die Fertigkeit des Sehenstr ist eine notwendige Voraussetzung für die Fertigkeit des Sehensitr. Ein Wesen, das nicht etwas sehen kann, kann nicht etwas als etwas sehen. Folglich ist das Sehenintr eine notwendige Voraussetzung für das Sehenitr. Diese Bedingungsverhältnis ist nun der Ausgangspunkt für die systematische Zurückweisung des Ausgangs bei der Innenperspektive. Kein Wahrnehmungssubjekt hat aus der Innenperspektive die Möglichkeit zu entscheiden, ob es siehtintr oder nicht. Und dies bedeutet, dass die Bedingung für Sehentr und Sehenintr keinem Wahrnehmungssubjekt aus der Innenperspektive zugänglich ist. Dies stellt, wie ich meine, einen guten Grund dafür dar, die Untersuchung des Sehens nicht aus der Innenperspektive zu beginnen. Warum aber ist das Vermögen des Sehensintr aus der Innenperspektive unzugänglich? Wir können dies anhand der folgenden Überlegung erkennen. In der deutschen Übersetzung von Lockes Essay findet sich die folgende mysteriöse Passage: „So kann man also mit Recht sagen, dass jemand die Dunkelheit sehe. Nimmt man nämlich einen vollkommen dunklen Raum an, von dem kein Licht reflektiert wird, so kann man sicherlich dessen Gestalt sehen oder ihn bildlich darstellen.“907 Wie kann Locke behaupten, man könne die Gestalt eines stockdunklen Raumes sehen oder bildlich darstellen? In einem stockdunklen Raum sieht man keine Gestalt, andernfalls wäre es nicht stockdunkel. Ebenso wenig kann man einen solchen Raum bildlich darstellen. Ein pechschwarzes Gemälde ist nicht die Darstellung einer Situation, in der man nichts sieht. In einem stockdunklen Raum sieht man nicht Schwarz, sondern man sieht eben nichts. Nun, Locke hat auch nichts dergleichen behauptet, sondern sein Übersetzer Carl Winckler. Locke sagt nämlich: 907 Essay 2.8.6.: 146. 451 „And thus one may truly be said to see Darkness. For supposing a hole perfectly dark, from whence no light is reflected, ’tis certain one may see the Figure of it, or it may be Painted….“ Die Umrisse eines schwarzen Loches können natürlich gesehentr werden, denn es hebt sich ja von einem Hintergrund ab, und sie können auch gemalt werden. In einen stockdunklen Raum jedoch siehttr auch derjenige, der siehtintr, nichts. Seine Antwort auf die Frage, ob er etwas sehen könne, lautet in diesem Falle: „Nein, ich kann nichts sehen, es ist stockdunkel.“ Diese Antwort impliziert, dass der Befragte sehenintr kann. Woher weiß er, dass er siehttr? Er weiß es, weil er ansonsten Objekte visuell diskriminieren kann. Woher weiß der Befragte, dass er siehtintr? Er weiß es aus demselben Grund, nämlich daraus, dass er Objekte visuell diskriminieren kann, weil das transitive Sehen das intransitive Sehen impliziert. Woher weiß er aber im Stockdunkel, dass er siehtintr? Nun, aus der Erinnerung daran, dass er visuell diskriminiert hat sowie aufgrund der Erfahrung, dass er bislang nach dem Stockdunkel wiederum visuell diskriminiert hat. Die Ausgangssituation dieser Überlegung findet sich in Samuel Becketts später Erzählung Company. Sie beginnt so: „A voice comes to one in the dark. Imagine. To one on his back in the dark.“908 Stellen wir uns also vor, wir, die wir uns bislang des Augenlichts erfreuten, wachen nach einer Betäubung im Stockdunkel auf und können nichts sehen. Oder können wir nicht sehen? Die Stimme des bösen Neurochirurgen aus dem Off teilt uns nun das Folgende mit: „Während Ihrer Betäubung sind Sie einer bestimmten Operation unterzogen worden oder auch nicht. Falls Sie dieser Operation unterzogen worden sind, sind Sie nun vollkommen blind, Sie können nicht sehen und das Licht ist an. Falls Sie dieser Operation nicht unterzogen worden sind, können Sie nach wie vor sehen, das Licht ist jedoch aus und es herrscht vollkommene Dunkelheit. Entscheiden Sie nun, in welcher Situation Sie sich befinden. Aber Obacht! Wenn Sie sich für die erste Option entscheiden und meinen, die Operation habe statt gefunden, dies aber nicht zutrifft, werden Sie nicht von Ihrer Blindheit geheilt werden, andernfalls schon. Wenn Sie sich für die zweite Option entscheiden und glauben, es herrsche Stockdunkelheit, dies aber nicht der Fall ist, werden Sie sogleich blind gemacht, andernfalls geschieht nichts mit Ihnen. In welcher Situation befinden Sie sich?“ Der böse Neurochirurg stellt uns das Winckler-Beckett-Problem. Es hängt für uns einiges von der Richtigkeit unserer Antwort auf dieses Problem ab. Worauf wollen wir uns für unsere Entscheidung stützen? Welche Anhaltspunkte können wir finden, die eher für die eine als für die andere Option sprechen und es uns erlauben, mehr zu tun, als zu raten? 908 Beckett 2009: 3. 452 Welche Anhaltspunkte wir auch immer verwenden, um uns zu entscheiden, der springende Punkt besteht darin, dass wir in der Innenperspektive keine Anhaltspunkte finden können. Die Frage, ob wir im intransitiven Sinne sehen oder nicht, hängt von externen Faktoren ab, die aus der Innenperspektive nicht direkt zugänglich sind. Sie wären uns natürlich indirekt zugänglich, nämlich sobald wir sähenitr. Doch der springende Punkt des Winckler-BeckettProblems besteht darin, dass wir sehr wohl über das Vermögen zu sehenintr verfügen können und dass es eine Tatsache ist, dass wir über dieses Vermögen verfügen, ohne dass uns dies aber aus der Innenperspektive irgend zugänglich wäre. Das (außer durch glückliches Raten) unlösbare Winckler-Beckett-Problem spricht deshalb gegen den Ansatz bei der Innenperspektive. Eine analoge Überlegung lässt sich für das Sehentr anstellen, wenn wir uns auf einen Blindsichtigen beziehen. Der Blindsichtige siehttr, doch diese Tatsache ist ihm aus der Innenperspektive nicht zugänglich. Man kann dagegen nicht einwenden, dass der Blindsichtige doch über keine aktive Fähigkeit des Sehenstr verfüge, denn reale Blindsichtige sind sehr wohl in der Lage, sich beispielsweise durch einen Raum zu bewegen und dabei Hindernisse zuverlässig zu umgehen909 Dasselbe gilt für eine Variante des Winckler-Beckett-Problems. Dieses Mal entführt und betäubt uns der böse Neurochirurg, doch wie wir aus der Betäubung erwachen, sehen wir, dass wir in einem Bett in einem Krankenzimmer liegen. Die Stimme des bösen Neurochirurgen aus dem Off teilt uns jetzt Folgendes mit: „Während Ihrer Betäubung sind Sie einer bestimmten Operation unterzogen worden oder auch nicht. Falls Sie dieser Operation unterzogen worden sind, dann sind Sie nun vollkommen blind und ihr Gehirn ist mit einem Computer vernetzt, den ich bediene und der Ihnen just jene visuellen Wahrnehmungen induziert, die Sie hätten, wenn sie sehen könnten. Falls Sie dieser Operation nicht unterzogen worden sind, sind ihre Augen intakt und ihr Hirn ist keinem Computer angeschlossen. Entscheiden Sie nun, in welcher Situation Sie sich befinden. Wenn Sie sich für die erste Option entscheiden, diese aber nicht zutrifft, werden Sie nicht von Ihrer Blindheit geheilt werden und vernetzt bleiben, andernfalls schon. Wenn Sie sich für die zweite Option entscheiden, diese aber nicht der Fall ist, werden Sie sogleich blind gemacht und vernetzt, andernfalls geschieht nichts mit Ihnen. In welcher Situation befinden Sie sich?“ Diese Variante des Problems ist natürlich nichts Anderes als das Problem der veridischen Halluzination. Ich habe es bereits am Beispiel des blinden Geronimo eingeführt (5.1.5.2.-5.1.5.3.). Nicht wenige Philosophen gehen davon aus, dass das Opfer der Neurochirurgen, sofern ihm vollkommene, veridische Halluzinationen 909 Vgl. Jacob und Jeannerod 2003. 453 induziert werden, nicht nur nicht sieht, sondern nichts sieht. Die Entscheidung, vor die der Neurochirurg sein Opfer also stellt, besteht in der Frage, ob es jetzt etwas (das Krankenzimmer) sieht oder nicht. Der springende Punkt besteht wiederum darin, dass es in der Innenperspektive keine Anhaltspunkte finden kann. Somit hängt auch die Frage, ob wir sehenitr oder nicht sehenitr, von externen Faktoren ab, die aus der Innenperspektive nicht zugänglich sind. In allen diesen Fällen hat der böse Neurochirurgen natürlich keine Schwierigkeit damit zu wissen, was der Fall ist. Er kann problemlos darüber Auskunft geben oder feststellen, ob seine jeweiligen Opfer sehenintr oder sehentr oder sehenitr. Damit meine ich weiter motiviert zu haben, dass eine philosophische Untersuchung der Wahrnehmung nicht bei der Innenperspektive, sondern bei der Außenperspektive anzusetzen hat. Damit komme ich zur dritten Motivation für den Ansatz bei der Außenperspektive. 5.3.1.3. Der blinde Geronimo Bleiben wir noch etwas beim blinden Geronimo. Sein Hirn wird mit einem Computer so vernetzt, dass der böse Neurochirurg in Geronimo die visuellen Halluzinationen von just jenen Szenerien hervorzurufen vermag, die sich tatsächlich vor seinen blinden Augen abspielen. Folglich hat Geronimo veridische visuelle Halluzinationen. Der Neurochirurg garantiert die attitudionale kontrafaktische Abhängigkeit der halluzinierten visuellen Erfahrungen Geronimos von der optischen Szenerie vor dessen Augen. Wir haben bereits gesehen, dass KTS auszuschließen wünscht, dass dieser Fall als genuines Sehen durchgeht (5.1.5.2.). Aber warum wollen wir eigentlich den Fall des blinden Geronimo überhaupt ausschließen? Alle Elemente von KTS sind doch da: Das Wahrnehmungserlebnis E, dass o F ist, die kausale Relation zwischen E und oF. Warum wollen wir gerade nicht sagen, dass Geronimo die Szenerie siehtitr, die ihm der böse Neurochirurg induziert? Nun, was offensichtlich daran stört, ist die Tatsache, dass Geronimo blind ist und trotzdem (in irgend einem Sinne) sehen können soll. Wer blind ist, dessen Augen sind defekt. Die Augen erfüllen ihre Funktion nicht nur unzureichend oder unvollständig, sondern überhaupt nicht. Mit anderen Worten: Geronimo siehtintr nicht und deshalb wäre es absurd zu sagen, dass er siehtitr. Ändern wir nun den Fall des blinden Geronimo etwas ab. Der Chirurg schließt Geronimos Gehirn nicht an einen Computer an, sondern pflanzt ihm andere biologische Augen ein, die ihm das Sehen ermöglichen.910 Aus dem blinden wird ein sehender 910 So wie es mit John Anderton (Tom Cruise) im Film Minority Report geschieht. 454 Geronimo, der mithilfe seiner neuen Augen visuelle Szenerien ebenso wahrnimmt, wie Personen, die mit ihren natürlich ausgebildeten Augen sehen. Nichts spricht dagegen zu sagen, dass der operierte Geronimo die visuellen Szenerien, die sich vor seinen neuen Augen abspielen, sieht, solange sie ihre Echte Funktion gemäß einer Normalen Erklärungen ausüben.911 Ändern wir den Fall abermals ab. Der Chirurg pflanzt Geronimo Kameras als künstliche Augen ein, die ihm das Sehen ermöglichen. Aus dem blinden wird ein sehender Geronimo, der mithilfe seiner künstlichen Augen visuelle Szenerien ebenso wahrnimmt, wie Personen, die mit ihren eigenen Augen sehen. Nichts spricht dagegen zu sagen, dass Geronimo die visuellen Szenerien, die sich vor seinen künstlichen Augen abspielen, sieht, solange diese optischen Artefakte ihre kulturelle Funktion gemäß einer Normalen Erklärungen ausüben. Die Normale Erklärung für das Funktionieren der biologischen Augen und der künstlichen Augen unterscheidet sich nur unwesentlich. Die künstlichen Augen übernehmen die Echte Funktion der biologischen Augen, weil sie zu diesem Zweck und gemäß einem Design entworfen worden sind (3.2.6.), und sie übernehmen diese Funktion gemäß der Normalen Erklärung für biologische Augen.912 Zur Bestimmung dessen, was es heißt, dass ein Lebewesen etwas sieht, sollten wir deshalb anstelle der kontrafaktischen kausalen Abhängigkeit auf die biologischen (natürlichen) Funktionen (3.2.3.) und auf kulturelle (artifizielle) Funktionen (3.2.5.) zurückgreifen, die beides Echte Funktionen (1.1.4.) sind. Kausale Abhängigkeiten gehören zu einem gewissen Ausmaß zu einer Normalen Erklärung für das Zustandekommen visueller Repräsentationen. Dies bedeutet, dass Sehen kausale Elemente enthält, nicht aber, dass es durch kausale Abhängigkeiten definiert werden kann. Nun war aber der ursprüngliche Fall des blinden Geronimo, den wir als Sehensfall ausschließen wollten, weil ein Wesen mit defekten Augen nichts siehtintr, ja anders angelegt. Nicht seine defekten Augen werden ausgewechselt, sondern sein intaktes Hirn wird mit einem Computer so vernetzt, dass ein Neurochirurg oder der Computer selbst die visuellen Halluzinationen von just jenen Szenerien hervorzurufen vermag, die sich tatsächlich vor 911 Eine Normale Erklärung erklärt, wie Mitglieder einer bestimmten REF ihre Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt haben (1.1.4.). 912 Hinzu muss allerdings kommen, dass Geronimo durch den Eingriff in die Lage versetzt wird, die durch die künstlichen Augen (ein artifizieller P-Mechanismus) hervorgebrachten R-Vehikel auf dieselbe Weise zu verwenden, wie andere Exemplare seiner Art es zu tun imstande sind. Denn erst durch die Verwendung von (biologischen oder kulturellen) R-Vehikeln durch entsprechende K-Mechanismen wird der unbestimmte repräsentationale Inhalt jener Vehikel zu einem bestimmten intentionalen Inhalt. Wenn Geronimo in postoperativen Tests auf dieselbe Weise reagiert, wie andere gesunde Artgenossen auch, sind wir ohne Weiteres bereit zu sagen, dass er siehtitr. Es macht dabei, soweit ich sehen kann, keinen Unterschied, ob Geronimo weiß, dass er nun über künstliche Augen verfügt oder nicht. Nehmen wir an, eine sehende Person wäre wie der blinde Geronimo operiert und mit künstlichen Augen versehen worden. Hier würde es für die Frage, ob diese Person sieht, keinen Unterschied machen, dass sie nicht um diese Operation weiß. Allerdings würden wir diese Person im Gegensatz zum blinden Geronimo bedauern. 455 den nach wie vor defekten Augen des solcherart vernetzten Geronimo abspielen. Die (natürlichen oder artifiziellen) Augen (oder das visuelle System) eines Lebewesens sind ein Bestandteil dieses Lebewesens aufgrund von dessen Funktion es in der Lage ist, Objekte in seiner Umwelt gemäß einer Normalen Erklärung zu sehen. Die Tatsache, dass der vernetze Geronimo alle Sehtests ebenso bestehen würde, wie der mit neuen oder künstlichen Augen ausgestattete Geronimo oder eine normal sehende Person, kann nicht verhindern, dass es absurd ist zu sagen, der vernetzte Geronimo würde etwas sehen, denn auch der vernetzte Geronimo ist blind. Entscheidend bleibt der Umstand, dass der vernetzte Geronimo über keine (natürlichen oder künstlichen) funktionierenden Augen verfügt. Dieses Nicht-verfügenüber hat eine doppelte Bedeutung: Erstens besitzt der vernetzte Geronimo keine funktionierenden Augen und zweitens benutzt nicht er die Augen (bzw. entsprechende okulare Äquivalente), sondern der Neurochirurg oder der Computer. Wie kann ein Lebewesen normalerweise Augen benutzen? Ein Lebewesen benutzt Augen, insofern es sie besitzt, d.h. insofern sie funktionierende Bestandteile seines Körpers sind. Benutzbare Augen sind Bestandteile eines Lebewesens insofern ihre Benutzung in der Verfügung des Lebewesens liegt. Die Verfügung liegt im Falle des vernetzten Geronimos nicht bei ihm (denn weder besitzt noch benutzt er Augen oder okulare Äquivalente), vielmehr liegt die Kontrolle über die Wahrnehmungserlebnisse des vernetzten Geronimo beim Neurochirurgen oder beim Computer. Der Fehler von KTS besteht also nicht allein darin, dass KTS die kausale Bedingung anstelle der funktionalen Bedingung privilegiert. Ein zweiter Fehler von KTS besteht darin, dass nicht Augen (oder was auch immer die Echte Funktion hat einem Lebewesen visuelle Informationen über seine Umgebung zur Verfügung zu stellen) die Grundlage für die Bestimmung des Sehens sind, sondern die visuelle Erfahrung. Denn die Bedingung (1) von KTS lautet, dass ein Wahrnehmungssubjekt eine visuelle Erfahrung E von oF haben muss, um zu sehen. Wiederum finden wir die Innenperspektive auf eine Weise privilegiert, die Fehler produziert, und die entscheidenden, aber doch eigentlich einfachen Punkte verdeckt. Ein dritter Fehler von KTS besteht darin, dass KTS von einem passiven Bild der Wahrnehmung ausgeht. Lebewesen verwenden ihre Sinnesorgane zur Erkundung ihrer Umgebung oder des eigenen Körpers. Und deshalb gehört die Verfügung (der Besitz und die Benutzung) über die Sinnesorgane, das Verfügen über die Augen, zum Begriff des Sehens. Die Verfügung über die Augen durch ein Lebewesen betrifft nicht nur die Funktion und das tatsächliche Funktionieren von Augen, sondern die Benutzung der funktionstüchtigen (natürlichen oder artifiziellen) Augen durch das Lebewesen zur Erkundung seiner Umgebung oder seines Körpers. Weder die Funktion der Augen noch 456 ihr Funktionieren liegen in der Verfügung eines Lebewesens, das Augen besitzt. Aber die Benutzung der funktionierenden Sinnesorgane liegt in dessen Verfügung. (Mit dieser Bemerkung wiederhole ich lediglich das mittels des Winckler-Beckett-Problems erreichte Resultat, dass das Sehenintr nicht in der Verfügung der Innenperspektive eines Lebewesens liegt.) Und dieses Verfügen über ist natürlich eine Tätigkeit von Lebewesen. 5.3.2. Die biosemantische Theorie der (visuellen) Wahrnehmung 5.3.2.1. Input-, System- und Output-Komponenten von P-Mechanismen Sehen kann als funktionaler Begriff verstanden werden, nämlich als Funktion von VS. Wir sollten also angeben, was die Funktion von VS ist. Dadurch erfahren wir, was Sehen ist. Die Echte Funktion eines Organs (des Herzens etwa) kann dadurch angegeben werden, dass wir die selektierten Wirkungen angeben, die das Organ unter Normalen Bedingungen hat. So können wir sagen: Das Herz pumpt Blut. Dies ist die Echte Funktion des Herzens. Wir geben also jene Wirkung an, die Auskunft darüber gibt, warum das Herz da ist und die das Herz (läuft alles gut) hervorbringt. Um diese Wirkung hervorzubringen, muss das Herz in bestimmten Zuständen sein. So muss es beispielsweise in diastolischen und systolischen Zuständen sein. Ohne diese Zustände könnte das Herz seine Funktion, Blut zu pumpen, nicht erfüllen. Doch auch wenn das Herz (aus welchen Gründen auch immer) nicht in diese Zustände überzugehen vermag, so hat es nach wie vor die Funktion, Blut zu pumpen, auch wenn es sie nicht erfüllt oder nicht erfüllen kann. Vielleicht ist das Herz defekt und kann nicht schlagen. Vielleicht ist kein Blut oder eine andere Flüssigkeit vorhanden. Im ersten Fall kann das Herz die funktionsermöglichenden Zustände nicht einnehmen. Es ist defekt. Im zweiten Fall ist mit dem Herzen selbst alles in Ordnung, aber die Normalen Bedingungen liegen nicht vor. In beiden Fällen kann es seine Funktion, Blut zu pumpen, nicht erfüllen. Betrachten wir das Herz nun als System, so können wir verschiedene Normale Komponenten unterscheiden: (i) Input-Komponenten (das Vorhandensein von Blut beim Herzen) (ii) System-Komponenten (das Einnehmen diastolischer oder systolischer Zustände) (iii) Output-Komponenten (das tatsächliche Pumpen von Blut). Dies sind Normale Komponenten, weil sie zur Normalen Erklärung für die Erfüllung der Funktion des Systems gehören. Andere Komponenten mögen vorhanden sein, sie gehören aber nicht zur Normalen Erklärung. Die Output-Komponente (hier: das Pumpen von Blut) 457 ist die erfolgreiche Echte Funktion des Systems (hier: des Herzens). Um diese Funktion ausüben zu können, müssen bestimmte System-Komponenten und bestimmte InputKomponenten vorliegen. Fehlen diese Komponenten (oder eine davon), kann das Herz sein Echte Funktion nicht ausüben, auch wenn es selbst völlig funktionstüchtig ist (wenn Input-Komponenten wegfallen), aber auch, wenn es funktionsuntüchtig ist (wenn die System-Komponenten wegfallen). Obwohl mit dem Wegfall von Input- oder SystemKomponenten (oder beidem), das System auch seine Output-Komponente verliert, behält das System als Mitglied einer REF jedoch seine Echte Funktion. Die Output-Komponente des Systems ist ja nicht identisch mit seiner Echten Funktion, sondern nur mit seiner erfolgreich ausgeübten Echten Funktion. (Das ist das Geheimnis der Normativität.) Übertragen wir dieses Bild nun auf visuelle Systeme (VS). Was ist die OutputKomponente für VS? Die Output-Komponente von VS ist einfaches Sehen eines Objekts. VS hat einfaches Sehen von o als Output: VS diskriminiert o visuell von dessen unmittelbarer Umgebung. Was ist die Input-Komponente für VS? Input-Komponenten sind Bedingungen, die vorliegen müssen, damit ein System wie VS seine Funktion erfolgreich ausüben kann. Die Input-Komponente von VS ist die Reizung durch o in einer Umgebung in einem adäquaten Medium (wie etwa Sonnenlicht). Was sind SystemKomponenten für VS? Die System-Komponenten sind die jeweiligen Mechanismen, aus denen VS besteht, und die die Input-Komponenten verarbeiten. Diese Komponenten variieren beträchtlich zwischen unterschiedlichen Lebewesen. Bei vielen VS gehören aber v. a. unterschiedliche Helligkeitskonstanz usw.) Konstanz-Mechanismen und (Größenkonstanz, Kontrast-Mechanismen Farbkonstanz, (Hell-dunkel-Kontraste für Kantendetektion usw.) dazu. Nach der Funktion eines VS kann man also auf die folgende Art und Weise fragen: Welche Input-Komponenten zu diskriminieren ist die Aufgabe eines VS? Anders formuliert: Korrelationen mit welcher Art von Objekten zu haben ist die Aufgabe eines VS? Und entsprechend: Welche Art von Output zu erzeugen ist die Aufgabe von VS? Ich habe in Abschnitt 3.2.4. über Augen das Folgende gesagt: Augen haben die Funktion, ihren Trägern räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen, und sie tun dies, indem sie multidirektional Lichtintensitäten absorbieren. Augen haben als P-Mechanismen die Funktion, Strukturen auszubilden, die das Resultat der Extraktion nützlicher Informationen durch System-Komponenten sind. Tieraugen bilden eine REF, deren Mitgliedern die Echte Funktion zukommt, ihren Träger lichtbasierte multidirektionale räumliche Wahrnehmung von Objekten zu ermöglichen. Die normativen Begriffe für die Kategorie des Auges sind Auflösung und Empfindlichkeit. Augen sind nun natürlich Teile von VS, die sich durch 458 funktionale Analyse individuieren lassen. Diese Teile umfassen sowohl InputKomponenten (die Augen sind sozusagen das Interface zur Umwelt eines Lebewesens) als auch System-Komponenten. Bestimmte Kontrast-Mechanismen (etwa zur KantenDetektion) sind als System-Komponenten von VS bereits in die Augen „eingebaut“. Die Rezeptorenverbände auf der Retina haben die Funktion, Helligkeitskontraste zu verstärken, und so das Sehentr von Kanten von Objekten oder von Farbübergängen auf Objekten zu ermöglichen, d.h. zum Bestandteil des Outputs zu machen. Die visuellen R-Vehikel sind also qua Helligkeitskontraste mit Kantenverläufen und Flächenbrüchen isomorph. Betrachten wir abermals das Herz. Offensichtlich übernehmen die SystemKomponenten eine wichtige Brückenfunktion zwischen Input- und Output-Komponenten. Ist Blut im Körper vorhanden, dann sorgen Diastole und Systole dafür, dass das Herz Blut pumpt. Ebenso vermitteln die System-Komponenten bei VS zwischen Input und OutputKomponenten. Die visuelle Diskriminierung von o in einer bestimmten Umgebung kann nur gelingen, wenn die System-Komponenten die Input-Komponenten entsprechend verarbeiten. Dabei übernehmen in erster Linie Konstanz- und Kontrast-Mechanismen eine wichtige Aufgabe. Auch diese Mechanismen haben eine Echte Funktion. Die Funktionen der System-Komponenten sind der Echten Funktion des Systems als Ganzem untergeordnet. Es handelt sich um Subfunktionen. Die Aufgabe der Subfunktionen besteht darin, einen bestimmten Output zu ermöglichen. Liegen die relevanten InputKomponenten vor und sind die System-Komponenten funktionstüchtig (im Sinne ihrer Subfunktionen), so wird der Output durch das System erzeugt. Der Output eines VS nun ko-variiert mit den Input-Komponenten. Für diese Kovariation sorgen zunächst die System-Komponenten. Die Kovariation fassen wir als Isomorphie-Relation (1.1.3., 1.1.5., 1.1.7.). Mit anderen Worten: Das VS ist ein PMechanismus. Das VS produziert R-Vehikel. Der Output eines VS ist also ein R-Vehikel. Es hat als solches lediglich einen R-Inhalt. Ein solcher R-Inhalt ist unterbestimmt, da der Output eines VS mit vielen Strukturen isomorph sein kann. Auch wenn beispielsweise die Konstanz-Mechanismen zuverlässig bestimmte Oberflächen, Größen und Entfernungen stabil halten, so ist damit noch nicht gesagt, als was ein Lebewesen das derart stabil Gehaltene sieht. Wir befinden uns deshalb erst auf der Ebene des Sehenstr, noch nicht des Sehensitr. Allerdings können wir aufgrund des Vorliegens von Konstanz-Mechanismen bereits sagen, dass das VS eines Lebewesens, das über solche visuelle Subfunktionen verfügt, Objekte in einer Umgebung diskriminiert, wenn auch noch nicht vollständige Objekte (5.3.3.2.). 459 Oben habe ich gesagt, wir sollten angeben, was die Funktion eines VS ist, um zu erfahren, was Sehen ist. Hier müssen wir nun präzisieren! Denn wir erfahren bei der Betrachtung eines VS lediglich, was Sehentr ist. Wir erfahren jedoch nicht, was Sehenitr ist. Was Sehenitr ist, erfahren wir, wenn wir uns dem ganzen Lebewesen zuwenden, das über ein VS verfügt. Denn es sind nicht VS, die sehenitr (auch wenn man vielleicht sagen kann, dass VS sehenintr oder sehentr), sondern Lebewesen mit funktionstüchtigen VS. (Wir sagen, dass die Katze die Maus sieht, und nicht, dass das VS der Katze die Maus sieht.)913 In biosemantischen Ausdrücken können wir nun sagen, dass das Verfügen über das VS durch ein Lebewesen darin besteht, dass das VS einen Konsumenten hat. Der Konsument ermöglicht es dem Lebewesen aufgrund der Aktivität des P-Mechanismus bestimmte Dinge zu tun, und zwar dann, wenn bestimmte Input-Komponenten vorliegen, mit denen die Output-Komponenten aufgrund der Arbeit der System-Komponenten isomorph sind. So verstanden ist die Art des Sehens, die uns interessiert, nämlich Sehenitr, die Weiterverwendung des Outputs von VS durch einen Konsumenten, und nicht ein Output gegeben normale System- und Input-Komponenten. Da also der Output von VS, um dem Lebewesen zur Verfügung zu stehen, von einem K-System verwendet werden muss, lautet die Frage, welchen Arten von Konsumenten das VS dient. Wir können den letzten Punkt wiederum anhand der Magnetbakterien illustrieren. Das Orientierungssystem dieser Bakterien besteht nicht nur aus magnetotaktischen Komponenten (den Magnetosomen), wie wir bislang zu Zwecken der Veranschaulichung vereinfachend vorausgesetzt haben, sondern auch aus aerotaktischen Komponenten, die die Veränderung des Sauerstoffgehalts des Wassers registrieren. Die System-Komponente Magnetotaxis hat also die Subfunktion die Richtung des magnetischen Feldes zu registrieren und die System-Komponente Aerotaxis registriert Veränderung des Sauerstoffgehalts, dies ist deren Subfunktion. Beide System-Komponenten sind Bestandteil des Orientierungssystems. Ihre beiden Subfunktionen arbeiten dem Output des Orientierungssystems zu, nämlich der Angabe einer bestimmten Fortbewegungsrichtung. Erst die Verwendung dieses Outputs durch einen Konsumenten, der der Tätigkeit des ganzen Lebewesens dient, führt zur Festlegung des IR-Inhalts des Outputs. Der Konsument des Outputs des Orientierungssystems ist das Navigationssystem. Die Funktion des 913 In der Diskussion des Falles des blinden, aber vernetzten Geronimo habe ich argumentiert, dass wir diesen Fall deshalb nicht als Sehenitr einer Szenerie klassifizieren wollen, weil Geronimo über kein funktionstüchtiges VS verfügt. Geronimo kann nicht sehenintr und folglich kann er nicht sehenitr. Der tiefere Grund, das VS des Neurochirurgen oder des Computers nicht als Ersatz-VS zu akzeptieren besteht darin, dass Geronimo nicht über dieses VS verfügt. Weder besitzt er es als Teil seines Körpers noch benutzt er es als Teil seiner Tätigkeiten. Vielmehr werden die Tätigkeiten des vernetzten Geronimo, etwa seine Augenbewegungen und Kopfdrehungen, vom externen VS registriert und in ihrer Ausrichtung prädiktiert, sodass das entsprechende veridische Halluzinationen induziert werden können. 460 Navigationssystems ist die Fortbewegung in Richtung für das ganze Lebewesen zuträglicher Umweltbedingungen oder die Entfernung von für das ganze Lebewesen abträglicher Umweltbedingungen. Der IR-Inhalt der durch das Orientierungssystems (mithin durch die beiden System-Komponenten) zur Verfügung gestellten Outputs besteht in der Angabe der Richtung einer relativ sauerstoffarmen Region. Die Verarbeitung der Input-Komponenten durch die beiden System-Komponenten Magnetotaxis und Aerotaxis führen dazu, dass das Bakterium in sauerstoffarme Regionen navigiert oder in sauerstoffarmen Regionen verweilt. Sowohl die Fortbewegung in Richtung sauerstoffarmer Regionen als auch das Verweilen in einer sauerstoffarmen Region sind beides Tätigkeiten dieser Lebewesen. 5.3.2.2. R-Inhalte und IR-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen Wir haben nun die wichtigen Elemente zusammen, um die für die biosemantische Theorie der Wahrnehmung zentrale Unterscheidung einzuführen, nämlich die Unterscheidung zwischen dem R-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen und dem IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen. Erstes entspricht dem Sehentr, zweites dem Sehenitr. Die Wahrnehmung eines Lebewesens besteht in der Nutzung oder Verwendung der durch die Wahrnehmungssysteme dieses Lebewesens hervorgebrachten Empfindungen. Und die visuelle Wahrnehmung eines Lebewesens besteht in der Nutzung oder Verwendung der durch das visuelle System dieses Lebewesens hervorgebrachten Empfindungen. Wahrnehmungen sind von Empfindungen begleitet, visuelle Wahrnehmungen etwa von Farbempfindungen, Helligkeitseindrücken oder Hell-dunkel-Kontrasten, akustische Empfingen von Eindrücken der Höhe, Lautstärke oder Bewegung. Doch wovon handeln Wahrnehmungsempfinden? Bei dieser Frage handelt es sich um eine Frage nach der Intentionalität von Wahrnehmungsempfindungen. Es ist wichtig, hier zwei Arten von Intentionalität zu unterscheiden, wobei es sich nur bei der zweiten Art um Intentionalität im eigentlichen Sinne handelt. Ich habe zwischen dem bestimmten intentionalen Inhalt eines RVehikels (IR-Inhalt) und dem unbestimmten repräsentationalen Inhalt eines R-Vehikels (RInhalt) unterschieden (1.1.3.). R-Vehikel werden von P-Mechanismen hervorgebracht, die die Echte Funktion haben, Strukturen hervorzubringen, die andere Strukturen (im Sinne einer Isomorphie) abbilden. Solche Strukturen haben einen R-Inhalt. Als „Empfindungen“ werden hier mithin nicht die proximalen Reize eines VS bezeichnet, etwa die Reizungen der Netzhaut. Dies sind die Input-Komponenten. Empfindungen sind die durch die System-Komponenten bereits verarbeiteten InputKomponenten, also die Output-Komponenten. Dies haben wir ja soeben als R-Vehikel 461 identifiziert. Die Isomorphie-Relation zwischen dem R-Vehikel und einer externen Struktur wird also nicht durch direkte kausale Kovariation aufrechterhalten – so ko-variiert der Schatten mit dem Baum oder der Baum mit seinem Spiegelung auf der Wasseroberfläche – , sondern durch die über System-Komponenten vermittelte Kovariation. Die SystemKomponenten garantieren im Falle des VS erstens die Aufrechterhaltung von IsomorphieRelationen zwischen R-Vehikeln (Output-Komponenten) und externen Strukturen und nicht jene zwischen R-Vehikeln und proximalen Reizen (Input-Komponenten). Die System-Komponenten garantieren im Falle des VS zweitens die Aufrechterhaltung von Isomorphie-Relationen zwischen R-Vehikeln (Output-Komponenten) und externen Objekten und nicht jene zwischen R-Vehikeln und Objektflächen. Insbesondere die Konstanz-Mechanismen sind hier wichtig. Größenkonstanz sorgt für Isomorphie mit der Größe eines Objekts trotz der Abnahme der Objektfläche auf der Netzhaut bei Entfernung des Objekts von VS bzw. trotz Zunahme der Objektfläche auf der Netzhaut bei Annäherung des Objekts an VS. Die Formkonstanz sorgt für Isomorphie mit der Form eines Objekts trotz durch Perspektivwechsel und Reizveränderungen bedingter Veränderungen der Form des Objekts auf der Netzhaut. Farbkonstanz sorgt für Isomorphie mit der anhaftenden Farbe eines Objekts trotz Veränderungen in den Beleuchtungsfarben, die beispielsweise durch Beleuchtungseffekte oder Schatteneffekte hervorgerufen werden. Erst die Nutzung und Verwendung solcher Strukturen nun gibt ihnen einen IRInhalt. Der (unbestimmte) R-Inhalt eines R-Vehikels wird durch die Echte Funktion des ihn benutzenden Konsumenten festgelegt. Wir können nun zwischen dem R-Inhalt und dem IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen unterscheiden:914 R-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen: Eine Empfindung (Typ) ist eine Empfindung von X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter Normalen Bedingungen) Empfindungszustände dieses Typs in S nur dann produziert werden, wenn sich in der unmittelbaren Umgebung von S tatsächlich etwas befindet, das X ist. IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen: Eine Empfindung (Typ) ist eine Empfindung von X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter Normalen Bedingungen) die nicht-inferenzielle Reaktion von S auf Empfindungszustände dieses Typs eine Reaktion ist, die besagt, dass etwas in der unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S X ist.915 914 Ich lehne mich an den Vorschlag von Churchland 1979: 14 an, auf den Millikan in LTOBC: 319 & 343 verweist. 915 Ich werde in 5.3.4.2. nach der Diskussion von Reids Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung eine leicht modifizierte Fassung „IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen*“ vorschlagen. 462 Einige Formulierungen in dieser Unterscheidung verlangen nach Kommentierung: (i) Wahrnehmungssubjekte sind Lebewesen einer bestimmten Art (3.3.2.). (ii) Empfindungen sind Typen von Empfindungen, weil eine Empfindung stets die Empfindung eines Lebewesens (einer bestimmten Art) ist, dessen Wahrnehmungssysteme SystemKomponenten zur Verarbeitung von Input-Komponenten gemäß der Echten Funktionen dieser System-Komponenten enthalten. In Abhängigkeit von diesen Subfunktionen generiert ein Wahrnehmungssystem (ein P-Mechanismus) als Output-Komponente (ein RVehikel) verschiedene Empfindungen eines Typs. (iii) Normale Bedingungen für Wahrnehmungsempfindungen mit R-Inhalt oder IR-Inhalt sind keine statistischen oder idealen Normalbedingungen, sondern historische Normalbedingungen, die vorliegen mussten, damit ein Produzent oder ein Konsument eine bestimmte Wirkung (seine Echte Funktion) erfolgreich ausüben konnte (1.1.4.). (iv) Ein Lebewesen, dessen visuelle Wahrnehmungsempfindungen einen R-Inhalt haben, ist ein Lebewesen, das siehttr, d.h. etwas sehen kann. Der R-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen wird durch ein VS hergestellt, also durch einen P-Mechanismus. Die Output-Komponenten von VS sind RVehikel. (v) Ein Lebewesen, dessen visuelle Wahrnehmungsempfindungen einen IR-Inhalt haben, ist ein Lebewesen, das siehtitr, das etwas als etwas sehen kann. Der IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen ist nicht vom VS abhängig, sondern von einem KMechanismus, der den Output von VS gemäß seiner Echten Funktion verwendet. Was ein Lebewesen physiologisch wahrzunehmen imstande ist, ist eine Frage, die primär die R-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen betrifft. Diese Art der Empfindungsfähigkeit kann von Art zu Art variieren. Dabei kann es sich um Variationen zwischen Sinnesmodalitäten handeln. Maulwürfe und Grottenolme sind im Gegensatz zu Wölfen und Menschen für visuelle Empfindungen unempfänglich, Wölfe und Menschen sind im Gegensatz zu Tauben und Delfinen für magnetische Felder unempfänglich. Es kann sich jedoch auch um Variationen innerhalb einer Sinnesmodalität handeln. So sind einige farbempfindliche Lebewesen Trichromaten und andere nicht, für einige Lebewesen befindet sich das hörbare Feld zwischen 20 Hz und 20 kHz, für andere weit darüber. Schließlich kann die Empfindungsfähigkeit innerhalb einer Art variieren, entweder zwischen Individuen (manche haben ein besseres Gehör als andere) oder innerhalb eines Individuums (entsprechend den artspezifischen Formen der Reifung und Alterung). Aber: Solche artspezifischen oder individuellen Variationen der Sinnesmodalitäten legen nun zwar fest, was ein Lebewesen sehentr kann, sie legen jedoch nicht fest, was ein Lebewesen sehenitr kann. 463 Nachdem wir uns mit der Produzentenseite befasst haben, sollten wir uns der Konsumentenseite zuwenden, nämlich den IR-Inhalten von Wahrnehmungsempfindungen. Die Echte Funktion des Konsumenten eines visuellen R-Vehikels (des Outputs von VS, der visuellen Wahrnehmungsempfindung) wird als „nicht-inferenzielle Reaktion von S“ angesprochen. Dazu ist Folgendes zu bemerken: (i) Konsumenten (als K-Mechanismen) können einer analogen Komponentenanalyse unterzogen werden, wie wir es für VS (d.h. für einen P-Mechanismus) getan haben. Die Output-Komponente eines K-Mechanismus ist die Echte Funktion (selektierte Wirkung) des Konsumenten. Und diese selektierte Wirkung wird als „nicht-inferenzielle Reaktion von S“, des ganzen Lebewesens, bezeichnet. (ii) Nicht-inferenzielle Reaktionen sind stets Reaktionen eines Lebewesens einer bestimmten Art, also für S charakteristische Reaktionen. Diese artspezifischen Reaktionen können angeboren oder erworben sein. Wesen, die eine zweite Natur (2.4.) erwerben, erweitern damit ihre artspezifischen Reaktionsmöglichkeiten. (iii) Die Wendung „nichtinferenziell“ wird im Unterschied zu „inferenziell“ verwendet, ohne dass diese Unterscheidung jedoch als Beschreibung der für die Wahrnehmungstheorie geläufigen, aber höchst unklaren Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Wahrnehmung verstanden werden sollte. Als typischer Fall für direktes Sehen wird z.B. das Sehen von roten Flecken auf der Haut eines Kindes betrachtet, als indirektes Sehen das Sehen, dass das Kind die Masern hat. Die Interpretation dieses Beispiels lautet dann etwa: Der Arzt schließt aus dem Vorliegen roter Flecken, dass das Kind die Masern hat. Dieser Schluss wäre dann eine inferenzielle Reaktion auf die Wahrnehmung der roten Flecken auf der Haut. Eine der Pointen der biosemantischen Theorie der Wahrnehmung besteht nun darin, dass der Arzt direkt Sehen kann, dass das Kind die Masern hat. Ein einigermaßen geübter Arzt schließt nicht auf einen Fall von Masern, sondern sieht einen solchen Fall vorliegen. Die Bildung der Überzeugung des Arztes, dass das Kind Masern hat, ist ein Beispiel für einen nicht-inferenzielle Reaktion des Arztes auf Empfindungszustände eines bestimmten Typs (rote, raue, rundliche, kleine Erhebungen auf der Haut), die besagt, dass etwas in der unmittelbaren Umgebung von des Arztes ein Fall von Masern ist. Die weitere Überzeugung des Arztes beispielsweise, dass dies für das Kind bedeutet, dass es morgen nicht am Sportanlass wird teilnehmen können, ist hingegen eine inferenzielle Reaktion auf die Wahrnehmung von Masern. (iv) Die Formulierung „etwas in der unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S“ soll darauf hinweisen, das ein Lebewesen nicht nur zu sehenitr kann, was sich sozusagen vor seiner Nase befindet, sich mithin in seiner unmittelbaren Umgebung befindet. Zur erweiterten Umgebung des Lebewesens gehört auch, was es mittels überscharfer Sinnesorgane oder aber mittels visueller Instrumente 464 sehen kann. Ein Beispiel für erstes ist Superman, ein Beispiel für letzteres ist Sehen mittels Teleskopen oder Videokameras. Eine weitere Pointe der biosemantischen Theorie der Wahrnehmung besteht darin, dass auch in der räumlich erweiterten Umwelt eines Lebewesens liegende Objekte nicht-inferenziell gesehen werden können; ja, auch in der zeitlich erweiterten Umwelt eines Lebewesens liegende Objekte können nicht-inferenziell gesehen werden (5.3.4.2.-5.3.4.3.). Genuin sichtbare Eigenschaften gibt es auf der Ebene der R-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen, nicht jedoch auf der Ebene von IR-Inhalten. Zugespitzt kann man sagen: Was ein Lebewesen siehtitr hängt davon ab, als was das Lebewesen die Wahrnehmungsempfindungen nimmt. Diese sind in diesem Sinne transparent. Ich habe in 5.1.4.4. zwischen Transparenz in einem starken und einem schwachen Sinne unterschieden. Stark gelesen besagt die These von der Transparenz der Erfahrung, dass wir einer phänomenal bewussten Erfahrung selbst unmöglich gewahr werden können, es sei denn dadurch, dass wir uns der Objekte gewahr werden, die durch diese Erfahrungen repräsentiert werden. Es würde so gesehen zur Natur phänomenal bewusster Erfahrungen gehören, dass sie transparent sind. Das ist, wie gesagt, wenig überzeugend. Schwach gelesen besagt diese Transparentthese, dass es sehr schwierig und ungewöhnlich ist, unserer Erfahrungen gewahr zu werden. Wir können uns ebenso auf Qualitäten des Objekts konzentrieren (die Farbe der Blumen in der Vase) oder auf Qualitäten unserer Wahrnehmung des Objekts (die Verschwommenheit der Blumen). Wenn ich nun sage, dass Wahrnehmungsempfindungen transparent sind, so ist dies in einem schwachen Sinn gemeint. Wir können unsere Wahrnehmungsempfindungen als reine Empfindungen nehmen, d.h. uns auf die R-Inhalte konzentrieren, normalerweise (biologisch „normalerweise“) sind wir auf die Eigenschaften der gesehenen Dinge gerichtet. Allerdings, und dies ist wichtig, bedeutet dies nun nicht, dass das Sehenitr der Objekte gleichsam auf deren Oberfläche zum Stillstand kommt. Dies würde bedeuten, das Sehenitr mit dem Sehentr, IR-Inhalte mit R-Inhalten, zu verwechseln. Ein geübter Arzt siehtitr rote Flecken als Masern und eine geübte Kunstkennerin siehtitr in einer bestimmten Anordnung roter Punkte Renoirs Spätstil. Ebenso siehtitr der Arzt nicht nur die Vorderseite des zu behandelnden Kindes, sondern das ganze Kind. Die Kunstkennerin siehtitr nicht nur die ihr zugewandte Seite des Gemäldes, sondern ein vollständiges Objekt. Nichts davon wird in der Wahrnehmung erschlossen. Es ist in der Wahrnehmung präsent. Der biosemantischen Theorie des Sehens zufolge gilt also: Weder die Empfindungen legen fest, was ein Lebewesen sehenitr kann, noch stoppt das Sehen gleichsam an der Oberfläche räumlich und zeitlich präsenter Oberflächen. Was ein 465 Lebewesen siehtitr, ist abhängig von der Funktion der Konsumenten. Zwar sind Konsumenten durch Output-Bedingungen der Produzenten eingeschränkt, aber Konsumenten können jede Art von IR-Inhalt als nicht-inferenziellen Inhalt festlegen, solange die Output-Bedingungen der Produzenten vorliegen. Der IR-Inhalt der Wahrnehmungsempfindung ist dann natürlich dasjenige, was vorliegen muss (womit die Output-Bedingung auf dynamische Weise isomorph sein muss, damit der Konsument seine Echte Funktion erfolgreich ausüben kann. Kausalbedingungen sind als Bestandteil der InputBedingungen natürlich wichtig, nur sind sie für das Sehenitr nicht ausschlaggebend. 5.3.2.3. Anmerkung über Qualia Bei Wahrnehmungsempfindungen muss es sich in irgendeiner Weise um bewusste qualitative Zustände eines Lebewesens, um Qualia, handeln. Ich kann im Rahmen dieser Arbeit die Probleme der Qualia, deren Realität ich ja zugestanden habe (5.1.4.4.), nicht behandeln. Ich möchte dennoch eine Option ansprechen, die der Biosemantik zur Verfügung steht, ohne diese ausführlich zu erörtern oder gar zu verteidigen. Zunächst möchte ich von der Intuition ausgehen, dass viele, auch sehr einfache Lebewesen, bewusste Empfindungen in einem sehr anspruchslosen Sinne haben: Es „ist irgendwie“ eine Fledermaus oder eine Spinne zu sein. Bei der Unterscheidung zwischen Vehikeln und Inhalten haben wir gesehen, dass sich R-Vehikel von Lebewesen (ebenso wie Märchen-Vehikel in einem Märchenbuch) zwar im Körper eines Lebewesens finden, dass sich aber die IR-Inhalte nicht im Körper finden lassen müssen (ebenso wenig wie sich der Inhalt des Märchens im Buch finden lassen muss). Also lassen sich die R-Inhalte im Körper eines Lebewesens finden. R-Inhalte sind der Biosemantik zufolge die durch einen R-Produzenten hervorgebrachten Strukturen, die mit bestimmten externen Strukturen isomorph sind. Bei allem, was ich bislang über RInhalte von Wahrnehmungsempfindungen gesagt habe, macht es den Anschein, als würde ich Qualia auf R-Vehikel reduzieren. Ich scheine also auf die These festgelegt, Qualia ließen sich auf materielle Strukturen in den Körpern von Lebewesen reduzieren. Betrachten wir eine Passage, in der sich Millikan eher beiläufig über Qualia äußert. Sie schreibt über den Sumpfmann: „Suppose that by some cosmic accident a collection of molecules formerly in random motion were to coalesce to form your exact physical double. Though possibly that being would be and even would have to be in a state of consciousness exactly like ours, that being would have no ideas, no beliefs, no intentions, no aspirations, no fears, and no hopes. (His non-intentional states like being in pain or 466 itching, may of course be another matter.) This because the evolutionary history of the being would be wrong. For only in virtue of one’s evolutionary history do one’s intentional mental states have proper functions. Hence does one mean or intend at all, let alone mean anything determinate.“916 Millikan betrachtet bestimmte Bewusstseinszustände als nicht-intentional. Sie erwähnt Schmerzen und Juckreiz. Wir können annehmen, dass diese Beispiele in üblicher Weise besonders augenfällige Beispiele für nicht-intentionale qualitative Zustände (Qualia) nennen. Weiter deutet Millikan hier die Auffassung an, dass der Sumpfmann zwar über keine intentionalen, dafür möglicherweise über nicht-intentionale Zustände verfügt. Würde ich hingegen die These vertreten wollen, dass Qualia auf materielle Strukturen in den Körpern von Lebewesen reduzierbar sind, dann nur insofern diese Strukturen von Vermögen (P-Mechanismen) mit Echten Funktionen abhängen. Dieser Zusatz würde implizieren, dass Sumpfwesen vollkommene Zombies sind und so auch über keine nichtintentionalen qualitativen Zustände verfügen. An dieser Stelle steht jedoch die Option offen, dass der phänomenale Charakter mentaler Repräsentationen auf R-Vehikeln superveniert oder emergiert. Bei Qualia würde es sich dann um supervenierende oder emergierende Eigenschaften von R-Vehikeln handeln und nicht um nicht-repräsentationale interne materielle Zustände (wie es QualiaPhysikalisten wollen) und auch nicht um repräsentationale externe materielle Eigenschaften (wie es Qualia-Repräsentationalisten möchten). In meinem Vorschlag bleiben Qualia somit Eigenschaften von Repräsentationen (von R-Vehikeln), gehören aber nicht zum IR-Inhalt dieser Repräsentationen, sondern bilden deren R-Inhalt. Qualia ko-variieren mit externen Eigenschaften von Objekten, die die direkten Objekte unseres Bewusstseins sind, sind jedoch normalerweise (nicht notwendigerweise) transparent. Das hier intendierte „normalerweise“ ist kein statistisches, sondern ein biologisches. Lebewesen, die des phänomenalen Erlebens fähig sind (ich nehme wie gesagt an, dass dies auf viele Tiere zutrifft) oder die eine Fähigkeit zur Introspektion ausgebildet haben (ich bezweifle, dass dies auf viele Tiere zutrifft), sind nicht in erster Linie auf Eigenschaften ihrer R-Vehikel fokussiert, sondern auf Eigenschaften, Objekte und Ereignisse in ihrer Umwelt. Auch diese nicht-reduktionistische Option impliziert natürlich, dass Sumpfmänner Zombies sind. Dieser Vorschlag wirft zweifellos viele Fragen auf, die ich hier nicht behandeln kann. Er kann vermutlich mit den diesbezüglichen Auffassungen von Sidney Shoemaker in Übereinstimmung gebracht werden. Shoemaker ist im Hinblick auf Qualia sowohl Repräsentationalist als auch Anti-Repräsentationalist. Er erkennt an, dass phänomenaler Charakter eine repräsentationalistische Natur hat und bestreitet zugleich, dass eine 916 Vgl. LTOBC: 93; meine Hervorhebung. 467 vollständige theoretische Erfassung von Qualia auf intrinsische Eigenschaften verzichten kann.917 5.3.3. Aneignungen und Eignungen 5.3.3.1. Sehen als Tätigkeit von Lebewesen Wir können für die IR-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen im Hinblick auf VS zwischen visuellen Einzwecksystemen (special purpose systems), visuellen Mehrzwecksysteme (multiple purpose systems) und visuellen Allzwecksysteme (general purpose systems) unterscheiden.918 Sowohl Lebewesen mit visuellen Einzwecksystemen als auch solche mit visuellen Mehrzwecksystemen kann man als „visuelle Spezialisten“ bezeichnen, Lebewesen mit visuellen Allzwecksystemen hingegen als „visuelle Generalisten“. Visuelle Spezialisten sind zu bestimmten artspezifischen nicht-inferenziellen Reaktionen fähig, die entweder die Interaktionen mit unbelebten Objekten (Beibehaltung der Fortbewegungsrichtung, die Umgehung von Hindernissen, Orientierung mittels Orientierungspunkten etc.) oder mit belebten Objekten (Finden und Verfolgen von Beute, die Entdeckung und Vermeidung von Feinden usw.) betreffen. Weil etwa im Falle des Magnetbakteriums das Orientierungssystem (P-Mechanismus) und das Navigationssystem (K-Mechanismus) so kooperieren, dass sie genau einen Typ von IR-Repräsentation hervorbringen (nämlich die Anzeige sauerstoffarmer Regionen), handelt es sich um ein Einzwecksystem. Die verschiedenen Submechanismen des Orientierungssystems (Magnetotaxis, Aerotaxis) dienen zusammen mit dem Konsumenten nur einem Zweck. Freilich handelt es sich hierbei um kein visuelles Einzwecksystem. Der Grund besteht einfach darin, dass das Orientierungssystem kein Auge im Sinne der Definition von 3.2.4. einschließt und entsprechend keine visuellen Informationen verarbeitet. 919 Wir können jedoch das VS des Frosches vereinfacht als ein visuelles Einzwecksystem auffassen. Im Falle von Mehrzwecksystemen können System-Komponenten eines VS zu angeborener Mustererkennung unterschiedliche im engeren Sinne biologische Funktionen Vgl. Shoemaker 1996. Tye 2000: V bezweifelt, dass diese Position stabil sein kann. Vgl. Land und Nilsson 2006. 919 Zur Erinnerung: Augen haben die Funktion, ihren Trägern räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen, und sie tun dies, indem sie multidirektional Lichtintensitäten absorbieren. „Eyes are devices for extracting useful information from the light reflected or emitted from objects in the world around us.“ (Land und Nilsson 2001: 16) Die Räumlichkeit dieser Wahrnehmung bedeutet also nicht, dass ein Lebewesen mit Augen nur schon, weil es über Augen verfügt, einen (egozentrischen oder allozentrisch strukturierten) Raum mit Objekten wahrnimmt, sondern lediglich, dass es Lichtintensitäten von unterschiedlichen Raumstellen unterschiedlich stark absorbiert. 917 918 468 erfüllen, wie etwa Beute-, Räuber- oder Artgenossendetektion. Die Springspinnen sind Beispiele für Inhaber visueller Mehrzwecksysteme. Die R-Inhalte der Wahrnehmungsempfindungen von o eines Individuums S einer Springspinnenart werden zu IR-Inhalten der Wahrnehmungsempfindungen von o als F, insofern S (unter Normalen Bedingungen) über artspezifische, nicht-inferenzielle Reaktionen auf Empfindungszustände dieses Typs verfügt, die besagen, dass etwas (o) in der unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S ein F ist. Wir können zur Illustration auf ein bereits (in 3.2.4.) eingeführtes Beispiel zurückgreifen. Eine besondere Form von Mimikry erlaubt es der Springspinne M. assimilis, sich unter den aggressiven Weberameisen aufzuhalten. Da M. assimilis Beute fangen muss, unter Weberameisen lebt, Attacken dieses Modells vermeiden muss, liegt die Vermutung nahe, dass sie Beutetiere und Modelle visuell unterscheiden können muss.920 Tests bestätigen dies. M. assimilis siehtitr also Beutetiere und Modelle. Der K-Mechanismus, der es ihr erlaubt, die Information aus ihrem visuellen Vehikel zu extrahieren, dass es sich bei einem Objekt um ein Modell handelt, legt den IR-Inhalt des Vehikels fest. Die Spinne siehtitr ein Modell (eine Weberameise), unabhängig davon, ob sich eine Weberameise in ihrer Umgebung befindet oder nicht, d.h. unabhängig davon, ob sie eine Weberameise siehttr. Wenn das, was sie siehttr, lediglich eine Modellattrappe ist, die eine neugierige Verhaltensbiologin vor ihr hin und her bewegt, so siehtitr die Spinne ein Modell, aber sie siehttr kein Modell. Der IR-Inhalt von visuellen Spezialisten ist nicht-begrifflicher Natur. Dieser Inhalt NBI ist subpersonaler Natur und beruht auf angeborenen natürlichen Funktionen. Wahrnehmbare Eignungen und Weisen der Aneignung sind ebenfalls angeboren und nur minimal durch Lernprozesse modifizierbar. Damit möchte ich keineswegs ausschließen, dass es sich auch um einen phänomenalen NBI handelt, dass es also irgendwie ist, eine Springspinne oder ein Frosch zu sein (5.3.2.3). Doch wenn man will, kann man sagen, dass wir erst bei den visuellen Generalisten auf eine personale Ebene gelangen, d.h. auf die Ebene eines NBI für das ganze Lebewesen. Im Folgenden soll es nur noch um diese Ebene gehen und um behavioralen NBI. Es geht dabei erstens darum, den in Abschnitt 5.1.4.2. eingeführten Begriff des behavioralen NBI zu klären, und zweitens darum zu zeigen, wie diese Art NBI Grundlage für kognitiv anspruchsvollere Wahrnehmungen und schließlich auch für begriffliche Wahrnehmung sein kann. Allgemein gesprochen richten sich visuelle Spezialisten also auf festgelegte Eigenschaften (Eignungen) mit festgelegten Verhaltensweisen (Aneignungen). Die visuellen R920 Die hier auftauchenden Vorkommnisse von „muss“ sind natürlich im Sinne der in 3.3.1. eingeführten natürlichen Normativität zu verstehen. Ich werde in 5.3.3.2. auf die Normen des Sehens zu sprechen kommen. 469 Vehikel der Springspinne dienen festgelegten Eignungen und festgelegten Aneignungen. Die festgelegten Aneignungen werden durch K-Mechanismen hervorgebracht, die auf ganz spezifische Eignungen angelegt sind. Was die Springspinne siehtitr, sieht sie in seiner Eignung als Beute, als Paarungspartner oder als Fressfeind. Und entsprechend eignet sich die Spinne das Wahrgenommene springend, signalisierend oder fliehend an. Visuelle Generalisten hingegen können auf festgelegte Eignungen mit einer offenen Bandbreite von Aneignungen oder auf eine offene Bandbreite von Eignungen mit festgelegten Aneignungen oder auf eine offene Bandbreite von Eignungen mit einer offenen Bandbreite von Aneignungen nicht-inferenziell reagieren. Bei Allzwecksystemen können System-Komponenten eines VS zu angeborener und erworbener Mustererkennung unterschiedliche sowohl biologische als auch kulturelle Funktionen erfüllen und mit neuen Funktionen versehen werden. Im Gegensatz zu Spezialisten sind visuelle Generalisten fähig, die artspezifischen visuellen Empfindungen nicht nur mittels angeborener oder fest verdrahteter artspezifischer K-Mechanismen zu verwenden, sondern durch Lernen, Unterweisung, Übung neuartige K-Mechanismen auszubilden, wobei die Ausbildung solcher K-Mechanismen durchaus zur artspezifischen zweiten Natur einer Art gehören kann (2.2. und 3.3.2.). Zweifellos sind Menschen die ausgeprägtesten visuellen Generalisten. Unser visuelles Supergeneralistentum hat zwei Gründe. Erstens ist der Mensch in seiner biologischen Ausstattung plastisch. Diese Plastizität betrifft v. a. das Gehirn. Die Plastizität des Gehirns ist jedoch lediglich ein Beispiel dafür, was man als „Evolution der Evolutionsfähigkeit“ bezeichnet. Die Evolutionsfähigkeit teilen wir mit zahlreichen anderen Lebewesen. Der zweite Grund für unser visuelles Supergeneralistentum besteht in der Tatsache, dass wir nicht nur über natürliche Fähigkeiten mit Echten Funktionen verfügen, sondern in einer kulturellen Welt leben. In diesem Abschnitt werde ich auf den ersten Grund eingehen. Erst im folgenden Abschnitt werde ich mich im Anschluss an die Diskussion von Reids Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung dem zweiten Grund zuwenden.921 Millikan beschreibt nun Evolution der Evolutionsfähigkeit wie folgt: „One of the many things that have evolved by natural selection is evolvability itself. One example of this is the evolution of sexual reproduction, which mixes genes in such a way as to introduce wide variation for selection in organisms while still ensuring that most remain viable. Another example is the evolution of homeo box genes. These are genes lying close together on the same chromosome that controls the expression of other genes whose phenotypic effects lie within strictly limited bodily areas. Thus, one part of the animal can be changed in various ways, effectively experimented with, without at the same time affecting random unrelated 921 Natürlich hängen beide Gründe zusammen, aber das soll hier nicht eigens thematisiert werden, vgl. aber Sterelny 2003. 470 parts of the organism. The evolution of completely new levels of natural selection that ride piggyback on lower levels is another way in which evolution evolves. The evolution of behavioral systems controlled partly by mechanisms that learn by operant or instrumental conditioning […] is an example of the evolution of a new level of selection, as are the development of trial and error in perception of paths to a goal and the development of Popperian trial and error by which representations are experimented with in thought.“922 Wichtig ist natürlich die Evolution von Lernmechanismen, die eine neue Ebene der Selektion darstellen. Ein Beispiel für das Versuch-und-Irrtums-Verfahren in der Wahrnehmung des Wegs zu einem Ziel ist das folgende: Ein Grauhörnchen sieht unter einem Verandadach ein aufgehängtes Vogelhäuschen. Es rennt auf dem Verandageländer hin und her und betrachtet das Futterhäuschen wiederholt von allen möglichen Seiten. Schließlich springt es zum Abdeckgitter der Verandatür, von dort weiter in Richtung des Vogelhäuschens und verfehlt es. Es springt etwas höher ins Abdeckgitter. Dieser erneute Versuch führt es an sein Ziel.923 In diesem Beispiel, auf das ich im Folgenden wiederholt zurückkommen werde, sucht ein Lebewesen visuell nach einen Pfad zu einem bestimmten Ziel. Nachdem es sich relativ zu seinem Ziel in die richtige Position gebracht hat, nimmt es das Verandageländer und das Abdeckgitter als gangbaren Weg zu seinem Ziel wahr. Es sieht den Weg als VM: 15. Hier ein Beispiel für das zielgerichtete Pfadfinden: Ein Hund in einer Küche möchte etwas fressen, das für ihn aber zu hoch hängt. Er blickt hinauf, springt und japst, dreht sich und winselt und kommt nicht heran. Was tun? Er sieht einen Stuhl neben dem Tisch, steigt über den Stuhl auf den Tisch und schnappt den ersehnten Leckerbissen (Cureau de la Chambre 1989: 102). Hier zwei Beispiele für Poppersche Wesen, die sich des Zweck-Mittel-Denkens bedienen. Ein Rabe im klirrenden Winter erblickt eine Stange, an der an Schnüren getrocknetes Fleisch hängt. Im Flug ist das harte Fleisch nicht zu erhaschen. Was tun? Der Rabe setzt sich auf die Stange, zieht ein Stück Schnur mit dem Schnabel zu sich hoch, legt es auf die Stange, setzt den Fuß darauf, holt das nächste Stück hoch, legt es wiederum auf die Stange, setzt den Fuß darauf usw. Schließlich hat er das Fleisch in den Krallen. Vgl. Heinrich 1996: 994: „[T]ypically a bird approached the string nervously, pecked or briefly yanked on the string, repeated the approach when given another opportunity, extinguished the approach behavior, or suddenly did the entire string-pulling sequence correctly. One of the wild birds performed the entire sequence correctly on his first approach to the string, even though no other bird of that group had shown the behavior. After a bird had acquired the behavior it thereafter performed the behavior correctly without fail.“ Der Psychologe Wolfgang Köhler (Köhler 1921) untersuchte kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Intelligenz von Menschenaffen. So ließ er beispielsweise außerhalb des Schimpansenkäfigs Bananen auslegen, und zwar in einer für Schimpansenarme zu großen Entfernung. Im Käfig befanden sich zwei Bambusrohre von unterschiedlichem Durchmesser, mit denen die Schimpansen Futter heranziehen konnten. Doch ein Schilfrohr allein reichte nicht an die Bananen heran. Ein Schimpanse namens Sultan entdeckte, während er mit diesen Rohren spielte, dass sich das dünnere in das dickere Rohr stecken lässt. Jetzt konnte er die ersehnten Bananen erreichen. 923 Das Beispiel stammt von Millikan 2006a: 119: „I haven’t got any fancy animals such as chimps or dolphins or African grey parrots in my laboratory, but we do have grey squirrels in our yard. And we have a bird feeder that hangs on a chain from well under the eves above the deck of our house, hung there to keep it out of reach of the grey squirrels. The grey squirrels are not satisfied with this arrangement. Not long ago I watched one eyeing the feeder from the deck. It studied the situation long and hard from one side of the deck, then from the other. It climbed up on the railing to study the situation from there, first from one side, then from the other side, and then from underneath. It eyed the screen on the door that goes out to the deck. Finally it made a try. Starting from a run along the railing, it leapt and ricocheted off the screen toward the feeder but missed. Once again it surveyed the situation from various angles, and finally succeeded by hitting the screen a little higher up, then hanging on tight to the whirligig feeder while it wound up, unwound, wound up again and unwound. I hadn’t the heart to shoo it away!“ 922 471 geeigneten Weg zum Ziel. Die Eignung, die das Lebewesen sieht, ist direkt mit einem diese Eignung betreffenden Verhalten verbunden. Und zwar auf zweierlei Weise: Erstens bringt sich das Tier in eine Position, einen gangbaren Weg zu finden, zweitens nimmt es diesen Weg. Beide Verhaltensweisen können verfehlt werden. Das Tier kann sich so positionieren, dass es keinen geeigneten Weg erblickt, und der Gang des Wegs kann misslingen. Die Evolution behavioraler Systeme, die einem Wesen bestimmte Lernformen ermöglichen, sind sowohl eine Voraussetzung für die Ausbildung einer weiten Bandbreite von Verhaltensweisen als auch für die Wahrnehmung einer weiten Bandbreite von Eignungen. Die Verhaltensweisen des Grauhörnchens sind relativ eingeschränkt, es rennt hin und her und springt und wiederholt dasselbe. Aber es kann an Objekten neue Eignungen wahrnehmen. In unserem Falle weisen sowohl die Verhaltensweisen als auch die möglichen Eignungen eine weitaus größere Bandbreite auf. Wenden wir uns nun der für die biosemantische Theorie der Wahrnehmung zentralen Idee zu, dass das Sehenitr mit dem unbewaffneten und ungeübten Auge als natürliche Wahrnehmung eine Tätigkeit eines Lebewesens ist. Ich habe darauf hingewiesen (5.2.1.), dass die Alternative der Außenperspektive, im Gegensatz zu „humeianischen“ und „kantianischen“ Ansätzen bei der Innenperspektive, als „aristotelisch“ bezeichnet werden kann. Sie verdient diese Bezeichnung u.a. im folgenden Sinne: Laut Aristoteles ist das Sehen eine Fähigkeit von Lebewesen, sodass sich Untersuchungen über psychische Vermögen direkt der Biologie zuwenden dürfen. Dies ist der erste relevante Bezug zur Biosemantik. Zweitens ist Aristoteles zufolge das Sehen eine Tätigkeit, ein Verhalten von Lebewesen. Verhalten besteht nun nicht nur in Bewegungen, sondern auch im Innehalten, im Stillhalten, im Einhalten usw. Das pirschende Raubtier, das plötzlich still steht, verhält sich auf bestimmte Weise, der Läufer, der sich am Start anspannt, verhält sich ebenfalls. Sowohl Stillstehen als auch Anspannung sind Teil einer Tätigkeit, nämlich des Anpirschens bzw. des Wettlaufs. Im Sehen als Tätigkeit steht das Einhalten am Ende von Tätigkeiten wie dem Umsehen, Hinsehen, Nachsehen, Überblicken, Umblicken, Anblicken usw. Dieses Einhalten, das Sehen von etwas, ist das Ziel dieser Tätigkeiten.924 Anstelle von Ziel können wir sagen: es ist deren Echte Funktion. Die Echte Funktion dieser Tätigkeit ist die Wahrnehmung von vollständigen Objekten in der Umwelt eines Lebewesens. Die 924 Vgl. Heidegger 1976: 284 über Aristoteles’ Begriff der kinesis, den Heidegger als „Bewegtheit“ übersetzt: „Die Bewegung des Sichumsehens und Nachsehens ist eigentlich erst höchste Bewegtheit in der Ruhigkeit des in sich gesammelten (einfachen) Sehens. Solches Sehen ist das , das Ende, worin sich die Bewegung des Augenblicks erst auffängt und wesentlich Bewegtheit ist. (»Ende« nicht Folge des Aufhörens der Bewegung, sondern Anfang der Bewegtheit als auffangendes Aufbehalten der Bewegung).“ Der wesentliche Punkt besteht wie im Falle des Anpirschens und des Sprints darin, dass zur Bewegtheit sowohl Bewegung als auch Ruhe gehören und Ruhe nicht der Gegenbegriff zur Bewegtheit ist. Die Bewegtheit geht auf ein Ziel (ein Ende, Telos) und insofern gehört das Ziel (die Ruhe) zur Tätigkeit hinzu. 472 Aktualisierung dieser Echten Funktion besteht in Ausübungen dieser Fähigkeit, d.h. in Tätigkeiten des Sehens. Zu diesen Tätigkeiten des Sehens gehören sowohl Bewegungen des Lebewesens (das Umsehen, Hinsehen, Nachsehen usw.) als auch das Innehalten (das Sehen, Fixieren, Erblicken usw. eines Objekts). Zum Sehen als Tätigkeit eines Lebewesens gehört also das motorische System des Lebewesens. Das motorische System, so die These, ist der primäre Konsument visueller R-Vehikel. Anders formuliert: Die Echte Funktion der Tätigkeit des Sehens ist die Wahrnehmung von vollständigen Objekten in der Umwelt eines Lebewesens und der Objektbezug beim Sehen wird durch die Tätigkeit des Lebewesens hergestellt. Sehen ist also, wie es die Außenperspektive fordert, ein Prozess in der Welt, nicht weil sich das Sehen in einem Lebewesen abspielt, sondern weil es eine Tätigkeit eines Lebewesens in einer Umwelt ist. Diese Tätigkeit involviert Repräsentationen (R-Vehikel mit R-Inhalten), deren IR-Inhalt zunächst auf der grundlegenden, natürlichen Ebene ein NBI ist, und zwar nicht ein NBI in der kontrastiven, subpersonalen oder phänomenalen Bedeutung, sondern in der behavioralen Bedeutung (5.1.5.2.). Behavioraler NBI von visuellen Wahrnehmungen ist ein IR-Inhalt, insofern bestimmte Verhaltensweisen des ganzen Lebewesens als Konsumenten der R-Vehikel seines VS fungieren. Dabei handelt es sich um Verhaltensweisen, die visuelle Vehikel für Objekte als Zeichen für Eignungen dieser Objekte konsumieren. So lautet die Behauptung. Nun zu ihrer Erläuterung und Begründung! In 4.4. habe ich argumentiert, dass wir sprachlosen Wesen ein Körperselbst zuschreiben können. Viele Tiere können in ihrem visuellen Wahrnehmungsfeld invariante Information über die Position der Gliedmaßen ihres Körpers von variablen Informationen über die aktuelle Umwelt unterscheiden. Diese Unterscheidung ist grundlegend für zielgerichtetes Verhalten, was man sich am Beispiel der Fortbewegung eines Orang-Utans in den Baumkronen vor Augen führen kann. Die äußere Wahrnehmung der Gliedmaßen sind als Invarianten im visuellen Feld mit der inneren Wahrnehmung körperlichen Eigenwahrnehmung des Lebewesens korreliert und aufgrund dieser Korrelation ist Körperwahrnehmung eine Form der Selbstwahrnehmung. Wichtig ist zunächst die biologische Funktion des Körperselbst: Würde ein Tier seine Gliedmaßen nur als Objekte unter anderen Objekten betrachten, dann wäre die biologische Funktion der Repräsentation des eigenen Körpers nicht erfüllt. Die biologische Funktion besteht in der flexiblen Verhaltenssteuerung, wie das Beispiel des Orang-Utans veranschaulicht, d.h. der Koordination von Eigenkörperwahrnehmung und Verhaltensoptionen in einer aktuellen Umwelt. 473 Dieses Körperselbst ist nun Bestandteil der Wahrnehmung, und zwar dadurch, dass es Bestandteil des visuellen Feldes ist. Dies ist es einerseits dadurch, dass das visuelle Feld (das Gesichtsfeld) durch das Körperselbst begrenzt ist und andererseits dadurch, dass Teile des Körpers Bestandteil des visuellen Feldes sind.925 Der zweite Punkt ist offensichtlich. Der erste Punkt hingegen bereitet auf den ersten Blick Probleme. Ein kontrastiver Vergleich mag hilfreich sein: Das Gesichtsfeld ist nicht auf die gleiche Weise begrenzt wie der Blick aus einem Fenster durch den Fensterrahmen. Erstens verdeckt im Falle des Fensterrahmens etwas im Vordergrund (der Rahmen) etwas im Hintergrund (hinter dem Rahmen). Zweitens ist die Begrenzung durch den Fensterrahmen scharf und bestimmt, man kann z.B. auf die Grenz verweisen. Was außerhalb des visuellen Feldes liegt, wird hingegen nicht durch etwas im Vordergrund verdeckt und es liegt auch nicht hinter etwas, wodurch es verdeckt würde. Vielmehr entspricht das Gesichtsfeld der Tätigkeit des Wahrnehmungssubjekts, die, wie bereits gesagt, sowohl Bewegung als auch Ruhe umfasst. Das Gesichtsfeld wird durch diese Tätigkeit konstituiert, nicht durch Sehhindernisse. Es ist fatal, die Raummetapher zu wörtlich zu nehmen und das visuelle Feld wie ein Gemälde aufzufassen, das durch einen Rahmen oder durch das Ende der Leinwand begrenzt ist, und deshalb beispielsweise über räumliche Eigenschaften verfügt.926 Weil das Gesichtsfeld durch Tätigkeiten konstituiert wird, sind seine Grenzen nicht zu erfassen wie die Ränder eines Fensterrahmens. Objekte haben räumliche Grenzen, Tätigkeiten hingegen haben keine Grenzen dieser Art. Merleau-Pontys bereits zitierte und zunächst schwer zu verstehende Bemerkung, dass am Ende sogar das in meinem Rücken Gelegene nicht gänzlich ohne visuelle Gegenwart sei, verweist m.E. auf diesen Umstand. Das in meinem Rücken Gelegene gehört zu meinem Gesichtsfeld, weil das Gesichtsfeld durch meine Tätigkeit konstituiert wird, und nicht durch einen Rahmen, der es eingrenzt. Da ich meinen Kopf oder mich selbst jederzeit umwenden kann (oder in einen Spiegel blicken kann), gehört auch das in meinem Rücken Gelegene insofern zu meinem Gesichtsfeld, als dass seine Sichtbarkeit lediglich eine geringfügige Modifikation meiner Tätigkeiten erfordert. Das Gesichtsfeld wird nicht begrenzt durch meine Nase, meine Wangenkochen oder meine Vgl. dazu Gibson 1979: 111f. Es ist deshalb fatal, weil es zu einer Art „Internalisierung des Inhalts“ (5.1.4.1.) führt. Zwar scheint sich heute niemand mehr auf die Annahme festlegen zu wollen, dass die Wahrnehmung von Farben und Formen es erfordern, dass die Wahrnehmungsvehikel selbst Farben und Formen haben. Aus diesem Grund sind beispielsweise einige Kommentatoren der Ansicht, dass sich hylemorphistische Wahrnehmungstheorien vollkommen überlebt hätten. Diesen Theorien zufolge nimmt das Wahrnehmungssubjekt z.B. die Form der Röte in sich auf. Der Charakter einer Rotwahrnehmung erklärt sich durch diese Formassimilation. Dennoch begegnet man dem Übel der Internalisierung des Inhalts immer wieder. Hier ein Beispiel, das Millikan anführt: „Recall, however, this passage from Strawson’s Individuals, Chapter 2: „Sounds...have no intrinsic spatial characteristics...[by contrast]...Evidently the visual field is necessarily extended at any moment, and its parts must exhibit spatial relations to each other“ (Strawson 1959 p.65). The visual field is itself extended?“ (OCCI: 115n) 925 926 474 Stirnwölbung, denn diese Körperteile können ebenso wie meine Hände, Schultern oder Füße Bestandteil des visuellen Feldes werden. Die Tätigkeiten eines Lebewesens, das über ein Körperselbst verfügt, sind, so möchte ich behaupten, der grundlegende, natürliche Konsument der R-Vehikel, die das VS zur Verfügung stellt. Genau genommen ist nicht die Tätigkeit oder das Verhalten der Konsument, sondern das motorische System MS eines Lebewesens, denn eine Tätigkeit ist ein Effekt von MS. (Ebenso ist nicht die Fortbewegung des Magnetbakteriums der Konsument der magnetotaktischen Repräsentation, sondern das Navigationssystem, das Fortbewegung als Output-Komponente hat.) Diese These hat nun auch einen Einfluss auf das Wahrnehmungsobjekt. Der biosemantischen Theorie zufolge sehen wir primär nicht Objekte mit Attributen, sondern Objekte mit Eignungen (d.h. Geeignetheiten oder Ungeeignetheiten). Ich möchte den Ausdruck „Eignung“ als genaue Übersetzung für Gibsons Begriff der „affordance“ benutzen. Als Gegenbegriff zu „Eignung“ werde ich den Begriff des „Attributs“ verwenden. Sowohl Eignungen als auch Attribute sind Eigenschaften von Objekten. Den Begriff der „Aneignung“ werde ich als freie Übersetzung von Merleau-Pontys Begriff der „intentionnalité motrice“ benutzen.927 Wir können nun sagen: Lebewesen sehenitr Objekte mit Eignungen, und zwar insofern diese Objekte Anlass für bestimmte Tätigkeiten der Lebewesen geben. Diese Tätigkeiten werde ich als „Aneignungen“ bezeichnen. 5.3.3.2. Tätigkeiten als Aneignungen Es gibt zwei Arten der Aneignung, nämlich praktische (darunter fallen sowohl prohibtive als auch proaktive) und explorative. Unter praktisch-proaktiven Aneignungen kann man sich etwa das Packen eines Objekts durch ein Lebewesen mit dessen Hand oder mit dessen Maul vorstellen. Das Objekt erscheint dann dem Lebewesen als zum Packen geeignet. Die „Packbarkeit“ ist eine Eignung des Objekts. Unter der praktisch-prohibitiven Aneignung kann man sich das Ausweichen eines Lebewesens vor einem Objekt vorstellen. Das Objekt erscheint dann dem Lebewesen als zum Ausweichen geeignet. Die „Ausweichbarkeit“ ist eine Eignung des Objekts. Praktische Aneignungen betreffen Eignungen des Objekts, insofern ein Lebewesen in einer bestimmten Relation zu ihm steht. Unter einer explorativen Aneignung kann man sich die visuelle oder andere sensorische Erkundungen eines Objekts Merleau-Ponty 1945: 128 führt diesen Begriff nach der Diskussion einiger interessanter pathologischer Fälle ein, indem er festhält: „nous somme invités à reconnaître entre le mouvement comme processus en troisième personne et la pensée comme représentation du mouvement une anticipation ou une saisie du résultat assuré par le corps lui-même comme puissance motrice, un ‚projet moteur‘, une intentionnalité motrice.“ Vgl. dazu Kelly 2002. 927 475 durch ein Lebewesen vorstellen. Hier betreffen die Eignungen nicht das Objekt selbst, insofern ein Lebewesen in einer bestimmten Relation zu ihm steht, sondern vielmehr das Lebewesen, insofern es in einer bestimmten Relation zum Objekt steht. Bestimmte Positionen, Standorte oder Perspektiven sind geeignet oder ungeeignet, um das Objekt zu sehen (zu hören, zu riechen usw.). Erinnern wir uns an das Beispiel des Grauhörnchens, das einen Weg zum Vogelhäuschen sucht. Wir sagten: Die Eignung, die das Lebewesen sieht, ist direkt mit einem diese Eignung betreffenden Verhalten verbunden. Und zwar auf zweierlei Weise: Erstens bringt sich das Tier in eine Position, einen gangbaren Weg zu finden und zweitens nimmt es diesen Weg. Das erste Verhalten ist eine explorative Aneignung. Das Tier bringt sich in bestimmte Positionen relativ zum Zielobjekt. Das zweite Verhalten ist eine praktisch-proaktive Aneignung. Wichtig ist, dass beide Arten der Aneignung fehl gehen können. Ein Wesen kann in einer richtigen oder unrichtigen (angemessenen oder unangemessenen) Position sein, um etwas zu sehen. Das Grauhörnchen muss sich hin und her bewegen, um die richtige Perspektive auf das Vogelhäuschen als Ziel eines Wegs zu bekommen. Allgemein müssen sich Lebewesen in eine ihrer Art entsprechenden Relation zu einem Objekt begeben, um es zu sehen. Diese Relation kann die Entfernung, die Perspektive, die Beleuchtung oder die Beziehung auf andere Objekte betreffen. Wer die Farbe eines Kleidungsstücks prüfen will, muss es unverdeckt in bestimmter Beleuchtung aus einer bestimmten Entfernung betrachten können. Er muss sich in die richtige Position begeben, um die Farbe des Kleidungsstücks wahrnehmen zu können. Die Einnahme der richtigen Position relativ zu einem Objekt ist eine Tätigkeit eines Lebewesens, die einer Norm untersteht. Diese Norm ist zunächst abhängig von biologischen funktionalen normativen Kategorien, nämlich der Echten Funktion des VS von Lebewesen einer bestimmten Art und den dazu gehörigen Normalen Bedingungen. Diese Norm ist zweitens von dem Objekt abhängig und der Eignung des Objekts, um die es geht. Wer die Farbe eines Kleidungsstücks beurteilen will, der untersteht einer anderen Norm der richtigen Position relativ zu einem Objekt als derjenige, der die Verarbeitung des Stoffs beurteilen will. Explorative Aneignungen unterstehen also Normen. Bei einer Ausbildung zu einer bestimmten sozialen Rolle gehört die Einnahme der richtigen Position relativ zu einem Objekt zur Ausbildung eines geübten Auges. Ebenso gehört die richtige Verwendung eines optischen Werkzeugs zur Ausbildung eines instrumentierten Auges. Die Normen der richtigen Position relativ zum Objekt werden durch kulturelle funktionale normative Kategorien vorgegeben, nämlich entweder durch die Echte Funktion der Institution, die zu X ausbildet, oder durch die Echte Funktion des Instruments. So viel zur Normativität 476 explorativer Aneignungen. Wie steht es mit der Normativität praktischer Aneignungen? Der Weg zum Futter, den sich das Grauhörnchen ausgespäht hat, kann ungeeignet oder schwer gangbar sein, das Tier selbst kann ungeschickt oder in abnormer Verfassung sein. Praktische Aneignungen (sei es proaktiver oder prohibitiver Art) können aus Gründen dieser Art fehlgehen. Die Normen, von denen diese Art des Fehlgehens abhängt, beruhen einerseits auf spezifischen normativen Kategorien, an denen ungeschickte oder geschickte Exemplare einer Art bzw. normale oder abnorme Verfassungen von Exemplaren einer Art das Maß haben, von dem sie abweichen können (3.3.). Andererseits hängt die Norm des Fehlgehens von der wahrgenommenen Eignung des Objekts für ein bestimmtes Verhalten ab. Aneignungen betreffen nicht nur das tatsächliche Packen, Ausweichen, Erkunden usw. Denn ein Lebewesen, das gelernt hat, bestimmte Objekte zu packen, bestimmten Objekten auszuweichen oder Objekte visuell zu erkunden, hat die Fähigkeit erworben, diese Dinge zu tun, diese Tätigkeiten auszuführen. Diese aktive Fähigkeit zur Aneignung reicht also bereits aus, um ein Objekt mit bestimmten Eignungen zu sehenitr. Denn beide Arten der Aneignung, praktische und explorative, sind natürliche nicht-inferenzielle Reaktionen von S auf Empfindungszustände mit R-Inhalten, die besagen, dass etwas in der (unmittelbaren oder erweiterten) Umgebung von S X ist. Die Fähigkeit zur Aneignung reicht also, um ein Objekt mit Eignungen zu sehenitr, denn die Objekte werden als so und so geeignet oder ungeeignet gesehen. Die Objektivität der Wahrnehmung – im Sinne des Sehenstr eines Objekts – wird, so habe ich argumentiert, durch das visuelle System garantiert (5.3.2.1. & 5.3.2.2.). Die Output-Komponente eines VS ist bei Erfüllung der Echten Funktionen der SystemKomponenten ein R-Vehikel, das mit Objekten (nicht nur mit Objektoberflächen) dynamisch isomorph ist. Anders als etwa Dretske oder Burge meinen,928 bin ich also nicht der Ansicht, dass Konstanz-Mechanismen bereits garantieren, dass Lebewesen Objekte als so und so sehen. Konstanz-Mechanismen spielen zweifellos eine entscheidende Rolle dafür, dass Wahrnehmungsempfindungen R-Inhalte haben, dass sie von etwas Bestimmtem handeln, nämlich von Objekten. Sie garantieren jedoch weder vollständige Objektivität (im Sinne des Sehenstr eines dreidimensionalen Objekts) noch garantieren sie das Sehenitr. Das natürliche Sehenitr – im Sinne des Sehens von etwas als etwas – ist ein Sehen von vollständigen Objekten mit Eignungen aufgrund von aktuellen oder dispositionalen Aneignungen. 928 Vgl. Dretske 1981; Burge 2010. 477 Was ist mit vollständigen Objekten gemeint? Wir haben gesagt: Die SystemKomponenten eines VS garantieren die Aufrechterhaltung von Isomorphie-Relationen zwischen R-Vehikeln und externen Objekten, und nicht jene zwischen R-Vehikeln und Objektflächen. Lebewesen sehentr nicht nur Körperflächen, sondern Körper. Hier sind, wie gesagt, Konstanz-Mechanismen entscheidend. Sehenitr Lebewesen auf diese Weise vollständige Körper? Erinnern wir uns an die Bemerkung von Merleau-Ponty, demzufolge die wahrgenommenen Dinge nicht auf die Abbildungsverhältnisse von Oberflächen auf die Netzhaut reduziert werden könnten, weil zum Gesichtsfeld beispielsweise auch die nicht sichtbare Rückseite von Dingen gehöre (5.1.4.1.). Diese Forderung nach vollständiger Objektivität (die Wahrnehmung vollständiger Objekte, auch wenn sie dem Wahrnehmungssubjekt nur die Vorderseite zuwenden) ist nicht nur in der Phänomenologie verbreitet, wir finden sie auch in der analytischen Philosophie. Wir müssen das Sehen so verstehen, dass wir, wie Sellars an einem Beispiel sagt, „a cool juicy red apple (as a cool juicy red apple)“ sehenitr können. Sellars erläutert: „We do not see of the apple its opposite side, or its inside, or its internal whiteness, or its juiciness. But while these features are not seen, they are not merely believed in. They are present in the object of perception as actualities. They are present by virtue of being imagined.“929 Sellars phänomenologische Behauptung lautet also, dass diese Merkmale (opposite side, internal whiteness, juiciness) in der Wahrnehmung präsent sind, und zwar als aktuelle Eigenschaften des Objekts: „These features are present in the object as actualities.“930 Die theoretische Behauptung lautet, dass diese Merkmale als Aktualitäten von Objekten wahrgenommen werden, weil Wahrnehmungssubjekte sie auf bestimmte Weise imaginieren – „they are present by virtue of being imagined“ –, indem die Einbildungskraft Bildmodelle erstellt und diese unter Begriffe bringt.931 Sellars versteht dieses Zusammenspiel von Einbildungskraft und begrifflichen Fähigkeiten so, dass es bereits auf einer relativ anspruchslosen Ebene so etwas wie eine Prototheorie der wahrnehmbaren Welt involviert: „However thin – as in the case of a child – the intuitive representation may be from the standpoint of the empirical concept involved, it nevertheless contains in embryo the concept of a physical object now, over there, interacting with other objects in a system which includes me. It embodies a proto-theory of a world which contains perceivers of objects in the world.“932 Sellars 2007: 458. Wir sehen also beispielsweise keine kausalen Eigenschaften an Objekten: „We do not see of objects their causal properties, though we see them as having them.“ Sellars 2007: 458. 931 Vgl. dazu Haag 2007. 932 Sellars 2007: 465. 929 930 478 Hier treffen wir wiederum auf die bereits kritisierte Überintellektualisierung, auf das, was Burge „Individuellen Repräsentationalismus“ nennt (5.2.4.). Die Überintellektualisierung besteht darin, dass für das Sehen eines Objekts als vollständiges Objekt sowohl eine anspruchsvolle Arbeit der Einbildungskraft als auch begriffliche Fähigkeiten in Anspruch genommen werden müssen.933 Die Behauptung, dass die anschauliche Repräsentation eine Prototheorie enthalte, in der wahrnehmbare Objekte und Wahrnehmungssubjekte unterschieden und Interaktionen zwischen ihnen veranschlagt werden, ist ein klares Beispiel für den Individuellen Repräsentationalismus. Sellars ist Recht zu geben darin, dass wir erklären müssen, was es heißt, „a cool juicy red apple (as a cool juicy red apple)“ zu sehenitr. Es ist nicht einzusehen, warum wir dabei auf eine derartige Prototheorie zurückgreifen müssen. Offenbar versperrt der Ansatz bei der Innenperspektive den Blick auf das Sehen als einen Prozess, nämlich eine Tätigkeit, in der Welt. Lebewesen repräsentieren ein Objekt (einen Apfel etwa) als vollständiges Objekt, weil sie sich ihn sowohl praktisch als auch explorativ aneignen können, und zwar in der Eignung als kühl, saftig und rot. Eine ähnliche Tendenz zur Überintellektualisierung der visuellen Wahrnehmung kann man auch in der Phänomenologie feststellen. Die in 5.2.2. zur Charakterisierung der Farbkonstanz angeführte begriffliche Unterscheidung zwischen anhaftender Farbe und Beleuchtungsfarbe stammt von Wilhelm Schapp, einem Phänomenologen der ersten Stunde. Schapp charakterisiert den Unterschied wie folgt: „Dreht man den Gegenstand, so wird er dort hell, wo soeben Schatten war. Die Lichter springen von einer Ecke in die andere. Umgekehrt ist die anhaftende Farbe unbeweglich, sie bewegt sich nur mit dem Gegenstande, sie ist fest mit ihm verbunden. Aber diese Fixierung des Unterschieds trifft noch nicht den Kern. […] Die anhaftende Farbe ist eindeutig, die Beleuchtungseffekte sind mehrdeutig. Dieser Unterschied scheint kein qualitativer zu sein. […] Der Unterschied zwischen den Beleuchtungseffekten und wirklicher Farbe ist ein Formunterschied. Die Beleuchtungsfarben entbehren einer festen Form, die wirkliche Farbe ist eindeutig geformt. […] Die anhaftende Farbe aber zeigt das Ding in seiner Eigenart.“934 Die anhaftende Farbe ist deshalb wichtig, weil sie, in ihrer Unterschiedenheit zu Beleuchtungsfarben, dem Objekt zugehört, und wir das Objekt visuell verfolgen können, indem wir die anhaftende Farbe verfolgen. Wie Heidegger in einer seiner geglückten 933 Husserl hat u.a. die Ansicht vertreten, dass für die Wahrnehmung eines vollständigen Objekts eine bestimmte Form der Intersubjektivität erforderlich ist. In seinen Vorlesungen über Zeit und Raum von 1907 betont Husserl aber, dass die Konstitution eines identischen Objekts notwendigerweise durch Körperbewegungen vermittelt sind (Husserl 1973: 176; vgl. Drummond 1979). Aus der Perspektive der biosemantischen Theorie hingegen wird die Selbigkeit des Objekts durch System-Komponenten (v.a. Konstanz-Mechanismen) garantiert, die Vollständigkeit des Objekts hingegen durch das kinästhetische Moment, durch die „Aneignung“. 934 Schapp 1976: 87-90. 479 Formulierungen sagt: „Der Fuchs im Laufen ruht, sofern er dieselbe Färbung behält.“935 Mit „dreht man den Gegenstand…“ verweist Schapp auf eine explorative Aneignung des Objekts. Das Objekt wird gedreht, wobei sich die Beleuchtungsfarbe verändert (es wird „hell, wo soeben Schatten war“), die anhaftende Farbe jedoch bleibt stabil. Auf diese Art und Weise wird der Unterschied zwischen beiden Farbarten durch explorative Aneignung des Objekts erworben.936 Welche Eignung wird am Objekt dabei praktisch-proaktiv angeeignet? Nun, seine Drehbarkeit für ein bestimmtes Lebewesen. Ein Objekt kann sich zur Drehung durch ein Lebewesen eignen oder nicht. Obwohl Schapp selbst im Verlauf seiner Erörterung immer wieder auf Tätigkeiten von Wahrnehmungssubjekten verweist, kommt er doch an einer zentralen Stelle zu dem folgenden Schluss: „Die Ordnung der Farbe — und in dieser Ordnung nimmt die anhaftende Farbe einen hervorragenden Platz ein — stellt Dinge dar, und die Dinge wieder, die durch diese Ordnung dargestellt werden, sind nur dadurch Dinge, dass sie an den Ideen teilnehmen.“937 Ohne Teilhabe an der Ordnung der Ideen sind Dinge keine Dinge. Erst die Ideen – und das bedeutet bei Schapp: die Begriffe938 – erlauben es, Dinge zu sehen: „Das sinnlich Gegebene wird durch die Idee hindurch wahrgenommen; damit steht das Ding als wahrgenommen vor uns.“939 Schapp schreibt dies in: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung. Der Titel lautet nicht: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung normaler, erwachsener Begriffsbenutzer. Auch bei ihm finden wir den Objektivismus, nämlich die Vermengung von Repräsentation von Objekten mit der Repräsentation von Bedingungen der Objektivität. Dies führt zu einer Überintellektualisierung, welche, wie gezeigt, auf den Ansatz bei der Innenperspektive zurückführbar ist. Verzichten wir also auf den Ansatz bei der Innenperspektive, nehmen wir die Tätigkeit des Lebewesens als Bestandteil der Wahrnehmung ernst. Wahrnehmungen sind Prozesse in der Welt als Tätigkeiten eines Lebewesens. Dagegen dürfen wir keinesfalls einwenden, wie etwa Wittgenstein dies getan hat, dass der Wahrnehmende nicht zur Wahrnehmung, der Sehende nicht zum Gesichtsfeld gehöre, denn wir haben bereits gezeigt, dass und inwiefern er dazugehört.940 Heidegger 1977: 249. Dabei betont Schapp jedoch auch, dass Beleuchtungseffekte für die Wahrnehmung eines Objekts spezifische Funktionen erfüllen können und nicht nur subtrahiert werden müssen: „Wir haben aber schon gesehen, wie wichtig sie [die Beleuchtungseffekte] sind, damit überhaupt Dinge in ihrer räumlichen Gestalt – und hier ist unter räumlicher Gestalt jede Erhöhung, Vertiefung, jede Krümmung, Schweifung, jede Beule, Blase mitverstanden – vor uns zu stehen kommen.“ (Schapp 1976: 91) 937 Schapp 1976: 98. 938 Vgl. Schapp 1976: 132: „…die Idee, der Begriff vom Dinge…“ 939 Schapp 1975: 132. 940 Vgl. dazu Wittgensteins Bemerkungen im TLP 5.633 (Wittgenstein 1984ff., Bd. 1); vgl. dazu Bermúdez 1998: 103ff. 935 936 480 Das Problem der Wahrnehmung eines vollständigen Objektes kann wie folgt formuliert werden: In meiner Erfahrung ist mir von einem Objekt stets nur die sichtbare Vorderseite als sinnlich bestimmte gegeben. Ich sehe nicht die Rückseite des Objekts oder jene Seite, mit der es fest auf einer Fläche steht. Wie kann man nun sagen, dass ich in meiner Erfahrung ein vollständiges Objekt wahrnehme? Aus der Innenperspektive lautet die offensichtliche Antwort, dass ich, das Subjekt der visuellen Erfahrung von der Welt, diese abgeschatteten Seiten941 des Objekts wahrnehme, insofern ich weiß, glaube, erwarte, imaginiere, schließe, annehme usw., dass das Objekt über abgeschattete Seiten verfügt. Bei diesen abgeschatteten Seiten handelt es sich um noch nicht sinnlich bestimmte (also um sinnlich unbestimmte) Aspekte des Objekts, von denen ich weiß, glaube, imaginiere, erwarte, schließe usw., dass sie so und so sinnlich bestimmt sind. Der Ansatz bei der Innenperspektive führt also nicht nur zu einer Überintellektualisierung der Wahrnehmung, indem kognitive Elemente wie Wissen, Glauben, Schließen usw. in sie eingebaut werden, sie führt auch zu der Auffassung, dass nur das sinnlich Bestimmte sichtbar ist. Demgegenüber hebt Merleau-Ponty hervor, dass das sinnlich Unbestimmte zur Wahrnehmung eines Objekts gehört. Für den Intellektualisten ist nicht bestimmt, was ich sehe, für Merleau-Ponty ist das, was ich sehe, auch unbestimmt.942 Aus diesem Grunde meint er, dass wir uns entschließen müssten, die Unbestimmtheit als positives Phänomen anzuerkennen. Zum Gesichtsfeld gehören also auch die abgeschattenen Seiten von Objekten, die unbestimmte Grenze des Gesichtsfelds und am Ende sogar das in unserem Rücken Gelegene. Ich habe bereits expliziert, wie man das im Rücken Gelegene und die Grenzen des Gesichtsfeldes als in der Wahrnehmung präsent verstehen kann. Inwiefern sind einem Lebewesen die abgeschatteten Seiten eines Objekts in der Wahrnehmung präsent? Der Grundgedanke nun von Merleau-Ponty,943 den ich hier aufnehmen möchte, ist der folgende: Zwar ist einem Wahrnehmungssubjekt ein Objekt immer nur aus einer Perspektive gegeben, was bedeutet, dass bestimmte Aspekte des Objekts abgeschattet sind. (Da es sich bei diesem Wahrnehmungssubjekt um ein Lebewesen handelt, das Objekte im Raum wahrnimmt, ist die Perspektivität der Wahrnehmung und ihr Korrelat, die Abschattung, nicht kontingent.) Dennoch ist das vollständige Objekt in der Wahrnehmung eines Lebewesens insofern präsent, und dies ist Merleau-Pontys Idee, als auch andere Perspektiven auf das Objekt zu der Wahrnehmung des Objekts durch das Lebewesen Das Objekt verfügt auch über ein abgeschattetes Innen, wie das Beispiel von Sellars zeigt, weil ich den roten, kühlen, weißen, saftigen Apfel sehe. Ich werde der Einfachheit halber das abgeschattete Innere beiseite lassen. 942 Vgl. Kelly 2005: 81. 943 In der Interpretation Merleau-Pontys folge ich Kelly 2005, 2007. 941 481 gehören. Inwiefern gehören diese anderen Perspektiven zu Wahrnehmung? Wir haben gesagt, dass die Wahrnehmung nicht Erfahrung von der Welt ist, sondern Tätigkeit eines Lebewesens in der Welt. Sehenitr ist wesentlich mit bestimmten Tätigkeiten eines Lebewesens verbunden, nämlich den Aneignungen. 944 Zu den verschiedenen Arten der Aneignung eines Objekts gehören explorative Aneignungen. Diese bestehen in der Einnahme einer richtigen Position durch ein bestimmtes Lebewesen relativ zu einem Objekt. Die Einnahme richtiger Positionen impliziert die Einnahme falscher Positionen. Diese richtigen und falschen Positionen sind nun natürlich nichts anderes als unterschiedliche Perspektiven auf ein Objekt. Auf der Ebene des MS besteht die aktive Fähigkeit der explorativen Aneignung darin, dass das Lebewesen bestimmte körperliche Haltungen zum Objekt einnimmt. Das Grauhörnchen, das auf der Veranda hin und her rennt, nimmt zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte Perspektive auf das Objekt (das Vogelhäuschen) ein, doch zu jedem Zeitpunkt ist das Grauhörnchen, solange es rennt, buchstäblich unterwegs zur nächsten Perspektive. Die je nächste Perspektive ist in der Wahrnehmung dadurch präsent, dass das Körperselbst des Tiers in der Wahrnehmung präsent ist. Die Wahrnehmung des Körpers (etwa der Gliedmaßen) als Invarianten im visuellen Feld ist mit der körperlichen Eigenwahrnehmung der Aktivität des Tiers korreliert. Weil also in der Wahrnehmung der aktive Körper des Wahrnehmenden präsent ist und weil der aktive Körper dem Wesen die Fähigkeit verschafft, unterschiedliche Perspektiven auf ein Objekt einzunehmen, deshalb sind in der notwendig perspektivischen Wahrnehmung eines Objekts auch andere Perspektiven auf dieses Objekt präsent. Das Stillhalten, Einhalten und das Fixieren oder Fokussieren des Objekts sind dabei, wie gesagt, kein Ende der Tätigkeit, sondern Bestandteil der Tätigkeit der explorativen Aneignung eines Objekts. Explorative Aneignungen betreffen, wie gesagt, nicht nur die tatsächliche Veränderung der Relation zwischen Lebewesen und Objekt (entweder, indem das Lebewesen seine Position oder die Position seiner Teile verändert, indem das Objekt seine Position oder die Position seiner Teile verändert, oder indem sich die Relation zwischen Lebewesen, Objekt und einem dritten Element verändert, wie etwa der Beleuchtung), sondern auch die aktive Fähigkeit, bestimmte explorative Aneignungen auszuführen. Zu dieser Aneignung des Objekts gehört also nicht allein die momentane Perspektive des Lebewesens auf das Objekt, sondern auch die anderen Perspektiven auf das Objekt, die das 944 Dies bedeutet natürlich nicht, dass Sehen mit bestimmten Tätigkeiten eines Lebewesens identisch wäre, itr wie Enaktivisten vom Schlage Alva Noës meinen (vgl. Noë 2003), da es erstens R-Vehikel involviert und mit diesen R-Vehikeln zweitens auch R-Inhalte, auf denen, nach der in Abschnitt 5.3.2. nahegelegten Idee, phänomenale Qualitäten supervenieren oder emergieren. 482 Lebewesen einzunehmen aktiv fähig ist. Die aktive Fähigkeit zur Aneignung eines Objekts reicht deshalb aus, um das vollständige Objekt zu sehenitr. Die aktive Fähigkeit zur explorativen Aneignung äußert sich in so und so vielen basalen, nicht-inferenziellen Reaktionen von S auf Empfindungszustände mit R-Inhalten, die besagen, dass etwas in der unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S ein vollständiges Objekt ist. In einem Prozess der tatsächlichen explorativen Aneignung wird das Objekt durch die bereits erwähnten Konstanz-Mechanismen stabil gehalten. Es erscheint als dasselbe vollständige Objekt auch aus verschiedenen Perspektiven, also einerseits durch die KonstanzMechanismen, andererseits jedoch durch die besondere Eignung, im Hinblick auf die das Objekt visuell exploriert wird. System-Komponenten wie die Konstanz-Mechanismen sorgen für Selbigkeit im visuellen Tracking, Tätigkeiten der Aneignung für Vollständigkeit. Das vollständige Objekt ist einem Lebewesen nicht in der Wahrnehmung präsent, insofern ihm die Summe aller möglichen Perspektiven auf das Objekt präsent ist, sondern es ist ihm präsent, insofern es richtige und falsche Positionen relativ zum Objekt – d.h. Perspektiven auf es – einnehmen kann. Das Objekt als vollständiges steht also unter der Norm richtiger Positionen relativ zu ihm. Richtige Positionen implizieren falsche Positionen. Falsche Positionen nimmt ein Lebewesen ein, während es dabei ist, sich ein Objekt explorativ anzueignen, und zwar mit dem Ziel der richtigen Position relativ zum Objekt. Eine richtige Position nimmt ein Lebewesen ein, das sich ein Objekt explorativ angeeignet hat und nun bereit ist zu einer praktischen Aneignung. Richtige Positionen kann ein Lebewesen einnehmen, das die aktive Fähigkeit hat, sich ein Objekt explorativ anzueignen. Das auf dem Verandageländer hin und her rennende Grauhörnchen nimmt falsche Positionen relativ zum Vogelhäuschen ein, bis es die richtige Position erreicht hat, nämlich die Position, von der aus es einen gangbaren Weg zum Vogelhäuschen sieht. Hat das Grauhörnchen die richtige Position gefunden (erfolgreiche explorative Aneignung) und den Weg begangen (erfolgreiche produktiv-proaktive Aneignung), wird es diesen Erfolg auch zu späteren Zeitpunkten wiederholen können. Es hat eine bestimmte aktive Fähigkeit erworben. Der bereits angeführte Phänomenologe Schapp beschreibt das Sehen eines Objekts (Dinges) aus phänomenologischer Perspektive auf eine eher dramatisch und metaphorisch anmutende Weise. Der Barwert dieser Beschreibungen besteht einfach in körperlichen Aktivitäten – und seien es nur Sakkaden, Betätigungen der Augenmuskulatur, wenn wir ein Objekt fixieren, Drehung der Augäpfel oder des Kopfes usw. – , die Schapp metaphorisiert. Schapp stellt sich jemanden vor, der mit geschlossenen Augen in einem Zimmer sitzt, plötzlich die Augen öffnet und etwas sieht. Zuerst erleidet das Ding quasi 483 vom „anprallenden Blick eine Erschütterung“; nach dessen Stillstand „leuchten rechts und links, vorn, hinten allmählich neue Gegenstände auf“; diese treten herein, fast wie jemand zur Tür eintritt; der Hauptgegenstand wird „ergriffen“, „angepackt“, ihn „meinen wir herausgreifend“, er ist gemeint usw.; die Nebengegenstände „werden leise berührt“; wir fassen den Gegenstand quasi an einer Stelle an und ziehen ihn zu uns heran; allerdings geschieht dieses „Einkrallen“ nur beim ersten Mal, dann „gleitet“ der Blick „allmählich weiter“; beim Weitergleiten kann man unterscheiden, „ob man am selben Gegenstand sich in dieser Weise entlang fühlt oder ob man von ihm zu einem nahe dabeistehenden überspringt“.945 Auf diese Weise ereignet sich Schapp zufolge phänomenologisch die Dingkonstitution in der visuellen Wahrnehmung. Es ist offensichtlich, dass der entscheidende Punkt dieser metaphorischen Beschreibung die Tätigkeit des Wahrnehmungssubjekts ist. Weiter betont Schapp die „Nebengegenstände“, d.h. die Rolle des Hintergrunds der Wahrnehmung eines Objekts. Auch Merleau-Ponty betont und dramatisiert die Wichtigkeit anderer Gegenstände als Hintergrund für die Wahrnehmung eines Dinges. So meint Merleau-Ponty an einer zentralen Stelle, dass ich die mir abgewandte Rückseite meiner Schreibtischlampe sozusagen aus der Perspektive des Kamins hinter der Lampe sehe, dem die Lampe ihren Rücken zeigt. Die Dinge bilden sozusagen einen Verweisungszusammenhang möglicher Perspektiven aufeinander, und ich sehe vollständige Objekte sozusagen mit den Augen der Dinge, die ich im Hintergrund als Nebengegenstände mitsehe. Nun ja, vielleicht sieht ja der Kamin die Rückseite der Lampe, wer weiß! Ich möchte freilich darauf verzichten, mich auch nur metaphorisch auf diesen Gedanken zu verpflichten. Beide Phänomenologen neigen m.E. dazu, den Hintergrund zu stark zu betonen. Wichtig ist allein, dass sich das Objekt vor einem Hintergrund visuell abhebt. Wie Dretske sagt: S siehttr D bedeutet: „D is visually differentiated from its immediate environment by S.“ Bei diesem Hintergrund, bei dieser Umgebung handelt es sich normalerweise um andere Objekte, aber dieser Umstand ist für das Sehen eines vollständigen Objekts nicht notwendig. Sofern ein Lebewesen aktiv ist oder über aktive Fähigkeiten verfügt, kann es ein vollständiges Objekt sehen, auch wenn es in einer Welt zu leben das Pech hat, in der es nur einen schwarzen Punkt auf einer unendlichen weißen Fläche gibt. Es ist nun diese aktive Fähigkeit, d.h. die körperliche Bereitschaft, mit einem Objekt auf bestimmte Weise umzugehen (nämlich in der Weise der explorativen oder praktischen Aneignung), die Merleau-Ponty „intentionnalité motrice“ nennt und als „une 945 1976: 67ff. 484 anticipation ou une saisie du résultat assuré par le corps lui-même“ charakterisiert.946 Während die explorative Aneignung konstitutiv dafür ist, dass einem Lebewesen in der Wahrnehmung das vollständige Objekt präsent ist (und nicht nur dessen Vorderseite usw.), sind die Formen praktischer Aneignung Echte Funktionen des MS, das als Konsument der durch das VS zur Verfügung gestellten R-Vehikel fungierten und ihre R-Inhalte als IRInhalte festlegt. Visuelle Spezialisten wie Springspinnen und Frösche verfügen primär über festgelegte Aneignungen für festgelegte Eignungen. Was visuelle Spezialisten sehenitr, ist eng umgrenzt. Der IR-Inhalt ihrer Wahrnehmungsempfindungen ist abhängig von angeborenen nicht-inferenziellen Reaktionen, die besagen, dass etwas in ihrer unmittelbaren Umgebung als so und so geeignet oder ungeeignet ist. Visuelle Generalisten wie Grauhörnchen oder Menschen hingegen verfügen sowohl über eine Bandbreite an Aneignungen als auch über eine Bandbreite von Eignungen. Was visuelle Supergeneralisten wie wir sehenitr können, ist mithin weit umgrenzt. Die IR-Inhalte unserer Wahrnehmungsempfindungen sind abhängig von erworbenen nicht-inferenziellen Reaktionen, die besagen, dass etwas in unserer unmittelbaren oder erweiterten Umgebung diese oder jene Eignung (derivativ: diese oder jene Attribute) hat. Ich habe bislang den Begriff der „Eignung“ unerklärt mitgeführt. Offenbar ist der Begriff wichtig. Zum Schluss von 5.3.3. will ich diesen Begriff erläutern und zumindest andeuten, inwiefern ich ihn als Gegensatzbegriff zu jenem des Attributs verstehe. 5.3.3.3. Eignungen Millikan unterscheidet, wie wir in 5.1.2. gesehen haben, indikative Repräsentationen, imperative Repräsentationen und Pushmi-pullyu-Repräsentation (PPR). PPRs enthalten sowohl imperative als auch indikative Elemente. Millikan hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Gibsons „affordances“ durch PPRs repräsentiert werden947 und akzeptiert Gibsons Konzept der „affordance“.948 Dass Wahrnehmungen zunächst Wahrnehmungen von „affordances“ sind, treffe nicht nur auf nicht-menschliche Tiere zu, sondern auch auf Menschen.949 Gibson zufolge besteht etwa visuelle Wahrnehmung zunächst in der Aufnahme von (je nach Lebensform) bestimmten Mustern umliegender Lichtenergie, die auf die Merleau-Ponty 1945: 128. „[H]is notion that in perception we perceive certain affordances (opportunities for action) suggests that perceptual representations are PPRs.“ (LBM: 174f.) 948 „I agree with Gibson that basic perception is perception for action, indeed, that it is perception of affordances.“ (Millikan 2006b: 101) 949 „Gibson told us that we perceive apples as affording eating and post boxes as affording letter-mailing (1979, p. 139). This may well be so most of the time for people, and perhaps all of the time for most animals.“ (VM: 177; vgl. Millikan 2006b: 101) 946 947 485 Sinnesorgane von Lebewesen auftreffen und diese so direkt zu bestimmten Verhaltensweisen veranlasse. Was dabei wahrgenommen wird, sind „affordances“. Dabei handelt es sich um Aspekte der Umwelt, die einem Lebewesen Verhaltensweisen gleichsam darbieten, wie etwa begehen, erklettern, durchschlüpfen, hineinschlüpfen, jagen, fliegen, ducken, packen, werfen usw. Gibson spricht in einer etwas künstlich anmutenden Sprache davon, dass Lebewesen „Begehbares“, „Durchschlüpfbares“, „Erkletterbares“, „Jagdbares“, „Packbares“, „Werfbares“ usw. wahrnehmen. Das so Wahrgenommene eignet sich oder eignet sich nicht für die Ausführung bestimmter Verhaltensweisen oder Handlungen, es ist dafür geeignet oder ungeeignet. Aus diesem Grunde werde ich „affordances“ als „Eignungen“ übersetzen. Ich unterscheide in Analogie zu meiner Diskussion der Aneignung aktive und passive Eignungen. Manche Dinge sind Anlass dafür, dass ein Lebewesen etwas mit ihnen oder gegen sie tut, dass sie ein Lebewesen zum Ziel hat. Aktive Eignungen betreffen sozusagen Tubares. Diese Eignungen sind Gegenstand explorativer oder praktisch-proaktiver Aneignungen. Andere Dinge sind Anlass dafür, dass ein Lebewesen ihnen ausweicht oder sie sich ereignen sieht. Sie stoßen dem Lebewesen oder seiner Umgebung zu. Passive Eignungen sind sozusagen Geschehbares. Sie sind Gegenstand explorativer oder praktisch-prohibitiver Aneignungen. Es ist nun erstens wichtig zu betonen, dass es sich bei Eignungen nicht um Qualitäten handelt, die einem Objekt von den Bedürfnissen oder von den Wahrnehmungen eines Lebewesens übergestülpt werden. Eignungen sind keine Projektionen auf Objekte, sondern Objekte haben Eignungen unabhängig davon, ob sie wahrgenommen werden oder ob Lebewesen bestimmte Bedürfnisse haben.950 Ob ein bestimmtes Objekt für ein Lebewesen greifbar ist oder nicht, hängt sowohl von objektiven Eigenschaften des Objekts ab (etwa seiner Größe) als auch von Eigenschaften des Lebewesens (etwa der Spanne seiner Hand). Genauer gesagt geht es um Relationen zwischen Fähigkeiten von Lebewesen und Eigenschaften von Objekten. Zweitens ist es wichtig zu betonen, dass Eignungen zwar objektiv auf Eigenschaften von Objekten basieren, dass jedoch Eignungen nicht als Eigenschaften von Objekten wahrgenommen werden. Ich möchte also einen Unterschied machen zwischen der Wahrnehmung von Eigenschaften als Eigenschaften eines Objekts und von Eigenschaften als Eignungen eines Objekts. Um terminologisch kein Durcheinander anzurichten, habe ich für das Erfassen von objektiven Eigenschaften als solchen bereits den Ausdruck „Attribut“ eingeführt und sie von der Erfassung objektiver Eigenschaften als Eignungen abgesetzt. Die Eigenschaften eines Objekts o verursachen Wahrnehmungsempfindungen, die von einem 950 Vgl. Gibson 1979: 139. 486 Lebewesen entweder als Eignungen von o oder als Attribute von o repräsentiert werden. Da die perzeptive Repräsentation von Objekten mit Eignungen basal ist, muss die perzeptive Repräsentation von Objekten mit Attributen derivativ sein. Was sind nun Eignungen eines Objekts?951 Eignungen sind Dispositionen. Eine Eignung E ist die Disposition eines Objekts o zu einem Zeitpunkt t relativ zu einem Lebewesen L mit der aktiven Fähigkeit F unter den Bedingungen B. Die Manifestation einer Eignung involviert also eine Relation zwischen den Dispositionen eines Objekts und einem Lebewesen. Während das Objekt über bestimmte Eigenschaften verfügen muss, die objektive Voraussetzung dafür sind, dass es bestimmte Eignungen haben kann, muss das Lebewesen über aktive Fähigkeiten (nicht nur über passive Fähigkeiten oder Vermögen; 5.3.1.2.) verfügen (5.3.1.3.), um bestimmte Aneignungen auszuführen. In dem oben eingeführten Beispiel: Das Grauhörnchen (L) sieht zum Zeitpunkt t das Gitter der Verandatür (o) als bespringbar (E). Zum Zeitpunkt t muss das Grauhörnchen über die aktive Fähigkeit (F) verfügen, Objekte zu bespringen. Die Bedingungen B können im Hinblick auf L als Normale Bedingungen für die Ausübung von F betrachtet werden, d.h. als Bedingungen, die für die historisch erfolgreiche Ausübung von F vorliegen mussten (1.1.4.). So darf L z.B. nicht schwer verletzt, altersschwach oder intoxiniert sein usw. Vermutlich wird man von F eine gewisse Zuverlässigkeit in der Ausübung erwarten dürfen. Wenn also ein Lebewesen L zum Zeitpunkt t unter den Bedingungen B über die zuverlässige aktive Fähigkeit F verfügt und mittels F in eine Relation zu einem Objekt o treten kann, die o wesentlich involviert, dann ist o ein Träger einer Eignung E relativ zu L in B. Objekt o ist Träger einer aktiven Eignung, wenn L in eine Relation zu o treten kann, die o als Ziel einer praktisch-proaktiven Aneignung involviert. Objekt o ist Träger einer passiven Eignung, wenn L in eine Relation zu o treten kann, die o als Ziel praktischprohibitiven Aneignung mittels F involviert. Wahrnehmungen im primären Sinne involvieren, wie wir gesehen haben, behaviorale (körperliche) Aneignungen. Solche körperlichen Aneignungen können entweder basal oder non-basal sein. Eine basale behaviorale Aneignung ist ein Verhalten eines Lebewesens, das die Beschreibung sowohl seiner aktiven Bewegungen als auch seiner aktiven Nicht-Bewegungen (Innehalten, Stillhalten usw.) umfasst. Das Bespringen des Verandagitters durch das Grauhörnchen ist ein bewegtes Beispiel dafür, das Innehalten eines Raubtiers ein unbewegtes Beispiel. Eine non-basale behaviorale Aneignung ist ein Verhalten eines Lebewesens, das die Beschreibung des Ziels sowohl einer aktiven Bewegungen als auch seiner aktiven Nicht-Bewegungen (Innehalten, Stillhalten usw.) 951 Ich folge hier weitgehend dem Vorschlag von Scarantino 2003. 487 umfasst. Das Streben nach dem Futter im Vogelhäuschen durch das Grauhörnchen ist hierfür ein Beispiel, ebenso das Anschleichen an Jagdbeute. Auch nicht-menschliche Tiere tätigen solche Aneignungen. So kann ein Fußballstürmer gegen einen Ball treten und eben dadurch versuchen, ein Tor zu erzielen. Der Stürmer nimmt (unter den Bedingungen B zum Zeitpunkt t) den Ball als tretbar und das Tor als erreichbar wahr. Der Ball hat die Eignung der Tretbarkeit, das Tor die Eignung der Erreichbarkeit. Ersteres entspricht einer basalen, Letzteres einer nicht-basalen körperlichen Aneignung. Allerdings führen vor allem Lebewesen unserer Lebensform nicht nur körperliches Verhalten aus, sondern auch mentales Verhalten. Das Fassen von Gedanken und Entschlüssen, das Verbinden von Gedanken oder von Gedanken und Absichten usw. sind Aktivitäten von Denkern. Deshalb kann man von mentalem Verhalten sprechen. Auch hier kann man zwischen basalen mentalen und non-basalen Aneignungen unterscheiden. Eine mentale Aneignung ist ein Verhalten eines Lebewesens, dass die Beschreibung seiner geistigen Aktivitäten umfasst. Basale mentale Aneignungen bestehen für Wesen unserer Art paradigmatisch darin, Eignungen unter begriffliche Bestimmungen oder Beschreibungen zu bringen, non-basale mentale Aneignung bestehen für Wesen unserer Art paradigmatisch darin, aus solchen Bestimmungen oder Beschreibungen Schlüsse zu ziehen. Die begriffliche Erfassung von Eignungen (etwa durch Urteile oder Aussagen mit propositionaler Struktur oder durch die Anwendung eines begrifflichen Vorstellungsbildes) führt dazu, dass eine Eigenschaft eines Objekts mit einer Eignung nicht mehr als Eignung, sondern als Attribut betrachtet wird. So kann der Stürmer sein Treten nach dem Ball und das damit bezweckte Erreichen des Tors begrifflich als Erzielen eines Führungstors erfassen. Das eintretende Ereignis hat das Attribut ein Führungstor zu sein. Steht das Spiel nun kurz vor dem Abpfiff, so hat der Stürmer Grund zur Annahme, dass mit einem Führungstor der Sieg gewiss ist. Das Attribut des Ereignisses, ein Führungstor zu sein, wird zur Prämisse für den Schluss, dass damit der Sieg errungen ist. Ersteres ist ein basale und Letzteres eine nonbasale mentale Aneignung. Die Unterscheidung zwischen Objekten mit Eignungen und solchen mit Attributen entspricht der Unterscheidung die Heidegger in Sein und Zeit zwischen Zuhandenem und Vorhandenem trifft. Paradigmatisch Vorhandenes ist für Heidegger das Zeug, Objekte mithin, die unter kulturelle funktionale normative Kategorien fallen (3.2.6.). Zeug hat wesentlich Eignungen zu etwas für Lebewesen unserer Art. Doch auch Naturobjekte begegnen uns Heidegger zufolge zunächst als Zuhandenes, also als geeignet oder ungeeignet für etwas.952 Seiendes von der Seinsart des Zuhandenen hat für Lebewesen 952 Vgl. dazu Heidegger 1993: 70f. und Wild 2008b: 102ff. 488 Eignungen. Werden Eignungen zu Gegenständen von Urteilen oder Aussagen, so erhalten sie damit die Seinsart des Vorhandenen. Mithilfe prädikativer oder attributiver Urteile und Aussagen erfasst ein Lebewesen die Eigenschaften von Objekten nicht als Eignungen für etwas, sondern als Eigenschaften des Objektes selbst. Die Idee eines Objekts selbst mit nur ihm zugehörigen Eigenschaften ist abhängig von der Fähigkeit eines Lebewesens, Urteile zu fällen oder etwas auszusagen. Eigenschaften von Objekten werden als Attribute erfasst, wenn sie Gegenstand attributiver Aussagen oder begrifflicher Urteile werden. Objekte mit Eignungen haben die Seinsart des Zuhandenen, Objekte mit Attributen haben die Seinsart des Vorhandenen. Lebewesen begegnen in ihrer Umwelt zuerst immer Objekte mit Eignungen, denen gegenüber sie sich aneignend verhalten. Das Erfassen von Objekten mit Attributen ist sowohl abhängig von höheren kognitiven Fähigkeiten und sprachlichem Zeug als auch von der vorherigen Aneignung von Objekten als geeignet oder ungeeignet. Aus diesem Grunde sind Attribute Eignungen gegenüber derivativ. 5.3.4. Natürliche und erworbene Wahrnehmung 5.3.4.1. Reids semiotischer Realismus Reids Theorie biosemantischen Empfindungen der Wahrnehmung Theorie der in der weist einige Wahrnehmung Wahrnehmung als Übereinstimmungen auf.953 Da Zeichen Reid mit der behauptet, dass fungieren, wurde seine Wahrnehmungstheorie mit der glücklich gewählten Bezeichnung „semiotischer Realismus“ bedacht.954 Diese Bezeichnung hebt nicht nur die Rolle von Zeichen und von Zeichenprozessen in Reids Wahrnehmungstheorie hervor, sie ersetzt zugleich die, wie wir gleich sehen werden, unangemessene Beschreibung Reids als „direkter Realist“. Und sie erlaubt es uns schließlich, auch Reids Theorie der Wahrnehmung als Beitrag zu einer Semiotik zu verstehen, die wesentlich auf einem Peirceschen Zeichenbegriff beruht (1.2.2., 1.2.4.). Freilich fehlen bei Reid im Gegensatz zur Biosemantik sowohl die behaviorale als auch die naturalistische Komponente, sodass er natürlich weder einen semiotischen Behaviorismus noch einen Biologischen Naturalismus vertritt. Ich werde zunächst einige Aspekte von Reids Theorie skizzieren und auf Übereinstimmungen zwischen ihm und der 953 Reids Wahrnehmungstheorie hat in jüngster Zeit einiges an Aufmerksamkeit auf sich gezogen, vgl. Alston 1989, de Bary 2001, DeRose 1989, Buras 2008, Copenhaver 2004 & 2006, Haag und Wild 2010, Nichols 2002, Pappas 1989, Staudacher 2008, Van Cleve 2004, Wolterstorff 2001 954 Vgl. Staudacher 2008. 489 Biosemantik hinweisen. Im Anschluss daran möchte ich mir Reids wichtige Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung zu Nutze machen. Reids Theorie wird häufig als eine Form des direkten Realismus betrachtet. Allerdings wird der direkte Realismus ebenso häufig so verstanden, dass zwischen dem Akt der Wahrnehmung einerseits und dem externen, realen Objekt, auf das sich die Wahrnehmung bezieht, andererseits keine Vermittler angenommen werden dürfen. Nun spielen in Reids Ausführungen über das Wahrnehmen jedoch Empfindungen (sensations) und Zeichen (signs oder indicators) eine tragende Rolle und diese scheinen eine Art Vermittler zu sein. Muss dies nicht zwangsläufig zu Spannungen im Ansatz führen? Schauen wir genauer hin! Laut Reid treffen Eindrücke (impressions) auf unsere Sinnesorgane auf, die Empfindungen (sensations) im Lebewesen erzeugen, die wiederum als Zeichen (signs) für das Lebewesen fungieren, indem sie dem Lebewesen unmittelbar (d.h. nicht-inferenziell und ohne dem Lebewesen bewusste Vermittlungsinstanz) eine Konzeption (conception), einen Begriff (notion), ein Bild (image) eines materiellen Objekts und seiner Qualitäten vorschlagen (suggest),955 was mit einer instinktiven Überzeugung (conviction, belief) der realen Existenz dieses materiellen Objekts einhergeht. Empfindungen (sensations) sind selbst noch keine Wahrnehmungen (perceptions).956 Erst durch Konzeptionen, Begriffe, Bilder usw. interpretierte Empfindungen sind Wahrnehmungen von Objekten mit Qualitäten. Empfindungen sind also Zeichen, die dem Lebewesen Wahrnehmungen vorschlagen (suggest) und materielle Objekte und deren Qualitäten bezeichnen (signify). Empfindungen sind nur dann Zeichen, wenn sie vom Lebewesen als solche interpretiert werden (interpreted), sie bezeichnen für sich genommen nichts. Ohne Vorschlag (suggestion) keine Bezeichnung (signification). Keith DeRose hat diesen Aspekt von Reids Theorie als „antisensationalism“ bezeichnet.957 Dieser Anti-Sensationalismus besteht in der Leugnung, dass es zwischen Empfindungen und den sie verursachenden Objekten intentionale oder repräsentationale Relationen der Art gibt, dass diese Relation durch die intrinsischen Eigenschaften entweder der Empfindung oder des Objekts festgelegt würde. Daraus ergibt sich auch, dass Empfindungen für sich genommen keine Basis für Inferenzen bilden können. Zur Einführung der „natural suggestions“ vgl. Reid 1997: 38. Die Einführung des Zeichenbegriffs, den Reid von Berkeley übernimmt, rechtfertigt er wie folgt: „And because the mind passes immediately from the sensation to that conception and belief of the object which we have in perception, in the same manner as it passes from signs to things signified by them, we have therefore called our sensations signs of external objects.“ (Reid 1997: 117) Zu den anderen Elementen der Wahrnehmung vgl. Reid 1983: 258 957 Vgl. DeRose 1989. 955 956 490 Jetzt dürfte auch deutlich geworden sein, warum Reids Theorie semiotisch ist. Der Semiotik zufolge hat ein Zeichen einen Inhalt, wenn es sowohl einen Interpretanten als auch eine Signifikation hat. Reid spricht davon, dass Empfindungen Zeichen (signs) von materiellen Objekten und deren Qualitäten sind, dass sie solche Objekte bezeichnen (signify) und dass sie interpretiert (interpreted) werden, und zwar sind sie Zeichen, die etwas bezeichnen, nur sofern sie interpretiert werden.958 Nun könnte es scheinen, dass Reids Theorie eine Spannung aufweist. Sollte denn der semiotische Aspekt nicht so verstanden werden, dass Empfindungen Informationen über Objekte tragen (dies entspricht der Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem) und dass in der Wahrnehmung dann Begriffe auf diese Empfindungen angewendet werden, um diese Informationen zu extrahieren (dies entspricht der Relation zwischen Interpretant und Bezeichnetem)? Doch dann scheinen Empfindungen als solche ja intentionale Relationen zu Objekten zu unterhalten und als Vermittler zwischen Wahrnehmung und Objekt zu fungieren. Inwiefern berechtigt dies dann noch zur Zuschreibung eines direkten Realismus, demzufolge wir direkten Zugang (im Sinne der „acquaintance“) und nicht vermittelten Zugang (im Sinne der „description“) zu externen Objekten haben sollen? Wenn Empfindungen intentionale Zeichen externer Objekte sind und wenn wir in der Wahrnehmung Begriffe für externe Objekte zur Anwendung bringen, dann repräsentiert eine Wahrnehmung ein und dasselbe Objekt gleich doppelt, nämlich einmal durch die Empfindung (Zeichen für…) und einmal durch die Wahrnehmung (Begriff für…).959 Sehen wir also stets vermittelt und dann auch noch doppelt? Nun ist Reid sicher der Auffassung, dass Empfindungen (via Eindrücke) von Objekten verursacht werden. Aber dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass Empfindungen als solche von etwas, etwa von den sie verursachenden Objekten, handeln. Reid ist im Gegenteil geradezu erpicht darauf, kausale Relationen von der Wahrnehmung fern zu halten.960 In biosemantischen Ausdrücken: Empfindungen sind R-Vehikel, die mit bestimmten externen Strukturen isomorph sind und so einen R-Inhalt haben, doch RInhalte sind keine intentionalen Inhalte. Erst die Verwendung der Vehikel durch einen Konsumenten legt einen bestimmten Inhalt fest und verleiht ihnen so einen IR-Inhalt. Für „signify“ und „interpet“ vgl. Reid, 1997: 63, 190, 198. Vgl. Wolterstorff 2001. 960 „When we say that one being acts upon another, we mean that some power or force is exerted by the agent, which produces, or has a tendency to produce, a change in the things acted upon. If this be the meaning of the phrase, as I conceive it is, there appears no reason for asserting that, in perception, either the object acts upon the mind or the mind upon the object.“ (Reid 1983: 301) „[W]hen I say that the one suggests the other, I mean not to explain the manner of their connection, but to express a fact, which everyone may be conscious of – namely, that, by a law of our nature, such a conception and belief constantly and immediately follow the sensation.“ (Reid 1997: 74) 958 959 491 Ohne K-Mechanismus haben die durch einen P-Mechanismus hervorgebrachten R-Vehikel keinen IR-Inhalt. Ganz analog Reids Auffassung: Empfindungen sind Zeichen (signs), insofern sie dem Lebewesen eine Konzeption, einen Begriff, ein Bild usw. vorschlagen (suggest), und nur als solche bezeichnen (signify) sie externe Objekte und deren Qualitäten. Wahrnehmungen involvieren also Empfindungen, die durch Objekte verursacht sind, aber Empfindungen unterhalten für sich genommen keine intentionalen Relationen zu den sie verursachenden Objekten. Aus diesem Grunde gibt es keine doppelte Repräsentation ein und desselben Objekts in der Wahrnehmung. Empfindungen sind auch nicht die direkten Objekte der Wahrnehmung, sondern werden von wahrnehmungsfähigen Lebewesen als Zeichen für Objekte der Wahrnehmung gebraucht. Die Empfindungen sind transparent. Dies bedeutet keinesfalls, dass Empfindungen notwendig transparent sind. Sie sind lediglich in dem schwachen Sinne transparent (5.1.3.4.), dass wir normalerweise (im biologisch-normativen Sinne von „normal“) unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Empfindungen richten und dies auch nur mit einiger Übung vermögen.961 Wahrnehmung ist also ein Prozess in der Welt und als solcher in der Tat vermittelt. In diesem Prozess (und als ein solcher betrachtet sie auch Reid) sind zahlreiche physikalische und biologische Entitäten involviert, insbesondere durch PMechanismen mit Echten Funktionen hervorgebrachte R-Vehikel. Doch der Umstand, dass der Wahrnehmungsprozess solche Entitäten involviert, bedeutet nicht, dass die Wahrnehmung von materiellen Objekten indirekt ist. Bedeutet dies, dass die Wahrnehmung von materiellen Objekten direkt ist? Man kann argumentieren, dass Ried uns einzusehen lehrt, dass ein direkter Realismus nicht inkompatibel ist mit der Existenz vermittelnder Entitäten.962 Reid ist kein direkter Realist im Sinne einer kausalen Direktheit, sondern im Sinne einer intentionalen oder epistemischen Direktheit: Wahrnehmungen handeln direkt von externen Objekten und ihren Qualitäten, Wahrnehmungen liefern uns unter gewissen Bedingungen direktes Wissen von externen Objekten und ihren Qualitäten. Die zentrale Stellung von Zeichen und Interpretationen bei Reid ist deshalb kompatibel mit der Zuschreibung eines direkten Realismus. Es gibt im semiotischen Realismus keinen Riss. 961 Die Verwendung von Empfindungen als Zeichen ist im Großen und Ganzen entweder angeboren oder automatisiert, so dass sich Lebewesen ihrer nicht bewusst sind. Einige dieser Vorgänge lassen sich jedoch durch Übung wieder in das Bewusstsein rufen und von der intentionalen Ausrichtung der Wahrnehmung auf externe Objekte ablösen. Reid 1997: 82f. führt dies am Beispiel eines Malers aus, der durch Übung diese Abtrennung erlernt hat. 962 Vgl. Copenhaver 2006: 5: „Reid’s direct realism reveals something important about direct realism quite generally. Namely, mediation tout court is irrelevant to whether perception is direct. After all, all sorts of things mediate perceptual experience: photons, sensory organs, nerve impulses, etc. It is only mediation of a particular sort that sacrifices directness. If the mediating entity (be it mental or extra-mental) is such that one must bear some cognitive relation to it (be it thought-like or experiential) which relation provides information necessary for getting a separate object or property in mind, then the process sacrifices directness. But sensations do not function this way for Reid.“ 492 Man kann auch zu der Ansicht gelangen, dass Reid die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Wahrnehmung obsolet macht.963 Für den klassischen indirekten Realisten sind Sinnesdaten (oder dergleichen) direkte Objekte der Wahrnehmung. Materielle Objekte werden indirekt wahrgenommen, weil sie aus den direkten Objekten der Wahrnehmung (unter einen Begriff gebracht) erschlossen werden. Für den klassischen direkten Realisten sind präsente materielle Objekte und ihre wahrnehmungsfähigen Qualitäten die direkten Objekte der Wahrnehmung. Was wird demgegenüber nur indirekt wahrgenommen? Drei Antworten bieten sich an: (i) Einem Lebewesen nicht präsente, materielle Objekte werden indirekt wahrgenommen, weil sie aus den direkten Objekten der Wahrnehmung (unter einen Begriff gebracht) erschlossen werden. (ii) Ebenso kann ein Lebewesen nur die relativ zu einem seiner Wahrnehmungsvermögen genuin wahrnehmbaren Eigenschaften wahrnehmen. Andere Eigenschaften, die in einer Sinnesmodalität auftauchen, werden nur indirekt gesehen, sie werden erschlossen. (iii) Schließlich gibt es auch Eigenschaften von präsenten Objekten, die nicht wirklich wahrgenommen werden können, sondern aufgrund der Erscheinung des wahrgenommenen Objektes (unter einen Begriff gebracht) erschlossen werden. Reid bestreitet jedoch ausdrücklich, dass Fälle wie (ii) und (iii) Fälle indirekter, d.h. Inferenzen involvierender Wahrnehmung sind. Wir können eine nasse Straße oder die Flexibilität eines Astes sehen, auch wenn Nässe oder Biegsamkeit keine genuin visuell wahrnehmbaren Eigenschaften sind. Dies sei gegen (ii) vorgebracht. Gegen (iii) führt Reid an, dass z.B. ein erfahrener Metzger das Gewicht eines Lammes oder ein Seemann die Bauart eines weit entfernten Schiffes sehen kann, ohne dass Inferenzen involviert wären. Der erste Punkt (i) wird von Reid nicht bestritten, im Gegenteil besteht er darauf, dass Wahrnehmungen mit der Überzeugung (conviction, belief) einhergehen, dass sie von externen, realen Objekten handeln. Doch dies schließt nicht zwingend ein, dass sie von präsenten und existierenden externen, realen Objekten handeln müssen! Gegen (i) kann man nämlich anführen, dass man in Filmen und auf Fotos auch nicht gegenwärtige Objekte sehen kann, ohne dass Inferenzen involviert wären – ja diese Objekte müssen zum Zeitpunkt ihrer Wahrnehmung nicht einmal existieren (5.3.5.). Reid und die Biosemantik weisen also beide Unterscheidungen zwischen direkt und indirekt zurück, d.h. sowohl jene des indirekten wie auch jene des direkten Realisten.964 Der Grund für die Zurückweisung scheint mir in beiden Fällen darin zu liegen, dass sowohl Reid als auch Millikan die Wahrnehmung nicht primär als Erfahrung von der Welt Vgl. VM: IX. Dies scheint mir der eigentliche Grund dafür zu sein, dass es anhaltend unklar ist, ob man Reid als direkten Realisten klassifizieren soll und, wenn ja, als welche Art direkten Realisten. 963 964 493 betrachten, sondern als einen Prozess in der Welt. Reids Opposition gegenüber seinen ideentheoretischen Vorgängern besteht also weniger darin, dass er im Unterschied zu ihnen ein direkter Realist wäre oder dass er ein Anti-Repräsentationalist wäre, sondern vielmehr darin, dass seine Vorgänger Wahrnehmung philosophisch als Erfahrung von der Welt auffassen und nur naturwissenschaftlich als Prozess in der Welt.965 Den semiotischen Grundgedanken, dass Empfindungen Zeichen sind, die uns etwas vorschlagen und dadurch Objekte bezeichnen, übernimmt Reid aus Berkeleys Analogie zwischen Worten oder Buchstaben und Zeichen. Reid zufolge richten wir beim Lesen oder Hören unsere Aufmerksamkeit jedoch nicht auf die Worte (die Vehikel), sondern auf deren Bedeutung (den IR-Inhalt).966 Wir erfassen diese Bedeutung auch nicht indirekt, indem wir sie aus den Worten erschließen, sondern mit den Worten erfassen wir die Bedeutung. Analog verhält es sich in der Wahrnehmung: Wir richten unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Empfindungen (die Vehikel), sondern auf das von ihnen bezeichnete Objekt (den IR-Inhalt). Wir erfassen das bezeichnete Objekt auch nicht indirekt, indem wir es uns aus den Empfindungen erschließen, sondern mit den Empfindungen nehmen wir die bezeichneten Objekte selbst wahr. Als was wir die Objekte wahrnehmen, hängt jedoch, Reid zufolge, von der Interpretation dieser Zeichen durch Konzeptionen, Begriffe und Bilder ab. Wie wir gesehen haben, beruht die natürliche Wahrnehmung aber zuerst auf der Tätigkeit von Lebewesen. Diese Tätigkeit besteht in Formen der Aneignung. Gegenstand der Aneignung sind Objekte mit Eignungen. Dies verleiht natürlichen Wahrnehmungen einen behavioralen NBI. Bilder, Konzeptionen, Begriffe usw. kommen später. 5.3.4.2. Natürliche und erworbene Wahrnehmung Reid zufolge haben wir (und andere Tiere) zwei Arten von Wahrnehmungen, nämlich natürliche (natural and original) und erworbene (acquired). Letztere sind die Frucht der Erfahrung.967 Unter die natürlichen Wahrnehmungen fallen beispielsweise „the perception which I have by touch, the hardness and softness of bodies, of their extension, figure, Hinweise dafür geben nicht nur Reids Beschäftigung mit Aristoteles und seine Forderung einer gewissen Nähe zwischen Philosophie und Naturwissenschaften, sondern v.a. sein Ansatz beim Commonsense. 966 „The sensations of smell, taste, sound and color, are of infinitely more importance as signs or indications, than they are upon their own account; like the words of a language, wherein we do not attend to the sound but the sense.“ (Reid 1997: 43). Dasselbe lautet ohne die Analogie wie folgt: „The feelings of touch, which suggest primary qualities, have no names, nor are they ever reflected upon. They pass through the mind instantaneously, and serve only to introduce the notion and belief of external things, which by our constitution, are connected with them. They are natural signs, and the mind immediately passes to the thing signified, without making the least reflection upon the sign, or observing that there was any such thing.“ (Reid 1997: 63). 967 Vgl. Reid 1997: 171. 965 494 motion“.968 Natürlich meint Reid mit natürlichen Wahrnehmungen nicht die Empfindungen selbst, sondern die Tatsache, dass Empfindungen von einem Lebewesen von Natur aus als Zeichen für bestimmte Qualitäten aufgefasst werden. Unsere natürlichen Wahrnehmungen etwa beruhen auf bestimmten Prinzipien der menschlichen ersten Natur.969 Für Reid sind Empfindungen nicht deswegen Zeichen, weil sie aufgrund ihrer kausalen Relation zu externen Objekten und deren Qualitäten oder weil sie aufgrund ihrer intrinsischen Eigenschaften Informationen über diese Objekte und Qualitäten tragen, sondern weil die Natur bestimmte Empfindungen so mit Konzeptionen, Begriffen, Bildern usw. verbunden hat, dass aufgrund dieser Verbindung Empfindungen die Qualitäten externer Objekte bezeichnen. Reid vertritt also weder eine kausale oder informationale noch eine magische Zeichentheorie.970 Doch was bedeutet es, dass die Natur dafür gesorgt haben soll, dass Empfindungen etwas für uns bezeichnen? Beispiele für natürliche Zeichen sind Rauch oder Gesichtsausdrücke. Wo Feuer ist, da ist auch Rauch, also ist Rauch ein Zeichen für Feuer. Bestimmte Gesichtsausdrücke sind für alle Menschen Ausdruck von bestimmten Basisemotionen wie Ekel, Trauer, Wut, Freude, Überraschung oder Furcht. Also sind bestimmte Gesichtsausdrücke Zeichen für Ekel usw. Dass es sich bei Rauch oder Gesichtsausdrücken um natürliche Zeichen handelt, hat nun weniger mit Prinzipien im Sinne moderner Naturgesetze zu tun, sondern mit Prinzipien, die für einen eingeschränkten Bereich gelten. Menschen fassen Rauch als Zeichen für Feuer auf und Menschen fassen bestimmte Gesichtsausdrücke als Zeichen für Freude auf. Sie täuschen sich beispielsweise, wenn sie ähnliche Gesichtsausdrücke bei Schimpansen als Zeichen für Freude sehen, weil Schimpansen, die für uns fröhlich aussehen, wütend sind. Was als natürliches Zeichen gilt, hat also nicht in erster Linie mit der physikalischen Beschaffenheit des Universums zu tun, sondern mit der Beschaffenheit unterschiedlicher biologischer Lebensformen.971 Wie Rebecca Copenhaver es ausdrückt: „Aliens without heads from an ice world would have no reason to connect smoke or a grimace with fire or fear. […] In order for Reid’s natural signs to indicate as Ibid. „Our original perceptions must be resolved into particular principles of the human constitution. [It is] by one particular principle of our constitution, that a certain sensation signifies hardness in the body which I handle; and it is by another particular principle, that a certain sensation signifies motion in that body.“ (Reid 1997: 191) „Nature has established a real connection between these signs…and nature hath taught us the interpretation of these signs; so that previous to experience, the sign suggests the thing signified.“ (Reid 1997: 190) 970 Der Ausdruck „magische Zeichentheorie“ stammt von Hilary Putnam. Putnam stellt sich vor, dass sich eine Ameise so im Sand bewegt, dass ihre Laufspur einem Bildnis von Winston Churchill gleicht. Doch dabei handelt es sich nicht um ein Bildnis von Churchill. Entscheidend ist hier nicht, dass die Ameise keine Absicht hat, Churchill zu zeichnen, sondern dass die Sandspur für sich genommen nicht dafür zuständig sein kann, dass sie etwas repräsentiert. 971 Vgl. dazu die Diskussion um die Frage, ob es in der Evolutionsbiologie Naturgesetze gibt in 2.3. 968 969 495 they do, there must be natural laws connecting them with what they signify and persons subject to those laws.“972 Reid glaubt, dass diese Prinzipien der menschlichen Natur nur empirisch aufgefunden werden können, denn nichts an den Empfindungen für sich genommen zeigt uns, dass sie von bestimmten Objekten und deren Qualitäten handeln.973 Er ist nicht der Auffassung, dass diese Prinzipien einen empirischen Ursprung haben. Denn die Prinzipien oder „Gesetze“ der natürlichen Wahrnehmung für eine bestimmte Lebensform hat Gott erlassen. Natürliche Zeichen sind sozusagen die Konventionen Gottes, künstliche Zeichen sind Konventionen der Menschen. Reid zufolge ist unser VS uns von unserem Schöpfer zum Zwecke des Sehens gegeben worden. Freilich hätte dieser, wie der Fall der Olfaktoren zeigt, die natürliche Wahrnehmung von Farbe und Form auch einem anderen System überantworten können. Analog die Biosemantik! Unser visuelles System hat die Echte Funktion R-Vehikel zu produzieren, die mit den Farb- und Formeigenschaften äußerer Objekte im Sinne einer Isomorphie-Relation korrespondieren. Erst der Gebrauch dieser Vehikel durch einen Konsumenten bestimmt jedoch den IR-Inhalt. Nur verfügt die Biosemantik, anders als Reid, über eine naturalistische Theorie darüber, wie es „Zwecke“ in der Natur geben kann (2.1.). Der springende Punkt an dieser Stelle besteht darin, dass zwischen Empfindungen und externen Objekten und Qualitäten erstens kein intrinsischer oder a priori einsehbarer Zusammenhang besteht und dass zweitens die Art und Weise, wie Empfindungen als natürliche Zeichen fungieren, von der Beschaffenheit der Lebewesen abhängt, die solche Empfindungen haben. Natürliche Zeichen hängen mithin von einer Lebensform (3.3.1.) ab. Wenden wir uns nun den erworbenen Wahrnehmungen zu. Unter die erworbenen Wahrnehmungen fällt zunächst Folgendes: 972 Copenhaver 2004: 72. Wir haben in Abschnitt 2.2. gesehen, dass es sich hierbei nicht um Naturgesetze im Sinne der Physik handeln kann. Wenn Copenhaver von „laws“ spricht, so bezieht sie sich implizit auf Reids Rede von „Gesetzen des menschlichen Geistes“: „And in a like manner when certain sensations of my Mind are invariably accompanied with the conception and belief of certain external objects, when the same connection is found in the minds of all men at all times, when it can be shown that this connexion does not arise from Custom or Education, nor can be accounted for by any Law of the human mind hitherto known and received; we ought to hold this Connexion to be itself a Law of the human Mind, until we find some more general Law of which it is the consequence.“ (Reid 1997: 261, meine Hervorhebung; vgl. auch Reid 1997: 59, 61, 102, 191) Vielleicht könnte man Reids Redeweise als Ausdruck der Auffassung deuten, dass es für den menschlichen Geist spezielle Naturgesetze geben müsse. Da Reid jedoch die natürliche Verfasstheit des menschlichen Geistes (der Commonsense) als normative Größe betrachtet, ist es von der Sache, wenn auch nicht von Reids Intentionen her, keineswegs nicht unangemessen, die Rede von „Gesetzen des menschlichen Geistes“ als natürliche Normen im Sinne der Biosemantik aufzufassen. 973 Vgl. dazu die Diskussion über die Olfaktoren in 5.1.6. Reid schreibt dazu: „However the things may be, if Nature had given us nothing more than impressions made upon the body, and sensations in our minds corresponding to them, we should, in that case, have been merely sentient, but not percipient beings. We should never have been able to form a conception of any external object, far less a belief of its existence. Our sensations have no resemblance to external objects; nor can we discover, by our reason, any necessary connection between the existence of the former, and that of the latter.“ (Reid 1997: 176) 496 „I perceive that this is the taste of cyder, that of brandy; that this is the smell of an apple, that of an orange; that this is the noise of thunder, that the ringing of bells; this is the sound of a coach passing, that the voice of such a friend.“974 Dies klingt nun so, als bestünde erworbene Wahrnehmung darin, dass Begriffsbenutzer ihre ursprünglichen Wahrnehmungen unter Begriffe bringen. Aber Reid hat nicht nur diesen Fall im Sinn, sondern zugleich mehr und zugleich weniger. Zuerst zum Weniger. Natürlicherweise, so Reid, nehmen wir bestimmte Eigenschaften der Gegenstände wahr wie Geruch, Geräusch, Farbe oder Gestalt. Hierbei handelt es sich, wie bereits mehrfach betont, nicht um bloße Empfindungen, sondern um Empfindungen, die ein Lebewesen seiner Natur entsprechend als Zeichen für bestimmte Eigenschaften von Objekten interpretiert. Dass es aber der Geruch eines Apfels ist, den ich gerade rieche, wenn ich den Obstschrank öffne, habe ich erst durch Erfahrung lernen müssen. Ich erwerbe die Fähigkeit, die natürliche Wahrnehmung als Zeichen für Objekte zu gebrauchen. Erst auf der Grundlage von Erfahrung und Gewöhnung rieche ich den Apfelgeruch als Geruch eines Apfels.975 Wie verläuft dieser Prozess von Erfahrung und Gewöhnung? Reid verweist auf bestimmte Prinzipien. So verweist er auf das Prinzip der Induktion, dem zufolge gilt: „When we have found two things to have been constantly conjoined in the course of nature, the appearance of the one is immediately followed by the conception and belief of the other.“976 Durch Erfahrung und Assoziation lernen wir also mit dem Geruch eines Apfels bestimmte andere Qualitäten dieses Objekts zu verbinden und so die Empfindung, die ein Apfel in uns olfaktorisch verursacht, als Zeichen für einen Apfel aufzufassen. Derart assoziierte, komplexe Wahrnehmungen bezeichnet Reid nun ebenfalls als erworbene Wahrnehmungen.977 Das von Reid am ausführlichsten diskutierte Beispiel für erworbene Wahrnehmung ist die visuelle Wahrnehmung von Distanz und Dreidimensionalität. Es ist jedoch nicht diese Art von Beispiel, die ich für die erworbene Wahrnehmung hervorheben möchte. Die Wahrnehmung vollständiger (dreidimensionaler) Objekte, so haben wir gesehen, hängt einerseits von bestimmten System-Komponenten von VS ab (Konstanz- und Kontrast-Mechanismen) und die daraus sich ergebenden RVehikel sind nicht von einem Einzellebewesen erworben, sondern gehören ihm seiner ersten Natur nach an. In gewisser Weise sind auch zahlreiche grundlegende explorative Aneignungen, die für die Wahrnehmung vollständiger Objekte konstitutiv sind, nicht Ibid. Vergleiche: Ein schlechtes Foto von einem Ochsen in der Ferne ist ein Ochsenbild, aber kein Bild von einem Ochsen, weil man den Fleck nicht als Zeichen für einen Ochsen nehmen kann. Nur ein Foto von einem Ochsen, das als Ochse erkennbar ist, kann als Bild von einem Ochsen gesehen werden. So beim Apfel: Der Geruch stammt von einem Apfel, wird aber nicht als Apfelgeruch wahrgenommen. Wir können den Apfel riechentr, ohne ihn zu riechenitr. 976 Reid 1997: 195f. 977 Reid 1997: 191. 974 975 497 erworben, sondern das Resultat von Reifungsprozessen eines Lebewesens. Reids paradigmatisches Beispiel der visuellen Wahrnehmung von Distanz und Dreidimensionalität weist also eher darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung nicht scharf ist. Er fasst unter erworbene Wahrnehmungen auch die Aktualisierung und Reifung von System-Komponenten des VS einer Lebensform. Kleine Kinder müssen lernen, Objekte zu fixieren. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um einen Reifungsprozess, analog zum Lernen einer Sprache oder zum Erlernen des Gehens. Analog können wir diese Art von erworbener Wahrnehmung, die sich auf Aktualisierung und Reifung angeborener Wahrnehmungsmechanismen konzentriert, für unsere Zwecke beiseite lassen. Nun zum Mehr. Reid nennt Beispiele erworbener Wahrnehmung, die für die biosemantische Theorie der visuellen Wahrnehmung bedeutender sind. Ich kann eine nasse Straße sehen, obschon Nässe keine genuin visuelle Qualität ist. Ich kann hören, ob eine Glocke groß oder klein ist, obschon Größe und Kleinheit keine genuin auditiven Eigenschaften sind.978 Genuin sichtbare Eigenschaften wie Form und Farbe ordnet Reid der natürlichen Wahrnehmung zu, die visuelle Wahrnehmung aller anderen Eigenschaften, die wir sehen können, der erworbenen Wahrnehmung. Solche Wahrnehmungen sind auch Tiere zu erlernen imstande. Ein Hund kann ohne weiteres darauf trainiert werden, zwischen einer großen und einer kleinen Glocke auditiv zu unterscheiden. Wichtiger sind die „Expertenwahrnehmungen“: „Not only men, but children, idiots and brutes, acquire by habit many perceptions which they had not originally. Almost every employment in life, hath perceptions of this kind that are peculiar to it. The shepherd knows every sheep of his flock, as we do our acquaintance, and can pick them out of another flock one by one. The butcher knows by sight the weight and quality of his beeves and sheep before they are killed. The farmer perceives by his eye, very nearly, the quantity of hay in a rick, or of corn in a heap. The sailor sees the burthern, the built, and the distance of a ship at sea, while she is a great way off. Every man accoustomed to writing, distinguishes his acquaintance by their hand-writing, as he does by their faces. And the painter distinguishes in the works of his art, the style of all great masters. […] Perception ought not only be distinguished from sensation, but likewise from that of knowledge of the objects of sense, which is got by reasoning. There is no reasoning in perception, as hath been observed.“979 Für unsere Lebensform hat Reid vor allem die Lerngeschichte von Einzellebewesen im Auge. Reid betont einerseits, dass die erworbene Wahrnehmung sich nicht auf normale erwachsene Exemplare unserer Art beschränkt, sondern auch auf Kinder, Idioten und Tiere, und er betont andererseits, dass die erworbene Wahrnehmung nicht den Gebrauch 978 979 Vgl. Reid 1983: 182. Reid 1997: 171f. 498 der Vernunft involviert. Reid ist also der Ansicht, dass erworbene Wahrnehmung weder den Gebrauch von Begriffen involviert (falls Begriffe allein erwachsenen, normalen Exemplaren unserer Art oder anderen rationalen Lebewesen vorbehalten sind) noch die Ausübung inferenzieller Fähigkeiten. Paradebeispiele erworbener Wahrnehmung sind Wahrnehmungen von Experten. Reid erwähnt den Schäfer, der die Schafe seiner Herde ebenso sehend erkennt wie wir unsere Bekannten; den Metzger, der Gewicht und Qualität des zu erwartenden Schaffleisches sieht; den Bauern, der die Menge Heus oder Korns sieht; den Matrosen, der Entfernung und Bauart von Schiffen auf offener See sieht; den Schreiber, der die Handschriften bestimmter Personen erkennt; den Maler, der einen bestimmten Stil sieht: „In a word, acquired perception is very different in different persons, according to the diversity of objects about which they are employed, and the application they bestow in observing them.“980 Wenn Reid von der erworbenen Wahrnehmung spricht, dann bezieht er sich auf die zweite Natur von Lebewesen. Für Reid besteht der wesentliche Unterschied darin, dass natürliche Wahrnehmungen angeboren sind, erworbene hingegen nicht. Erworbene Wahrnehmungen involvieren Erfahrung, Gewöhnung, Erziehung, Training, Übung, Ausbildung, Praxis usw.981 Auch die erworbene Wahrnehmung ist nicht inferenziell, sie ist kein Resultat von Überlegungen, wie Reid nicht müde wird zu betonen: „There is no reasoning in perception.“982 Reid unterscheidet also zwischen natürlichen und erworbenen Wahrnehmungen, und beide Arten von Wahrnehmungen (perceptions) involvieren nichtinferenzielle Vorschläge (suggestions) durch Empfindungen (sensations), und zwar gemäß den Prinzipien der ersten und zweiten Natur einer Lebensform. Die Übereinstimmungen mit der biosemantischen Theorie der Wahrnehmung liegen auf der Hand. Wir können die oben gegebene Bestimmung des IR-Inhalts von Wahrnehmungsempfindungen (5.3.2.2.) leicht revidieren, um Reids semiotische Einsichten zu integrieren. Die obige Bestimmung lautete ja wie folgt: IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen: Eine Empfindung (Typ) ist eine Empfindung von X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter Reid 1997: 172. Vgl. Nichols 2002, Falkenstein 2004: 158ff., Buras 2008. 982 „The power which we acquire of perceiving things by our senses, which originally we should not have acquired, is not the effect of any reasoning on our part: It is the result of our constitution, and of the situations in which we happen to be placed.” (Reid 1983: 238) „Perception, whether original or acquired, implies no exercise of reason; and is common to men, children, idiots, and brutes.“ (Reid 1979: 173) Nichols 2002 ist allerdings der Ansicht, dass für Reid bewusste inferenzielle Tätigkeiten in der erworbenen Wahrnehmung eine Rolle spielen (diese nennt er „inferential acquired perceptions“ im Unterschied zu „habituated acquired perceptions“ Aber Reid zufolge involvieren Wahrnehmungen per definitionem keine Inferenzen. Die „inferential acquired perceptions“ sind keine Wahrnehmungen. 980 981 499 Normalen Bedingungen) die nicht-inferenzielle Reaktion von S auf Empfindungszustände dieses Typs eine Reaktion ist, die besagt, dass etwas in der unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S X ist. Die revidierte Bestimmung lautet nun: IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen*: Eine Empfindung ist ein Zeichen für X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S einer bestimmten Lebensform, wenn (unter Normalen Bedingungen) die entweder natürliche oder erworbene nicht-inferenzielle Reaktion von S auf Empfindungszustände dieses Typs eine Reaktion ist, die besagt, dass etwas in der unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S X ist. 5.3.4.3. Erworbene Wahrnehmung und kulturelle Kategorien Oben habe ich darauf hingewiesen, dass man Reids semiotischem Realismus vorwerfen könnte, dass in der Wahrnehmung ein Objekt gleich doppelt repräsentiert werde, einmal durch die Empfindungen (qua Zeichen) und ein andermal durch die Wahrnehmung (qua Begriff). Wie wir gesehen haben, handelt es sich dabei um ein Missverständnis der Reidschen Position. Doch taucht dieses Problem mit der Unterscheidung zwischen natürlichen und erworbenen Wahrnehmungen nicht erneut auf? In diesem und dem folgenden Abschnitt möchte ich mich diesem und zwei weiteren Problemen in Reids Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung widmen und zeigen, wie sie auf der bislang entworfenen biosemantischen Grundlage gelöst werden können. Warum scheint die Verdoppelung der Wahrnehmung bei der erworbenen Wahrnehmung als mögliches Problem erneut aufzutauchen? Nun, in erworbenen Wahrnehmungen spielen doch natürliche Wahrnehmungen auch eine Rolle. So schlagen uns bestimmte Eigenschaften, wenn diese auf unsere Sinne einwirken, natürlicherweise vor, dass etwas Hartes vorliegt. Ein Arzt, der ein weiches Gewebe abtastet, wird die erworbene Wahrnehmung von malignen Knötchen im Gewebe haben. Spürt der Arzt also doppelt, einerseits Hartes und andererseits maligne Knötchen? Hat seine Wahrnehmung zwei unterschiedliche Referenzobjekte? Wie ist es bei einer Fernsehübertragung eines Fußballspiels oder beim Hören einer Sonate am Radio? Sehen wir sowohl die Farbmuster auf dem Bildschirm als auch die Vorgänge im Spiel? Hören wir sowohl die Geräusche aus dem Radio als auch Schumanns Sonate, op.11? Eine Pointe von Reids Auffassung hinsichtlich erworbener Wahrnehmungen besteht darin, dass in ihr nicht nur die Empfindungen Zeichen für etwas sind, wie in der natürlichen Wahrnehmung, sondern auch bereits interpretierte Empfindungen (d.h. Zeichen) wiederum Zeichen für etwas werden können. Die Wahrnehmung von etwas Hartem in einem Objekt ist ebenso eine natürliche 500 Wahrnehmung, wie die Wahrnehmung von Farbmustern auf einem Objekt oder die Wahrnehmung von Klangmustern, die einem Objekt entströmen. Nun werden in der erworbenen Wahrnehmung die durch die Empfindungen vermittelten Eigenschaften der Objekte oder die Objekte selbst wiederum zu Zeichen. Für das geübte Auge und für das geübte Ohr sind die natürlich wahrgenommenen Eigenschaften (Hartes, Farbmuster, Klangmuster) ebenso transparent wie für das ungeübte Auge und Ohr die Empfindungen. Während ein ungeübtes Auge, wie etwa jenes einer Katze oder jenes eines operierten Blinden, auf dem Bildschirm lediglich Farbmuster wahrnimmt, sieht der fernsehgeübte Betrachter ein Fußballspiel. Wir können dies so ausdrücken: Der fernsehgeübte Betrachter siehttr Farbmuster auf dem Bildschirm, aber er siehtitr das Spiel selbst. Der sachverständige und fernsehgeübte Betrachter siehtitr nicht nur eine bestimmte Szene eines Fußballspiels, sondern diese Szene als Schwalbe von Spieler X usw. Analoges kann für den Arzt und das Hören der Sonate gesagt werden. In keinem Fall sind Inferenzen involviert. Die geübten Hände, Augen und Ohren spürenitr, sehenitr und hörenitr direkt maligne Knötchen unter der Haut, die Schwalbe im Spiel und das Presto in Schumanns Sonate. Diese Wahrnehmungen involvieren weder Inferenzen noch sind sie intentional verdoppelt. Die Antwort auf den neuen Verdoppelungsvorwurf lautet ähnlich wie jene auf den ersten: Erworbene Wahrnehmungen involvieren qua Empfindungen externe Objekte und Qualitäten, doch diese Objekte und Qualitäten fungieren für die Wahrnehmungssubjekte als Zeichen für etwas Anderes. Wie Reid sagt: „whatever has always been found connected with them“ wird wahrgenommen.983 Involvieren erworbene Wahrnehmungen in unserem Fall denn tatsächlich keine Inferenzen? Aus Reids semiotischer Perspektive können Wahrnehmungen im Falle unserer Lebensform beispielsweise sprachliche Reaktionen involvieren oder die Anwendung von Begriffen, die wir durch Inferenzen erworben haben, nicht aber Inferenzen. Die Empfindung einer roten Quantität in einem Behälter kann uns eine rote Flüssigkeit vorschlagen. Ich schließe nicht, dass die rote Quantität flüssig ist, sondern ich sehe es. Die Wahrnehmung einer roten Flüssigkeit wiederum kann selbst als Zeichen fungieren und kann uns eine Eignung zu trinken vorschlagen, Wein zu trinken vorschlagen, die Äußerung „Da ist noch Wein“ vorschlagen, die Eignung für einen handfesten Rausch vorschlagen usw. Weil ich inferenziell mit der Relation zwischen Wein und Rausch vertraut bin – und dies kann ich auch sein, ohne jemals von Wein berauscht gewesen zu sein – , kann ich in einer roten Flüssigkeit eine Eignung für einen Rausch sehen. Mit anderen Worten: Weil ich die Anwendung des Begriffs „Wein“ durch Inferenzen erworben habe, kann ich in der 983 Reid 1997: 236. 501 roten Flüssigkeit eine Eignung zu einem Rausch sehen. Dies ist eine erworbene Wahrnehmung, aber sie ist in keiner interessanten Weise indirekt und involviert selbst keine Inferenzen, wenn sie auch inferenziell erworbene Begriffe involviert. Wir können die Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung mit den in Kapitel 3 vorgeschlagenen Unterscheidungen zwischen normativen Kategorien zusammenführen, um die Übereinstimmung zwischen Reids semiotischem Realismus und der Biosemantik weiter zu verstärken. Im Abschnitt 5.3.2.1. habe ich auf zwei Gründe für das visuelle Supergeneralistentum unserer Lebensform hingewiesen. Der erste Grund besteht in der starken Ausprägung der Evolution der Entwicklungsfähigkeit. Der zweite Grund besteht in der Tatsache, dass wir nicht nur über natürliche Fähigkeiten mit Echten Funktionen verfügen, sondern in einer kulturellen Welt leben. Die Diskussion dieses zweiten Grundes wird zur gewünschten Verstärkung der Übereinstimmung zwischen semiotischem Realismus und Biosemantik führen. Unsere ökologische Nische (so habe ich in 3.2.6. argumentiert) ist der Effekt einer kumulativen, epistemischen, reflexiven und totalen Nischenkonstruktion. Unsere ökologische Nische besteht, wie die Heideggersche Welt, zu einem großen Teil aus strukturiertem Zeug (Werkzeug, Schuhzeug, Schreibzeug, Nähzeug, Esswaren, Hausrat usw.). Die Strukturiertheit des Zeugs ist Bestandteil der kumulativen, reflexiven Weitergabe, denn es werden nicht nur Artefakte, sondern mit den Artefakten auch Techniken ihrer Herstellung und Verwendung sowie Artefakte zur Herstellung und Verwendung von anderen Artefakten weitergegeben. Die Artefakte (wie das Zeug) der kulturellen Welt verfügen über Echte Funktionen. Solche Artefakte bilden nun keine biologischen funktionalen normativen Kategorien (3.2.3.-3.2.4.), sondern kulturelle funktionale normative Kategorien (3.2.5.-3.2.6.). Unter Artefakte fallen jedoch nicht nur Zeug wie Gebrauchsgegenstände, Instrumente, Kunstwerke usw., sondern auch Rituale, Institutionen, soziale Rollen usw. Ich habe in Abschnitt 3.2.5. paradigmatisch für Zeug das Küchenmesser und für Institutionen den Arzt ausführlich diskutiert. Beide Arten von Artefakten, Zeug und Institutionen, spielen eine Rolle für die visuelle Wahrnehmung. Mit ihrem unbewaffneten, aber geübten Auge sind Menschen in der Lage, eine ganze Reihe von Dingen (direkt, nicht-inferenziell) zu sehenitr, insofern sie durch Lernen, Unterweisung und Übung in die Lage versetzt worden sind oder sich in die Lage versetzt haben, bestimmte Typen von Empfindungen (unter Normalen Bedingungen) mit nicht-inferenziellen Reaktionen zu quittieren, die nur erfolgreich sein (d.h. ihre Echte Funktion erfüllen) können, wenn etwas in ihrer unmittelbaren oder erweiterten Umgebung X ist. Das geübte Auge siehtitr nicht nur einen Holztisch, sondern einen Eichenholztisch, nicht nur rote 502 Flecken, sondern Masern, nicht nur die Darstellung eines Mannes an einem Tisch, sondern einen Picasso; nicht nur rennende Männer in Trikots und kurzen Hosen, sondern eine Torchance usw. Nichts davon muss als indirekte oder abgeleitete visuelle Wahrnehmung betrachtet werden. Wer über hinreichend Training und Erfahrung verfügt, siehtitr Eichenholztische, Masern, Picassos, Torchancen usw. direkt als Eichenholztische, Masern, Picassos, Torchancen usw. Das hinreichende Training und die entsprechende Erfahrung werden in einer Institution durchgeführt bzw. erworben, sie bedeutet den Erwerb einer sozialen Rolle. Dadurch erwerben Lebewesen unserer Art neue nicht-inferenzielle Reaktionen auf Wahrnehmungsempfindungen, die als Konsumenten dieser Empfindungen fungieren können und so den R-Vehikeln andere IR-Inhalte verleihen. Denn eine Empfindung ist eine Empfindung von X im intentionalen Sinne im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter Normalen Bedingungen) die nicht-inferenzielle Reaktion von S auf Empfindungszustände dieses Typs eine Reaktion ist, die nur erfolgreich sein (d.h. ihre Echte Funktion erfüllen) kann, wenn etwas in der unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S X ist (5.3.2.2.). Es wäre von der Sache her schlicht verfehlt, in diesen Fällen inferenzielle Prozesse zu unterstellen. Die Behauptung, es handle sich hier um Fälle indirekter Wahrnehmung, ist keine vortheoretische Behauptung, sondern setzt ein bestimmtes Verständnis direkter Wahrnehmung voraus, dass ich hier gerade bestreiten will. Die Bildung der Überzeugung des Arztes, dass das Kind Masern hat, ist ein Beispiel für eine nicht-inferenzielle Reaktion auf Empfindungszustände eines bestimmten Typs, die besagt, dass etwas in der unmittelbaren Umgebung des Arztes ein Fall von Masern ist. Der Arzt siehtitr direkt, dass das Kind Masern hat, weil er beispielsweise gelernt hat, auf Wahrnehmungsempfindungen dieser Art mit der Ausbildung einer entsprechenden Überzeugung zu reagieren. Dieses Lernen ist gleichbedeutend mit dem Erwerb einer sozialen Rolle und dadurch einer kulturellen Funktion als Arzt. Damit gehört der Arzt zu einer kulturellen funktionalen normativen Kategorie. Wir können ihm (nicht aber dem Kind oder den Eltern vorwerfen), dass er nicht gesehen hat, dass es Masern sind. Der Arzt hat in diesem Fall keinen falschen Schluss gezogen. Er hat falsch auf seine Wahrnehmungsempfindungen reagiert. Auch Zeug spielt eine Rolle in der Erweiterung des Bereichs dessen, was wir direkt sehenitr können. Wie wir gesehen haben, sind Schimpansen (und andere Lebewesen) in der Lage, ein optisches Instrument (den Spiegel) zu verwenden, um gezielt auf Körperpartien zuzugreifen, zu denen sie andernfalls keinen visuellen Zugang hätten (4.4.). Ebenso kann ich einen Spiegel benutzen, um Dinge zu sehen, zu denen ich im Moment keinen visuellen Zugang habe. Ich sehe im Spiegel, ob ich noch Schaum im Gesicht habe, ob sich mir von 503 hinten ein Fahrzeug nähert oder ob der Fremde um die Hausecke kommt usw. In diesen Fällen sieht der Schimpanse einen roten Fleck auf seiner Stirn, ich sehe mich selbst, das Fahrzeug oder den Fremden. Natürlich kann man sagen, dass der Schimpanse und ich diese Dinge indirekt sehen, und zwar insofern wir uns eines optischen Instrumentes bedienen, nicht jedoch in dem Sinne, dass wir aufgrund unserer Einsicht in die Funktionsweise von Spiegeln die Positionen diese Dinge ableiten würden. Die Indirektheit der Wahrnehmung bezieht sich bei einem optischen Instrument nicht auf inferenzielle Prozesse, sondern auf die Vermittlung durch das Instrument. Trotz des Einsatzes eines optischen Instruments sehen der Schimpanse und ich uns selbst bzw. das Fahrzeug oder den Fremden. Wir sehenitr keine Bilder oder Abbildungen dieser Dinge. Diese Bilder und Abbilder sind ebenso transparent wie die Wahrnehmungsempfindungen als R-Inhalte. Sie sind mit bestimmten externen Strukturen isomorph, und aufgrund dieser IsomorphieRelation kann ein Wahrnehmungssubjekt diese Abbilder ebenso als R-Vehikel für die externen Strukturen nehmen, wie es die Retinamuster oder die visuellen OutputKomponenten als Abbilder für externe Strukturen nimmt. Weder im Fall der Strukturen, die das VS zur Verfügung stellt, noch im Falle der Strukturen, die optische Instrumente zur Verfügung stellen, siehtitr das Subjekt diese Strukturen, sondern es siehtitr die externen Strukturen, die vorliegen müssen, damit ein K-Mechanismus des Subjekts seine Echte Funktion ausüben kann. Ebenso, wie visuelle Generalisten in der Lage sind, die natürlichen artspezifischen K-Mechanismen ihrer VS mittels Lernen, Unterweisung und Übung durch erworbene K-Mechanismen zu erweitern, sind sie in der Lage, ihre natürlichen visuellen PMechanismen durch den Gebrauch von artifiziellen visuellen P-Mechanismen zu erweitern. Bei diesen künstlichen P-Mechanismen handelt es sich um optische (oder gar prosthetische) Instrumente. So siehtitr das instrumentierte Auge Objekte nicht nur in der unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Umwelt eines Wahrnehmungssubjekts, sondern auch Objekte die weit sehr entfernt (mit Teleskopen oder mit Videokameras) oder sehr klein sind (mit Mikroskopen), Objekte, die in Lebewesen verborgen sind (mit Röntgenapparaten), Objekte in der Nacht (mit Nachtsichtgeräten), Vorgänge, die sich vor dem Zeitpunkt der Wahrnehmung abgespielt haben (in Filmen), oder Objekte, die nicht mehr existieren (auf alten Fotos). Ich komme zu einem zweiten Problem. Dabei handelt es sich um Reids scheinbar unentschiedene Ausdrucksweise. Insbesondere könnte man beanstanden, Reid habe sich wenig deutlich dazu geäußert, was es bedeuten soll, dass Wahrnehmungen Konzeptionen, Begriffe, Bilder usw. involvieren. Was genau soll denn nun als Interpretant von Empfindungen gelten? Aus biosemantischer Perspektive ist dies nicht zu bedauern. Reid 504 verweist hier einfach auf den Umstand, dass innerhalb einer Lebensform oder zwischen verschiedenen Lebensformen unterschiedliche Konsumenten zur Verfügung stehen, die die durch die VS zur Verfügung gestellten R-Vehikel weiter verwenden können. Ähnlich unklar hat sich ein anderer Semiotiker der Wahrnehmungstheorie ausgedrückt, nämlich Peirce. Peirce unterscheidet durchgehend zwischen Perzept (percept) und Wahrnehmungsurteil (perceptual judgement). Eine Vorschlag von Alexander Roesler folgend, kann man das Perzept semiotisch dem Zeichen zuordnen, das Wahrnehmungsurteil dem Interpretanten und die wahrgenommenen Qualitäten eines Objekts dem Objekt.984 Peirce äußert sich über das Wahrnehmungsurteil nun scheinbar widersprüchlich. Manchmal handelt es sich um ein Urteil in propositionaler Form, dann in diagrammatischer Form. Als Urteil scheint es falsch sein zu können, doch sagt Peirce auch, dass es eigentlich nicht falsch sein kann. An anderen Stellen handelt es sich beim Urteil um abduktive Hypothesen, dann wieder um Gewohnheiten des Verhaltens, um ein Gefühl oder eine Anstrengung. Es ist also nicht klar, was der Interpretant sein soll.985 Doch der Interpretant (K-Mechanismus) ist dasjenige in einem Lebewesen, das eine Wahrnehmungsempfindung als Zeichen (RVehikel) verwendet, um damit ein Objekt zu bezeichnen (IR-Inhalt). Je nachdem kann es sich dabei um sprachliche Reaktionen, um Verhaltensweisen, Gefühle oder körperliche Anstrengungen handeln. Der Verweis auf Peirce hilft uns, einen Aspekt von Reids semiotischem Realismus zu verstehen, der bislang implizit die Diskussion der erworbenen Wahrnehmung bestimmt hat, nämlich die Semiose. Wie wir in Abschnitt 1.2.1. festgehalten haben, geht es Peirce nicht in erster Linie um Zeichen als solche, sondern um den Prozess der Zeichenverwendung, mithin um Semiose. Wir haben eben gesehen, dass man das Perzept im semiotischen Dreieck dem Zeichen, das Wahrnehmungsurteil dem Interpretanten und die wahrgenommenen Qualitäten eines Objekts dem Objekt zuordnen kann. Die im Wahrnehmungsprozess involvierten Zeichen nennt Peirce „Perzepte“, Millikan „Vehikel“ und Reid „Empfindungen“. Ich habe im Hinblick auf Wahrnehmungen wiederholt von „Wahrnehmungsempfindungen“ gesprochen. Die Semiose besteht nun in der Erweiterung dieses Dreiecks. Auf der auch für visuelle Generalisten grundlegenden Ebene fungieren Verhaltensweisen der explorativen und praktischen Aneignung als Interpretanten (Wahrnehmungsurteile, Konsumenten, conceptions) der Zeichen (Perzepte, Vehikel, sensations) und verleihen den Zeichen einen behavioralen, nicht-begrifflichen IR-Inhalt, der Vgl. Roesler 2000: 118ff. Das erste Vorkommnis von „Objekt“ meint einen materiellen Gegenstand, ein Ereignis usw., das zweite Vorkommnis hingegen das dritte Element im semiotischen Dreieck von Zeichen, Interpretant und Objekt. 985 Ein Beispiel für die begrifflichen Verrenkungen, zu denen ein Vereinheitlichungsversuch führt, findet sich in Rosenthal 2004. 984 505 von Eignungen von Objekten handelt. Dieses semiotische Wahrnehmungsdreieck ist das für Lebewesen grundlegende Dreieck. Die Semiose besteht in der Erweiterung dieses Wahrnehmungsdreiecks. Wie sieht diese Erweiterung aus? Mit der erworbenen Wahrnehmung, so haben wir gesehen, können Objekte und deren Eignungen oder Eigenschaften selbst zu Zeichen werden. Diese Zeichen sind natürlich selbst keine Empfindungen mehr, aber sie werden dem Lebewesen über Empfindungen vermittelt. Die Möglichkeit zu dieser Art von semiotischer Erweiterung folgt aus dem entscheidenden strukturellen Merkmal von Zeichenvehikeln, nämlich ihrer Isomorphie-Relation (1.1.3., 1.1.5., 1.1.7.). Die Empfindungszustände E eines Lebewesens sind strukturell isomorph mit Eignungen oder Eigenschaften von Objekten O. Diese Eignungen oder Eigenschaften von Objekten wiederum sind strukturell isomorph mit weiteren Sachverhalten oder Tatsachen T. Dadurch ist in ihnen die Möglichkeit angelegt, dass O zu einem Zeichen für T werden kann. Solange E sowohl mit O als auch mit T strukturell isomorph bleibt, kann T via E wahrgenommen werden. Ob man nun sagt, dass E zum Zeichen für T wird oder dass O zum Zeichen für T wird, ist in gewisser Weise gleichgültig. Doch aus der Perspektive der Semiose besteht die interessante Erweiterung ja darin, dass nicht nur E als Zeichen fungieren kann (wie in der natürlichen Wahrnehmung), sondern auch O, nämlich in der erworbenen Wahrnehmung. Wir können nun erstens sagen: Das in der natürlichen Wahrnehmung durch das natürliche Zeichen E bezeichnete Objekt O wird in der erworbenen Wahrnehmung zu einem erworbenen Zeichen für T. O wird zu einem erworbenen Zeichen für T, sobald das Lebewesen eine Fähigkeit erworben hat, O als Zeichen für T zu interpretieren. Diese Fähigkeit kann unterschiedliche Formen annehmen. Sie kann als Reaktion der Einbildungskraft, als Reaktion des Urteilsvermögens, als Reaktion des Sprachvermögens, als emotionale Reaktion usw. aufgefasst werden. Zweitens können wir sagen: Das erworbene Zeichen O ist in das natürliche Zeichen E eingebettet. O ist in E eingebettet, wenn zwischen E, O und T strukturelle Isomorphien vorliegen. Die Einbettung von O in E der ist der Grund dafür, dass wir nach wie vor von einer Wahrnehmung sprechen können. Wir nehmen in O T wahr, solange O in E eingebettet ist. Schließlich können wir sagen: T wird das neue Objekt („Objekt“ im Sinne des dritten Elements im semiotischen Dreieck) der erworbenen Wahrnehmung. T ist das intentionale Objekt der erworbenen Wahrnehmung. Wenden wir diese strukturelle Beschreibung auf ein Beispiel an. S hörtitr Klangmuster von Schallplatten. Die durch das Klangmuster verursachten Empfindungen E sind natürliche Zeichen für Objekte, denen Klangmuster entströmen, also für O. Auch 506 Kleinkinder, Katzen und Mäuse können dies hören. Ein wenig Training ermöglicht es Wesen unserer Art, bestimmte Klangmuster als Singstimme mit Klavierbegleitung (T1) zu hören. O wird zu einem erworbenen Zeichen für T1. Etwas mehr Training ermöglicht es, T1 als Schumann-Lieder (T2) zu hören. T1 wird zu einem erworbenen Zeichen für T2. Weiteres Training ermöglicht es, in T2 Charles Panzera Schumann-Lieder singen (T3) zu hören. T2 wird zu einem erworbenen Zeichen für T3. Das geübte Ohr hörtitr Panzera direkt Schumann-Lieder singen, solange die Isomorphie-Relationen zwischen E, O, T1, T2 und T3 erhalten bleiben, solange T2, T1 und O in E eingebettet sind. Kommen wir zum dritten Problem. Er wird es uns erlauben, zum nächsten Abschnitt über zu gehen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass v. a. die Formulierung „oder erweiterten Umgebung“ in „IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen*“ (5.3.4.2.) über das von Reid Intendierte hinausgeht. Reid besteht darauf, dass ein Lebewesen nichtpräsente, materielle Objekte nur indirekt wahrnehmen kann. Dieser Überschuss ruft nun das dritte Problem hervor: Ist erworbene Wahrnehmung wirklich Wahrnehmung? Kann ich die Elastizität eines Astes sehen? Kann der Bauer das Gewicht eines Heuhaufens sehen? Kann der Sachverständige einen Rembrandt sehen oder Panzera Schuman singen hören?986 Warum nicht? Reid zufolge gehören zu einer Wahrnehmung die folgenden Faktoren: Erstens gehört zur Wahrnehmung eine Vorstellung, ein Begriff, ein Bild usw. des Objekts. Zweitens führen Wahrnehmungen die unwiderstehliche instinktive Überzeugung (conviction, belief) über die gegenwärtige und reale Existenz des Objekts mit sich. Drittens sind Wahrnehmungen und die involvierte Überzeugung nicht das Resultat eines Schlusses. Viertens involvieren Wahrnehmungen Empfindungen. Wenn der Metzger das Gewicht eines Lammes sieht, so ist keiner der Faktoren verletzt. Der Metzger hat eine Vorstellung des Objekts und seiner Eignung, er ist überzeugt von der Existenz des Objekts, er hat keinen Schluss gezogen, er nimmt Wahrnehmungsempfindungen zum Zeichen für das Gewicht des Lamms. Analoges gilt für den Bauern und den Seemann. Warum sollten sie also nicht sehen, wie schwer das Lamm, wie gut das Heu, von welcher Bauart das Schiff ist oder wessen Hand Feder oder Pinsel führte? Das Problem scheint darin zu bestehen, dass Reids Ansatz ohne kausale Einschränkung durch das Wahrnehmungsobjekt einfach zu viele direkte Wahrnehmungen zulässt, die wir nicht als Fälle von Wahrnehmungen klassifizieren würden. So meint etwa James Van Cleve: „Yet there are cases of acquired perception that no one would regard as genuine perception. I return home and see my wife’s car keys on the counter (or hear my son say “Mom’s home”), whereupon I automatically conceive of her and believe 986 Reids Vorgänger Berkeley etwa würde dies bestreiten. Wir nehmen nur dasjenige wahr, was uns ursprünglich gegeben ist. Es gibt keine erworbenen Wahrnehmungen. 507 that she is home. Since she is upstairs, I do not perceive her, but it seems that I fulfill all the conditions for Reidian perception.“987 Was Van Cleve zufolge fehlt, ist die Präsenz des Objekts. Er sieht den Schlüssel auf dem Tisch oder hört seinen Sohn rufen, aber er sieht und hört nicht seine Frau. Die Frau selbst zu sehen oder zu hören, hieße wohl, dass sie in irgendeiner angemessenen Weise die Ursache für die Wahrnehmungen von Van Cleve wäre. Nun ist sie zweifellos in irgendeiner Weise die Ursache für die Wahrnehmung des Schlüssels (sie hat ihn auf dem Tisch abgelegt) oder für die Wahrnehmung des Sohnes (sie hat ihn geboren). In angemessener Weise die Ursache für Van Cleves Wahrnehmungen ist seine Frau offenbar nicht schon dadurch, dass sie die Ursache für das Vorliegen von Wahrnehmungsobjekten ist, die unabhängig von ihr Wahrnehmungsempfindungen auslösen, sondern erst dann, wenn sie selbst die Ursache für das Vorliegen von Wahrnehmungsempfindungen ist. Hier scheint also unsere Intuition die Theoriekonstruktion der Biosemantik (1.1.6.) zu beschränken. Ich möchte diese intuitive kausale Beschränkung akzeptieren und ihr im folgenden Abschnitt eine prinzipielle und mit der Biosemantik kompatible Fassung geben. An dieser Stelle werden wir sehen, inwiefern die Biosemantik der tiefsten Ebene des von Pietroskis Biologiemärchen (5.1.1.) aufgeworfenen Problem entgegen kommen und das Nomische Korrelationsprinzip (NKP) mit Abstrichen integrieren kann (5.1.5.1.). Diese Beschränkung erlaubt es uns jedoch immer noch, direkte erworbene Wahrnehmungen von externen, realen Objekten zu haben, die nicht präsent sind und nicht mehr existieren, und so die erworbenen Wahrnehmungen auch auf die Wahrnehmung dieser Objekte zu erweitern. 5.3.5. Fotografische Transparenz und Homogenitäts-Einschränkung Ich habe in 5.3.4.1. behauptet, dass man in Filmen und auf Fotos auch nicht gegenwärtige Objekte sehen kann. Gemeint ist, dass man die Objekte selbst sehen kann, nicht nur ein Abbild davon. Das Objekt der Wahrnehmung einer Fotografie von S ist S. Dies ist die These der fotografischen Transparenz (TFT). Für diese Transparenz-These ist unabhängig von der Biosemantik argumentiert worden.988 Ich halte sie für richtig. Allerdings ist die These heftig umstritten, manche Kommentatoren halten sie für völlig kontra-intuitiv.989 Ein Kommentator hat die Auffassung vertreten, dass im Rahmen der Diskussion um die Philosophie der Fotografie die Debatte um TFT nicht gelöst werden kann. Erforderlich sei Van Cleve 2004: 127. Vgl. Walton 2008. Der Aufsatz „Transparent Pictures: On the Nature of Photographic Realism“ stammt aus dem Jahr 1984. Weitere Vertreter von TFT oder des fotografischen Realismus sind Erwin Panofsky, André Bazin, Stanley Cavell und Roland Barthes. 989 Kritik an Walton findet sich etwa Brook 1986; Currie 1991; Friday 1996; Lopes 1996, 81ff., 179ff. 987 988 508 eine Rückbindung an die Philosophie der Wahrnehmung.990 Die biosemantische Theorie der Wahrnehmung liefert m.E. die Grundlage für TFT. Wer in Venedig mit dem Vaporetto Nr. 1 fährt, kann nach der Haltestelle San Marco den Dogenpalast, die Markuskirche und den Campanile aus einer bestimmten Perspektive sehen. Wer die Pinacoteca di Brera in Mailand besucht, kann auf dem Bild „Veduta del bacino di San Marco“ von Canaletto (ungefähr) dieselbe Ansicht sehen. Zwischen der Ansicht und dem Gemälde besteht hinsichtlich ihrer (visuellen) Wahrnehmung ein wichtiger Unterschied. Im ersten Falle, auf dem Schiff stehend, sehen wir die Gebäude selbst, im zweiten Fall, vor dem Gemälde stehend, sehen wir eine Abbildung dieser Gebäude. Sehen wir Dinge in natura, erblicken wir natürlich keine Repräsentationen dieser Dinge, sondern sie selbst.991 Sehen wir Dinge hingegen auf Bildern, so erblicken wir nicht die Dinge selbst, sondern Abbilder dieser Dinge. Was sehen wir auf einem Foto dieser Szenerie? Den Campanile selbst? Ein Bild von ihm? Natürlich sind Fotografien auch Bilder, doch TFT behauptet, dass wir auf einem Foto des Campanile den Campanile selbst sehen. Fotografien sind auf das auf ihnen Abgebildete hin durchsichtig oder transparent. Das geübte Auge hat mit geringem Aufwand gelernt, durch Fotos hindurch Objekte zu sehen. Fotos sind ebenso transparent wie die Wahrnehmungsempfindungen. Sie sind mit bestimmten externen Strukturen isomorph und aufgrund dieser Isomorphie-Relation kann ein Wahrnehmungssubjekt diese fotografischen Repräsentationen ebenso als R-Vehikel für Friday 1996. Diese Behauptung reizt vielleicht zu unmittelbarem Widerspruch. Der darin scheinbar behauptete direkte Wahrnehmungsrealismus hinsichtlich materieller Gegenstände ist keine Position, die einem geschenkt wird. Doch für den Unterschied, den ich hier machen möchte, spielt die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Realismus keine Rolle. Auch indirekte Realismen müssen den Unterscheid zwischen einer gesehenen und einer gemalten Szenerie (zwischen Wahrnehmung von o und Abbildung von o; zwischen visueller Wahrnehmung und Bild) ziehen. An dieser Stelle geht es also zunächst gar nicht um die Metaphysik der Wahrnehmung, sondern um die wenig umstrittene alltagspsychologische Feststellung, dass wir einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung einer Szenerie und der Wahrnehmung einer Abbildung dieser Szenerie machen. Wir drücken diesen Unterschied wie folgt aus: Im ersten Fall sehe ich die Szenerie (die Gebäude, ihre Eigenschaften, ihre Relationen usw.) selbst (aus einer bestimmten Perspektive), in zweiten Fall eine Repräsentation der Szenerie (die Gebäude, ihre Eigenschaften, ihre Relationen usw. aus einer bestimmten Perspektive). Einen weiteren Widerspruch mag die Behauptung hervorrufen, wir würden im zweiten Fall, vor dem Gemälde stehend, eine Abbildung des Campanile sehen, denn der Campanile von San Marco ist am 14. Juli 1902 eingestürzt. In gewisser Weise findet sich also auf Canalettos Gemälde keine Repräsentation des Campaniles, den wir vom Schiff aus sehen, sondern eine Repräsentation seines Vorgängers. In gewisser Weise handelt es sich jedoch um denselben Turm, denn der neue Campanile ist der architektonische, visuelle und funktionale Nachfolger des alten Campanile. Es scheint mir deshalb heute richtig, Dinge der folgenden Art über den heute stehenden Campanile zu sagen: „Der Bau dieses Turms wurde vom Dogen Pietro Tribuno um 900 begonnen“, „Dieser Turm wurde 1152 vollendet“, „Dieser Turm ist das Vorbild des Kieler Rathausturms“ usw. Solche Aussagen treffen auf den neuen Campanile ebenso zu, wie auf den alten. Wäre der Turm vor 1902 von einem reichen Amerikaner abgetragen, verschifft und in den USA wieder aufgebaut worden, würden wir auch davon sprechen, dass es sich um denselben Turm handelt, obwohl er mittlerweile umgezogen ist. Sagen wir: Der Campanile ist von 1902 bis 1912 einfach einer besonders gründlichen Renovation unterzogen worden, so dass man von einer alten und einer neuen Fassung desselben Gebäudes sprechen darf. 990 991 509 die externen Strukturen nehmen, wie es die Retinamuster oder die visuellen OutputKomponenten als visuelle Repräsentationen für externe Strukturen nimmt, ohne diese Repräsentationen zu intentionalen Objekten der Wahrnehmung zu machen. Weder im Fall der Strukturen, die das VS zur Verfügung stellt, noch im Falle der Strukturen, die ein optisches Instrument wie der Fotoapparat zur Verfügung stellt, siehtitr das Subjekt diese Strukturen, sondern es siehtitr die externen Strukturen, die vorliegen müssen, damit ein KMechanismus des Subjekts seine Echte Funktion ausüben kann. Wer auf ein Foto meiner verstorbenen Großmutter zeigt und fragt, wer diese Frau denn ist, dem werde ich auf ganz und gar nicht-inferenzielle Weise die Auskunft geben: „Meine Großmutter.“ Weder lautet die Auskunft, dass dies ein Foto meiner Großmutter ist, noch erfordert die Auskunft, dass ich ihren Inhalt auf der Grundlage des Fotos erschließe. Man kann ohne viele Abstriche sagen, dass ich hier meine verstorbene Großmutter seheitr. Sie selbst, nicht nur ihr Bild, obschon ich das Foto natürlich auch sehetr. Im Sinne der in 5.3.4.3. beschriebenen Semiose können wir sagen: Das in der natürlichen Wahrnehmung durch das natürliche Zeichen E bezeichnete Objekt O (das Foto) wird in der erworbenen Wahrnehmung zu einem erworbenen Zeichen für T (für den Campanile, für die Großmutter). Das erworbene Zeichen O ist in das natürliche Zeichen E eingebettet und O ist in E eingebettet, wenn zwischen E, O und T strukturelle Isomorphien vorliegen. T wird so das neue Objekt (drittes Element im semiotischen Dreieck) der erworbenen Wahrnehmung. Wir sehenitr T direkt. TFT wurde prominent von Kendall Walton vertreten. Walton stützt sich dabei auf KTS. Seine Argumentation lautet wie folgt: Fotografien stehen per definitionem in einer kausalen Relation zum Fotografierten. Zwischen einem Ding und seiner Fotografie bestehen kontrafaktische Abhängigkeiten der folgenden Art: Unter normalen Bedingungen repräsentiert ein Foto von o dessen sichtbare Eigenschaften F (zu einem Zeitpunkt t, aus einer Perspektive P), so zwar, dass im Falle des Andersseins von F (zu t, aus P) auch die Fotografie entsprechend anders ausfallen würde. Geht man nun von einer kausalen Theorie des Sehens aus, so ist meine visuelle Wahrnehmung von o auf dieselbe Weise abhängig von F (zu t, aus P). Wäre F (zu t, aus P) anders, so würde meine visuelle Wahrnehmung von o entsprechend anders ausfallen.992 Ebenso ist meine visuelle Wahrnehmung des fotografierten o kontrafaktisch abhängig von o. Wäre F (zu t, aus P) anders gewesen, so wären sowohl meine visuelle Wahrnehmung als auch das Foto von o anders ausgefallen. Die Redeweise davon, dass das Foto oder die visuelle Wahrnehmung von o entsprechend „anders“ gewesen wäre, ist vieldeutig. Sowohl Fotografien als auch Wahrnehmung sind Repräsentationen. Bei Repräsentationen kann man Vehikel von Inhalten unterscheiden. Verschiedene Abzüge desselben Fotos sind so viele Vehikel mit demselben Inhalt, und verschiedene Wahrnehmung derselben Sache sind ebenfalls so viele Vehikel mit demselben Inhalt. Es geht also nicht darum, dass das Vehikel entsprechend ein anderes gewesen sein könnte, sondern dass der Inhalt entsprechend anders sein könnte. 992 510 Zwischen o, der Fotografie von o und meiner visuellen Wahrnehmung der Fotografie von o erhält sich ein dichtes, reichhaltiges, feinkörniges Muster kontrafaktischer Abhängigkeiten. Aus diesem Grund ist die Fotografie visuell transparent. Im selben Jahr wie Walton hat Millikan ebenfalls TFT vertreten, wenn auch nur beiläufig. Sie schreibt über eine auf einem Foto abgebildete Person: „[W]e see the person directly, focusing with the mind through the photograph upon the person-affairs behind. We see directly that the person wears a hat or that she smiles.“993 Millikans Punkt besteht darin, dass wir unser Wissen über die Funktionsweise von Fotoapparaten und die Herstellung von Fotografien in keiner Weise einsetzen, um aus der zweidimensionalen Abbildung der Person Rückschlüsse auf diese zu ziehen. Wir erschließen nicht aus dem Bild, dass die Person einen Hut trägt oder lächelt, sondern wir sehen direkt, dass die Person einen Hut trägt oder lächelt, weil wir (buchstäblich durch das Foto hindurch) die Person sehen.994 Anders als Walton basiert Millikans Fassung von TFT jedoch nicht auf KTS, sondern auf einer biosemantischen Theorie der Wahrnehmung. Sie erst macht, wie mir scheint, TFT verständlich und plausibel. Wie kann TFT Plausibilität verliehen werden? Man kann TFT vielleicht besser akzeptieren, wenn man sich vor Augen hält, dass Fotos nicht nur Bilder sind, sondern eine Art Sehhilfen. Man sieht Dinge, indem man die Augen auf sie richtet. Eine Vielzahl von Sehhilfen kann uns dabei unterstützen. Mithilfe von Brillengläsern sehen wir, und zwar nicht Brillenglasbilder, sondern die Dinge selbst. Mithilfe von Spiegeln sehen wir, und zwar nicht Spiegelbilder, sondern die Dinge selbst (z.B. unser Gesicht). Ebenso ist es mit Mikroskopen, Ferngläsern und Teleskopen: Wir sehen keine Bilder vom Mond, von Segelschiffen oder von Infusorien, sondern wir sehen diese Objekte selbst. Selbst wenn die Linsen und Spiegelflächen rissig, verzogen oder eingefärbt sind, sehen wir durch sie hindurch Gesicht, Mond, Segelschiffe und Infusorien. Sie erscheinen uns zwar als ob sie zerrissen, verzogen oder grün wären. Bekanntlich können uns Dinge etwas anders erscheinen, als sie sind, entweder aufgrund externer Umstände (im Nebel, durch Milchglas usw.) oder aufgrund interner Ursachen (Sehschwäche, Trunkenheit usw.), ohne dass wir deshalb eher Abbilder dieser Objekte als sie selbst wahrnehmen würden. Man mag dagegen einwenden, dass man im Falle von Wasserspiegelungen oder Mehrfachspieglungen ein Objekt merkwürdigerweise doppelt oder mehrfach sehen würde, obwohl es sich doch nur um ein Objekt handelt. Doch wenn ich mit meinen Augen ungenau einen Gegenstand fokussiere, LTOBC: 319. Hier entsteht natürlich ein Problem: Ich kann nicht sehen, dass meine Großmutter lächelt oder einen Hut trägt, weil sie nicht mehr existiert. Wollen wir sagen: Ich sehe, dass sie gelächelt oder dass sie einen Hut getragen hat? Walton zufolge sollten wir sagen, dass wir o direkt sehen, dass aber die Wahrnehmung, dass o jetzt lächelt ein Glaubenmachen (make-believe) ist. 993 994 511 sehe ich ihn doppelt, wenn ich ihn durch ein Kaleidoskop betrachte, sehe ich ihn mehrfach, wenn ich meine Brille abnehme, sehe ich Lichtquellen (wie brennende Kerzen, erleuchtete Straßenlaternen oder nächtliche Sterne) in zahlreiche leuchtende Punkte zerstreut. Nichts davon hindert mich daran, diese Objekte zu sehen, und zwar sie selbst, nicht deren Abbilder. Wie wir bereits feststellen konnten (5.1.5.3.), schließt unser Begriff des Sehens erstaunliche visuelle Fähigkeiten keineswegs aus, solange die aktive Fähigkeit (5.3.1.3.) zur visuellen Wahrnehmung in der Verfügung (5.3.1.3.) des Lebewesens ist. Solche Fähigkeiten sind lediglich ungewöhnlich und schlagen aus der Art.995 Superman, Vertreter der biologischen Art der Kryptoniten, besitzt übermenschliche visuelle Fähigkeiten, die sowohl den für uns zugänglichen Bereich des elektromagnetischen Spektrums (durch seinen Röntgenblick bzw. Infrarotblick) als auch den Grad der uns erreichbaren Auflösung weit übertrifft (durch seinen Mikroskopblick bzw. Teleskopblick). Mithilfe seines Röntgenblicks sieht Superman durch opake Objekte, mit dem Teleskopblick sieht er auf andere Planeten, mit dem Mikroskopblick dringt er in den atomaren Bereich vor. So ist Superman in der Lage mithilfe seiner kombinierbaren Superblicke durch die Wand einer um die Erde kreisenden Raumstation das tödliche Virus im Körper des Astronauten zu erblicken. Im Unterscheid zu unseren visuellen Subsystemen kann Superman seine Superblicke zwar willentlich steuern, doch es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass wir willentlich von Zäpfchen („Tagblick“) auf Stäbchen („Nachtblick“) umstellen könnten. Kurzum, Supermans übermenschliche visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten unterscheiden sich im Wesen nicht von der Wahrnehmung, die wir haben, wenn wir eine Brille benutzen, auf Röntgenbilder blicken, mit Nachtsichtgeräten beobachten, durch Mikroskope oder Teleskope spähen. Das Sehen durch Mikroskope oder Teleskope ist kein anderes Sehen als Sehen mit bloßem Auge. Für das Sehen von einem Wildschwein macht es keinen Unterschied, ob ich es von bloßem Auge, durch ein Nachtsichtgerät oder durch ein Fernglas erblicke. In allen Fällen sehe ich ein Wildschwein. Ebenso wie Brillen, Spiegel, Röntgenapparate, Mikroskope oder Teleskope Sehhilfen darstellen, stellen Fotos Sehhilfen dar. Mit Brillen sehen wir scharf, mit Spiegeln hinter uns, mit Mikroskopen das Kleine, mit Teleskopen das Ferne, mit Nachtsichtgeräten das Verdunkelte, mit Röntgenapparaten das Verdeckte, mithilfe von Wärmebildkameras der natürlichen Wahrnehmung unzugängliche Bereiche des Spektrums. 995 Zweifellos verfügen Exemplare unterschiedlicher biologischer Arten über sehr unterschiedlich gute Augen. (Wir erinnern uns aus 3.2.4., was gute Augen sind: Je besser ein Auge unter variierenden Lichtintensitäten auflöst, desto besser ist es qua Auge. Aus dieser Perspektive haben Adler bessere Augen als Schnecken.) 512 Wobei helfen uns jedoch Fotos, im Unterschied zu anderen Sehhilfen? Sie geben uns vier spezifische visuelle Hilfestellungen: (i) Sie helfen uns dabei, Dinge wahrzunehmen, die im zeitlichen Fluss der Wahrnehmung unbemerkt bleiben könnten. (ii) Sie helfen uns, zeitlich und räumlich Entferntes zu sehen. So geben sie z.B. Antwort auf die Frage, wie Abraham Lincoln ausgesehen hat.996 (iii) Sie helfen uns, Dinge dekontextualisiert zu sehen. Wie sieht ein Auge ohne Gesicht aus? (iv) Sie helfen uns, stillgestellte Momente zu sehen. Berühren die vier Hufe eines galoppierenden Pferdes in irgendeinem Moment den Boden nicht?997 Ich möchte den Punkt (ii) vertiefen, da er, wie es den Anschein macht, am stärksten unseren Intuitionen zuwider läuft. Wie sollen wir Personen sehen können, die längst verstorben sind, Dinge, die nicht mehr da oder längst zerfallen sind? Zum Sehen gehört der von Walton vertretenen Version von TFT zufolge der kausale Kontakt zum Objekt. Muss das Objekt präsent oder noch existierend sein, damit man es sehen kann? Nein. Man denke an den Stern, der erloschen ist, wenn das Licht bei uns ankommt. Die Kausalkette ist sozusagen bei uns angekommen, doch das Objekt ist schon weg. Obwohl der Stern weg ist, sehe ich ihn jetzt direkt. Entscheidend sind, so Walton, die kausale Kette und das Medium. Sehen verlangt eine durch das Medium Licht vermittelte kausale Relation zum gesehenen Objekt. Es ist keineswegs ungewöhnlich zu sagen, man könne etwas sehen, was nicht da ist. Man kann Dinge sehen, die nicht da sind, wo man hinblickt, nämlich im Spiegel. Das ist nicht gemeint. Gemeint ist: Man sieht ein Objekt, das nicht mehr da ist. Es handelt sich dabei nicht um eine Halluzination, denn es ist dieses Objekt, das nicht mehr da ist, das die Kausalkette ausgelöst hat. Im Falle der Halluzination sehe ich ein Objekt, das niemals dort gewesen ist, wo ich es sehe. Der Stern war aber dort, wo ich ihn sehe, und er hat als materielles Objekt existiert. Nehmen wir einen Vergleich. Am Abend des 14. April 1865 schoss der Schauspieler John Wilkes Booth in einer Loge des Ford Theaters mit einer Derringer in den Hinterkopf des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln, der am folgenden Tag kurz nach 07:00 Uhr der Verletzung erlag, die Booth ihm zugefügt hatte. Zwölf Tage nach 996 Walton 2008: 112 hat diesen Sehdienst wie folgt zugespitzt: „With the assistance of the camera, we can see not only around corners and what is distant or small [wie im Falle von Spiegeln und Linsen]; we can also see into the past. We see long deceased ancestors when we look at dusty snapshots of them. […] We see, quite literally, our dead relatives themselves when we look at photographs of them.“ 997 Scruton 1981 folgert aus TFT, dass Fotografien keine Kunstwerke sein können. Diese These halte ich für falsch. Gerade TFT kann verständlich machen, warum Fotos Kunstwerke sein können und warum sie den Wert von direkten Zeugnissen über die Vergangenheit haben. Die vier genannten Aspekte sind es, die sowohl für den dokumentarischen als auch für den ästhetischen Wert von Fotografien verantwortlich sind. Aufgrund ihrer Transparenz hat die Fotografie (und auch der Film als bewegte Fotografie) unser Verhältnis zur Vergangenheit (oder Geschichte) auf entscheidende Weise verändert. Wir können an vergangene (d.h. nicht mehr existierende) Objekte und Ereignisse nicht nur denken oder uns an sie erinnern, nicht nur dokumentarische, historische, narrative oder piktoriale Darstellungen von ihnen zur Kenntnis nehmen, wir können diese Objekte und Ereignisse buchstäblich sehen. Wir können beispielsweise Brahms selbst auf einer Fotografie sehen und wir können ihn auf einer sehr frühen Walzenaufnahme selbst spielen hören. 513 dem Attentat, am 26. April 1865, wurde Booth bei seiner Gefangennahme erschossen. Zweifellos ist Booth der Mörder von Lincoln, denn der Schuss, den er auf den Präsidenten abgegeben hat, ist die unmittelbare Ursache für den Tod des Präsidenten. Eine ununterbrochene und direkte kausale Kette führt von Booths willentlicher und planvoller Betätigung der Derringer zu Lincolns Tod. Stellen wir uns nun vor, es wäre Henry Rathbone, der in Lincolns Loge gesessen hat, direkt nach dem Schuss gelungen, den Attentäter zu überwältigen, und er hätte ihn in diesem Kampf sofort getötet. (Tatsächlich wurde Rathbone, der den Attentäter festzuhalten versuchte, von Booths Messer schwer verletzt). Booth wäre tot gewesen und dennoch der Mörder des neun Stunden nach ihm verstorbenen Präsidenten. Der tote Booth wäre die Ursache des Todes des Präsidenten. Ein Toter kann also durchaus die Ursache von etwas sein, das sich nach seinem Ableben ereignet.998 Ein Ereignis, das einem Objekt widerfährt, bzw. eine Handlung, die eine Person ausführt, kann also eine Wirkung zeitigen, auch wenn das Objekt bzw. die Person zerstört worden sind und als solche nicht mehr existieren. In analoger Weise kann ein nicht mehr existierender Stern eine direkte Wirkung auf mein visuelles System haben, die darin besteht, dass ich diesen Stern direkt sehe. Folglich ist es für das Sehen eines Objekts nicht erforderlich, dass dieses Objekt zum Zeitpunkt des Sehens nach wie vor existiert. Dieser Schluss hat Folgen für das Sehen von Objekten auf Fotografien. Wir sehen auf Fotografien die fotografierten Objekte selbst und keine Stellvertreter oder Repräsentationen dieser Dinge (auch wenn Fotos Repräsentationen sind). Die Fotografie ist transparent auf das fotografierte Objekt hin. Ebenso wie ich in einem Spiegel (besser: „durch einen Spiegel“ in Sinne sowohl von „mittels“ als auch von „hindurch“) den hinter mir stehenden Lincoln sehen kann, kann ich auf einem Foto den räumlich oder zeitlich weit entfernten Lincoln sehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man auf einer Fotografie dasselbe sieht, was man sehen würde, wenn man dem fotografierten Objekt nackten Auges gegenüber stünde, denn zweifellos wäre ein Sehen, das einer Fotografie analog wäre, sehr eingeschränkt und von gewöhnlichen Umständen entfernt, da es sich um ein Sehen mit nur einem Auge, für den Bruchteil einer Sekunde, möglicherweise in Schwarz-Weiß, den Kopf starr fixiert, mit einer etwas anderen Linse als unserer Retina usw. handelt.999 Auch ein eingeschränktes und von normalen Umständen entferntes Sehenitr von o ist ein Sehenitr von o. Dies klingt noch nicht ganz richtig, denn weder der lebendige noch der tote Booth (eine Person) ist Ursache des Todes von Lincoln, sondern vielmehr der Schuss, den der damals lebendige und nunmehr tote Booth auf Lincoln abgefeuert hat (eine Handlung). Es geht hier aber nicht um die Frage, wann Booths Handlung, die wir als „Mord“ bezeichnen, abgeschlossen ist. 999 Vgl. Snyder u. Allen 1975: 151f. 998 514 Vertreter von TFT wie Walton ziehen eine deutliche Unterscheidung zwischen einer Sehhilfe (einem Foto von Lincoln oder vom Campanile) und einem Gemälde (einem Porträt von Lincoln oder vom Campanile). Worin besteht der Unterschied? Walton ist der Ansicht, dass die fotografische Repräsentation des Campanile kontrafaktisch abhängig ist vom Campanile selbst bzw. von seinen sichtbaren Eigenschaften (zu t, aus P). Nun ist Canalettos Darstellung des Campanile ebenfalls abhängig von den sichtbaren Eigenschaften des Turms. Wäre der Turm rund oder grün gewesen, hätte er ihn entsprechend anders gemalt. Doch die Abhängigkeit betrifft hier nicht die sichtbaren Eigenschaften des Campanile, sondern die Überzeugungen über seine sichtbaren Eigenschaften. Gehen wir davon aus, dass es sich dabei um Canalettos Überzeugungen handelt. Wären die Überzeugungen Canalettos andere gewesen, hätte er den Turm ceteris paribus entsprechend anders gemalt. Die kontrafaktische Abhängigkeit eines Fotos von der Szenerie am Markusplatz ist mechanisch (reproduktiv) vermittelt, die Abhängigkeit zwischen einem Gemälde dieser Szenerie hingegen ist attitudional (intentional) vermittelt. Der Unterschied zwischen mechanischer und attitudionaler Abhängigkeit ist epistemisch wichtig. Die Zuverlässigkeit einer Gemäldeserie eines Verbrechens oder einer Zeichnung einer als ausgestorben betrachteten Tierart hängen von der Zuverlässigkeit der Überzeugungen des Malers oder des Zeichners ab. Man gewinnt in erster Linie Aufschluss über die Überzeugungen des Produzenten: „So hat sich das Verbrechen mir dargestellt“ bzw. „So sah diese Tierart für mich aus“. Wären die Überzeugungen dieser Produzenten andere gewesen, so wären auch die Darstellungen entsprechend anders ausgefallen. Gemälde und Zeichnungen sind opak. Anders im Falle von Fotografien: Man erhält durch (wörtlich: durch) die Fotoserie Aufschluss über den Hergang der Untat, man erhält durch (wörtlich: durch) das Foto Aufschluss über das Aussehen der Tierart. Wären die fotografierten Sachverhalte andere gewesen oder anders in Erscheinung getreten, so wären die Fotos entsprechend anders ausgefallen, und zwar unabhängig von den Überzeugungen des Fotografen. Aus diesem Grund werden Gemälde und Zeichnungen, anders als Foto und Film, weder vor Gericht noch in den Naturwissenschaften als Evidenzen betrachtet. Waltons Version von TFT nimmt also einerseits KTS in Anspruch, andererseits schließt sie attitudionale Abhängigkeiten aus. Aus biosemantischer Perspektive legen diese beiden Aspekte nicht die Grenze der erworbenen Wahrnehmung fest. Um diesen Punkt in den Griff zu bekommen, können wir uns gemalten Porträts zuwenden. George Henry Story hat berühmte Porträts von Lincoln angefertigt. Wenn nun der Schauspieler S. dem Porträtmaler Story Modell gesessen hätte, damit dieser ein Porträt des leider viel zu beschäftigten Präsidenten Lincoln anfertigen kann, dann wäre natürlich auch 515 daraus eine piktoriale Darstellung (ein Gemälde) Lincolns entstanden. Dasselbe gilt, wenn Lincoln diesem Maler in höchst eigener Person Modell sitzt. In beiden Fällen sehe ich ein Bild, das Lincoln darstellt, egal ob S. oder Lincoln Modell gesessen hat. Auf einer Fotografie von Lincoln sehe ich jedoch nicht ein Bild, das Lincoln darstellt, sondern laut TFT Lincoln selbst. Lincoln kann auf einem Foto nicht durch S. vertreten werden, auch wenn dieser sich noch so sehr verkleidet haben mag. Niemals sehe ich dann ein Foto von Lincoln. Die Relation zwischen Lincolns Foto und Lincoln selbst gleicht eher der Relation seines persönlichen Auftauchens hinter meinem Rücken und seinem Spiegelbild vor mir. Im Spiegelbild sehe ich Lincoln selbst. Hätte der Schauspieler S. Modell gesessen, dann gliche Lincolns Relation zu seinem Porträt der Relation des Schauspielers Henry Fonda zu Lincoln selbst. Im Film „Young Mister Lincoln“ sehe ich Henry Fonda und ich sehe, dass Fonda Lincoln darstellt („spielt“), ich sehe aber nicht Lincoln selbst (ja, ich sehe nicht einmal ein Bild von Lincoln, weder im Sinne des Gemäldes noch im Sinne des Fotos, da der Spielfilm, anders als das Porträt oder das Foto, nicht zu einer kulturellen Kategorie gehört, die die Echte Funktion hat, dargestellte Personen abzubilden. Nun verhält es sich so, dass Lincoln selbst dem Maler Story Modell gesessen. Was sehe ich also auf dem Porträt? Beginnen wir mit folgenden Überlegungen: Es gibt Phantombilder, mit deren Hilfe nach Personen gefahndet wird. Diese Bilder haben die Funktion, Personen erkennbar zu machen, damit man gegebenenfalls auf sie verweisen kann. Wir können uns vorstellen, dass etwa im Falle des vermeintlich zurückgekehrten Martin Guerre (ein historischer Fall aus dem 16. Jh., in dem ein Hochstapler behauptete, der verschwundene Bauer Martin Guerre zu sein) die Schwester des Martin Guerre ein Porträt hochhält und, indem sie zuerst auf das Porträt und dann auf den Hochstapler zeigt, sagt: „Dies ist Martin und nicht dieser Betrüger dort!“ Der künstlerisch unbedeutende, doch mit Aufträgen überlaufene englische Maler der viktorianischen High Society malt seine Klienten nach bestimmten kollektiven Konventionen und individuellen Standards und gibt die entworfenen Skizzen zur Fertigstellung in seine Werkstatt. Schließlich können auch Landschaftsbilder oder Porträts (oder andere figurative Gemälde mit einem Genrebezug auf Sachverhalte in der Welt) als intentionale Zeichen mit Echten Funktionen betrachtet werden, die (im Falle des Porträts) minimal etwa darin besteht, eine Person für den zeitgenössischen Betrachter (in positivem Lichte, mit repräsentativer Ausstrahlung usw.) erkennbar zu machen. Canalettos Venedig-Bilder oder Storys Lincoln-Porträts sind ebenso transparent wie Fotos und andere Sehhilfen, denn das auf ihnen Dargestellte befindet sich in kausaler kontrafaktischer Abhängigkeit von der gemalten Szenerie bzw. steht mit ihr in Isomorphie-Relationen im Sinne eines R-Inhalts. Der Betrachter kann die 516 Überzeugungen des Malers sozusagen umgehen und durch die farbigen Flecken und Linien hindurch die porträtierte Person oder Landschaft sehen. Transparenz ist deshalb ein Merkmal figurativer Bilder (seien es Fotos oder Gemälde), wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Der entscheidende Punkt liegt also nicht nur darin, dass (i) zwischen der Wahrnehmung und dem Objekt o kontrafaktische kausale Abhängigkeiten bestehen, sondern auch darin, dass (ii) zwischen der Wahrnehmung und dem Objekt o IsomorphieRelationen bestimmter Art bestehen und dass (iii) die P-Vehikel zu einer kulturellen normativen Kategorie gehören, die die Funktion haben, Abbilder von Objekten der Art o herzustellen. Vielleicht können wir die folgende Homogenitäts-Einschränkung der Transparenz einführen: Ein Instrument I ist nur dann auf ein Objekt o hin transparent, wenn es sich bei den mittels I (durch von I produzierte R-Vehikel RV) wahrnehmbaren Eigenschaften E von o um für eine bestimmte natürliche Sinnesmodalität S genuin wahrnehmbare (natürliche) E handelt und wenn I durch S selbst benutzt wird (in der Verfügung von S steht). Wir können nun sagen: Die durch RV von I wahrnehmbaren E und die durch S ohne RV von I wahrnehmbaren E von o müssen homogen sein, d.h. es muss sich um dieselbe Art sinnlicher Eigenschaften handeln. (Wir können es dahingestellt bleiben lassen, ob die Eigenschaften als Eignungen oder als Attribute wahrgenommen werden.) Die Sinnesmodalität, mit der wir sehen, dass Lincoln einen dunklen Hauttyp hat, ist dieselbe, mit der wir auf einer (durch eine) Fotografie oder auf einem (durch ein) Porträt sehen, dass er einen dunklen Haupttyp hatte. Eine Schallplatten-Aufnahme von Charles Panzeras Stimme ist transparent, weil die Aufnahme die Stimme der akustischen Modalität darbietet und Stimmen akustisch wahrgenommen werden. Zweifellos kann man Stimmen und Gemälde spüren. Ein Tauber mag die körperliche Erschütterung der Stimme spüren, solange sie nur laut genug ist. Eine blinde Person mag ihren Tastsinn dergestalt trainieren, dass sie fähig ist, van Goghs Bilder von anderen Gemälden zu unterscheiden, und sogar die einzelnen van Goghs wiederum zu unterscheiden. Sie nimmt „Der Sämann“ sozusagen durch die Finger wahr, nicht durch die Augen, und sie kann wie wir zu Wahrnehmungsüberzeugungen folgender Art gelangen: „Das ist der Sämann von van Gogh. Links oben die übergroße Sonne. Hier die säende Hand.“ Doch bei diesen Wahrnehmungen handelt es sich nicht um Wahrnehmungen des dargestellten Objekts, sondern um Wahrnehmungen allein des Mediums oder Vehikels. Der Taube hört nicht durch die Erschütterungen hindurch, die Blinde berührt nicht das dargestellte Objekt, sondern eine Repräsentation des dargestellten Objekts. Zwar sieht auch der Sehende das Fotopapier oder Öl auf Leinwand, doch er sieht durch die Medien oder Vehikel hindurch 517 die dargestellten Objekte, weil es die Funktion dieser Bilder ist, diese Objekte visuell zu repräsentieren (oder weil die bildliche Repräsentation kontrafaktisch abhängig ist von der repräsentierten Szenerie), so wie eine visuelle Wahrnehmung von der Szenerie abhängig wäre, und nicht wie eine taktile Wahrnehmung von der repräsentierten Szenerie abhängig wäre. Das Prinzip der Homogenität der genuin wahrnehmbaren Eigenschaften einer Sinnesmodalität als eine Bedingung perzeptiver Transparenz erlaubt es nicht, mithilfe einer Sinnesmodalität S Eigenschaften wahrzunehmen, die nicht zur Sinnesmodalität S gehören. Es bestehen systematische Variationen zwischen o und dem Foto (oder einer Fotoserie) bzw. der visuellen Wahrnehmung (das heißt genauer: eines Wahrnehmungsprozesses), so dass Veränderungen auf Seiten des Repräsentierten mit Veränderungen auf Seiten des Repräsentierenden (der Fotoserie, des Wahrnehmungsprozesses) korrespondieren. Das Foto, die Wahrnehmung sind Abbilder (mappings), nicht allein im Sinne des hier sachlich nahe gelegten piktorialen Verhältnisses, sondern im Sinne des abstrakteren Abbildungsverhältnisses der strukturellen Isomorphie. So sagt Wittgenstein an einer bekannten Stelle: „Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zu einander, die zwischen Sprache und Welt besteht.“1000 Doch aus dieser Beziehung folgt nicht, dass ich auch alle diese Dinge hören kann. Eine Schallplattenaufnahme von Charles Panzera ist ein Abbild der Stimme Panzeras. Wer eine Schallplattenaufnahme von Panzera hört, hört ihn singen. Die phonographische Abbildung der Stimme wäre anders gewesen, hätte Panzera anders gesungen, ebenso wäre die akustische Wahrnehmung der Stimme eine andere, würde Panzera anders singen. So sind auch Schallplattenaufnahmen transparent, es handelt sich um phonographische Transparenz. Gemäß der Homogenitäts-Einschränkung gilt: Man hört nicht die musikalischen Gedanken von Schumann oder die Notendruckschrift des Verlags Härtel, denn weder musikalische Gedanken noch Druckschriften haben als solche akustisch wahrnehmbare Eigenschaften. Der Grund für die Homogenität liegt darin, dass die erworbenen Wahrnehmungen eingebettet sind in Wahrnehmungsempfindungen und dass in der natürlichen Wahrnehmung, von der jede erworbene Wahrnehmung ausgeht, stets Wahrnehmungserfahrungen als Zeichen für etwas verwendet werden. Diese sind die primären R-Vehikel. Wie wir am Beispiel der Olfaktoren gesehen haben (5.1.5.3.), ist die Relation zwischen bestimmten Typen von Wahrnehmungserfahrungen kontingent. Es ist nichts weiter als eine biologisch kontingente Tatsache, dass diese Typen von 1000 TLP 4.014 (vgl. Wittgenstein 1984ff., Bd. 1). 518 Wahrnehmungserfahrungen mit diesen Typen von Eigenschaften (sei es als Eignungen oder als Attribute) korrespondieren. Van Cleves Sorge kann so ebenfalls Rechnung getragen werden: „I return home and see my wife’s car keys on the counter […], whereupon I automatically conceive of her and believe that she is home. Since she is upstairs, I do not perceive her ….“1001 Der Schlüssel verletzt nicht nur die HomogenitätsEinschränkung und die strukturelle Isomorphie eine R-Vehikels, er führt auch keine kulturelle funktionale normative Kategorie an, die die Funktion hätte, visuelle Eigenschaften einer Ehefrau für Wesen mit VS sichtbar zu machen. Damit haben wir das dritte Problem, das sich aus Reids Unterscheidung zwischen natürlichen und erworbenen Wahrnehmungen ergibt, behoben. Im Unterschied zu Walton und Millikan, die der Ansicht sind, dass der von ihnen intendierte Sinn von „sehen“ in TFT nicht der Commonsense-Sinn ist,1002 bin ich der Auffassung, dass der Commonsense-Sinn von „sehen“ durch TFT keineswegs überdehnt, gesprengt oder verlassen wird. Wir sehen mithilfe optischer Instrumente die Objekte selbst, nicht deren Abbilder, auch wenn diese Objekte räumlich und zeitlich weit von uns entfernt sind. Diese scheinbar nur kulturelltechnische Erweiterung des visuellen Horizonts beruht auf biologischen Fähigkeiten und ist selbst in keinem interessanten Sinne von unseren biologischen Fähigkeiten unterschieden. Was Tiere tun, bleibt Tiertun, auch bei nicht-menschlichen Tieren. Van Cleve 2004: 127. Millikan selbst ist bereit viel weiterzugehen (Mail vom 26.03.2009): „The difficulty with talking about this is that our ordinary words for perception, like ‘seeing’, ‘hearing’ and so forth have a much narrower scope. So it has to be kept in mind that the claim is absolutely not a piece of conceptual analysis!! The question concerns directness of psychological processing, which is in the end an empirical matter, but as philosophers we can argue that there are many things we know and others that are known by experimental psychology that support the position. So yes, my suggestion is that reading what someone has written is also generally processed directly, and that it contains natural information, in the typical case, just as hearing what someone says does and just as looking and seeing does. I think the reason this seems odd to us is that both as laymen and as philosophers we tend implicitly to assume that when you see something or perhaps feel it, the real nature of the seen or felt thing is somehow present to the senses whereas it’s not when you learn through language.“ Ich glaube, der Grund des Sträubens ist hier weder ein normalsprachliches noch analytisches Vorurteil, auch keine Version des Mythos des Gegebenen, sondern in erster Linie der Umstand, dass es, gegeben Millikans Konsequenzen aus der Transparenzthese, keine klare Kontrastklasse gibt zur Transparenz von Fotos, Tonaufnahmen usw. 1001 1002 519 Nachwort Das Buch ist ein umfangreiches Buch geworden. Im Vorwort habe ich als schwache Entschuldigung dafür angeboten, dass es sogar noch umfangreicher hätte werden sollen. Denn zweifellos fehlen für eine biosemantische Theorie als Ausdruck eines einheitlichen naturalistischen Bildes unserer Stellung in der natürlichen Welt, wie ich es in 1.1.1. formuliert habe, drei wichtige Elemente. Ich habe nämlich in 1.1.6. lediglich skizziert, wie Aussagen und Überzeugungen nach dem Vorgehen der Theoriekonstruktion als Repräsentationen im Sinne der Biosemantik verstanden werden können, und ich habe in 5.3.3.3. behauptet, dass Eigenschaften, anders als Eignungen, als Attribute erfasst werden, wenn sie Gegenstand attributiver Aussagen oder begriffliche Urteile werden. Millikans Biosemantik bietet natürlich sowohl eine Theorie über unser Überzeugungssystem als auch über die Intentionalität der Sprache und über Begriffe an. Unser Überzeugungssystem ist für Millikan wesentlich durch folgende drei Momente bestimmt: die Subjekt-Prädikat-Struktur, die Fähigkeit zur Negation und das Streben nach Kohärenz des Systems. Sozusagen nach außen hin interagiert das Überzeugungssystem mit der Intentionalität unserer sinnlichen Repräsentationssysteme und mit der Intentionalität der Sprache. Das Überzeugungssystem hat also zwei Umwelten: eine sinnliche und eine sprachliche. Die Bildung von Begriffen ist eine Bedingung für den Unterhalt eines Überzeugungssystems. Millikan vertritt nun die These, dass unser Überzeugungssystem Begriffe sowohl infolge der Interaktion mit der nicht-sprachlichen als auch mit der sprachlichen Umwelt bilden, und zwar letztere in Analogie zu ersterem. Die entsprechende sprachliche Transparenzthese lautet also, dass sprachliche Repräsentationen (unter bestimmten Bedingungen) transparente Zeichen für bestimmte Sachverhalte in der Welt sind.1003 Dies ist die intuitive Idee: Etwas gesagt zu bekommen heißt auch, etwas zu Gehör zu bekommen: „Think of the matter this way. There are many ways to recognize, for example, rain. […] There is a way that it sounds falling on the rooftop, ‘retetetetetet’, and a way that it sounds falling on the ground, ‘shshshshsh’. And falling on English speakers, here is another way it can sound: ‘Hey guys, it’s raining!’“1004 Gesagt bekommen, dass p, und hören, dass p, sind beides Formen direkter Wahrnehmung. Eine Überzeugung ausbilden, weil einem etwas gesagt wird, heißt eine Wahrnehmungsüberzeugung ausbilden: „Forming a belief about where Johnny is on the basis of being told where he is, is just as direct a process (and just as indirect) as forming a 1003 1004 Vgl. OCCI: VI; VM: IX; LBM: 104, 117-119, 202-219. OCCI: 86. 520 belief about where Johnny is on the basis of seeing him there.“1005 Ebenso wie wir durch die Sinne raumzeitlich diskontinuierlicher Substanzen (d.h. von Stoffen wie Milch, von Arten wie Maus, von Individuen wie Mama) mittels Wahrnehmungen, Schlüssen, Schablonen und sprachlichen Verlautbarungen verfolgen können, so können wir dies auch durch die Sprache. Wie jemand bei Tageslicht oder durch ein Nachtsichtgerät der biologischen Art Wildschwein durch visuelle Wahrnehmung begrifflich auf der Spur bleiben kann, so kann er durch Zuhören und Lesen der biologischen Art Klippenschliefer auf der Spur bleiben. (Wer noch nie von Klippenschliefern gehört hat, hat soeben seine erste sprachliche Wahrnehmung von dieser Spezies gemacht. Durch die Zusatzinformation, dass es sich bei Klippenschliefern um eine biologische Art handelt, weiß er in etwa, welche Erwartungen an und welche Fragen über diese Substanz gestellt werden können. Zusatzinformationen dieser Art nennt Millikan „templates“). Ich habe jedoch mit der Homogenitäts-Beschränkung dieser Idee bis zu einem gewissen Grad den Boden entzogen. Hinzu kommen die beiden folgenden Probleme. Erstes behauptet Millikan lediglich, dass Überzeugungssysteme durch Subjekt-Prädikat-Struktur, Negation und Kohärenz charakterisiert sind, sie argumentiert jedoch nicht für diese Annahme. Mehr noch, sie macht in keiner Weise verständlich, ob diese Momente hinreichend sind und worin ihr innerer Zusammenhang besteht. Aus der Perspektive des Biologischen Naturalismus erscheint es schließlich sogar als ausgesprochen wundersam, wie Systeme mit solchen Eigenschaften plötzlich entstehen können, denn die Repräsentationssysteme nichtmenschlicher Tiere entbehren dieser Momente. Kurz und gut, was Millikan nicht bietet, ist ein ausreichende Explikation der spezifischen theoretischen Rationalität von Menschentieren. Auch Millikan Ausführungen zur sprachlichen Intentionalität sind dünn. Wie Bienentänze haben sprachliche Formen Echte Funktionen, die sich in einem Prozess der Ko-Evolution zwischen kooperativen Partnern, nämlich Sprechern und Hörern, entwickelt haben. Sprachliche Formen sollen in einem Hörer bestimmte Verhaltensweisen (oder andere Wirkungen) hervorrufen. So besteht die Echte Funktion eines Aussagesatzes darin, wahre Überzeugungen über Sachverhalte in der Welt im Hörer hervorzurufen. Millikan verbindet auf unzureichende Weise die Intentionalität von Sprachformen und Kooperation der Sprecher, unzureichend deshalb, weil über diese Kooperation wenig gesagt wird. Hier fehlt eine befriedigende Explikation der spezifischen praktischen Rationalität von Menschentieren Robert Brandoms Inferenzialismus und sein normativer Pragmatismus nun sind natürlich Versuche, die für Menschentiere spezifische theoretische und praktische 1005 VM: 120. 521 Rationalität philosophisch in den Griff zu bekommen. Da nun sowohl Millikan als auch Brandom von Einsichten des klassischen Pragmatismus und des Normativen Naturalismus von Sellars ausgehen, liegt der Gedanke nahe, ob die beiden Positionen einander nicht auf substanzielle Weise angenähert werden können. Selbstverständlich widerstreben die in dieser Arbeit formulierten Grundlagen der Biosemantik (der Biologische Naturalismus, die Existenz natürlicher Normen und der Animalismus) den Fundamenten des Brandomschen Projekts. Es ließe sich m.E. zeigen, dass ebendieses Projekt an den Fundamenten an schwerwiegenden Problemen leidet, die sich mithilfe der Biosemantik beseitigen lassen.1006 Andererseits können bestimmte Aspekte des Inferenzialismus und Brandom reichhaltige Artikulation des normativen Pragmatismus der Biosemantik genau in den eben eingeklagten Desiderata aushelfen. Dieser Gedanke folgt natürlich der in dieser Arbeit durchgehend verfolgten Strategie (1.3.): Löse Probleme der Biosemantik durch die Zusammenführung mit anderen Positionen, die Lösungen dieser Probleme anbieten, und stelle diesen Positionen die Biosemantik für die Lösung von deren Problemen zur Verfügung. Wir können, so die Idee, darauf bestehen, dass die Instituierung von Normen durch uns nicht nur auf uns als rationale Wesen, sondern auch als biologische Wesen (als Tiere) zutrifft. Dazu müssen wir die Opposition auf geben, der zufolge Naturwesen nur Regularitäten, Vernunftwesen hingegen Regeln folgen. Natürliche Normen sind weder bloße Regularitäten (sie lassen sich nicht auf aktuelle Dispositionen eines Einzelentität reduzieren) noch Regeln (sie lassen sich nicht auf explizite, intentionale Subjekte zurückführen), noch implizit in sozialen Praktiken (sie lassen sich nicht auf unsere normativen Einstellungen zurückführen). Wie wir gesehen haben sind natürliche (biologische und kulturelle) Normen ein Maß des Gelingens oder des Nichtgelingens, das weder auf nomologisches, intentionales, soziales noch auf normatives Vokabular angewiesen ist. Gegen eine solche Option wird vielleicht eingewendet werden, dass damit Brandoms Projekt in die Hände seines Erzfeindes übergeben wird, nämlich in die Hände des Naturalisten, der versuche, unsere begrifflichen Vermögen in einer durch Naturgesetze Die Biosemantik glaubt, der Rückgang auf die Evolution sei grundlegender als der Rückgang auf eine soziale Praxis. Brandoms normativer Pragmatismus hingegen möchte erklären, worin dispositionstranszendente Normativität besteht, ohne auf natürliche Normen zurückzugreifen. Gemäß Brandoms normativem Phänomenalismus (NP) erfolgt die Verleihung eines normativen Status durch normative Einstellungen. Normen seien „in some sense creatures of ours“. Dies ist die Gegenthese zu natürlichen Normen. Doch NP kann den (Kripkensteinschen) Normenregress nicht auffangen. Vielmehr hat NP zur Folge, dass für die Instituierung jeder Norm eine unendliche Anzahl weiterer Normen instituiert werden müsste. Dies lässt es unverständlich erscheinen, wie diese Normen unsere Normen sein können und worin Norm-setzendes Verhalten bestehen soll. Brandoms Unterscheidung zweier Arten von Normativität (implizite und explizite) und NP laden zusammen zum Regress ein. Ein Rückgriff auf natürliche Normen unterbricht den Regress. 1006 522 bestimmten Natur zu domestizieren. Aber warum denn? Die Biosemantik vertritt, wie gezeigt, keinen reduktiven Naturalismus. Und Brandom strebt nicht weniger als die Biosemantik nach einem einheitlichen naturalistischen Bild unserer Stellung in der natürlichen Welt als Wesen mit praktischer und theoretischer Rationalität. 523 Literatur Bücher von Ruth Millikan werden mittels der folgenden, auch von Millikan benutzten, Kürzel zitiert: LTOBC Language, Thought, and Other Biological Categories (Millikan 1984) WQP White Queen Psychology (Millikan 1993a) OCCI On Clear and Confused Ideas (Millikan 2000a) VM Varieties of Meaning (Millikan 2004a) LBM Language. 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