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Book Zur Theorie des Experiments Graßhoff, Gerd, Kärin Nickelsen, and Robert Casties. Zur Theorie des Experiments. Untersuchungen am Beispiel der Entdeckung des Harnstoffzyklus. No. 2. BoD–Books on Demand, 2001. @BOOK{grasshoff2001, title = {Zur Theorie des Experiments. Untersuchungen am Beispiel der Entdeckung des Harnstoffzyklus}, publisher = {Bern Studies in the History and Philosophy of Science}, author = {Gra{\ss}hoff, Gerd and Casties, Robert and Nickelsen, K{\"a}rin}, location = {Bern}, date = {2001}, keywords = {Harnstoffzyklus Geschichte}, } Zur Theorie des Experiments Untersuchungen am Beispiel der Entdeckung des Harnstoffzyklus Gerd Graßhoff, Robert Casties, Kärin Nickelsen Bern Studies in the History and Philosophy of Science Educational materials Copyright c 2000 Bern Studies in the History and Philosophy of Science Editor: Gerd Graßhoff, Bern Co-editors: Timm Lampert, Bern; Tilman Sauer, Bern Graßhoff, Gerd : Zur Theorie des Experiments – Untersuchungen am Beispiel der Entdeckung des Harnstoffzyklus / Gerd Graßhoff, Robert Casties, Kärin Nickelsen. – Bern, 2000. ISBN 3-89811-827-4 Kapitel XIV DIE ENTDECKUNG DES HARNSTOFFZYKLUS: EINE REKONSTRUKTION 1 S KIZZE DER FALLGESCHICHTE Die Entdeckung des Harnstoffzyklus 1931/32 galt schon bald als ein bedeutender Schritt in der Entwicklung der Biochemie.1 Erst Hans Krebs und Kurt Henseleit konnten mit ihrem zyklischen Modell erklären, auf welche Weise der menschliche Körper den in grossen Mengen aufgenommenen Stickstoff zu Harnstoff umwandelt, der in der Folge in der biochemisch enormen Quantität von mehr als 30 g pro Tag ausgeschieden wird. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurde mit neuen analytischen Methoden nachgewiesen, dass sich die Harnstoffproduktion im Körper von Tieren bei einer Fütterung der beiden Aminosäuren Glycin und Leucin steigert. Schultzen und Nencki vermuteten 1869, dass Aminosäuren ein Verbindungsglied in der Reaktionskette von Proteinen zu Harnstoff bilden.2 Eine wesentliche Verfeinerung der experimentellen Verfahren bedeutete 1882 die Einführung der Perfusions- oder Durchströmungsmethode durch Schröder.3 Bei dieser Methode werden gelöste Reagenzien durch ein Organ ausserhalb des lebenden Organismus geleitet und die chemische Zusammensetzung der heraustretenden Flüssigkeit bestimmt. Auf diese Weise stellte man fest, dass nicht nur Glycin und Leucin, sondern nahezu alle bekannten Eiweisse und Aminosäuren die Harnstoffproduktion in der Leber deutlich fördern. Bis in die zwanziger Jahre versuchte man die Anwendung der Perfusionsmethode zu optimieren; trotzdem gelang es nicht, die Einzelheiten der chemischen Reaktionen der Harnstoffbildung zu entschlüsseln. Zu dieser Zeit arbeitete Hans Krebs als Assistent im Laboratorium von Otto Warburg in Berlin. Während dieser Jahre wurde er mit grundlegenden Verfahrenstechniken vertraut und erwarb ein praktisches und theoretisches Wissen, das 1 Die Originalveröffentlichungen sind Krebs & Henseleit (1932a), Krebs & Henseleit (1932b), Krebs & Henseleit (1932c). Eine umfassende historische Darstellung des Hintergrundes und der einzelnen Phasen der Entdeckungsgeschichte bietet Holmes (1991). Die hier vorgestellte Rekonstruktion der Entdeckungsgeschichte stützt sich im Wesentlichen auf die Laborbücher von Hans Krebs und Kurt Henseleit. 2 Schultzen & Nencki (1872), S. 124ff. 3 Viz. Holmes (1980), S. 216–225. 308 in allen Phasen der Entdeckungsgeschichte des Harnstoffzyklus eine wichtige Rolle spielen sollte. Otto Warburg war in den zwanziger Jahren einer der bedeutendsten und einflussreichsten Forscher auf dem Gebiet der physiologischen Chemie. Einer seiner grössten methodischen Erfolge war die Entwicklung manometrischer Verfahren zur Erforschung des Stoffwechsels lebender Zellen. Seit 1923 verwendete Warburg eine neue Gewebeschnittmethode, die es ihm erlaubte, den Stoffwechsel lebender Krebszellen zu studieren; den Ablauf der Reaktionen verfolgte er anhand damit korrelierter Gasumsätze. Gärungen und viele andere natürliche Prozesse erforderten die Anwesenheit lebender Zellen; in Gewebehomogenisaten liessen sich diese Reaktionen nicht nachweisen und somit auch nicht erforschen. Erst Warburg gelang es, mit seiner Gewebeschnittmethode auch diese Reaktionsprozesse unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen. Die Möglichkeiten und Vorteile dieses Verfahrens wurden Hans Krebs während seiner Zeit in Berlin eindrücklich vermittelt, und auch er bediente sich in der Folge der einfach zu handhabenden, aber äusserst effektiven manometrischen Methoden. Als Krebs’ Assistentenstelle bei Warburg im Jahr 1930 auslief, folgte er zunächst Warburgs Rat und blieb in der Klinischen Medizin, statt in die damals noch wenig angesehene Biochemie zu wechseln.4 Neben der Arbeit in der Klinik – zunächst in Altona, dann in Freiburg/Breisgau – setzte Krebs aber seine biochemischen Forschungen fort, und innerhalb weniger Jahre gelangen ihm auf dem Gebiet des intermediären Stoffwechsels bahnbrechende Erfolge. Eines der ersten eigenständigen Projekte von Hans Krebs war in den Jahren 1931/32 die Untersuchung der Harnstoffsynthese im Tierkörper. Sein erklärtes Ziel war die Aufklärung der Reaktionskette, über die in der Leber von Landwirbeltieren Harnstoff gebildet wird. Als Doktoranden und späteren Mitarbeiter beschäftigte Krebs den Medizinstudenten Kurt Henseleit, der ohne Laborerfahrung diese Stelle antrat, sich aber bald als äusserst geschickter Experimentator erwies. Krebs nutzte für seine Experimente die manometrischen Methoden von Otto Warburg, die er allerdings gemäss seiner eigenen Erfahrung und zu seinen besonderen Zwecken weiterentwickelte. So legte Krebs beispielsweise besonderes Augenmerk auf die Versuchslösung, in die die Gewebeschnitte gebracht wurden. Dieses Medium sollte die Verhältnisse im Körper so weit wie möglich imitieren, gleichzeitig aber das Auftreten unkontrollierter Nebenreaktionen, wie sie in Se4 Krebs (1976), S. 1–12. 309 rum zu erwarten sind, verhindern. Die resultierende Lösung, eine Modifikation der sogenannten Ringer-Lösung, wird auch heute noch verwendet und gilt als einer der bedeutendsten methodischen Erfolge von Krebs. Im Folgenden werden grob die einzelnen Arbeitsschritte skizziert, als deren Ergebnis Krebs und Henseleit schliesslich den Reaktionspfad der Harnstoffsynthese entdeckten. Zuvor ist aber in einem ersten Schritt zu bestimmen, welche historischen Details bei einer Erklärung dieser Arbeitsschritte zu berücksichtigen sind, und auf welche Weise sich diese Rekonstruktion der Entdeckungsgeschichte auf die uns vorliegenden Quellen stützt. 1.1 E LEMENTE DER R EKONSTRUKTION EINER E NTDECKUNG In den vorhergehenden Kapiteln wurden zahlreiche Quellen ganz verschiedenen Typs zu der Entdeckung des Harnstoffzyklus besprochen und analysiert. Obwohl die Fallgeschichte in einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen dokumentiert ist, gibt keine von ihnen Auskunft über die Auffassungen der Forscher während der einzelnen Phasen ihrer Arbeit. Welche Informationen Krebs und Henseleit aus der zeitgenössischen Fachliteratur gewannen, wie sie diese für ihr Projekt nutzten und in welcher Phase welcher Denkanstoss bedeutsam war, wird ebenfalls in keinem Dokument explizit beschrieben. Diese Situation ist typisch. Würde man von einer historischen Rekonstruktion fordern, jede ihrer Aussagen mit direkter Evidenz in Form einer Quellenaussage zu belegen, wäre jeder Versuch einer historischen Erklärung wissenschaftlicher Entdeckungen von vornherein gescheitert. Dieser Forderung ist zu scharf und, wie wir zeigen werden, nicht gerechtfertigt. Versteht man eine historische Erklärung als eine Kausalerklärung, so gilt die Methode des kausalen Schliessens, die bereits im ersten Teil dieses Buches eingeführt wurde, auch für die Erklärung wissenschaftlicher Entdeckungen. Mit ihrer Hilfe lassen sich die genannten Lücken in der Dokumentation des Geschehens schliessen. Eine historische Erklärung bezieht sich einerseits auf die Handlungen der Forscher, andererseits auf ihre kognitiven Einstellungen. Die Handlungen werden dabei als Wirkungen verstanden, die Voraussetzungen dieser Handlungen – wozu auch die kognitiven Einstellungen gehören – sind ihre Ursachen. Wie bei der Beurteilung wissenschaftlicher Hypothesen über die kausalen Prozesse in der Natur können nur in den seltensten Fällen alle Umstände und Ereignisse des historischen Kausalzusammenhangs direkt beobachtet werden. Bei einer historischen Erklärung sind somit nur wenige Faktoren des Geschehens an Quellen direkt nachweisbar. Alle anderen relevanten Faktoren sind nur indirekt 310 zu erschliessen. Werden dabei bestimmte methodische Regeln eingehalten, ist ihre Annahme indessen nicht weniger gerechtfertigt als die der direkt belegbaren Faktoren. Wie von jeder Kausalerklärung fordern wir auch von einer historischen Erklärung, dass jeder der angenommenen Faktoren seine Relevanz auszuweisen hat. Wir gehen weiterhin davon aus, dass eine Hypothese über den untersuchten historischen Prozess nur einen partiellen Kausalgraphen liefert. Sie bleibt prinzipiell unvollständig. Keine historische Hypothese erfasst alle relevanten Faktoren des kausalen Zusammenhangs. Dennoch ist eine bestätigte partielle Hypothese, bei der die Relevanz jedes Faktors nachgewiesen ist, als korrekte Erklärung für eine Abfolge wissenschaftlicher Handlungen anzusehen. Im Rahmen einer solchen Erklärung sind verschiedene Faktoren zu unterscheiden: Hypothesen spielen eine wesentliche Rolle für die Abfolge wissenschaftlicher Handlungen. Im Zentrum stehen dabei die partiellen Kausalhypothesen der beteiligten Forscher über den Untersuchungsprozess, im Fall von Krebs seine Hypothesen über die Synthese von Harnstoff im menschlichen Körper. Daneben werden im Verlauf eines Forschungsprojektes partielle Kausalhypothesen über die Mess- und Herstellungsprozesse entwickelt. Ergänzt werden diese Hypothesen durch das jeweilige Wissen der Disziplin, in diesem Fall durch spezielle Kenntnisse auf den Gebieten der Biochemie und der Medizin. Methodologisches Wissen betrifft in unserem Fall primär die Regeln des Kausalen Schliessens, ergänzt um weitere formale Prinzipien der Methodik experimenteller Forschung. Forschungsziele sind Handlungsabsichten, die sich beispielsweise darauf beziehen, eine vorgegebene partielle Kausalhypothese zu vervollständigen, d.h. ein erfolgreiches Experiment zu unternehmen und es regelgerecht auszuwerten. Forschungsziele werden hier ausschliesslich handlungsbezogen verstanden — als das Ziel, eine Handlung gemäss der Absicht erfolgreich durchzuführen. Heuristiken werden in diesem Zusammenhang enger gefasst als in der umgangssprachlichen Redeweise. Wichtige Hypothesen oder methodologisch 311 fruchtbare Verfahrensweisen sind keine Heuristiken im engeren Sinne – sondern eben Hypothesen oder fruchtbare Verfahrensweisen. Unter Heuristiken verstehen wir dagegen ein Wissen um die Handlungsschritte, mittels derer sich Forschungsziele aussichtsreich verfolgen lassen. Das Forschungsziel könnte z.B. in der erfolgreichen Durchführung eines Experiments zur Prüfung einer vorgegeben partiellen Kausalhypothese bestehen; in diesem Fall lägen die zugehörigen Heuristiken in dem Wissen darum, auf welche Weise dieses Experiment gemäss seiner Fragestellung am besten anzulegen, durchzuführen und auszuwerten ist. Epistemische Handlungen sind sowohl physisch, wie das Ausführen eines Experiments, als auch kognitiv, wie etwa das Aufstellen einer Hypothese. Epistemische Gegenstände umfassen Instrumente, Proben, Reagenzien usw. Diese Komponenten einer historischen Erklärung von Forschungsprozessen werden zusammengefasst zu einem Epistemischen System. Die einzelnen Elemente eines epistemischen Systems gehen als Faktoren in die Erklärung eines Forschungsprozesses ein. Die Aussagen schriftlicher Quellen belegen zumeist die Handlungen sowie einige Hypothesen und Ergebnisse der Forscher. Forschungsziele dagegen sind auch in Laborbüchern nur selten festgehalten, dasselbe gilt für die jeweils verfolgten Arbeitshypothesen hinsichtlich der experimentell untersuchten Kausalprozesse. Mit den Regeln des kausalen Schliessens lassen sich aber auch solche, nicht direkt belegbaren Faktoren bestimmen. Die folgenden Abschnitte bilden eine Rekonstruktion gerade dieser Aspekte der Entdeckung des Harnstoffzyklus durch Hans Krebs und Kurt Henseleit, nämlich der Abfolge ihrer Hypothesen über den Bildungsweg des Harnstoffs. Erläuterung 40 Ein Epistemisches System ist der Verbund der für eine Erklärung von Forschungsprozessen erforderlichen epistemischen Komponenten, wie Hypothesen, methodologisches Wissen, Forschungsziele, Heuristiken, Handlungen bzw. Handlungstypen sowie epistemische Gegenstände. 312 1.2 E RSTE Ü BERPRÜFUNG STICKSTOFFHALTIGER S UBSTANZEN Zu Forschungsbeginn hat Hans Krebs keine detaillierte Hypothese über den Reaktionspfad der Harnstoffsynthese. Ihm geht es also nicht um eine Falsifikation oder Bestätigung einer vorgegebenen Theorie — der Schwerpunkt seines Projektes liegt vielmehr in der Konstruktion einer solchen. Den Ausgangspunkt dafür bildet die Vermutung, dass Aminosäuren an der Harnstoffsynthese beteiligt sind, und zwar über eine Abspaltung und Umwandlung ihrer Aminogruppe zu Ammoniak. Diese Ausgangshypothese findet sich prägnant zusammengefasst im Standardlehrbuch der Zeit von Otto Neubauer:5 Durch die Festlegung der Aminosäuren als regelmäßiger Zwischenprodukte beim Eiweißabbau und den Nachweis ihrer Desaminierung ist das Problem der Harnstoffbildung insofern vereinfacht worden, als es jetzt in der Hauptsache so formuliert werden kann: Wie entsteht der Harnstoff aus dem von den Aminosäuren abgespaltenen Ammoniak? Krebs übernimmt diese Hypothese über die Herkunft des Stickstoffs ohne weitere Modifikation; im Folgenden nennen wir sie die Quellenhypothese. R EAKTION 1 Aminosäure + X NH3 + Y ′ −→ NH3 + Y −→ Harnstoff + Z biol. Medium biol. Medium Als erstes Teilproblem versucht Krebs zu klären, welchen Molekülen der Stickstoff des Harnstoffs im Speziellen entstammt. Direkter Vorläufer, so die Hypothese, ist Ammoniak – aber welche Substanzen stehen in der Kette davor? Welche Aminosäuren kommen als Ausgangsstoffe in Frage, und gibt es andere Vorläufer ausser Aminosäuren? Nach einigen Experimenten zur Optimierung der Randbedingungen für die physiologische Reaktion beginnt Krebs, verschiedene Stoffe, in der Mehrheit Aminosäuren, auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Die Liste der Stoffe, die für eine Überprüfung in Frage kommen, ist lang und umfasst eine Reihe plausibler Kandidaten als Vorläufersubstanzen des Harnstoffs.6 Krebs testet zunächst den 5 Neubauer (1928), S. 808. Hervorhebung im Original. Bis zur Entdeckung des Ornithin-Effektes testet Krebs (in chronologischer Reihenfolge des Auftretens): Ammoniak (durch Zugabe von Ammoniumchlorid, NH4 Cl), Alanin, Phenylalanin, Glykokoll (heute: Glycin), Thymin, Thymosin, Uridin, Uracil, Cystein, Arginin, Methylamin, Cystin, Cholin, Ammonimumcarbamin, Ammoniumcyanat, Asparagin und Asparaginsäure. 6 313 Einfluss von Alanin, das sich als die strukturell einfachste und sehr verbreitete Aminosäure für einen ersten Versuch anbietet. Obwohl die in dem Experiment gebildete Harnstoffmenge absolut gesehen gering ist, steigert Alanin relativ zum Kontrollversuch die Harnstoffproduktion deutlich: Hat Hans Krebs damit den gesuchten Vorläufer gefunden? Zur theoretischen Kontrolle formuliert Krebs eine stöchiometrische Gleichung für den Reaktionspfad von Alanin zu Ammoniumhydroxid (NH4 OH) unter Beteiligung von Wasser, Kohlendioxid und Sauerstoff. Diese Reaktion entspricht dem ersten Schritt der Standardhypothese über die Bildung von Harnstoff aus Aminosäuren via Ammoniak. Falls diese Hypothese korrekt ist, sollten die durch die Reaktionsgleichung prognostizierten Mengenverhältnisse mit den experimentell ermittelten Werten übereinstimmen – vorausgesetzt alle weiteren Randbedingungen des Experiments wurden in geeigneter Weise realisiert. Krebs stellt jedoch fest, dass Alanin weit weniger Harnstoff erzeugt als stöchiometrisch gefordert. Theoretisch sollte sich beim Verbrauch von sechs Molekülen Sauerstoff je ein Molekül Harnstoff bilden – das erzielte Messergebnis entspricht aber einem Verbrauch von zehn Molekülen Sauerstoff pro Molekül gebildeten Harnstoffs. Es wurde also wesentlich weniger Harnstoff gebildet pro verbrauchten Sauerstoffatoms als erwartet. Die Ursache dafür kann einerseits darin liegen, dass die gewählten Randbedingungen den optimalen und vollständigen Ablauf der Reaktion verhindern; es kann aber auch bedeuten, dass Alanin nur teilweise oder zumindest nicht direkt in Harnstoff umgewandelt wird. Im nächsten Experiment überprüft Krebs die Wirkung von Ammoniak, das er in Form von Ammoniumchlorid zugibt. Er stellt fest, dass ein Zusatz von Ammoniumchlorid die Geschwindigkeit der Harnstoffsynthese stärker beschleunigt als ein Zusatz von Alanin. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Hypothese, dass Ammoniak ein Zwischenprodukt der Harnstoffsynthese ist, wonach die Harnstoffsynthese aus Ammoniak mindestens genauso schnell erfolgen sollte wie die aus Aminosäuren, also beispielsweise aus Alanin. R EAKTION 2 Spezifische Aminosäure (Alanin?) −→ Ammoniak −→ Harnstoff Am 5. August beginnt Kurt Henseleit seine Tätigkeit im Labor von Hans Krebs. In den folgenden Wochen versuchen die beiden Forscher zunächst, die Versuchsbedingungen für die vermutete Synthesereaktion zu optimieren. Keine dieser 314 Variationen führt jedoch zu einer deutlichen Steigerung der Harnstoffbildung aus Aminosäuren oder anderen stickstoffhaltigen Substanzen – mit Ausnahme von Thymin. Dieser folgenreiche Versuch wurde bereits in Kapitel XII ausführlich diskutiert. Ausser Ammoniumchlorid bewirkt nur ein Zusatz von Arginin eine substantielle Harnstoffbildung. Krebs ging indessen davon aus, dass die (bekannte) Reaktion von Arginin zu Harnstoff die Harnstoffsynthese unter physiologischen Bedingungen nicht erklären kann, da sie nicht an eine funktionsfähige Zellstruktur gebunden ist. Dass die Arginase-Reaktion dennoch eine Schlüsselrolle bei der Harnstoffsynthese spielt, erkannte er erst sehr viel später. 1.3 KOMBINATION MIT A MMONIAK Am 26. Oktober prüft Krebs neben weiteren Aminosäuren erneut Alanin, und zwar diesmal sowohl allein als auch in Kombination mit Ammoniumchlorid. In Kombination bilden die beiden Substanzen mehr Harnstoff als jeweils einzeln. Am 31. Oktober ändert Krebs daraufhin seine allgemeine Strategie und experimentiert nun auch mit Kombinationen von Ammoniumchlorid mit anderen potentiellen Stickstoffspendern. In keinem Fall erzielt aber eine solche Kombination einen höheren Harnstoffquotienten als Ammoniumchlorid allein. Auch die Steigerung durch die Kombination von Ammoniumchlorid mit Alanin lässt sich nicht mehr reproduzieren. 1.4 A NDERE E INFLÜSSE Krebs und Henseleit überprüfen in dieser Phase ihres Projektes die Wirksamkeit möglichst vieler potentieller Einflussfaktoren auf die Harnstoffsynthese. Ihr zentrales Problem bleiben die sehr geringen absoluten Messergebnisse. Keiner der überprüften Stoffe, auch nicht Ammoniumchlorid, bildet nur annähernd so viel Harnstoff, wie nach der Quellenhypothese zu erwarten wäre. In Reaktion darauf weitet Krebs seinen Blickwinkel und überprüft im Weiteren auch den Einfluss stickstofffreier Substanzen. Die Heuristik bleibt dieselbe: Zu untersuchen sind alle Faktoren, die die Harnstoffbildung möglicherweise beeinflussen. Seit Beginn ihrer Forschung hatten Krebs und Henseleit beispielsweise wiederholt Glukose als Zusatzstoff in ihren Versuchen eingesetzt; erst in der zweiten Oktoberhälfte unternehmen sie aber eine systematische Untersuchung des Einflusses von Glukose und anderer stickstofffreier Verbindungen auf die Harnstoffbildung aus Ammoniak. Sie berücksichtigen damit den aus anderen Forschungen bekannten Zusammenhang zwischen dem Ernährungszustand eines Gewebes und dem Ablauf physiolo- 315 gischer Synthesereaktionen.7 Krebs und Henseleit beschränken ihre Untersuchung auf den Einfluss zentraler Zwischenprodukte des Energiestoffwechsels der Zelle. Die meisten dieser Zusätze, insbesondere Pyruvat, Laktat und Fruktose, beschleunigen die Harnstoffsynthese deutlich – wenn auch die absoluten Werte nach wie vor gering bleiben. Im Rahmen derselben Experimente stellen sie fest, dass der allgemeine Ernährungszustand des Gewebes für den Ablauf der Harnstoffsynthese von Bedeutung ist. Als Konsequenz verwenden Krebs und Henseleit für die folgenden Versuchen in der Regel Gewebe von Hungerratten mit Glukose – und sehr viel später auch mit Laktat – als reaktionsförderndem Zusatz (vgl. die Ausführungen zu diesem Punkt in Kapitel VIII). Diese Experimente unterbrechen die systematische Untersuchung potentieller Harnstoffvorläufersubstanzen. Der Einschub lässt sich erklären als erneute Überprüfung der für die Harnstoffbildung erforderlichen Randbedingungen. Erst nachdem Krebs davon überzeugt ist, dass er diese Faktoren so weit wie möglich optimiert hat und dass auf diesem Wege keine weitere Steigerung der Harnstoffsynthese mehr zu erwarten ist, werden die Versuche mit Aminosäuren und anderen stickstoffhaltigen Verbindungen fortgeführt. 1.5 O RNITHIN Am 15. November 1931 testet Henseleit am Ende einer langen Versuchsreihe zum Einfluss verschiedener Zucker und Säuren nahezu beiläufig die Aminosäure Ornithin. Die beiden Forscher sind zu diesem Zeitpunkt systematisch auf den fördernden Einfluss von Kohlehydraten und anderen Energieträgern fixiert. Der Versuch mit Ornithin scheint in diesem Zusammenhang keine neue Strategie zu verfolgen. Wie in den anderen Versuchen des Experiments testen Krebs und Henseleit auch in diesem Fall den Einfluss einer Substanz auf die Harnstoffsynthese, und zwar alleine sowie in Kombination mit Ammoniak. Ornithin sorgt für eine Überraschung. In Verbindung mit Ammoniak steigert es die Harnstoffsynthese sehr viel stärker als alle anderen Stoffe zuvor (mit Ausnahme von Arginin). Zudem erbringt die Kombination der beiden Stoffe wesentlich mehr Harnstoff als die Summe der beiden Einzelergebnisse erwarten liesse. Krebs und Henseleit gelingt mit diesem Befund der erste wichtige Durchbruch. Am nächsten Tag überprüfen sie nochmals die Wirkung des Ornithins mit und ohne Zugabe von Ammoniumchlorid. Krebs und Henseleit stehen vor dem Paradox, dass (i) Ornithin die Harnstoffproduktion signifikant erhöht und deshalb gemäss ihrer Ausgangshypothese eine Vorläufersubstanz in der Reaktions7 Krebs & Henseleit (1932b), S. 758. 316 kette zum Harnstoff sein sollte, dass sich aber (ii) ohne die zusätzliche Zugabe von Ammoniak keine Reaktion nachweisen lässt, obwohl doch Ammoniak aus der Aminosäure Ornithin entstehen sollte. R EAKTION 3 Ornithin −→ Ammoniak −→ Harnstoff Gemäss der Quellenhypothese sollte das Ornithin vollständig zu Ammoniak abgebaut werden, welches dann zu Harnstoff reagiert. Durch Variation aller denkbaren Randbedingungen versuchen Krebs und Henseleit den Ablauf dieser angenommenen Reaktion herbeizuführen – möglicherweise verhindern spezifische Umstände die Reaktion von Ornithin zu Ammoniak. Diese Versuche bleiben erfolglos. Ammoniak muss der Reaktion hinzugefügt werden, um eine signifikant grosse Menge von Harnstoff zu synthetisieren, so das Ergebnis ihrer Bemühungen. R EAKTION 4 Ornithin + Ammoniak −→ Harnstoff 1.6 (XIV.1) A BBAUPFADE Nach der Quellenhypothese sollte Ornithin für die Harnstoffbildung nicht spezifisch sein, sondern ähnliche Aminosäuren sollten die Harnstoffsynthese in ähnlicher Weise steigern. Auch die Zerfallsprodukte von Ornithin auf dem Weg zum Harnstoff sollten diese Steigerung bewirken, denn die Teilschritte eines Prozesses verlaufen mindestens ebenso schnell wie die Gesamtreaktion. Krebs und Henseleit untersuchen zunächst Stoffe, die gemäss dem Wissen der Zeit als Abbauprodukte des Ornithins in Frage kommen. Doch welche Variante sie auch durchspielen, keine andere Verbindung als Ornithin beschleunigt in Kombination mit Ammoniak die Bildung von Harnstoff. Krebs erklärte später, er sei in dieser Phase „really blind to the obvious“ gewesen.8 Doch die Blindheit hatte System. Die Quellenhypothese erklärt eine Harnstoffbildung aus Ornithin dadurch, dass Ornithin als Aminosäure in der Synthesereaktion die Funktion des Stickstoff-Donors übernimmt. Dieser Hypothese zufolge hätten auch andere, 8 Holmes (1980), S. 219. 317 mit Ornithin vergleichbare Stoffe Harnstoff synthetisieren müssen. Die experimentellen Befunde zeigen jedoch eindeutig, dass neben dem Ornithin auch Ammoniak auf irgendeine Weise am Ablauf der Synthesereaktion beteiligt ist. Krebs und Henseleit waren ratlos: „The interpretation of this finding was not at once obvious. It took a full month to find the correct interpretation“, beschreibt Krebs später die Situation in seiner Autobiographie.9 Die Ausgangshypothese – Ornithin zerfalle in Ammoniak, das im Weiteren Harnstoff bildet – ist mit den experimentellen Ergebnissen von Krebs und Henseleit nicht zu vereinbaren. Die experimentellen Misserfolge geben aber keinen Hinweis darauf, wie die gesuchte Reaktion wirklich verläuft und welche Zwischenprodukte auftreten. Um die Quellenhypothese zu ersetzen, sind weitere Experimente nötig, deren Resultate die bisherigen Ergebnisse ergänzen. 1.7 M ESSUNG DES A MMONIAKVERBRAUCHS Um ihre Befunde zu erklären, muss Krebs einen neuen Reaktionspfad konstruieren. Neben der zweifelhaft gewordenen Quellenhypothese kennt er zwei Reaktionsteilnehmer, deren Wirksamkeit empirisch getestet wurde und die beide für den Ablauf der Reaktion notwendig sind: Ornithin und Ammoniak. Diese beiden Ausgangsstoffe allein ergeben aber noch keine stöchiometrisch ausgeglichene Reaktionsgleichung für die Bildung von Harnstoff. Das bedeutet, dass Ammoniak und Ornithin nur zwei Faktoren einer längeren oder komplexeren Reaktionskette darstellen, an der neben ihnen noch weitere Substanzen und vermutlich verschiedene Zwischenprozesse beteiligt sind. Nach Aufgabe der bisherigen Hypothese sind diese Tatsachen in ein neues Modell zu integrieren. Frederic Holmes beschreibt in seiner Monographie ausführlich, wie schwierig es für Hans Krebs war, sich angesichts seiner alten Laborbücher an die methodischen Überlegungen in dieser kritischen Phase seiner Forschung um die Jahreswende 1931/32 zu erinnern.10 Trotzdem lassen sich Strategien rekonstruieren, die den weiteren Verlauf der Ereignisse plausibel erklären. Krebs’ nächster Schritt drängt sich nahezu auf. Die quantitativen Beiträge von Ornithin und Ammoniak sind bisher noch unbekannt, könnten aber Hinweise geben auf den genauen Verlauf der Reaktion. Zu diesem Zweck muss Krebs bestimmen, wie viel Ornithin und Ammoniak in der Reaktion verbraucht wird: Die vor Beginn der Reaktion zugegebene Menge Substanz ist mit der Menge zu vergleichen, die nach der Reaktion noch nachzuweisen ist. 9 10 Krebs (1976), S. 20. Holmes (1991), S. 293ff. 318 Das nach der Reaktion in der Lösung enthaltene Ornithin liess sich in den dreissiger Jahren nur mittels eines aufwendigen Verfahrens bestimmen, das Krebs und Henseleit zwar kennen, in dessen Anwendung sie aber nicht geübt sind. Nahe liegend war daher, zunächst die einfachere Ammoniakbestimmung durchzuführen. Diese Messung des Ammoniakverbrauchs erfolgt erst im Januar 1932; Krebs muss diese Versuche aber schon sehr viel früher geplant haben, nämlich kurz nach den ersten überraschenden Experimenten mit Ammoniak und Ornithin, da er bereits zu diesem Zeitpunkt das dafür erforderliche Instrument, die ParnasHeller-Apparatur, bestellt. Die Lieferung verzögert sich indessen, so dass er erst im Januar seinen Plan umsetzen kann. Henseleit hat bereits zuvor einmal eine Ammoniakbestimmung durchgeführt, nach der Methode von „Folin & Denis“.11 Diese Messung wird aber nie wiederholt und im Ergebnis auch nicht kommentiert – möglicherweise hielt Krebs die Methode für nicht hinreichend exakt, so dass er später, als die Werte an Bedeutung gewinnen, ein vielversprechendere Alternative wählt. 1.8 VARIATION DER O RNITHINKONZENTRATION Eine weitere Möglichkeit zur Untersuchung der beteiligten Quantitäten ist die Variation der zugefügten Menge von Ornithin und Ammoniak, um den Effekt der unterschiedlichen Konzentrationen auf die Menge synthetisierten Harnstoffs zu vergleichen. Nach seinen Angaben in einem Interview mit Holmes weist Krebs am 14. Januar Henseleit an, „die Wirkung der Konzentration von Ornithin auf die Harnstoffbildung durch Ammoniak zu untersuchen“.12 Gleichzeitig unternimmt Henseleit die erwähnte Messung des Ammoniakverbrauchs nach dem Verfahren von Parnas-Heller. In fünf Fällen erhält Henseleit annähernd ein 2:1–Verhältnis von verbrauchtem Ammoniak zu gebildetem Harnstoff. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass der gesamte Stickstoff des Harnstoffs aus dem Ammoniak stammt, da pro zwei Molekülen abgebauten Ammoniaks mit je einem Stickstoffatom ein Molekül Harnstoff entsteht, das insgesamt zwei Atome Stickstoff enthält. Daneben unternehmen die beiden Forscher Experimente, in denen sie die Menge des zugefügten Ornithins in verschiedener Weise variieren. Der Effekt bleibt stabil, auch beim Einsatz sehr geringer Mengen. Nach welchen theoretischen Gesichtspunkten wurden diese Experimente angelegt? Holmes hält es für 11 12 Graßhoff (2000); Experiment vom 28.8.31, Laborbuch Henseleit S. 39. Holmes (1980), S. 220. Vergl. auch Holmes (1991), S. 300ff. 319 most likely that the magnitude of the effect, and his initial supposition that ornithine is a precursor, had already oriented his thinking toward an action exerted more directly on the reaction by which urea is produced. For such a situation, the action of a nondonor would, by definition, be catalytic.13 Mit diesen Experimenten beginnt eine der interessantesten und schwierigsten Phasen der Fallgeschichte, die im Folgenden besonders ausführlich dargestellt wird. Verschiedene Rekonstruktionen des Entdeckungsprozesses unterscheiden sich insbesondere in der Antwort auf zwei Fragen: (i) Aus welchen methodologischen Gründen unternimmt Krebs (a) die Messungen des Ammoniakverbrauchs und (b) die Variation der Ornithinkonzentration? (ii) Welche Gründe haben Krebs dazu bewogen, das zuvor verworfene Arginin als Reaktionsteilnehmer erneut einzuführen? Holmes wie auch Krebs geben als Antwort auf die erste Frage, Krebs habe bereits bei der Planung der Konzentrationsexperimente vermutet, Ornithin könnte wie ein Katalysator an der Reaktion teilnehmen. Nennen wir diese Deutung kurz die Katalysatorhypothese. Im Gegensatz zu dieser Interpretation der Ereignisse spricht aber vieles dafür, die Katalysatorhypothese nicht als Ursache, sondern als Konsequenz der Konzentrationsmessungen zu verstehen. Eine, wenn auch schwache, Bestätigung dieser Interpretation findet man in den 1976 veröffentlichten Erinnerungen von Krebs: In the first experiments which revealed the ornithine effect, the concentration of ornithine had been high because it had been the intention to explore whether ornithine can act as a nitrogen donor. When lower ornithine concentrations were tested, the stimulating effect remained and the final result of this aspect of the work was the discovery that one molekule of ornithine can bring about an extra formation of over 20 molekules of urea provided that ammonia was present.14 Die Katalysatorhypothese wäre nach dieser Aussage eine Folge der Experimente zum Einfluss der Ornithinkonzentration, und nicht ihr Ausgangspunkt. Ursprünglich nahmen Krebs und Henseleit gemäss der Quellenhypothese an, Ornithin steigere die Harnstoffsynthese in seiner Eigenschaft als Stickstoffspender. 13 14 Holmes (1980), S. 220. In Holmes (1991), S. 302f führt Holmes die Gründe weiter aus. Krebs (1976), S. 20. 320 Holmes selbst erwägt neben der Katalysatorhypothese die Möglichkeit einer alternativen Deutung des merkwürdigen Ergebnisses der Experimente, dass bereits eine sehr geringe Menge an Ornithin die Harnstoffsynthese um ein Vielfaches steigerte: „Krebs may have left room for the possibility that ornithine, too, had some kind of indirect metabolic action“.15 Die natürliche Interpretation des Ergebnisses im Rahmen der Quellenhypothese wäre genau von dieser Art, dass nämlich Ornithin nicht in Ammoniak zerfällt und damit eine Harnstoffvorläufersubstanz ist, sondern dass es an irgendeiner anderen Stelle im Stoffwechsel eine fördernde Funktion für die Harnstoffsynthese übernimmt, so wie etwa der Zusatz von Laktat die Harnstoffsynthese um mehr als 100 % steigerte. Betrachten wir die Situation zu einer Entscheidung zwischen den Varianten aus einem anderen Blickwinkel. Im November und Dezember 1931 hatte Krebs praktisch alle ihm bekannten Abbauprodukte des Ornithins sowie damit verwandte Substanzen auf ihre Wirkung in Kombination mit Ammoniak hin überprüft – ohne Erfolg. Das einzige, was ihm im Januar noch sinnvollerweise zu tun blieb, war eine Bestimmung der Quantitäten. Genau zu diesem Zeitpunkt führen Krebs und Henseleit die genannten Konzentrationsversuche durch, und testen den Einfluss der eingesetzten Ornithinmenge auf den Verlauf der Reaktion. Dieses Verfahren bedeutet keine grundsätzliche Änderung der experimentellen Strategie: Bereits in früheren Phasen des Projektes hatten Krebs und Henseleit den Einfluss verschiedener Konzentrationen einer Substanz auf die Harnstoffsynthese verglichen, beispielsweise schon sehr früh für die Wirksamkeit des Ammoniak. Hätte Krebs die Katalysatorhypothese bereits vor Durchführung der Konzentrationsversuche formuliert, wäre die verstärkte Bemühung um ein anderes Experiment viel nahe liegender gewesen, eines, das Krebs in seiner Erstveröffentlichung beschreibt: „Die nähere Untersuchung der Ornithinwirkung ergab, dass der in Gegenwart von Ornithin mehr gebildete Harnstoff nicht aus dem Ornithin stammt. Denn die Konzentration des Ornithins, gemessen am Aminostickstoffgehalt der Lösung, bleibt während der Harnstoffbildung nahezu konstant“16 . Diese Bestimmung des Ornithinverbrauchs führt Krebs indessen erst einen Monat später durch, nachdem er die Katalysatorhypothese entwickelt hatte und diese nur noch weiter absichern musste. Der Vergleich der Konzentration des Ornithins nach der Reaktion mit der vor der Reaktion eingesetzten Menge hatte über den Gehalt des Aminostickstoffs der Lösung zu erfolgen, nach der sogenannten Van15 16 Holmes (1980), S. 220. Krebs & Henseleit (1932b), S. 758. 321 Slyke-Methode. Krebs unternimmt diese Messung erst sehr viel später, im März 1932 – jedoch ohne grossen Erfolg. Diese Bestimmung ist verfahrenstechnisch schwierig und sehr sensibel gegenüber Störeinflüssen. Hätte aber Krebs bereits im Januar 1932 die Wirkung des Ornithins als Katalysator vermutet, wäre zu erwarten, dass er sich bereits damals verstärkt um die erfolgreiche Durchführung dieser Messungen bemüht hätte. 1.9 D IE NEUE ROLLE FÜR O RNITHIN Henseleits Messungen führen quantitative Grössen in die Überlegungen ein. Die Bilanzgleichung zeigt, dass keine Aminogruppe des Ornithins in den Harnstoff übergeht. R EAKTION 4 2 Ammoniak + X −→ Harnstoff + Y R Krebs hatte nun zwei scheinbar widersprüchliche Funde: (i) dass der Stickstoff des gebildeten Harnstoffs allein dem Ammoniak entstammt (was das 2:1–Verhältnis von verbrauchtem Ammoniak zu gebildetem Harnstoff suggeriert), (ii) dass Ornithin diese Reaktion spezifisch anregt; wobei Ornithin eine Aminosäure ist und damit gemäss der Quellenhypothese genau zu der Stoffklasse gehört, aus der sich Harnstoff bildet. Ohne Ornithin erfolgt keine nennenswerte Harnstoffbildung; dasselbe gilt aber für Versuche mit Ornithin ohne Ammoniak. Diese beiden Aussagen waren im Lichte der Quellenhypothese nicht miteinander zu vereinbaren. Einerseits fördert Ornithin die Reaktion stärker als jede andere potentielle Stickstoffquelle, und zwar in jeder Konzentration gleichermassen. Andererseits deutet die Ammoniakbestimmung darauf hin, dass der gesamte Stickstoff des Harnstoffs dem Ammoniak entstammt, obwohl Ornithin als Reaktionsteilnehmer unbedingt erforderlich ist. Nach der Quellenhypothese und dem Fund, dass zwei Ammoniakmoleküle an der Bildung von einem Harnstoffmolekül beteiligt sind, erhält Krebs die Bilanzgleichung: 322 R EAKTION 5 Ornithin + 2 NH3 + X Y −→ Y −→ Harnstoff + Z biol. Medium biol. Medium Wichtiger als die Feststellung, dass sich zwei Ammoniakmoleküle zu Harnstoff verbinden, ist Henseleits Ergebnis, dass bereits der Zusatz einer kleinen Menge Ornithin die Bildung grosser Mengen Harnstoff verursacht: Bereits kleine Mengen Ornithin verursachen eine enorme Steigerung der Reaktionsgeschwindigkeit. Wenn Ornithin als Teilnehmer in der Reaktionskette fungiert, ist dieser Befund nur so zu erklären, dass es nach einem Durchlauf der Reaktion durch den Zerfall eines anderen Zwischenprodukts wieder zurückgebildet wird, und dann erneut für eine Teilnahme an der Reaktion von Ammoniak zu Harnstoff zur Verfügung steht. Ein solcher Bildungsweg war Krebs seit langem bekannt, nämlich die Entstehung von Ornithin durch die Arginase-Reaktion. 1.10 A RGININ UND C ITRULLIN ALS Z WISCHENPRODUKTE Was Krebs nach dieser Einsicht zu seinem zyklischen Modell noch fehlte, war der erste Schritt des Prozesses, d.h. die Umwandlung von Ornithin zu Arginin. Diese Reaktion erklärte er mit einer Bildung von Arginin aus dem Zusammentreffen von Ornithin, Ammoniak und Kohlendioxid. Das Arginin sollte dann auf bekanntem Wege zu Harnstoff und Ornithin zerfallen, wodurch ein neuerlicher Reaktionsprozess initiiert wird. R EAKTION 6 Ornithin + 2 Ammoniak + Kohlendioxid −→ Arginin + 2W asser Arginin + Wasser −→ Ornithin + Harnstoff Jetzt wird klar, dass Ornithin wie ein Katalysator an der Reaktion teilnimmt, ohne verbraucht zu werden. Einen grossen Teil des Reaktionswegs kennt Krebs mittlerweile, es fehlt aber noch ein anzunehmender Zwischenschritt auf dem Weg des Ornithins zum Arginin. Diese Reaktion erfordert bislang das Zusammentreten von vier Molekülen, was ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang ist; zu suchen ist also eine weitere Zwischensubstanz, die diesen Vorgang in zwei Teilschritte untergliedert. 323 In ihrem ersten Artikel veröffentlichen Krebs und Henseleit 1932 den Reaktionspfad bereits ohne Kenntnis des dritten Reaktionsteilnehmers, des Citrullin. Autoren wie Lesern war wohl klar, dass der darin beschriebene erste Reaktionsschritt nur eine Bilanzgleichung darstellt, die mehrere Teilreaktionen mit Zwischenprodukten zusammenfasst. Die Kenntnis der übrigen Reaktionsteilnehmer reicht jedoch aus, um die chemische Zusammensetzung des fehlenden Zwischenprodukts vorherzusagen. Nach gezielter Recherche findet Krebs eine entsprechende Verbindung in einem Stoff, dessen Strukturformel erst kurz zuvor beschrieben worden war, und der nach seinem Fundort in der Wassermelone (Citrullus vulgaris) ‚Citrullin‘ genannt wird. Krebs bestellt eine kleine Menge dieses damals seltenen und äusserst kostspieligen Stoffes und führt gerade genug Experimente durch, um Citrullin als Zwischenprodukt bestätigen zu können. Als nach einem halben Jahr intensiver Forschung die katalytische Funktion der Aminosäure Ornithin gefunden ist, passt das Puzzle der einzelnen Reaktionsglieder zusammen: Die drei Aminosäuren, Ornithin, Arginin und Citrullin, bilden einen Kreisprozess, in dem ein Molekül Kohlendioxid sowie zwei Moleküle Ammoniak zu einem Molekül Harnstoff reagieren. Zyklische Reaktionswege dieser Art war zuvor unbekannt. Die Entdeckung des Harnstoffzyklus eröffnete damit einen ganz neuen Blick auf den Verlauf von Stoffwechselprozessen im menschlichen und tierischen Körper. Krebs selbst entschlüsselte nur fünf Jahre später mit der gleichen Forschungsmethodik den Citrat-Zyklus, wofür er später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. 2 S CHWIERIGKEITEN BEI DER R EKONSTRUKTION WISSENSCHAFTLICHER E NTDECKUNGEN Welche besonderen Schwierigkeiten ergeben sich bei dem Versuch, einen wissenschaftlichen Entdeckungsprozess zu rekonstruieren? Im Folgenden sollen verschiedene Fussfallen und Probleme geschildert werden und welche Möglichkeit sich bietet, diese zu umgehen. 2.1 R ECHTFERTIGENDE VS. GENETISCHE B EGRÜNDUNG Die Entstehung einer wissenschaftlichen Hypothese lässt sich auf verschiedene Weise begründen und erklären. Feststellungen der Art „Aus den Gründen X schliessen wir, dass p“ (p sei die betreffende Hypothese) können mindestens zweierlei bedeuten: 324 (i) Es gibt die Gründe X, die das Urteil darüber, dass p der Fall ist, rechtfertigen, und zwar unabhängig davon, wie die Forscher zu diesem Urteil gekommen sind. Solche Gründe bezeichnen wir als rechtfertigende Gründe. (ii) Aus den Gründen X kamen die Forscher zu dem Urteil, dass p der Fall ist oder der Fall sein könnte. Diese Gründe können unabhängig von denjenigen Gründen sein, die eine Hypothese rechtfertigen. Diese Gründe bezeichnen wir als genetische Gründe. Nur die genetischen Gründe führen einen Forscher zu einer Entdeckung. Sie beschreiben, mittels welcher Voraussetzungen, Annahmen und Regeln eine neue Hypothese aufgestellt wird. Die rechtfertigenden Gründe dagegen belegen, warum ein Forscher seine Hypothese nach der Entdeckung für richtig hält. Nicht in allen, aber in sehr vielen Fällen unterscheiden sich die Annahmen und Schlussformen der Genese von denen der Rechtfertigung. Einen historischen Fehlschluss begeht derjenige, der die rechtfertigenden Gründe für die Wahrheit einer Hypothese mit denjenigen Gründen identifiziert, die einen Forscher zur Formulierung dieser Hypothese führten. 2.2 D ER HISTORISCHE F EHLSCHLUSS Auf welche Weise kann der historische Fehlschluss die Darstellung einer Episode verzerren? Die aus Experimenten entwickelten, wissenschaftlichen Hypothesen sind häufig durch empirische Ergebnisse zu rechtfertigen: Man verweist darauf, dass die empirischen Konsequenzen der Hypothese mit den gewonnenen Messwerten übereinstimmen. Wie würde die Entdeckungsgeschichte einer so gerechtfertigten empirischen Hypothese nach dem historischen Fehlschluss aussehen? Es wäre zu behaupten, dass aufgrund der empirischen Daten die entsprechende Hypothese gebildet wurde, und zwar durch induktive Bewertung experimenteller Ergebnisse. Diese Geschichten einer induktiven Hypothesenbildung repräsentieren zum Beispiel die Lehrbuchdarstellungen der Entdeckung der Harnstoffsynthese. Krebs habe zuerst die katalytische Funktion des Ornithins ‚festgestellt‘ – auf welchem Wege auch immer – und daraus auf den Reaktionszyklus geschlossen. Diese Darstellung ist falsch. Richtig dagegen ist die Feststellung, dass die Gültigkeit des Reaktionszyklus durch die katalytische Wirkung des Ornithins gerechtfertigt werden kann. Zahlreiche andere Studien zeigen ähnliche Verzerrungen der historischen Ereignisfolgen, die in der Regel durch die Rekonstruktion des Fallbeispiels nach dem historischen Fehlschluss entstehen. Das Schema dieser Darstellungen bleibt 325 immer gleich: Die Rechtfertigung einer neuen Hypothese, nachdem sie aufgestellt wurde, wird verwechselt mit den genetischen Gründen, die die Bildung der Hypothese erklären. Besonders häufig findet sich dieser Fehler in retrospektiven Darstellungen der beteiligten Forscher selbst, sei es in Autobiographien, sei es in Veröffentlichungen, Interviews oder Kommentaren. Erläuterung 41 Als historischen Fehlschluss bezeichnet man die Verwechslung derjenigen Gründe, die eine gegebene Hypothese H rechtfertigen, mit denjenigen Gründen, die zur Aufstellung von H führten. 2.3 R ETROSPEKTIVE VERSUS PROSPEKTIVE R EKONSTRUKTION Eine derartige Deformation des Wegs zu einer wissenschaftlichen Entdeckung bei ihrer Schilderung aus der Retrospektive ist ausserordentlich verbreitet. Wie kommt es dazu? Historische Beschreibungen werden besonders häufig dadurch verzerrt, dass der retrospektiv analysierende Betrachter bewusst oder unbewusst Informationen in das geschichtliche Bild einfügt, die zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen haben, in der Rückschau jedoch evident erscheinen. Dieser Import resultiert aus der Verlegenheit, die Abfolge geschichtlicher Ereignisse auf der Basis verhältnismässig weniger Dokumente rekonstruieren zu müssen. Der Betrachter ist darauf angewiesen, die nötigen Informationen aus dem historischen Umfeld der Ereignisse zu sammeln, um auf dieser Basis ein plausibles Bild der vergangenen Vorgänge zu entwickeln. Die Quellen aus der betreffenden Zeitspanne dokumentieren die Abfolge der Ereignisse in der Regel nicht so dicht, dass sich allein durch die Interpretation expliziter Äusserungen und anderer direkter Spuren ein geschlossenes historisches Szenarium ergibt. Es liegt daher nahe, bei der Rekonstruktion Informationen aus vergleichbaren historischen Kontexten zu übernehmen, sich auf frühere Auffassungen einer Person zu beziehen oder auf Dokumente aus einer späteren Periode. Ein solches Vorgehen entspricht der Erfahrung, dass die meisten Überzeugungen über lange Zeiträume unverändert beibehalten werden, während drastische Veränderungen meist dokumentarischen Niederschlag finden. Solange sich 326 bei einer generell guten Dokumentenlage kein Beleg für die Änderung einer Meinung findet, ist in den Augen vieler Historiker die Meinungskonstanz einer Person gesichert. Äussert sich eine Person beispielsweise entweder vor oder nach einer zu rekonstruierenden Episode zu einem wichtigen Thema, und spricht nichts dafür, dass vorher oder nachher ein Meinungswechsel stattfand, gehen viele Historiker davon aus, dass die Person diese Auffassung auch zum Zeitpunkt der Episode vertrat. Zwei verschiedene, gleichermassen unzulässige Verfahren sind dabei hervorzuheben: • Die Übertragung von Hypothesen, Überzeugungen oder anderen kognitiven Komponenten auf einen früheren Zeitpunkt, ohne dass sich diese Annahme belegen lässt. • Die Ergänzung oder Korrektur der für einen Zeitabschnitt vorliegenden Informationen durch späteres Wissen. 2.4 D IE KOGNITIVE U NDURCHSICHTIGKEIT DER G ESCHICHTE Die Schwierigkeit einer korrekten historischen Darstellung aus der Erinnerung rührt daher, dass die Überzeugungen und Begriffe am Ende eines Entdeckungsprozesses typischerweise nicht mit den Überzeugungen und Begriffen zu Beginn der Entdeckung übereinstimmen. Grössere Entdeckungen erweitern den wissenschaftlichen Horizont nicht nur, indem sie zu den bestehenden Überzeugungen weitere hinzufügen. Sie können die Überzeugungen, Begrifflichkeiten und Arbeitsverfahren so stark verändern, dass jede historische Wiedergabe ohne eine intellektuelle Distanzierung vom momentanen Standpunkt die vergangenen Handlungen und Äusserungen konfus und widersprüchlich erscheinen lässt. Neben den üblichen Schwierigkeiten bei der Aufklärung und Darstellung historischer Ereignisse leidet die Ideengeschichte unter dem Phänomen der kognitiven Undurchsichtigkeit der Geschichte. Im Nachhinein erscheinen frühere Gedanken und Urteile häufig inkonsistent und nicht mit dem nachweislichen Ablauf des Geschehens zu vereinbaren. Eine Person kann nicht geglaubt haben, an einem Tisch zu sitzen, wenn man doch weiss, dass sie zu diesem Zeitpunkt in Wahrheit nicht daran sass. Die Zuschreibung derartig inkonsistenter Auffassungen ist weder in der ersten noch in der dritten Person möglich, weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit. Wenn wir also wissen, dass die Person nicht an dem Tisch, so wie wir ihn verstehen, sass, gehen wir davon aus, dass auch sie selbst nicht dieser Meinung war. Trifft ein Historiker derart plausible Annahmen über die vergangenen Überzeugungen einer Person, und findet er keine direkte dokumentarische 327 Evidenz, die dieser Annahme widerspricht, dann wäre nach verbreiteter Auffassung die Annahme einer möglicherweise gegensätzlichen, indirekt (z.B. aus dem Geschichtsverlauf ‚dynamisch‘) zu erschliessenden Überzeugung, unzulässig. Ein Meinungswechsel könnte mit dem Hinweis ausgedrückt werden, dass man früher an etwas geglaubt habe, von dessen Gegenteil man aber mittlerweile überzeugt ist. Die sprachlichen und intellektuellen Mittel zur Beschreibung gegenwärtiger Überzeugungen sind jedem vertraut, doch wäre das Gedächtnis überfordert, alle verworfenen Überzeugungen unverfälscht zu behalten. Die bewusste Erinnerung daran, dass ein solcher Wechsel stattgefunden hat, ist oft unmöglich. Die historische Darstellung tendiert deshalb dazu, bei nicht direkt dokumentierten Vorgängen in der Vergangenheit eine retrospektive Haltung einzunehmen und selbstverständlich erscheinende Annahmen der Gegenwart in das vergangene Ereignis zu projizieren. Viele Historiker sehen den Import später erworbener Information als unproblematisch. Ein Historiker kann die gescheiterte Suche der Alchemisten nach der Synthese von Gold als notwendigerweise aussichtslos beschreiben, indem er auf die spätere chemische Kenntnis der Unverwandelbarkeit von Elementen verweist. Hinter dieser historischen Methodologie steht die Faustregel, dass Annahmen aus der gegenwärtigen Menschen- und Kulturkenntnis so lange in die Vergangenheit übertragen werden können, wie sie nicht in Widerspruch stehen zu dokumentierten historischen Tatsachen oder anderen gut begründeten Einsichten zur Vergangenheit. Gerade die vermeintlich liberale Interpretationsregel, nach der nur neues dokumentarisches Material eine retrospektiv importierte Auffassung falsifizieren kann, führt jedoch zu den beschriebenen historischen Deformationen. Um einem Erkenntnisziel der Wissenschaftsgeschichte nachkommen zu können, nämlich die Beweggründe historischer Personen korrekt wiederzugeben und ihre Veränderungen zu erklären, muss der Historiker sicherstellen, dass keine späteren Elemente in die Geschichte eingefügt werden, die mit dem historischen Geschehen nicht kompatibel sind. Es ist zulässig, nicht direkt belegbare Überzeugungen als historisch wirksame Faktoren anzunehmen – es ist dagegen höchst problematisch, die Annahme dieser Überzeugungen durch retrospektiv übertragene Einsichten zu begründen. Tatsächlich aber könnte sich eine Methodologie in der Formulierung von Normen und Bewertungssituationen auf solche Elemente beschränken, die dem Forscher der Fallstudie zumindest potentiell zugänglich waren. Im Gegensatz zu den Nachteilen der retrospektiven Erklärung spricht nichts gegen eine prospektive Erklärung, die sich nur auf solche historischen Tatsachen stützt, die zeitlich vor 328 der zu interpretierenden Episode dokumentiert sind oder als Konsequenz einer dynamischen Interpretation nach dem Regeln des kausalen Schliessens erscheinen. Prospektiv nennen wir diesen Ansatz deshalb, weil sich aufgrund des so konstruierten Kenntnisstand der Forscher zu einem bestimmten Zeitpunkt des Geschehens Prognosen entwickeln lassen über den weiteren Verlauf der Geschichte, die dann verglichen werden können mit tatsächlich belegten Ereignissen aus der Folgezeit des betreffenden Falls. Eine Rekonstruktion historischer Ereignisse auf diesem Wege ist daher nicht nur geeigneter zu einer adäquaten Darstellung der Ereignisse als die retrospektive Beschreibung; sie ist darüber hinaus wesentlich resistenter gegen die Gefahr des historischen Fehlschlusses. Nur durch die Gegenüberstellung Krebs’ eigener Aussagen mit einer prospektiv entwickelten Deutungsalternative, die sich allein auf das den Forschern zur Zeit der Entdeckung zugängliche Material stützt, zeigte sich die Unzulänglichkeit der bisherigen Rekonstruktion. Nicht die Erinnerung der beteiligten Forscher selbst ist massgeblich für die Erklärung des Geschehens, sie kann nur als schwache, zusätzliche Evidenz dienen; sondern allein die umfassende, methodologisch prospektive Rekonstruktion der Ereignisfolgen ohne Vorgriff auf spätere Perioden liefert eine adäquate Beschreibung und Erklärung der Geschichte.