Inhalt
Vorwort ...........................................................................................................7
Danksagung...................................................................................................11
Einführung.....................................................................................................12
Der Faschismus und die Kultur................................................................16
Theoretische Bezugnahmen und Methodologie ............................................29
Gramsci und Bourdieu: ein Vergleich......................................................32
Methodologischer Zugang .......................................................................38
Die Bewegung ...............................................................................................50
Die Grundkomponenten des Faschismus zu Beginn der 20er Jahre ........52
Die Entwicklung des Faschismus: Von den Extremen zur Mitte.............57
Geschichte und Entwicklung des intellektuellen Feldes ..........................65
Das intellektuelle Feld: Die Themen der »anti-Revolution«....................70
Die Integralisten ............................................................................................98
Das politische Feld innerhalb des Faschismus von 1924-25 ...................99
Die Spaltung des intellektuellen Universums ........................................111
Die integralistischen Intellektuellen.......................................................125
Die Ultrafaschisten ......................................................................................163
Von der Ästhetisierung zur Sakralisierung der Politik...........................166
Die Umformung des intellektuellen Feldes............................................179
Die Avantgarde wird zur Tradition: Julius Evola ..................................190
Schlußbemerkungen ....................................................................................228
Die gravierende Spaltung: der Typus des Rechtsintellektuellen............233
Das traditionalistische Denken...............................................................238
Die Tradition der Rechten......................................................................241
Nachwort .....................................................................................................249
Bibliographie...............................................................................................259
A mio padre e mia madre
Vorwort
Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die Erklärung eines Paradoxes. Tatsächlich scheint der Weg der italienischen Autoren Curzio Suckert1, Mino
Maccari, Mario Carli, Emilio Settimelli und Julius Evola in den 20er und
30er Jahren paradox zu sein: von der Avantgarde zur Tradition, vom in futuristischen Kreisen verinnerlichten Kult der Modernität zur Apologie der Tradition, zur Verteidigung der Ordnung und der Hierarchie. Filippo Tommaso
Marinetti, Gründer des Futurismus, hätte nie an eine solch verblüffende Metamorphose seiner künstlerischen Revolte gedacht: Der Hypermodernismus
und das revolutionäre Streben zur Zerstörung aller bürgerlichen Traditionen
lassen sich schwer mit dem traditionalistischen Credo der hier betrachteten
Autoren versöhnen. Wenn aber der Futurismus innerhalb der historischen
Ereignisse und der Kulturgeschichte der 20er Jahre genauer und kontextuell
betrachtet wird, stellt sich die Frage, ob dieses Paradox wirklich eines ist, ob
diese Autoren nicht einfach nur die grundlegenden futuristischen Prinzipien
und Ideen radikalisierten und diese Prinzipien weiter vertraten in einer Zeit,
in der die futuristische Bewegung selbst sich bereits von ihnen abgewandt
und eine konservative und mit der Kulturpolitik des totalitären Staates harmonisierbare künstlerische Auffassung angenommen hatte. Die Kernideen
des originären Futurismus, z.B. das Ideal der totalen und ästhetischen Erneuerung der Lebensart, die Regierung des breiten Proletariats des Genies2 –
die Artekratie, das revolutionäre antibürgerliche Credo, lebten in den Visionen dieser Autoren weiter und wurden Mitte der 20er Jahre, in einer Periode
zunehmender Zensur, in der sogar Marinetti und die meisten seiner Anhänger
auf eine aktive politische Rolle verzichteten, weiter von ihnen behauptet. Die
fünf Autoren blieben also in ihrer Rolle als Revolutionäre und engagierte
Intellektuelle dem ursprünglichen Futurismus treu und attackierten aus dieser
Perspektive Futuristen und Faschisten. Sie stellten damit Mussolini, die Poli7
tik seiner Zeit und die ganze Hochkultur in Frage, mit einem rebellischen
Impetus, der ihnen letztendlich Schwierigkeiten verursachte. Sie stellten
sozusagen einen dem offiziellen Regime entgegengesetzten Geist des Faschismus dar.
Die Frage nach dem vielfältigen Charakter des Faschismus spielt deshalb
eine zentrale Rolle: Gab es unterschiedliche Interpretationen des Faschismus
in den Jahren des totalitären Regimes? Und noch genauer: Existierte ein
radikaler Faschismus? Diese Frage, die am Anfang dieser Untersuchung
steht, ist zugleich das Ergebnis der Untersuchung der Auseinandersetzung
dieser Autoren mit dem Faschismus und der Kultur ihrer Zeit.
Suckert, Maccari, Carli, Settimelli und Evola stellten sich jeweils als die
wahren Vertreter des reinen, integralen Faschismus dar und verteidigten
diesen gegen die Konservativen, die ihrer Meinung nach die faschistische
Revolution nicht vollenden wollten. Diesbezüglich unterscheiden sie sich
von den Nachfolgern De Maistres und Bonalds, den Reaktionären: Für sie
war die Rückkehr zur Monarchie und zur alten Ordnung nur ein Mittel, die
antibürgerlichen, revolutionären Prinzipien der faschistischen Bewegung von
1919 zu verwirklichen. Diese Opposition des »integralen Faschismus«3 gegen den »konservativen Faschismus« läßt sich nur im Zusammenhang mit
der allmählichen Veränderung des Faschismus in den 20er Jahren und seiner
ursprünglich eklektischen Komposition verstehen. Der Faschismus war kein
Monolith, sondern ein Konglomerat komplexer und widersprüchlicher Linien
und Strömungen; und erst in den 20er Jahren gewann er mehr und mehr eine
eigene Gestalt. Er schloß immer mehr Bündnisse mit den konservativen
Kräften und verdrängte damit einige seiner ursprünglichen Komponenten.
Erst vor diesem Hintergrund läßt sich eine bereits von den Zeitzeugen schon
betonte Spaltung in zwei Interpretationen des Faschismus und zwei politischen Linien verstehen, d.h. die Opposition des integralen Faschismus der
hier betrachteten Autoren gegen Mussolini und gegen die bedeutenden Kulturexponenten der Zeit. Ob ihre Interpretation des Faschismus nur eine radikale Form des Faschismus oder eine völlig neue Theorie der Rechten darstellt, ist eine Frage, die sich für die fünf Autoren unterschiedlich beantworten läßt: Evola und Suckert erarbeiteten eine komplexe und vom Faschismus
relativ unabhängige Theorie, und insbesondere Evola, der zu vielen Exponenten der konservativen Revolution Kontakte knüpfte, entwickelte ein
8
komplexes Modell, das als eine der Grundlagen der heutigen Rechten – von
der Nouvelle Droite bis zur populistischen Rechten – gilt .
Die antibürgerliche und revolutionäre Ideologie dieser Intellektuellen begründet eine alternative Auffassung der Rechten, die eine Autonomie und
eine gewisse Originalität gegenüber dem Faschismus zeigt und sich von der
durch die faschistische Programmierung nivellierten Regimeliteratur unterscheidet: Ihre Themen und ihre Betrachtungen – die Verherrlichung der Gemeinschaft, die Verteidigung der europäischen Kultur, eine Art von »kulturellem Rassismus« überleben, oft versteckt und ohne Verweis auf die Quelle,
in den heutigen Schriften der Ideologen der Rechten. Diese Arbeit setzt sich
die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs von Ideen und den Bedingungen
ihrer Entstehung sowie ihrer politischen Bedeutung zur faschistischen Zeit
zum Ziel.
Die zwei Ausgangspunkte der Untersuchung scheinen zunächst voneinander unabhängig zu sein: Ersterer, die Revolte der extremen Intellektuellen
der Rechten, impliziert eine Betrachtung der Ideengeschichte; letzterer, die
Artikulierung der Interpretationen des Faschismus, eine politische Analyse.
In dieser Arbeit sollen sie aber verknüpft werden, da gerade die Wechselwirkungen zwischen der politischen und der intellektuellen Welt, also die Interventionen der Intellektuellen in der Politik und umgekehrt, sowie ihre Darstellung und Selbstdarstellung als engagierte Intellektuelle von zentraler
Bedeutung sind. Aus diesem Grund wird das Umfeld studiert, in dem die
Intellektuellen als Akteure innerhalb ihres Feldes und als Kritiker der Politik
und der politischen Entscheidungen vorkommen. Dies erfordert eine präzise
Wahl der theoretischen Bezugnahmen und des methodologischen Zugangs
sowie eine bestimmte Interpretation der Kultur dieser Jahre und des Begriffs
des Intellektuellen, die in den ersten zwei Abschnitten erarbeitet werden.
Die Zeitspanne, die hier analysiert wird, umfaßt wenig mehr als eine Dekade: von 1919 bis 1933, d.h. von der Gründung des Faschismus bis zur
Auferlegung des faschistischen Eids bei den Universitätsprofessoren, der
eine große Bedeutung für die weitere Einschränkung der Autonomie der
Intellektuellen hatte. Diese Zeitspanne weist keine kontinuierliche Entwicklung auf, sondern ist durch starke Umbrüche gekennzeichnet, die auf politischer und intellektueller Ebene wirken: die Ausrufung des Totalitarismus im
Jahr 1925 (und die entsprechenden Zensurgesetze) und das Konkordat im
Jahr 1929. Das wichtigere Ereignis, das diese Zeitspanne unterteilt und das
9
intellektuelle und politische Feld spaltet, ist die Ausrufung des Totalitarismus, während das Abkommen mit der Kirche zwar Diskussionen hervorruft
und unterschiedliche Fronten im intellektuellen Feld bildet, aber dennoch nur
eine sekundäre Bedeutung besitzt.
In Kapitel 3 wird das historische und kulturelle Tableau der Jahre 1919
bis 1923 für die eigentliche Untersuchung der radikalen faschistischen Intellektuellen entfaltet. Im 4. Kapitel wird die Entstehung der integralistischen
Strömung im Zeitraum von 1924 bis 1925 untersucht und im 5. Kapitel wird
die traditionalistische Gruppe Evolas während der Jahre 1926 bis 1933 betrachtet. In jedem Kapitel wird die Analyse auf drei Ebenen durchgeführt:
der politischen, der strukturellen und der thematischen.
Das für diese Arbeit herangezogene Material besteht aus Archivdokumenten, die zum Zweck der Beobachtung der Autoren und ihrer Beziehungen zum Faschismus von der Polizei gesammelt wurden4; aus ihren Werken,
insbesondere ihren Artikeln, in denen sie ihr künstlerisches und politisches
Programm entwickelten; aus ihren Biographien und Autobiographien; aus
Artikeln und Kritiken, die im Lauf der Debatten mit den rechtsradikalen
Autoren entstanden; aus einigen Werken und Biographien von akademischen
wie dem Antifaschisten Benedetto Croce oder regimetreuen und faschistischen Autoren wie Giovanni Gentile, Alfredo Rocco, Giuseppe Bottai; und
schließlich aus Sekundärliteratur. Viele der zitierten Texte sind nur auf italienisch veröffentlicht und daher von mir selbst übersetzt worden.
1 Auch als Curzio Malaparte bekannt, sein Geburtsname war Kurt Suckert.
2 Marinetti, »Al di là del comunismo« (1920), in Teoria e invenzione futurista, De Maria
(Hrsg.), 1983, Milano, S. 422
3 Die Definition stammt von einem dieser Intellektuellen, Suckert. Vgl. Kap.4
4 Archive der faschistischen Polizei und der Segreteria personale del duce, heute Teil der
Staatsarchive in Rom.
10
Danksagung
Ohne Andere können wir nicht leben, und ohne die Hilfe Anderer hätte ich
dieses Buch nie schreiben können. Mein erster Dank gilt meinen Doktorvätern, Prof. Leo Krämer und Prof. Alessandro Baratta für ihren Rat und ihre
Betreuung. Weitere wertvolle Hinweise verdanke ich Prof. Wolfgang
Schluchter, Prof. Gerlinda Smaus und Prof. Günther Ellscheid. Des weiteren
möchte ich diejenigen nennen, die mich während dieser Zeit unterstützt und
ertragen haben: meinen Mann Jens Stutte, Christian Wehlte, François Beilecke, Judith Becke, Heike Leonhard, Peter Wettmann-Jungblut sowie die
Angestellten der Bibliothek San Carlo (Modena) und viele andere.
Saarbrücken, den 18. November 2000
11
Einführung
Man kann nicht historisch, d.h. kritisch, über den »Faschismus«
sprechen, als ob der Faschismus eine Art von Wal wäre, der alles
unterschiedslos verschluckte, oder der alle teuflisch zur Verdammnis führte, wie Moby Dick: Im Gegensatz dazu ist es nötig,
die Vielfältigkeit von Strömungen, Bewegungen, Tendenzen, Personen, ökonomischen und finanziellen Interessen usw., und auch
Illusionen, Phantasien, Gewissenlosigkeiten, usw. [zu betrachten],
die es Mussolini und seiner Gruppe erlaubten, die Macht auf diese
Art zu erobern, zu erhalten und zu gewährleisten.
Delio Cantimori, Conversando di storia, Bari 1967, S. 134
Wenn man das kulturelle Milieu vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum
politischen Totalitarismus Mussolinis von 1925 analysiert, fällt trotz des
Konsenses vieler Intellektueller mit dem Faschismus und ihrer gemeinsamen
Kritik am alten liberalen System und seiner Kultur die Abwesenheit einer
organischen Klasse von Intellektuellen auf, d.h. im Sinne Gramscis einer
homogenen Schicht von Intellektuellen, die eine mehr oder weniger artikulierte Theorie des Faschismus begründete, das kulturelle Milieu beherrschte
oder gar ein gemeinsames Projekt erarbeitete, um durch die Verbreitung der
faschistischen Ideale und Ideologien das eigentliche Modell der faschistischen Gesellschaft zu verwirklichen.
Wenn nun nach den Kennzeichen oder sogar der Existenz einer Kultur
des Faschismus gefragt wird, so findet man keine endgültige und klare Antwort. Insgesamt haben die Debatten der Historiker1 über die Einordnung der
faschistischen Intellektuellen und der faschistischen Kultur und über die
Gründe der Unterstützung des Faschismus durch die Intellektuellen zu unterschiedlichen, unversöhnlichen Theorien geführt: Einige Autoren haben die
Existenz einer faschistischen Kultur verneint und das Engagement einiger
liberaler Intellektueller als »Fehler« oder als Opportunismus2 gedeutet –
12
dabei Benedetto Croces Interpretation des Faschismus als »Parenthese« folgend3; andere haben den regressiven und konservativen Charakter der faschistischen Ideologie4 und kulturellen Produktion unterstrichen; und wieder
andere schließlich wenden Interpretationsmodelle5 an, welche von den Oszillationen des Faschismus und der faschistischen Intellektuellen zwischen
einer konservativen, einer reaktionären und einer revolutionären Auffassung
ausgehen.6 Die verschiedenen Interpretationen stehen allesamt in der Spannung zwischen denjenigen Theorien, welche die Existenz einer faschistischen Kultur verneinen, und solchen, die die Rolle der kulturellen Exponenten und die Entwicklungen und das Zusammenfließen der literarischen, philosophischen und künstlerischen Strömungen innerhalb der faschistischen
Ideologie betonen. Laut einem Exponenten der ersten Position, Carlo Bo,
kann es keine Kultur im Faschismus geben, die die Bildung und die Entwicklung des Gedankens und der intellektuellen Debatten fördert, weil der
Faschismus die Abhängigkeit der Intellektuellen bewirke und die Freiheit des
Denkens ausschliesse.7 Deutlicher noch schreibt in diesem Sinne Norberto
Bobbio8, daß die faschistische Kultur in doppeltem Sinne – als eine von den
faschistischen Intellektuellen kreierte Kultur und als eine von originären,
faschistischen Inhalten gekennzeichnete Kultur – »nie wirklich existiert«
habe.
Der entgegengesetzte Ansatz strebt nach der Bestimmung der verschiedenen Wechselwirkungen zwischen der Politik und ihren Vertretern und einigen bedeutenden intellektuellen und künstlerischen Strömungen – wie dem
revolutionären Syndikalismus, dem Futurismus der frühen 20er Jahre und
dem Aktualismus seit der Mitte der 20er Jahre bis zum Ende des Faschismus,
um die Ausformung der faschistischen Ideologie auch außerhalb der engen
politischen Praxis und Theorien nachzuzeichnen.
Bobbios Betrachtungsweise setzt voraus, daß unter »Kultur« die Entstehung innovativer und weitreichender intellektueller Strömungen verstanden
wird. Unter diesen Prämissen besaß der Faschismus keine eigene »Kultur«:
Er erzeugte keine Kultur und leitete seine Grundelemente nicht von kohärenten theoretischen Modellen, sondern von der politischen Praxis ab – doch
es bleibt immer noch die Tatsache der Existenz vieler faschistischer Intellektueller zu erklären.
Vielleicht läßt sich die Frage anders formulieren: Es wäre richtig zu sagen, daß es nicht eine faschistische Kultur gab, da eine Vielfalt von faschisti13
schen kulturellen Projekten und Auffassungen erarbeitet wurde. »Als Zeichen der Krise« – bemerkte der Historiker Emilio Gentile – »war der Faschismus in der Kultur eine Äußerung des absoluten Aktivismus, frei von
irgendwelcher Tradition und innerlich ohne Prinzipien, Ideen, Werte, welche
die politischen Erfordernisse überstiegen ... Der Faschismus als absoluter
Aktivismus reduzierte jedes Prinzip, jede Idee und jeden Wert auf einen für
den politischen Erfolg verwendbaren Mythos; er war nichts mehr als das
Trachten nach der Eroberung der Macht, um seinen Willen zur Macht zu
demonstrieren. Als Bewegung zur Restauration der Ordnung umfaßte der
Faschismus andererseits unterschiedliche Erneuerungsbewegungen, denen
einige Projekte zur Schaffung einer neuen Ordnung entsprangen, obwohl
viele davon nur Literaturstücke blieben.«9
Der Faschismus selbst hatte kein bestimmtes politisches Ziel oder Programm, das von Anfang an verfolgt wurde, ihm lag vielmehr eine opportunistische Haltung zugrunde, die mit der Haltung Mussolinis gegenüber der
Macht verbunden war: Sein Ziel war die Machteroberung an sich. In der
Äußerung des Duce zeigt sich, daß der Faschismus antiideologisch sein sollte, und deshalb die Trennungen zwischen den unterschiedlichen politischen
Positionen – Links und Rechts – ablehnen und überschreiten solle, da sie
keiner hilfreichen und wahren Darstellung des politischen Lebens entsprächen, sondern nur die Strukturen der veralteten und gestorbenen liberalen
und demokratischen Gesellschaft widerspiegelten.10 Der politische Opportunismus Mussolinis offenbarte sich in der Unbestimmtheit des theoretischen
Inhaltes der offiziellen faschistischen Doktrin – was Sternhell als die »geringe Formalisierung der faschistischen Doktrin« bezeichnet.11
Diese Unbestimmtheit der faschistischen Doktrin kann drei Aspekte der
Haltung der Intellektuellen zu jener Zeit erklären: die anfängliche Unterstützung des Faschismus durch viele Intellektuelle, die eine gegensätzliche politische Vision besaßen; die internen Diskussionen und Spaltungen zwischen
verschiedenen kulturellen Strömungen innerhalb der faschistischen Intelligenz; die Abwesenheit einer hegemonialen faschistischen Intellektuellenschicht. Zur widersprüchlichen Haltung einiger Intellektueller kam hinzu,
daß keine homogene Klasse von überzeugten faschistischen Intellektuellen
existierte, oder besser gesagt, es gab nicht nur eine Art, »Faschist zu sein«,
sondern viele. Der Faschismus war am Anfang eine Art Sammelbecken, der
alles aufnehmen konnte: Syndikalismus, antibürgerliche und anarchistische
14
Avantgarde, Nationalismus, Verherrlichung der Tradition, Konservativismus
des Kleinbürgertums. Aus seiner »offenen« Gestalt folgte, daß er für viele
Intellektuelle »all das war, was sie glauben wollten«, wie der Historiker
Emilio Gentile behauptet. Aus diesem Grund läßt sich hier nicht der Begriff
der hegemonialen Intellektuellen Gramscis ohne weitere Einschränkungen
benutzen, da er eine relativ homogene Gemeinschaft von Intellektuellen
voraussetzt, die den Konsens der Massen und die Kontrolle über sie sichern.
Dieser Tatsache liefen auch die Bemühungen Mussolinis, eine faschistische
intellektuelle Schicht zu fördern, nicht entgegen. Die Anstrengungen des
Duce zur Bildung kultureller Institutionen waren zum Scheitern verurteilt,
wovon die zeitgenössische Literatur zeugt. Zehn Jahre nach der faschistischen Machteroberung wurde die Lage der Kultur immer schwieriger: Es
herrschte eine regimetreue Literatur vor, während einige wenige originäre
Strömungen und Erneuerungsprojekte zur Seite gedrängt oder gar von der
Zensur bedroht wurden. Dazu kam das Problem der sogenannten »Krise der
Jugend«, d.h. des Fehlens einer jungen intellektuellen und politischen Elite,
das in faschistischen Zeitungen thematisiert wurde.12
Außerdem war die Investition in die Kultur mit einem spezifischen Zug
der faschistischen Ideologie verknüpft, da der Faschismus sich nicht nur als
politische Partei, sondern auch als eine spirituelle Revolution darstellte, welche die ganze Kultur und die Institutionen umstürze, um einen »neuen Menschen« zu bilden. Dieser palingenetische Geist verband sich im italienischen
Faschismus mit dem Bedürfnis, die Kollaboration der Intellektuellen zu erreichen, deren wissenschaftliche Tätigkeit als politische Funktion zur Bildung des »faschistischen Menschen« betrachtet wurde.13
Aus der Sicht der Intellektuellen ließ sich das Universum der faschistischen Kulturorganisatoren und Autoren weder als homogene Front organischer Intellektueller des Regimes, noch als unterdrückter Bereich verstehen,
in dem alle kreativen Züge verschwunden oder zum Schweigen verurteilt
waren. Selbst als die Zensur und der Druck von Seiten der Politik in den 30er
Jahren so stark wurden, daß auch die interne Diskussion stark behindert wurde, verschwand, anders als im Nationalsozialismus, eine bestimmte Handlungsmöglichkeit der Intellektuellen nie völlig. So konnten zum Beispiel
einige Andersdenkende und sogar Opponenten (wie Benedetto Croce und
Luigi Einaudi) weiterhin in Italien leben und manchmal auch ihre Schriften
veröffentlichen: die Zeitschriften »La critica«, »Riforma sociale«, »Cultura«,
15
»Nuova Italia«, »Civiltá moderna«, die den Faschismus nicht unterstützten,
besaßen trotz ihrer geringen Verbreitung noch einen gewissen Einfluß auf die
Intellektuellen und auf das Publikum. Ein weiterer Unterschied zum Nationalsozialismus bestand in der (beschränkten) Diskussion innerhalb der faschistischen Literatur über die Strategien, die Politik, die Prinzipien und den
ideologischen Inhalt des Faschismus und in der Möglichkeit der faschistisch
engagierten Autoren, ihre Vorschläge zu äußern und den Konformismus des
Regimes zu kritisieren. Dies war kein Zeichen der Liberalität Mussolinis,
sondern seiner Strategie, diese Sektoren zu umschmeicheln und damit die
Zustimmung der internationalen öffentlichen Meinung zu gewinnen.14
Der Faschismus und die Kultur
Die Haltung der Intellektuellen dem Faschismus gegenüber läßt sich untersuchen, wenn die Veränderung ihrer Position betrachtet und der kulturelle
Hintergrund dieser Zeit skizziert wird. Die kulturellen Gärungsprozesse Anfang des Jahrhunderts hatten die Entstehung verschiedener intellektueller
Gruppen, Zeitungen und Verlagsinitiativen zur Folge (in dieser Zeit wurden
z.B. die Verlage Laterza und Formiggini gegründet), welche die Kultur, die
Moral und die Politik erneuern und eine neue politisch und kulturell herrschende Klasse bilden wollten.15 Die Forscher haben oft das »gemeinsame
Substrat«16 in der Vielfalt der kulturellen Strömungen jener Zeit betont, einen Geist von Rebellion, sei es gegen die Demokratie oder den Sozialismus
oder den Parlamentarismus, den Materialismus oder den Positivismus. Dieser
rebellische Charakter verband sich oft einerseits mit der Verherrlichung und
dem Experiment einer revolutionären Ästhetik, z.B. in den Werken von
D’Annunzio und der Avantgarde, andererseits mit dem Glauben an die Werte
und die Traditionen der Gemeinschaft, die das Individuum in einem sinngebenden, kollektiven Erlebnis hätte umschließen sollen, was von den nationalistischen und teilweise avantgardistischen Strömungen behauptet wurde. Die
Avantgarde, die Nationalisten, die revolutionären Syndikalisten lehnten die
sozialistische wie auch die bürgerliche Gesellschaft ab und erarbeiteten dabei
den Begriff des »dritten Wegs«17, in anderen Worten einer politischen und
kulturellen Revolution, welche die Widersprüche und Dichotomien der mo16
dernen Gesellschaft – sei sie sozialistisch oder kapitalistisch – auflösen und
überwinden sollte, um eine ideale Gemeinschaft zu verwirklichen. Diese
»neue« Revolution, die sich nicht unter den alten Begriffen Links/Rechts
einordnen ließ, war gemäß den Syndikalisten, der Avantgarde und den Nationalisten nicht nur eine moralische und politische, sondern auch und primär
eine ästhetische Revolution, indem sie die ganze alte, bürgerliche Lebensart
und Sprache zerstörte und sie durch etwas ganz Neues ersetzte.18 Die Ästhetisierung der Politik ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis dieser Zeit, wie
Benjamin sagte19, und mit ihm lassen sich viele ihrer komplexen kulturellen
Phänomene analysieren. Außerdem macht sie die zahlreichen Wechsel der
Intellektuellen von Links nach Rechts20 und die kulturelle Initiative verschiedener wichtiger italienischer Intellektueller zur radikalen Kritik der
bürgerlichen Kultur sowie zur Schaffung einer neuen Kultur als Opposition
gegen die Dekadenz der modernen Gesellschaft verständlich, die zur Forderung einer politischen und kulturellen Revolution führte und oft in Mussolini
und dem Faschismus die politische Übersetzung ihrer Wünsche fand.
Die Energie und der Enthusiasmus des kulturellen Milieus der 20er Jahre
trafen auf die neue faschistische Partei, die eine »konservative Revolution«
initiieren wollte, welche den alten Gegensatz von Links und Rechts verschwinden lassen und die Einheit von Elite und Masse und von Theorie und
Praxis durch die Bildung einer neuen Gemeinschaft und eines neuen Menschen verwirklichen sollte. So zog das für die faschistische Bewegung typische Schwanken zwischen Links und Rechts, zwischen Revolution und Erhalt der Ordnung viele Intellektuelle an, die nach einer kulturellen und sozialen Erneuerung durch die Politik strebten. In den Worten des Historikers
Gentiles »fand diese kollektive Überzeugung ihre Ursprünge in der Sicherheit, ... daß die Philosophie, die Kunst und die Wissenschaft mit der Politik
verschmelzen und die Theorie sich mit der Praxis verbinden würde«.21 Obwohl dem Faschismus eine ideologische und kulturelle Einheit fehlte, welche
den Intellektuellen eine klare Richtung bieten konnte, waren die Ablehnung
der akademischen Kultur und Institutionen – der Angriff gegen den sogenannten Intellektualismus – und die Erneuerung – die Geburt der neuen
Kultur und Mentalität – diejenigen Elemente, die die Literatur dieser Zeit mit
dem Faschismus teilte. Viele Intellektuelle waren der Überzeugung, daß der
traditionelle Begriff des Intellektuellen nicht unverändert bleiben sollte: Der
sogenannte »liberale Wissenschaftler«, der sich unter dem Vorwand der
17
Trennung22 von Politik und Wissenschaft »in einer abstrakten Welt einschließe«23, sei eine veraltete, aussterbende Figur. Einige bedeutende Intellektuelle sowie die politischen Exponenten des Faschismus forderten, daß der
Wissenschaftler gegen diese Art von fruchtlosem Intellektualismus kämpfen
sollte, um durch sein faschistisches Engagement die Einheit seines Denkens
und Handelns zu erlangen. Auf diese Art und Weise wurde die Polemik gegen die alte Intelligenz ein Kennzeichen der Ideologie vieler faschistischer
»anti-intellektueller Intellektueller« und bildete ein wesentliches Element der
Kultur jener Zeit.
Die Ausrufung des Totalitarismus im Jahr 1925 war in Bezug auf den
Konsens der Intellektuellen und der öffentlichen Meinung ein bedeutender
und gravierender Umbruch in der Geschichte des Faschismus: Die antifaschistische politische und intellektuelle Opposition (und im Besonderen jene
der Intellektuellen des contromanifesto) trat an die Öffentlichkeit und die
Trennung der Strömungen innerhalb des Faschismus wurde deutlicher und
problematischer. So lassen sich zwei Spaltungen erkennen: eine zwischen
dem Faschismus und der Opposition, die andere innerhalb des Faschismus
zwischen den zwei Hauptrichtungen der intransigenti und der fiancheggiatori.
Die Wurzeln dieses Konflikts innerhalb des Faschismus liegen in der
Natur der faschistischen Bewegung: Der Faschismus besaß eine breite und
vielfältige Wählerschaft, die nicht nur aus der Bourgeoisie und den Kapitalisten, sondern auch aus Intellektuellen einerseits und Kleinbürgern und Arbeitern andererseits bestand, die teilweise mit dem revolutionären Syndikalismus verbunden waren. Die nachfolgende Orientierung des Faschismus an
einem konservativen Regime, das die Interessen der kapitalistischen Hochbourgeoisie schützte, gründete im Versuch, eine größere Stabilität und ein
Gleichgewicht durch Kompromisse mit der kapitalistischen Klasse zu erreichen. Der Faschismus verwandelte sich allmählich zu einem konservativen
Rechtsregime, das zur Sicherung und Konsolidierung die Unterstützung der
kapitalistischen bürgerlichen Klasse suchte. Auf die Koexistenz konservativer und antibürgerlicher Elemente stützt sich der von De Felice beobachtete
Unterschied zwischen dem »Faschismus als Bewegung« und dem »Faschismus als Regime«. Der Faschismus als Bewegung in der Phase von seiner
Geburt bis zum Totalitarismus, als Mussolini das Ende der liberalen politischen Institutionen erklärte, war ein Zusammenspiel kultureller und psycho18
logischer Elemente (bewußt oder unbewußt). Teilweise gehörten diese zum
Faschismus intransigente24 und zum Futurfaschismus des Marsches auf
Rom, teilweise wiesen sie auf spätere Vorstellungen und auf das Ideal eines
zukünftigen Faschismus hin, das die Grenzen, die Ängste und die praktischen Kompromisse der Realpolitik des Regimes hätten überwinden sollen
und unabhängig von der Persönlichkeit Mussolinis waren.25 Der Faschismus
als Regime entstellte im Gegensatz dazu die ursprüngliche Ideologie des
Faschismus, indem er einen Staat bildete, der nur auf Mussolinis Charisma
gründete, in dem Mussolini sich als die Personifizierung des Staates darstellte und für dessen Stabilisierung er einen ständigen Kompromiß mit den
konservativen Klassen26 suchte. Die Abspaltung des späteren konservativen
vom ursprünglichen Faschismus wirkte sich nicht nur als zeitliche Zäsur aus,
sondern spaltete auch die Mitglieder und Unterstützer des Faschismus: Diejenigen, die noch am ursprünglichen faschistischen Programm und den Ideen, aus denen der Faschismus hervorgegangen war, festhielten, die intransigenti, stellten sich gegen die Exponenenten der konservativen Kräfte – die
sogenannten fiancheggiatori, die den Faschismus unterstützten, um ihre politischen und ökonomischen Interessen zu schützen und eröffneten damit
einen starken Machtkonflikt.
Nicht nur das politische Feld erfuhr diese zwei Spaltungen, sondern auch
das intellektuelle, dessen Entwicklungen sich in den 20er und 30er Jahre als
Folge dieses Prozesses lesen lassen. Auf diese Weise lassen sich innerhalb
des Faschismus die Intellektuellen, die das Regime legitimierten und von
ihm unterstützt wurden (wie Giovanni Gentile und Giuseppe Bottai), von den
aufgrund ihrer Treue zum ursprünglichen Faschismus von Luisa Mangoni als
»Interventionisten der Kultur« – hier als Integralisten – bezeichneten radikalen Intellektuellen unterscheiden. Die Unterstützer des »reinen Faschismus«,
die an zwei der ersten Grundbestandteile der faschistischen Bewegung, dem
Futurismus und der Avantgarde festhielten, wurden mehr und mehr an den
Rand geschoben: Sie besaßen ein immer geringeres Prestige im intellektuellen Milieu und weniger Unterstützung vom Regime. Die Avantgarde, aus der
die radikalen Intellektuellen stammten, verlor immer stärker an Gewicht, bis
sie nur noch eine der konventionellen regimetreuen Künste war. In den 20er
Jahren opponierten sie gegen die anerkannte Strömung der Aktualisten, deren
Einfluß und Prestige vor und nach der Machteroberung des Faschismus in
der zeitgenössischen Literatur ein unbestrittenes Faktum war27 und die eine
19
hegemoniale28 Position im intellektuellen Feld vor und nach der Ausrufung
des Totalitarismus besaßen. Die Exponenten dieser Strömung bildeten eine
»Schule«, die nicht nur in der akademischen Literatur, sondern in der ganzen
Hochkultur (haute culture) eine große Rolle spielte. Ihre »symbolische
Macht« im bourdieuschen Sinne verknüpfte sich nach 1925 mit ihrer politischen Macht und verstärkte sich: Giovanni Gentile, der Gründer dieser
Schule, übernahm mit der zunehmenden Einschränkung der Autonomie des
intellektuellen Feldes neben seiner Arbeit als Professor auch eine politische
Funktion und gewann als Minister und Kulturorganisator Macht, mit der er
die Verbreitung und die Entwicklung seiner Schule förderte.
Ein wichtiger Faktor für die Marginalisierung der Futuristen und danach
der radikalen Intellektuellen war die zunehmende Heteronomie des intellektuellen Feldes, die dazu führte, daß einige Strömungen stark zensiert und
andere vom Regime direkt unterstützt wurden. Der Umstand, daß radikale
Intellektuelle als überzeugte Anhänger des Faschismus im Kultur- und Politikapparat des Regimes starke Opponenten gegen ihre Ideen fanden, mag
unlogisch scheinen, läßt sich aber im Rahmen der komplexen Natur des Faschismus verstehen. Der Faschismus war ein vielschichtiges Phänomen und
die Zensur faschistischer und antifaschistischer Schriften folglich eine delikate und schwierige Angelegenheit29: Es war nicht immer klar, was zensiert
werden sollte, ob etwas gegen das Regime oder für seine Veränderung oder
Vollendung war. So funktionierte die Zensur nach sehr komplizierten Regeln
– und manchmal funktionierte sie auch gar nicht. Aus diesem Grund konnten
selbst die bedingungslose Zustimmung zu faschistischen Ideen und die Forderung einer »Faschistisierung« des Staates, die von den radikalen integralistischen Intellektuellen gepredigt wurden, als Bedrohung betrachtet und als
»antifaschistisch« bekämpft werden.30 Einerseits wurden die Ideen der faschistischen Revolution gegen die Bourgeoisie und die Forderungen, eine
kritische Diskussion zu entwickeln, durch die Reden Mussolinis kolportiert,
andererseits aber durch die Struktur des Regimes in Wirklichkeit verhindert.
Wenn die Adhäsion der Intellektuellen also kein Produkt des Zwangs
oder des reinen Opportunismus war, und die Pluralität der intellektuellen
Visionen des Faschismus im Auge behalten wird, dann gerät zwangsläufig
der Konflikt zwischen den faschistischen Intellektuellen über die Bedeutung
der faschistischen politischen Revolution und die mit ihr verbundene kulturelle Erneuerung in den Blick, der schließlich durch die Einschränkung der
20
Autonomie des intellektuellen Feldes zur Marginalisierung der radikalen
Intellektuellen führte. Verdeutlichen läßt sich diese anhand der Analyse der
Arbeiten der integralistischen Intellektuellen Kurt Suckert, Mino Maccari,
Mario Carli, Emilio Settimelli und später Julius Evola sowie ihrer Biographien und ihrer Tätigkeiten als Kulturorganisatoren: Sie hatten eine integrale
und »reine« Konzeption des Faschismus, die sie auch gegen Mussolini und
regimenahe Intellektuelle, u.a. Giovanni Gentile, Giuseppe Bottai und Alfredo Rocco, verteidigten.
Die hier betrachteten Autoren waren integrale Faschisten, »päpstlicher als
der Papst«.31 Sie wurden alle vom Faschismus wegen ihres »Extremismus«
zensiert, sie attackierten Mussolini und seine Politik, die Exponenten der
Kultur und deren kulturelle Auffassung, um die Überreste der Demokratie
und der westlichen, rationalistischen, wissenschaftlichen Grundlagen komplett zu zerstören und einen Schritt weiterzugehen – die sogenannte »Zweite
Welle« der totalen Revolution. Sie waren keine reaktionären Vertreter, die
wie einige katholische Reaktionäre, z.B. Brunati und Fanelli einfach die
Wiederherstellung des Königtums und die Rückkehr zur bäuerlichen traditionellen Gemeinschaft predigten.32 Letztere hatten nie eine politische Utopie
oder ein Projekt, das sie den konservativen Komponenten des Faschismus
entgegenstellten, und erarbeiteten keine globale Vision zur Veränderung der
Institutionen und der Kultur. Im Gegensatz dazu rechneten die radikalen
Autoren in einer gewissen Art mit der Modernität und den Veränderungen
der Gesellschaft. Sie besaßen verschiedene Hintergründe und Ideale: Einige
waren populistisch orientiert, andere hatten eine aristokratische Auffassung
von Kultur und Politik; dennoch zeigten alle eine antibürgerliche und rebellische Haltung, die sich gegen die »Feinde der Revolution« wendete, d.h. gegen die normalizzatori, zu denen selbst Mussolini gezählt wurde. In der
Übergangsphase von einem demokratischen zu einem totalitären Regime und
einer autonomen zu einer heteronomen Kulturlage wurden sie wegen ihres
Faschismus zensiert: Mit ihren radikalen und revolutionären Forderungen
nach Vollendung der Revolution wurden sie zu Feinden der Herrschenden.
Sie erlebten die Folgen der strengeren Kontrolle der Politik über die Kultur
und wurden gerade wegen ihrer beharrlichen Verbreitung der bis vor kurzem
noch vom Faschismus verherrlichten Ideen der totalen Revolution verfolgt.
Die radikalen faschistischen Autoren sind aus zwei Gründen wichtig: Ihre
Kritik am Faschismus macht einerseits die die Stabilität des Regimes bedro21
henden Kämpfe zwischen den verschiedenen Interpretationen der »wahren«
kulturellen und politischen Revolution deutlich, und die zunehmende Kontrolle und Zensur innerhalb des Faschismus selbst, die sie unter anderen ab
1925 trifft, zeigt andererseits den Übergang zu einer allmählichen Heteronomie des intellektuellen Feldes. Diese Untersuchung soll verdeutlichen, daß
die radikalen faschistischen Autoren, d.h. die integralistischen zu Anfang der
20er Jahren und die späteren superfaschistischen, interne Kritiker des Faschismus waren, indem sie die anfängliche antibürgerliche revolutionäre
Auffassung der fasci-Bewegung von 1919 noch dann beibehielten, als Mussolini längst seine Politik der Kompromisse mit den konservativen Kräften
erfolgreich durchgeführt und sich von vielen seiner revolutionären Ideale
verabschiedet hatte. Zu diesem Ziel sammelten sie in den 20er Jahren einen
Teil der Jugend in ihren kulturellen Initiativen, und ihren Zeitschriften – »La
conquista dello stato« von Malaparte, »L’impero« von Carli und Settimelli,
aber insbesondere »Il selvaggio« von Maccari und »La Torre« von Evola –
und nahmen eine durchaus bedeutende politische und intellektuelle Intervention vor.
Sie blieben der ursprünglichen revolutionären Idee des Faschismus ebenso treu wie der totalen Vision von der Kunst als Erneuerung des ganzen ästhetischen Lebens und Abschaffung der Grenzen zwischen Politik und Kunst
– wie sie die Futuristen zunächst verbreitet hatten -, selbst nachdem die ersten Futuristen sie verleugnet hatten; aber ihre Haltung bedeutete in einem
immer heteronomer werdenden intellektuellen Feld ihre Marginalisierung. So
läßt sich ihre Entwicklung als ein Vorgang beschreiben, bei dem ihre Position im intellektuellen Feld – als Avantgarde, als extreme antibürgerliche
Künstler und als radikale Faschisten – dieselbe blieb, während sich alles
andere veränderte – die politischen Richtungen, die allgemeine Lage des
intellektuellen Felds und die Position und die Haltung einiger Strömungen,
insbesondere der Futuristen. Diese Veränderung fand um das Jahr 1925 statt,
als sich die zwei Spaltungen – jene des intellektuellen Feldes in Faschisten
und Antifaschisten und jene innerhalb des faschistischen intellektuellen Feldes in intransigenti und revisionisti bzw. fiancheggiatori33 – ereigneten.
Hier läßt sich anhand der Position dieser Intellektuellen die Hypothese
der Homologie des politischen Feldes zum intellektuellen Feld in Bezug auf
die Konflikte innerhalb des Faschismus und den Übergang von einer autonomen zu einer heteronomen Lage der Kultur betrachten. Die Homologie
22
zwischen der politischen Gruppe der intransigenti und der Strömung der
radikalen Intellektuellen verweist auf eine Wahlverwandtschaft, eine Konvergenzbewegung zwischen zwei Konfigurationen, die von keinem Kausalverhältnis bestimmt wird.34 Die intransigenti einerseits und die radikalen
Intellektuellen andererseits besaßen eine homologe Position in ihren jeweiligen Feldern: Sie waren beide Nachfolger der originären faschistischen Elemente; beide versuchten, sich der Veränderung des Feldes entgegenzustellen,
indem sie die »alten« Positionen und Haltungen weiterentwickelten und
wurden deswegen an den Rand geschoben. Die Besonderheit ihrer Position
ergab sich daraus, daß beide in ihrem eigenen Feld ihre Identität und ihre
Rolle als eine zum Regime alternative Ordnung erhielten. Die Haltung der
intransigenti mußte zwei gegenseitigen Bedürfnissen gerecht werden: Einerseits wollten sie den fiancheggiatori und Mussolini gegenüber ihre Differenz
behaupten, andererseits durften sie nicht zu kritisch gegen das Regime sein,
um nicht völlig ausgeschlossen zu werden. Dasselbe gilt für die radikalen
Intellektuellen: ihre spezifische Identität gewannen sie durch ihre Abgrenzung gegenüber den hochbewerteten Strömungen der Aktualisten und der
»neuen« Futuristen, obwohl die Gefahr wegen ihrer Heterodoxie völlig marginalisiert zu werden, ihre Kritik oft mäßigte. Ihr Verhalten läßt sich als Versuch erklären, ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Subversion
und der Annahme einiger Spielregeln zu schaffen.
Dieses Gleichgewicht wurde durch die verschiedenen direkten und indirekten Wechselwirkungen des politischen mit dem intellektuellen Feld ermöglicht. Die Kontrollmechanismen des Regime wirkten direkt durch die
Zensur und die Marginalisierung auf das intellektuelle wie auf das politische
Feld, was beide Felder in ein Zentrum und eine Peripherie spaltete. Die revolutionäreren und radikaleren Instanzen wurden im intellektuellen Feld
zensiert und im politischen geächtet, da Mussolini mit seiner Politik die moderateren und konservativeren Elemente für sich gewinnen wollte. Außerdem
wirkte die politische Lage auch indirekt auf das intellektuelle Feld, indem die
Unterstützung der moderaten und bürgerlichen Komponenten des Faschismus zur Umformung desselben und zur Hegemonie einiger Strömungen
beitrug. Im Laufe der 30er Jahre wurde die direkte Kontrolle des politischen
Feldes durch die zunehmende Zensur und den Versuch zur Bildung einer
Staatsorthodoxie immer bestimmender. Die Randelemente der Kultur, die
rechtsextremen Carli und Settimelli und die populistisch orientierten Maccari
23
und Suckert, schlossen sich am Anfang dieser Entwicklung unter dem Programm des Integralismus zusammen, um die konservative Kultur und Politik
zu bekämpfen, dabei auf die intransigente politische Komponente verweisend. Letztere unterstützten wiederum die radikalen integralistischen Intellektuellen, so daß die zwei »Peripherien« sich für einige Monate zum gemeinsamen Kampf zusammenfanden, bevor sie stärker marginalisiert wurden.35
Die Wechselwirkungen zwischen dem politischen und dem intellektuellen
Feld führten zu einer Homologie. Sowohl die intransigenti als auch die radikalen Intellektuellen besaßen eine homologe Position in ihren jeweiligen
Feldern: beide waren Nachfolger originärer faschistischer Elemente; beide
versuchten, sich der Veränderung des Feldes entgegenzusetzen, indem sie die
»alten« Positionen und Haltungen weiterentwickelten; beide wurden deswegen an den Rand geschoben. Die Ursache ihrer besonderen Position lag in
ihrem Bedürfnis, eine bestimmte Identität zu gewinnen: beide mussten in
ihrem eigenen Feld ihre Identität und ihre Rolle erhalten. Die intransigenti
wollten den fiancheggiatori und Mussolini gegenüber ihre Differenz festigen, um nicht absorbiert zu werden, durften aber andererseits nicht zu kritisch gegen das Regime sein, um nicht völlig marginalisiert zu werden. Dasselbe läßt sich von den radikalen Intellektuellen sagen: Sie wollten ihre spezifische Identität in Differenz zu den hochbewerteten Strömungen der Aktualisten und jener der immer mehr von ihren ursprünglichen Idealen entfernten Futuristen gestalten, durften aber nie zu gefährlich für das Regime
und zu subversiv in der Kultur sein, um nicht vollkommen an den Rand gedrängt zu werden. Ihr Verhalten läßt sich sozusagen als Versuch erklären, ein
Gleichgewicht zwischen diesen zwei Bedürfnissen (Subversion und Annahme einiger Spielregeln) zu schaffen.
1 Über diese Zeit wurde in Italien eine große Zahl historischer und politischer Studien
veröffentlicht, aber keine soziologische Forschung über die Intellektuellen durchgeführt,
im Sinne einer Analyse des ganzen intellektuellen Feldes im Hinblick auf seine internen
Machtmechanismen und Kämpfe um die Steigerung des intellektuellen Prestiges, wie sie
etwa in Frankreich mit den Arbeiten von Pierre Bourdieu, Christophe Charle und JeanFrançois Sirinelli in Bezug auf die Affaire Dreyfuss entwickelt wurde. Dennoch sind die
Untersuchungen einiger Historiker so komplex und weitreichend, daß sie den historischen
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Bereich überschreiten und wesentliche Hinweise für eine soziologische Forschung anbieten. Unter anderen Renzo De Felice mit seinem achtbändigen Werk über Mussolini (Torino, 1965-1999), seinem Intervista sul fascismo (Bari, 1975) und mit Le interpretazioni del
fascismo, (Bari, 1995); Emilio Gentile mit Le origini dell’ideologia fascista (Bologna,
1996) und mit Il culto del littorio (Bari, 1993); Luisa Mangoni mit L’interventismo della
cultura. Intellettuali e riviste del fascismo (Bari, 1974) und Una crisi di fine secolo (Torino, 1985); und schließlich Zeev Sternhell mit Naissance de l’idéologie fasciste«, Paris,
1989 (Deutsche Üb.: Die Entstehung der faschistischen Ideologie, 1999, Hamburg)
S. Carlo Bo »L’ideologia del regime« in Bo u.a., Fascismo e antifascismo (1918-1936),
Milano, 1962, S. 305-322.
B. Croce, »Il fascismo come parentesi«, in Casucci C., Il fascismo. Antologia di scritti
critici, Bologna, 1961.
Diese Interpretation findet sich oft in den Schriften von Linksintellektuellen, die zugleich
das faschistische Regimes als eine Form und ein Ergebnis der Reaktion der Bourgeoisie
auf den Sozialismus und die Moderne deuten. Die Ablehnung der modernen Klassenverhältnisse und -kämpfe und die Erhaltung der Privilegien der Bourgeoisie in dem frühmodernen sozialen System seien die Kennzeichen der unvollendeten modernen Entwicklung Italiens und verursachten eine politische Reaktion der Bourgeoisie: den Faschismus.
Ein erster Vertreter dieser Deutung ist Antonio Gramsci, ein späterer der kommunistische,
politische Führer Palmiro Togliatti (Togliatti, Discorsi parlamentari, 1984, Roma; Rapporto sul fascismo, Roma, 1995). Ein ähnlicher Ansatz läßt sich bei Asor Rosa finden
(Scrittori e popolo. Il populismo nella letteratura italiana contemporanea, Roma, 1966),
der die populistische und regressive Natur der faschistischen Literatur betont und ihr
Verlangen nach der Wiederherstellung der alten traditionellen Gesellschaft untersucht.
Hier lassen sich die folgende Arbeiten anführen: jene des Historikers Renzo De Felice (Intervista sul fascismo, op.cit.; ders. Le interpretazioni del fascismo, op.cit.); Emilio
Gentile mit Le origini dell’ideologia fascista, op.cit.; ders. Il culto del littorio, op.cit.;
Luisa Mangoni L’interventismo della cultura. Intellettuali e riviste del fascismo, op.cit. .;
Zeev Sternhell Naissance de l’idéologie fasciste, op.cit.
Das Adjektiv »revolutionär« besitzt in diesem Kontext eine spezifische Bedeutung, die in
Bezug auf die antibürgerliche Bewegung des frühen Faschismus und auf die konservative
Revolution begrenzt und untersucht werden soll. In diesem Sinne wird dieses Wort breiter
angewendet, als wenn es unter seiner ursprünglichen Konnotation, jener des französischen
bürgerlichen Modells der Revolution, verstanden wird. Hierzu lassen sich die Definitionen Zeev Sternhells zählen, laut dem der Faschismus eine »passive Revolution« war, die
nicht auf die materiellen Elemente sondern nur auf die spirituellen Werte der Gesellschaft
wirkte (La naissance de l’ideologie fasciste, op.cit.; »Fascist Ideology«, in W. Laqueur
(Hrsg.), Fascism, a Reader’s Guide. Analysis, Interpretation, Bibliography, Berkeley,
1976, S. 315 ff.), jene des Historikers Juan Linzs (»Some notes about a comparative Study of Fascism« in Laqueur (Hrsg.), Fascism, a Reader’s Guide ..., op.cit., S. 3 ff), dessen
These ähnlich zu jener Sternhells ist, sowie Eugen Weber (»Revolution Counterrevolution
What Revolution ?«, in Laqueur (Hrsg.), Fascism ..., op.cit., S. 435 ff.); Adrian Lyttleton
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(»Italian Fascism«, in: Laqueur, Fascism ..., op.cit., S. 125 ff.; The seizure of power Fascism in Italy 1919-1929, London, 1973); Michael Leeden (L’internazionale fascista, Bari, 1972).
Bo behauptet, die Rechte sei eine konservative politische Bewegung gewesen, die keine
neuen Elemente und Ideen in Kultur oder Politik erzeugt habe, da sie allein von der Konsolidierung der herrschenden Schichten und Wiederholung der alten künstlerischen und
literarischen Modelle gekennzeichnet sei. Diese Interpretation läßt sich auch in der schon
erwähnten Haltung Croces gegenüber dem Faschismus finden, als der ihn als eine »Parenthese von 20 Jahren« beschreibt, die keine neue kulturelle Entwicklung erzeugt habe.
(Croce, »Il fascismo come parentesi«, in Casucci (Hrsg.), Il fascismo. Antologia di scritti
critici, op. cit.).
Bobbio N., »Cultura e fascismo«, in G Quazza, V. Castronovo, u.a., Fascismo e società
italiana, Torino, 1963, S. 229.
Gentile E., Le origini dell’ideologia ..., op.cit., S. 295-296
»Die Worte Links und Rechts, Reaktion und Revolution sind keine für das faschistische
Programm anwendbaren Klassifizierungen, das reaktionär in Bezug auf die These des Sozialismus ist, und tief erneuernd in Bezug auf andere Thesen [ist]« (Mussolini, »Programma«, in: Il popolo d’Italia, 22 Dezember 1921). Vgl. auch Rede von B. Mussolini
am 5. September in Cremona, in »La provincia«, von Cremona, 7. September 1920; ders.,
»Nel solco delle grandi filosofie. Relativismo e fascismo«, in Il popolo d’Italia, 22 Nov.,
1921.
Sternhell, »Fascist ideology«, in Laqueur (Hrgs.), Fascism. A reader’s Guide ..., op.cit.,
S. 315 ff.
Vgl. fünftes Kapitel.
Vgl. E. Gentile, Il culto del littorio, op.cit., P.G. Zunino, L’ideologia del fascismo, Bologna, 1985; De Felice, Mussolini il duce. Gli anni del consenso, S. 40 ff. Für die Analyse
der eschatologischen Aspekte des Nationalsozialismus vgl. u.a. G. Mosse, The Nationalisation of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, New York, 1974; ders., Masses and Man. Nationalist and Fascist Perception of Reality, New York, 1980.
Dies macht z.B. auch erklärbar, warum Mussolini die von Gentile geleitete »Enciclopedia
Italiana« unterstützte und verteidigte, die viele antifaschistische Intellektuelle als Mitarbeiter versammelte. (Vgl. u.a. G. Turi, Il fascismo e il consenso degli intellettuali, Milano,
1980 und De Felice, Mussolini. Il duce. Gli anni del consenso, S. 107 ff.) Ein weiteres
Beispiel findet sich in der Haltung gegenüber der Kunst: obwohl Mussolini der Kultur die
Funktion zumaß, das Individuum und insbesondere die neuen Generationen - die »neuen
Menschen« - in die faschistische Gesellschaft zu integrieren, verbannte er keine Strömung. Auch wenn der Futurismus keine politische Rolle mehr spielen konnte, wurden die
Futuristen im Gegensatz zu Deutschland nie als »entartete Künstler« bezeichnet.
Vgl. u.a. Garin, Cronache di filosofia italiana, op. cit.; Turi, Il fascismo e il consenso
degli intellettuali, op. cit. und Mangoni, Una crisi di fine secolo, op. cit.
16 Z. Sternhell, Naissance de l’idéologie ..., op.cit.; Stuart Hughes, Consciousness and
Society. The Reorientation of European Social Thought 1890-1930, New York, 1961.
17 Agostino Lanzillo war einer der Ersten, der die Idee des dritten Weges erarbeitete (Vgl.
»L’ora dei combattenti« in der von Mussolini geleiteten Zeitschrift Popolo d’Italia, 21.
Juni 1919). Die Revolte der Veteranen gegen die herrschende Klasse sollte zur nationalsyndikalistischen Regierung führen, die das Recht des »armen« Volkes, insbesondere des
italienischen, gegen die imperialistischen Mächte schützen würde. Diese Theorie wurde
von der ganzen Gruppe der revolutionären Syndikalisten unterstützt und verbreitet. Vgl.
die Artikel der in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg von Alceste De Ambris geleiteten Zeitschrift »Il rinnovamento« und der von A. O. Olivetti geleiteten »Italia nostra«.
18 Die Zerstörung der alten sprachlichen Kategorien (wie Links und Rechts) ist ein Kennzeichen der kulturellen und auch der konkreten politischen Sprache Anfang dieses Jahrhunderts nicht nur in Italien, wie das Bündnis zwischen der extremen Rechten und der extremen Linken im Dritten Reich zeigt. Vgl. J. P. Faye Les languages totalitaires, Paris, 1973
und V. Klemperer (LTI: Notizbuch eines Philologen, Köln, 1987 über die Veränderung
der sprachlichen Kategorien in den politischen und kulturellen Bereichen während des
Dritten Reichs.
19 Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Frankfurt/M., 1986, S. 48.
20 Beispiele dieses Übergangs finden sich in der Strömung des revolutionären Syndikalismus, als der Führer der Bewegung sindacalismo rivoluzionario, Arturo Labriola, sich für
kurze Zeit mit Elementen des Nationalismus von Corrradini verband, so daß ein großer
Teil dieser auf der postmarxistischen Theorie Sorels fußenden Bewegungen schließlich
dem Faschismus bis zu seinem Ende verbunden blieb. Auch Mussolinis kulturelle und
politische Bildung wurde von Sorel und dem sindacalismo rivoluzionario beeinflußt.
21 N. Zapponi, »I miti e le ideologie«, in Storia contemporanea, VII, 1983, S. 203-204.
22 Diese interessante Definition wurde von Fritz Stern (Kulturpessimismus als politische
Gefahr, Bern 1963) erarbeitet.
23 Giovanni Gentile, »Il fascismo e gli intellettuali«, in Opere, (XLV), Firenze, 1990,
S. 423.
24 Ein weiteres Zeichen dieser Komplexität ist die Spaltung der Unterstützer des Faschismus
in intransigenti und fiancheggiatori ab 1922 (Marsch auf Rom). Erstere wurden von Roberto Farinacci geleitet und waren die revolutionäre und kleinbürgerliche Komponente
des Faschismus, die die Kompromisse Mussolinis mit der Industrie und den Konservativen nicht ertragen wollten. Letztere waren mit Mussolini nur opportunistisch verbunden,
d.h. sie wollten den Faschismus für ihre politischen und ökonomischen Interessen ausnützen; der Faschismus sollte den Sozialismus neutralisieren und dabei die konservative Regierung sichern. Deshalb sahen sie den von den intransigenti vertretenen revolutionären
faschistischen Geist als eine Gefahr für die Stabilisierung der politischen Lage an und
wünschten die ›Normalisierung‹ der faschistischen Partei. Vgl. De Felice, Mussolini il fascista. La conquista del potere.
25 Vgl. De Felice, Interpretazioni del Fascismo ..., op.cit., S. 28.
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26 Unter konservativen Klassen werden politisch die ehemaligen Liberalen, die Konstitutionell-Moderaten, die Nationalisten, die Monarchisten und ökonomisch der gehobene Mittelstand, die Industrie und die Bürokratie verstanden. Vgl. De Felice, Mussolini il fascista.
L’organizzazione dello stato fascista ..., op.cit., S. 8 ff.
27 Vgl. A. De Castris, »Gramsci e il problema dell’egemonia negli anni ‘30«, in Lavoro
critico, XIX, 1980; N. Bobbio, »Profilo ideologico del Novecento«, in dem Band »Il Novecento« der Storia della letteratura italiana, Milano, 1969; A. Del Noce, »Idee per
l’interpretazione del fascismo«, in Casucci (Hrsg.), Il Fascismo Antologia ..., op.cit.; ders.
Il prolema storico del fascismo, Firenze, 1970.
28 Ich verwende hier das Wort ›hegemonial‹ anders als Gramsci, indem ich es auf das intellektuelle Feld anwende und damit auf die kulturelle Macht und das Prestige der Bewegung Bezug nehme. So lassen sich diejenigen als hegemoniale Exponenten der Kultur
einordnen, die ein besonderes Prestige und das höchste symbolische Kapital besitzen und
damit das ganze Feld gestalten, indem sie die legitimen Praktiken und Formen der intellektuellen Arbeit durchsetzen.
29 Vgl. Leeden, L’internazionale fascista, op.cit.
30 Es läßt sich natürlich nicht sagen, daß die antifaschistische Opposition einerseits und die
interne Opposition andererseits vom Regime gleich behandelt wurden, aber auch gegen
letztere zeigte das Regime seine Feindseligkeit.
31 Dieser Ausdruck von Camillo Pellizzi (Le lettere italiane nel nostro secolo, Milano, 1929,
S. 175 ff) bezeichnete die jungen Faschisten, die eine viel zu ernste und radikale Vision
der Revolution entwickelten und deswegen von den faschistischen Autoritäten für suspekt
gehalten wurden.
32 Vgl. zu den reaktionären Autoren E. Gentile, Le origini dell’ideologia fascista, op.cit., S.
346 ff.
33 Intransigenti waren die extremen Flügel, fiancheggiatori und revisionisti waren Konservative, Moderate und ehemalige Liberale. Diese Begriffe werden im zweiten und dritten
Kapitel ausführlich erläutert.
34 Vgl. M. Löwy, »Le concept d’affinité elective«, in, Sociabilités intellectuelles, Cahier
IHTP, 20, März 1992.
35 Dabei ist bemerkenswert, daß die politische Peripherie nicht nur weniger Mittel, sondern
auch eine geringere symbolische Macht besaß, so daß ihre Reaktionen nicht so wirksam
wie die des Regimezentrums - der von Mussolini anerkannten kulturellen und politischen
Autoritäten – waren. Trotzdem konnten die intransigenti Intellektuelle fördern, indem sie
z.B. ihre Veröffentlichungen in Zeitungen unterstützten.
28
Theoretische Bezugnahmen und Methodologie
Diese Untersuchung strebt die Beobachtung des Verhältnisses der Intellektuellen zum Totalitarismus in einer Übergangsphase an. Anstatt ihre Haltung
unhinterfragt als reinen Opportunismus abzutun sollten ihr Handeln und ihre
Schriften vielmehr im Rahmen der intellektuellen und politischen Kämpfe
der Zeit eingeordnet und die Autoren nicht als Einzelne betrachtet werden.
Dabei wird eine strukturelle Perspektive eingenommen, um eine Art »Entmythologisierung« und »Entmoralisierung« der Autoren1 zu erreichen und
zur Definition eines Intellektuellentypus zu gelangen, dessen Wurzeln in
einer »dauerhaften« Spaltung des intellektuellen Feldes liegen.
Zweck der Arbeit ist ferner, die Definition und die Eigenschaften der radikalen rechten Intellektuellen festzustellen: die Bezeichnung aller
Rechtsintellektueller als Konservative, die in heutigen Diskussionen weit
verbreitet ist2, wird dadurch in Frage gestellt. Nach meiner Hypothese ist es
genau die Trennung, die gravierende Spaltung innerhalb des faschistischen,
intellektuellen Feldes zwischen der konservativen Kultur und der antimodernen Strömung der radikalen Intellektuellen, die das Wesen ihrer Programme
und Anschauungen ausmacht. Das Wesen der radikalen Intellektuellen lag in
ihrem revolutionären Charakter, der auf den »Geist« der ursprünglichen Bewegung verwies; sie vertraten eine totale künstlerische und politische Auffassung, was sie von den konservativen Intellektuellen unterschied. Sie bekämpften die konservativen Intellektuellen und Politiker und übten eine besonders gefährliche Kritik am Regime, so daß sie nicht mit den anderen internen »Verbesserern« des Faschismus – wie Giuseppe Bottai und den revisionisti – vergleichbar waren. Die Randposition der radikalen Intellektuellen
läßt sich gleichzeitig auf einer intellektuellen und einer politischen Ebene als
eine »grundsätzliche Spaltung« beschreiben, die eine neue Handlungsmöglichkeit eröffnet: die Kritik am ganzen politischen faschistischen System aus
29
einer »virtuellen« Perspektive – jener der totalen Revolution – vorzubringen.
Die von den integralistischen Intellektuellen Mitte der 20er Jahre während
des Konfliktes mit den akademischen Intellektuellen und den konservativen
Kräften geschaffene Position in der Struktur des Feldes wurde später, als sie
nichts Neues zu sagen hatten, von anderen Akteuren – Evola und seiner
Gruppe – wie ein leergewordener »Raum« besetzt, der bereit war, von anderen »bewohnt« zu werden.3
Zwei Einwände könnten gegen die Verwendung der Worte »Kritik« und
»Intellektuelle« erhoben werden: Läßt sich der Begriff der intellektuellen
Kritik in diesem Fall überhaupt benutzen, wenn diese nicht der Verteidigung
universeller Werte, sondern der starken Verneinung der Freiheit entspringt?
Läßt sich auch in diesem Fall eine Definition von Kritik benutzen, die für die
Opposition der modernen Intellektuellen als Vertreter des moralischen Fortschritts und der Entwicklung der menschlichen Urteilsfähigkeit angewendet
wurde? Und weiter: Lassen sich diese Autoren überhaupt als Intellektuelle
betrachten?
Das Problem stellt sich hier, da eine Kategorie, die mit einer ethisch
»guten« Haltung assoziiert wird, in einem anderen Kontext etwas ganz anderes bezeichnet. Eben dies ist der Fall mit dem Wort »intellektuelle Kritik«,
das in unserer Geschichte eine positive Bedeutung hat. Die Entstehungsgeschichte der Worte »intellektuelle Kritik« und »Intellektuelle« verweist auf
ein positives Ereignis, das der Kritik eine moralische Bedeutung verleiht. In
diesem Sinne ist die Figur des Intellektuellen schon seit seiner Entstehung,
d.h. seit der Verwendung des Wortes in dieser Bedeutung in der Dreyfuss
Affaire, mit seiner Rolle als Verteidiger des Universellen verbunden und
besitzt eine wesensgleiche Beziehung mit der Entstehung und der Konsolidierung demokratischer Werte. Die moralische Komponente des Wesens des
Intellektuellen, die die Ursache seiner Autorität darstellt, ist mit unseren
eigenen modernen politischen Werten verbunden: Intellektueller ist in diesem Fall nur derjenige, der nicht nur irgendwelche allgemeinen Werte verteidigt, sondern auch spezifische Grundwerte, die unserem gesellschaftlichen
System zugrunde liegen sollten. Jerome Karabel4 hat diese Sichtweise der
Intellektuellenarbeit als eine »idealistische normative Bezugsform«5 eingestuft und sie damit der analytischen Betrachtungsweise entgegenstellt: Ihr
Ziel sei nicht die reine Forschung über die reale konkrete Intellektuellentätigkeit, sondern die Feststellung des intellektuellen Sollens.
30
Obwohl der Standpunkt Karabels nicht ganz mit meinem übereinstimmt,
ist auch hier die Betonung der zweifachen Betrachtungsweise der Intellektuellentätigkeit ein wesentlicher Punkt, was dazu führt, daß das Wort »Kritik«
neben der schon erwähnten »moralischen« Bedeutung zugleich einen allgemeinen und formalen Charakter besitzt: Kritik ist auch, in einem weiteren
Sinne betrachtet, eine Fähigkeit und eine Handlungsmöglichkeit, die unabhängig von ihren eigentlichen Inhalten besteht. Sie ist »die Beurteilung des
Verhaltens (des Tuns und Unterlassens) anderer in Bezug auf bestimmte
Normen, womit keine unmittelbaren Sanktionen verbunden sind. Kritik setzt
die Anerkennung eines möglichen Dissenses über die Interpretation einer
allgemeinen Verhaltenserwartung voraus: sie impliziert die prinzipielle Anerkennung einer Verhaltensalternative«.6
Dergestalt läßt sich eine der obigen Fragen teilweise beantworten: Die
rechtsextremen Intellektuellen übten keine Kritik aus, wenn unter diesem
Begriff ein positiver ethischer Inhalt als »Appell an die Gesinnung, als Mission für Ideale, als Glaube an die ›reine Vernunft‹ und an die Macht der Aufklärung«7 verstanden wird, aber sie waren dennoch Kritiker, indem sie sich
an die Öffentlichkeit wandten und damit ihre Position als Kulturexponenten
benutzten, um die Regierung zu kritisieren und sie gemäß ihren Idealen zu
beeinflussen suchten, wobei »ihre Ideale« die Entwicklung eines allgemeinen
politischen Projekts sein sollten. Daß sie nicht von der Verteidigung ihrer
individuellen Machtpositionen, sondern von den universellen allgemeinen
Werten der Tradition und der Wiederherstellung der Gemeinschaft ausgingen, ist in der Tat eine unbestrittene Tatsache und läßt sich kaum anders, als
die Anwendung ihrer Kritik und ihrer Dissensfähigkeit als Intellektuelle
gegenüber der aktuellen Politik klassifizieren.8
So wird auch die zweite Frage beantwortet: Wenn Kritik das Kennzeichen der intellektuellen Tätigkeit ist, dann lassen sich die radikalen Autoren
als antiintellektuelle Intellektuelle betrachten. Antiintellektuell waren sie
wegen der Verneinung der von den Intellektuellen verteidigten aufklärerischen Prinzipien, Intellektuelle waren sie, indem sie ihre Macht als Exponenten des universellen und höheren Standpunkts der Intelligenz anwandten.
Der Schriftsteller Curzio Suckert, die Künstler Mario Carli, Emilio Settimelli, Mino Maccari und der Religionsexperte Julius Evola nutzten ihre Position
und ihre Kompetenz in der intellektuellen Welt aus, um durch ihre Artikel
oder Werke und ihr Handeln einen politischen Einfluß auf den Faschismus
31
auszuüben, womit sie ihre spezialisierte Funktion aufgaben und in einem
anderen Bereich intervenierten.
Die Definition des Intellektuellen und der intellektuellen Kritik, die dieser
Arbeit zugrunde liegt, wurde nach einer Untersuchung und einem Vergleich
unterschiedlicher Methoden, die zur Analyse der Beziehungen der Intellektuellen zur Macht angewendet werden, ausgewählt, was zur Formulierung
einer eigenen Forschungsmethode führte. Der Bestimmung der Methode
werden zwei Prämissen zugrunde gelegt: Erstens sollte der Standpunkt nicht
normativ, sondern analytisch/deskriptiv9 sein, um die konkrete Relation der
Intellektuellen zur Politik daraufhin zu untersuchen, wie sie ist und nicht wie
sie sein sollte; zweitens sollte der Intellektuelle als Mitglied der Intellektuellenschicht betrachtet werden. Grundlegend für die erste Bedingung war das
Objekt der Arbeit: es besteht in den Beziehungen einer Intellektuellengruppe
zur Politik in einer konkreten Lage und hat kein direktes Verhältnis zu der
normativen Frage oder zum Wert der Haltung oder der Werke. Mit dieser
ersten Voraussetzung ist die zweite verknüpft: Die Intellektuellen sollten
nicht als moralische, individuelle Akteure untersucht werden, sondern als
eine Gruppe, die in einer wandelbaren politischen Situation ihre Arbeit und
ihre Identität weiterführt oder verändert.10
Zwei Grundmodelle wurden zur Untersuchung der Beziehungen der Intellektuellen zur Politik herangezogen: das Modell Antonio Gramscis, das
schon als Schlüssel zur Interpretation der Haltung der Intellektuellen zum
Faschismus benutzt worden ist11, und jenes Pierre Bourdieus, das im Gegensatz dazu eine Alternative zur »klassischen« Methode des Studiums des Faschismus darstellt.
Gramsci und Bourdieu: ein Vergleich
Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden hier betrachteten Autoren liegt auf dem methodologischen Niveau, in ihrer Haltung gegenüber der
Soziologie der Intellektuellen. Die soziologische Vision Bourdieus erlaubt es
ihm, einen Sektor der Gesellschaft auszuschneiden und als ein Interaktionsnetz zu untersuchen, indem er die Konkurrenzmechanismen der Akteure zur
Eroberung der Macht, die interne Ausdifferenzierung und Strukturierung und
32
zugleich die externen Verhältnisse der Felder betont. Das intellektuelle Feld
als einen relativ abgeschlossenen Raum der Gesellschaft zu betrachten bedeutet, das Primat der Politik abzulehnen und die Beziehungen zwischen
dem intellektuellen und dem politischen Feld als ein Spiel zwischen zwei
nicht aufeinander reduzierbaren Akteuren darzustellen. Im Gegensatz dazu
schließt die Methode Gramscis diese soziologische Betrachtung der Intellektuellen aus. Wenn sie als Gruppe beschrieben werden, stellen sie die Vertreter einer bestimmten politischen Ideologie dar und lassen sich deswegen
mittels einer politischen Analyse studieren. Wenn sie als Zeugen und Interpreten einer gewissen Stufe der menschlichen Entwicklung auftreten, werden
sie durch die Instrumente der historischen Wissenschaft erforscht, insbesondere im Rahmen der marxistischen Theorie der Geschichte. Es ist kein Zufall, daß Gramsci, der die Intellektuellentätigkeit als eine rein politische Aufgabe beschreibt (um die kommunistische Gesellschaft vorzubereiten), die
historische und nicht die soziologische Methode benutzt und sich sogar explizit gegen die soziologische Analyse wendet. Am Anfang seiner Studie
über die Intellektuellen schreibt er, daß seine Arbeit keine soziologische
Forschung sei, sondern eine Sammlung von Essays über die »Kulturgeschichte«, und unterstreicht, daß er aufpassen müsse, keine soziologischen
Modelle oder Formen zu benutzen, und daß er zuerst mit einer starken Kritik
an den soziologischen Arbeiten beginnen solle.12
Durch die folgenden Bemerkungen wird deutlich, daß Gramscis Ausgangspunkt eine externe Perspektive auf die Intellektuellenarbeit und -gruppe
darstellt: Der Intellektuelle kann nur als ein politischer Funktionär aufgefaßt
werden, und zwar immer aufgrund seiner Relation zu den gesamten sozioökonomischen Verhältnissen. Außerdem enthält seine Vision niemals eine
Beschreibung der intellektuellen Tätigkeit, ohne direkt auf die politische
Lage zu verweisen. Die primäre Bedeutung der politischen und historischen
Analyse und die entsprechende Ablehnung der Soziologie lassen sich zum
theoretischen Grundelement der Ablehnung der Trennung zwischen Intellektuellenarbeit und Politik in Bezug auf zwei Ebenen verbinden: eine politische – die Funktion der Intellektuellen auf politischem Gebiet – und eine
epistemologische – seine Haltung der Wissenschaft und allgemein der intellektuellen Arbeit gegenüber.
Was die Rolle der Intellektuellen in der Politik betrifft, ist die Arbeit des
organischen Intellektuellen immer zunächst eine Funktion der politischen
33
Hegemonie jener Klasse, die ihr politisches Bewußtsein entwickelt hat, was
dazu führt, daß der Intellektuelle ein politischer Funktionär zur Ausübung
der hegemonialen Macht der herrschenden Klasse ist. Obwohl er die Klasseninteressen als universelle Bedürfnisse erarbeitet, ist der Intellektuelle
immer einem spezifischen, hegemonialen Block und seiner partiellen Weltanschauung – im Sinne von Mannheim – verbunden und seine Tätigkeit
hängt von dessen Entwicklung ab. Diese Funktion erweist sich dadurch, daß
die Intellektuellen von der herrschenden Gruppe unterstützt werden, um die
Rolle des »Treibriemens« zwischen den Massen und der Elite zur »Übertragung« der politischen sozialen Kontrolle zu spielen. Daraus folgt, daß die
ökonomischen und politischen Faktoren einen bestimmenden Einfluß auf die
Kultur ausüben, indem die Arbeit der Intellektuellen immer von der Existenz
und den Interessen eines »historischen Subjekts« ausgeht, selbst wenn eine
Klasse nur durch die Bildung einer Intellektuellenschicht eine Klasse per sé
sein kann. Letztlich gründet sich Gramscis Begriff der Macht auf eine ökonomische und politische Sicht, und erst danach auf eine Betrachtung der
kulturellen Macht, die als notwendiges, aber nicht primäres Moment dargestellt wird. Macht ist bei Gramsci deswegen eindimensional, weil auch die
Macht über den Alltagsverstand ein Aspekt der politischen und ökonomischen Macht ist und immer in eine Richtung fließt – von oben nach unten. In
dieser Vision wird die reine Möglichkeit der Existenz freier Intellektueller
und ihrer kritischen Funktion verneint, da jede intellektuelle Arbeit aus der
Vertretung der spezifischen Interessen einer Klasse und derer historischen
Entwicklung stammt, d.h. sie drückt das Entwicklungsstadium einer Klasse
aus, die sich auf die Machteroberung vorbereitet. Eine Folge dieser Sicht der
Intellektuellen als Funktionäre von Klassen ist die Abwesenheit irgendeiner
relevanten Trennung oder eines Unterschieds zwischen den Intellektuellen:
Trotz ihrer verschiedenen Arbeiten – seien sie Professoren oder Parteifunktionäre, Grundschullehrer oder kleine Bürokraten – und ihrer Auseinandersetzungen bilden sie zusammen eine »Armee«, deren interne Konflikte nur
sekundär sind, da sie ihr Ziel der gesamten Klassenentwicklung entnimmt.
Aus diesem Grund verschwinden ihre Unterschiede und lassen sich durch die
Instrumente der Klassenanalyse nicht als spezifische Kennzeichen, sondern
nur als ganzheitliches Produkt der Klassenherrschaft untersuchen.
Zweitens lehnt Gramsci das Ideal der Neutralität der Wissenschaft als typisch bürgerliches Produkt ab und beseitigt damit jede Trennung zwischen
34
der politischen und der intellektuellen Tätigkeit. Der Wissenschaftler verrichtet seine intellektuelle Tätigkeit wie der Künstler und der Politiker als
direkte politische Tätigkeit, was in der Tätigkeit des kommunistischen Intellektuellen deutlich wird. Letzterer soll die Massen erziehen und vertreten und
dadurch die Philosophie »zum Leben« erwecken.13 Dies führt dazu, daß die
Trennung zwischen der politischen Tätigkeit und der Exposition empirischer
Tatsachen in der Intellektuellenarbeit unbedeutend ist. Der Intellektuelle
spricht immer von einem politischen Standpunkt aus. Die Politik gehört dann
nicht nur zum Hörsaal, sondern sie muß immer dazu gehören.14 Der Intellektuelle soll sich immer des politischen Charakters seiner Arbeit bewußt
sein, nicht um diesen nach außen deutlich zu machen, sondern um ihn als
sein Ziel zu begreifen, was beispielhaft in der Darstellung der Tätigkeit der
kommunistischen Intellektuellen, verstanden als Verbreitung der Doktrin des
historischen Materialismus zur politischen Bildung, deutlich wird. Die Partei
und die Intellektuellen, welchen die politische Aufgabe dieser Erziehung
zukommt, sollen derart arbeiten, daß »alle Mitglieder zu Intellektuellen werden«, und zwar zu politisch qualifizierten Intellektuellen, leitenden Angestellten, Organisatoren aller Tätigkeiten und Funktionen zur Entwicklung
einer vollständigen zivilen und politischen Gesellschaft.15 Laut Gramsci wird
und solle die intellektuelle Elite ihre letzte Aufgabe erfüllen, wenn sie sich
selbst auflöst, d.h. wenn das Kulturprivileg der letzten Intellektuellen nicht
mehr als ihr Monopol gelten wird und sie ihr Wissen gänzlich verbreitet
haben werden.
Im Gegensatz zu Gramscis Modell ermöglicht Bourdieus Theorie eine
komplexe Beschreibung der Struktur des intellektuellen Felds, die von seinem Prinzip der Differenzierung gegenüber den anderen Feldern und von
seiner internen Strukturierung ausgeht, so daß sich Bourdieus Theorie in
ihrem doppelten Aspekt als interne Analyse und als Analyse von innen erfassen läßt. Letzteres wird daran ersichtlich, daß die Perspektive zur Analyse
der Beziehungen des intellektuellen zum politischen vom intellektuellen
Feld, und zwar von den Positionen der Akteure und seiner Struktur, ausgeht.
Da die Macht auf unterschiedlichen Ebenen wirkt und da sie nicht nur politische und ökonomische Dimensionen hat, läßt sich der Intellektuelle in erster
Linie als ein Exponent des intellektuellen Feldes betrachten, dessen politisches Engagement von seiner Position und seinen Interessen im intellektuellen Feld herrührt. Die Intellektuellen sind Akteure innerhalb des intellektu35
ellen Feldes, und ihre Position wird durch den Kampf um den Gewinn des
symbolischen Kapitals bestimmt, »als Kapital an institutionalisierter oder
nicht-institutionalisierter Anerkennung oder Konsekration, das die diversen
Akteure oder Institutionen mittels spezifischer Arbeit und Strategien im Laufe der vorangegangenen Kämpfe zu akkumulieren vermochten«.16 Unter
diesem Aspekt wird die Ähnlichkeit der Theorie Bourdieus mit der Webers
und Mannheims deutlich. Das Kennzeichen der Intellektuellen ist ihre Position der Politik und den Massen gegenüber: Sie sind nicht nur Funktionär der
Politik. Wie bei Weber existieren nach Bourdieu unterschiedliche Sphären,
deren jeweils verschiedene Werte in Konkurrenz zueinander stehen.17 Die
akademische Elite Webers und die Intellektuellenschicht Mannheims bilden
eine eigene Sphäre, und ihre Relation zum politischen Milieu – oder besser,
ihre Funktion innerhalb der Politik – ist nicht das bestimmende Element ihrer
Identität.18 Darüber hinaus kann Bourdieu den Übergang zu einer höheren
oder niedrigeren intellektuellen Autonomie an deren internen Ergebnissen in
der Hierarchie und in der Struktur des Feldes untersuchen, während Gramsci
diese Phänomene nur aus einer externen Perspektive, und zwar durch die
Analyse der Politik und der Intellektuellengruppe als Ganzes, erforschen
kann. Bourdieus Ansatz ermöglicht ferner die Bestimmung der unterschiedlichen Positionen und der Bedeutung der Kämpfe im intellektuellen Feld sowie der Gründe des Erfolgs und des Prestiges der internen Komponenten
(Akteure, Bewegungen, Gattungen) und ihres eigenen Verhaltens zur Politik
– auf der Ebene der internen Analyse.
Was die Haltung der Intellektuellen gegenüber der Politik betrifft, so
führt die Separation der Intellektuellen vom politischen Feld zu einer Definition der Autonomie, welche innerhalb wie außerhalb des intellektuellen Feldes funktioniert, da sie die Grundlage der externen Beziehungen zwischen
den Feldern darstellt und gleichzeitig die interne Identifizierung und Ausdifferenzierung bestimmt. Die Autonomie ist die Basis der Identität des intellektuellen Feldes, da sie historisch seine Konstitution begleitet und die interne Ausdifferenzierung zwischen den autonomen und heteronomen Elementen verursacht. In diesem komplexen Bild wird die intellektuelle Schöpfung
nicht den Interessen und Machtmechanismen des politischen Feldes zugeschrieben, sondern in der internen Struktur und in Bezug zur Position der
Autoren im intellektuellen Feld eingeordnet; die Struktur nimmt ihre Gestalt
im Rahmen der Wechselwirkungen ihres Feldes zum politischen Feld an,
36
womit die Betrachtung des individuellen, schöpferischen Elements mit seiner
Kontextualisierung im politischen und sozialen Hintergrund harmonisiert
wird. Die Autorität der Intellektuellen außerhalb des intellektuellen Feldes
basiert dann auf ihrer Zugehörigkeit zu eben diesem Feld19, und durch sie
üben die Intellektuellen ihre spezifische Macht auch auf andere Felder aus.20
Obwohl das intellektuelle Feld im allgemeinen dem politischen untergeordnet ist, so daß die Intellektuellen »als Beherrschte Teil der Herrschenden«
sind21, ist die politische Macht, die zum politischen Feld gehört, von untergeordneter Bedeutung innerhalb des intellektuellen Feldes, was dazu führt,
daß der Intellektuelle seinen spezifischen Anspruch im politischen Feld erhebt.
Insgesamt betrachtet ermöglicht diese komplexe Sicht des Problems der
Autonomie eine komplette Analyse der spezifischen Lagen und Konfigurationen des Feldes. Im Gegensatz zu Gramsci kann Bourdieu die Schwankungen zwischen Autonomie und Heteronomie auf zwei Ebenen betrachten: auf
einer externen – zwischen dem intellektuellen und dem politischen Feld –
und einer internen – bezüglich der Position der autonomen Bewegungen und
Akteure innerhalb des Feldes in Relation zur Autonomie des Feldes insgesamt. Diese Schwankung läßt sich nicht allein aus einer externen Perspektive
betrachten, wie bei Gramsci, der aus der Analyse der externen politischen
Haltungen zum Intellektuellenfeld dessen Lage direkt deduziert, sondern
unter Berücksichtigung der Modifizierungen der internen Hierarchie des
intellektuellen Feldes. Um die Beziehungen des intellektuellen Feldes zur
Politik herauszufinden, sollten die Belohnungen und Sanktionen in Bezug
auf Heteronomie und kritisches Verhalten der Intellektuellen untersucht werden, da sie Prestige und Gewicht des spezifischen Kapitals des Feldes oder
umgekehrt seine »Entwertung« anderen Kriterien gegenüber (wie der
»Treue« zu einem politischen Regime) zeigen. Als exemplarisch lassen sich
zwei extreme Situationen beschreiben: 1) die Autonomie des Feldes, wobei
die autonomen Bewegungen eine höhere symbolische und geringere ökonomische Belohnung erhalten und die heteronomen eine geringere symbolische
und höhere ökonomische; und 2) seine Heteronomie, wenn letzteren beide
Akte der Belohnung in gleichem Maße und ersteren keine der beiden zukommt. Zwischen diesen beiden Extremen existieren empirische Situationen,
die sich vom Forscher untersuchen lassen. Das intellektuelle Feld schwankt
nicht nur zwischen Autonomie und Heteronomie, sondern schließt im Ge37
gensatz zu Gramsci eben beide Prinzipien ein. Da sie gleichzeitig die interne
Ausdifferenzierung und die äußeren Relationen zu den anderen Feldern bestimmen, ist die Frage der Abhängigkeit vom politischen Feld das konstitutive Element, um die Feldstruktur zu erklären. Außerdem berücksichtigt Bourdieus Modell auch die Phänomene des Dissidententums und der relativen
Autonomie: Kritik ist ein wesentliches Element, das die Identität des intellektuellen Feldes durch den Glauben an universelle, der Politik übergeordnete Werte bestimmt. Der Prozeß der Verwandlung spezifischer Interessen
zu universellen Werten, die innerhalb des Feldes durch Konkurrenz an die
Definition legitimer Praktiken sowie Adhäsion an die libido sciendi und
außerhalb des Feldes durch Feststellung höherer Werte der Politik gegenüber
stattfindet, ist nicht wie bei Gramsci mit dem Gewinn des Bewußtseins oder
der Machteroberung einer sozialen Klasse verbunden. Er ist ein Kennzeichen
des intellektuellen Feldes, das seit seiner Autonomisierung die spezifische
Identität des Intellektuellenwesens bildet und die Intervention der Intellektuellen in der Politik ermöglicht.22
Dieses Ideal der Freiheit der intellektuellen Sphäre grenzt die Interpretation Bourdieus von der Theorie Gramscis ab und markiert einen entscheidenden Unterschied in der Bewertung der wissenschaftlichen Arbeit: Die eigenen kulturellen Werte bilden wie bei Weber die Grundelemente für die Konstitution des intellektuellen Feldes, indem sie allen in anderen Sphären23
geltenden Werten vorgezogen werden, so daß die Sache24 die spezifischen
Aufgaben des Handelns und die geltenden Werte eines bestimmten Feldes
bestimmt.25
Methodologischer Zugang
Es lassen sich drei Gründe für die Wahl einer soziologischen Methode für
diese Untersuchung nennen, die eng mit dem spezifischen Objekt der Arbeit
verbunden sind. Da die internen Kämpfe und Positionen der rechtsradikalen
Autoren, ihre Auseinandersetzung mit der akademischen Kultur des Faschismus sowie ihre Haltung gegenüber den literarischen Strömungen und
politischen Grundbestandteilen des Faschismus das Thema der Arbeit bilden,
wäre der Ansatz Gramscis – d.h. die Intellektuellen als einen einzigen Orga38
nismus zu betrachten – nicht passend. Die Frage nach den vom Faschismus
vertretenen Interessen und Klassen und der politischen Funktion seiner Intellektuellen als Funktionäre wird hier beiseite gelassen, um die internen
Spaltungen und Diskussionen und ihre Auswirkungen auf die Struktur und
Veränderung des intellektuellen Feldes zu verfolgen.
Nur mittels der soziologischen Methode gewinnt das intellektuelle Feld
eine »Tiefe«, in der sich die Ähnlichkeiten und die Unterschiede der Positionen der Autoren betrachten lassen. In dieser Hinsicht ist der Begriff der »Positionen« im Feld wesentlich, um die Autoren nicht nur auf der Ebene ihrer
Theorien und Werke zu vergleichen, sondern auch in ihren Haltungen und
Kämpfen gegen intellektuelle und politische »Feinde« und in Bezug auf die
von ihnen vertretenen »Modelle« und bekämpften »Gegenmodelle«. Außerdem werden die Reaktionen ihrer »Opponenten« untersucht. So läßt sich die
Hypothese der Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der rechtsradikalen
Autoren nicht nur auf der thematischen Ebene, sondern auch auf jener der
strukturellen Analyse von Macht und Positionen, von Konflikten und Debatten beweisen.
Ein weiterer Grund für die Wahl der soziologischen Methode besteht in
der hier betrachteten Zeitspanne: Die 20er Jahre stellen einen Bruch dar, d.h.
einen Übergang von der Autonomie zur (relativen) Heteronomie der Kultur.
Die Einflüsse der Regierung und die Zensur werden immer stärker und wirken auf das intellektuelle Feld, das sie zu verändern beginnen. Daher läßt
sich die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Kultur von der Politik nicht
abstrakt und von Anfang an postulieren, sondern nur konkret in dieser Übergangsphase untersuchen, und deshalb läßt sich auch der von Gramsci erarbeitete Begriff des organischen Intellektuellen nicht anwenden, da er die
Veränderungen in den Wechselwirkungen zwischen dem politischen und
dem intellektuellen Feld nicht fassen kann.
Wenn wir jetzt diese methodologische Betrachtung kurz verlassen und
zur historischen Debatte zurückkehren, läßt sich vielleicht eine Ursache der
schwierigen Bestimmung der faschistischen Kultur eben im methodischen
Ansatz vieler historischer Studien finden: Das intellektuelle Feld wird stets
als ein ganzer Organismus betrachtet, der in einem Abhängigkeitsverhältnis
zum totalitären Regime gestanden hätte. Aus dieser Perspektive scheint es,
als ob die politischen Anforderungen direkt ohne großen Veränderungen auf
die intellektuelle Ebene übertragen worden wäre, so daß die Kultur ein un39
mittelbares Produkt des Regimes dargestellt hätte. Dann aber bleibt für den
Forscher nur die Frage nach der Natur und der Funktion des Faschismus
selbst übrig.
Eine andere Methode zur Erforschung der Beziehung der Intellektuellen
zum Faschismus läßt sich Studien zur Ideengeschichte entnehmen, die einen
individualistischen Ansatz überwinden und gleichzeitig das Problem des
Fehlens einer offiziellen literarischen und philosophischen Richtung des
Regimes – d.h. der Identifikation des Faschismus mit einer Theorie oder
Bewegung – berücksichtigen. Im Rahmen ihrer Analyse wird der Entwicklung einiger gemeinsamer Fragen nachgegangen, die im kulturellen und intellektuellen Milieu gestellt wurden; die Kultur zu Anfang des 20. Jahrhunderts wird so als ein komplexes System von Problemen beschrieben, die der
wissenschaftlichen und künstlerischen Gemeinschaft gestellt wurden und
denen, laut Zeev Sternhell26, ein »kulturelles Substrat« oder, gemäß Stuart
Hughes27, ein »Geist der Zeiten« zugrunde lag. Obwohl ideengeschichtliche
Untersuchungen die Interaktionen innerhalb der kulturellen Strömungen und
zwischen diesen und der Politik beleuchten, beschäftigen sie sich zuerst mit
den Ideen und den Werken und erst danach mit den Autoren, die nur in Bezug auf ihre geistigen Produkte untersucht werden. Die Ideengeschichte bietet daher ein notwendiges Instrument zum Verständnis der kulturellen Atmosphäre, die zum Zusammentreffen und der Fusion unterschiedlicher Bewegungen mit den politischen Anforderungen geführt hat; dennoch fehlt ihr die
Dimension der Kämpfe, der Diskussionen und der Bildung von dominanten
und marginalen Zonen im intellektuellen Feld.
Für diese Arbeit stellt dieser Ansatz nur einen Teil der Instrumente dar,
insbesondere in der Analyse der Themen und der Probleme, die ein »kulturelles Unbewußtes«28 bilden, das sowohl die Dimension der öffentlichen
Diskussion von Themen, wie auch die versteckten und manchmal unbewußten Beziehungen zwischen verschiedenen Formulierungen derselben Fragen
erfaßt. Dieses »kulturelle Unbewußte« wird aber nicht als eine stabile und
unveränderliche »Sache« dargestellt, sondern als eine dynamische Konstellation, als Ergebnis der ständigen Entwicklung dieser Themen in Bezug auf
das Spiel unterschiedlicher Relationen zwischen den Intellektuellen, ihren
Werken und ihren Positionen im intellektuellen und auch im politischen
Milieu, so daß ein komplexes Bild gewonnen wird, das auch die Besonderheiten der verschiedenen Akteure im Auge behält.
40
Aus der Komplexität innerhalb des intellektuellen wie politischen Feldes
dieser Jahre folgt, daß eine Beschreibung des intellektuellen Feldes als ein
dem homogenen politischen Feld gegenüberstehendes einheitliches Feld
ungenügend ist. Deswegen sind gerade die »Marginalzonen« und ihre Beziehungen zu den Machtzentren Gegenstand dieser Arbeit. Die soziologische
Methode dient dazu, einen Teil des intellektuellen Feldes auszuschneiden,
um es als ein von verschiedenen, gegeneinander kämpfenden Elementen
gebildetes Kräftefeld zu analysieren. Die Verteilung der symbolischen Macht
innerhalb des intellektuellen wie politischen Feldes bestimmt die internen
Relationen der Elemente sowie die Beziehungen der Felder. Nur durch diese
soziologische interne Methode lassen sich diese verschiedenen Faktoren
untersuchen, um verschiedene Intellektuellentypen und Arten von Relationen
herauszufinden; auf diese Art werden die politischen Positionen der Autoren,
ihre Theorien und Ideen betrachtet, die sich im intellektuellen Feld entwikkeln und sich zuerst im Bezug auf dieses und dann auf das politische Milieu
auswirken. Insgesamt wird die Untersuchung auf zwei Ebenen durchgeführt:
auf jener der Beziehungen des politischen zum intellektuellen Feld und auf
jener des intellektuellen Feldes selbst. Letztere beinhaltet die Analyse der
Themen und der Positionen der Autoren. Die historische Rekonstruktion läßt
sich durch eine soziologische Betrachtung der Struktur des intellektuellen
Feldes ergänzen: Die Untersuchung der Ausschließungsmechanismen und
der Reaktionen der Randgruppen auf ihre Randposition sowie die Beobachtung der Position der radikalen Intellektuellen gegenüber den politisch und
kulturell anerkannten Autoritäten können von einer Analyse des intellektuellen und politischen Feldes und der Milieus nur profitieren. Aus diesem
Grund werden diese als Kulturorganisatoren und Gründer ihrer eigenen réseaux gesehen, was ihrer Tätigkeit als Gründer verschiedener Gruppen und
deren Zeitschriften entspricht.29 Die Beziehungen der gesamten avantgardistischen Bewegungen zu einigen Schlüsselexponenten der Hochkultur werden auch die persönlichen und intellektuellen Konflikte der radikalen Intellektuellen beleuchten, so daß ihre Opposition nicht als Haltung einzelner
Individuen, sondern als Produkt ihrer Verbindung mit den nichtakademischen Bewegungen und der Weiterentwicklung ihrer Vorbilder und
Themen betrachtet wird.
Auf der thematischen Ebene werden zunächst die Motive und Ideen der
radikalen Autoren auf die Debatten, die Auseinandersetzungen und die
41
Bündnisse innerhalb der Strömungen zu Anfang der 20er Jahre zurückgeführt; danach werden sie in Bezug auf ihre unterschiedlichen Positionen und
ihre durch Opposition zum akademischen Milieu gekennzeichneten réseaux
und Bewegungen betrachtet. Die Autoren werden innerhalb ihrer eigenen
Gruppen als deren Exponenten erforscht, die einige typischen Themen und
Haltungen weiterentwickeln und gleichzeitig kritisieren und neu gestalten.
Die Entwicklung ihrer Opposition zur Hochkultur und ihrer Abgrenzung von
ihren ursprünglichen Bewegungen werden zugleich auch chronologisch verfolgt: Es wird gezeigt, daß die Beziehungen der drei Gruppen zueinander –
die anerkannten idealistischen Intellektuellen, die Futuristen und die radikalen Intellektuellen – nicht unverändert bleiben, sondern den Schwankungen
des Prestiges der futuristischen Strömung –der futuristischen Exponenten
und Milieus – und der zunehmenden politischen und symbolischen Macht
der akademischen Bewegungen – insbesondere des Aktualismus – folgen.
Nicht nur aus einer thematischen und strukturellen Sicht wird die Gemeinsamkeit dieser Autoren unterstrichen werden, sondern auch durch zwei andere Faktoren: die Zugehörigkeit zur selben Generation30 und ihre Abstammung vom Kleinbürgertum.
Die interne Analyse geht mit einer externen einher: Die Veränderung der
Beziehungen zwischen dem politischen und dem intellektuellen Feld und
ihre Wechselwirkungen spielen eine bedeutende Rolle, da das Gewicht der
politischen Faktoren im totalitären Regime größer ist. Die Untersuchung soll
in diesem Fall die »werdenden Tendenzen« studieren, d.h. die Veränderung
des Regimes einer bestimmten Kultur gegenüber und die entsprechende Anpassung des intellektuellen Feldes an das politische: Der intellektuelle Konsens und das politische Verhalten gegenüber einigen der Intellektuellen verändern sich aufgrund der politischen Geschichte, und zwar durch die Bewegung des Regimes hin zu konservativen Positionen aufgrund seines Bündnisses mit den entsprechenden Kräften.
Hierbei muß ein Punkt unterstrichen werden: Die Haltung eines Regimes
gegenüber den Intellektuellen erschöpft sich nicht in der Alternative zwischen Vernichtung und Unterstützung. Zwischen diesen zwei Polen existiert
auch eine negative Haltung, die nicht zum Exil oder zur definitiven Zensur
führt: die Marginalisierung. Diese letztere ist besonders relevant und wurde
bislang in der Literatur nicht ausreichend gewürdigt. Die Intellektuellen werden marginalisiert, indem z.B. ihre Periodika und Werke beschlagnahmt oder
42
zensiert werden, nachdem sie von regimetreuen Zeitschriften oder von einflußreichen Politikern attackiert wurden. Das autoritäre Regime unterstützte
normalerweise die orthodoxen und regimetreuen faschistischen Intellektuellen, es vernichtete die antifaschistische Literatur und marginalisierte die
interne Opposition. Außerdem wird gezeigt, daß nicht nur die direkte Intervention des Staates in das kulturelle Leben, sondern auch die internen Entwicklungen der faschistischen Strömungen eine Steuerung des intellektuellen
Feldes bewirken, was am Bruch von 1925 und den nachfolgenden Spaltungen deutlich wird.
Diese Ausführungen machen deutlich, daß das Modell Bourdieus in manchen Punkten modifiziert werden muß. Die geographische, zentralisierte
Struktur des intellektuellen Feldes, die der Analyse Bourdieus zugrunde
liegt, ist typisch für Frankreich und läßt sich nicht in dieser Arbeit anwenden,
da die geographische Struktur Italiens polyzentrisch ist. Ferner wird der ökonomischen und sozialen Abstammung der Autoren in dieser Arbeit eine geringere Rolle als bei Bourdieu eingeräumt. Die Gründe dafür liegen in der
besonderen Verknüpfung und Interaktion des politischen mit dem intellektuellen Feld, so daß die politische Stellung eine wesentlich wichtigere Rolle
spielt als in »normalen Lagen« von Autonomie und daß ökonomische Macht
in den Hintergrund geschoben wird. Die politische Kontrolle wirkt hier stärker auf die Gestaltung der Strategien und die Konflikte zwischen den Autoren und den Gruppen. Der Akzent wird stärker auf die Positions- und Identitätsprobleme dieser extremen Gruppe, die in einer bedrohlicheren Lage als
im »normalen« Status der Autonomie ist, und weniger auf ihre soziale Einordnung gelegt. Das Bedürfnis nach Differenzierung von den anderen
»Spielern« und Gruppen, das immer eine Komponente zur Erklärung der
Haltung der Autoren ist, wird aufgrund der Gefahr der Zensur verstärkt, was
zu einem Konflikt zwischen Identitätsanforderungen und Existenzbedürfnissen führt.
Die politischen Entwicklungen werden zur Untersuchung der Beziehungen des politischen zum intellektuellen Feld und der internen Konflikte zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb des Faschismus herangezogen, um einerseits die Maßnahmen und Interventionen der Regierung im
intellektuellen Feld, und damit die Lage der Autonomie/Heteronomie dieses
Feldes zu beschreiben, und andererseits den Kampf, die Bündnisse und die
Ausstoßung der Randkomponente der intransigenti zu definieren.
43
Die Struktur des intellektuellen Feldes und seine Veränderungen, die mit
den politischen Einflüssen verbunden sind, werden derart untersucht, daß die
Randpositionen und ihre Entwicklungen dargestellt werden und die Beziehung der am Rand befindlichen zu den offiziellen faschistischen Intellektuellen und ihren Bewegungen und Milieus skizziert wird. Zu diesem Zweck
werden auch die Tätigkeit der Randintellektuellen im Rahmen der Gruppen
im kulturellen Feld, ihr politisches Engagement und ihre Unterstützung für
einige politische Strömungen beschrieben sowie kurze persönliche Biographien erstellt. Auf diese Art lassen sie sich miteinander vergleichen und ihre
Verhältnisse – ihre persönlichen Kontakte und Mitarbeitsverhältnisse – beleuchten.
Auf thematischer Ebene wird die Haltung dieser Intellektuellen zur Kultur und Politik untersucht: ihre utopische Darstellung der Kultur und der
Politik, ihre revolutionäre und antibürgerliche Kritik gegen die akademischen
Intellektuellen und die konservativen politischen Kräfte, ihre radikale Ablehnung der Modernität und der Demokratie, ihre zwischen der Kritik des Kapitalismus und des Kommunismus oszillierende Position, um einen »dritten
Weg« zu finden, ihre Berufung auf die Mission des Faschismus und die
Vollendung der kulturellen und politischen Revolution. Die politischen und
kulturellen Themen bei diesen Autoren sind eng miteinander verknüpft: Ihr
wesentliches Kennzeichen besteht darin, daß sie keine Trennung zwischen
der kulturellen und der politischen Tätigkeit, zwischen Ideen und Projekten
sehen, da ihr Begriff der Revolution sowie ihre Auffassung der Kunst ›total‹
sind. Den Akademikern und Professoren setzten sie ihre Selbstdarstellung
der Kunst und des Lebens entgegen, die Marinetti in folgende Worte faßte:
»Die Kunst und die Künstler an die Macht. Ja, die Künstler an die Macht!
Das breite Proletariat des Genies wird regieren!«31
1 Ein wichtiges Beispiel für den umgekehrten Ansatz, der einer individualisierenden Deutung der Autoren entspricht und in diesem Fall zu einer »mythologischen« Interpretation
führt, läßt sich in den Arbeiten zu Julius Evola finden: z.B. wurde sein Mythos von Autoren, die seine politische Perspektive billigten, durch die Apologie seiner Figur und seiner
Werke geschaffen (Beispiele sind Adriano Romualdis Essay Julius Evola: l’uomo e
l’opera, Roma, 1968; und Philippe Baillets Julius Evola e l’affermazione assoluta, 1978).
In Italien haben bis in die 80er Jahre nur sehr spezialisierte und politisch rechts orientierte
44
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Verlage (wie die Edizioni di Ar, die dem Rechtsterrorismus nahe stand; die Ed. Giovanni
Volpe und die Ed. Mediterranee, die mit der Evola Stiftung verbunden ist) die Werke
Evolas veröffentlicht; erst während der 80er Jahre wurde die Rezeption angemessener und
neutraler (Jesi, Cultura di destra, Milano, 1979; Veneziani, Julius Evola fra filosofia e
tradizione, Roma, 1984; Ferraresi (Hrsg.), La destra radicale, Milano, 1984; Jellamo,
Evola il pensatre della tradizione, in: Ferraresi (Hrsg.), La destra ..., op.cit.; Revelli, »La
nuova destra« in: Ebd.; Melchinonda, Il volto di Dioniso, Roma, 1984; A. Negri, Julius
Evola e la filosofia, Milano, 1988). Dieses kritische Interesse regte sich zur selben Zeit
auch in Frankreich, wo nicht nur einige interessante Analysen entstanden (Cologne, J.
Evola, R. Guénon et le Christianisme, Paris, 1978; Lippi, Méthaphysique et politique dans
les oeuvre d’èvola et Guénon, Maseille, 1988) sondern auch von der Ecole Pratique des
Hautes Études im Jahre 1986 ein Kongreß organisiert (in der Zeitschrift Politica Hermetica, 1, 1987 veröffentlicht) und die unübertroffene Studie Cristophe Boutins (Politique et
Tradition. Evola dans le siècle, Paris, 1993) veröffentlicht wurde. In anderen europäischen Ländern hat keine Diskussion dieser Autoren stattgefunden, nicht einmal in
Deutschland, obwohl Evolas Werke dort zuerst übersetzt wurden. Nicht nur die Interpretationen der Werke Evolas, sondern auch die Beschreibungen seiner Biographie und seiner Beziehungen zum faschistischen Regime sind unterschiedlich und widersprüchlich.
Was die anderen Autoren betrifft, ist der Stand der Forschung noch unbefriedigender. Interpretationen dieser Autoren vermeiden entweder die Analyse ihrer politischen Position
und konzentrieren sich auf ihren literarischen Wert - was insbesondere im Fall von Sukkert oft passiert ist -, oder sie kommen zu ganz gegensätzlichen Bewertungen, indem sie
sie wie Asor Rosa als typisch faschistisch (Scrittori e popolo. Il populismo nella letteratura contemporanea, Roma, 1966), oder sogar antifaschistisch – etwa in der Analyse der
Werke Maccaris von Ragghianti, Il selvaggio di Mino Maccari, Venezia, 1955 - einordnen.
Vgl. u.a. Bourdieu, Les règles de l’art, Paris, 1992.
Im intellektuellen Feld betrat Ende der 20er Jahre eine neue Version des Antimodernismus die Bühne, die sich unter dem Einfluß der deutschen konservativen Revolution und
des französischen pensée de la tradition entwickelte. Ihr wichtigster Autor war Julius
Evola und sie bezog sich auf die intrasigenti und integralistische Auffassung des »reinen
Faschismus«. In dieser Arbeit wird gezeigt, daß diese antimoderne Vision den von den
integralistischen Intellektuellen geschaffenen und leer gewordenen Raum einnimmt, ihre
Strategien weiterführt und ihre Perspektive annimmt.
J. Karabel, »Towards a Theory of Intellectuals and Politics«, in Theory and Society, 25/2,
1996.
Ebenda., S. 205.
R.M. Lepsius, »Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen«, in Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialphilosophie, 1964, 16, S. 82-83.
Ebd., S. 82.
45
8 Die Betrachtung der intellektuellen Gemeinschaft als Dissent Community findet sich in
einer interessanten Analyse von Alvin Gouldner (»The new Class Project« I und II,
in Theory and Society, 6 und 7, 1978).
9 Die von J. Karabel entwickelte Trennung zwischen der normativen und der analytischen
Methode wird hier allerdings ganz unterschiedlich angewendet. Bei Karabel wird die
Trennung zwischen ganz unterschiedlichen Modellen (wie jene von Zygmunt Bauman,
von Gramsci und von Pierre Bourdieu) ignoriert, da sie zu ein und derselben Kategorie
gehöre - der des analytischen Denkens. Zur normativen Kategorie gehören für ihn nur
diejenigen Theorien, die offen erklären, daß der Intellektuelle Träger der moralischen
Werte der Demokratie sei. Im Gegensatz dazu verdeutlicht die Untersuchung einiger von
Karabel als analytisch gekennzeichneten Modelle deren versteckten normativen Charakter, was hier teilweise mit der folgenden Betrachtung der Theorie Gramscis versucht wird.
10 Zu diesem Zweck seien auch die »klassischen« Analysen von Weber und Mannheim
erwähnt, da deren Modelle zur Entwicklung der Forschungsmethode beigetragen haben.
Von Interesse ist Webers Interpretation der intellektuellen Tätigkeit des Akademikers,
und insbesondere seine Idee, daß die Autorität des Akademikers, die mit seiner beruflichen Verantwortung verbunden ist, nichts mit Klassenzugehörigkeit, sondern mit einer
»geistesaristokratischen Lebensführung« zu tun habe (Weber, Wissenschaft als Beruf, in
W. Schluchter/W. Mommsen (Hrsg.), Gesamtausgabe, Tübingen, 1992). Diese individuelle Lebensführung, die auf der ethischen, persönlichen Verantwortlichkeit gründet,
schafft gleichzeitig die Verbindung mit einer Aufgabe, welche das Individuum transzendiert. Diese Aufgabe ›erschafft‹ sozusagen eine Kategorie, welche die wissenschaftliche
Entwicklung fördert und den Beruf als eine ethische Handlung betrachtet. Mannheim
wurde insbesondere in Bezug auf seine Analyse der Intellektuellen als Gruppe berücksichtigt (Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn, 1929). Der Intellektuelle ist weder jemand, der nur einen Beruf hat, noch einfach Mitglied einer Klasse. Er ist Teil einer Gruppe, welcher die Funktion der gesellschaftlichen Beobachtung zukommt, und die, ohne aktiv am politischen Leben teilzunehmen, eine politische Rolle spielt, indem sie die partiellen oder allgemeinen politischen Weltanschauungen und Bedürfnisse betrachtet und entwickelt. Der Intellektuelle wird von Mannheim zuerst als Exponent einer Gruppe gekennzeichnet, dessen Autorität und Legitimation als »unparteiischer Zuschauer« sich aus dieser Gruppenzugehörigkeit herleiten. Deswegen soll er stets als Teil dieser Gruppe und
nicht nur als jemand, der eine bestimmte, selbst gewählte berufliche Ethik annimmt, erforscht werden. Seine Position als Outsider ist in einer gewissen Art institutionalisiert und
objektiviert: sie ist die natürliche Folge seiner Gruppenzugehörigkeit und der Bildung, die
alle Gruppenmitglieder gemeinsam haben.
11 Vgl. Asor Rosa, Scrittori e popolo ..., op.cit.; Togliatti, Discorsi parlamentari, op.cit.; De
Castris, »Gramsci e il problema dell’egemonia degli anni ‘30«, op.cit.
12 Gramsci, Quaderni dal carcere, Gerratana (Hrsg.), Torino, 1975, Deutsche Üb.: Gefängnishefte, Hamburg, 1977, 12 (XXIX).
13 Gramsci, Quaderni ..., op.cit. (XVIII), §21. Aus diesem Grund sollte, laut Gramsci, jede
politische Bewegung ihre Thesen ständig wiederholen (eine Art von Propaganda, um die
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Massen zu überzeugen), um erfolgreich zu sein und gleichzeitig ihre organische Intellektuellenschicht auszubilden.
Im Gegensatz dazu schrieb Max Weber: »Man sagt, und ich unterschreibe das: Politik
gehört nicht in den Hörsaal. Sie gehört nicht daher von Seiten der Studenten ... Aber Politik gehört allerdings auch nicht dahin von Seiten der Dozenten ... Denn praktischpolitische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse politischer Gebilde und Parteistellungen ist zweierlei. Wenn man in einer Volksversammlung über Demokratie spricht,
so macht man aus seiner persönlichen Stellungnahme keinen Hehl: gerade das: deutlich
erkennbar Partei zu nehmen, ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Die Worte, die
man braucht, sind dann nicht Mittel wissenschaftlicher Analyse, sondern politischen
Werbens um die Stellungnahme der anderen. Sie sind nicht Pflugscharen zur Lockerung
des Erdreiches des kontemplativen Denkens, sondern Schwerter gegen die Gegner:
Kampfmittel. In einer Vorlesung oder im Hörsaal dagegen wäre es Frevel, das Wort in
dieser Art zu gebrauchen. Da wird man, wenn etwa von »Demokratie« die Rede ist, deren
verschiedene Formen vornehmen, sie analysieren in der Art, wie sie funktionieren, feststellen, welche einzelnen Folgen für die Lebensverhältnisse die eine oder andere hat, dann
die anderen nicht demokratischen Formen der politischen Ordnung ihnen gegenüberstellen und versuchen, so weit zu gelangen, daß der Hörer in der Lage ist, den Punkt zu finden, wo dem aus er von seinen letzen Idealen aus Stellung dazu nehmen kann.« Weber,
Wissenschaft als Beruf ..., op.cit., S. 600-1.
Gramsci, Quaderni ..., op.cit., 12 (XXIX); »[sie] strebt nicht danach, die ›Einfachen‹ in
ihrer primitiven Philosophie des Alltagsverstandes zu belassen, sondern sie statt dessen zu
einer höheren Lebensauffassung zu führen«, und zwar »um einen moralischintellektuellen Block zu errichten, der einen massenhaften intellektuellen Fortschritt politisch möglich macht« Gramsci, Quaderni ..., op.cit., 11(XVIII), S. 1384.
Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt, 1992, S. 156.
Die Verschiedenheit der Formen des Kapitals (kulturelles, symbolisches, ökonomisches,
politisches Kapital) impliziert auch die entsprechende Trennung der verschiedenen Felder, wobei unter Feld »ein Raum mit objektiven Relationen - ... - und was sich in ihm abspielt, wenn man jeden Akteur und jede Institution in ihren objektiven Relationen zu allen
anderen bestimmt« verstanden wird (Bourdieu, Raisons pratiques. Sur la théorie de
l’action, Paris, 1994; D.Ü. Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handels, Frankfurt,
1998, S. 62).
Der Unterschied zu Weber liegt in der Definition eines spezifischen Feldes der Intellektuellen, das nicht nur durch ihren Beruf bestimmt wird. Die Intellektuellen sind bei Bourdieu eine Gruppe, die sehr kompakt ist, wohingegen sie bei Weber nur als Berufsstand Akademiker oder Politiker - betrachtet werden, nie als eine homogene Gruppe.
Diese Autorität wird zum Beispiel deutlich an spezifischen Themen, wie dem des Geschmacks (Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement, Paris, 1979; D.Ü., Die
feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt, 1989), der Bildung (Bourdieu P./ Passeron J.C., La réproduction. Élements pour une théorie de
l’enseignement, Paris, 1970 (D.Ü., Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen
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zur Soziologie des Bildungswesen am Beispiel Frankreich, Sutttgart, 1971; Bourdieu,
»L’école conservatrice. Les inégalités devant l’école et devant la culture«, in Revue
française de sociologie, VII, 3, 1966), der Politik (Bourdieu, Les règles de l’art, Paris,
1992).
Die Kämpfe um Ausdifferenzierung und Erhalt der Feldstrukturen bezeichnen die Struktur des Feldes und stehen zugleich in Korrespondenz mit der Struktur der intellektuellen
Werke. »Die Triebkraft des Wandels der kulturellen Werke, Sprache, Kunst, Literatur,
Wissenschaft usw. kommt aus den Kämpfen, die in den entsprechenden Produktionsfeldern ausgetragen werden«. (Bourdieu, Praktische Vernunft ..., op.cit., S. 64)
Die Intellektuellen gehören also dem Machtfeld an und nehmen darin nun aber eine beherrschte Stellung ein ... Sie sind als Beherrschte Teil der Herrschenden. Sie verfügen
über Macht, aber diese ist beherrschte Macht, stellt, als Besitz von kulturellem - oder präziser: von informationellem - Kapital eine untergeordnete Kapitalform dar« (Bourdieu, La
responsabilité des intellectuelles«, Paris, 1982; D.Ü. Über die Verantwortung der Intellektuellen, 1989, S. 31)
Diese Perspektive Bourdieus führt auch zu einer bestimmten Ethik und zu einer kulturellen Politik. Die wichtigsten Werte sind nach Bourdieu die Entwicklung der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit und die Erhaltung der Autonomie des intellektuellen
Feldes, die diese Entwicklung ermöglicht. Laut Bourdieu sollten die Wissenschaftler weder die Wissenschaft zur Politik reduzieren, noch sich in die Attitüde der vom politischen
Leben getrennten akademischen Orthodoxie flüchten. Bourdieu fordert die Schaffung von
»Freiräumen« für die intellektuelle Gemeinschaft, und zwar durch internationale Institutionen, welche die freie Forschung ermöglichen und unterstützen. Aus dieser Perspektive
ist das Kennzeichen des intellektuellen Feldes immer eine Differenzierung von politischen und ökonomischen Fragen und Strukturen, welche die Garantie einer intellektuellen
Entwicklung darstellt. So muß die Politik nicht die Intellektuellenarbeit beeinflussen oder
prägen, sondern das intellektuelle Feld muß im Gegenteil vor den externen Interventionen
und Einflüssen geschützt werden.
Webers Begriff der Wertsphäre, unterscheidet sich von dem des Feldes bei Bourdieu, - ein
wesentlicher Grund dieser Differenz besteht in der mit dem Feld verbundenen Machtdimension. Deswegen spreche ich nur von einer Analogie zwischen Bourdieu und Weber.
Die Verantwortung der Intellektuellen läßt sich bei Max Weber als Selbstbegrenzung
verstehen, die im Bewußtsein der Wissenschaftsbedingungen in intellektueller Rechtschaffenheit und in der Bereitschaft besteht, der Sache zu dienen, wobei unter Sache ihre
spezifische Arbeit verstanden wird. So schrieb Max Weber: »Verehrte Anwesende! ›Persönlichkeit‹ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient ... Auf
dem Gebiet der Wissenschaft aber ist derjenige ganz gewiß keine ›Persönlichkeit’, der als
Impresario der Sache, der er sich hingeben sollte, mit auf die Bühne tritt, sich durch ›Erleben‹ legitimieren möchte und fragt: wie beweise ich, daß ich etwas anderes bin als nur
ein ›Fachman’, wie mache ich es, daß ich, in der Form oder in der Sache etwas sage, daß
so noch keiner gesagt hat wie ich? ..., statt daß ihm die innere Hingabe an die Aufgabe
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und nur an sie auf die Höhe und zu der Würde der Sache emporhöbe, der er zu dienen
vorgibt« (Weber, Wissenschaft ..., op.cit., S. 591-2).
Die Separation der Figur des Akademikers bei Weber und jener des Intellektuellen bei
Bourdieu bezieht sich u.a. auf ihr politisches Engagement: Dieser interveniert im politischen Feld aufgrund seiner eigenen Autorität, die aus seiner externen Position - als Exponent des intellektuellen Feldes - stammt, jener kann als gelehrter Bürger öffentlich sprechen, seine Position als Akademiker spielt jedoch in diesem Fall keine Rolle.
Z. Sternhell, Naissance de l’idéologie fasciste ..., op.cit.
M. Stuart Hughes, Consciousness and Society ..., op.cit.
Diese Definition stammt von Bourdieu: » ... l’oeuve est toujour ellipse, ellipse de
l’essenciel: elle sous-entend ce qui la soutient, c’est-è-dire les postulats et les axiomes
qu’elle assume implicitement et dont la science de la culture doit faire l’axiomatique. Ce
qui trahit le silence èloquent de l’oeuvre, c’est précisement la culture (au sens subjectif)
par laquelle le créateur participe de sa classe, de sa société et de son époque, et qu’il engage, à son insu, dans ses créations en apparence les plus irremplaçable« (»Champ intellectuel et projet créateur«, in Les temps modernes, 246, S.897).
Diesbezüglich werde ich die von Sirinelli erarbeiteten Begriffe von Milieus und réseaux
anwenden als »dauerhafte oder zeitlich begrenzte Gruppierung, die nicht nach dem Grad
der Institutionalisierung bestimmt wird, und der man anzugehören wählt«. Sirinelli, »Le
hasard ou la nécessité? Un histoire en chantier: L’histoire des intellectuels«, in Vingtième
Siècle, 9, 1986, S. 101
Alle von mir hier betrachteten Autoren gehören der Generation an, die in den 90er Jahren
des 19. Jahrhunderts geboren wurde und den ersten Weltkrieg als junge Soldaten erlebte.
Marinetti, »Al di là del comunismo« (1920), in Teoria e invenzione futurista, De Maria
(Hrsg.), 1983, Milano, S. 422.
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Die Bewegung
Das politische und intellektuelle Feld vor Ausrufung des totalitären Regimes
»Der Faschismus ist eine große Mobilisierung materieller und moralischer
Kräfte. Was ist sein Ziel? ... die Nation zu regieren ... Wir glauben nicht an
dogmatische Programme ... wir werden uns den Luxus leisten, aristokratisch
und demokratisch, konservativ und progressiv, reaktionär und revolutionär,
legal und illegal zu sein, je nach der Lage der Zeit, des Orts und der Umgebung«1
Dieser Satz Mussolinis aus dem Jahr 1934, der die wesentlichen Merkmale seiner politischen Vision, d.h. seine Ablehnung der traditionellen politischen Kategorien und seinen Relativismus zeigt, ist mit der Unbestimmtheit
der faschistischen Ideologie verknüpft. Diese war laut vielen Wissenschaftlern2 ein Grund für die Entstehung und den Erfolg des Faschismus und könne
das komplexe und widersprüchliche Verhältnis der Intellektuellen zum Faschismus erhellen.
Nach Darstellung des Duce war es Ziel des Faschismus, einen »dritten
Weg« jenseits der Linken und der Rechten zu finden. In Bezug auf die politische und soziale Unterstützung des Faschismus und seiner Programme
schwankte der frühe Faschismus tatsächlich zwischen Programmen und Ideen der Linken und der Rechten und wandelte sich erst später in ein die Interessen der Bourgeoisie schützendes Rechtsregime. Damit erreichte er die
Zustimmung ganz unterschiedlicher sozialer Klassen: Die Massen wurden
durch den Verweis auf Gerechtigkeit und Ordnung psychologisch mobilisiert, die Kleinbürger sahen in der Bewegung Mussolinis die Hoffnung, die
Risiken des Sozialismus und die Nachteile des Kapitalismus zu vermeiden,
wobei Mussolini durch die Kompromisse mit dem gehobenen Mittelstand die
notwendige Unterstützung erreichte, um die Stabilität seiner Bewegung zu
gewährleisten. Der komplexe und widersprüchliche Hintergrund der Ideologie des Faschismus zeigt sich auch in der offiziellen Doktrin des Faschismus,
50
die 1932 in einem Artikel der Enzyklopädie Treccani, »Politische und soziale
Doktrin des Faschismus«,3 erklärt wurde. Diese Doktrin sei erst sehr spät
erarbeitet worden – in der zweiten Hälfte der 20er Jahre – und gehe aus der
Kritik am Sozialismus und Liberalismus hervor: Jener werde aufgrund seines
zum Klassenkampf und zur Anarchie führenden Materialismus bekämpft, für
den nur die ökonomischen Faktoren in der menschlichen Entwicklung zählten; dieser werde attackiert, weil er den Individualismus predige, der zum
Egoismus und der Zersetzung des sozialen Bündnisses führe. Die Überwindung dieser beiden ökonomischen und politischen Modelle verknüpfe sich
aber mit keinem bestimmten politischen Programm: Im Gegensatz zu den
intellektuellen liberalen und sozialistischen Theorien bestehe die »Philosophie« des Faschismus laut Mussolini in einem »Stil des italienischen Lebens« – und zwar in der »Bildung zum Kampf« – und werde durch das squadristische Motto »Me ne frego«4 zusammengefaßt. Die Doktrin sei deshalb
keine abstrakte Theorie, sondern »ein Lebensakt«, der mit dem faschistischen Willen zur Macht und mit dem politischen Pragmatismus zusammenhänge. Das Übergewicht des »ethischen Staates« und seine unbestreitbare
Beherrschung der Individuen sei die einzige »spirituelle und moralische
Tat«, die revolutionär sei, indem sie die alten und schädlichen politischen
Formen verändere.
Die politische und ideologische Unbestimmtheit oder, mit den Worten De
Felices, die Zweideutigkeit ermöglicht ein besseres Verständnis der Komplexität der politischen Bedeutung des Faschismus und auch der Wirkungen des
politischen Regimes im intellektuellen Feld. Vielen Intellektuellen war tatsächlich nicht klar, was der Faschismus nun eigentlich politisch bedeutete
und wessen Interesse er unterstützte, so daß, abgesehen von einigen wenigen
Linksintellektuellen wie Arturo Labriola, Antonio Gramsci und Piero Gobetti, der Faschismus die begeisterte Zustimmung vieler – auch liberaler – italienischer Intellektueller gewann. Zum Beispiel erklärte einige Jahre nach
dem Zusammenbruch des Regimes Benedetto Croce, antifaschistischer Intellektueller par excellence, die Gründe seiner früheren Toleranz dem Faschismus gegenüber:5 Er habe im Faschismus eine vorläufige politische Regierung gesehen, deren Funktion das Wiederherstellen der demokratischen
Institutionen und der sozialen Ordnung sein sollte. 1924, nur ein Jahr vor
dem vin ihm iniziierten antifaschistischen Manifest der Intellektuellen, hatte
Croce sich nach dem Wahlerfolg des Faschismus gefreut, daß der »einzige
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politische virtus, der die Gewalt ist«, in Italien gegen »die schwache moralistische sowie mechanische und egalitäre Lehre« gewonnen hatte.6
Sieht man von diesen exemplarischen Figuren ab und richtet den Blick
auf die gesamte Kultur zu Anfang des 20. Jahrhunderts, so fallen die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Politik auf. Die Themen und Kritiken des
späteren »Futurfaschismus«7 wurden bereits bei vielen Kulturexponenten
entwickelt und bestimmten darüber hinaus die typischen Schwankungen und
Übergänge der Bewegungen von Links nach Rechts, die später den Faschismus kennzeichnen.
Das politische Feld: Die Grundkomponenten des Faschismus zu
Beginn der 20er Jahre
Zunächst werden hier die verschiedenen Komponenten des Faschismus – der
Interventionismus, der Futurismus, der revolutionäre Syndikalismus, der
Nationalismus, das Kleinbürgertum – in seiner Entstehungsphase skizziert,
um seine Grundelemente der internen Komplexität und der Widersprüchlichkeit klar herauszustellen; erst danach wird diese interne Struktur im Laufe
der Entwicklung des Faschismus von seiner Geburt bis zur Proklamation des
totalitären Regimes analysiert.
Die faschistische Bewegung entstand in Italien nach dem ersten Weltkrieg in einer Zeit des Überganges von einer Gesellschaft, die von einer geschlossenen Elite in einem liberalen politischen System, welches den nationalen Willen, aber nicht den Volkswillen repräsentierte, geführt wurde, zu
einer modernen Massengesellschaft. Die Trennung der Massen von den Eliten und ihre Entfremdung vom politischen Leben waren schon immer Themen der kulturellen und politischen Debatte gewesen; aber während des
Ersten Weltkrieges – insbesondere in der politischen Auseinandersetzung
zwischen den Antimilitaristen und den Militaristen und infolge der eigentlichen Kampfhandlungen – verstärkte sich die Diskussion über die Bildung
eines politischen Bewußtseins.8 Aus einem ideologischen Grund, da zwei
gegensätzliche Ansichten über die interne Entwicklung und die Position
Italiens in Europa und seinen Bündnissen vertreten wurden, und aus einem
sozialen Grund, der in der Ablehnung des »normalen Lebens« nach dem
52
Krieg durch die ehemaligen Soldaten lag9, lösten sich die zwei Strömungen
der neutralisti und der interventisti10 nach dem Ende des Krieges nicht auf.
Die arditi – eine spezielle Sturmtruppe, berühmt und kritisiert wegen ihrer
Unbotmäßigkeiten nach dem Krieg – fanden in der futuristischen Partei ein
artikuliertes politisches Programm, in welches sie ihre Wünsche und Vorstellungen von einer Weiterführung des kämpferischen rebellischen Lebens
projizieren konnten. Ihre Kriegserfahrungen, ihr undiszipliniertes Verhalten
und eine Art von »anarchischem Individualismus«11 stellten andererseits für
die Futuristen die Inkarnation ihres artistischen und gleichzeitig politischen
Modells des »neuen Menschen« dar.
1919 gründete Mussolini die ersten fasci di combattimento, an denen sich
die futuristische Partei mit ihrem Gründer Filippo Tommaso Marinetti, ein
Teil der revolutionären Syndikalisten und die meisten interventisti beteiligten. Die Entstehung dieser Bewegung aus ganz unterschiedlichen und
manchmal widersprüchlichen Komponenten war nicht das Ergebnis einer
individuell oder kollektiv organisierten und zielstrebigen Aktion, der ein
einheitliches politisches Programm zugrunde lag, sondern das eher zufällige
Produkt des Zusammentreffens verschiedener Strömungen, die durch die
Kritik am vorherigen kulturellen Leben und politischen System verbunden
und insbesondere durch ihren Kampf gegen die sozialistischen und liberalen
Parteien, gegen die Regierung und die Demokratie sowie durch ihre starke
Bindung an die Gewerkschaften gekennzeichnet waren. Mussolini, der diese
Strömungen zu harmonisieren und zu organisieren versuchte, verfolgte in
dieser Zeit keine klare politische Linie, sondern strebte danach, durch opportunistische und strategische Manöver die von der neuenstandenen Massengesellschaft verursachte politische Leere zu füllen und der Stimmung der
Massen, der Intellektuellen, der Veteranen und der Kleinbürger und ihre
Forderungen Ausdruck zu verleihen.
Linke Elemente spielten eine wesentliche Rolle bei der Gründung des Faschismus, da einige der wichtigsten Mitglieder des revolutionären Syndikalismus12 (Pannunzio; Orano; De Ambris; Olivetti) der jungen faschistischen
Bewegung beitraten. Die Verbindung linker sowie rechter politischer und
kultureller Elemente ist ein bestimmender Faktor der italienischen Kultur zu
Beginn dieses Jahrhunderts und des Faschismus der 20er Jahre, wie sich
anhand des revolutionären Syndikalismus exemplarisch beschreiben läßt. Der
italienische revolutionäre Syndikalismus wurde 1902 von Arturo Labriola,
53
einem bedeutenden Linksintellektuellen, der großen Einfluß auf die wichtigsten Intellektuellen der 30er Jahre ausübte, gegründet. Er entstand als Produkt der kritischen Diskussion innerhalb des Marxismus und fand in George
Sorels Theorie der Revolution seinen Auslöser. Dieser intellektuellen Bewegung der Syndikalisten entstammte auch Mussolini, was sich durch den Einfluß Sorels auf seine Auffassung über die Methoden zur Mobilisierung der
Massen durch politische Mythen belegen läßt.13
Auch die futuristische Partei spielte im Faschismus eine gewichtige Rolle: Erstens bestanden die ersten fasci di combattimento aus Futuristen und
arditi, die mit dem Futurismus verbündet waren; und zweitens zeigte sich in
vielen ideologischen und ästhetischen Elementen des Faschismus das Erbe
Marinettis und seiner futuristischen Bewegung.14 Der Kult der Aktion, insbesondere der gefährlichen und kämpferischen Aktion, die Idee des Heroismus
und der Zerstörung der Traditionen – etwa der Monarchie und der Kirche –
und schließlich die antiideologische, antiparteiische und antiintellektuelle
Vision der Politik und des Lebens überlebten auch dann noch als Grundelemente des Faschismus, als der Futurismus nichts politisch Relevantes mehr
zu sagen hatte – oder sagen durfte. Außerdem übernahm Mussolini die Verwendung moderner Polittechniken vom Futurismus, vor allem die futuristische Organisation der Propaganda, die schon von D’Annunzio15 bei seiner
Eroberung Fiumes erprobte »Kunst« der Mobilisierung der Massen, die später von Mussolini vervollkommnet wurde.
Die Geburt der futuristischen Partei ist aber insbesondere im Zusammenhang mit dem für die Geschichte der Kunst bedeutenden Ereignis der Bildung der Avantgarde zu sehen. Die futuristische Avantgarde stellte sich als
die Zuspitzung der künstlerischen Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts
und gleichzeitig als etwas ganz Neues dar: Der von Filippo Tommaso Marinetti 1909 nach antibürgerlichen und revolutionären Prinzipien gegründete
Futurismus predigte keine Trennung der Kunst von den ökonomischen und
politischen Bedingungen, sondern die Einheit des Lebens und der Kunst, der
Politik und der Wissenschaft, des Publikums und dem Künstler.16 Die Themen der literarischen Welt – Baudelaires künstlerischer Protest, Nietzsches
Ideen des Übermenschen und des Willens zur Macht, Sorels Mythos der
Gewalt als Motor der Geschichte Europas – wurden von dieser Gruppe auf
originäre Weise überarbeitet.
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Ab 1910 versuchte Marinetti dieses Ideal der ästhetischen und politischen
totalen Revolution konkret zu verwirklichen: Er forderte den Krieg, um das
liberale politische Systems und seine Institutionen zu zerstören. Mit der Entscheidung für die Interventionisten und mit der Teilnahme am Krieg wurden
die Grundzüge des futuristischen politischen Programms formuliert. Die
Unterstützung des Kriegs war zwar ein wesentlicher gemeinsamer Punkt der
Futuristen und der Nationalisten, konnte aber die Unterschiede zwischen
ihnen nicht verdecken. Während der Krieg für die Nationalisten eine logische
Folge ihrer Expansionspolitik war, symbolisierte der Kampf gegen Deutschland für Marinetti einen Angriff der modernen und anarchischen Generation
gegen den Imperialismus und die hierarchische »teutonische« Ordnung, eine
antibürgerliche Revolte, die zur totalen Veränderung der Weltordnung, der
Lebenswerte, der politischen Ideologien und der ästhetischen Kategorien
führen sollte.
Die futuristische Avantgarde richtete sich gegen das ganze System: Der
antiideologische Protest des Futurismus war eine bewußte politische Entscheidung zur Vernichtung der Ordnung der Parteien und zeigte die stark
anarchische Auffassung des Futurismus. »Das Leben schafft, beherrscht und
bildet Ideologien«, schrieb Marinetti, »jede politische Idee ist ein lebendiger
Organismus. Die politischen Parteien sind verurteilt, ruhmreiche Leichen zu
werden.«17 Deshalb war das futuristische Programm »antiideologisch« und
durch eine Mischung der Motive von Rechts- und Linksströmungen gekennzeichnet. Trotz der Ablehnung der sozialistischen Ideen, denen Marinetti
seine »anarchisch-individualistische Demokratie« entgegensetzte, enthielt
das futuristische Manifest des Jahres 1918 einige innerhalb der syndikalistischen Bewegungen diskutierte Punkte wie Streikfreiheit, Verkürzung der
Arbeitszeit und Verteilung des Grundbesitzes. Die anderen futuristischen
Prinzipien zielten auf die Ablehnung der traditionellen Institutionen und der
bürgerlichen Moralität durch Abschaffung der Gefängnisse, Legalisierung
der Scheidung, Reform der Bildung sowie die direkte Teilnahme der Jugend
an der Regierung.18
Damit versuchte Marinetti ganz unterschiedliche Strömungen und Ideen
zu verschmelzen, um seine Utopie der Gesellschaft zu propagieren, in der
sich das Leben in ein Kunstwerk verwandeln sollte. Neben der Orientierung
an sozialistischen Prinzipien19, die den Futurismus als Linksbewegung erscheinen lassen könnten, fanden sich nationalistische und teils kleinbürgerli55
che Motive wie der antidemokratische, antiegalitäre und elitäre Charakter der
futuristischen Utopie, welche die Entwicklung der Genies forderte, und die
Herrschaft des Politiker-Künstlers über die Massen, was D’Annunzio und
seine Republik Fiume symbolisierten.20
Die Wechselwirkungen des Futurismus mit dem ursprünglichen Faschismus waren tief und weitreichend, und die typisch futuristische Mischung
rechtsextremer und linksextremer Motive kennzeichnete auch den gesamten
Faschismus. Auf der anderen Seite aber orientierte sich der Faschismus von
1919 bis 1925 immer stärker an dem Ziel, die Unterstützung der Kleinbürger
und der Hoch-Bourgeoisie zu gewinnen, wie die Veränderung des politischen
Programms zeigt. Das Programm der ersten fasci di combattimento (1919)
war teilweise noch stark an den Ideen der revolutionären Syndikalisten orientiert – bezüglich der Arbeitszeitverkürzung, Teilnahme der Arbeiterorganisationen an der Unternehmensführung und Einführung eines progressiven
Steuersystems – und teilweise an jenen der Futuristen – hinsichtlich der Ersetzung des Senats durch ein aus jungen technischen Experten bestehendes
Organ. Es war das Programm einer Bewegung jenseits der Linken und der
Rechten, die keine kohärente Ideologie aufwies und sich an keine Partei
binden wollte. Eine Ursache dafür liegt in dem Umstand, daß die fasci als
eine politisch begrenzte Organisation konzipiert waren, welche die interventisti sammeln, aber laut Mussolini »keine neue Partei sein« wollte. Deswegen
waren sie »nicht an eine spezifische doktrinäre Form und ein traditionelles
Dogma gebunden« und lehnten es ab, »alle veränderlichen und unterschiedlichen Denkströmungen, Zeichen und Erfahrungen in die artifiziellen und
engen Begrenzungen eines unrealistischen Programms ... zu zwängen«.21
Später gewann diese Bewegung jedoch nach und nach eine Struktur und
zeigte gleichzeitig ihre politische Natur als konservative Kraft. Einige Monate nach ihrer Entstehung wurden die Kontakte mit dem Nationalismus und
mit D’Annunzio – der Fiume zunächst zusammen mit den Nationalisten
regierte – durch die Mitarbeit der Nationalisten bei den fasci gefestigt, aber
erst im Jahr 1920 begann der Faschismus seine eigentliche Konversion nach
rechts. Der Verlust der ursprünglichen Funktion der fasci, die als reine
Nachkriegs-Protestgruppe nicht mehr überleben konnten, führte zur Erweiterung der Basis durch die Aufnahme vieler kleinbürgerlicher Elemente, welche auf die sozialistischen und populären Bewegungen und Entwicklungen
sowie auf den Kapitalismus reagieren wollten.22
56
Der immer stärkere Einfluß der kleinbürgerlichen Elemente auf den Faschismus ab 1920 und vor allem die Notwendigkeit, politische Kompromisse
mit der Industrie und der Bourgeoisie einzugehen, führten zum Austritt der
Futuristen-arditi Marinetti, Carli und Vecchi beim zweiten Kongreß der fasci
von 1920, da Mussolini auf die Programmpunkte Republikanismus und Antiklerikalismus verzichtete und die Kollaboration zwischen der Bourgeoisie
und dem Proletariat forderte. Diese Entscheidung sei »zum Fortschritt [der]
Zivilisierung« nötig: Man solle »das bürgerliche Schiff nicht versenken,
sondern an Bord gehen, um die parasitären Elemente über Bord zu werfen.«23
Die Entwicklung des Faschismus: Von den Extremen zur Mitte
Der offene und undefinierte Charakter der faschistischen Bewegung erhielt
sich bis zur Ausrufung des Totalitarismus (1925), so daß Mussolini noch
nach 1920 den revolutionären und sozialorientierten Charakter des Faschismus behauptete und weiterhin Gemeinsamkeiten mit der Linken – und zwar
mit der Gewerkschaft CGL – fand, auch wenn die Unterstützung durch
kleinbürgerliche Kräfte und den squadrismo24 zunehmend wichtiger wurde.
Der schwankende Charakter des Faschismus hing auch mit Mussolinis
Auffassung der Politik zusammen, die von Paretos und Moscas elitaristischen Theorien und Sorels Interpretation der Geschichte geprägt war.25 Eigentlich war der Aktivismus bei Mussolini die einzige politische Formel, um
seinen absoluten Willen zur Macht auszudrücken und das Fehlen jeglicher
Programme oder Richtungen auszugleichen. »Vor unseren Augen haben wir
in Italien«, schrieb er, »mit dem plötzlichen Verschwinden der Staatsautorität
unter dem proletarischen Angriff die Geburt der faschistischen Bewegung
gesehen, die erklärt, daß der Staat nicht ›ist‹, aber jedesmal von denjenigen
geschaffen wird, die an ihn glauben und ihn wollen. Der Faschismus ist nur
der in den politischen Bereich verpflanzte absolute Aktivismus.«26
In dieser Hinsicht läßt sich die Entwicklung des Faschismus nach 1920
nicht als Produkt einer gezielten politischen Veränderung, sondern eher als
strategisches Manöver verstehen: Nach der durch die Aufnahme der kleinbürgerlichen Komponenten erreichten Erweiterung der Basis suchte der Fa57
schismus verstärkt die Unterstützung der konservativen Kräfte – der Hochbourgeoisie und des Kapitals. Diese veränderte Zielsetzung bewies das Verhalten Mussolinis nach 1920 gegenüber der Republik Fiume, die von
D’Annunzio mit dem revolutionären Syndikalisten De Ambris regiert wurde:
Mussolini unterstützte sie nicht mehr und nahm von ihrem sozial orientierten
Programm Abstand. Insbesondere eroberte der Faschismus einen bestimmten
Teil des politischen Raums durch eine zwiespältige Haltung, nämlich durch
die Berücksichtigigung konservativer Auffassungen unter gleichzeitiger
Bewahrung der ursprünglichen Themen der fasci. Dieser Wandel sollte aber
äußerlich nicht zur Ablehnung des revolutionären Ziels führen, was die Unterstützung der ursprünglichen Mitglieder gemindert und wahrscheinlich zur
Absorption des Faschismus durch eine schon existierende, politisch konservative Gruppe – die Nationalisten27 – geführt hätte.28 Äußerlich war der Faschismus eine revolutionäre Bewegung, die das nationale Leben vor den
negativen Folgen der bürgerlichen und kapitalistischen ökonomischen Interessen und des Klassenkampfes retten wollte29, aber gleichzeitig strebte er
nach der Unterstützung der Bourgeoisie und des Kapitals. Aus dieser Zweideutigkeit, die aus den Unterschieden zwischen einer antisozialistischen
Agrarkomponente, einigen syndikalistischen Linkselementen und dem sich
auf der Suche nach einem Abkommens mit den liberalen und konservativen
Kräften befindenden »urbanen Faschismus« herrührte, entstand ein Kampf
um die Definition des »wahren und richtigen Faschismus«. Obwohl die
Agrarkomponente am Anfang der 20er Jahre mit dem squadrismo die soziale
politische und vor allem »militärische« Stärke des Faschismus verkörperte,
hatte sie aufgrund des Fehlens einer starken politischen Persönlichkeit und
ihrer Verteidigung der partikularen Interessen des Agrarkleinbürgertums
gegen die »Bolschewisten« allein kein bedeutendes Projekt zur Eroberung
der Macht. Sie war eher eine Reaktion auf die Krise der traditionellen Arbeitsverhältnisse und die Ausbreitung der Gewerkschaften.30
»In Wirklichkeit ist der Faschismus eins« – schrieb der Historiker Luigi
Salvatorelli – »aber genau weil er sich gegen zwei gegensätzliche – wenn
auch komplementäre – soziale Kräfte wendet, gewinnt er unterschiedliche
Aspekte, je nachdem, ob seine antikapitalistischen oder seine antiproletarischen Tendenzen betrachtet werden. Es mag vielen, sogar Philofaschisten
und Faschisten, absurd scheinen, über den faschistischen Antikapitalismus zu
sprechen, aber er ist eine Tatsache. Es sei an die expliziten und wiederholten
58
Erklärungen ... gegen die Plutokratie, die Bourgeoisie und die alte regierende
Klasse erinnert, Erklärungen, die sehr gut mit den Ursprüngen und vergangenen Taten der meisten faschistischen Führer harmonisieren, und es wäre
absolut falsch, diese als opportunistisch oder heuchlerisch zu betrachten«.31
Diese komplexen Motive innerhalb seiner Partei mußte Mussolini harmonisieren und teilweise unterdrücken, um für seine Bewegung politischen
Einfluß zu gewinnen. In dieser Lage mußte er Kompromisse und Bündnisse
mit den existierenden politischen Gruppen und den internen Tendenzen des
Faschismus schließen. Deshalb geriet er zunehmend mit den peripheren intransigenten Komponenten des Faschismus in Konflikt, die sich nach 1921
mit den Syndikalisten verbanden und sich Mussolinis Politik der Kontaktaufnahme mit sozialistischen und liberalen Parteien zur Bildung eines »parlamentarischen Faschismus« zugunsten eines »nationalen Faschismus« widersetzten.32
Schließlich brachte die Veränderung des Faschismus am Anfang der 20er
Jahre dessen Wandel von einer Protestbewegung33, die sich aus der Kritik an
der liberalen Ordnung gebildet hatte, zu einer immer stärker strukturierten
politischen Partei mit sich, welche gemeinsam mit der bürgerlichen Klasse
agierte, ohne ihre ursprünglich antibürgerliche und sozialistische Komponente ganz zu vergessen. Die subversive Protestbewegung der fasci von 1919
konnte überleben und stärker werden, indem sie sich in nur zwei Jahren in
eine konservative Partei verwandelte, die sich zunehmend auf das Kleinbürgertum mit seinem Anspruch, eine Rolle zwischen der Industrie und den
sozialistischen Massen zu spielen, stützte. Mussolini nutzte je nach Gelegenheit einfach das eine oder das andere Feindbild des Kleinbürgertums aus, den
Kapitalismus oder das Proletariat. Einen späteren Beweis für diese Taktik
Mussolinis liefert zum Beispiel der Protest einiger ursprünglichen Faschisten, unter ihnen die ehemaligen kleinbürgerlichen intransigenti. Hier sei
Mino Maccari erwähnt, der den Betrug der faschistischen doppelten Revolution gegen den Kapitalismus und den Kommunismus und die Identität des
Faschismus als Vertreter des Bürgertums denunzierte.34
Einen ersten politischen Erfolg erreichte die faschistische Bewegung bei
den Wahlen von 1921, als die faschistische Partei sich mit den Konservativen, den Liberalen und den Konstitutionalisten in der Koalition der sogenannten blocchi nazionali verband. Die Anerkennung des Faschismus als
»legale« politische parlamentarische Partei durch die Konservativen und
59
Liberalen und ihre Zusammenarbeit in einer Koalition war von zwei Grundbedingungen abhängig: vom Verzicht des Faschismus auf seinen antibürgerlichen und revolutionären Geist und von der allgemeinen sozialen Lage und
dem Klassenkampf zwischen Agrariern und Gewerkschaften. Diesbezüglich
stellte sich Mussolini während der sozialen und politischen Krise von 1920,
die zu organisierten Streiks und Fabrikbesetzungen führte, als Vertreter der
sozialen Ordnung und der Wiederherstellung der Interessen des Kleinbürgertums und des kapitalistischen Systems dar. Sein Konkurrent, die Sozialistische Partei, geriet gleichzeitig in eine tiefe Krise, die eine Spaltung zwischen den Reformisten und den massimalisti und eine Erschütterung der
Beziehungen der Sozialistischen Partei zu den Gewerkschaften und den Syndikalisten zur Folge hatte.35
Durch drei Strategien gelang es Mussolini, diese neue Rolle als Vertreter
der Ordnung auszufüllen: durch die Beendigung der Unterstützung Fiumes
und D’Annunzios – und damit das »Säubern« der Partei von einigen anarchistischen und revolutionären syndikalistischen Elementen -, durch die Organisation und Verstärkung des squadrismo, um die Gewerkschaften und den
»Bolschewismus« zu bekämpfen, und durch die neugewonnene Unterstützung der Industrie infolge der Unterdrückung der Streiks von 1920. Die
Konservativen fingen an, den Faschismus nicht mehr für eine subversive,
gefährliche Bewegung zu halten, sondern als eine Art »Polizei« oder »Weiße
Garde« (guardia bianca) zu sehen, die ihre Interessen schützte. Dabei unterschätzten einige Konservative und Liberale den Faschismus; Giovanni Giolitti etwa betrachtete den Faschismus als etwas Vorübergehendes, das sich im
liberalen politischen System auflösen würde. Manche sympathisierten sogar
mit der »neuen Version« des Faschismus, insbesondere die Nationalistische
Partei. In diesem Kontext muß ihre Zusammenarbeit mit der PNF in der Koalition der blocchi nazionali gesehen werden: als Ergebnis der Unterschätzung der sozialen und politischen Bedeutung und Kraft des Faschismus.
Einen weiteren Beitrag zum Erfolg Mussolinis leistete die Ablehnung der
liberalen Regierung durch weite politische und intellektuelle Kreise, die als
Symbol der Immobilität des politischen Systems angesehen wurde.
Nach dem Erfolg bei den Wahlen 1921 begann der Faschismus, sich
durch den squadrismo, den Einsatz direkter Gewalt und die Zusammenarbeit
mit den lokalen Verwaltungen immer stärker auf dem Lande auszubreiten.
Die Unterstützung des agrarischen Kleinbürgertums war die Grundbedin60
gung des Erfolges des Faschismus, aber es lag im Interesse Mussolinis, seine
Politik nicht allein auf die Verteidigung der Interessen der Agrarier zu beschränken. Dies führte dazu, daß Mussolini eine interne Opposition duldete
und teilweise auch ausnutzte, d.h. die Opposition der Front des »revolutionären Faschismus«, welche ihre Wurzeln im kurzfristigen Bündnis des agrarischen Faschismus und des alten revolutionären Syndikalismus gegen den
»parlamentarischen Faschismus« Mussolinis fand. Um die Zustimmung der
Industrie und der konservativen Kräfte zu gewinnen, stellte sich Mussolini in
diesem internen Konflikt als einzigen politischen Führer dar, der die soziale
Ordnung gegen die Gewalt des squadrismo und die Revolution des subversiven Syndikalismus sichern konnte, und benutzte dies zur Erpressung der
konservativen und monarchistischen Kräfte. Die Opposition innerhalb des
Faschismus wurde nach 1921 deutlicher, als die Faschisten und die Sozialisten während der Bonomi-Regierung an dem sogenannten Friedensvertrag
(Patto di pacificazione) arbeiteten. Dessen Scheitern läßt sich nicht nur auf
die Haltung der faschistischen intransigenti, sondern auch die der Mehrheit
der Sozialisten zurückführen. Der Faschismus beschleunigte danach seine
Verwandlung in eine konservative Partei auch durch sein Bündnis mit den
Nationalisten, was wiederum die Veränderung seiner internen Struktur mit
sich brachte: Die Partei wurde streng organisiert und immer mehr unter die
Kontrolle Mussolinis gestellt, die Bewegung geriet – trotz der Opposition
einiger bedeutender Politiker wie Dino Grandi und Piero Marsich – in eine
Phase des Zerfalls.
Drei Prinzipien wurden beim dritten faschistischen Kongreß in Rom (November 1921) festgelegt: Der Faschismus stellte sich gegen die Kontrolle der
Ökonomie durch den Staat und erklärte sich als ökonomisch liberal, da »für
die nationale Ökonomie nicht mehr die bürokratischen und gemeinschaftlichen Institutionen zuständig sein können«36; er lehnte jede Unterstützung
von Fiume ab und gab schließlich seine Gegnerschaft zu Monarchie und
Kirche auf – mit den Worten Mussolinis: »Für den Faschismus gehört die
religiöse Tatsache zum individuellen Bewußtsein«.37 Die Gewinnung des
kapitalistischen und klerikal-nationalistischen Konsens war die Hauptstrategie Mussolinis; sie sollte sich später als erfolgreiche Methode zum Eindringen des Faschismus in das politische System und zur Besetzung der »zentralen« politischen Positionen – konservative, liberale, monarchistische und
nationalistische – herausstellen. Insbesondere fingen einige nationalistische
61
Zeitschriften an, die Ähnlichkeiten der nationalistischen und der faschistischen Bewegung und die Notwendigkeit ihrer Zusammenarbeit zu unterstreichen, was schließlich 1923 zur Fusion der PNF mit den Nationalisten führte.38
Der in den Medien und der öffentlichen Meinung erreichte Konsens und
das entsprechende Mißtrauen gegenüber den von Bonomi und Facta geleiteten schwachen Regierungen stellten die Grundbedingungen für den sogenannten faschistischen coup d’état im Oktober 1922 (den nie wirklich durchgeführten Marsch auf Rom) dar, als Mussolini vom König den Auftrag bekam, eine neue Regierung zu bilden. Die öffentliche Meinung und die politischen Organisationen einschließlich der Linksexponenten, welche nicht am
vorübergehenden Charakter der faschistischen Regierung und am Scheitern
der neuen Politik zweifelten, unterschätzten die möglichen Folgen der Regierung Mussolinis;39 viele spätere Antifaschisten betrachteten den Faschismus
demgemäß als ein »Experiment«.40
Ein baldiges Scheitern der faschistischen Regierung war auch nicht unwahrscheinlich, wenn die Lage der PNF nach 1922 genau betrachtet wird.
Die Feindschaft der intransigenti gegen die politische, parlamentarische
Richtung Mussolinis intensivierte sich. Die enorme Zunahme der Mitglieder
der Partei modifizierte andererseits das interne Gleichgewicht zugunsten der
moderaten und liberalen Elemente. Die faschistischen Syndikalisten fürchteten ein eventuelles Bündnis Mussolinis mit den sozialistischen Gewerkschaften und gleichzeitig seine liberale und kapitalfreundliche ökonomische
Einstellung. Diese beiden Komponenten – die intransigenti und die Syndikalisten – attackierten die faschistischen »Konservativen« und predigten eine
Rückkehr zum subversiven und antitraditionellen Geist der ursprünglichen
fasci. Die Konflikte fanden in einer immer chaotischer werdenden faschistischen Partei statt, in der die neuen Mitglieder – die keine überzeugten »Faschisten« waren – die PNF allmählich in einen gigantischen, unkontrollierbaren bürokratischen Organismus verwandelten.
Außerdem konnte die Partei aus vielerlei Gründen nicht direkt handeln,
um die Konflikte, die Korruption und die gewalttätigen Episoden des squadrismo gegen die politischen Opponenten einzuschränken: Wegen ihrer hierarchischen und inflexiblen Struktur konnte man in den von lokalen faschistischen Organisationen kontrollierten Gebieten nicht intervenieren, so daß der
größte Teil des Territoriums kaum direkt von der zentralen Partei beeinflußt
62
wurde. Daran entzündete sich die kritische Diskussion innerhalb der Partei
zwischen intransigenti und revisionisti41, um die Entwicklung der Institutionen des Faschismus und seine allgemeine politische Rolle festzustellen.
Mussolini entschied sich einerseits für die Auflösung der von den intransigenti kontrollierten squadre und ihre Ersetzung durch die Milizia volontaria
della sicurezza nazionale, andererseits bereitete er die Unterordnung der
Partei unter den Staat vor.
Die andere Frage, welche Mussolini umtrieb, war die Position des Faschismus zwischen den anderen Parteien und deren Unterstützung. Die von
Mussolini erarbeitete Strategie der Entleerung und Absorption der externen
Kräfte bestand darin, die Mitglieder der anderen Parteien auf lokaler Ebene
durch den politischen Druck der starken faschistischen Organisationen in die
PNF zu überführen, während die faschistische Partei und Mussolini auf nationaler Ebene Respekt vor der Mitarbeit aller Parteien zu bekunden und
ihren Ansprüchen zuzustimmen schienen. Auf diese Art wurden die Sozialdemokraten und die Liberalen mehr und mehr geschwächt und die katholische PPI (Partito Popolare Italiano) verlor ihre Rolle als Vertreterin der
katholischen Wähler.42 Außerdem fürchteten viele Liberale und Demokraten
eher ein eventuelles Scheitern Mussolinis, welches zu einem politischen
Chaos hätte führen können – d.h. den Sieg der Kommunisten oder der Anarchisten – als die Gefahren der faschistischen Diktatur. Die einzige Opposition kam schließlich nur von den Kommunisten, den Sozialisten und den Republikanern, aber sie setzte sich nicht durch, da der Faschismus von vielen
noch nicht als eine wirkliche Bedrohung der Demokratie angesehen wurde.
Dazu kam, daß der »psychologische Zustand der Bevölkerung« keine politisch machtvolle Aktion zum Umsturz des Regimes ermöglichte.43
Um die ganze Entwicklung von 1919 bis 1924 zusammenzufassen, muß
man die »Bewegung« des Faschismus zur Eroberung der Macht im politischen Raum verfolgen. Auf diese Art wird deutlich, daß der Faschismus
anfänglich durch seinen Populismus die zwei extremen Positionen – die linke
mit den revolutionären Syndikalisten und die rechte mit den arditi und Nationalisten – besetzte und sich später durch Kompromisse mit den herrschenden konservativen und liberalen Kräften (auf sozialer Ebene mit der Industrie
und der Bourgeoisie und auf politischer Ebene mit den Monarchisten und
den Liberalen) auf das Zentrum zu bewegte. Gleichzeitig verwaisten dabei
die extremen Positionen und wurden in der Folge von anderen politischen
63
Figuren aus den fasci eingenommen, die von der radikalen Position des ursprünglichen Faschismus aus Kritik an Mussolini übten. Damit läßt sich das
Bündnis zwischen Syndikalisten und intransigenti sowie die Bedeutung der
letzteren, von Farinacci geführten Strömung verstehen. Insgesamt stellt sich
eine hufeisenförmige Struktur dar:44
Abb. 1: Die Struktur des politischen Feldes zu Anfang des Faschismus
Der vom Faschismus besetzte Raum befindet sich zu Anfang zwischen
den zwei extremen Polen Links und Rechts, welche vom Zentrum – und
zwar von den konservativen und liberalen Positionen – weiter entfernt sind
als von den jeweils gegensätzlichen extremen Standpunkten. Die Entwicklung des Faschismus wird in diesem Schema als die Bewegung einer imaginären Linie dargestellt, die von unten zunächst die Extreme erfaßt, um sich
dann zunehmend nach oben, Richtung Zentrum, zu bewegen und die extremen politischen Räume verwaisen zu lassen.
64
Geschichte und Entwicklung des intellektuellen Feldes
Die hufeisenförmige Struktur, die das politische Feld gestaltete, findet sich
auch im intellektuellen Feld wieder, in welchem sich die Intensivierung der
Beziehungen der extremen Positionen zeigt. Die revolutionären Syndikalisten und die Nationalisten, deren Visionen ganz gegensätzliche Ursprünge
hatten, verbündeten sich und arbeiteten mit der futuristischen Avantgarde
zusammen. Unter »Bündnis« wird das gemeinsame Engagement revolutionärer Syndikalisten, Nationalisten und Futuristen für eine Revolte gegen die
bürgerliche Gesellschaft verstanden, die in der Mitarbeit an denselben Zeitschriften und politischen Kampagnen und in der Entwicklung gemeinsamer
Themen mündete. Diese neue Konstellation war keine Folge des Drucks
politischer Instanzen. Sie trat ganz im Gegenteil zunächst in den Beziehungen und in den Haltungen der Schriftsteller und Künstler und erst später im
politischen Spiel und seiner Feldstruktur auf.
Schon lange vor der Machteroberung des Faschismus, in den ersten Dekaden des Jahrhunderts, war das intellektuelle Feld intern durch das Zusammenkommen der extremen rechts- und linksintellektuellen Strömungen
strukturiert, so daß seine spätere Entwicklung als die Fortsetzung der damals
gebildeten Bündnisse und Konflikte betrachtet werden muß. Diese Homologie, welche die beiden Felder während dieser Zeitspanne kennzeichnet, steht
in Bezug zu den Wechselwirkungen der kulturellen mit den politischen Milieus jener Zeit. Erstens waren die meisten Intellektuellen in der Politik engagiert: die revolutionären Syndikalisten, Nationalisten und Futuristen waren
gleichzeitig kulturelle Organisatoren, Literaten, Künstler sowie politische
Exponenten. Zweitens war die Atmosphäre in der Entstehungszeit der faschistischen Bewegung sowohl vom Zusammentreffen intellektueller Erneuerungsideale und politischer Palingenese als auch von gemeinsamen Diskussionen zwischen Politikern, die den Anspruch erhoben, in akademischen und
kulturellen Debatten zu intervenieren, und jenen unter den Intellektuellen,
die nach der Verwirklichung ihres »intellektuellen Systems« und der Verschmelzung der Theorie mit der Praxis in einer politischen Revolution strebten, gekennzeichnet. Eine Interpretation, welcher die Hypothese der Unabhängigkeit der beiden Felder und ihrer Homologie zugrunde liegt, kann das
Bild dieser Jahre besser als eine marxistische oder funktionalistische Deutung nachzeichnen, welche auf der einseitigen Anpassung der Kultur an die
65
Macht und den Klassenkampf beruht. Aber auch die umgekehrte Darstellung,
daß eine konkrete Übertragung der Struktur vom intellektuellen auf das politische Feld stattgefunden habe, würde zu einer falschen Vereinfachung der
reellen inneren Strukturen und äußeren Beziehungen der zwei Felder führen.45 Die vorliegende Untersuchung betont die Kontinuität der Struktur des
intellektuellen Feldes von 1919 bis 1924 und verneint damit die Hypothese
der Abhängigkeit des intellektuellen vom politischen Feld. Sie stellt demgegenüber die These einer relativen Autonomie des intellektuellen gegenüber
dem politischen Feld auf, wobei als relative Autonomie das Fehlen eines
allzu starken Druckes aus dem politischen Feld heraus – d.h. die Strukturierung des intellektuellen Feldes durch heteronome »Normen« und »Zwängen«
– verstanden wird.
Bereits am Anfang des Jahrhunderts hatten Benedetto Croce und Giovanni Gentile, zwei bedeutende Figuren der italienischen Kultur, die bis zum
Ende des Faschismus ihren starken Einfluß im intellektuellen Feld behielten,
den Kampf um die Erneuerung und die Durchsetzung des Idealismus gegen
den Positivismus und den Materialismus begonnen. Die neue intellektuelle
Generation, die Avantgarde, die sich später als junge Protagonisten der faschistischen Revolution profilieren sollte, übernahm diese Themen und
führte sie schließlich ad absurdum, um sie in eine unbestimmte, ästhetische,
irrationale Vision zu verwandeln. In diesem Sinne waren Giovanni Papini
und Giuseppe Prezzolini Nachfolger von Croce, die »illegitimen Kinder von
Croce« 46 wie Garin schrieb, aber auch seine Verräter: Ihre Lebenserfahrung
war vom Krieg und einem extrem gespannten sozialen Klima gekennzeichnet, in dem der intellektuelle Protest der »Meister« Croce und Gentile der
Ausgangspunkt der neuen Generation war. Diese jungen Vorläufer der
Avantgarde47 organisierten sich in den Zeitungen »Leonardo« (1903), »Lacerba« (1913) und »La voce« (1908), die eine Mobilisierung der jungen
Kulturkräfte forderten und dem italienischen Publikum die neue Strömung
des Symbolismus nahebrachten.
Durch die Verbindungen der Gruppe der prä-avantgardistischen Zeitschrift »Leonardo« mit der von Corradini geleiteten Zeitschrift »Il regno«
kamen sich die Intellektuellen der Avantgarde und die Nationalisten bereits
1903 näher: Ihre Ablehnung der Demokratie und der Rationalität fand ein
Echo bei den traditionsorientierten politischen Ansprüchen der Nationalisten
und ihrem Verweis auf die Kraft der irrationalen Gefühle für das Vaterland
66
und die Rasse. So verband sich die subversive prä-avantgardistische Haltung
mit der nationalistischen Revolte gegen die liberale Gesellschaft. Der erste
Weltkrieg war das Ereignis, welches den gemeinsamen Charakter der künstlerischen Bewegung und der reaktionären politischen Nationalisten verdeutlichte und die Zusammenarbeit der beiden Gruppen für die Intervention intensivierte. Ob aus ästhetischen oder aus imperialistischen Gründen, beide
verherrlichten den Krieg als gewalttätiges und befreiendes Ereignis, das zur
Verwandlung der Gesellschaft führen sollte: »Der Krieg ist fürchterlich –
und da er fürchterlich, schrecklich und zerstörerisch ist, sollten wir ihn mit
unseren Männerherzen lieben«.48
Eine weitere Gruppe aus dieser Generation von Intellektuellen, die sich
zu den Nationalisten und der jungen Avantgarde gesellte und die Notwendigkeit des Krieges predigte, waren die revolutionären Syndikalisten. Der
revolutionäre Syndikalismus, der später teilweise im Nationalismus und im
Futurismus weiterlebte, stellt ein interessantes Beispiel für die zeitgenössische Wanderung der Intellektuellen von links nach rechts und für die Konvergenz linker revolutionärer mit rechten nationalistischen Strömungen dar.
Dieses Phänomen, das gleichzeitig in der Politik und in der Kultur stattfand,
läßt sich laut Sternhell als Produkt der Rebellion gegen den Liberalismus und
die Demokratie erklären, zwischen einer Rechten, die sich mit der bürgerlichen Klasse nicht völlig identifizierte und ihre frühere Rolle als Vertreter der
Bourgeoisie aufgab, und einer Linken, die sich vom Proletariat, das seine
revolutionäre Energie verloren hatte, distanzierte.49 Die Intellektuellen des
revolutionären Syndikalismus trafen eine atypische Entscheidung: Vor die
Wahl zwischen Proletariat und Revolution gestellt, wählten sie letztere; vor
die Alternative zwischen einem proletarischen und demokratischen Sozialismus und einem nicht proletarischen, aber revolutionären und nationalen
Sozialismus gestellt, wählten sie den zweiten. Sie entschieden sich, in anderen Worten, dafür, ihre Rolle als revolutionäre Intellektuelle beizubehalten
und ihre politische Rolle als Linksintellektuelle (oder marxistische Intellektuelle) aufzugeben. Dieser Übergang wurde dadurch ermöglicht, daß ihre
Revision des Marxismus sie dazu geführt hatte, die materialistischen Faktoren in der historischen Entwicklung des Klassenkampfes zu vernachlässigen
und irrationale Komponenten der Geschichte höher zu bewerten. Sie strebten
nach der sofortigen Revolution, ohne auf die volle Entwicklung des Klassenbewußtseins zu warten. Auf diese Art opponierten sie gegen die offizielle
67
reformistische Politik der sozialistischen Partei, die in Italien von Filippo
Turati geführt wurde. Der anfängliche »Mythos zur Mobilisierung der Massen«, d.h. der Streik, wurde in den Krieg gegen die reichen Nationen transformiert, was das Zusammengehen mit den Nationalisten ermöglichte. De
Ambris, Orano, Olivetti begannen ihre Kampagne gegen die neutrale Position der Sozialisten während des Ersten Weltkrieg in der Zeitschrift »La Lupa«. Die Kontakte mit den Nationalisten stützten sich insbesondere auf zwei
Punkte: den Begriff des Krieges der »proletarischen Nationen« gegen die
kapitalistischen reichen Nationen50 und das Symbol der Reaktion (Deutschland) sowie die pädagogische Bedeutung des Kampfes für die Massen im
Sinne der Vorbereitung auf die Revolution.51 Dieses Bündnis wurde durch
den Syndikalisten Olivetti und den Nationalisten Corradini besiegelt: Laut
Olivetti waren beide Bewegungen »antidemokratisch, antipazifistisch, antibürgerlich. Und ... die einzigen aristokratischen Tendenzen in einer geldorientierten und hedonistischen Gesellschaft«52; laut dem Nationalisten Corradini hatten sie denselben Ursprung und dieselbe Bedeutung, d.h. der Sozialismus war »eine Form des Imperialismus, ... Klassenimperialismus, während
der andere ... der Imperialismus der Nationen« war.53 So waren die »Fronten« im intellektuellen Feld und folglich dessen Struktur schon vor dem ersten Weltkrieg gestaltet. Eine subversive »Front« schloß die extremen Positionen ein: die »irrationalistische« Randströmung der Intellektuellen von
»Leonardo«, die reaktionären, rechtsextremen Nationalisten, und die linksextremen revolutionären Syndikalisten. Ihr gemeinsames Ziel war die antibürgerliche geistige Revolution, die durch die Verbindung von Literatur und
Kunst mit der Politik erreicht werden sollte; d.h. das Credo, daß politisches
Engagement nicht nur notwendig, sondern Teil der Tätigkeiten und Selbstdarstellung der Intellektuellen war. Ihr Feindbild waren die konservativen,
liberalen, akademischen und sozialistischen Intellektuellen und Politiker.
Diese galten ihnen als Vertreter der alten Institutionen und der Akademie,
Befürworter der langsamen sozialen und politischen Entwicklung und Vertreter der alten Ordnung.
Obwohl der Krieg die Nation in interventisti (Nationalisten, Syndikalisten, einige Demokraten) und neutralisti (Liberale, Sozialisten und Katholiken) spaltete und dabei die interne Kohäsion dieser Gruppen festigte, brachte
er im kulturellen Gebiet kaum Veränderungen. So wurden nach dem Krieg
dieselben Zeitschriften veröffentlicht, dieselben Themen diskutiert; dieselben
68
Autoren und Kulturautoritäten – Pareto und Mosca, Croce und Gentile, Einaudi und Salvemini – fingen »mit einem vertrauensvollen ›Heri dicebamus‹
wieder an«.54 Der Idealismus herrschte in der Philosophie, während antibürgerliche und antidemokratische junge Intellektuelle neue Zeitschriften gründeten. Dies führte aber dazu, daß nicht nur die sozialen, sondern auch die
durch den Krieg ausgelösten kulturellen Erwartungen nicht erfüllt wurden, zu
denen die von den Syndikalisten, den Nationalisten und der jungen Generation der Intellektuellen gepredigte »Revolution« gehörte. Die sozialen Spannungen führten zur Polarisierung der extremen politischen Positionen, die in
Gestalt der von der sozialistischen Partei 1921 abgespalteten Kommunisten
und der stärker werdenden Nationalisten in Erscheinung traten. Im intellektuellen Feld wiederholte sich der Prozeß, der Anfang des 20. Jahrhunderts
zum Bündnis der extremen und randständigen Positionen gegen die Konservativen geführt hatte. Die jungen Herausgeber von »La Voce«, Prezzolini
und Papini, und die neue Avantgarde der Futuristen kamen trotz der Differenz ihrer grundlegenden Tendenzen55 in einer einzigen Bewegung zusammen: die moderne Avantgarde des Futurismus. Die Futuristen ihrerseits verbanden sich mit den Nationalisten, den ehemaligen Soldaten der arditi und
den revolutionären Syndikalisten, wodurch die fasci futuristi entstanden. Der
»Anti«-Charakter dieser neuen politischen Ideologie führte zwar nicht zur
Entwicklung eines gemeinsamen politischen Projekts, da die Ziele der unterschiedlichen Komponenten und ihre Utopien zu widersprüchlich waren, aber
zur Gründung einer Bewegung, aus der nach einigen Verwandlungen und mit
Hilfe der politischen Strategien Mussolinis die faschistische Partei hervorgegangen ist. In diesem Zusammenhang stellte die Annäherung Mussolinis an
den liberalen akademischen Intellektuellen Gentile ein politisches Manöver
dar und setzte ein wichtiges Zeichen der Wandlung des Faschismus: Der
weltbekannte Philosoph, Mitglied der Liberalen Partei, konnte dem Faschismus eine starke Legitimation bieten. Nach 1920 entschied sich Mussolini
dafür, die subversiven »gefährlichen Elemente« verstärkt aus seiner Partei zu
entfernen oder zu neutralisieren; der Austritt der Futuristen im Jahr 1920 war
ein erstes Zeichen dieser politischen Zensur und der künftigen Kulturpolitik
des Faschismus. Nach 1925 verlor die Kultur immer mehr von ihrer Unabhängigkeit der Politik gegenüber, da der Faschismus sich nun im intellektuellen wie im politischen Feld »bewegte«, indem er der Avantgarde, der ex-
69
tremen Position der Futuristen, die Unterstützung entzog und sich den konservativen Positionen des Aktualismus zuwendete.
Das intellektuelle Feld: Die Themen der »anti-Revolution«
Die Zeitspanne von 1919 bis 1924 zeigt eine Kontinuität sowohl in der
Struktur wie in den Themen des intellektuellen Feldes; die Analyse ihrer
kulturellen Themen offenbart einen »Generationenkonflikt«, eine Spaltung
zwischen der Generation vom Anfang des Jahrhunderts und jener der 20er
Jahre. Die neue Generation lehnte die alte ab: Wie Gentile und Croce die
»alten« Marxisten und Positivisten attackiert hatten, kritisierten Papini und
Prezzolini später Gentile und Croce unter denselben Slogans der Erneuerung
der Kultur und der Politik, wobei sie sich anfänglich als deren Nachfolger
darstellten. Die Erneuerung der Kultur war auch in den politischen Diskussionen ein Thema und läßt sich in Verbindung mit zwei wesentlichen semantischen Veränderungen in der Literatur dieser Zeit untersuchen: Der
Klassenkampf wurde durch den Generationenkampf ersetzt und die Revolution als geistiger Wandel aufgefaßt, wodurch sie ihren ökonomischen, materiellen Charakter verlor und sich in den Sieg des klassenlosen Volkes oder
der Jugend über die veraltete Welt verwandelte.
Diese Sicht spiegelt sich in dem Konflikt zwischen der akademischen intellektuellen Generation und der jungen Avantgarde wider, welche in ersteren die bürgerlichen Vertreter der veralteten Ordnung und Institutionen sah,
und führt zu einer Radikalisierung der Themen der Literatur am Anfang des
Jahrhunderts: Die schon die Revolte der jungen Croce und Gentile gegen den
Positivismus und den Materialismus kennzeichnenden Themen werden von
den jungen Avantgardisten 20 Jahre später erneut radikalisiert und gegen die
mittlerweile etablierten Autoren selbst gewendet. In diesem Teil werden jene
Themen und ihre Radikalisierung untersucht: Der Antipositivismus verwandelt sich in Irrationalismus; die Antidemokratie wird zu einer totalen antibürgerlichen Revolte und der Antimaterialismus verwandelt sich in das Streben
nach der geistigen Revolution, die Kritik Croces und Gentiles an den akademischen Institutionen wird zum radikalen Antiintellektualismus. Die interne
Struktur des intellektuellen Feldes wird anhand dieses Generationenkampfes
70
definiert und ein Bild entworfen, in dem die anerkannten Intellektuellen der
älteren Generation über ein höheres symbolisches akademisches Kapital
verfügen und der Avantgarde und den Randgruppen mit ihrem niedrigen
symbolischen Kapital gegenüberstehen. Jene besitzen eine relativ konservative, diese eine subversive und revolutionäre Haltung.56
Von der antipositivistischen Kritik zum Irrationalismus
Die von den Neoidealisten Anfang des 20. Jahrhunderts geübte Kritik am
Positivismus, die in Italien vom Philosophen Roberto Ardigò vertreten wurde, bildete aber auch für die nachfolgende Generation der Intellektuellen der
Avantgarde, der Nationalisten und der Syndikalisten einen grundsätzlichen
Ausgangspunkt, der in ihren Auffassungen aber einen ganz anderen Sinn
erhielt: Die junge Intellektuellengeneration unterstrich nicht nur die Existenz
und Bedeutung der menschlichen irrationalen Haltungen, die nicht auf eine
rationale Erklärung zurückzuführen waren, sondern gelangte teilweise zu
einer Apologie des Irrationalismus und der Gewalt.
Die Auffassung von Geschichte als Entwicklung und der Glaube an die
Fähigkeiten der Wissenschaft, das Leben der Menschen für ihren Fortschritt
und ihr Glück zu organisieren und zu gestalten, wurden von den jungen Intellektuellen Benedetto Croce, Vilfredo Pareto und Giovanni Gentile Anfang
des Jahrhunderts als Illusion denunziert.
Bendetto Croce, der bedeutendste Schüler des sozialistischen Intellektuellen Antonio Labriola57, attackierte den Positivismus auf einer idealistischen
Ebene und zugleich aus einer materialistischen Position: Die Geschichte
wurde als dialektischer Prozeß betrachtete, in dem die Ideen und nicht die
materiellen Bedingungen eine primäre Rolle spielten. Gegenüber dem Materialismus hob er dennoch den irrationalen und leidenschaftlichen Charakter
dieser leitenden Ideen hervor, die nicht auf die Überlegenheit der materiellen
ökonomischen Faktoren zurückzuführen seien.
Seine erste Polemik gegen den Positivismus findet sich in »La storia ridotta sotto il concetto generale dell’arte« von 1893, wo er den wesentlichen
Unterschied zwischen der Wissenschaft und der Kunst an ihren Zielen festmacht, indem erstere nach dem Verständnis der einzelnen Phänomene durch
ihre Einordnung in allgemeine Kategorien strebe, die zweite hingegen nach
71
ihrer Kontemplation, und er betrachtete die Historiographie als eine ästhetische, künstlerische Tätigkeit, indem sie die einzelnen Phänomene nicht auf
allgemeine Prinzipien und Gesetze zurückführe, sondern sie wie in einem
künstlerischen Werk als solche darstelle.58 Die Grundannahme der sich in
diesen Jahren entwickelnden Vision Croces, der die Wichtigkeit der Analyse
der menschlichen Werte zur Erklärung des Handelns unterstrich, bestand in
der autonomen und grundlegenden Stellung der Geschichtsschreibung im
menschlichen Wissen, was für ihn bedeutete, die Methoden der Naturwissenschaften und das positivistische Paradigma zu relativieren. Das Verständnis
des menschlichen Handels ließ sich laut Croce durch die Geschichtsschreibung erreichen, die durch ihre Methode jedes Ereignis in der Gegenwart als
Analyse der historischen Daten und ihrer Interpretation rekreiere.59 In Bezug
auf die Sozialwissenschaften, lassen sich Gesetze laut Croce nur abstrakt
verstehen: Zwischen diesen und der konkreten Wirklichkeit »gibt es keine
Verbindung, da das Abstrakte keine Wirklichkeit ist, sondern ein Denkschemata ... Auch wenn die Kenntnis der Gesetze unsere Wahrnehmung des Reellen erklärt, kann sie nicht dieselbe Wahrnehmung werden«.60 Die Erneuerung des wissenschaftlichen Paradigmas und die Kritik an den positivistischen und marxistischen Methoden teilte Benedetto Croce mit dem jüngeren
Philosophen Giovanni Gentile, was zum Ausgangspunkt ihrer langjährigen
Zusammenarbeit wurde. Trotz Meinungsverschiedenheiten gründeten sie
1903 eine neue Zeitschrift, »La critica«, in der sie insbesondere die Werke
von Marx und Sorel und das elitistische Denken interpretierten und diskutierten. Das Programm der Zeitschrift »La Critica« faßte die Ideale einer
ganzen Generation zusammen: Es war »antipositivistisch und antimetaphysisch, gegen die rein philologische und gelehrte Interpretation von Problemen, es strebte nach der Vereinigung der Philosophie mit der Philologie«.61
Noch stärker kritisierte Vilfredo Paretos zur selben Zeit die Ansprüche
der aufgeklärten Mentalität und den Materialismus.62 Seine Kernaussage
bestand darin, daß »die absolute Logik in den menschlichen Dingen eine
geringe Rolle spielt«. Daher sollte der Wissenschaftler die logischen und die
nicht-logischen Aktionen trennen und »zeigen, daß die zweite Kategorie für
die Meisten viel wichtiger als die erste«63 sei. In seinem »Trattato di sociologia generale« (1916) wendete Pareto die soziologische Methode an, um die
logischen Argumente und die politischen Ideale und Utopien auf die Instinkte und den Machtwillen des Menschen zurückzuführen, womit er die
72
positivistische Grundvoraussetzung der menschlichen Entwicklung verneinte. Nur die Instinkte stellten die unvermeidliche Konstante der – jetzigen und
zukünftigen – Geschichte dar, die immer ein Schlachtfeld für die Konkurrenz
der Elite sei und sein werde. Politische Ideale, Theorien der Geschichte und
wissenschaftliche Methoden, wie der Sozialismus und der Positivismus,
seien nur Masken des brutalen Machkampfes. Auf diese Weise attackierte
Pareto den positivistischen Glauben an den Fortschritt und die rationale Natur des Menschen und »entleerte« die Bedeutung des Sozialismus, indem er
ihn nur als eine der Ideologien der neuen Elite des 20. Jahrhunderts betrachtete und sein Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit als Instrumente zur
Beherrschung der Massen darstellte.
Dennoch wurde der Höhepunkt der Verneinung der Rationalität und der
entsprechenden Apologie des Irrationalismus erst in den Schriften der jüngeren Generation erreicht, etwa bei Giovanni Papini und Giuseppe Prezzolini.
Den Hintergrund der künstlerischen Experimente dieser prä-Avantgarde
bildeten tatsächlich die kritischen Ansätze und Attacke der Neo-Idealisten
Croce und Gentile und die elitaristischen Theorien von Gaetano Mosca und
Vilfredo Pareto, die zum Verfall der positivistischen und marxistischen Paradigmen beigetragen hatten. Der liberal-konservative Benedetto Croce wurde
auch nach 1925 von den vociani64 nicht nur als »spiritueller Vater«, sondern
sogar als »Vorläufer des Faschismus«, als »Faschist malgré lui« bezeichnet65, obwohl er bereits gegen den Faschismus opponierte: Viele avantgardistische Autoren setzten die Forderung nach kultureller Erneuerung mit der
von ihnen verherrlichten politischen »Revolution« des Faschismus gleich
und sahen in Croce einen der ersten Vordenker der neuen Entwicklungen.
Die künstlerischen und literarischen Bewegungen der jungen Generation,
vertreten durch Papini und Prezzolini, begannen dort, wo die Zeitschrift »La
critica« aufgehört hatte – in ihrer Kritik der Kultur, um eine kulturelle radikale Revolution zu erarbeiten. Papini und Prezzolini gründeten 1908 »La
Voce«66 in der Absicht, die philosophischen Doktrinen des Neo-Idealismus
von Gentile und des Historizismus von Croce zu verbreiten. Nach der Bewertung des Zeitgenossen Gramsci war La voce »ein Aspekt des militanten
crocismo, da sie das, was bei De Sanctis und Croce aristokratisch war, populär machen wollte«.67 Tatsächlich beeinflußte sie wegen ihrer Verbindung
mit der europäischen Avantgarde, ihres Erneuerungsstrebens und ihres antiakademischen Charakters das ganze kulturelle Leben zu Anfang des Jahrhun73
derts, obwohl sie über ein niedrigeres Prestige als »La Critica« verfügte:
Während letztere die italienische Intelligenz und die akademische Literatur
sammelte, war »La voce« das Organ der jungen Generationen und der
Avantgarde.
Diese zwei Fronten – die Avantgarde und die anerkannten Intellektuellen
der älteren Generation – standen in einem Konflikt, der das ganze kulturelle
Feld kennzeichnete und immer stärker wurde. Die Revolte der Irrationalisten
sollte ab den 20er Jahren zu einem Kampf gegen die ehemaligen Erneuerer
der Kultur führen und den Generationenkampf zwischen der anerkannten
akademischen Intelligenz und der prä-Avantgarde in den Vordergrund stellen: Gentile und Croce wurden als »alte« Akademiker bezeichnet und als
Feindbild der neuen Avantgarde aufgebaut, was sich nicht nur als eine »Revolte der Kinder gegen die Väter« verstehen läßt, sondern als Produkt der
Radikalisierung des kulturellen Protestes und der Verwandlung der antipositivistischen Kritik, die zur Ablehnung der gesamten Rationalität überhaupt
führte. Ihre zwei »Vorväter« Croce und Gentile hatten die irrationalen Faktoren und die Gewalt keinesfalls unterstützt, da diese »keine historischen Fakten sind, d.h. sie sind nicht historisch verarbeitet, nicht vom Denken durchdrungen«.68 Die grundlegende Haltung der prä-Avantgarde bestand dagegen
nicht nur im Studium, sondern in der Verherrlichung des Irrationalismus.
Giovanni Papini formulierte seine Philosophie des »magischen Pragmatismus«, die sich auf die komplette Zerstörung der Rationalität und die Priorität
des Mystizismus in den menschlichen Tätigkeiten gründete. Der Glaube an
die unveränderliche bestialische Natur des Menschen führte ihn zum radikalen reaktionären Denken: Die Menschen seien laut Papini Tiere, deren wichtigste und würdigste Tätigkeit der Krieg sei. »Gewalt« stelle ein »magisches
Wort« dar, das zugleich die Bedeutung der Geschichte und die Lösung der
sozialen und kulturellen Problemen symbolisiere. Papini forderte die praktische Anwendung der Gewalt, denn es gebe »nicht genug Rowdytum in unserem Land von parvenus«, und um die Bourgeoisie, die Professoren, die Bürokraten, die Akademiker zu bekämpfen, seien »die Zeitschriften nicht genug. Man benötigt Fußtritte«.69
Der Lobpreis der Gewalt und des Krieges war aber nicht nur eine Obsession Papinis, sondern verband sich bei vielen Gruppen vor dem ersten Weltkrieg mit dem Irrationalismus und wurde auf ganz unterschiedliche Arten
dekliniert. Der Krieg als moralische Instanz70 oder als ästhetisches Ereignis
74
faszinierte eine Reihe von Intellektuellen und leitete damit bis dahin für unvorstellbar gehaltene Begegnungen ganz unterschiedlicher Figuren ein, insbesondere das Zusammenkommen der Leiter von »Leonardo«, der Nationalisten und der Syndikalisten.
Irrationale Gefühle, wie die Verherrlichung von Blut und Gewalt, waren
die Kernideen des Nationalismus, dessen Ziel eine gewalttätige politische
Veränderung zur Wiederherstellung der Traditionen war: Die Nation und die
Rasse, und damit die Solidarität, die Disziplin, die Autorität, die Heldenwerte, sollten über die aufgeklärte Rationalität triumphieren. Dazu benötigte
der Nationalismus die »Erweckung« der Massen, die von populistischen
Führern durch die Methoden der Massenpsychologie erreicht werden sollte.
Laut Enrico Corradini, Gründer der nationalistischen Partei71, ließ sich die
Lösung der sozialen Probleme nicht in der Teilnahme der Bürger am politischen Leben, sondern im kolonialen Krieg finden. Dieser führe zur Steigerung der italienischen Macht und zur Auflösung der sozialen Spannungen:
» ... das Gefühl, daß unser Vaterland sich aus der Notwendigkeit bilden
wird, mit anderen Nationen zur Gewinnung seiner Prosperität und seiner
Größe in der Welt zu kämpfen, wird der beste Erzieher ... Heute fehlt dieser
souveräne Erzieher in Italien! Und ... aus diesem Grund bleiben viele interne
Fragen ungelöst und unlösbar.«72 Das Bild des Krieges als Ausweg aus den
internen Konflikten und als Auslöser der nationalen Entwicklung fand ein
Echo bei einer Gruppe von revolutionären Syndikalisten und führte zur Konvergenz eines Teiles des Syndikalismus73 und des Nationalismus während
des Ersten Weltkriegs: Die Idee der Revolution »an sich« und der Zerstörung
der alten Gesellschaft besaß eine so starke Anziehungskraft, daß sie selbst
die sehr unterschiedlichen Utopien der beiden Bewegungen in den Hintergrund treten ließ.
Von zentraler Bedeutung für die Auffassung der revolutionären Syndikalisten war die in den Schriften Sorels74 und Paretos betonte leitende Rolle des
Irrationalen in der historischen Entwicklung – die Kraft der Mythen in der
Politik und die der Gewalt als Motor der Geschichte; ihr politisches Projekt
gründete auf der Ausnützung dieses historisch konstanten Mechanismus, der
aber in der Modernität immer wichtiger geworden sei. Die Ausbildung der
revolutionären Elite und die nachfolgende gewalttätige Machteroberung
waren somit den Syndikalisten gemäß der erste Schritt zur Revolution, dem
die soziale und ökonomische Verwandlung nachfolgen sollte. Damit wurde
75
der Marxismus quasi in eine Methode zur Beherrschung der Irrationalität der
Geschichte verwandelt.
Zwischen diesen militaristischen intellektuellen Gruppen und der Position
der Futuristen, die sich kurz zuvor mit Papini und Prezzolini verbunden hatten und deren Slogan den Krieg als »einzige Hygiene der Welt«75 sah, existierte vor dem Ersten Weltkrieg keine scharfe Trennlinie in Bezug auf die
irrationalistische Haltung: Der Krieg wurde auch vom Futurismus als befreiendes Ereignis zur Zerstörung der Traditionen und der alten Institutionen
gesehen. Alle Künstler sollten an der Schaffung einer politischen Regierung
teilnehmen, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Identität des alltäglichen Lebens mit der Kunst verwirklicht werde. »Die nun endlich lebenden
Artisten, die nicht mehr erhaben auf den verächtlichen Spitzen des Ästhetizismus standen, wollten am weltlichen Fortschritt mitarbeiten«76, so beschrieb Marinetti das ästhetisch-politische Projekt der Futuristen.
Vom Antimaterialismus zur geistigen Revolution
Es ist bemerkenswert, daß das antidemokratische Denken in den Werken
einiger bedeutender Intellektueller des beginnenden 20. Jahrhunderts mit
dem Materialismus verbunden wurde – oder besser mit dem, was sie dafür
hielten. Auch diesbezüglich läßt sich eine Linie ziehen, die von den nicht
orthodoxen Kritiken des Marxismus über die idealistischen Strömungen bis
hin zu den subversiven Interpretationen der sozialen und geistigen Revolte
führt, u.a. zu jenen der Syndikalisten und der Futuristen.77 Besondere Beachtung wird hierbei der Radikalisierung der antimaterialistischen Themen
geschenkt, die eine scharfe Trennung der jungen Intellektuellen von der vorherigen Intellektuellengeneration markiert.
Im Gegensatz zu seinem »Meister« Labriola hatte Croce eine Revision –
eine echte »Auflösung« laut Bobbio78 – des historischen Materialismus als
historisches Instrument durchgeführt und ihn seiner politischen und philosophischen Bedeutung entkleidet. In einer Zeit, in der die Diskussion um die
Revision des marxistischen Modells mit Bernstein ausgebrochen war, lehnte
Croce den materialistischen Ansatz des Marxismus und seinen Anspruch ab,
eine Philosophie der Geschichte darzustellen. Er beschrieb ihn als einen rein
historischen Kanon, der »empfiehlt, die Aufmerksamkeit auf den sogenann76
ten ökonomischen Unterbau der Gesellschaft zu richten«79, womit er seine
Beziehung zum Sozialismus oder zu irgendeinem politischen Projekt als
unwichtig ansah. Die Theorie Marx‘ soll laut Croce unter dem Gesichtspunkt
ihrer Funktion der Beschreibung spezifischer historischer Tatsachen im
Kontext der seinerzeitigen politischen Leidenschaften und Kämpfe betrachtet
werden. Sie stelle deshalb eine reine Kritik der Gesellschaft und eine neue
historische und politische Analyse dar, die aber keine »Philosophie der Geschichte und keine Methode war, sondern eine Gesamtheit neuer Daten, neuer Erfahrungen, die ins Bewußtsein der Historiker dringen«.80 Diese Interpretation ermöglichte Croce, den »Kanon« des Materialismus für eine »realistische« Konzeption der Geschichte zu verwenden, wobei unter dem Wort
Geschichte keine konkrete soziale Entwicklung zu verstehen ist, und führte
zu einer Diskussion zwischen ihm und Giovanni Gentile81, dem späteren
Theoretiker des Faschismus.
In der Überwindung des historischen Materialismus und der Philosophie
der Praxis fand Gentile den Ausgangspunkt seines Idealismus, der auf der
originären Tätigkeit der Praxis basierte, die sich als schaffende Energie des
Subjekts, als Einheit des Wissens mit dem Tun und des Subjekts mit dem
Objekt verstehen ließ. Auch Gentile lehnte wie Croce den dialektischen Materialismus ab, da dieser die Menschen nur als Faktoren der ökonomischen
Beziehungen in Betracht ziehe und ihre Denkfähigkeit und ihre spirituelle
Entwicklung vernachlässige. Andererseits waren beide Autoren geteilter
Meinung bezüglich der Bewertung des Marxismus: Gentile kritisierte in
Croces Interpretation die Trennung der historischen Methode von der politischen und philosophischen Bedeutung der marxistischen Theorie.82 Im Gegensatz zu Croce unterstrich Gentile in »La filosofia di Marx« die Bedeutung
des Begriffes der Praxis bei Marx, da Marx ein Wissen entdeckt habe, das
nicht einfach Wissen, sondern wissendes Agieren sei.83
Obwohl Croce mit dem Marxismus die Sicht der Geschichte als Auseinandersetzung unterschiedlicher Kräfte und Faktoren, als historischen dialektischen Prozeß teilte, war ihm der revolutionäre Charakter des Marxismus
ebenso fremd wie das Streben nach einer einheitlichen Erklärung der historischen Entwicklung, das Gentiles Philosophie zugrunde lag. Die Idee der
moralischen Revolution und jene der »Konservation« konnten deshalb in den
politischen und kulturellen Haltungen Croces koexistierten: Croce zielte
nicht auf die Zerstörung der liberalen Institutionen, um eine neue Religion –
77
jene des ethischen Staates von Gentile – oder ein neues Leben – das »Leben
als Kunst« der Futuristen – zu schaffen, sondern auf eine Erneuerung innerhalb und zugunsten der Stärkung des liberalen Denkens. Wenn er schreibt,
»es handelt sich nicht darum,... eine neue Welt zu schaffen, sondern die alte
Welt zu bearbeiten, die immer neu ist,«84 dann sollte die kulturelle Revolte
nicht nur die alte Tradition des Idealismus wiederherstellen, sondern die
Kritik am politischen und moralischen Leben bedeutete sogar die Rückkehr
zu Traditionen wie »der König, das Vaterland, die Stadt, die Nation, die
Kirche, die Menschlichkeit.«85
Gegen Croce predigte Gentile die Notwendigkeit, eine kulturelle Erneuerung mit einer politischen Revolution zu harmonisieren: Die auf theoretischer Ebene revolutionäre Ablehnung der partiellen Philosophien des Positivismus und des Materialismus verknüpfte sich auf politischer Ebene mit der
geistigen und moralischen Revolution, die sich innerhalb der neuen Struktur
des ethischen totalen Staates entfaltete. Seine politische Lösung war der Versuch, die konservativen und revolutionären Prinzipien in Einklang zu bringen86: Die Übertragung der Philosophie des ethischen Staates auf die konkrete politische Situation lief in der Schlußakte der von Gentile geleiteten
»achtzehnköpfigen Kommission« von 1924 auf die Verstärkung der traditionellen Institutionen – des monarchischen Staates – und zugleich der Gewalt
der Exekutivorganismen – des »revolutionären« Faschismus – hinaus.
Seitens der sozialistischen und marxistischen Theoretiker fand zu Anfang
des Jahrhunderts eine Revision des Marxismus statt, die zum revolutionären
Syndikalismus führte. Die sozialistische Partei und ihre Auffassung der allmählichen Entwicklung der materiellen Bedingungen und des Klassenbewußtseins sollten durch die revolutionäre Bewegung ersetzt werden, die zu
einer unmittelbaren und gewalttätigen Aktion der Produzenten – in Form der
Gewerkschaften – geführt hätte. Die Revolution der Syndikalisten war voluntaristischer Natur und sollte als mentaler Prozeß beginnen: Die Politik,
d.h. der Beginn dieser Bewegung in den Gewerkschaften und ihre Vorbereitung der Revolution, war von der ökonomischen Lage und dem Entwicklungsstand des Klassenbewußtseins unabhängig. Die beiden letzgenannten
Faktoren allein reichten als Grundbedingungen der Revolution nicht aus,
denn nur die Gewalt und die von ihr ausgehende Mobilisierung der Massen
konnten den revolutionären Prozeß auslösen. Mit dem voluntaristischen
Element verknüpfte sich das Fehlen einer ökonomischen Alternative zum
78
Kapitalismus und die gewalttätige Zerstörung und Ablehnung der Demokratie. »Der Syndikalismus bekämpft die legalen Privilegien für die anderen
Klassen und für sich selbst, und nur aus der Entwicklung des Klassenkampfes und aus dem freien Spiel der ökonomischen, organisierten Kräfte erwartet
er die neuen historischen Verwandlungen und neue Hoffnungen für die in der
Arbeit versöhnte Menschheit,«87 schrieb Labriola, und Leone erarbeitete
später einen hedonistischen Ansatz der Ökonomie, so daß das Erreichen der
Gerechtigkeit die Weiterentwicklung der Marktmechanismen nicht in Frage
stellte.88 Nicht das kapitalistische ökonomische System, dem sie kein anderes
Modell entgegenzusetzen hatten, sondern das liberale Regime und der sozialistische Reformismus waren das Feindbild der Syndikalisten. Der Liberalismus wurde zusammen mit der Demokratie und der Bourgeoisie für ein
Zeichen des Verfalls der Gesellschaft und des Proletariats gehalten.
Eine weitere Interpretation der geistigen Revolution wurde von den späteren künstlerischen Strömungen des Futurismus entwickelt, welche die revolutionären Auffassungen der subversiven prä-Avantgarde von Papini und
Prezzolini in die Verherrlichung der »totalen Revolution« umwandelten.
Anzeichen einer grundlegenden und innovativen Auffassung der Avantgarde
lassen sich nicht nur in der futuristischen Literatur und Kunst, sondern auch
in der Tätigkeit und der Selbstdarstellung der Futuristen, d.h. im Begriff der
intellektuellen Arbeit und im politischen Charakter der futuristischen Bewegung finden, die 1918 zur Gründung der futuristischen Partei führten. Diese
war zwar von der Kunstbewegung getrennt, doch ihr Programm spiegelte das
politische und zugleich künstlerische Projekt Marinettis wider: »Die Kunst
und die Künstler an die Macht.«89 Marinetti sah hierin keine künstlerische
Phantasie oder Übertreibung, sondern eine neue Art, die Beziehungen und
die Stellung der Kunst und die intellektuelle Tätigkeit in der Gesellschaft zu
deuten und damit die Mentalität der bürgerlichen Italietta zu vernichten. Der
Futurismus erklärte damit nicht nur den alten Institutionen den Krieg, sondern entwickelte auch eine neue künstlerische Methode und eine totalitäre
Auffassung der Kunst und des ganzen Lebens. Der Futurismus sei totalitär,
sagte sein Gründer 1929 in »Il Futurismo e il novecento«: Er sei ein »weites
moralisches intellektuelles künstlerisches System, das Primat des italienischen Stolzes, Schaffensoriginalität, Worte in Freiheit, geometrischer Glanz,
Ästhetik der Maschine. Ohne einen starken Patriotismus wäre der Futurismus
begrenzt und spezialisiert gewesen. Dagegen war und ist er totalitär«.90
79
Von der Kritik an der Demokratie zur Ablehnung der Bourgeoisie
Die Kritik des Positivismus und des Marxismus verknüpfte sich bei den hier
betrachteten Autoren mit einer stark antidemokratischen Haltung. Auch in
dieser Hinsicht waren ihre Haltungen different, so daß sich zwei Arten von
antidemokratischem Denken unterscheiden lassen: die konservative und die
subversive Art, die beide im Generationenkonflikt ihren Ursprung hatten.
Nur bei der zweiten verband sich das antidemokratische Denken mit der
vehementen antibürgerlichen Kritik und der Ablehnung aller liberalen Traditionen. Die erste Variante der antidemokratischen Haltung war die der liberalen Intellektuellen, welche zwar die Erneuerung des politischen Lebens,
aber keine radikale Veränderung predigten, da sie die alte ökonomische und
soziale Ordnung durch eine Regierung der Elite gegen die Gefahr der Massengesellschaft schützten wollten und die von einer Verbreiterung der politischen Teilhabe ausgehende Nivellierung und Anarchie fürchteten.
So brachte der konservative Pareto gegen die Demokratie und die Verbreitung der sozialistischen Prinzipien vor, daß die Regierungen immer von
einer Elite beherrscht seien, die ihre Macht bis zum Erscheinen einer anderen
stärkeren Elite ausübten. Nicht nur seien die demokratische Prinzipien falsch,
sondern sie stellten eine von den neuen Eliten erarbeitete Methode zur
Machteroberung dar91, was aber bedeute, daß es keine endgültige Lösung zur
politischen Teilnahme der Bürger, sondern nur eine Verfeinerung der Mechanismen für die Erneuerung der Eliten gebe. Mit anderen Worten: Für
Pareto war das revolutionäre Modell ohne Bedeutung, da die Struktur der
Macht immer die gleiche bleibe, was letztendlich seine konservative Sicht
der Politik zeigt.
Eine ähnlich konservative Haltung läßt sich in den Theorien der Liberalen
Gaetano Mosca und Benedetto Croce finden, die Freiheit und Demokratie als
miteinander unverträglich erachteten.92 Aus dieser Perspektive läßt sich
Croces Unterstützung des Faschismus verstehen, da er die durch Anarchie
und Sozialismus bedrohte Entwicklung des Liberalismus durch ein autoritäres Interim-Regime gewährleisten wollte.93 Mosca und Croce94 zufolge förderte das Prinzip der Freiheit die Entwicklung verschiedener und gegenseitiger Kräfte und Interessen, während die Demokratie die »Ideologie« einer
bestimmten herrschenden Klasse darstellte, eine »politische Formel« laut
Mosca95 und für Croce das Ergebnis der abstrakten und vereinfachten Philo80
sophie der Aufklärung und des Positivismus – was er mit dem Wort »freimaurerische Mentalität« bezeichnete. »Die freimaurerische Mentalität« –
schrieb Croce »vereinfacht alles: die Geschichte, die kompliziert ist; die
Philosophie, die schwer ist; die Wissenschaft, die keine endgültige Konklusion erreicht; die Moral, die voller Kontraste und Ängste ist .... Eine Kultur,
die sehr geeignet ist für Händler, kleine Freiberufler, Grundschullehrer, Anwälte und kleine Ärzte, da sie billig ist«.96
Die Demokratie stütze sich nach Croce auf das Prinzip der Gleichheit und
der Teilnahme aller am Staatsleben, aber die Menschen seien nicht gleich.
Der vulgus bleibe vulgus, indem er »wirkt (selbstverständlich in seiner Art)
und seine Aufgabe erfüllt, darunter auch die Herausstellung und die Erhöhung des Bewußtseins der Aristokratie bei der Aristokratie selbst.«97
Auch wenn Croce die Schwäche der Regierung auf den Parlamentarismus
und die Demokratie zurückführte und bis 1924 den Faschismus – als er im
Senat nach der Matteotti-Krise für ihn stimmte – unterstützte, blieb für ihn
dennoch eine liberale die einzig mögliche Regierung, um eben den ihm
wichtigsten Wert – die Freiheit – zu garantieren.98 Weder war er politisch ein
Faschist, noch konnte er die offizielle Doktrin des Faschismus, d.h. die totale
Auffassung Gentiles akzeptieren, die er als mystische Doktrin bezeichnete,
die zu einer die intellektuelle Arbeit entstellenden Konfusion der geistigen
Aufgaben und der politischen Tätigkeit führe. Die von Gentile geforderte
Verbreitung der politischen Doktrin als primäre Aufgabe des faschistischen
Intellektuellen sei Betrug an der notwendigen intellektuellen Freiheit.
Gentile hatte damit versucht, die Spannung zwischen Staat und Individuen durch ein »Zurückführen jeder Wirklichkeit auf die Interiorität«99 zu
überwinden, wie der Aktualismus die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis sowie Willen und Kennen durch den »Akt des Denkens« aufgelöst hatte, da das Denken Priorität über das Handeln besaß.100
Gentile ersetzte die Auffassung des Staates inter homines durch jene des
Staates in interiore homine, wo der ethische Staat101»dasselbe Individuum in
seiner Universalität«102 und der Wille des Individuums unmittelbar jener des
Staates sei: »Jedes Individuum handelt politisch, ist ein Staatsmensch, behält
den Staat in seinem Herz, ist der Staat. Jeder trägt nach seiner Art zum gemeinsamen Staat bei, kraft der Universalität jeder eigenen Persönlichkeit.«103
Daß sich diese idealistische Auffassung nicht mit der historischen Methode
Croces vertrug, zeigte sich an der theoretischen Auseinandersetzung zwi81
schen Croce und Gentile, die immer mehr Teil einer breiteren Diskussion
über ihre Haltung zur Politik und dem intellektuellen politischen Engagement wurde. Die von Croce denunzierte Idee des totalen Staats, die auf Gentiles Auffassung zurückgeht und aus der Aufhebung der Trennung zwischen
Ethik und Politik sowie zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre
folgt, läßt sich mit den folgenden Worten Gentiles exemplifizieren: »Der
Faschismus ist Religion, ... der Faschismus ... kann nur eine Partei, eine politische Doktrin sein, wenn er zuallererst eine totale Konzeption des Lebens
ist ... Wie der Katholik, der, wenn er Katholik ist, sein ganzes Leben mit
religiösem Gefühle durchtränkt, .... soll sich der Faschist immer daran erinnern, ein Faschist zu sein, wenn er ins Parlament geht oder im Fascio ist,
wenn er in Zeitschriften schreibt oder sie liest, mit seinem Privatleben beschäftigt ist oder mit anderen Leuten diskutiert, an seine Zukunft oder an
seine Vergangenheit – und an die Vergangenheit seines Volkes – denkt«.104
Allerdings war die Position Gentiles von der des liberalen Intellektuellen
Croce weniger weit entfernt, als man glauben könnte: Seine Darstellung des
Faschismus war die einer konservativen Revolution, indem er für ihn das
Erbe des Risorgimento und des wahren Liberalismus reklamierte: »Das ist
der Glaube Benito Mussolinis« – sagte er am 28 Oktober 1924105 – »das ist
unser Glaube. Monarchistischer Glaube, treuer konservativer Glaube, aber
mutiger und konstruktiver Glaube. Konstruieren, um zu erhalten, erhalten,
um zu konstruieren. Dies sind die Probleme des Marsches auf Rom ... Und
doch, wenn die Lösung dieser Probleme jetzt, nach zwei Jahren ... in ihren
Grundelementen gefunden werden soll, sollte sie zu einer Revolution führen,
aber einer Revolution, die nur den Charakter einer normalen Entwicklung
haben kann«.
Hier wird deutlich, daß sich der Konservatismus mit seinen Idealen der
Wiederherstellung der Monarchie und der Autorität zur Revolution wandelte,
nicht nur um ein rhetorisches Argument einzuführen, sondern um eine Idee
der Kontinuität und gleichzeitig des Bruchs mit den vorherigen Institutionen
zu propagieren. Die wahre Identität des Faschismus war nach Gentile nur
dann revolutionär, wenn er die alten Traditionen und die alte Kultur erneuerte.106
Die andere Gruppe der Antidemokraten – die Subversiven – predigten die
Gewalt und den Krieg als Ideal und Methode der Entwicklung der Gesellschaft. Diesbezüglich stammten ihre Bestandteile aus gegensätzlichen Posi82
tionen und Traditionen im politischen Spektrum: Aus der nationalistisch
reaktionären und traditionalistischen Strömung, deren Ziele in der Wiederherstellung der Nation und im Imperialismus lagen, aus dem revolutionären
Syndikalismus und der prä-Avantgarde. Sie folgten einer visionären und
ästhetischen Auffassung der politischen und sozialen Prozesse und entwikkelten kein konkretes politisches Projekt. Die antidemokratische Auffassungen Croces, Moscas und Paretos gewannen in ihrer Interpretation eine revolutionäre und zerstörerische Kraft. Die junge Generation der Avantgardisten,
der Syndikalisten und der Nationalisten veränderte die marxistische traditionelle Bedeutung der Begriffe der Bourgeoisie und der Revolution. Die Bourgeoisie wurde nicht länger durch materielle und ökonomische Faktoren definiert, sondern durch eine »moralische« Kategorie, so daß sie als Träger der
konservativen und veralteten Lebensauffassung gebrandmarkt wurde. Zudem
wurde die Einheitlichkeit der Bourgeoisie in Frage gestellt: Durch die »Entleerung« des Begriffes, d.h. die Entbindung von seiner konnotativen Klassendimension unter Beibehaltung der semantischen Formel der Klassen,
schufen die Futuristen und die Nationalisten einen moralischen Generationskonflikt und unterteilten die Bourgeoisie in eine »böse« alte und eine »gute«
junge Bourgeoisie. Der Generationskonflikt ersetzte auf diese Art den Klassenkampf, eine geistig-moralische übernahm die Rolle der materiellen Revolution, wobei sich das Konzept einer unbestimmten moralischen oder ästhetischen Revolution durchsetzte.107 Dennoch war der bei den jungen Intellektuellen verbreitete Begriff der »Revolution« keineswegs einheitlich: Für
die Syndikalisten bedeutete sie immerhin eine sozialistische Revolution; für
die Nationalisten die Wiederherstellung der Tradition und für die Avantgarde
nur die Verwirklichung ihrer visionären ästhetischen Auffassung.
Nur die Regierung einer »historischen Aristokratie« konnte zum Beispiel
nach Papini die Gefahr des Sozialismus und die Schwäche der modernen
Bourgeoisie bekämpfen, um ein »neues spirituelles und politisches nationales
Leben zu erwecken, das höher, mutiger und unserer Traditionen würdiger«108
sei. Épater les bourgeois drückte nicht nur auf künstlerischer Ebene die »negative« Grundbedingung der Schriften Papinis und Prezzolinis und der Ausstellungen der Futuristen aus, die das Publikum irritierten und schockierten,
um seine »spontane und befreiende gewalttätige Reaktion« zu provozieren.
Es verwandelte sich in eine politische Revolte.
83
Die Attacken gegen die Demokratie und die Bourgeoisie stellen einen
weiteren gemeinsamen Punkt der Kampagne Papinis und der Nationalisten
gegen die Demokratie dar, die laut Corradini das Zeichen der Schwächung
der Moralität war. Die nie klar artikulierte Trennung zwischen dem alten
italienischen Bürgertum, welches angeblich die Zerstörung des moralischen
Lebens verursacht hatte, und einer zukünftigen Bourgeoisie, die aus dem
Proletariat und dem Kleinbürgertum bestehen und die Projekte des Nationalismus entwickeln sollte, lag Corradinis Theorie zugrunde. Die Haltung der
Nationalisten blien bezüglich der Bourgeoisie uneinheitlich: Einerseits sei
die Verwandlung des Proletariats in die Bourgeoisie ein »dynamischer, biologischer und originärer« Prozeß109, andererseits sei es der Nationalismus
»unserer befreienden Väter, nicht jener des perfekten Bourgeois«.110 Der
Bourgeois war jedesmal etwas anderes: Er drückte das Bedürfnis nach Stabilität aus, symbolisierte aber gleichzeitig die Korruption und die veraltete
Mentalität der liberalen Regierung.
Während Giovanni Papini und Giuseppe Prezzolini, die zur Entwicklung
dieser Themen beitrugen und an der von Corradini gegründeten nationalistischen Zeitschrift »Il Regno« mitarbeiteten, mit den Nationalisten die Ästhetisierung der Gewalt und des Krieges und die Verherrlichung des Irrationalismus teilten, waren die gemeinsamen Themen der jungen linksextremem
Syndikalisten und der Nationalisten die Ablehnung der Demokratie und der
Bourgeoisie. Demokratie bedeutete für die Syndikalisten die Korruption der
revolutionären Prinzipien und die Schwächung der sozialen Kraft der Arbeitermassen, die durch die ständigen Kompromisse der reformistischen Sozialisten mit der Bourgeoisie hervorgerufen worden sei und den wahren Geist
des Sozialismus verrate. Anderseits hatte der Begriff des Bürgertums mit der
Revision Sorels seine originäre Bedeutung verloren: Labriolas Klasse der
»freien Produzenten« sollte eine Art Korporation darstellen, die alle Akteure
des produktiven Prozesses – sogar die Unternehmer einschloß und sich von
den »Parasiten« unterschied. Die Trennung zwischen den zwei sozialen
Gruppen hing nicht länger von der Position der Arbeiter zum Eigentum und
zu den Produktionsmitteln ab, sondern von der Integration in den Produktionsprozeß, so daß den Produzenten die parasitäre Klasse entgegengestellt
wurde, die keine Rolle im Produktionsprozeß spielte.111
Die zwiespältige Interpretation des Bürgertums war ein dauerhaftes
Kennzeichen der intellektuellen Revolte. Auch die Futuristen predigten das
84
Ende des bürgerlichen Kunstbegriffes, d.h. die Vernichtung der bürgerlichen
ästhetischen Kategorien, und den Umsturz der Demokratie und der verfallenden bürgerlichen Gesellschaft auf politischem Niveau. Die Wirkung der
avantgardistischen Kunst auf das Publikum, das seine Rolle als Beobachter
vergessen und eine aktive Beziehung mit den Werken entwickeln sollte,
wurde durch die Verhöhnung der traditionellen Ideale der Kunst erreicht.
Marinetti erläuterte seine künstlerische Position mit folgenden Worten, die
einige grundlegende Tendenzen späterer künstlerischer Bewegungen, etwa
des Dadaismus, vorwegnahmen: »Machen wir mutig das Häßliche in der
Literatur und bringen wir überall den Ernst um. Seht nicht wie Hohepriester
aus, wenn ihr auf mich hört. Wir müssen jeden Tag auf den Kunstaltar spukken«.112 Dennoch sollte die zukünftige Gesellschaft gemäß der futuristischen
Vorstellung von Künstlern und jungen Kleinbürgern regiert werden, d.h. von
der neuen, aus »der wundervollen Masse intelligenter Jugendlicher und fleißiger Kleinbürger« hervorgegangenen Aristokratie, die von den futuristischen Künstlern und Politikern geführt werden sollte.113
Von der kulturellen Erneuerung zum Antiintellektualismus
Die wissenschaftliche Meinung Croces und Gentiles läßt sich nicht von ihrer
politischen und moralischen Bewertung des menschlichen Tuns trennen: Die
Erneuerung der Wissenschaft und der Kultur ginge mit der politischen Reform einher, so daß die politische Veränderung, d.h. die Entfernung der demokratischen und parlamentarischen korrupten Elemente, mit der geistigen
kulturellen Erneuerung anfangen sollte. Aus diesem Grund war der Kampf
für die Entprovinzialisierung der italienischen Kultur und die Einführung
einer kritischen methodologischen Haltung, die der Gründung der Zeitschrift
»La critica« von Croce und Gentile zugrunde lag, untrennbar mit der moralischen antiakademischen Kritik verbunden. Den von Croce als »Professoren«,
als »Abenteurer ohne Bewußtsein« und »Ränkeschmiede der Wissenschaft«114 bezeichneten alten Akademikern setzten die beiden Intellektuellen
den moralischen und intellektuellen Wert, das konkrete Studium und die
Forschung entgegen: »Gegen die Übel des universitären Milieus soll man die
Lösung im Gefühl der Würde der Studien, in der inneren Freiheit, in moralischen Skrupeln, in der Kraft des Willens fordern und finden.«115
85
Ihre intellektuelle Position war durch eine Mischung konservativer und
revolutionärer Motive gekennzeichnet: Gegen den Positivismus und die Aufklärung vertraten sie die Revolution der Wissenschaft, die sie dennoch auf
der anderen Seite gegen die »Irrationalisten« verteidigten; sie wollten auf
keinen Fall die Literatur und die Kunst zerstören, sondern erneuern. Gleichwohl bewegte sich die intellektuelle Arbeit Croces und Gentiles innerhalb
fester wissenschaftlicher Methoden und Traditionen und entwickelte diese
weiter – im Gegensatz zu Papini und Prezzolini, welche die bis dahin geltenden philosophischen Begriffe ganz ablehnten und verspotteten, oder dem auf
ästhetischem Gebiet revolutionären Marinetti.
Papini und Prezzolini trugen durch ihre Veröffentlichungen zur Verbreitung der europäischen wissenschaftlichen und künstlerischen neuen Entwicklungen und avantgardistischen Experimente im italienischen kulturellen
Milieu bei, aber sie nahmen die Forderung zur Entprovinzialisierung der
Kultur und den Kampf gegen die Akademie Croces und Gentiles »zu ernst«
und entstellten sie. »La voce« sollte zunächst der Information und der Kritik
im Sinne einer Erziehung des italienischen Volks dienen. Später sahen Papini
und Prezzolini in der Weiterentwicklung des kulturellen Erneuerungsprojektes Croces und Gentiles vorrangig einen Weg zur Überwindung und Zerstörung aller Traditionen. Die Mission der neuen Intellektuellen war nach Papini »jene des Teufels im großen Universum«116: Unordnung in die Philosophie und das Leben zu bringen. Die durch die Zerstörung aller alten Institutionen geschaffene neue Welt würde das Ergebnis und die Schöpfung der
Künstler und der Intellektuellen sein – der neuen »Gott-Menschen« und
Philosophen, »die bislang die Welt interpretiert hatten und sie sich jetzt aneignen« sollten.
Das intellektuelle Vorbild der Futuristen war Gabriele D’Annunzio,
Schöpfer des Mythos vom Dichter-Kämpfer (poeta-condottiero), der durch
die Verwendung religiöser Symbole eine »politische Liturgie« ins Leben
gerufen und einen neuen politischen Stil entwickelt hatte. Der futuristische
Intellektuelle stellte nicht nur ein neues Modell des Künstlers, sondern eine
komplette künstlerische und politische Vision dar: Das futuristische Programm bestand in einer Revolution, die nach der Veränderung des ganzen
Lebens strebte. Die Zugehörigkeit zum futuristischen Bund bedeutete aus
dieser Perspektive eher, eine Lebensauffassung zu teilen, als ein rein künstlerisches Projekt zu entwickeln: Alle Mitglieder sollten in jedem Moment und
86
durch ihr Alltagsleben ihren futuristischen Glauben durch ihre Erfahrungen
und Projekte bestätigen, und zwar durch ihre Ablehnung der bürgerlichen
Mentalität und Wissenschaft. Sie sollten etwas ganz Neues, die futuristische
Utopie bilden: keine l’art pour l’art, sondern ein politisch-kulturelles Projekt, das die Artekratie schaffen sollte. Ziel des Futurismus war die Zerstörung der bürgerlichen Kunst und Mentalität und damit der akademischen
Literatur und der traditionellen Kunstformen: Gegen die literarischen Regeln
predigte Marinetti die parole in libertà (Worte in Freiheit), die freien Reime
und Rhythmen117, die Ablehnung der Romantik118 und des Realismus. Seine
Würdigung bliebe aber unvollständig, wenn sie allein das negative Element
der futuristischen Bewegung herauszustellen sucht: Der Futurismus war auch
und zuerst eine Erneuerungsbewegung. Die Forderung nach einem kulturellen Austausch mit anderen Ländern, die Diskussion und die Rezeption der
aktuellen europäischen Literatur und Kunst, die Ablehnung der liberalen
Regierung und der Macht der konservativen Klassen zeigen seinen nahezu
hypermodernen Geist und seinen Anspruch, einen – fragwürdigen – Weg zur
Modernisierung und zur Erneuerung Italiens zu finden.
1 Mussolini, »Dopo due anni«, in Scritti e discorsi, Milano, 1934, II, S.153.
2 Vgl. R. De Felices Mussolini, 8 Bände, Torino, 1990-1996; G. Mosse, Masses and man.
Nationalist and fascist perception of Reality, New York, 1980; E. Gentile, Le origini
dell’ideologia fascista, op.cit.; P.G. Zunino, L’ideologia del fascismo ..., op.cit.; A. J.
Gregor, The Ideology of Fascism ..., op.cit.; Z. Sternhell, Naissance de l’ideologie fasciste, op.cit.; Lyttelton A., La conquista del potere. Il fascismo dal 1919 al 1929, Bari,
1974. Dieses Charakteristikum der faschistischen Ideologie, und zwar ihr Mangel an Homogenität, ist ein grundsätzliches und ständig wiederkehrendes Element, das die Schwankungen der Bewegung zwischen links und rechts sowie die internen Konflikte erklärt. So
fragte sich Pietro Melograni (»Recensione a ›Storia del partito fascista 1919-1922‹ di E.
Gentile«, in Il corriere della sera, 9. Nov. 1989), ob Mussolini selbst ein Faschist war:
Mussolinis Reden und Erklärungen seien so widersprüchlich gewesen, daß er selbst
manchmal die Prinzipien seiner Ideologie »verraten« habe.
3 Der erste Teil des Artikels (»Doktrin«) wurde von Giovanni Gentile geschrieben, während Mussolini den zweiten Teil schrieb. (»Fascismo. Dottrina politica e sociale«, in
Mussolini, Opera omnia (XXXIV), Firenze, 1961, S.122-131. Übersetzung in H. Goetz,
Intellektuelle im faschistischen Italien, Kovac, Hamburg, 1997).
4 Ein vulgärer Ausdruck, der von den squadristi und Mussolini benutzt wurde und »Ich
pfeife darauf« bedeutet.
87
5 Croce stimmte im Senat am 25. Juni 1924 kurz vor der Ausrufung des Totalitarismus
während einer Krise des faschistischen Regimes für Mussolini.
6 Croce, »Recensione a ›Il Principe‹ curata da Chabod« in Critica, Giugno, 1924.
7 Futurfaschismus ist der ursprüngliche Faschismus, der stark vom Futurismus geprägt
wurde.
8 Vgl. E. Gentile, Il mito dello stato nuovo dall’antigiolittismo al fascismo, Bari, 1982; M.
Isnieghi, Il mito della grande guerra, op. cit., 1989.
9 Die ersten Fasci waren die 1915 gegründeten Fasci di azione rivoluzionaria, welche die
militaristische Position innerhalb der Linken darstellten.
10 Die interventisti unterstützten die Teilnahme Italiens am 1. Weltkrieg und stammten
sowohl aus linken wie rechten Parteien.
11 Vgl. De Felice, Mussolini il rivoluzionario,..., op.cit., S. 478.
12 Vgl. zu dieser Strömung: Cavallari, Classe dirigente e minoranze rivoluzionarie. Il protomarxismo italiano: Arturo Labriola, Enrico Leone, Ernesto Cesare Longobardi, Napoli,
1983; De Felice, Sindacalismo rivoluzionario e fiumanesimo nel carteggio De Ambris,
D’Annunzio, Brescia 1966; Degl’Innocenti M., Dictionnaire biographique du mouvement
ouvrier international, Paris, 1971; Dubief H. Le sindicalisme revolutionnaire, Paris,
1979; Marucco D., Arturo Labriola e il sindacalismo rivoluzionario italiano, Torino
1970; Santarelli E., Il socialismo anarchico in Italia, Milano, 1959; ders., La revisione del
marxismo in Italia, Milano 1977; Isnieghi, Il mito della grande guerra, Bari 1973.
13 Vgl. zum Einfluß Sorels, Le Bons und der elitistischen Theorien u.a.: De Felice, Mussolini il rivoluzionario ..., op.cit., ; E. Gentile, Le origini ..., op.cit. E. Nolte, »Marx und
Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolinis«, in: Historische Zeitschrift, 191, 1960.
14 Die Literatur über den Futurismus ist sehr reichhaltig und die Diskussion darüber läßt sich
hier nicht erschöpfend wiedergeben; deswegen seien hier exemplarisch nur einige Titel
angegeben: G. Prezzolini »La Voce 1908-1913«, Mailand 1974; R. De Felice, (Hrsg.),
Futurismo, cultura e politica, Studienkongreß organisiert von der Stiftung Agnelli, Torino
1988; M. Calvesi, Le due avanguardie, Bari, 1971; P. Vita Fizi, Le delusioni della libertà,
Milano 1979; G. L. Mosse, Masses and Man ..., op.cit.; U. Carpi, Bolscevico illuminista.
Comunismo e avanguardie artistiche nell’Italia degli anni ‘20, Neapel 1981; C. Salaris,
Storia del futurismo, Rom 1985; L. De Maria, »Einführung«, in: Marinetti, Teoria e invenzione futurista, De Maria (Hrsg.), Milano 1983; Ders., La nascita dell’avanguardia,
Padova, 1986; M. Serra, »Al di là della decadenza. Marinetti e la grande rivolta futurista«,
in: Storia contemporanea, XII, 6, 1991 A. Bowler, »Politics as Art: Italian Futurism and
Fascism« in: Theory and Society 20, 1991; Salaris, Artecrazia, Firenze, 1992; Simonetta
Falasca-Zamponi, »The Artist to Power? Futurism, Fascism and the Avant-guarde« in
»Theory, Culture and Society«, 13, 2, 1996.
15 Während der zwanziger Jahre trat ein anderer Intellektueller auf den Plan, der »KämpferDichter« Gabriele D’Annunzio. 1919 besetzte eine Freischar unter Führung D’Annunzios
mit Unterstützung der Nationalisten die Stadt Fiume (heute Rijeka) und gründete dort die
»Republik Fiume«. Nach und nach verlor er die Unterstützung der Nationalisten und gewann gleichzeitig die der Syndikalisten, insbesondere die des syndikalistischen Führers
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Alceste De Ambris, der 1920 die sozialistische Verfassung der Republik Fiume Carta di
Carnaro schrieb. Um die Zustimmung der Massen zu gewinnen, bediente er sich dabei
einer Methode, die auf dem Charisma eines Führers und der Ablehnung aller demokratischen Verfahren gründete und von Mussolini später ebenfalls benutzt wurde. Obwohl die
Beziehungen Mussolinis zu D’Annunzio nach 1920 zunehmend schwierig und gespannt
wurden (wegen des Abdriftens des Faschismus nach rechts und der gleichzeitigen Hinwendung der Republik Fiume zum Sozialismus), stellten der politische Stil D’Annunzios
zur Mobilisierung der Massen und seine beispielhafte Beeinflussung der Politik durch die
Propaganda ein Modell für den faschistischen Führer dar. Seine öffentlichen Reden in Fiume wurden so inszeniert, um durch die Verwendung moderner Theatertechnik eine
»Osmose« zwischen dem Dichter-Politiker und den Zuhörern zu schaffen und durch die
Musik, die Choreographie und die Sprache eine »kollektive Atmosphäre« herzustellen.
Laut D’Annunzio sollte die Politik (wie bei Mussolini) Mythen schaffen und das Publikum durch die emotionale Macht dieser Mythen führen; durch die Benutzung tradtioneller
christlicher Symbole (Mussolini benutzte dagegen später römische Symbole und Darstellungen) konnte D’Annunzio die Massen beeindrucken und überzeugen. Wie bei Marinetti
strebten D’Annunzios Aktionen nach Verwirklichung der Ästhetik in der Politik. Sie waren an keine bestimmte politische Linie oder ein Programm gebunden, so daß sein Verhalten keiner wesentlichen Veränderung bedurfte, als er im Jahre 1920 sein ursprüngliches Bündnis mit den Nationalisten aufgab und seine langjährige Mitarbeit bei den revolutionären Syndikalisten begann. Der Begriff der Gleichheit umfaßte bei D’Annunzio das
Volk als eine organische Ganzheit, eine Art mystischen Körper, der von demjenigen geführt werden sollte, der »die Virtus und die Schönheit symbolisierte«; er stand aber in
keinerlei Bezug zum Gleichheitsprinzip des politischen Programm Fiumes, der Carta di
Carnaro, die vom syndikalistisch-revolutionären De Ambris verfaßt worden war. Vgl. E.
Gentile, Le origini ..., op.cit.; Mosse, D’Annunzio politico, in: De Felice (Hrsg.),
D’Annunzio politico, Atti del Convegno, 9-10 Okt. 1985; ders., Masses and Man ...,
op.cit.
16 So schrieb Marinetti im Jahr 1916 als Antwort zum Artikel »Pfeifen wir auf die Politik«
von Papini (»Lacerba«, 15 Apr. 1916): »Nein, lieber Papini: wir können nicht auf die Politik pfeifen, und können dies auch nicht den Jungen als pessimistische Anregung entgegenschreien. Es sind viele, viele Tausende, die uns mit Angst und Treue nach einer Orientierung, einem nicht nur artistischen, sondern politisch und national begeisterten Antrieb fragen. Die Kunst ist mit der Politik verbunden.« (Brief Marinettis an Papini, in E.
Gentile, »Il futurismo e la politica. Dal nazionalismo modernista al fascismo (19091920)«, in: De Felice (Hrsg.), Futurismo, cultura e politica, Torino, 1988, S.116).
17 Marinetti, »Democrazia futurista«, in: ders., Teoria e invenzione futurista, De Maria,
(Hrsg.) Milano, 1983, S. 311.
18 Marinetti, »Manifesto del partito futurista italiano« (1918), Ebda., S. 130-135. Nach den
Worten Serras war Marinetti »wegen seines Appells an das Recht des Stärkeren, seiner
Ablehnung der Klassensolidarität, seiner Forderung nach dem Standrecht gegen Pazifisten
und Verräter, seines Willens, die Feinde zu zerstören und nicht nur zu schlagen, rechts,
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oder besser extrem rechts. Andererseits war er links, oder besser extrem links, weil der
Krieg zur Zerstörung jeder festgesetzten Ordnung führen sollte, einschließlich auch der
Zerstörung der Nicht-Kriegführenden wie etwa der Kirche. Es gab keine andere Gruppe
oder Partei in Europa, die solches Streben nach Totalität bewies, die sich vornahm, alles das Schicksal der Gewinner und der Verlierer - dem Kult der Modernität zu opfern.« (M.
Serra, »Al di là della decadenza. Marinetti, la grande guerra e la rivolta futurista«, in: Storia contemporanea, XII, 6, 1991, S.1005).
Zum Beispiel die Verteilung des Landes, das progressive Steuersystem, das Streikrecht
und die Arbeitszeitverkürzung.
Damit läßt sich auch Marinettis Definition der getrennten Rolle der futuristischen - später
faschistischen - Partei und der künstlerischen Bewegung verbinden, wie hier deutlich
wird: »Der Faschismus wirkt in der Politik, und zwar auf dem Gebiet unserer heiligen
Halbinsel, die verlangt, fordert, beschränkt, verbietet. Der Futurismus wirkt auf dem Gebiet der reinen Phantasie, deswegen kann und muß er immer mutiger wagen, wagen, wagen. Als Avantgarde der italienischen künstlerischen Sensibilität ist er notwendigerweise
immer der langsamen Volkssensibilität voraus. Er wird deswegen oft von der Mehrheit
verkannt und bekämpft, die unsere Erfindungen, die Brutalität unserer polemischen Ausdrücke und den Schwung unserer Intuitionen nicht verstehen kann« (Marinetti, »Futurismo e fascismo« (1924) in: Teoria e invenzione futurista, S. 432).
Mussolini, »Postulati del programma fascista«, Mai 1920, in: Opera Omnia, XV, 1954.
Wie De Felice erklärt: »Im Faschismus, in seiner konfusen Ideologie und seinem weiten
Programm, die sich interpretieren ließen, wie jeder wollte ... sahen diese Leute das für ihre Wünsche [jeweils] geeignete Instrument«(De Felice, Mussolini il rivoluzionario...,
op.cit., S. 591).
Mussolini, Rede am Parteitag 24.-25. Mai 1920, in: Opera Omnia, XIV, 1954.
Squadrismo war die faschistische Organisation der Sturmabteilung, die am Anfang des
Faschismus (insbesondere beim Marsch auf Rom) sehr wichtig war. 1925 beschränkte
Mussolini auf Grund seiner konservativen Politik ihre Macht.
Die Eroberung der Macht war nach der von Pareto beeinflussten Vision des duce nur das
Ergebnis des Kampfes zwischen Eliten, die ihre Ideologien erarbeiteten, um den Konsens
der Massen zu gewinnen. Umgekehrt war jedes politisches Ideal, die demokratischen
Prinzipien eingeschlossen, nur Mittel zur Erreichung der Macht und zur Durchsetzung der
Interessen und Ansprüche der stärkeren Elite. Schließlich waren nur die Mobilisierung der
Massen und die Gewalt, aber kein ethisches Prinzip und keine politische Doktrin in der
Politik entscheidend: Wahrheit und Gerechtigkeit existierten nicht, sie waren nur die Interpretation der herrschenden Schichten, d.h. ihre Ideologie, die nur in Bezug auf ihre
Geltung analysiert werden sollte. So wurde die Aktion, die Machteroberung, wichtiger als
irgendein Prinzip: Mussolini erklärte auf diese Art die Politik als reinen Kampf um die
Macht, (vgl. u.a. die Interpretation Noltes in seinem Buch Der Faschismus in seiner Epoche, op. cit.).
(Mussolini, »Nel solco delle grandi filosofie. Relativismo e fascismo«, in: Il popolo
d’Italia, 22. Nov. 1921). Eine merkwürdige Art von Relativismus wurde zu dieser Zeit
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vom Philosophen Giuseppe Rensi entwickelt, zu dem Mussolini zu Beginn des Faschismus viele Kontakte hatte. Giuseppe Rensi schrieb 1920 »Filosofia dell’autorità«, in der er
vom Relativismus der Weltanschauungen und von ihrer absoluten Unversöhnlichkeit ausging, um die Notwendigkeit einer auf Gewalt begründeten Autorität zu behaupten, die die
Ordnung in der Gesellschaft schaffen sollte. Nach seiner anfänglichen Unterstützung des
Faschismus opponierte er 1925 mit seiner Arbeit »Apologia dell’ateismo« gegen Mussolini, jedoch ohne ein konkretes Projekt vorzuschlagen, das seiner Position des totalen
Skeptizismus zugrunde lag.
Diese Politik führte im Jahr 1923 zur Fusion mit dem Nationalismus, der einen großen
Teil der revolutionären Syndikalisten und der konservativen und monarchischen Elemente
des Faschismus (»der Rechten«) vertrat, durch ein Abkommen, in dem Mussolini sich
verpflichtet, einige Punkte des nationalistischen Programms zu übernehmen - die Anerkennung der Funktion der Monarchie und des Vatikans und den Kampf gegen die Freimaurerei.
»Historisch besteht heute kein Zweifel« schreibt der Historiker De Felice, »daß der Faschismus hauptsächlich eine gegen die Arbeiter gerichtete bürgerlich kapitalistische Reaktion war; aber um seine Machteroberung zu verstehen, ist es nicht genug, dies zu sehen
und seinen Erfolg mit der Hilfe, der Nachsicht und den Schwächen, die er ausnutzte [, zu
erklären]. Es sollte wahrgenommen werden, wie [der Faschismus] den Italienern erschien.
Er stellte äußerlich etwas anderes dar, als er historisch war.« De Felice, Mussolini il fascista. La conquista del potere ..., op.cit., S. 4.
Was ein kommunistischer Schriftsteller, D. ŠaŠ (G. D’Aquila) schon Anfang der 20er
Jahre ans Licht brachte, als er schrieb, daß der Faschismus in der 20er Jahren als eine revolutionäre Bewegung erscheine, welche die ganze Nation, insbesondere die mittlere
Schicht und die Arbeiter retten solle. (vgl. »Il fascismo italiano« (1923) in: De Felice
(Hrsg.), Il fascismo e i partiti politici italiani. Testimonianze del 1921-1923, Bologna,
1966).
Ein wichtiger Beobachter dieses Phänomens war Antonio Gramsci, der in »I due fascismi« (in: L’ordine nuovo, 25. August 1921) die Bedeutung und die Folgen der Zweideutigkeit des Faschismus analysierte.
Salvatorelli, Nazionalsocialismo, Torino, 1923.
So 1921, als Mussolini den sogenannten »Patto di pacificazione« (Friede zwischen den
rechten und linken Brigaden) mit den Sozialisten schließen wollte. Die erste interne Opposition gegen das Abkommen mit den Sozialisten begann als Kampf um die lokale
Macht oder um die reine faschistische Interpretation.
A.Tasca, Nascita e avvento del fascismo, Firenze, 1950.
Sugo di Bosco (Pseudonym von Maccari), »Il benservito agli squadristi«, in Il Selvaggio,
16 Nov. 1924.
Vgl. De Felice, Mussolini il fascista. La conquista del potere, S. 3 ff.
Il popolo d’Italia, 8-11 Nov. 1921.
Zitiert in De Felice, Mussolini il fascista. La conquista del potere, S.185.
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38 Über den Nationalismus vgl. A Rocco, Che cos’è il nazionalismo e che cosa vogliono i
nazionalisti, Padova, 1914; Sternhell, Les origines ..., op.cit., Corradini, Discorsi politici,
Firenze, 1923; ders., La rinascita nazionale, Firenze, 1929, F. Perfetti, Il movimento nazionalista in Italia (1903-1914), Roma, 1984; R.A. Webster, L’Imperialismo industriale
italiano 1908-1915. Studi sul prefascismo, Torino, 1974.
39 Vgl. die Positionen von Amendola, Nitti, Salvemini in De Felice, Ebenda., S. 393 ff.
40 Dazu schrieb Nitti: »wenn es gelingt, zur Normalität und Verfassung zurückführen, ... so
daß die Faschisten uns eine wertvolle Gefälligkeit täten«, »Brief an Amendola« vom 23.
April 1923, in De Felice, Ebda., S. 393.
41 Siehe nächstes Kapitel.
42 Viele konservative und »rechte« Mitglieder traten wegen der beginnenden unmittelbaren
Kontakte zwischen Mussolini und dem Vatikan und wegen der Maßnahmen der Regierungen für die Kirche aus der PPI aus.
43 Vgl. De Felice, Mussolini il fascista La conquista del potere,..., op.cit. S. 389 ff.
44 Ein ähnliches Bild hatte bereits Jean Pierre Faye benutzt, um die Geburt des Nationalsozialismus in Deutschland zu beschreiben. Vgl. Jean Pierre Faye, Les languages totalitaires. Critique de la raison/économie narrative, Hermann, Paris 1972.
45 Was auch teilweise für Gramscis Theorie der Hegemonie gilt, die von einem bestimmenden Einfluß des politischen auf das intellektuelle Feld ausgeht.
46 Dieser Ausdruck stammt von Eugenio Garin: »der Kontrast zwischen der durchgehenden
Entwicklung der Reflexion und der Systematisierung in festen Formeln, der Kampf zwischen nicht befriedigten Instanzen, die Leidenschaft für strenge unerbittliche Kritik; im
moralischen Bereich die Abneigung gegen einen erhebenden Moralismus; im Politischen
die Abneigung gegen die Rhetorik und die Utopie: all dies sind die Gründe für die vielen später verjagten und zu Feinden gewordenen - illegitimen Kinder, die Croce in der ersten
Zeit seiner Arbeit hatte« (Garin, Cronache di filosofia ..., op.cit., B. 2, S. 278).
47 Über diese Vorläufiger der Avantgarde vgl. La cultura italiana del 900 attraverso le
riviste, B. IV (Lacerba, La voce), Scaglia (Hrsg.), Torino, 1961; Prezzolini (Hrsg.), La
voce. Cronaca, Antologia fortuna di una rivista, Milano, 1974; Garin, Cronache di filosofia ..., op.cit., Carpi U., Giornali vociani, Roma, 1979.
48 Papini, »Amiamo la guerra!«, in: Lacerba, II, 20, S. 274-275.
49 Sternhell, Naissance de l’idéologie ..., op.cit.
50 Vgl. Corradini (Nationalist) »Il mito della guerra vittoriosa«, in: ders., Discorsi politici,
Firenze, 1923, (jetzt in: Corradini, La rinascita nazionale, Firenze, 1929, S. 191 ff.);
ders., »Nazionalismo e sindacalismo«, in: La Lupa, 16 Oktober 1910; unter den Syndikalisten: Arturo Labriola, La conflagrazione europea e il socialismo, Roma, 1915; P. Orano,
»L’insipido Adriatico«, in: Pagine Libere, 1 Juni 1909.
51 Unter den Syndikalisten vgl. Olivetti »Il vaso di Pandora«, in: Pagine libere, 10. Oktober
1914; ders., »Menzogne«, in Edenda, 10. Januar 1915; De Ambris, »I sindacalisti e la
guerra«, in: L’internazionale, 22. August 1914; Panunzio, »Il socialismo e la guerra« in:
Utopia, 15. August-1. September 1914.
52 Olivetti, »Sindacalismo e nazionalismo«, in: Pagine libere, 15. Feb 1911.
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53 Corradini, »Nazionalismo e socialismo«, in: Discorsi politici, Firenze 1925, S. 211; Vgl.
auch ebenda »Nazionalismo e sindacalismo«, in: La lupa, 16. Oktober 1910.
54 Ausdruck von Bobbio, Profilo ideologico del Novecento ..., op.cit., S. 97.
55 Idealismus in der Philosophie, Realismus in der Kunst und Konkretismus in der Politik
für die vociani und Irrationalismus in der Philosophie, Experimentalismus in der Kunst
und Utopismus in der Politik für die Futuristen.
56 An dieser Stelle kann kein umfassender Überblick über die gesamte Kultur des 20. Jahrhunderts gegeben werden, doch es ist nötig, einige ihrer Konzepte zu betrachten, welche
die Atmosphäre der Zeit prägten, um den Hintergrund für die Bildung der Struktur des faschistischen intellektuellen Feldes zu beleuchten und später die radikalen Intellektuellen
einordnen zu können. Deswegen werden im Wesentlichen nur die Strömungen erwähnt,
die mit der Entwicklung der Themen und der Positionen der radikalen Intellektuellen in
der faschistischen Kultur verbunden sind.
57 Einer der ersten Kritiker des positivistischen Paradigmas war Antonio Labriola, ein bedeutender Interpret des Marxismus, der die Konfusion zwischen Marxismus und Positivismus und die in marxistischen Intellektuellenkreisen verbreitete Verbindung zwischen
Marx und der Evolutionstheorie Darwins kritisierte. Die idealistische und die positivistische Erklärung der Geschichte seien beide ungültig: Erste, da sie die bestimmenden Faktoren, d.h. die ökonomisch-sozialen, ignoriere und die Ideen als »Motor« der menschlichen Entwicklung betrachte, die zweite wegen seiner falschen Methode. Der historische
Materialismus stelle die einzig gültige Methode zur Analyse der Geschichte dar, indem er
endlich die historischen Interessen und Mechanismen von ihrem ideologischen Überbau
befreien und damit ein Bild des ganzen historischen Prozeß gewinnen könne (Antonio
Labriola, La concezione materialistica della storia, Garin (Hrsg.), Bari, 1965, S. 10 ff.; 97
ff.).
58 Croce, La storia ridotta sotto il concetto generale dell’arte, 1893, Napoli.
59 Croce, Teoria e storia della storiografia, Bari 1948, S. 4-10.
60 Croce, »Per l’interpretazione di alcuni concetti del marxismo«, in: ders., Materialismo
storico ed economia marxista, Bari, 1927, S.98. Über Croce vgl. u.a. Stuart Hughes, Consciousness and society ..., op.cit.; Garin, Intellettuali italiani del XX secolo, Roma, 1966;
Cotroneo, La religione della libertà, Milano, 1986 .
61 Croce, Conversazioni critiche, II, Bari, Laterza, 1924, S. 353-7.
62 Pareto schrieb in seinem Buch Les systèmes socialistes: »La conception matérialiste de
l’histoire est, sous ce rapport, simplement la conception objective et scientifique de
l’histoire« (Paris, 1903, B.II, S.390).
63 Pareto, Lettere a Maffeo Pantaleoni, G. De Rosa (hrgs.), B II, Rom, 1960, S. 73.
64 Intellektuelle aus dem Umkreis von La Voce.
65 Noch 1925 wird Croce als Vorläufer des Faschismus bezeichnet. Vgl. die Artikel in
Gerarchia, eine Zeitschrift, die unter der direkten Kontrolle Mussolinis stand: Pellizzi
»L’ultimo della borghesia« in Gerarchia, II, 1923; Giusso »Il fascismo e Benedetto
Croce«, in Gerarchia, III, 1924; und auch: Saitta, »Controriforma« in Vita nova, 8 Au-
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gust, 1925. Eine interessante Analyse dieses Themas findet sich bei Garin, Cronache di
filosofia ..., op.cit., S. 275 ff.
La Voce war Nachfolgerin der 1903 gegründeten Zeitschrift Leonardo: beide hatten die
gleiche philosophische Grundlage - die Erarbeitung des Idealismus - und die gleichen
Mitarbeiter - Papini und Prezzolini. In diesen Jahren förderte die Gründung vieler
Zeischriften (Il Regno von Corradini und Papini 1903; Hermes von Borghese 1903;
L’anima von Giovanni Amendola 1911) die Diskussion zwischen jungen Intellektuellen
und führte die philosophische europäische Debatte in der italienischen Kultur ein.
Gramsci, Letteratura e vita nazionale, Einaudi, Torino, 1950, S.7-8.
Croce, Teoria e storia della storiografia, Bari, 19486, S. 75.
Papini, »Discorso di Roma«, in: G. Scalia (Hrsg.), La cultura italiana del 900 attraverso
le riviste, B.IV, »Lacerba« »La voce« (1914-1916), Torino, 1961, S.140 ff.
Vgl. Corradini, »La morale della guerra« in: ders., La rinascita nazionale, Firenze, 1929,
S. 184.
Die nationalistische Bewegung wurde 1910 auf einem Kongreß in Florenz gegründet.
Corradini, Discorsi politici Vallecchi, Firenze, 1923, S. 117 (jetzt in Corradini, La rinascita nazionale ..., op.cit., S.155).
U.a. Arturo Labriola, Sergio Panunzio, Alceste De Ambris, Enrico Leone, Massimo
Rocca, Ottavio Dinale.
Vgl. Sorel, Réflexions sur la violence, Paris, 1950.
Vgl. Marinetti, »Guerra sola igiene del mondo«, in: ders., Teoria e invenzione ..., op.cit.,
S.284.
Ebenda.
Hier werden die Interpretationen des Marxismus von vielen bedeutenden Autoren, wie
Salvemini, Fortunato, Mondolfo, Colaianni, Gramsci usw. nicht erwähnt, meine Untersuchung soll primär die Stellung und die Kämpfe der jungen subversiven Generation mit
den akademischen und anerkannten Intellektuellen der vorherigen Generation rekonstruieren.
Bobbio, Profilo ideologico ..., op.cit., S.68.
B. Croce, »Sulla forma scientifica del materialismo storico«, in: ders., Materialismo
storico ed economia marxista, Bari, 1927, S. 17 ff.
Croce, »Sulla forma scientifica del materialismo storico« (Mai 1896), jetzt in: ders.,
Materialismo storico ed economia marxistica, S. 10.
Die Literatur zu Gentile ist sehr reichhaltig; erwähnt seien hier: U. Spirito, Note sul pensiero di G. Gentile, Firenze, 1954; A. Del Noce, »Appunti sul primo Gentile« in: Giornale critico di filosofia italiana, Okt./Dez. 1964; Ders. »L’idea del Risorgimento come
categoria filosofica. G. Gentile«, Ebda., Apr./Juni 1968; U. Spirito, »Giovanni Gentile, la
vita e il pensiero«, in: Due giornate di studio sul pensiero di G. Gentile, Firenze, 1968;
H.S. Harris, La filosofia sociale di G. Gentile, Roma, 1973; S. Romano, Giovanni Gentile,
la filosofia al potere, Milano, 1984; Garin, Cronache di filosofia ..., op.cit.; Stuart Hughes, Consciousness and society ..., op.cit; G. Turi, Giovanni Gentile, una biografia, Bologna, 1995.
82 Vgl. Gentile, »La concezione materialistica della storia è una filosofia della storia ?« in:
ders., La filosofia di Marx«, (1899), 1974, Firenze, S. 32 ff.; »Studi filosofici su Carlo
Marx«, Ebd., S. 61 ff., Brief von Gentile an Croce, vom 17. Januar 1897, Ebd., S. 175 ff.
83 Vgl. Garin, »Introduzione«, in G. Gentile, Opere filosofiche ..., op.cit., S. 29 ff.
84 Croce, Ebd., S.162.
85 Croce, »Fede e programmi«(1911), in: Cultura e vita morale, Bari, 1955, S. 163.
86 Grundlegend war der Gedanke, daß die Souveränität immer von der Monarchie vertreten
werde, so daß die faschistische Revolution nur eine neue politische Orientierung der vorherigen herrschenden Kräften dargestellt habe.
87 Arturo Labriola, »Syndicalisme et réformisme«, in: Le mouvement socialiste, N. 168-169,
15. Dez. 1905.
88 E. Leone, »Il plusvalore nell’edonismo e nel marxismo«, in: Il divenire sociale, 16. Juli
1907.
89 Marinetti, »Al di là del comunismo« (1920), in: ders., Teoria e invenzione ..., op.cit.,
S.422.
90 Marinetti auf der Konferenz »Il Futurismo e Novecento«, 1929, zitiert in De Maria: »Il
ruolo di Marinetti nella costruzione del futurismo«, in: De Felice, (Hrsg.), Futurismo,
cultura e politica, Studienkongreß in Venedig, Mai 1986 (Torino, 1988).
91 Pareto, Trattato di sociologia generale, Firenze, 1916, B.I, S. 28 ff.
92 Die Mitgliedschaft von Benedetto Croce und Gaetano Mosca, spätere Opponenten des
Faschismus, und des späteren faschistischen Philosophen Giovanni Gentile in der liberalen Partei stellt keinen Widerspruch zu diesen Haltungen dar: sie kritisierten den Parlamentarismus, der zu einer schwachen Regierung und Anarchie geführt habe und der nur
die ideologische Täuschung der Parteien sei, um die Massen für sich zu gewinnen; gleichzeitig predigten sie die freie Entwicklung der Individuen.
93 In einem Brief Croces an E. Pistelli vom 30. April 1923 (Croce, Epistolario, Band 1,
Napoli, 1967) behauptete er, Mussolini zu schätzen, aber daß der Faschismus das Gegenteil des Liberalismus sei. Andererseits sei für eine bestimmte Periode die Aussetzung der
Freiheit notwendig, wenn der Liberalismus degeneriert sei, so wie in Italien zwischen
1919 und 1922.
94 Croce nahm aber den demokratischen Institutionen gegenüber eine komplexere Haltung
ein: er predigte die Freiheit als höchsten moralischen Wert und kritisierte gleichzeitig die
Demokratie. Croce konnte womöglich gegen die Demokratie aber für die Freiheit sein,
weil sein politisches Modell dem liberalen Staat vor dem Faschismus entsprach, d.h. einem Staat mit einer Regierung durch eine aufgeklärte Elite, nicht mit einer der Massen. In
diesem System werde die Freiheit gesichert, aber nicht die materielle Gleichheit, die nach
Croce zur Massengesellschaft und zum entsprechenden Verlust der individuellen Identität
führe. Für eine unterschiedliche Interpretation Croces - als Vertreter der Demokratie - vgl.
Papa, Fascismo e cultura, Marsilio Padova 1978.
95 Mosca, Elementi di scienza politica, Bari, 1953, B.I, S.449.
96 Croce, »La mentalità massonica«, in: ders., Cultura e vita morale, Bari, 1926, S. 146.
97 Croce, Pagine sparse, Napoli, 1943, B.II, S. 147.
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98 In diesem Zusammenhang ist Croces Interview in »Giornale d’Italia« vom 27. Oktober
1923 interessant, in dem er seine Treue zum Liberalismus behauptet, aber gleichzeitig den
Faschismus rechtfertigt, da er endlich die Schwäche der derzeitigen Politik beende. Nach
Croce hätte sogar die Frage nach der Regierungsform keine Bedeutung, denn »alle Staaten sind ein einziger Staat, alle Regierungen sind nur eine Regierung: jene der Gruppe, die
beherrscht und die Mehrheit regiert«; damit verweist er auf das Denken Paretos. Deswegen existiere laut Croce »keine Frage des Faschismus oder des Liberalismus, sondern eine
reine Frage der politischen Stärke. Wo sind die Starken, die sich der jetzigen Regierung
entgegensetzen oder ihr nachfolgen? Ich sehe sie nicht. Andererseits beobachte ich eine
Angst vor der Wiederkehr der Anarchie von 1922. Ein vernünftiger Mensch kann jetzt
keine Veränderung wünschen.«
99 Bobbio, Profilo ideologico ..., op.cit., S.118.
100 Seine Überwindung sei durch den Begriff des »Akt des Denkens« möglich, verstanden als
Selbstbewußtsein des Subjekts und als primärer moralischer Akt: der Akt und gleichzeitig
das Denken seien so das Grundelement des Aktualismus. (Gentile, »Genesi e struttura
della società« (1945), in Opere (IX) Firenze, 1945, S.7) Dieser Freiheitsakt ist das Denken, in dem sich das Subjekt selbst als freier Mensch schafft und seinen Willen als sein
Erkennen begreift, so die Ethik begründend. »Wenn die Moralität autoctisi - oder Freiheit
- bedeutet, so liegt das moralische Gesetz jeder Äußerung des Geisteslebens zugrunde ...
Kein Mensch kann dieser moralischen Welt entfliehen, die in ihn dringt, wenn er im freien Feld der abstrakten Ideen oder seiner Phantasie Trost sucht ...« (Ebd. S. 7-8).
101 Die Nation, und zwar der Wille und das Selbstbewußtsein der Gemeinschaft - das Volk sei der Staat, und zwar der totale Staat.
102 G. Gentile, »Genesi e struttura della società«, in Opere ..., op.cit., S.67.
103 Gentile »Diritto e politica«, in: Fondamenti della filosofia del diritto, Firenze 1937,
S.129.
104 G. Gentile, »Che cos’è il Fascismo«, in: Opere (XLV), Firenze, 1990, S.36.
105 G. Gentile, »Che cos’è il fascismo«; in Opere (XLV), ..., op.cit. S. 171.
106 Auch die Biographie Gentiles kann teilweise mit seiner Auffassung der Kontinuität des
Faschismus mit den politischen Traditionen Italiens verbunden werden. Gentile war wie
Croce vor seiner Mitgliedschaft in der faschistischen Partei ein Liberaler und fing 1922
als liberaler Minister an, das italienische Bildungssystem zu reformieren. Erst 1923 wurde
er Faschist, und seitdem war sein Leben mit der Entwicklung des Faschismus verbunden.
Vgl. u.a.: S.H. Harris, La filosofia sociale di G. Gentile, Roma 1973; G. Turi, Giovanni
Gentile. Una biografia, Firenze, 1995.
107 Was Sternhell in La naissance de l’odélogie fasciste (op.cit.) als »passive Revolution«
bezeichnete.
108 Papini, »Intorno ai Murri«, in: Il regno, 22 Oktober 1904.
109 Corradini »Come si forma la borghesia« in: ders., La rinascita nazionale ..., op.cit.,
S. 209 ff.
110 Ebenda., S. 154.
111 Arturo Labriola, Riforme e rivoluzione sociale, 1906, Lugano, S. 214.
96
Marinetti, Manifesto tecnico della letteratura futurista, 1912.
Marinetti, »Al di là del comunismo« (1920), in: ders., Teoria e invenzione ..., op.cit.
Croce, »Scienza e università«, in: La critica, IV, 1906.
Ebenda.
Papini, »L’altra metà. Saggio di filosofia mefistofelica« in Tutte le opere, B.II: »Filosofia
e Letteratura«, Milano, 1961, S.192.
117 Vgl. Marinetti, »Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà«
(1913), in: Marinetti, Teoria e invenzione ..., op.cit., S.57.
118 Vgl. Marinetti »Uccidiamo il chiaro di luna!« (1909) in: Ebda., S.13.
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Die Integralisten
Die radikalen Intellektuellen im Faschismus von 1924 bis 1925
Im letzten Kapitel wurden die Bedingungen für die Geburt der integralistischen Randströmung innerhalb des Faschismus, also vor dem Hintergrund
der Vielfältigkeit und manchmal Widersprüchlichkeit der ideologischen
Grundelemente des Faschismus von 1919, untersucht. Ab 1920 wird die
Bewegung des Faschismus im politischen Feld von den extremen Positionen
hin zu konservativen und moderateren Positionen, welche die Interessen der
Industrie und der alten herrschenden Klassen widerspiegeln, immer deutlicher. Auf diese Art und Weise wird der »ursprüngliche« faschistische Geist,
der durch die von Roberto Farinacci dominierte Randbewegung der intransigenti vertreten wurde, an den Rand gedrängt und in eine innere Kritik am
Regime zur Wiederherstellung der »Reinheit« des ursprünglichen Faschismus verwandelt.
Die Entwicklung im intellektuellen zeigt einige Ähnlichkeiten mit dem
politischen Feld. Alle Intellektuellen zu Anfang des Jahrhunderts – von Gentile bis Croce, von den Futuristen bis zu den vociani – übten Kritik an der
alten Gesellschaft und strebten nach der Erneuerung der kulturellen und akademischen Institutionen. Dieser Anspruch verkörperte sich in der neuen Idee
des totalen politischen Engagements des Intellektuellen, das die liberale
Trennung zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik aufhob. Außerdem
führten die gemeinsamen Themen der Revolte und der Revolution in der
Politik und in der Kultur sowie die Teilnahme der Intellektuellen am politischen Leben zu einer Intensivierung der Wechselwirkungen zwischen dem
intellektuellen und dem politischen Feld. Nach und nach wurden aber mit der
Wendung des Faschismus nach rechts die »extremen« Vertreter der totalen
Revolution – die Futuristen und die Syndikalisten – »marginalisiert«, während das intellektuelle Feld durch die Unterdrückung der antifaschistischen
Presse und die Unterstützung einiger Strömungen – wie des Aktualismus von
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Gentile durch dessen Ernennung zum Bildungsminister – immer heteronomer vom politischen Feld wurde. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie
die extremen Flügel entweder absorbiert oder an den Rand gedrängt wurden,
warum die Futuristen auf jeden Versuch verzichteten, ein politisches Projekt
zu vertreten, und wieso jene unter ihnen, die ihre politisch-kulturelle Rolle
als futuristische Intellektuelle weiterspielten, zu einer marginalen Position
verurteilt waren.
In diesem Kapitel wird deswegen das Forschungsgebiet auf die Untersuchung der internen Spaltung der intransigenti im politischen und jener der
integralisti im intellektuellen Feld eingeschränkt: Thema sind hier nur jene
Kulturexponenten und Gruppen, welche das anfängliche Erneuerungsprojekt
und das revolutionäre Streben innerhalb des Faschismus weiterhin vertraten,
sowie die Wechselwirkungen zwischen den Randbewegungen des intellektuellen und des politischen Feldes. Außerdem waren die hier betrachteten Intellektuellen durch ihre Position als interne Opponenten und Kritiker des
Faschismus gekennzeichnet und wurden deshalb von Mussolini »bestraft«.
Das politische Feld innerhalb des Faschismus von 1924-25
Aus dem unbestimmten Charakter der faschistischen Doktrin und ihrem geringen Formalisierungsniveau folgten die Schwankungen des Faschismus,
der durch Kompromisse mit unterschiedlichen Kräften eine »neue Front«
bildete. Der Faschismus konnte zuerst nur als Bewegung und nicht als Partei
funktionieren, die immer nur auf neue politischen Situationen reagierte und
immer neuer Anpassungen und Veränderungen bedurfte. Die Konsolidierung
dieser Front fand sich insbesondere ab 1925 in der reinen Personifizierung
des Staates in Mussolini und nicht in einer politischen oder ideologischen
Linie. Die zur Bildung der Bewegung notwendigen Schwankungen führten
gleichzeitig zu Spaltungen sowohl innerhalb der faschistischen Bewegung,
so die zwischen den normalizzatori und intransigenti, wie auch in den anderen Parteien, den Liberalen, Nationalisten und Demokraten, da die reale
»Identität« des Faschismus einem großen Teil der politischen Repräsentanten
noch nicht klar war.
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Als Mussolini im Jahr 1922 die Macht eroberte, besaß er die Unterstützung der intransigenti, des lokalen squadrismo, eines Teils der Freimaurerlogen, einiger ursprünglicher Faschisten (Futuristen, revolutionäre Syndikalisten, Nationalisten), der Kleinbürger und von Teilen der Industrie. Im Laufe
der ersten Monate der Regierung Mussolinis stieg die Anzahl der Parteimitglieder stark an1; die »neuen« Faschisten waren ein Produkt des Klientelismus und der Korruption der lokalen Machtsysteme, und viele hatten den
Faschismus nicht aus politischen Überzeugungen, sondern wegen ihres persönlichen Vorteils gewählt.
Diese »neuen Faschisten« wurden fiancheggiatori genannt; sie rekrutierten sich aus Agrariern, welche nicht auf die faschistische Unterstützung und
den Schutz vor sozialistischen und kommunistischen Organisationen verzichten wollten und das Ende der Regierung Mussolinis wegen der daraus
resultierenden gefährlichen Stärkung der linken Parteien fürchteten, aus einem Teil der Katholiken, die sich von der PPI (der von Don Sturzo gegründeten Partito Popolare Italiano) nicht vertreten lassen wollten und, wie der
Vatikan selbst, dem Faschismus stillschweigend Unterstützung boten, und
aus Vertretern der Industrie und der Banken, welche von den ökonomischen
Vorteilen einer stabilen politischen Situation profitieren wollten. Ihre politische Position war konservativ und von dem Wunsch nach politischer und
ökonomischer Stabilität geprägt, die der Faschismus erhalten sollte; sie waren ursprünglich Anhänger der nationalistischen, konservativen und liberalen
Parteien gewesen.2 Ihre Unterstützung des Faschismus drückte letztlich die
gemeinsame Angst aus, der faschistische Zusammenbruch könne zum Kommunismus oder zur Anarchie und folglich zu ihrem ökonomischen und/oder
politischen Ruin führen. Deswegen fürchteten sie die illegale, außerparlamentarische, antifaschistische Opposition, die immer mehr nach einem Umsturz der herrschenden politischen Klassen und Institutionen rief – eingeschlossen der Monarchie. Teilweise stimmte der Unterschied zwischen den
»alten« und den »neuen« Faschisten mit jenem zwischen dem Kleinbürgertum und den herrschenden Klassen überein: Die ersten hatten zwar kein klares politisches Projekt oder eine Vision und waren auch durch interne Konflikte bezüglich der Machtergreifung in einigen Provinzen gespalten, zielten
jedoch insgesamt auf die Durchsetzung einer neuen politischen Elite; die
zweiten hingegen wollten den Faschismus in eine nationalistische und konservative Richtung steuern. Die Reaktion vieler »alter« Faschisten auf die
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Verbreiterung und Veränderung des Faschismus bestand entweder darin, die
Partei zu verlassen oder den »ursprünglichen« Charakter der Bewegung –
sein revolutionäres, antiliberales Streben – erhalten und verteidigen zu wollen und auf eine politische, revolutionäre Wende zu hoffen. Dies war die
Position von Roberto Farinacci, dem Führer der Bewegung der intransigenti
– »diejenigen, die keine Kompromisse schließen«.
Die chaotische Situation führte dazu, daß Mussolini wie immer versuchte,
zwischen gegensätzlichen politischen Strömungen ein schwieriges Gleichgewicht zu finden, das so recht niemanden befriedigte. Es ist nötig, hier die
drei großen, sich einander bekämpfenden Tendenzen innerhalb des Faschismus zu erwähnen: die normalizzatori, die revisionisti und die intransigenti.
Die normalizzatori, die direkt nach dem Marsch auf Rom auf der politischen Bühne erschienen, waren diejenigen, die Disziplin in der Partei und
Gehorsam gegenüber der faschistischen Hierarchie und der Regierung forderten, um die Einheit der Partei gegen die lokalen Machtzentren und den
peripheren, intransigenten Faschismus durchzusetzen. Gleichzeitig wollten
sie den Faschismus als politische Kraft innerhalb des existierenden politischen Systems etablieren, ohne dieses dabei radikal zu verändern oder gar zu
zerstören. Diese Strömung, die kein bestimmtes Programm der Erneuerung
des Faschismus unterstützte und sowohl aus Links- wie Rechtselementen des
Faschismus gebildet wurde, fand immer mehr in den fiancheggiatori ihre
Vertreter und hatte mit dem späteren Revisionismus nicht viel zu tun.
Letzterer begann im Jahr 1923 und dauerte bis 1926, als die totalitäre Regierung keine kritische Stimme innerhalb der Partei mehr duldete. Die Exponenten des Revisionismus – Massimo Rocca, Giuseppe Bottai und die Redaktion der von ihm geleiteten Zeitschrift »Critica fascista«, Filippo Filippelli und seine Zeitschrift »Corriere italiano«, »Il nuovo paese« von Bazzi
und »L’epoca« – erarbeiteten die Idee einer »moralischen Revolution«: Die
öffentliche und institutionelle Struktur sollte von Mussolini reformiert werden, aber die alten Institutionen nicht gänzlich zerstört, sondern gefestigt und
verbessert werden. Die Regierung Mussolinis sei eine »erklärte Despotie«,
deren Funktion die Erneuerung der Politik sein und die, laut Massimo Rocca,
auch nicht unbedingt länger dauern sollte. Diese Position, die Mussolini im
Jahr 1923 offiziös unterstützte3, um die Treue und den Konsens der existierenden Parteien und Institutionen zu behalten, stieß auf die starke Opposition
der von Farinacci geleiteten intransigenti, die zu jener Zeit eine wichtige
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Rolle in der Partei spielten. Der Kampf zwischen den revisionisti und den
intransigenti begann in der Zeitschrift »Critica fascista« im September 1923
mit einem starken Angriff gegen den lokalen4 und intransigenten Faschismus. Insbesondere nach Massimo Rocca »sollte die faschistische Revolution
von den Faschisten für ganz Italien und nicht für die Faschisten geführt
[werden] ... Die von irgendwelchen provinziellen Mächten und persönlichem
Ehrgeiz durchgesetzte formelle Disziplin ... wird nicht genügen, um den
Fehler zu vermeiden, der den Mißerfolg der Sozialisten verursachte: die Opposition gegen die Kultur, die technische Fähigkeit und die Intelligenz. Sie
wird nicht genügen, um die Trennung – steril und todbringend für die Partei
– zwischen der Partei und dem Land und, langfristig, notwendigerweise zwischen der Partei und der Regierung [aufzuheben]«.5 Dieser Angriff gegen die
eigene Partei führte zu einer Reaktion einiger Exponenten der intransigenti –
insbesondere von Farinacci – und zur späteren Entscheidung, Rocca aus der
PNF auszuschließen.6
Die interne Opposition wurde aber durch den Ausschluß des Führers der
revisionisti nicht beseitigt, weil die prinzipielle Auseinandersetzung zwischen revisionisti, fiancheggiatori und intransigenti immer stärker wurde –
insbesondere nach 1924, als Mussolini ein Bündnis mit anderen Parteien und
politischen Gruppen eingegangen war, um die Wahlen zu gewinnen. In der
Tat hatte Mussolinis Politik zwischen dem Marsch auf Rom und 1924 nicht
auf die Bildung einer faschistischen Regierung gezielt, sondern auf eine
Kollaboration mit den existierenden politischen Kräften, um eine breite Koalition zu verwirklichen. Deswegen fürchtete Mussolini einige intransigenti
und extreme Komponenten seiner Partei, die keine Kompromisse mit irgendwelchen Vertretern des alten Systems schließen wollten, und stützte sich
auf die fiancheggiatori und die revisionisti.
Die Opposition der intransigenti gegen Mussolini läßt sich als Reaktion
auf die Veränderung seiner politischen Position erklären. Ihre Ideen lassen
sich in einigen Punkten zusammenfassen: Sie forderten die Stärkung der
Partei, indem sie sich für deren »Reinheit« aussprachen; sie wollten, daß die
Partei eine eigene Miliz besäße; sie waren antiklerikal; die Regierung sollte
ausschließlich aus »alten« Faschisten bestehen und sie riefen nach einer starken Unterdrückung der Oppositionspresse.
Die Politik Farinaccis zielte darauf, die Reinheit der »faschistischen
Grundprinzipien« wiederherzustellen: Weder die Kompromisse mit den
102
ehemaligen Liberalen oder Demokraten, noch jene mit den konservativen
Unterstützern der Monarchie und den Nationalisten sollten die Natur des
Faschismus verändern, selbst wenn diese unbeugsame Linie der Intransigenz
eine gefährliche Auseinandersetzung mit der Mehrheit des Parlaments bedeutet hätte. Dem »integralen Faschismus«, wie der Schriftsteller Curzio
Suckert die kulturelle Version des Intransigentismo nannte, lag die Weiterentwicklung der faschistischen Revolution zugrunde, welche die radikale
Zerstörung des alten Systems ohne Rücksicht auf die Legalität mit sich
brachte. Die Basis der intransigenti waren die Sturmtruppen des squadrismo,
der illegale Methoden zur Unterdrückung der Opponenten anwendete; sein
Programm führte zur Regierung lokaler Parteigruppen und zur Unterordnung
des Staates unter die faschistische Partei – und zwar unter die originären
Mitglieder der faschistischen Bewegung. Für sie bedeutete die Unterstützung
der fiancheggiatori eine Gefahr für die Integrität der faschistischen Doktrin
und die Politik Mussolinis, den Staat durch Kompromisse mit anderen Kräften zu regieren und die revolutionären und illegalen Methoden des frühen
Faschismus abzulehnen, das Ende der Bewegung.
»Da liegt« – behauptete Farinacci in »Oggi siamo tutti fascisti«7 schon im
Jahre 1922 – »die Gefahr: bei den Freunden der letzen Zeit – der Presse wie
den Menschen; bei den späteren Helden; ... bei den falschen Freunden oder
versteckten Feinden von gestern, die heute die wärmsten Freunde sind, und
morgen die schlechten [falschen] Berater sein werden. Notwendigerweise
soll sich der Faschismus vor solcher – schlimmsten – Gefahr rechtzeitig in
Acht nehmen. Diese Vorsorge – ... bildet die Grundlage, um seine ursprüngliche Stärke und seine Flexibilität zu erhalten und seine Märtyrer und seinen
Erfolg nicht zu betrügen. Es ist notwendig, daß das wandlungsfähige Tier des
alten duckmäuserischen Konservatismus zerstört wird; daß die alte Klientel
kontrolliert ... und hauptsächlich entfernt wird; es ist notwendig, daß niemand dank des Faschismus ... seine alten sündigen Gewohnheiten weiter
treibt. Der Sieg muß integral sein, indem er nicht nur zur Erneuerung der
herrschenden Stände und deswegen zur kompletten Wiederaufwertung des
Geistes der nationalen Stärke führe, sondern auch eine vollständige, breite
Erneuerungsbewegung der lebendigen Zentren des Nervensystems der Nation im moralischen Bereich beginne.«
Die Wahlen vom 6. April 1924 stellten für Mussolini eine wichtige Herausforderung dar: Sie sollten seine Position innerhalb der Partei stärken und
103
die liberal-demokratischen Kräfte für den Faschismus gewinnen. Diese, insbesondere die liberale Partei, hatten zwar noch keine klare Opposition gegen
Mussolini gebildet, aber ihre Unterstützung war davon abhängig, ob Mussolini die gewalttätigen und revolutionären Komponenten aus seiner Partei
entfernen und tatsächlich die Normalisierung des Faschismus innerhalb des
vorherigen politischen Systems – d.h. die Verwandlung des Faschismus in
eine parlamentarische Partei – durchführen würde. So dachten viele Liberale,
etwa Croce und einer der bedeutendsten Regierungschefs Italiens vor Mussolini, Giovanni Giolitti. Wie Croce in einem Interview mit dem »Corriere
italiano«8 erklärte, sollten die Wahlen »eine Rückkehr ... in die Legalität«
einleiten. Aus Giolittis Sicht benötigte »Italien vor allem, daß die Autorität
des Staates fest bleibe und die Herrschaft des Gesetztes absolut [sei]«.9 Ein
Teil der Liberalen10 befürwortete die Politik Mussolinis sogar noch stärker,
immer aber unter der Bedingung, daß Mussolini die extremen Komponenten
seiner Partei entferne. Mussolini antwortete auf diese Forderung mit seiner
Rede vom 28. Januar 1924, in der er die Notwendigkeit der »Verbannung«
der ursprünglichen extremen ideologischen und militärischen Elemente und
gleichzeitig der Zusammenarbeit mit allen anderen politischen Kräfte –
Kommunisten und Sozialisten natürlich ausgeschlossen – unterstrich.11
Mussolini hatte damit Erfolg: Der für die Wahl gebildeten sogenannten
listone12 schlossen sich die Faschisten, die Nationalisten und die Liberalen
an, während die Linksparteien – Sozialistische Partei (PS), Sozialistische
Unitäre Partei (PSU), Kommunistische Partei (PCdI) -, die katholische Partei
PPI und die Sozialdemokraten von Colonna di Cesarò die Opposition bildeten. Die Atmosphäre der Wahlen war gespannt und durch viele gewalttätige
Übergriffe der Faschisten gekennzeichnet, obwohl Mussolini die Beachtung
der Gesetze und die Ablehnung der Gewalt gepredigt hatte.13 Die Faschisten
gewannen, wenngleich auch die Linksopposition gestärkt aus den Wahlen
hervorging.
Das erste Ereignis, das die beginnende Trennung innerhalb der faschistischen Regierung zeigte, war die Polemik der intransigenti gegen die von
Giovanni Gentile erarbeitete Schlußakte der achtzehnköpfigen Kommission
vom 31. Januar 1925. Diese Kommission wurde von Mussolini als Verfassungsmaßnahme zur Reform des Statuto Albertino (der damaligen Verfassung) und zur Konsolidierung des totalitären Staates eingerichtet. Sie bestand
zum größten Teil aus Konservativen, aus den fiancheggiatori, die zwar eine
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Verstärkung der Exekutive zum Nachteil der Legislative forderten, aber andererseits die Regierungsautonomie teilweise beschränken wollten, um die
monarchische Gewalt zu schützen. Die Intention der Kommission war, eine
Art Normalisierung des Faschismus zu erreichen, seine revolutionären und
antikonservativen Tendenzen zu eliminieren, die Macht Mussolinis zu reduzieren und die monarchische Macht zu restaurieren. Die Schlußakte der
Kommission (5. Juli 1925) lautete: »[Die Kommission] hat nie gedacht, daß
der aus der Revolution des Risorgimento gebildete italienische Staat umgestürzt werden sollte. Und so hat sie geglaubt, der treue Interpret des Geistes
des Faschismus zu sein, der geboren ist, um aufzubauen, nicht um zu zerstören. Sie ist davon überzeugt, daß der Staat des Risorgimento und der ruhmreichen nationalen Monarchie ... wegen der Kraft der jedem italienischen
Herzen heiligen Tradition ein zu achtendes, festes Gebilde ist, eine feste
Grundlage, auf welcher der Staat der faschistischen Revolution gebildet werden sollte. ... Deshalb hat die Kommission ... geglaubt, sich darauf beschränken zu müssen, die alte und ehrwürdige Verfassungsbasis des italienischen
Staates von den ihm langsam durch die Korruption des parlamentarischen
Systems auferlegten Strukturen ... zu befreien ».14
Giovanni Gentiles hier dargestellte politische Vision, der sich die Tendenz der zweiten Welle des squadrismo entgegensetzte, gewann die Unterstützung einiger moderater faschistischer Gruppen wie der revisionisti, wurde aber andererseits von einflußreichen radikalen Politikern und Intellektuellen aufgrund der konservativen Auffassung Gentiles stark kritisiert. Insbesondere die intransigenti lehnten sich gegen sie auf, da die Normalisierung
die Reduktion des Faschismus auf eine beliebige politische Partei bedeutete;
und Farinacci eröffnete die Polemik in seiner Zeitschrift »Cremona nuova«.
Die Opposition sollte sofort zerstört und die Illegalität des squadrismo legal
werden: »(…) solange die Situation, derentwegen unsere Revolution ausgebrochen ist, bestehen bleibt, ist unsere faschistische Gewalt unvermeidbar; es
ist nötig, daß die illegalen Taten nicht mehr gebraucht werden, um sie zu
beenden; daß die vom Faschismus geschaffene staatliche Gewalt als das gilt,
was sie ist, d.h. daß sie die Auffassung des idealen Kerns der Revolution
verwirklicht und sie das legal … eliminiert, was ihre Negation ist. Es ist
nötig, die Illegalität zu legalisieren.«15
Curzio Suckert, Vertreter des Integralismus, erklärte dem normalisierenden Versuch Gentiles, die faschistische Revolution innerhalb der Verfas105
sungsregeln und Prinzipien des monarchischen Staats zu beschränken und
diesen in den Wächter des liberalen Staats zu verwandeln, den Krieg. Die
Kräfte der klerikalen, nationalen und moderaten Fraktionen seien das wirkliche Hindernis bei einer »Eroberung des Staates« durch den Faschismus, die
nur unter Teilnahme der »Völker der Provinzen« an den politischen Entscheidungen erfolgreich sein könne.16 Einige Monate nach dieser Polemik
durchlebte die Regierung Mussolinis eine starke Krise, welche ihre Existenz
bedrohte: die Affäre Matteotti. Am 30. Mai 1924 attackierte der sozialistische Deputierte Giacomo Matteotti den Faschismus und erklärte seinen Willen, eine aktive Opposition zu führen; 11 Tage später wurde er entführt und
ermordet. Das Parlament und die öffentliche Meinung waren von diesem
Mord schockiert und die Deputierten der Opposition protestierten, indem sie
nicht mehr an den parlamentarischen Sitzungen teilnahmen, was als die »Sezession des Aventino« bezeichnet wurde. Sogar die konservativen Elemente
des Faschismus – die fiancheggiatori, die Industrie und die Ex-Liberalen –
begannen, sich vom Faschismus zu distanzieren.17 Aber weder von der Opposition – die sich in der Unione nazionale delle forze nazionali e democratiche zusammengeschlossen hatte – noch von der Zivilgesellschaft ging ein
echter Impuls aus, die faschistische Regierung zu stürzen.
Das Fehlen einer zielgerichteten Aktion der Opposition ging mit der Unterstützung der Regierung Mussolinis durch den Senat einher, der sich im
wesentlichen aus liberalen und nicht-faschistischen Elementen zusammensetzte. Senator Croce stimmte ebenfalls für Mussolini und erklärte seine
Entscheidung in einem Interview mit dem »Popolo d’Italia« am 10. Juli 1924
so: »Man konnte nicht erwarten und auch nicht wünschen, daß der Faschismus plötzlich zusammenbricht. Er war weder eine Vernarrtheit noch ein
Spiel. Er hat auf viele ernste Bedürfnisse geantwortet und viel Gutes getan,
wie jeder unparteiische Geist zugibt. Er kam mit der Zustimmung der Nation
voran. ... Es ist also nötig, dem Veränderungsprozeß Zeit zu lassen. Dies ist
die Bedeutung der vorsichtigen und patriotischen Wahl des Senats.«18
Die Haltung Croces ist exemplarisch für die Meinung vieler liberaler und
konservativer Kräfte, die nicht faschistisch waren, aber eine »schlimmere
Revolution« fürchteten – die Anarchie oder den Kommunismus -, die den
Zusammenbruch des Faschismus mitsamt der traditionellen Institutionen zur
Folge gehabt hätte. Außerdem vertrat ein Teil des Faschismus, dem auch
Mussolini angehörte, die ökonomischen und politischen Interessen dieser
106
Gruppen, welche den Faschismus nur unter der Bedingung rückhaltlos unterstützten, daß Mussolini die intransigenti und die squadre unterdrückte und
entfernte.
Zum Druck dieser unorganisierten Opposition kam aus einer ganz anderen Richtung der Protest der intransigenti, die nach einer starken, gewalttätigen Unterdrückung der Andersdenkenden riefen: Sie attackierten die nach
Frieden strebende Linie Mussolinis, revoltierten gegen die fiancheggiatori
und die »neuen Faschisten« und sahen in Farinacci ihren Führer und ihr Vorbild. Nicht nur die squadristi, sondern auch einige Ex-Futuristen nahmen an
diesem »extremistischen Kartell« teil: die extrem rechten Mario Carli und
Emilio Settimelli und die extrem linken Mino Maccari und Kurt Suckert.
Im Januar 1925 entschied sich Mussolini jedoch für die intransigenti, indem er seine starke politische Position nach dem Mord an Matteotti durch
die Unterstützung der »Extremisten« rechtfertigte und verstärkte. Mit der
berühmten Rede vom 3. Januar 1925, in der er den totalitären Staat ausrief,
stellte sich Mussolini auf die Seite der intransigenti: »Wenn der Faschismus
nur Rizinusöl und Knüppel gewesen ist, und nicht eine höchste Leidenschaft
der besten italienischen Jugend, so ist es meine Schuld! Wenn der Faschismus eine Verbrecherbande ist, bin ich der Führer dieser Verbrecherbande!«
So forderte Mussolini das Parlament heraus, das ihn daraufhin ein weiteres
Mal unterstützte. Nach dieser Rede wurden die ersten Gesetze gegen die
Freiheit erlassen; sie ermöglichten die Schließung politisch »verdächtiger«
Treffpunkte, das Verbot für die Regierung gefährlicher Organisationen sowie
die Überwachung der Kommunisten und »Umstürzler«.19
Von diesem Moment an entstand eine stärkere Opposition gegen den Faschismus: Einige Politiker und Intellektuelle bildeten eine antifaschistische,
politische und kulturelle Gegenfront. Diese Opposition verstärkte die illegale
Opposition der antifaschistischen (kommunistischen und sozialistischen)
Intellektuellen, die sich in unterschiedlichen Gruppen organisiert hatten: die
Gruppe Non mollare20; jene von Piero Gobetti und später von Carlo Rosselli
und Pietro Nenni geleitete linksoppositionelle Gruppe (mit den Zeitschriften
»Rivoluzione liberale« und »Quarto Stato«) und die Gruppe Rinascita liberale (liberale Wiedergeburt) von A. Tino und A. Zanetti.
Aber auch innerhalb des Faschismus hatte dieses bedeutende Ereignis
weitreichende Folgen, insbesondere was den Konflikt der fiancheggiatori
und revisionisti mit den intransigenti betraf. Farinacci hatte sich während der
107
Matteotti-Krise von Beginn an mit seiner Position gegen die »Normalisierung« des Faschismus, gegen die Wiederherstellung der Legalität und des
parlamentarischen Systems als der »wahre Faschist« profiliert, der die Feinde
des Faschismus – die schwankenden und betrügerischen fiancheggiatori –
erkannt hatte und die faschistische Machteroberung bis zur kompletten Veränderung der Gesellschaft im faschistischen Sinn weiterführen wollte – was
die totale fascistizzazione genannt wurde. Statt wie viele faschistische Elemente die Frage nach der Legalität der faschistischen Methoden zu stellen,
predigte er die totale Revolution, die mit dem Jahr 1922 nicht zu Ende sein
sollte: Die »zweite Welle« (seconda ondata) sollte den intransigenti gemäß
noch kommen und dazu führen, daß jeder politische und soziale Raum von
der faschistischen Partei – nicht vom faschistischen Staat, wie in der Doktrin
Mussolinis und Gentiles – kontrolliert würde. Die Partei zu verteidigen bedeutete, die Eigenschaften der ursprünglichen faschistischen Bewegung zu
schützen und zu erhalten. Nur die Partei und ihre militärische und hierarchische Organisation, welche die ursprüngliche faschistische Revolution verteidigte und vertrat, sollte das politisch-soziale Leben bestimmen; auch Mussolini sollte immer nur ein Vertreter des Willens der Partei bleiben und seine
politischen Entscheidungen immer von der Basis des sogenannten »historischen Faschismus« abhängig machen.
Unter »historischem Faschismus« verstand der Farinacci nahe stehende
Schriftsteller Curzio Suckert die ursprünglich in der Provinz verwurzelte
faschistische Bewegung mit ihrem Reinheitscharakter und ihrer Ablehnung
jeglicher Kompromisse, die sich dem »politischen Faschismus« – dem korrupten Faschismus »aus Rom« -, der kein Ideal und Erneuerungsprojekt darstellte, widersetzte: »Der Faschismus ist von zwei Arten: die erste ist historisch, traditionell und deswegen revolutionär, von den Provinzen vertreten ...
die letzte ist politisch, zufällig, von Rom und König Umberto I. ... vertreten;
diese [Art] wird von ... der Mentalität des Cafés, der Kompromisse, der
Kombination, der Spekulation, des Opportunismus, und schließlich von der
[Mentalität] des Parlaments und der Ministerien beeinflußt, die dem Ernst,
der Großzügigkeit und der heldischen Naivität der Provinzen entgegensteht.«21
Die während der Matteotti-Krise besonders häufigen Diskussionen im
Parlament und in der faschistischen Partei über die Staatsform oder politische
und juristische Prinzipien wurden von Farinacci und einigen ihm naheste108
henden Intellektuellen, die nach der integralen faschistischen Revolution
strebten, als eine Form der veralteten, abstrakten akademischen Argumentation abgelehnt, welche in der faschistischen »neuen Welt«, in der nur die
Aktion zählte, abgeschafft werden sollte. »Die Propaganda der Treue und der
Tat sind das Leben der Partei.« – erklärte Farinacci 1925 – » ... zum Lobpreis
und zur Verherrlichung des neuen Lebens des italienischen Volkes, gehorchten wir zwei Forderungen: Die Bedeutung der Abneigung [des Volkes]
gegen den Intellektualismus sollte klar werden und die Partei sollte die müßige Gefälligkeit der akademischen und abstrakten Diskussionen vermeiden
... Einige wenige klare Ideen, eine grundsätzliche Bewußtheit unserer historischen und geistigen Orientierung, die Begeisterung für die konkreten Probleme, welche Pflichten unseres nationalen Lebens sind: Dies sind die Kriterien, denen wir gefolgt sind und denen wir treu bleiben. Und hauptsächlich
wurde der falsche Begriff der unparteiischen, neutralen, dem Leben und der
Lebensauffassung übergeordneten liberalen Wissenschaft mit Gewalt abgelehnt und verachtet«.22
Trotz der totalitären Wende vom Januar 1925 blieb die Strategie Mussolinis grundsätzlich unverändert: Er strebte weiter nach einem Konsens mit
den Konservativen, was schließlich die Ausstoßung der intransigentiKomponente mit sich brachte. Die alte Bürokratie und die politisch konservative und liberale Klasse hatten den Faschismus auch in den kritischen
Momenten unterstützt, aber nicht aus politischer Überzeugung, sondern nur
um ihre Position im Staat zu sichern. Aus diesem Grund »wurden sie in der
Form vom Faschismus ›faschistisiert‹, aber in der Substanz schafften sie es,
den Faschismus zu ›entrevolutionalisieren‹, ihn in den meisten Fällen in ihr
Instrument zu verwandeln und den größten Teil [des Faschismus] in die konservative Tradition einzugliedern.«23 Um die konservativen Kräfte – die
klerikalen, nationalistischen und moderaten Gruppen – zu beruhigen, war es
nötig, Farinacci und die intransigenti zu opfern: Die Ernennung Farinaccis
zum Vorsitzenden der faschistischen Partei 1925, die den Kern der intransigenti einschloß, diente seiner Neutralisierung, da Farinacci dem Regime
Ordnung und Gehorsam in der PNF sichern sollte, was zur Folge hatte, daß
Farinacci sich seinen alten Gefolgsleuten entgegenstellen mußte.
Die Frage der faschistischen Gewalt des squadrismo, die offiziell von
Mussolini abgelehnt und von Farinacci offiziös gerechtfertigt wurde24, bot
Mussolini Gelegenheit, seinen internen Feind politisch endgültig zu ver109
nichten. In der Toskana waren einige mit Farinacci eng verbundene extreme
Gruppen des squadrismo tätig, die sogenannten »Wilden« (selvaggi) von
Poggibonsi, Colle Val D’Elsa, Siena und Garfagnana, deren revolutionäres
und nonkonformistisches Verhalten in Maccaris Zeitschrift »Il Selvaggio«
auf kulturellem und ideologischem Niveau mitgetragen wurde. Der Angriff
dieser Gruppe auf die Freimaurerloge am 3. Oktober 1925 und der darauffolgende Tod einiger Faschisten verursachten eine Reihe gewalttätiger Attacken
der Faschisten, die zu einer Auseinandersetzung zwischen Mussolini und
Farinacci während des Gran Consiglio (5. Oktober 1925) führten, bei dem
Farinacci gezwungen wurde, beim nächsten nationalen Parteitag der PNF
drei Maßnahmen gegen den squadrismo in Kraft zu setzten: die Auflösung
der squadre, die Absorption der Ex-squadristi durch die faschistische Miliz
und die Säuberung der Partei von solchen squadristi, die diesem Befehl nicht
gehorchten. Farinacci verlor damit die Unterstützung der »eigenen« intransigenti, stand aber gleichzeitig nach wie vor gegenüber dem Regime als unbequemer »Revolutionär« dar. Zugleich bedeutete die Auflösung des squadrismo mitsamt seiner kulturellen Strömung, d.h. der Gruppe der selvaggi,
daß einige revolutionäre Intellektuelle ihre Heimstatt verloren, in der sie bis
dahin ihre Kritik gegen das Regime entwickelt hatten.
Die Zeitspanne zwischen 1924 und 1925 brachte einen bedeutenden Umbruch in der Geschichte des Faschismus, da die antifaschistische Opposition
an die Öffentlichkeit trat und gleichzeitig die Strömungen innerhalb des Faschismus sich deutlicher artikulierten und problematischer wurden. Diese
beiden Veränderungen führten zu zwei Spaltungen: eine zwischen dem Faschismus und der Opposition, die andere innerhalb des Faschismus zwischen
den zwei prinzipiellen Richtungen der intransigenti und der fiancheggiatori.
Nicht nur das politische, sondern auch das intellektuelle Feld war von diesen
Spaltungen betroffen. Aus dieser Perspektive läßt sich die erste allgemeine
Auseinandersetzung der faschistischen und antifaschistischen Intellektuellen
sowie der Konflikt innerhalb des Faschismus zwischen den Intellektuellen,
welche die konservative Politik Mussolinis unterstützten, und den »radikalen
Integralisten« beobachten.
110
Die Spaltung des intellektuellen Universums
Manifesto und contromanifesto
Am 21. April 1925 wurde das Manifest der faschistischen Intellektuellen
verabschiedet, am Schlußtag der von Giovanni Gentile geleiteten Konferenz
über faschistische Kultur, die von Mussolini als Beginn der Bildung einer
solchen und einer faschistischen intellektuellen Elite initiiert worden war.25
Dieses Dokument26 postulierte kein spezifisches Programm, sondern wies
auf einige gemeinsame und allgemeine Diskussionsthemen der faschistischen
Intellektuellen hin: die Idee der Priorität des Staates dem Individuum gegenüber, die Darstellung des Faschismus als Religion und als moralische Bewegung, die Behauptung der Heimatkultur27 und der Kampf gegen den Liberalismus.28 Einige zweifelhafte Elemente blieben nach Gentiles Auffassung
erhalten, wie zum Beispiel der Widerspruch in der Bewertung der gewalttätigen faschistischen Methoden. Obwohl die Zeit des squadrismo laut Gentile
beendet war, da der Faschismus keine Revolution mehr zur Ergreifung der
Macht benötigte, sei es zum Schutz der faschistischen »Religion« und des
sozialen Friedens notwendig, die Freiheit der Individuen einzuschränken, um
das politische und soziale Chaos zu verhindern.
Später machte Giovanni Gentile unter Bezug auf die Opposition der antifaschistischen Intellektuellen seinen eigenen Begriff der Intellektuellenarbeit
noch klarer: Er lehnte nicht nur einzelne ihrer Vertreter, sondern die in der
liberalen Tradition grundlegende Trennung zwischen Wissenschaft und Politik ab. Der Intellektuelle sollte nach Gentile also wählen, entscheiden – nicht
unbedingt eine Revolution durchführen –, aber sein Credo immer bestätigen
und verbreiten, auch und gerade in seiner wissenschaftlichen Arbeit: Seine
Figur verweise auf jene des Erziehers, der seinen Schülern das »Gute« aufzeige und andiene.
»Faschismus ist Krieg gegen den Intellektualismus. Der faschistische
Geist ist Wille, nicht Intellekt ... Die faschistischen Intellektuellen dürfen
keine Intellektuellen sein. Der Faschismus bekämpft ... nicht die Intelligenz,
sondern den Intellektualismus, der ... die Krankheit der Intelligenz ist ...
Doch auch der Gebrauch der Intelligenz ... ist ein Drama, ist der Kampf des
Menschen mit dem Geheimnis, ist Anstrengung, die Natur zu beherrschen,
ist Intensivierung des Lebens. Deshalb ist Intelligenz auch Wille. Und dieses
111
wenigstens spürt der Faschismus, der Kultur als Ornament oder Ausstattung
des Gehirns verschmäht, aber nach einer Kultur strebt, durch die sich der
Geist bewaffnet und stärkt, um ständig neue Kämpfe zu gewinnen. Und dies
kann, dies muß unsere Barbarei sein. Auch Barbarei der Intellektuellen!«29
Am 1. Mai 1925 erschien die von Benedetto Croce verfasste »Antwort
der italienischen Schriftsteller, Professoren und Publizisten auf das Manifest
der faschistischen Intellektuellen« in der Zeitschrift »Il mondo«.30 Einige
Passagen dieses Dokumentes sollen hier ganz zitiert werden, da sie ein wichtiges Zeugnis zum Verständnis der Argumente der antifaschistischen intellektuellen Opposition darstellen. Im Bezug auf die Intellektuellenarbeit war
die Polemik der Antifaschisten besonders bedeutend: Die grundlegende Kritik am manifesto betraf die Bemerkung, daß die universelle Aufgabe der
Intellektuellen31 nie parteiisch sein sollte: »Und wirklich, die Intellektuellen,
und zwar die Kunst- und Wissenschaftsfreunde, wenn sie als Bürger ihr
Recht ausüben und ihre Pflicht dadurch erfüllen, daß sie einer Partei beitreten
und ihr treu dienen, sind dennoch als Intellektuelle verpflichtet, alle Menschen und alle Parteien gleichermaßen durch ihre Arbeit der Forschung und
der Kritik und durch ihre Kunstwerke zur höchsten spirituellen Sphäre zu
erheben, mit dem Ziel, mit immer wohltuenderer Wirkung die notwendigen
Kämpfe zu kämpfen. Die Überschreitung der Grenzen dieser ihnen zugeschriebenen Aufgabe, das Verderben der Politik durch die Literatur, ist ein
Fehler, der sich nicht als Kavaliersdelikt beschreiben läßt, wenn sein Zweck
wie in diesem Fall die Verteidigung tadelnswerter Gewalttätigkeiten und
Übergriffe und die Abschaffung der Pressefreiheit ist.«32
Das Idealbild des Gegenmanifests war der liberale Intellektuelle, der seine Arbeit nicht mit seinen politischen Interessen vermischt und die Politik
nur als Politik und nicht als Religion betrachtet. Darüber hinaus sollten die
Intellektuellen sich dessen gewahr werden, daß die faschistische Partei und
die Auffassung der faschistischen Intellektuellen das liberale und freie politische Leben behinderten. Die einzige Religion, die Croce unterstütze, sei die
Religion der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der intellektuellen und moralischen Entwicklung. Dieses Manifest, das von der Mehrheit der italienischen
Intellektuellen unterschrieben wurde – obwohl viele davon später dem Faschismus angehörten – kann als die erste offizielle Opposition der ganzen
Intellektuellenschicht als solche, d.h. nicht bloß einzelner Angehöriger der
Oppositionsparteien, bezeichnet werden.
112
Diese beiden Manifeste verursachten die Spaltung der italienischen Intellektuellen in zwei Lager: das der Faschisten, welche die Verbreitung der
faschistischen Doktrin als das Bestreben der Kultur betrachteten, und das der
Antifaschisten, die an der Tradition der Freiheit der Wissenschaft von der
Politik festhielten. Aufgrund der Tragweite der Debatte und der Prominenz
ihrer Protagonisten hatte dieses Ereignis schwere und weitgehende Folgen
für das ganze intellektuelle Feld: Gentile und Croce wurden zum intellektuellen und moralischen Muster ihrer und der folgenden Generation. Teile der
liberalen und sozialistischen Intelligenz begannen mit dem contromanifesto
ihren Kampf um die Freiheit der Wissenschaften, während die Philosophie
von Gentiles Aktualismus immer mehr mit dem Faschismus und dem Totalitarismus assoziiert wurde.33
Die 1925 beginnende Auseinandersetzung zwischen den zwei einflußreichsten Figuren der italienischen intellektuellen Welt war deshalb nicht nur
ein rein politisches Ereignis: Sie stellte zwei gegensätzliche, allgemeine philosophische und moralische Deutungen der Kultur und der intellektuellen
und politischen Tätigkeit dar, deren Grundelemente schon 1913 zwischen
Gentile und Croce in der Diskussion über den Marxismus entstanden waren
und die nun mit dem Manifest und der »Antwort« ihren Niederschlag in zwei
gegensätzlichen Visionen der politischen Rolle der Intellektuellenarbeit fanden. Die politisch gegensätzlichen Haltungen dieser beiden Intellektuellen
zum Faschismus nach 1925 verursachte keine wesentliche Veränderung ihrer
wissenschaftlichen Auffassungen. Die Rolle Gentiles als einflußreicher Vertreter des Regimes und die Opposition Croces gegen den Faschismus führten
nicht zu einer Revision ihres Denkens in diesen Jahren. Die Kontinuität des
Denkens Gentiles und die Polemik zwischen ihm und Croce wird in seinen
Texten von 1919-1920 deutlich, in denen die Grundlagen der Theorie des
ethischen Staats schon gestaltet sind. Es läßt sich hier unterstreichen, daß
Gentile 1919 noch eine liberale Position einnahm und trotz der schweren
Auseinandersetzung von 1913 über den Aktualismus immer noch mit Croce
an der Zeitschrift »La critica« arbeitete.34
Eine der grundlegenden Ursachen dieser Meinungsverschiedenheit war
die später viel beachtete und Mitte der 20er Jahre vom Faschismus unterstützte Theorie des ethischen Staates. Der »ethische Staat« war laut Gentile
die Voraussetzung der moralischen Tätigkeit des Individuums, dessen Wille
und Denken sich nur im Staat entfalteten. Der neutrale Staat des Liberalis113
mus setze eine falsche und abstrakte Betrachtung des Individuums voraus:
»Dieses Tier, das spricht, ist nicht der Mensch im allgemeinen, der nie existiert hat; sondern der reale Mensch ... der historische Mensch, der in Wirklichkeit existierende, aktuelle Mensch. Ein Mensch, der keine allgemeine
Sprache spricht, sondern eine bestimmte Sprache.«35 Der konkrete Mensch
finde seinen Ursprung und die Bedeutung seiner eigenen Individualität in der
Gemeinschaft von »uns«, d.h. in der gemeinsamen Sprache und in der Nation.36 Die Nation hatte bei Gentile dennoch nicht die Bedeutung eines Trägers der Eigenschaften und der tiefen Identität des Volkes wie bei den Nationalisten: Sie verkörpere keine von unveränderlichen Werten und Traditionen
ausgehende festgelegte Wirklichkeit und werde von keinem festen Element
der Natur (Rasse) oder der Kultur gekennzeichnet. Sie sei, wie bei Rénan, ein
im Bewußtsein des Einzelnen und im Leben der Gemeinschaft sich ständig
selbst entwickelndes Wesen, welches das »uns« immer neu bestätigen und
bilden solle. Sie sei immer ein Projekt, das in der Zukunft von der Gemeinschaft zu verwirklichen sei37, und zugleich »der gemeinsame Wille eines
Volkes, der sich durchsetzt und verwirklicht. Nation ist nur die Nation, die
sie selbst sein will, ... die in der Art handelt, daß sie ihre Persönlichkeit in der
Form des Staates verwirklicht, außerhalb dessen kein kollektiver Wille existiert, oder gemeinsame oder völkische Persönlichkeit«.38 Die Nation lasse
sich dann dem Individuum gegenüber nie als Opposition betrachten, stütze
sich aber auf eine individuelle, ständige Bestätigung, was sich in der aktiven
Teilnahme am Staat äußere. Dadurch sei der Staat, Behauptung dieses Willens des Einzelnen, im Gegensatz zu den nationalistischen Doktrinen nicht
nur Ausdruck der Nation, sondern auch bedeutender als die Nation selbst. Da
der Staat und die Nation mit dem »uns« übereinstimmten, werden in der
Staatstheorie Gentiles die Bedingungen zur Aufhebung der Trennung des
Staates vom Willen des Ichs geschaffen: »Da [die Nation] mit der Idee des
Staates selbst übereinstimmt, ist die Nation uns gegenüber so intim und mit
der Natur unseres Wesens so übereinstimmend, wie unbestritten der Staatswille mit unserer konkreten und aktuellen ethischen Persönlichkeit eins ist.
Unser Italien, unsere Heimat ist, was in unseren Seelen lebt: komplexe, lebendige und hohe moralische Idee, die wir verwirklichen«.39 Auf diese Art
versöhnt Gentile die notwendige Autorität des Staates mit der Freiheit des
Handelns des Einzelnen und überwindet den »elenden« Begriff der Freiheit
des ökonomischen Liberalismus. Die wahre Freiheit des Individuums bestehe
114
logischerweise in der Selbstwahrnehmung seiner Bindung an das »uns« und
damit an die Nation, in seiner Zustimmung zum Willen der Nation und in
dem Glauben an seine Identifizierung mit dem Staat: »Ich, der Bürger der ich
bin, will, was ich will. Aber, wenn wir genauer hinsehen, stimmt das, was ich
will, genau mit dem, was der Staat will ..., überein. Und mein Wille ist der
Wille des Staates« behauptet der Gründer des Aktualismus.40 Der Glaube an
den Staat sei, im Gegensatz zum Liberalismus, der erste und wichtigste moralische Akt und impiziere die Anerkennung der Notwendigkeit des Bündnisses der anderen – der Nation – mit dem Ich. Dieses Bündnis sei Ursprung
und Ziel des Individuums, indem es dadurch sein Wesen transzendiere und
die Aufgabe der Weiterentwicklung der Menschheit übernehme. Aus diesem
Grund sei der Staat ethisch und total: Er sei die Vollendung und der Ursprung jedes Menschen. Mit dieser Auffassung ist Gentiles Sicht des Staates
als Religion verbunden, die in einem Aufsatz von 1920, »Discorsi di religione«41, hervortritt: »Der Staat lehrt, der Staat verwaltet, er bietet öffentliche
Leistungen an. In allen seinen Funktionen muß er wissen, daß er in jedem
Moment seines konkreten Lebens einer Pflicht gegenübersteht, die keine
abstrakte Moralität ist, sondern die Konkretheit seiner historischen Aktualität, in der jeder Akt eine Verehrung des absoluten Ideals ist. Diese Religiosität kann nicht im Staate liegen, wenn sie nicht dem Volke gehört, und zwar
dem Individuum, in dem der Staat sein Selbstbewußtsein und dadurch seine
Wirklichkeit erreicht«.
Konkret bleibt aber das Problem bestehen, die individuellen Instanzen
und die zahllosen individuellen Entscheidungen mit der Autorität des Staates
zu versöhnen, ohne die Voraussetzung der Freiheit zu opfern. Gentiles Begriff des Staates als Erzieher (Stato educatore) ist die praktische Übertragung
seiner Philosophie auf die Politik, die auf die konkrete Integration des Individuums im Staate zielt. Hier wird der Bürger mit dem Schüler verglichen,
was einen tiefen Einblick in die Interpretation Gentiles der »Teilnahme« der
Bürger am staatlichen Leben bietet. Wie im Erziehungsprozeß die Freiheit
des Schülers zwar ein notwendiges Element sei, aber der Autorität und der
Führung des Lehrers angepaßt und teilweise geopfert werden solle, so sei die
Freiheit des Bürgers kein fundamentaler Wert in seiner Beziehung zum Staat.
Die Autorität des Lehrers und des Staates stellten den aktiven Teil dieser
Beziehung dar: Der Schüler und der Bürger sollten diese übergeordnete Instanz als ihren Willen anerkennen. Die Verschmelzung des Schülers mit dem
115
Lehrer funktioniere hier wie bei der Aufgehen des Bürgers im Staat stärker
von unten nach oben, vom Einzelnen zu dem Einen, von der Freiheit zur
Autorität. Aus dieser Perspektive gehöre schließlich die Freiheit nur dem
Lehrer, nicht dem Schüler, der gebildet werde, um zu einem politischen Bewußtsein und der Teilnahme am ethischen Staat zu gelangen. Bildung sei in
diesem Sinne das Modell der Beziehung des Bürgers zum faschistischen
Staat und die höchste moralische Aufgabe, um den neuen faschistischen
Menschen zu schaffen.
Croce lehnte diese von ihm als »mystisch« definierte Auffassung42 des
Aktualismus ab, die keine Philosophie und keine intellektuelle Arbeit, sondern eine theologische Vision sei, welche den enormen Reichtum des Lebens
auf ein geordnetes, abstraktes System reduziere. Die theologische Philosophie Gentiles, die »vom beständigen religiösen Bedürfnis ausgeht, in einem
entweder mythologisch vorgestellten oder mystisch wahrgenommenen Gott
Trost, Heiligkeit und Ruhe ... »43 zu suchen, bedeute das Schweigen der
Philosophie und der Geschichte, die auf dem endlosen Verfahren der Auseinandersetzungen und Oppositionen begründet seien.44 Genau diese totalitäre Auffassung der Politik und ihre Verschmelzung mit der Wissenschaft, die
von Gentile festgestellte Identifizierung des Faschismus mit dem »wahren«
Liberalismus, waren die konstanten Feinde der antifaschistischen Intellektuellen. Im Gegensatz zu Gentile sollte der Staat laut Croce und den Intellektuellen des contromanifesto von der Religion und der Ethik getrennt werden:
Keine allgemeine und abstrakte Entität sollte das Leben der Einzelnen einschließen oder gar ersetzen. »Wir fühlen uns daher nicht imstande, unseren
alten Glauben zugunsten dieser chaotischen und unverständlichen ›Religion‹
aufzugeben: ... jenen Glauben, der aus Wahrheitsliebe, Gerechtigkeitsstreben, aus großherzigem menschlichen und bürgerlichem Sinn, aus Eifer für
die geistige und ethische Erziehung, aus Sorge um die Freiheit ... besteht«.45
Infolgedessen setzte Croce dem totalitären Politikbegriff Gentiles die Freiheit
des Forschers und die Trennung von Wissenschaft und Politik entgegen und
predigte den »Sympolitizismus, das Interesse für die Politik als eines der
Teile menschlichen Lebens«46 und nicht als Ziel aller Tätigkeiten. Da die
»universelle Wahrheit nur durch die Überwindung der spezifischen Interessen und Tendenzen – die Politik genannt werden«, erreicht werde, sollten die
»Wahrheits- und Schönheitsfreunde Abstand davon nehmen, aktiv an der
politischen Tätigkeit teilzuhaben, oder sie sollten wenigstens keine herr116
schende oder wichtige Rolle in ihr spielen«, weil sie »Ideen in Verbindung
setzen und Vorstellungen erarbeiten, während die Politiker Menschen, Leidenschaften und Interessen betrachten, sie miteinander in Einklang bringen
und einander gegenübersetzen«.47
In dieser Auseinandersetzung kristallisierten sich die Positionen der beiden Protagonisten der Kultur der 20er Jahre heraus: Die Opposition Croces
und seiner Schüler gegen den Aktualismus und seinen Philosophen Gentile
entsprach dem Kampf der Antifaschisten gegen die faschistische Kultur.
Allerdings muß hier hervorgehoben werden, daß Gentile kein organischer
Intellektueller des Faschismus war: Seine hochmoralische politische Vision
läßt sich nicht als reine Ideologie der politischen Macht einordnen, was sich
auch an den zunehmenden Konflikten Gentiles mit Mussolini ab 1925 zeigt.
Die Philosophie wurde während der Machteroberung des Faschismus und zu
Beginn seiner Konsolidierung bis 1926 stark von der totalitären Auffassung
Gentiles geprägt, so daß sich eine Hegemonie des Aktualismus im faschistischen intellektuellen Feld herausbilden konnte. Gentile war in diesen Jahren
nicht nur ein bedeutender Philosoph und Akademiker, sondern ab 1923 auch
Bildungsminister (Ministro dell’Educazione Nazionale), dann, nach seinem
Beitritt zum Faschismus, Vorsitzender der achtzehnköpfigen Kommission
Soloni zur Erarbeitung von Verfassungsveränderungen, ab 1925 Vorsitzender des Istituto Nazionale Fascista di Cultura, Leiter der Enciclopedia Treccani und Gründer und Herausgeber bedeutender Zeitschriften – u.a. des
»Giornale critico della filosofia italiana« und der »Educazione fascista«.
Dadurch fiel ihm in der faschistischen Kultur viel Macht und Prestige zu,
über die kein anderer Philosoph oder Akademiker verfügte und die ihm erlaubten, eine Schule zu bilden. Mit anderen Worten: Seine politische Position verstärkte seinen Einfluß als Intellektueller, und sein Prestige wirkte auf
viele kulturelle Institutionen des Faschismus und auf eine große Anzahl Intellektueller.48 Die Philosophie des Aktualismus bot dem Faschismus eine
Legitimation, da sie in ihm eine Fortführung der italienischen Tradition und
Geschichte sah; sie betrachtete ihn insbesondere als die Vollendung des Risorgimento, das Italien zwar vereinigt, aber die Frage der Trennung der Massen von der Politik und der Elite nicht gelöst hatte, wodurch sie ihn auf eine
moderate politische Tradition zurückführte und ihm Tiefe in der Vergangenheit verlieh. Legitimation war das Grundelement dieser Beziehung, erzeugte
aber keine vollständige Übereinstimmung, wie die folgenden Entwicklungen
117
zeigen sollten. Auf jeden Fall waren sowohl das Prestige und das symbolische Kapital des Aktualismus als auch das politische Kapital des Philosophen Gentile in diesen Jahren besonders hoch. Gleichzeitig verringerte sich
1924-25 die Autonomie des intellektuellen Feldes: Die kommunistischen und
antifaschistischen Intellektuellen wurden zensiert, persönlich angegriffen und
ins Gefängnis geschickt, andere Intellektuelle und Akademiker – u.a. Croce –
wurden zwar nicht inhaftiert, aber überwacht und mußten unter immer
schwierigeren Bedingungen arbeiten und veröffentlichen. Die Kontrolle über
die Kultur bedeutete auch die Überwachung und Eliminierung der innerparteilichen Andersdenkenden, die eine eigene, alternative Vision des Faschismus vertraten, was sich als »Marginalisierung« bezeichnen läßt. Das Regime
übte sowohl eine »negative« wie auch »positive« Intervention in der Kultur
aus, indem es einige Autoren und Strömungen durch direkte Teilhabe an
Politik, kulturellen Initiativen, Akademien und Schulen förderte, so daß das
intellektuelle Feld stark geprägt wurde. Ein Beispiel für die Folgen der politischen Intervention im intellektuellen Feld war die Veränderung des »Musters« des faschistischen Intellektuellen Mitte der 20er Jahre: In kurzer Zeit
hatte der Aktualismus und der ehemalige liberal-konservative Akademiker
Gentile die Hegemonie über die faschistische Kultur erobert, und die alten
Kulturexponenten des Faschismus, die rebellischen, antibürgerlichen, antiakademischen Künstler des Futurismus, wurden an den Rand geschoben und
neutralisiert. Nicht die futuristische Artekratie49, nicht das faschistische
Reich der Phantasie und der Anarchie galten fortan als Ideale der Faschisten;
mittels der ersten faschistischen Reform – der 1924 von Gentile erarbeiteten
Bildungsreform – wurden sie stattdessen durch die vorrangige Position der
Philosophie und den vorrangigen Wert der klassischen Bildung abgelöst. Die
Bildungsreform und die Schlußakte der achzehnköpfigen Kommission bestätigten nicht nur die neue Orientierung der Politik des Faschismus, sondern
auch die neue Hegemonie des Aktualismus als kulturelles Muster und den
entsprechenden Verlust von Prestige und kultureller Macht des Futurismus.
Der Faschismus, der mit dem Futurismus in einer Rand- und Extremposition
entstanden war, verwandelte sich immer mehr in eine konservative Partei;
die Futuristen, die Träger einer extremen, revolutionären Ideologie, mußten
sich anpassen oder wurden, wenn sie ihre »Antisystem«- Position weiter
vertraten, als Feinde betrachtet und neutralisiert.
118
Die interne Spaltung
Viele Beobachter der politischen und intellektuellen Szene dieser Jahre unterstrichen die Komplexität und die Vielfältigkeit der Strömungen innerhalb
des Faschismus. Der Oppositionsführer Antonio Gramsci interpretierte 1926
auf politischem Niveau die Trennung der Kräfte innerhalb des Faschismus
als Kampf zwischen zwei sozialen und politischen Tendenzen, welche den
den wesentlichen internen Widerspruch des Faschismus widerspiegelten:
»Einerseits [gibt es] die [nationalistische] Richtung von Federzoni, Rocco, Volpi50, welche die Schlußfolgerungen aus der Periode nach dem Marsch
auf Rom ziehen will. Sie will die faschistische Partei als politischen Organismus vernichten und sie dem Staatsapparat in dem vom Faschismus durch
seine Kämpfe gegen die anderen Parteien bewirkten Zustand der bürgerlichen Beherrschung einverleiben. Diese Richtung arbeitet mit der Monarchie
und der militärischen Führung zusammen. Sie will einerseits die azione cattolica, d.h. den Vatikan, ... und andererseits die moderateren Elemente des
Ex-Aventino in das Machtzentrum des Staates aufnehmen. .... Die andere
Tendenz wird offiziell von Farinacci verkörpert. Sie stellt objektiv zwei Widersprüche des Faschismus dar. 1) Der Widerspruch zwischen den Bauern
und den Kapitalisten, insbesondere die Unvereinbarkeit ihrer Zollinteressen.
Sicherlich stellt der heutige Faschismus die Herrschaft des Finanzkapitals im
Staat dar, der sich alle produktiven Kräfte des Landes unterwerfen soll. 2)
Der Widerspruch zwischen dem Kleinbürgertum und dem Kapitalismus ist
am wichtigsten. Das faschistische Kleinbürgertum sieht in der Partei ein
Instrument seiner Verteidigung, seines Parlamentes, seiner Demokratie.
Durch die Partei will es die Regierung unter Druck setzen, um zu verhindern,
vom Kapitalismus ganz unterdrückt zu werden .... Allgemein läßt sich sagen
daß es der Richtung Farinaccis in der faschistischen Partei an Einheit, Organisation und allgemeinen Grundsätzen fehlt.«51 Der schwierige soziale Status
des Kleinbürgertums, das gegen die organisierten sozialen Klassen der Kapitalisten und der Arbeiter die Bildung einer eigenen Identität und die Eroberung eines Raumes in Politik und Kultur anstrebte, mündete in dem Versuch
der intransigenti, ein eigenes politisches Programm zu formulieren. Dieses
bestand in der Bildung eines »dritten Wegs« zwischen Kapitalismus und
Sozialismus und gleichzeitig in dem Verlangen nach dem traditionellen Leben der Agrargesellschaft, in der die Integration des Individuums in eine
119
organische Gemeinschaft erreicht werden sollte. Andererseits stellte dieses
Programm das industrielle und moderne ökonomische System jedoch nicht in
Frage.
In »Le cinque anime del facismo« (Die fünf Geister des Faschismus)52
versuchte auch der nationalistische Autor Volt die verschiedenen ideologischen und kulturellen Komponenten des Faschismus durch ein »räumliches«
Kriterium zu ordnen, um eine Karte der Positionen der internen Strömungen
von Links nach Rechts zu gewinnen: Die extreme Linke wurde von Curzio
Suckert und den Nationalrepublikanern vertreten, das linke Zentrum von den
Syndikalisten53- Rossoni, Olivetti, Grandi, Panunzio, Ciarlantini -, die extreme Rechte von »L’Impero« – Emilio Settimelli und Mario Carli –, das
rechte Zentrum von den Nationalisten und schließlich die mit Bottai vebundenen54 revisionisti von der florentinischen Gruppe der Zeitschrift »Rivoluzione fascista«.
Durch eine Ergänzung lassen sich Volts Schema der unterschiedlichen
politisch-kulturellen Strömungen und die politische Trennung der intransigenti von den revisionisti/fiancheggiatori kombinieren, und zwar durch die
Definition des Zentrums, das in den Artikeln Volts und Gramscis nicht erwähnt wird. Das unsichtbare Zentrum im politischen Feld kann nur Mussolini sein55, mit seiner Fähigkeit, durch ständige Kompromisse und oszillierende Positionen die ganze Konstellation der faschistischen Kräfte zusammenzuhalten und damit ein Gleichgewicht zu erreichen. Zwischen dem rechten
Zentrum der Nationalisten und dem linken Zentrum der Syndikalisten focht
Mussolini seinen politisch-strategischen Kampf, um die konservativen
Mächte immer stärker an sich zu binden und sowohl den Konsens der Massen und der Arbeiter wie auch der alten Mitglieder der faschistischen Bewegung der frühen 20er Jahre zu gewinnen. Er bestimmte auch die Kultur, indem er seinen Einfluß ausübte: So entschied er, den Aktualismus zu unterstützen und die originäre Kunst der Bewegung – den Futurismus – fallen zu
lassen. Auf diese Art wurde er immer mehr zum unsichtbaren Zentrum des
kulturellen Feldes. Doch je mehr Mussolini nach der Besetzung der alten
politischen Kräfte und Positionen strebte, desto mehr entfernte er sich von
den extremen Flügeln, die innerhalb des Regimes Kritik an ihm übten, die
Verbindung mit einem »neuen Mann«, Roberto Farinacci, suchten und damit
die Verteidigung der »Reinheit« des Faschismus und seine Entwicklung –
120
oder besser seine Rückkehr zu den Ursprüngen – im Sinn einer radikalen
Revolution predigten.
Die Homologie der Position der extremen Flügel in der kulturellen Debatte mit jener der intransigenti im politischen Bereich führte zu einem Zusammentreffen zweier Randströmungen, aber nicht zur Erarbeitung einer
politisch konsequenten Ideologie. Diese Homologie schuf die Bedingungen
für den Versuch, politische Kritik innerhalb des Faschismus auf politischer
und kultureller Ebene zu üben, und für die Unterstützung des Führers der
intransigenti sowohl durch extreme Rechts- wie Linksintellektuelle (1925).
Die Verschiedenheit der Ideen der »Extremfront« der integralistischen Intellektuellen einerseits, das Fehlen eines politischen Programms bei Farinacci
und bei den intransigenti sowie ihre absolute politische Isolierung andererseits führten dazu, daß ihnen die notwendige Homogenität zur Bildung einer
politischen Alternative zu Mussolini fehlte.
Die Entstehung der integralistischen Intellektuellen: der Ausschluß der Futuristen
»Wie die futuristische Kunst sich mit dem italienischen Faschismus verträgt,
dies kann man nicht sehen. Es gibt ein Mißverständnis, geboren aus einer
Nähe von Personen, aus einer Zufälligkeit des Zusammentreffens, aus einem
Aufwallen der Kräfte, das zur Annäherung Marinettis an Mussolini führte.
Dies ging gut in der Zeit der Revolution. Dies paßt nicht in die Zeit der Regierung. Der italienische Faschismus kann das zerstörerische Programm des
Futurismus nicht akzeptieren, er muß aufgrund seiner italienischen Logik
sogar die dem Futurismus gegensätzlichen Werte wiederherstellen. Die politische Disziplin und Hierarchie sind auch die Disziplin und die Hierarchie in
der Literatur. Die Worte gehen zuschanden, wenn die politische Hierarchie
zuschanden geht. Wenn der Faschismus seinen Kampf wirklich gewinnen
will, muß er das, was im Futurismus aufregend ist, als absorbiert betrachten,
und ihn in allem unterdrücken, was er aus künstlerischer Sicht an Revolutionärem, Antiklassischem und Undiszipliniertem bewahrt.«56 Diese Interpretation der Entwicklung der Beziehungen zwischen Futurismus und Faschismus
stammt von Giuseppe Prezzolini. Er hatte Mussolini am Anfang seiner politischen Karriere mit den fasci unterstützt und einige Artikel Mussolinis in »La
121
voce«57 veröffentlicht; der ehemalige Nationalist, ehemalige Futurist und
später ehemalige Faschist zog sich nach Mussolinis Machteroberung vom
öffentlichen politischen Leben zurück. 1915 forderte er das politische Engagement der Intellektuellen und verherrlichte den »neuen Mann« Mussolini,
der endlich die Stärke der italienischen Kultur und des Volkes pflegen und
zeigen würde; wenige Jahre später jedoch predigte er die Gemeinschaft der
Apolitischen (società degli apoti) und den Rückzug der Intellektuellen aus
der politischen Diskussion. Dieser Wandel Prezzolinis war nicht ungewöhnlich für die damaligen Intellektuellen.
Apoti wurden die Futuristen immer mehr zu Anfang der zwanziger Jahre;
sogar ihr Gründer begann nach 1920, die Kunst unter Verzicht auf einen
totalitären Ansatz der Ästhetik als rein ästhetische Tätigkeit und als Instrument der ästhetischen Kommunikation aufzufassen. Nach den Kompromissen Mussolinis mit den Konservativen, als Mussolini die faschistische Unterstützung der Monarchie und des Vatikans verkündigte und alle Formen von
Streik verbot, kritisierten die Futuristen Marinetti und Carli die konservative
Richtung des Faschismus und traten während des Kongresses von 1920 aus
der Partei aus. Marinetti versuchte sogar, den Futurismus mit dem Manifest
»Al di là del comunismo« von 1920 als alternative politische Bewegung zu
profilieren, welcher nicht nur die wahren, ursprünglichen Prinzipien der fasci
wiederherstellen und das Regime des anarchistischen Individualismus durchsetzen, sondern auch den Faschismus überschreiten sollte. Die Ideale des
Lebens als Kunstwerk (vita-opera d’arte) und des Lebens als Fest sollten
sich endlich verwirklichen, den Menschen befreien und sein individuelles
Talent entwickeln: Alle Probleme, sogar die ökonomischen, würden durch
die Verfeinerung der ästhetischen Sensibilität gelöst, da der Mensch die
»Hölle« seiner täglichen Arbeit durch die Kontemplation der Schönheit vergäße.58 Natürlich war dieser Vorschlag eine reine Utopie und das typisch
abstrakte Ideal der futuristischen »passiven« Revolution, welche soziale
Probleme durch ihre Vernachlässigung und Verschiebung auf die künstlerische und spirituelle Ebene löste. Schließlich war dieses Manifest der letzte
futuristische Anspruch, aktiv in der Politik zu intervenieren, und gleichzeitig
der Anfang der sich im späteren Futurismus entwickelnden Auffassung der
Kunst als Trost gegen die Wirklichkeit.
Auf die Entscheidung Marinettis, die Partei zu verlassen, folgte die Attacke der Faschisten59 und einiger ehemaliger Futuristen60 wie Giuseppe
122
Bottai, zukünftiger faschistischer Minister, Verehrer von Giovanni Gentile
und Organisator des kulturellen Lebens im Faschismus. Sein Scheitern ließ
Marinetti jedes politische Projekt ablehnen und führte zu seinem Rückzug
auf die reine Ästhetik, um eine interne Einheit in der futuristischen Bewegung zu erhalten – und gleichzeitig im Regime zu überleben. Der ursprüngliche Unterschied zwischen der futuristischen Partei und der futuristischen
Bewegung wurde durch die Trennung zwischen der Politik (dem Faschismus) und der Kunst (Futurismus) ersetzt: Futurismus bedeutete von nun an
nur noch Kunst. Als letzten politischen Akt forderte Marinetti eine Gewerkschaft und korporative Rechte für die Künstler61, die ihre Rolle als »Techniker der ästhetischen Kommunikation« zum Erhalt des Konsenses der Massen
behalten sollten.62 Von 1920 bis 1930 strebte er danach, daß der Futurismus
als die offizielle faschistische Kunst anerkannt würde. Sein Projekt war aber
zum Scheitern verurteilt: Zum Beispiel wurde der italienische Futurismus
1924 von der Biennale in Venedig ausgeschlossen, auf der nur der russische
Futurismus vertreten war. Der wesentliche, unversöhnliche Konflikt zwischen Futurismus und Faschismus blieb allerdings während des ganzen Regimes bestehen: Im Gegensatz zu letzterem, der eine Massenbewegung war
und ein totalitäres, hierarchisches Regime organisierte, predigte der Futurismus den anarchischen Individualismus und gleichzeitig die Geburt der »Aristokratie der Genies« und kämpfte gegen die alten Autoritäten und Institutionen. Marinetti stellte später seine stets zweideutige Unterstützung des Faschismus mit seiner Kritik63 in Frage und wurde deswegen von faschistischen Exponenten stark attackiert. Andererseits konnte er nicht mehr die
Einheit des Geistes des Futurismus kontrollieren und verlor viele seiner Anhänger.
Trotzdem war auch nach 1920 der revolutionäre und anarchische Antrieb
der Futuristen für das Regime gefährlich: Allein ihre Existenz verkörperte
ständige Kritik und die Forderung, die ursprünglichen antibürgerlichen und
linksorientierten Motive wiederaufzunehmen.64
Nicht alle Futuristen akzeptierten die neue Rolle des Futurismus und bildeten damit eine Opposition gegen Mussolinis Faschismus und gegen ihre
eigene Bewegung. Deshalb läßt sich auf der Strukturebene ein eigenartiger
Prozeß beobachten. Während sich das politische Feld veränderte, indem die
Strategie und die Kompromisse Mussolinis seine Partei zur konservativen
Rechten drängten, beharrten einige Intellektuelle auf den alten subversiven
123
Ideen und Idealen der extremen Flügel in der Kunst wie in der Politik. Diese
ehemaligen Futuristen und Syndikalisten wurden, obwohl sich ihre Position
gegenüber der Politik und der Kunst nicht wandelte (d.h. sie veränderten
nicht ihr politisches oder künstlerisches Credo), immer mehr an den Rand
gedrängt und in der politischen Debatte für »Opponenten« oder gar Antifaschisten gehalten; im intellektuellen Feld – das schon unter dem immer stärkeren politischen Einfluß des totalitären Regimes litt – wurde ihnen Irrationalismus vorgeworfen. Hinzu kam, daß sie die alte Gruppe der Avantgarde
nicht mehr als ihre »Bezugsgruppe« ansehen konnten, weil die Futuristen
trotz ihrer Weiterentwicklung der künstlerisch extravaganten Themen der
Avantgarde ihre totalitäre Auffassung der Kunst aufgegeben hatten. Diese
Intellektuellen blieben einem anfänglichen Ideal der Politik und der Kunst
treu, welches Teil der ursprünglichen faschistischen Ideologie war und immer mehr verdrängt, wenn auch nicht gewalttätig vernichtet wurde.65 Außerdem erarbeiteten sie eine radikale Interpretation des Faschismus, die auf den
Prinzipien der geistigen traditionellen Revolution basierte, und entwickelten
dabei eine originäre Mischung von Motiven des reaktionären und revolutionären Denkens.
Diese hier als Integralisten66 betrachteten Intellektuellen teilten mit dem
ursprünglichen Futur-Faschismus die totale Kritik an der modernen Gesellschaft und das Ideal der Bildung einer völlig neuen Zivilisation. Darüber
hinaus jedoch vertraten sie ganz gegensätzliche Interpretationen des Faschismus: Mario Carli und Emilio Settimelli waren Traditionalisten und Reaktionäre, Curzio Suckert und Mino Maccari predigten die Abhängigkeit des
Faschismus von seiner Basis, dem Volk. Dennoch verbündeten sie sich, um
die neue kapitalistische und konservative Richtung des Faschismus – die
sogenannte Normalisierung – zu bekämpfen und die Reinheit der ursprünglichen Motive des Faschismus wiederherzustellen. Dieses Bündnis populistischer und reaktionärer Elemente läßt sich nur erklären, wenn der anfängliche
Charakter der Ideologie der fasci im Auge behalten und dann die »negative«
Basis ihres Engagements – ihre gemeinsamen Feinde, die Konservativen und
die Befürworter der Normalisierung, zu zerstören – unterstrichen wird. Auf
einer »negativen« Ideologie und der Homologie ihrer Randpositionen gründete außerdem ihre Beziehung zu den intransigenti von Farinacci: gemeinsam waren ihnen die Ablehnung der aktuellen Politik Mussolinis wie auch
ihr Ideal, den »wahren« Faschismus ans Licht zu bringen. Die interne Oppo124
sition formierte sich zwischen 1924 und 1925: Eine neue und unbestimmte
politische Richtung und eine neue kulturelle Strömung entstanden aus der
internen Spaltung zwischen den intransigenti und Mussolini einerseits und
zwischen den integralistischen Intellektuellen und den regimetreuen Intellektuellen andererseits. Mario Carli, Emilio Settimelli, Curzio Suckert und
Mino Maccari versuchten, eine ideologischen Basis für den intransigentismo
zu erarbeiten.
Die integralistischen Intellektuellen
Die Integralisten wollten Marinettis Wahl des »Schweigens« nicht folgen
und vertraten weiterhin den Anspruch des Futurismus auf eine politische
Rolle. Sie glaubten, die faschistische Revolution sei mit dem Marsch auf
Rom nicht beendet, sondern habe erst angefangen und solle zur totalen Veränderung der Gesellschaft und der Kultur führen. Ihr Kennzeichen war die
Mischung traditionalistischer Motive des modernen futuristischen revolutionären Stils und der totalitären Auffassung. Die Utopien der zukünftigen Gesellschaft von Carli und Settimelli einerseits, von Suckert und Maccari andererseits waren absolut gegensätzlich: Erstere waren Rechtsextremisten und
entwarfen die Idee einer hierarchischen und traditionellen, von einer geistigen Elite regierten Gemeinschaft, während letztere, die oft als Linksextremisten definiert wurden67, das Vorbild einer populistischen Ideologie vertraten.
Trotzdem schufen gemeinsame kulturelle und politische Themen eine Konvergenz von Links- und Rechtsextremisten: In Kunst und Literatur entwikkelten sie die revolutionären Ansprüche und den Stil des ursprünglichen
Futurismus, doch ihren Visionen lag auch eine dem Futurismus unbekannte
antimoderne Kritik der Gesellschaft zugrunde, die sich teilweise noch im
zeitgenössischen Denken der Action Française findet. Im Gegensatz zu den
Futuristen engagierten sie sich stark politisch und führten gemeinsam mit
den intransigenti eine heftige Auseinandersetzung mit den revisionisti, die
sich teilweise sogar gegen Mussolini richtete; wegen ihrer Kritik an der »Unreinheit« des neuen Faschismus wurden sie manchmal vom Regime zwar
benutzt, aber letzten Endes doch verstoßen.
125
Carli und Settimelli, Suckert und Maccari verkörperten weiterhin die Figur des futuristischen Politiker-Künstlers, da sie das Erbe der ursprünglichen
faschistischen Bewegung übernahmen und seine typischen Themen weiterentwickelten. Ihre Selbstdarstellung als Nachfolger des »reinen Faschismus«
bedeutete die Ablehnung der gegenwärtigen kulturellen und politischen Modelle, die eine konservative Wende zeigten und die primitiven revolutionären
Elemente verdrängt hatten. Andererseits verliehen sie der Kultur eine extrem
starke moralische Bedeutung für die Bildung der utopischen Gesellschaft und
für die Erziehung des Volkes zur Wiederherstellung der italienischen Traditionen, worin sich ihr Ideal von jenem des Futurismus unterschied, der durch
einen spielerischen und innovativen Zug gekennzeichnet und der Modernität
und Technologie verhaftet war. In diesem Sinne blieb die internationale und
hypermoderne futuristischen Haltung – trotz ihres Verweises auf die aktivistische und revolutionäre Dimension des frühen Futurismus – den von ihnen
vertretenen moralischen Ansprüchen sowie ihrer Apologie der Tradition und
der organischen Gemeinschaft fremd: Carli, Settimelli, Suckert und Maccari
waren keineswegs typische Vertreter der futuristischen Bewegung. Wegen
ihrer hartnäckigen Verherrlichung des alten revolutionären Stils des Futurismus, wegen ihres Vorhabens, die bürgerliche Ordnung und das System ganz
zu zerstören, und wegen ihrer Ablehnung der akademischen Kultur – insbesondere des Denkens Benedetto Croces und Giovanni Gentiles – wurden sie
im intellektuellen Feld an den Rand gedrängt. Andererseits beleuchtet die
Analyse der Themen und der Motive der integralistischen Intellektuellen nur
einen Teil ihrer Tätigkeit und ihrer Bedeutung, d.h. nur die Entwicklung ihrer
Ideen in Bezug auf die futuristische und idealistische Auffassung. Eine derartige Beschränkung vernachlässigt aber eine wesentliche Dimension, da sie
in der Kultur nicht nur Nachfolger des Futurismus waren, sondern eine eigene Interpretation von Kunst und Literatur entwickelten und verbreiteten, und
in der Politik keine normalen Faschisten, sondern die »reinen Faschisten«
waren. Auf ihrem Idealismus und ihrem originären Charakter basierte
schließlich ihre Anziehungskraft auf die jungen Mitarbeiter von »Il Selvaggio« und »L’impero«.
Der Blick auf diese Autoren als einzelne und bestimmte Themen entwikkelnde Persönlichkeiten wird nun aus zwei Gründen durch eine weitere
Analyse ihrer konkreten persönlichen und politischen Beziehungen ergänzt:
Zum einen waren sie Kulturorganisatoren, deren Bedeutung in ihrem Cha126
risma und ihrer Fähigkeit bestand, eine ganze Generation zu repräsentieren
und eine Gruppe zu kreieren; zum andern war ihre Selbstdarstellung jene des
engagierten Intellektuellen, der einen eigenen politischen und gleichzeitig
kulturellen Einfluß auf die Gesellschaft ausübt.68 Als Organisatoren einiger
Gruppierungen (im Umfeld der Zeitungen), die Kämpfe ausfochten und
Bündnisse eingingen, modifizierten sie das ganze intellektuelle Feld, da ihre
Kritik und ihre Stellungnahme im politischen Feld zur Aufspaltung der faschistischen Jugend in zwei Lager führten. Ihr Kampf gegen die offizielle
faschistische Kultur und ihr politischer Widerstand gegen die normalizzatori
werden hier als Ausbildung einer politisch-intellektuellen Position verstanden und erforscht, die im intellektuellen Feld von der Radikalisierung der
antibürgerlichen Haltung der Avantgarde und im politischen von der Verteidigung des Ideals der »Reinheit des Faschismus« und der ursprünglichen
futurfaschistischen Bewegung gekennzeichnet war. Die Bedeutung dieser
Position besteht im Zusammentreffen einer kulturellen mit einer politischen
Opposition gegen die offizielle Kultur und gegen das Regime, so daß ihre
Protagonisten aus der Perspektive ihres Ideales der »wahren Revolution«
Kritik am Regime übten.
Einige Frage stellen sich in diesem Zusammenhang: Was bedeutete die
Kritik dieser Gruppen am Regime? Wie lassen sich die integralistischen
Intellektuellen von jenen anderen internen Kritikern des Faschismus – den
revisionisti – oder von den Idealisten unterscheiden? Und weiter: Welche
Folge hatte ihre Kritik in der Zeitspanne 1924-1925, in dieser heiklen Übergangsphase von der Autonomie zur Heteronomie im intellektuellen und politischen Feld, z.B. hinsichtlich der Beziehungen des Politiker-Intellektuellen
zum Politiker? Die Antwort auf diese Fragen verweist auf einen Leitfaden,
anhand dessen die Gemeinsamkeiten der vier integralistischen Intellektuellen
und die Bedeutung ihrer Kritik in der Zeit rekonstruiert werden können. Die
Themen des Antiintellektualismus, des Irrationalismus, der antibürgerlichen
Kritik, der Tradition, und des politischen Engagements der Künstler waren
zur Zeit des politischen und intellektuellen Engagements der Integralisten
nicht neu; sie waren bei Suckert, Maccari, Carli und Settimelli nur durch
einen zerstörerischen Charakter gekennzeichnet, als ob diese Autoren eine
extreme und übertriebene Form des Futurismus und des Irrationalismus ausüben und damit unbewußt den Niedergang des futuristischen PolitikerKünstlers und seine Unangemessenheit in der konkreten politischen Situation
127
beweisen wollten. Diese Art von Utopismus, der sich im Festhalten an einem
obsoleten intellektuellen Modell äußerte, war aber nicht nur mit ihrer intellektuellen Selbstdarstellung als Träger eines neuen antibürgerlichen Begriffes der Kultur, sondern auch mit einem politischen Ideal verknüpft: das Ideal
des »reinen Faschismus«, der unabhängig von der Persönlichkeit Mussolinis
blieb. Diese Idee war keine rein künstlerische Phantasie, sondern ein globales
Projekt. Diesbezüglich erscheint ihre Verbindung mit Farinacci bedeutend:
Er stellte das historische Zusammentreffen eines künstlerisch-politischen
Ideals mit einer konkreten Person dar, ohne daß sich daraus eine persöniche
Gefolgschaft Farinaccis gebildet hätte. In anderen Worten: Weder besaß
Farinacci jemals ein Mussolini vergleichbares persönliches Charisma, noch
beschränkten die hier betrachteten Autoren ihr Ideal auf seine Person – dazu
war ihre Vision des Faschismus zu »unpersönlich«. Der Faschismus war für
sie eine Bewegung, eine Revolution, in der die einzelnen Männer nur Träger
einer Idee der politischen und kulturellen Erneuerung waren.
Die Integralisten als kleinbürgerliche Futuristen
Die Betrachtung des Lebens und des Milieus, in dem die vier genannten
Autoren ihre künstlerische und politische Persönlichkeit entwickelten, zeigt
den sozialen und kulturellen Hintergrund der Vision der Integralisten. Sie
erlaubt es, ihren politischen Kampf gegen Kapitalismus und Sozialismus und
ihr Schwanken zwischen links und rechts auf ihren sozialen und geographischen Ursprung rückzubeziehen, ohne jedoch Kausalitätsverhältnisse behaupten zu wollen. Die Autoren werden hier als Repräsentanten nicht nur
einer ganzen Generation, nämlich jener des Ersten Weltkriegs, sondern auch
einer bestimmten Schicht, des Kleinbürgertums, betrachtet. Ihre Lebensläufe
sind ganz ähnlich: Sie kamen aus der Toskana – der Heimat der Avantgarde,
von Papini und Prezzolini –; sie waren kleinbürgerlicher Herkunft und nahmen eine rebellische und anarchistische Haltung im ersten Teil ihres Lebens
ein; sie waren Kriegsveteranen und ihre politischen Erfahrungen waren widersprüchlich und nicht linear – für sie alle wie für Mussolini, für die Futuristen und die Syndikalisten waren Links und Rechts keine feste Kategorien.
Als Mitglied der republikanischen Partei69 lehnte Suckert 1913 die monarchistische und konservative Politik in Italien nach der Wiedervereinigung
128
ab und nahm an den Streiks der »Roten Woche« (1915) teil. Schon 1914
meldete er sich mit 16 Jahren freiwillig zur »Legione garibaldina« in Frankreich70 – zu einer Zeit also, in der Italien noch nicht am Ersten Weltkrieg
teilnahm und er in der Hoffnung lebte, daß der Krieg eine moralische Lebensveränderung bringen würde. 1918 beendete er seine militärische Karriere – »vom Krieg angeekelt«.71 Suckert wurde dann revolutionärer Syndikalist
und glaubte, die faschistische Revolution solle in der Politik und der Futurismus in der Kunst eine totale Veränderung in Italien durchführen. »Viva
Caporetto«72 war sein erstes Buch, in dem er die für Italien entscheidende
Niederlage von Caporetto, die durch die Desertion der Infanterie verursacht
worden war, als spontane Revolution des Volks, als eine Form des Streiks
gegen die alten, liberalen und monarchistischen korrupten Politiker und Offiziere und als Anfang der Bildung eines nationalen Selbstbewußtseins beschrieb. 1921 wurde das Buch erstmals veröffentlicht und 1923 (ein Jahr
vorher war Suckert der Faschistischen Partei beigetreten) mit einer Einführung73 versehen, die den Faschismus als die einzige neue politische Kraft und
den Träger der Tradition des Heldentums74 verherrlichte.
Mino Maccari teilte mit seinem Freund und Mitarbeiter Suckert die soziale Zugehörigkeit zum Kleinbürgertum75, die geographische Herkunft, die
Teilnahme am Krieg und die künstlerische Mitarbeit in futuristischen Gruppen. Beide waren in der Provinz geboren und sahen als junge »Rebellen« im
Krieg76 die Möglichkeit einer konkreten Teilnahme an der Geschichte. Nach
den Enttäuschungen des Krieges hatten beide an den Mythos der Revolution
als Überwindung des Kapitalismus und des Sozialismus und als tiefe moralische Bewegung geglaubt. Ihre Unfähigkeit, sich völlig mit den Massen zu
identifizieren, ihre Ablehnung der Klassentrennung einerseits und ihre Attacken gegen die Bourgeoisie andererseits resultierten aus ihrer kleinbürgerlichen Position und verursachten eine gespaltene Mentalität: Die Verherrlichung der Tradition und der alten Werte war mit den Forderungen nach Gerechtigkeit, mit dem Angriff gegen die Kapitalisten und der Verteidigung der
Revolution – auch in der Kunst – vermischt. Der squadrismo bedeutete für
Maccari und seine Freunde und Mitarbeiter an »Il Selvaggio« den Versuch,
eine Rolle in der Politik zu erlangen; so wurde »Il Selvaggio« am Anfang die
kulturelle Übertragung dieses Projekts.77 Aber nach und nach zog die Zeitschrift mehr Mitarbeiter an; sie veröffentlichte die Werke wichtiger Exponenten der Kunst wie Rosai, Morandi, Carrá, Soffici, Longanesi, De Pisis,
129
Guttuso, Mafai und einiger Schriftsteller wie Soffici78, Palazzeschi, Papini,
Bacchelli, Natta, Ungaretti, Bilenchi, und Brancati. 1924 und 1925 waren die
Jahre des politischen Engagements von Maccari und Suckert und ihrer Mitarbeit an »Il Selvaggio«, um die Kampagne für die Vollendung der faschistischen Revolution durchzuführen. »Il Selvaggio« wurde zum lebendigen
Treffpunkt der andersdenkenden faschistischen Jugend. Suckert schrieb seine
virulenten Artikel79 gegen Mussolini in der Zeitschrift und Maccari zeichnete
seine ironischen Karikaturen, die sich jetzt immer mehr als ein neues und
faszinierendes künstlerisches Experiment darstellten. Und auch nach der
Zensur und dem Ende dieses politischen und kulturellen Kampfes blieben
Maccari und Suckert immer Freunde; sie standen oft in denselben Kämpfen
auf derselben Seite, wie in der Auseinandersetzung zwischen strapaese und
stracittà.80
Auch Carli und Settimelli81 kamen aus kleinbürgerlichen Familien und
waren Kriegsveteranen. Ihre künstlerische Karriere begann 1909 mit der
Zeitung »Difesa dell’arte«, die sich für die traditionelle Kunst , d.h. die Literatur des 19. Jahrhunderts, und gegen den Experimentalismus D’Annunzios
und die Kritik Croces einsetzte, um die Dekadenz der Kultur zu überwinden.
Der besondere Charakter dieser Zeitschrift, die weder eine neue Avantgarde,
noch eine neue organische Auffassung der modernen Kunst darstellte, liegt
in ihrem Scheitern im Jahre 1910, das als Zeichen der Isolation der jungen
Autoren und der Interesselosigkeit des Publikums gelesen werden kann. Ihre
Entwicklung wurde danach von ihrer Beziehung zu Bruno Ginanni Corradini
und Arnaldo Ginanni beeinflußt, wodurch der anfängliche Symbolismus
Carlis und Settimellis durch okkultistische und esoterische Komponenten
sowie die aristokratische Auffassung der Politik ergänzt wurde. Die Beziehungen zu Marinetti und dem Futurismus begannen 1912-13 und bedeuteten
eine Wende in ihrer literarischen Welt: Im Manifest »Pesi, misure e prezzi
del genio artistico«, das Settimelli und Corra verfaßt und Marinetti veröffenticht hatte, ging Settimelli von der Verherrlichung der Literatur des 19. Jahrhunderts zur futuristischen Ablehnung der traditionellen Kunst über. 1915
begannen Carli und Settimelli, am politischen Futurismus teilzunehmen: Sie
erarbeiteten mit Marinetti das »Manifesto del Teatro futurista«, in dem die
Ziele des neuen futuristischen Theaters – den »italienischen Geist kriegerisch
zu beeinflussen«82 – erklärt wurden. 1916 behaupteten Carli und Settimelli in
der Zeitschrift »L’Italia futurista«83 ihre Zugehörigkeit zur futuristischen
130
Bewegung und ihrer interventionistischen Kampagne, obwohl sich der surrealistische und esoterische Charakter ihrer Kunst vom Futurismus unterschied. Ihr Einfluß auf den von der Gruppe Marinettis getrennten und eigenständigen römischen Futurismus – am Theater von Anton Giulio Bragaglia
und in seinem Salon, in dem unter anderem der junge Dadaist Julius Evola
verkehrte – war groß. 1918 schlug Carli dem futuristischen Führer vor, eine
neue Zeitschrift, »Roma futurista«, zu gründen, um »eine mächtige Offensive
von Ideen gegen die internen und externen Feinde der italienischen Jugend
und des Ruhms« zu führen.84 Das politische Engagement von »Roma futurista« ermöglichte das Zusammentreffen und die Fusion der Veteranengruppe
der arditi mit den Futuristen: Carli schrieb seinen Appell an die arditi, die
neue Avantgarde der Nation zu bilden und die »neuen Werte« der Politik und
der Kunst zu verwirklichen. Diesem Appell folgte die Gründung der von den
futur-arditi Carli und Ferruccio Vecchi geleiteten arditi-Gliederung und das
»Manifesto dell’ardito futurista«85, das die Fusion der beiden Bewegungen
bestätigte. Carli trat 1920 mit Marinetti aus der PNF aus und ging nach Fiume, wo er sich mit anarchistischen und sozialistischen Gruppen in Verbindung setzte und seine alte Idee einer Zusammenarbeit der arditi und Futuristen mit ihnen entwickeln wollte.86 Seine überraschende reaktionäre Wende
fand zwischen 1920 und 1921 statt und bedeutete den Anfang der neuen
kulturellen und politischen Tätigkeit mit Settimelli, die 1923 zur Gründung
der Zeitschrift »L’impero« führte.
Die antimoderne Revolte: die Radikalisierung der futuristischen und avantgardistischen Haltung
Während Marinetti nach seinem überraschenden Austritt aus der faschistischen Partei 1920 später zum Faschismus zurückkehrte und den Futurismus
zu einer rein ästhetischen Strömung erklärte, setzten Carli und Settimelli ihr
politisches Engagement mit der Gründung der reaktionär-futuristischen Zeitung »L’Impero« gegen die vorherrschende Richtung des Futurismus fort87:
Sie versuchten nach 1920 das politische, antiklerikale und revolutionäre
Programm des ursprünglichen Futurismus weiterzuentwickeln, in der Hoffnung, auf das politische Leben des Regimes Einfluß zu nehmen. Die Gründung der Zeitschrift »L’impero« drückte nicht nur die Übernahme künstleri131
scher und literarischer Ideale des Futurismus aus – in seinen Rubriken veröffentlichte »L’impero« auch die avantgardistische und futuristische Kunst -,
sondern auch und insbesondere ihr Streben nach der Bildung einer faschistischen Kultur, welche das ursprüngliche futuristische Modell des »Lebens als
Kunst« verwirklichen sollte.
»Feinden eines antikünstlerischen, antiliterarischen, sozialistischen und
veralteten ängstlichen Monarchismus, Feinden einer antikriegerischen, humanitären, verzichtenden, mittelmäßigen Republik, bereiten wir ein Reich
des Genius, der Kunst, der Kraft, der Ungleichheit, der Schönheit, des Geistes, der Eleganz, der Originalität, der Farben, der Phantasie vor ...«88
Auch der ehemalige Syndikalist Curzio Suckert und der futuristische
Künstler Mino Maccari lehnten die Verwandlung des Futurismus ab. Konsequenterweise attackierten auch sie den nachfolgenden Versuch Marinettis,
den Futurismus als eine art de Régime zu profilieren und damit eine futuristische Kunstschule zu bilden. Laut Maccari und Suckert führte dieses Projekt
Marinettis dazu, daß die Kunst »normalisiert« werde, was schon in der Politik mit der faschistischen Bewegung geschehen sei. Eine solche Kunst sei
vom Regime abhängig, in Institutionen reglementiert, von Politikern geprägt
und verbreitet, und werde damit dem verhaßten Bild der akademischen, bürgerlichen, konservativen Philosophie des Idealismus immer ähnlicher. Aus
diesem Grund widersprach Suckert der von Marinetti unterstützten Institution des Kreditinstituts für Künstler, da sie »ein Attentat gegen die heldenhafte
Natur des künstlerischen Geistes, wegen ihrer Philanthropie eine hinterlistige, heuchlerische Form des Mordes an der heiligen, heldenhaften, anarchistischen, vorurteilslosen, verrückten, blutigen, intoleranten, schönen Freiheit
der Künstler«89 sei. Das Ideal der Freiheit der Kunst sollte immer ein grundlegendes Prinzip der beiden Autoren bleiben, die sich deshalb von den offiziellen kulturellen Institutionen und Initiativen des Regimes distanzierten.
»Die Politik ist die Frucht der Kultur, und nicht umgekehrt. Die Kultur orientiert, sie wird nicht orientiert; sie selbst ist Ordnung oder sie ist gar
nicht.«90 So schrieb Maccari in den 30er Jahren, als der Faschismus schon
größere Teile der Literatur und der Kunst »kolonialisiert« hatte, und erklärte
sich damit zum Feind der faschistischen Akademien, der Schule und der
Institutionen. Eine faschistische Kunst sollte nicht existieren, und wenn das
Regime wirklich etwas für die Kunst tun wollte, sollte es »junge Artisten
fördern, statt Triumphbögen zu bauen«, schrieb 1926 ein Mitarbeiter von »Il
132
Selvaggio«, Leo Longanesi91, in der mit der politischen und künstlerischen
Linie Maccaris verbundenen Zeitschrift »L’Italiano«.
In der Kunst war der ursprüngliche Futurismus, in der Politik der Faschismus von 1919 das Vorbild der Integralisten: Von diesen zwei Idealen
ausgehend kritisierten sie die aktuellen Entwicklungen, die der revolutionären Natur widersprachen. Diese Intellektuellen blieben deshalb in gewisser
Weise Utopisten, weil sie hofften, die Artekratie Marinettis doch noch unabhängig von den gegenwärtigen politischen und kulturellen Bedingungen und
Lagern zu verwirklichen. Ein Zeichen ihrer Bezugnahme auf die futuristische
Revolte läßt sich in der Weiterführung und Radikalisierung der typischen
Themen der Literatur vom Anfang des Jahrhunderts finden, die allein durch
sie in den 20er Jahren eine so konsequente Entwicklung erfuhren und in der
Folge näher betrachtet werden: der Antiintellektualismus, die Ästhetisierung
der Politik, der Irrationalismus und die Attacken gegen die Demokratie und
die Bourgeoisie. Diese vom Futurismus geprägten Inhalte gingen jedoch mit
einer starken moralischen Bedeutung der faschistischen und künstlerischen
Revolte sowie der Verherrlichung der geistigen Revolution einher, die bei
ihnen eine solch besondere, originäre Stellung und Entfaltung fanden, daß sie
sich nicht allein auf den Futurismus zurückführen lassen.
Der Feind der integralistischen Intellektuellen blieb immer die akademische und offizielle Kultur, was die Themen der antibürgerlichen und antiintellektuellen Revolte der avantgardistischen gegen die Hochkultur vorantrieb.
Curzio Suckert und Mino Maccari sahen einen unüberwindbaren Widerspruch zwischen der auf der »Intregrität und Freiheit der Instinkte« begründeten faschistischen Revolution und dem abstrakten Denken Gentiles und
Croces92, die Protagonisten und Symbole der veralteten Akademie und deshalb Beispiele der Dekadenz der europäischen Zivilisation waren. Sie waren
laut Suckert Vertreter der verfallenden Modernität, welche die nördliche,
kritische, antidogmatische Haltung, d.h. den vorherrschenden Rationalismus
und Individualismus, über das »traditionelle hierarchische, dogmatische
Denken« der orientalischen südlichen Länder Italien und Spanien und ihre
Traditionen gestellt hatten. Auch die populistische Vision Maccaris widersetzte sich dem elitären Projekt der faschistischen Kultur Gentiles, dem eine
einheitliche Interpretation der Kultur als »Überkultur« und eine Trennung
zwischen dem sich seiner Aufgabe bewußten Bürger und jenem Bürger, der
erst zur Teilnahme am ethischen Staat geführt werden mußte, zugrunde la133
gen. Die bis jetzt in ihrem »Elfenbeinturm« eingeschlossenen Intellektuellen
sollten nach Maccari durch die neue Jugend, durch Künstler, Literaten und
Teilnehmer der neuen kulturellen politischen Revolution ersetzt werden.93
Gentile und seine Schüler und Nachfolger kritisierten auch Carli und Settimelli vehement, wenn sie z.B. das von Gentile geschriebene faschistische
Manifest als »ein Essay eines kleinen Handbuchs der Propaganda ... eines
späteren Faschisten, der nie ein faschistisches Temperament haben wird,
obwohl er sich sehr anstrengt«94 bewerteten. Gentile sei genau wie Croce
»der Philosoph der ›Italietta’«: Deren Mentalität bestehe »aus Reserven,
Feinheiten, Kulturalismus, organisierter Pedanterie« und stelle die Antithese
der faschistischen Mentalität dar.95 Hinter den Attacken gegen die beiden
berühmten Persönlichkeiten verbarg sich die grundsätzliche Opposition einer
antibürgerlichen und »revolutionären« Vision von Kultur und Politik gegen
die von Gentile und Croce vertretene akademische Kultur, welche die vier
Nachfolger des ursprünglichen Futurismus konsequenterweise bekämpften.
Auch der von Mussolini als zutiefst faschistisch bezeichneten Bildungsreform Gentiles lag eine klassische und elitäre Prägung zugrunde, welche die
Integralisten wegen der Unterscheidung zwischen dem elitären klassischen
Gymnasium und den technischen Schulen, der Priorität der Philosophie über
das technische Wissen sowie der Zentralisierung der Bildungsinstitutionen
und Programme nicht teilten. Nur eine radikale antiphilosophische und antiakademische Haltung könne jenen Bruch in der Interpretation der Geschichte
und in der Vision der Zukunft verursachen, der zur politisch-ästhetischen
Revolution führen sollte. Im Gegensatz zu Gentile, der die faschistische
Kultur auf einer philosophischen Basis mit seiner Theorie des ethischen
Staates legitimiert und sie in den traditionellen akademischen Bildungsinstitutionen strukturiert hatte, sollte die Kultur für die integralistischen Intellektuellen in keinem theoretischen System oder institutionellen Projekt verwirklicht und eingeordnet werden, da ihr primärer Charakter die Spontaneität
sei. Gemeint war damit die Spontaneität des squadrismo, der arditi, und der
Bewegung, welche die gewalttätige Revolte gegen die liberalen bürgerlichen
Institutionen ohne irgendwelche Doktrin durchführen sollte.
Die Ästhetisierung der Politik war ein wesentliches Kennzeichen der integralistischen Vision und wurde aus zwei Richtungen vorangetrieben: Nicht
nur wird die Kunst zur Politik und der Künstler zum Verteidiger einer politischen Vision, sondern auch die Politik zum ästhetischen Erlebnis erklärt. Der
134
Faschismus sei eine Revolution, da er einen neuen Lebensstil einführe: Für
Suckert stellte er die Wiederherstellung und gleichzeitig die Vollendung der
heldenhaften italienischen Tradition dar96, für Carli und Settimelli den Träger
der instinktiven und gewalttätigen spontanen Aktion, für Maccari die politische Übertragung der in der Provinz geborenen und vom gewalttätigen squadrismo vertretenen ästhetischen und traditionellen Vision. »Faschist« bezeichnete keine politische Zugehörigkeit, sondern eine konsequente und
totale Haltung gegenüber dem ganzen Leben: Als »Faschist« verstand zum
Beispiel Settimelli »jenen, der die Wirklichkeit in ihrer Totalität liebt und ihr
männlich entgegentreten kann«.97 Diese antiintellektuelle und ästhetische
Interpretation der intellektuellen Tätigkeit und der politischen Veränderung
war auch mit der Neubewertung irrationaler Komponenten und mit dem
Kampf gegen die aufgeklärte moderne Mentalität verknüpft. Schon zu Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn hatten Carli und Settimelli die Bedeutung
der irrationalen Kräfte für die menschlichen Tätigkeiten unterstrichen: Sie
forderten eine neue Kunst und Literatur, deren Objekt der Geist selbst sein
sollte, »dieser dunkle Grund der Psyche, wo eine chaotische Welt aus Bewegungen, Farben und Nachklängen pausenlos gärt«.98 Die spätere Entwicklung
Carlis und Settimellis als Verfechter der Tradition und der Wiederherstellung
der organischen Gemeinschaften muß dann aus dieser Perspektive als Entwicklung einer antirationellen und antimodernen ästhetischen Vision verstanden werden, die zur Ablehnung der aufgeklärten modernen Mentalität
führte.
Die Verherrlichung des herrschenden Individuums, die Revolte gegen die
bürgerlichen Werte und die Wiederherstellung der heroischen Traditionen
waren die Anforderungen Carlis und Settimellis an eine »wahre« politische
und kulturelle Erneuerungsbewegung, welche nach der Überwindung der
Dekadenz und der Vollendung der futuristisch-faschistischen Revolution
streben sollte, die Marinetti nicht zu Ende geführt hatte. »Was uns unterstützt, ist nicht nur die höchste Bewußtheit der Aufgabe, die uns das Schicksal erteilt hat, sondern auch die mathematische Sicherheit, einer besseren
Rasse und einer höheren Ebene des Lebens anzugehören«.99 Und um diese
Aufgabe zu erfüllen, brauchte man die Gewalt – Gewalt nicht als Mittel, um
eine neue Legalität und Sicherheit zu erreichen, sondern als Selbstzweck, als
einen Wert und ein Zeichen der Zerstörung der alten Welt. »Faschist zu sein«
bedeutete dann, Gewalt auszuüben: Die Faschisten, die Träger der neuen
135
Zivilisation, hatten nicht durch die parlamentarischen Diskussionen, sondern
durch die Gewaltanwendung gewonnen, und sollten die Gewalt weiter anwenden. Die letzte Konsequenz dieses Denkens war die totale Zerstörung der
demokratischen und liberalen Mentalität und folglich das Zerbrechen aller
demokratischen Regeln und jeder Legalität, was Maccari und Suckert befürworteten. Auch Maccari trug zur Verherrlichung des Irrationalismus bei,
indem er die »männliche« Gewalt des wichtigsten und lebendigsten Aspekts
des Faschismus, des squadrismo, und die patriotischen Gefühle als Herzstück
der neuen Kultur darstellte: »Die Gewalt ist die Gottesstimme. Die Gewalt
ist die Gerechtigkeit der Natur. Die Gewalt ist die notwendige und unvermeidbare Waffe des täglichen Zivilkampfes. Die Gewalt, auch wenn sie zur
Vernichtung eines menschlichen Lebens führt, bleibt die edelste, die reinste,
die naivste, die einfachste, die christlichste Waffe für jeden Kampf«.100
Suckert trieb das Thema der Ablehnung der Rationalität auf die Spitze
und verband es mit einer artikulierten Kritik an der Modernität, die auf eine
pessimistische Deutung der Geschichte und Politik und auf die Theorie der
Elite verwies. Die einzige Möglichkeit, die Dekadenz zu überwinden, lag
gemäß dem ehemaligen revolutionären Syndikalisten Suckert in einer zweiten »Gegenreformation«101, in der geistigen Revolte gegen die europäische
Dekadenz, einer Revolte, die hauptsächlich nach einer moralischen Veränderung strebte, in der südlichen Lebensweise und dem Volk ihren Ursprung
hatte und die dogmatische und hierarchische Mentalität der östlichen und
südlichen Gemeinschaften wiederherstellte. Für Suckert stand der Kampf
zwischen dem Guten – der Latinitas – und dem Bösen – dem nordischen
Geist, »tedesco e barbarico« – im Vordergrund. Die vernichtende und überall verbreitete nördliche Lebensweise, deren erstes Modell die Kritik Luthers
an der kirchlichen Autorität darstellte, bedeutete für ihn den Sieg der individualistischen und materialistischen Mentalität des Bürgertums,, welches
seine ökonomischen Interessen über alle anderen Werte setzte. Das Bürgertum habe dadurch die Treue und das Autoritätsgefühl, aber auch die soziale
Solidarität und den Sinn des individuellen Lebens zerstört.102 Insbesondere in
Italien, wo die Traditionen der alten Gemeinschaft durch die Kirche und den
natürlichen »mythischen« Charakter des italienischen Volkes – und zwar
seinen Glauben an traditionelle Werte – regiert hätten, sei der Einbruch der
nördlichen, zersetzenden Kraft zerstörerisch gewesen. Außerdem habe sie die
Lüge der Demokratie und die Sklaverei des Kapitalismus eingeführt: Erstere
136
sei nach Suckert, der auf die Elitentheorie Paretos verwies, nur die versteckte
Beherrschung der Massen durch die bürgerlichen, modernen Eliten, die ihre
korrupten politischen Spiele unter dem Vorwand der Legalität weiterführten;
letzterer habe den Wert des Individuums insofern noch stärker reduziert, als
er den Menschen als eine rein ökonomische Entität – den Arbeiter – betrachtete.
Zusammenfassend implizierte die »Revolution« für alle Integralisten eine
Verwandlung des ganzen Lebens in ein ästhetisches Erlebnis wie bei den
Futuristen, aber auch eine moralische Aufgabe: die Bildung einer stärkeren
und würdigeren Zivilisation, einer Rasse, welche die Eigenschaften der mediterranen Kultur zeigen sollte. »Wir in Europa stellen ein lebendiges Element der Opposition gegen den triumphierenden Geist der nördlichen Nationen dar; wir müssen diese sehr alte Zivilisation verteidigen, die sich auf alle
Geisteswerte stützt, gegen jene neue, ketzerische und falsche Zivilisation, die
sich auf alle physischen, materiellen, mechanischen Werte stützt. Dies ist
unsere Funktion«.103 Die Revolution müsste, so die Integralisten, noch vollendet werden; die Gesellschaft sollte laut Carli und Settimelli in ihrer Ideologie und ihren Strukturen das ideale Modell der hierarchischen, traditionellen, monarchistischen Gemeinschaft verwirklichen, einer traditionellen Gesellschaft, in der nach Suckert und Maccari das Volk der Provinzen regieren
würde. Im Gegensatz zur konservativen Revolution Gentiles stellte diese
Vollendung des Faschismus eine wirkliche Subversion der bürgerlichen
Ordnung dar, deren Aufgabe darin bestand, die politisch herrschenden Klassen und die liberalen Institutionen zu vernichten, und mit ihnen die Akademie, das liberale Wissen und jede Spur der Modernität, was auf künstlerischem und politischem Niveau geschehen sollte. Bezüglich Kunst und Literatur vertraten Carli und Settimelli die klassischen Werte der italienischen
Tradition gegen die Dekadenz der Literatur und des Idealismus: Aus diesem
Grund verherrlichte Carli die einfache Kunst des Symbolismus, und Settimelli erarbeitete eine kritische »wissenschaftliche« Methode – die »Theorie
der Denkensbewertung« –, um die intellektuellen Werke nach den von ihm
als positivistisch definierten, festgelegten Kriterien zu bewerten.104 Diese
komplizierte und intellektuelle Analyse der Kunst durch die »zerebralistische
Strömung«105 führte zur Ablehnung der zeitgenössischen Literatur und zur
Rückkehr zu der des 19. Jahrhunderts. Ihre literarischen Vorbilder stellten
die Werke Baudelaires und des Symbolismus dar, die durch die Vernachläs137
sigung der komplizierten und pathetischen Themen zugunsten der einfachen,
reinen und klassischen Form gekennzeichnet waren, was nur teilweise dem
Kunstideal Maccaris und Malapartes entsprach: Alle blieben ihrem Stil nach
stets Futuristen, aber sie erarbeiteten auch Themen der klassischen Tradition,
wie Carli und Settimelli. Eine Koexistenz klassischer und avantgardistischer
Motive wurde bei allen integralistischen Autoren deutlich: Settimellis positivistische Analyse der Kunst war in ihrer Form avantgardistisch, führte aber
zur Verherrlichung der alten Vorbilder; auf gleiche Weise präsentierten sich
die Darstellungen Maccaris und Suckerts zwar in avantgardistischem Stil,
zielten aber auf die Wiederherstellung des Klassizismus. So wurde die
Avantgarde zur Tradition – in der Kultur und in der Politik. Die futuristische
Revolution verwandelte sich in eine antimoderne Revolte, welche die Wurzeln der Kultur des 20. Jahrhunderts in Frage stellte; nicht nur den Materialismus, den Positivismus oder auch den Aktualismus, sondern das aufgeklärte Denken und die Rationalität an sich. Was aber nicht bedeutet, daß die
integralistischen Intellektuellen, und insbesondere die Monarchisten Settimelli und Carli, als reine Reaktionäre eingeordnet werden können: Sie versuchten kein Modell der traditionellen Monarchie wiederherzustellen, da
ihnen die Konsequenz De Maistres fehlte, die alte hierarchische Ordnung zu
propagieren; im Gegensatz dazu war ihre Vorstellung der Eliten zu populistisch gefärbt. Obwohl sie die Wiederherstellung der Ordnung und der Hierarchie in der Innenpolitik sowie der Macht der »italienischen Rasse« in der
Außenpolitik forderten, bekämpften sie die Nationalisten und die Monarchisten, da diese nach der Wiederherstellung der »moderaten« Politik des 19.
Jahrhunderts strebten. Der vom »schwachen« Vittorio Emanuele III. geleiteten Monarchie stellten sie ihr Staatsideal gegenüber, eine von Mussolini
regierte Monarchie, die dem italienischen Volk mit dessen starkem Charisma
eine neue Einheit böte und eine organische Gesellschaft verkörperte. Noch
stärker vom reaktionären Denken geprägt war Maccaris und Suckerts Auffassung der Tradition. Sie verkörperte für sie die völkische, italienische Tradition der Agrargesellschaft und gleichzeitig die orientalische, südliche Zivilisation, deren hierarchisches System und traditionelle, autoritätsorientierte
Denkweise, welche die Solidarität und Verschmelzung des Individuums mit
der Gemeinschaft ermöglichte und somit die moderne Isolation und den Individualismus bekämpfte. Andererseits unterstrichen Suckert und Maccari
immer das revolutionäre Streben ihres Kampfes: Beide predigten den Um138
sturz der Bourgeoisie und die Fortsetzung des politisch-moralischen Anspruches der Frontkämpfer.
Hier findet sich eine Kernposition beider Autoren, die vertieft werden
muß, insbesondere hinsichtlich ihres Begriffs der Bourgeoisie. In Bezug auf
die soziale Referenz war ihre antimoderne Theorie gegen die Kapitalisten
wie gegen die Massen (im Sinne der sozialistischen Arbeiterklassen) gerichtet; sie lehnten zwar die Bourgeoisie ab, vertraten aber zugleich die Forderungen des revolutionären Kleinbürgertums, das im Vergleich zu den anderen sozialen Schichten nicht organisiert war und keine eigene ideologische
Utopie oder kein politisches Projekt entwickelt hatte. Die Tradition und die
Revolution, die Maccari gegen die »Feinde« in Gestalt der normalizzatori
(ein sehr allgemeine Bezeichnung, die Gentile, Croce, Bottai, Rocca, Federzoni einschloß) verteidigte, widerspiegelten die Ansprüche und die soziale
Lage des bäuerlichen Kleinbürgertums, das in der industriellen Gesellschaft
zwischen den organisierten Kräften der Arbeiter und des Kapitalismus aufgerieben wurde106 und eine eigene politische und kulturelle Identität ausbilden
wollte. Dies wird in den Artikeln und Essays Maccaris besonders deutlich,
wenn er die bäuerliche Gesellschaft und ihrer Produktionsverhältnisse – die
Halbpacht – verteidigt, aber auch bei den anderen Autoren, die eine Rückkehr zu mythischen alten Traditionen forderten. Bei Suckert läßt sich ebenfalls die schon Anfang des Jahrhunderts verbreitete Zweideutigkeit der Haltung gegenüber der Bourgeoisie beobachten: Die Revolution sei der Kampf
eines jungen und mutigen gegen das alte verdorbene Bürgertum. Der wesentliche Kampf finde nicht zwischen ökonomischen Schichten, sondern
zwischen Mentalitäten statt – der bürgerlichen korrupten und derjenigen der
Helden und der Traditionen.107 Die Unterschiede zwischen Proletariat und
Kapitalisten wurden ebenso überflüssig wie der Klassenkampf, weil das
»bewaffnete Proletariat« einen Mythos, ein traditionelles nationales Ideal
darstellte, das sich wie bei Marinetti nicht einer ökonomischen Schicht, sondern der veralteten, bürgerlichen Generation widersetzte. In seinem Buch
»L’Europa vivente«, in dem er eine »historische Theorie des nationalen Syndikalismus« skizzieren wollte, stellte Suckert eine unorthodoxe und eigenartige Interpretation des Syndikalismus vor: »Die moderne Funktion der Produzenten kann nicht sein, eine neue Ordnung der sozialen Werte zu schaffen,
sondern eine neue Ordnung der zivilen Werte. Der faschistische Syndikalismus macht im Gegensatz zu jenem von Sorel einen Unterschied zwischen
139
Gesellschaft und Zivilisation: Deshalb verschreibt er sich nicht der Aufgabe,
eine neue proletarische Zivilisation auf den Ruinen der bürgerlichen vorzubereiten und festzusetzen ..., sondern der Vorbereitung und der Verwirklichung einer Rückkehr in die nationale, italienische, historische Zivilisation.«108 Die Zukunft der Nation bestand damit für Suckert in der Entwicklung
der alten klassischen Zivilisation der italienischen Rasse und nicht wie im
Sozialismus in der politischen und ökonomischen Herrschaft einer bestimmten Klasse. Die spirituelle Entwicklung und die Geschichte Italiens vollzogen
sich in der ständig wiederholten Revolte des Volkes gegen die »Fremden«:
Vom Risorgimento bis zum Faschismus habe das Volk seinen Widerstand
gegen die nördliche Rasse und Mentalität erklärt, den Krieg gegen diese
gewonnen und die Eliten durch die von ihm beauftragten nationalen Helden
ersetzt.109 Im Sinne einer langen geistigen und antimodernen Rebellion wird
die Verbindung der Revolte Caporettos mit dem Risorgimento einerseits und
dem Faschismus andererseits hergestellt. Bemerkenswert ist Suckerts allgemeine Deutung der italienischen Geschichte, die der Interpretation Gentiles
entgegensteht: Der Risorgimento wird nicht als Anfang des liberalen bürgerlichen Denkens und einer entsprechenden Tradition, sondern als Revolte
gegen das Bürgertum betrachtet und die Weiterentwicklung der mythischen,
ursprünglichen Zivilisation des lateinischen Volkes verherrlicht. Hier verschmolzen die verschiedenen Quellen der intellektuellen Bildung Suckerts:
Sein ursprünglicher Syndikalismus (den er nie ganz vergaß und der seinen
Beitritt zum Kommunismus nach dem Kriege bestimmte), sein Futurismus
und der Einfluß des Traditionsbegriffs der Action Française von Maurras
und Daudet. In überraschender Art verwandelte sich im Denken Suckerts die
Volksrevolution in eine traditionelle Reaktion und in die Rückkehr zu einer
traditionsorientierten Gemeinschaft: Das syndikalistische Denken war kein
Ideal an sich, sondern funktionierte in der Theorie Suckerts nur als Mittel zur
Revolution – zur Wiederherstellung der traditionellen Werte. In dieser Interpretation wurde der Syndikalismus seines Sinnes entleert und als Methode
zur Bildung eines sozialen Gegenmodells benutzt. Weniger sozialistisch,
aber immer noch antikapitalistisch war die Haltung Maccaris in seinem Aufruf zur »Verteidigung jener die natürlichen Wurzeln unserer Zivilisation und
unserer Macht bildenden Elemente der italianità gegen Theorien, Praxis und
Tendenzen unter der Gattung der Modernität, die sie verschmutzen und verderben können«.110
140
Zusammenfassend besaßen die zwei Varianten der Revolution, jene
rechte von Carli und Settimelli und die sogenannte linke von Suckert und
Maccari, ihren Ursprung in der Revolte gegen die Kapitalisten und die Arbeiterklassen und waren von einem Schwanken zwischen modernen und
traditionellen, revolutionären und reaktionären Themen gekennzeichnet, was
besonders in Suckerts Auffassung deutlich wurde. Insgesamt bildete die
Position der vier Autoren, die sich wegen ihrer politischen und kulturellen
Unbestimmtheit auf eine Anti-Theorie gründete, eine antireformistische und
antimodernistische Tendenz111 aus, welche das faschistische Projekt als »einen dritten traditionellen Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus
darstellte und eine »harmonische Synthese des romantischen Geistes des
Aktivismus mit dem Kult der klassischen Tradition, mit der Anforderung an
eine feste Ordnung und an ein in einem organischen Wertsystem integriertes
Leben«112 erreichen wollte.
Der politische Kampf der integralisti
Die Unterstützung der intransigenti durch die integralistischen Intellektuellen – was politisch deren Mitwirkung an der intransigenti-Bewegung bedeutete – kann auf einer strukturellen Ebene, welche das politische Engagement
dieser Kulturexponenten durch ihre Position im intellektuellen Milieu erklärt,
und auf einer politisch-ideologischen Ebene, welche die inhaltliche Bedeutung des politischen Engagements der extremen Intellektuellen und die Ablehnung der modernen liberalen Gesellschaft erschließt, analysiert werden.
Was das erste Niveau betrifft, so besetzten die beiden Strömungen – die »antimodernen« Intellektuellen und die politischen intransigenti – extreme
Randpositionen in den jeweiligen Feldern: Die intransigenti bildeten eine
Randbewegung im politischen Feld, die, wenn sie nicht gerade von Mussolini als taktisches Instrument ausgenutzt wurde, eine interne Gefahr darstellte;
ebenso war die antimoderne integralistische Bewegung eine von der akademischen »Hochkultur« marginalisierte Strömung, die nur selten ernst genommen wurde. Die Homologie zwischen den intransigenti und den extremen Intellektuellen kann gut die besondere Position erklären, die sowohl
Suckert und Maccari als auch Carli und Settimelli mit ihrer Kritik am moderaten, kompromißorientierten Charakter der Politik Mussolinis und der revi141
sionisti während der Jahre 1924-25 vertraten. Auf politisch-ideologischer
Ebene ist festzustellen, daß die antimoderne Bewegung, die ihre Bedeutung
hauptsächlich aus ihrer Opposition gegen die konservative, bürgerliche Regime-Politik gewann, die Intellektuellen der politisch extremen Positionen
umfaßte (die der völkisch orientierten Maccari und Suckert wie die der extremen Rechten Settimelli und Carli). Ein primäres Ziel war für beide Gruppen die Weiterführung der faschistischen Revolution bis zur kompletten
Veränderung der Gesellschaft und die Attacke gegen das »korrupte und veraltete« Denken der normalizzatori und der konservativen Intellektuellen und
Politiker, welche die Natur des Faschismus durch Kompromisse und politische Manöver verdarben. Sie verteidigten die Reinheit und die Integrität der
Kultur und des Faschismus gegen die »mit der von Gott und Gentile inspirierten üblichen Rhetorik« gerechtfertigte »Verstärkung des liberalen Staates.«113 Hierin zeigt sich ihre utopische Projektion auf den existierenden
Faschismus, die sich darauf gründete, daß das »Gute« von dem »Bösen«, die
Freunde von den Feinden innerhalb des Faschismus zu trennen seien, um
eine totale faschistische Revolution der Gesellschaft zu ermöglichen. Gemeinsame ästhetische und moralische Motive förderten das Zusammentreffen der faschistischen, extremen Intellektuellen mit den intransigenti: die
Kritik der intransigenti an den liberalen und konservativen Kräften, ihre
Ablehnung der Legalität, die sie als Vorwand der Konservativen verstanden,
um die faschistische Revolution zu neutralisieren und die liberale Regierung
wiederherzustellen, ihr Lobpreis der Kämpfer des arditi und des Volkes der
Provinzen, ihre Ablehnung der abstrakten Theorien und ihre instinktorientierte Lebensart.
Was die politische Vision der integralistischen Intellektuellen betrifft,
sollte die Organisation des Staates nicht derart sein, daß der Faschismus die
alten Institutionen integrierte und die Kontinuität mit einem Teil der liberalen
Traditionen sicherte, da dies für sie Betrug am »ursprünglichen faschistischen Geiste« war. Der »wahre« Faschismus sollte eine fließende »Antisystem«-Bewegung sein und die liberale und staatliche Doktrin intensiv bekämpfen. In politisch konkreten Machtbeziehungen bedeutete dies, den Primat der Bewegung festzuschreiben – d.h. den Primat der Partei, die zum
großen Teil dem »alten«, ursprünglichen Faschismus entsprach -, und die
Revolution über den faschistischen Staat zu stellen, das revolutionäre Streben
über die konkrete politische Staatsräson zur Konstitution einer stabilen Re142
gierung, die Durchsetzung der faschistischen Ideale über die Beachtung der
Gesetze und die Gewinnung des Konsenses. Die Utopie und die unbestimmte
Auffassung dieser Strömungen wurden von den offiziellen Exponenten des
Faschismus – insbesondere von Mussolini und den Nationalisten – auch auf
ideologischem Niveau attackiert, und führte zu zwei Polemiken: zwischen
den intransigenti und Mussolini und zwischen den intransigentiIntellektuellen und den revisionisti. Diese Polemiken erreichten ihren Höhepunkt im Jahre 1924, als der Mord an Matteotti und die darauffolgende Krise
innerhalb der faschistischen Partei die Spaltung zwischen den unterschiedlichen Strömungen vergrößerte. Die Diskussion ging von der Position und der
Rolle der Partei aus, die noch von ursprünglichen Elementen der Bewegung
beherrscht wurde: Für Mussolini und die Nationalisten stellte die PNF wegen
der Konflikte und Machtkämpfe zwischen den lokalen Führern eine Behinderung und Gefahr dar und sollte im Staat absorbiert werden – was später auch
erreicht wurde; für die revisionisti und intransigenti hingegen sollte die Partei eine wesentliche Rolle im Regime behalten, wenn auch in jeweils anderem Sinne.
Insgesamt war die Interpretation der Entwicklung des Faschismus durch
die revisionisti an denselben politischen Fragen Gentiles orientiert: Die Bildung des Staates und die Erziehung der Eliten, die auch für sie aus der intellektuellen Schicht stammen sollten. Bottai zum Beispiel unterstrich oft die
Verbindung des revisionismo mit dem Aktualismus und seinem Philosophen
Gentile, die er als einzige kulturelle Basis für den faschistischen neuen Staat
betrachtete. Der faschistische Staat der revisionisti sollte den Wandel und die
Entwicklung der Bewegung und der Partei darstellen, die ihre illegalen Methoden und ihren spontanen Charakter zugunsten eines politisch-kulturellen
Projektes zur Verstärkung des Staates beiseite legen sollten. Die Partei hätte
sich am Ende mit dem Staat identifizieren, aber nicht verschwinden sollen;
sie sollte sich in ein offenes Milieu zur Diskussion und zum Nachdenken
über die faschistische Ideologie verwandeln. Und genau diese Entwicklung
der faschistischen Doktrin und politischen und intellektuellen Eliten sei die
notwendige Aufgabe der Partei und des ganzen Faschismus: Der Faschismus
sei »eine Revolution der Intellektuellen. Eine intellektuelle Revolution«,
wetterte Bottai gegen die von den intransigenti verlangte »Revolution, die
sich in einer rein muskulären Anstregung erschöpfte«.114 Die Krise der PNF
lag laut den revisionisti115 an ihrem Mangel an politischer und ideologischer
143
Diskussion und Entwicklung, was dazu führe, daß von der Partei keine politische Elite gebildet werde oder werden könne. Das Ziel des squadrismo –
den Faschismus an die Macht zu bringen – sei erreicht worden; als »Unbewegliche, die glauben, daß die Partei gegen alles, was wir nicht geschaffen
haben, und gegen alle, die nicht in unseren Reihen angetreten sind, bewaffnet
bleiben sollte«, beschrieb De Marsanich116 die intransigenti. Die Anwendung
von Gewalt, die Auferlegung militärischer Disziplin, die Aufteilung der
Macht im Lande zwischen territorialen Parteiführern, denen eine gemeinsame politische Vision des Faschismus fehlte, kurzum die Existenz einer
Schicht, die in der Partei gewalttätig um ihre Machtposition konkurrierte,
ohne irgendwelche politischen Ideen zu entwickeln: Das war es, was die
revisionisti bekämpften. Die Strömung der revisionisti, deren Mitglieder –
Giuseppe Bottai, Dino Grandi, Massimo Rocca und Augusto De Marsanich –
wichtige politische und manchmal intellektuelle Figuren des Faschismus
waren, betrachtete die Überwindung der Geschlossenheit der Partei und die
Zusammenarbeit mit den ehemaligen liberalen und konservativen Kräften als
den Kern der Weiterentwicklung der faschistischen Revolution. Der Faschismus sei eine moralische und intellektuelle Bewegung, deren Wurzeln im
Risorgimento zu finden seien117, und könne von keiner begrenzten Organisation wie der PNF vertreten werden.
Die von den intransigenti gepredigte »zweite Welle« der Revolution und
die gewalttätigen Methoden der »alten« Faschisten wurden von Bottai ebenso attackiert wie ihre Konzeption der Notwendigkeit einer hierarchischen
Ordnung und ihr obsessiver Haß auf die »internen Feinde«, welche nicht zur
ursprünglichen Partei gehörten und den Faschismus verderben würden. Die
Kritik Bottais war gegen die kurzsichtige politische Vision und die irrationale Betrachtung der Politik der intransigenti gerichtet, indem er die Ziele
der Revolution umdeutete: »Wir haben nicht die Macht, weil wir die Revolution geführt haben; wir haben die Macht, um die Revolution zu führen.
Und die Revolution soll geführt werden, wenn man die Macht in Händen
hält, aber in einer ganz unterschiedlichen Art, als es einige uns bekannte
robespierrini gerne möchten: Es bedeutet, ein neues Gleichgewicht der Tätigkeiten und der Funktionen des Staates zu suchen, die Prinzipien neu zu
erarbeiten, und die großen Grundideen in den Institutionen und, wenn nötig,
selbst in der Verfassung zu konsolidieren.«118 Der Staat brauche keine populäre, unorganisierte Revolution, sondern eine Struktur, in der die im Risor144
gimento begonnene »befreiende« Politik weitergeführt werden sollte. Den
revisionisti bedeutete das Risorgimento kein mystisches Bild der traditionellen Gesellschaft – wie bei Suckert und Maccari –, sondern das Denken der
Rechtsliberalen, das auch von Gentile verherrlicht und weiterentwickelt wurde. Die »Zweite Welle« sollte kein Umbruch der Geschichte und Modernität
sein, sondern die Bildung einer politisch-intellektuellen Basis des Faschismus, die zur Neubelebung der liberalen Politik und zur Integration des Faschismus in die moderne Geschichte Italiens führte. Die Tradition, auf die
der Faschismus verweisen sollte, wurde bei Bottai und ebenso bei Gentile als
jene des 19. Jahrhunderts, nicht als die alte römische oder mediterrane Tradition verstanden. In der italienischen Tradition, zu deren Vertretern Machiavelli, Vico, Croce und Gentile zählten119, sei der Faschismus Nachfolger
des Liberalismus und solle keineswegs die utopische Mission einer Gegenreform erfüllen. Camillo Pellizzi, Giuseppe Bottai und Augusto De Marsanich
– die gentiliani-faschistischen Intellektuellen – lehnten die anachronistische
Vision der Bewegung der Gegenreform ab und verteidigten den notwendigen, modernen Charakter des Faschismus.120 Diese Auffassung der mit den
intransigenti verbundenen Intellektuellen wird noch wichtiger, wenn man die
zeitlichen Umstände ihrer Polemik bedenkt: Es war die Periode der faschistischen Verfassungsreform durch die achtzehnköpfige Kommission, welche
die faschistische Veränderung des Staates innerhalb der vorherigen Verfassung durchführen und ihre Kontinuität mit dem Risorgimento feststellen
sollte. Das Vorbild für Bottai und die revisionisti war der Staat Gentiles, auf
den die Bemühungen der achtzehnköpfigen Kommission zielten.
Die Strömungen der revisionisti und der integralisti waren jedoch nicht
nur deshalb gegensätzlich, weil sie zwar ein gemeinsames Ziel – die Stärkung der Partei -, aber auch jeweils ihre eigene Vormachtstellung in der
Partei anstrebten: Suckert wollte die revisionisti im intransigenten Element
und in seiner Politik absorbieren und sie in ihrer Wirkung neutralisieren, wie
umgekehrt Bottai die intransigente Strömung. Suckert sah in der Politik
Farinaccis den »Kern einer neuen, historischen, typisch italienischen Formation, der vom Faschismus ihre Ehre zurückgegeben wurde, ober- und außerhalb all jener politischen Sensibilität, die wir Moderne nennen.«121; allein
Farinacci, aber keineswegs die revisionisti Massimo Rocca und Giuseppe
Bottai, welche die parlamentarische, liberale und veraltete Mentalität des
»politischen Faschismus« vertraten, könnte also eine revisionistische Reform
145
der Partei anstoßen und so »das Problem der Eroberung des liberalen und der
Bildung eines einheitlichen Staates«122 lösen. »Der revolutionäre Geist der
Provinzen muß den Geist des Revisionismus überwinden, indem er ihn nicht
erstickt, sondern assimiliert, integriert und umfaßt. ... Der revolutionäre Antrieb, der aus den Provinzen stammt und nach dem unitären Staat strebt, muß
sich vor allem den revisionistischen Geist aneignen, der, wenn auch konfus
und auf alten liberalen und demokratischen Formen fußend, jenes moderierende und friedenstiftende Bewußtsein des Staates besitzt, das dem integralen
Faschismus der Provinz noch fehlt und unverzichtbar für die Bildung eines
bestimmten und unabhängigen unitären Bewußtseins ist.«123
Nach der Rede Mussolinis vom 11. November 1924, in der dieser die
Normalisierung des Faschismus im Sinne seiner Darstellung als traditionelle
politische Partei behauptet hatte, verstand Maccari124 jedoch, daß der squadrismo in der Strategie Mussolinis nur ein Instrument war, um die Hochbourgeoisie einzuschüchtern. »Mit seiner rezenten, ultranormalisierenden,
legalitären, quietistischen und pazifistischen Rede«, schrieb Maccari 1924,
»entläßt Mussolini ... uns alle, die ihm als squadristi mit unseren unerfahrenen, jungen, gesunden und ehrlichen Kräften dienten. Gut. Wir haben niemals nach etwas gefragt. Und wir erwarten heute nichts ... Die Zeit der
Kompetenzen ist die Zeit der Transaktionen, der Kompromisse, der Anpassungen ...«125
Der vom Faschismus verherrlichte Prozeß der doppelten Revolution gegen das alte Regime und gegen den Kommunismus sei nichts als Betrug
gewesen, da nur ein Teil der Revolution durchgeführt worden sei: Obwohl
der Kommunismus besiegt geworden sei, sei das Bündnis mit den alten konservativen Kräften, das dem faschistischen, »normalisierten« Staat zugrunde
liege, gestärkt worden. Von der anfänglichen faschistischen Revolution sei
nur die übliche politische, kompromissorientierte Mentalität geblieben: Die
korrupte Politik habe gegen die Großzügigkeit und Naivität der Provinzen
gewonnen.
Auch Suckert warnte Mussolini in seinem Artikel vom 21. Dez. 1924,
»Der Faschismus gegen Mussolini«, vom Standpunkt des »integralen Faschismus« aus: Mussolini sei von den »faschistischen Provinzen« gewählt
worden; deswegen sei es seine Pflicht, »den revolutionären Willen des Volkes« zu verwirklichen. »Entweder führt Mussolini [ihn] aus, oder er legt sein
revolutionäres Amt, auch vorübergehend, nieder.«126 Die Programmpunkte
146
des integralen Faschismus waren die Weiterführung der Revolution, die Opposition gegen die Normalisierung des Faschismus, der Aussschluß der korrupten Faschisten, die Übernahme der vollen Verantwortung für die gewalttätigen Aktionen durch die ganze Partei, nicht nur durch die squadristi (und
zwar auch für den Mord an Matteotti), und der Vorrang der »idealen und
programmatischen, antiparlamentarischen Grundelemente des Faschismus«127 vor den politischen Kompromissen und Interessen. Auf gleiche Weise attackierte Maccari die fiancheggiatori in seiner Zeitschrift »Il Selvaggio«
vom 26. Juli 1924, deren Titel lautete »Man kehrt nicht zurück, hat der Duce
gesagt, aber wann werden wir weitergehen?«; er verlangte zudem den Ausschluß der fiancheggiatori aus der faschistischen Partei.
Einige Monaten lang sollten die Angriffe aussetzen, denn Mussolini
schien den intransigenten und integralen Faschismus zu verwirklichen. Nach
der Ausrufung des totalitären Staates glaubten sowohl Suckert wie Maccari,
daß Mussolini die Erneuerungsbewegung der intransigenti unterstützen
wollte, doch ihre Begeisterung war von kurzer Dauer. Suckert verherrlichte
zwar die Zustimmung Mussolinis zum integralen Faschismus, demontierte
ihn aber gleichzeitig: »[Mussolini] hat endlich verstanden, daß die Revolution ihn verurteilt hätte, wenn er sein Spiel der doppelten Politik fortgesetzt
hätte. Entweder mit uns oder gegen uns. Sagen wir die Wahrheit. Mussolini
hat sich bis heute über die wahre Natur des Faschismus getäuscht. Er hat
immer geglaubt, daß die Faschisten einfach dem ›Mussolinismus‹ folgten
und nicht dem Faschismus. Er hat geglaubt, er könne mit dem revolutionären
Geist seiner Anhänger spielen, wie er will. Er hat sich vorgemacht, daß seiner Regierungspolitik alles erlaubt sei, sogar die Zerstörung und Verzerrung
der Natur und des Willens seiner Partei. ... Mussolini hat gehofft, die Revolution verhüllen und in eine antirevolutionäre Bewegung verwandeln zu können, mit dem einzigen Ziel, seine parlamentarische Position zu stärken. ... Er
hat nicht verstanden, daß ihn seine Pflicht als Führer zwingt, den konstitutionellen Staat nicht gegen die Revolution zu verteidigen, sondern den revolutionären Willen seiner Partei gegen den konstitutionellen Staat zu vollziehen.
Er hat vergessen, daß sein Sessel im Palazzo Chigi eine Barrikade war und
noch ist; daß seine Position in der Verteidigungsanlage der Institutionen jene
des Frontkämpfers, der seinen Genossen vorangeht, war und noch immer
ist.«128 Als das Bündnis Mussolinis mit den konservativen fiancheggiatori
immer stärker wurde und er den squadrismo, wie alle Gruppen des integralen
147
und provinziellen Faschismus, bekämpfte und auflöste, führten Maccari und
Suckert ihre Anschuldigungen gegen den »politischen Faschismus« weiter.
In »La conquista dello Stato« analysierte Suckert die politische Strategie
Mussolinis129 und fragte sich, ob »die Rede vom 3. Januar ein ernster Akt
revolutionärer Treue oder nicht doch nur ein Schachzug der sehr geschickten
Taktik Mussolinis [gewesen sei], eine dem Gesicht der Normalisierung übergeworfene revolutionäre Maske, um Freunde und Feinde zu täuschen«. Den
revolutionären Geist des Faschismus sahen Maccari und Suckert »nicht in
der Regierung, im Parlament, in den Hierarchien«, sondern »in den Augen
unserer Kameraden, in der Stimme des bescheidenen Anhängers, des squadrista ohne Rang, ... wenn sie uns fragen: Was machen wir?«130
Das politische Engagement der extremen Intellektuellen war dazu verurteilt, nach kurzer Zeit erschöpft zu sein. Suckert beendete bald seine politische Arbeit in »La Conquista dello Stato«, die Zeitschrift »Il Selvaggio«
wurde im Oktober 1925 konfisziert und erst 1926 als rein künstlerische Zeitschrift wieder herausgegeben.131 Alle hier erwähnten Autoren wurden immer
stärker zensiert, Suckert und Settimelli in den 30er Jahren von der Regierung
verbannt.132
Waren die integralen Faschisten Regimegegner?
Ein Teil der bisherigen Forschung hat aus Maccaris und Suckerts Kritik am
Regime auf ihre »antifaschistische« Haltung geschlossen, auf eine Art unbewußten Antifaschismus, der nicht als offene Opposition ausgedrückt werden
konnte.133 Es ist richtig, daß die Autoren die Zensur fürchteten und immer
versuchten, dem Regime ihre Treue zu versichern. Während sie damit einerseits den virulenten Charakter ihrer Attacken zu reduzieren suchten, scheint
andererseits ihre Beschreibung als Antifaschisten unbegründet. Sie kann
nicht erklären, wieso diese Autoren sich selbst als Interpreten des »wahren«
Faschismus und als Erneuerer der ursprünglichen und reinen Bewegung dargestellt haben. Auch ihre Beschreibung als Linksfaschisten scheint hier ungenügend: Trotz ihrer Verweise auf das Volk hatten ihre Auffassungen wenig Gemeinsamkeit mit solchen der Linken. Die gegensätzliche Interpretation stützt sich auf ihre völkische Orientierung, d.h. auf ihre Deutung des Faschismus als Revolution des Volkes der Provinzen, die sich bei Suckert und
148
Maccari, aber nicht bei Carli und Settimelli, tatsächlich zu der Forderung
nach Wiederherstellung der Tradition gesellt. Maccari legte zum besseren
Verständnis der faschistischen Revolution einen besonderen Akzent auf die
Unterscheidung der Provinz vom Zentrum, der »wilden Faschisten« der
Sturmtruppen von den korrupten Politikern und Akademikern (»Pantoffelhelden«). Die faschistische Kultur sei die Kultur der Provinzen, der squadristi ex-nulla, der Kleinbürger, welche die faschistische Revolution in der
Hoffnung betrieben hatten, der Faschismus werde eine neue Gemeinschaft
verwirklichen. Der Faschismus sollte das kulturelle Projekt der Entwicklung
einer eigenen italienischen Lebens- und Denkweise gegen die verderbende
Kraft der Modernität fördern, was bedeutete, die spezifischen Traditionen der
Provinzen und der Länder innerhalb Italiens zu fördern, da der italienische
Geist ein »gemeinsamer Nenner, eine conditio sine qua non« sei und auf
keinen Fall »die wunderschöne und lebendige Vielfalt der Sitten und Temperamente ersticken sollte«.134 Was Suckert betrifft, so war seine linke Position
mit seinem Begriff der Revolte der »Verdammten Heiligen« und der Erwekkung des italienischen Volks verbunden: Das italienische Volk habe in Caporetto sein nationales Bewußtsein und seine Helden geboren und damit die
»neue Klasse« des Kleinbürgertums gebildet. Dieses »neue Volk« sollte
durch Korporationen zur verantwortlichen Teilhabe an der politischen Macht
herangezogen werden, erklärte Suckert in einem Interview, in dem er seine
Position als links bezeichnete.135 Diese Aussage scheint aber mit der antidemokratischen Haltung Suckerts und seiner Attacke gegen das Parlament
unversöhnbar. Es ist nötig, die von ihm erkannte Bedeutung der Worte
»Teilnahme«, »Korporationen« und »Bourgeoisie« zu analysieren. Da die
Demokratie als eine Ideologie der herrschenden Klassen und eine Lüge beschrieben wurde und die hierarchische Struktur und das Führerprinzip im
Denken Suckerts nie in Frage gestellt wurden, läßt sich annehmen, daß er
keine direkte politische Partizipation der Bevölkerung am Staat wünschte,
sondern die Vertretung der Massen durch Führer und Partei; auch sein Verweis auf die Korporationen, die die Trennung in Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch den Begriff der Produzenten ersetzten, zeigt seine ganz unorthodoxe Interpretation des Syndikalismus; tatsächlich sprach Suckert immer
von Produzenten und viel seltener von der Arbeiterklasse. Das Schwanken
zwischen reaktionären und revolutionären Motiven läßt sich auch als ein
Produkt der Definition des »Kleinbürgertums« erklären, die nicht nur Suk149
kert, sondern auch Maccari erarbeitete: Wie in den Theorien der Syndikalisten, der Nationalisten und der Avantgarde bezeichnete es keine ökonomische Klasse, sondern eine Aristokratie von Jungen und reinen Faschisten,
d.h. die Revolte einer Generation, die eine neue geistige Lebensauffassung in
sich trug und der nicht alle, insbesondere nicht die »Unreinen«, angehören
konnten. Das Bürgertum und das Volk waren für sie immer eine geistige
Elite, die mutigen Jungen, die nicht von der Politik verdorben waren und
dem faschistischen Lebensstil folgten; so verlor jede soziale Bezeichnung
ihren Wert und wurde durch rein moralische und ästhetische Kategorien zur
Bestimmung der sozialen Gruppen ersetzt. Als »wenige vom Schicksal Auserwählte« bezeichnete Maccari die squadristi und kontrastierte sie mit der
»zahlreichen und grauen Herde«136 der Masse der Menschen; Suckert beschreibt in seinem »L’Europa vivente« den Typus des Italieners als Nachfolger der Helden. Auch die von ihnen geforderte Revolution beinhaltete keine
Veränderung der materiellen Bedingungen und keine politische Umwandlung, sondern die Rückkehr zur Tradition und das Streben nach der moralischen Erneuerung durch revolutionäre Methoden. Daß die politischen Kategorien keine feste Stellung in Suckerts Vorstellung hatten, läßt sich anhand
seines Vergleiches von Faschismus und Bolschewismus zeigen. Die zwei
antimodernen Revolutionen – die russische und die italienische – hätten dieselbe Funktion und würden nach der Beendigung ihrer Aufgabe miteinander
um die Beherrschung der globalen Zivilisation, d.h. der Zerstörung der liberalen und demokratischen Gesellschaften, konkurrieren. »Es wird das Aufeinandertreffen von zwei Revolutionen sein: Die italienische, von der Bedeutung des Individuums beherrscht, und die russische, von der Bedeutung
der Gemeinschaft beherrscht. Faschismus gegen Bolschewismus. Ich vertraue auf den mit dem Kreuz und dem Schwert bewaffneten katholischen,
italienischen Christus. Unser Christus kann dem Bösen widerstehen. Er wird
gewinnen.«137
Zusammenfassend läßt sich zwar ein populistischer Geist in den Werken
dieser Autoren und sogar ein Verweis auf einige Elemente des Syndikalismus entdecken, aber alle Elemente werden in ein theoretisches System integriert, das auf der Wiederherstellung von Autorität und Hierarchie und auf
der Ablehnung der Modernität beruht.
Macht der Umstand, daß sie sich keiner linken Position zuordnen lassen,
Suckert und Maccari automatisch zu orthodoxen Faschisten? Jedenfalls läßt
150
sich schwerlich behaupten, daß sie Antifaschisten waren. Der Faschismus
stellte für Suckert die Weiterentwicklung der Revolte Caporettos und des
ganzen Risorgimento dar, indem er gegen den Materialismus und Individualismus der Modernität kämpfe und damit Italien von der fremden vorherrschenden Mentalität befreie. »Ich glaube«, sagte er, »daß das revolutionäre
italienische Phänomen antimodern, d.h. antieuropäisch, ist oder sein wird.
Ich glaube, der Faschismus ist der letzte Aspekt der Gegenreformation, weil
er versucht, die eigene natürliche, historische Zivilisation des natürlichen,
antiken, klassischen, antimodernen, italienischen Geistes gegen den barbarischen, nordischen, westlichen, häretischen, modernen Geist wiederherzustellen. Und ich glaube, das russische revolutionäre Phänomen, das sich parallel zu jenem italienischen in seiner Ablehnung und seinem Kampf gegen
den modernen Geist ... entwickelt, seine historische Ergänzung ist. Die beiden helfen sich, die Modernität zu zerstören; keines ist ohne das andere verständlich, ausführbar und richtig.«138 Aus derselben Perspektive beschrieb
auch Mino Maccari die faschistische Revolution als Kampf gegen die liberale und bürgerliche Politik, die eine Bewegung gegen die Politik nach dem
Risorgimento darstelle; unter dieser »Politik« sei die den Massen aufgezwungene »fremde« Ideologie der nördlichen Demokratie zu verstehen, die
ihre wahre Teilnahme am Staatsleben verhindere.139
Die Frage nach der sogenannten Regimegegnerschaft Maccaris und Sukkerts muß dann ganz anders betrachtet werden, d.h. es läßt sich die Hypothese aufstellen, daß sie »interne« Opponenten waren und ihre besondere Stellung mit ihrer Selbstdefinition als Integralisten, welche die »ideale faschistische Revolution« gegen die Staatsräson verteidigen wollten, verbunden war.
Daß diese Autoren sich nicht unter dem Begriff der regimetreuen Intellektuellen – wie Bottai, Gentile, Rocco – subsumieren lassen, wird auch an der
Haltung des Regimes ihnen gegenüber deutlich. Maccari, Suckert, Carli und
Settimelli140 wurden marginalisiert: Manchmal wurden ihre Artikel zensiert
und sie wurden ständig von den »offiziellen« Zeitschriften attackiert;
manchmal wurden ihnen gedroht und am Ende wurden Maccari und Settimelli ins Exil geschickt. Sie waren zwar gefährlich für Mussolini, aber er
konnte sie nicht einfach als Antifaschisten verurteilen und liquidieren. Aber
warum waren sie gefährlich? Die Antwort auf diese Frage kann hilfreich
sein, um zum einen die Besonderheit der politischen Vision der integralistischen Intellektuellen und ihre Bedeutung innerhalb des politischen Kontextes
151
der 20er Jahre zu beleuchten, zum andern um ihre Marginalisierung nicht nur
als Rache Mussolinis infolge ihrer persönlichen Attacken gegen ihn zu betrachten, sondern auch in einen komplexeren Zusammenhang zu stellen. Die
vier genannten Autoren wurden tatsächlich nicht nur vom Regime zensiert
und von der Polizei kontrolliert141, sondern von einer breiten Fraktion der
faschistischen Intelligenz angegriffen – und von den übrigen ignoriert. Erst
später sollten wenige, von der faschistischen Kultur nicht mehr überzeugte
junge Intellektuelle in Settimelli und Maccari ihre Vorbilder finden. Die
Gründe ihrer Gefährlichkeit für Mussolini lagen in ihrer idealen Vision des
Faschismus. Die Gruppe von »L’Impero« und »Il Selvaggio« verherrlichte
den »Faschismus an sich« unabhängig von der Figur Mussolinis; Mussolini
war zwar der duce, aber nur soweit, wie er Träger eines von seinem Leben
unabhängigen Ideals und einer Mission war. Im Gegensatz dazu hatte Mussolini stets – und besonders nach 1925 – versucht, in seiner Persönlichkeit
und seinem politischen Charisma den Faschismus mit all seinen Idealen und
Ansprüchen zusammenzufassen, was auch zur Unbestimmtheit des Faschismus und seinem ideologisch flexiblen Charakter führte. Eine Häresie im
Faschismus, eine Interpretation, welche die von Mussolini gesetzten bzw.
verkörperten Grenzen überschritt und ihn kritisierte, war daher gefährlich –
»der Duce hat immer recht« war ein geläufiger Spruch des Faschismus. Aus
diesem Grund läßt sich erklären, wieso die vielfältigen Deutungen sich letztlich immer nur auf eine grundlegende reduzieren ließen: die Identifizierung
des Ideals des Faschismus mit der Person des duce. Dies war die unausgesprochene Basis des Konsenses: Der Faschismus wurde durch Mussolini und
sein Handeln verkörpert, so daß, wenn der Faschismus eine Tat war, er die
Tat des Duce war.
Suckert, Maccari, Settimelli und Carli waren, wenngleich gewiß auf unterschiedliche Art, Idealisten; sie glaubten weniger an den Duce und mehr an
den Faschismus, weniger an die Autorität des Einzelnen und mehr an das
Zusammenleben und Zusammenfühlen der Vielen als Basis der Bewegung,
und sie hatten ein Ideal: die Wiederherstellung der Tradition. Auf diese Weise konnten sie Mussolini eine andere, abweichende Idee entgegensetzen und
damit einen Blick auf den Faschismus aus einer »äußeren« – aber immer
rechten – Perspektive gewinnen: aus jener des »reinen Faschismus«, der
traditionellen Gemeinschaft, die vor Mussolini existiert hatte und unabhängig
von ihm fortbestand. Die Perspektive des integralen Faschismus war auf
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keinen Fall – nicht einmal bei Suckert und Maccari – eine »linke« Perspektive, denn jeder Verweis auf die Basis und die Demokratie in der Partei ging
mit der Verherrlichung der Hierarchie und der Ungleichheit einher. Dennoch
lassen sie sich nur in einem ganz weiten Sinne ideologisch rechten Kategorien zuordnen: Die Apologie des Volkes, die Mischung von Elementen des
Syndikalismus und des Futurismus und die Ablehnung der traditionellen
Monarchie stellen wesentliche Unterschiede zum Denken der Action
Française oder dem sogenannten »reaktionären Denken«142 dar. Die Ideologie des integralen Faschismus entsprach eher der Entwicklung der unterlegenen faschistischen Bewegung und des zerfallenden Futurismus, der jetzt zum
Schweigen verurteilt wurde. Die »Bedrohung« für den Faschismus bestand
darin, daß diese Gruppe eine »Häresie« verteidigte und verbreitete und damit
die Spielregeln der faschistischen, regimetreuen Intellektuellen ablehnte. Es
existierte eine Grauzone in der Kultur des Faschismus, ein verdrängter
Raum, in dem eine andere, alternative Auffassung erscheinen konnte: ein
Raum für die Entwicklung einer intellektuellen Idee des Faschismus – und
nicht des Idealismus oder Nationalismus -, der für den Totalitarismus nicht
weniger gefährlich war als die externe Opposition. Auf paradoxe Art war
dies der Beweis der relativen Unabhängigkeit der faschistischen Kultur von
der Politik und gleichzeitig das Zeichen ihres Endes: Schließlich signalisierte
diese Opposition, daß das intellektuelle Feld selbst 1924-25 nicht ganz vom
politischen Einfluß Mussolinis beherrscht und der Hegemonie der offiziellen
Vertreter des Faschismus unterworfen war. Sie bewies, daß es keine homogene, faschistische, intellektuelle Schicht gab, daß sich unabhängig von
Mussolini etwas so Besonderes und Eigenständiges wie eine Ideologie der
faschistischen Bewegung bilden und mit einer politischen Randbewegung –
den intransigenti – Berührungspunkte finden konnte.
1 Von circa 300.000 Mitgliedern im Oktober 1922 (Marsch auf Rom) auf 782.979 Ende
1923. (vgl. De Felice, Mussolini il fascista. La conquista ..., op.cit., S. 407).
2 Vgl. De Felice, Mussolini il fascista. L’organizzazione dello stato fascista ..., op.cit.,
S. 23 ff.
3 Vgl. De Felice, Mussolini il fascista. La conquista ..., op.cit., S. 449-460.
4 Unter »lokalem Faschismus« wurde jener Faschismus verstanden, der die Kontrolle über
die Provinzen ausübte und von der Zentralen Rregierung relativ unabhängig war. Die fa-
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schistische Partei hatte in der Tat am Anfang eine dezentrale Struktur: jede Provinz hatte
ihren faschistischen ras, einen politischen Führer, der sie in der Partei vertrat und die faschistische Bewegung in dem entsprechenden Territorium organisierte.
Massimo Rocca, »Fascismo e paese«, in: Critica fascista, 15. Sept. 1923.
Eine zweite Polemik fand nach der Wahl von 1924 statt; die revisionisti - Massimo Rocca
und Giuseppe Bottai - versuchten ohne Erfolg, die demagogische und geschlossene Politik der intransigenti zu denunzieren, um den Faschismus zu beeinflussen, aber die intransigenti bildeten die Mehrheit und den Kern des Faschismus und Mussolini entschied sich
zunächst dafür, Farinacci zu unterstützen.
R. Farinacci, »Oggi siamo tutti fascisti«, in: Cremona nuova, 9. Dez. 1922.
Jetzt in B. Croce, Pagine sparse, Bari, 1955, Band II, S. 374 ff.
G. Giolitti, Discorsi extreparlamentari, N. Valeri Hrsg., Torino, 1952, S. 340 ff.
Die Strömung der »liberalen Rechten«, geführt von Minister Salandra.
Mussolini, in: Opera omnia, B. XX, Firenze, 1961, S. 161 ff.
Die Wahlliste der Regierung - und zwar der Faschisten - wurde listone (»große Liste«)
genannt, weil sie alle möglichen Parteien und Bewegungen einschloß.
In Wahrheit war Mussolini selbst teilweise für die Gewalt verantwortlich, da er in der Tat
zu wenig unternahm, um ihr ein Ende zu bereiten.
Gentile, in: Relazioni e proposte della Commissione per lo studio delle riforme costituzionali, S. Romano, Firenze, 1932, S. XXI.
A Nasti, »Normalità fascista«, in: Battaglie fasciste, Nr. 17, Jan. 1925.
C. Suckert, »Lo stato in dissoluzione«, in: La conquista dello stato, 20 Okt. 1924. In
diesem Artikel ist die Position Suckerts viel komplizierter, als die Trennung zwischen intransigenti und normalizzatori vermuten läßt: er attackiert Gentile und die klerikal- und
national-moderaten, setzt sich aber von denjenigen ab, welche die Gewalt und eine gewalttätige zweite Welle predigten, was in einem vorherigen Artikel (»L’età critica del fascismo«, in: La conquista dello stato, 30. August 1924) noch deutlicher hervortritt: dort
fordert Suckert die Mitarbeit aller kultivierten Schichten an der faschistischen Revolution,
wobei unter Revolution das Gegenteil von Aufstand verstanden wird, d.h. die »Eroberung
des Staates duch die neuen Generationen, die neuen intellektuellen Schichten, die neuen
produktiven Ständen« (Ebd.). In wenigen Monaten verändert sich aber die Position Sukkerts, so daß er die intransigente Komponente des Faschismus immer stärker unterstützt.
Die Industrie protestierte während eines Treffens mit Mussolini (September 1924) gegen
die illegalen Methoden, die zu einer ökonomischen Krise führten; die Liberalen erklärten
auf ihrer Tagung vom 4.-7. Oktober ihre Opposition. Vgl. De Felice, Mussolini il fascista.
La conquista ..., op.cit., S. 619 ff.
B. Croce in: Pagine sparse ..., op.cit., B. II, S. 367 ff.
Vgl. De Felice, Mussolini il fascista. La conquista ..., op.cit., S. 726-727.
Vgl. G. Salvemini, Luigi Rossi und Piero Calamandrei, »Non mollare (1925)«, Firenze
1955.
Suckert, »Fascismo storico e fascismo politico«, in: La conquista dello Stato, 10. Juli
1924.
22 Farinacci, Rede auf dem Kongreß der PNF (Juni 1925), in: ders., Un periodo aureo del
PNF, Foligno 1927, S. 160.
23 De Felice, Mussolini il fascista. L’organizzazione ..., op.cit., S. 9.
24 Vgl. die Ausgaben der von Farinacci geleiteten Zeitschrift »Cremona Nuova« ab dem 10.
April 1925, in denen die Frage einer Wiederaufnahme der subversiven Aktion die Diskussion in der Zeitschrift immer mehr bestimmte.
25 Einige Studien über die Kulturpolitik Mussolinis, deren Ziel die Bildung einer faschistischen Kultur war, stammen von E. R. Papa, Fascismo e cultura, Padova, 1978, Emilio
Gentile, Le origini dell‹ ideologia fascista ..., op.cit.; Ders., Il culto del littorio ..., op.cit.;
Cannistraro, La fabbrica del consenso, Bari, 1975; M. Leeden, L’internazionale fascista
..., op.cit.; Cassese, »Un programmatore degli anni ‘30: Giuseppe Bottai«, in: Politica del
diritto, 3, 1970; Isnieghi, Intellettuali militanti e intellettuali funzionari. Appunti sulla
cultura fascista, Torino, 1979.
26 Einige der Unterzeichner waren: Giovanni Gentile, Gino Arias, Leandro Arpinati, Giuseppe Bottai, Widar Cesarini Sforza, Enrico Corradini, Augusto De Marsanich, Dino
Grandi, Agostino Lanzillo, Paolo Orano, Luigi Pirandello, F.T. Marinetti.
27 »Die Politik fühlte und predigte ... für eine Idee, in der das Individuum seinen Grund zum
Leben, seine Freiheit und jedes seiner Rechte wiederfinden kann; für eine Idee wie die
Heimat, als ein Ideal, das sich historisch aus sich selbst heraus realisiert, ohne sich je zu
erschöpfen, als historisch bestimmte und eine Zivilisation ausdrückende Tradition, jedoch
jene Tradition, die sich im Bewußtsein des Bürgers, weit entfernt davon, nur tote Erinnerung an die Vergangenheit zu sein, zu einer um das Ziel des Handelns wissenden Kraft
verwandelt, Tradition und deshalb Mission.« (»Manifesto degli intellettuali fascisti« in:
Papa Fascismo ..., op.cit., S. 167).
28 » ... Der Faschismus hatte also diesen Staat gegen sich, der sich als liberal bezeichnete,
und er war liberal, aber es war ein agnostischer und unverantwortlicher Liberalismus, der
nichts anderes als die äußerliche Freiheit kannte. Der Staat, der liberal ist, weil er sich
dem Bewußtheit des freien Bürgers gegenüber für fremd hält ... » (Ebenda., S. 168).
29 Gentile, »Che cos‹ è il fascismo«, in: Opere, (XLV) ..., op.cit. S. 93.
30 Einige Unterzeichner waren: Giovanni Amendola, Carlo Cassola, Luigi Einaudi,
Guglielmo Ferrero, Giustino Fortunato, Rodolfo Mondolfo, Luigi Salvatorelli, Matilde
Serao, Giuseppe Tarozzi, Gaetano De Sanctis, Adriano Tilgher, Gaetano Salvemini, Gaetano Mosca, Giuseppe Rensi.
31 Für eine Diskussion dieser Trennung zwischen der Rolle des Intellektuellen und der des
Bürgers bei Croce vgl. Garin, Intellettuali italiani del XX secolo, Roma, 1974, S. 47 ff.
32 Croce »Una risposta di scrittori, professori e pubblicisti italiani, al manifesto degli intellettuali fascisti«, in: Il Mondo, 1.Mai 1925, jetzt in Papa, Fascismo e ..., op.cit., S. 192 ff.
33 Ganz anders war die Geschichte der Opposition der kommunistischen Intellektuellen wie
Antonio Gramsci, die schon von Beginn des Faschismus an ihre intellektuelle politische
Tätigkeit im Sinne einer Erziehung der Massen gegen das autoritäre Regime begriffen
hatten. Für sie war die Trennung der intellektuellen Tätigkeit vom politischen Engage-
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ment unvorstellbar: ihr politischer Glaube war Kern ihrer kulturellen Aktion. Aber diese
Opposition wurde von Mussolini gewalttätig zerstört.
Die philosophische Auseinandersetzung hatte schon 1913 mit einem in »La voce« veröffentlichen Brief Croces an Gentile »Intorno all’idealismo attuale« angefangen und viele
Reaktionen ihrer Schüler hervorgerufen.
Gentile, »La riforma dell’educazione« in: Opere, B. VII ..., op.cit., S. 20.
Ebenda., S. 19.
Vgl. G. Gentile, »Che cos’è il fascismo«, in: Opere (XLV), ..., op.cit., S.24-26; ders.
»Genesi e struttura della società«, in: Opere (IX) ..., op.cit., S.57-70.
Gentile, »La riforma della scuola«, in: Opere, (VII), ..., op.cit., S. 13.
Ebenda., S. 14.
Ebenda., S. 25.
G. Gentile, Discorsi di religione, 1957, Firenze, S.30.
Croce wiederholte dieses Urteil ständig. Das erstes Mal benutzte er es in einem öffentlichen Brief an Gentile in »La Voce« 13 Nov. 1913. Gentile antwortete mit der Konferenz
»Idealismo e misticismo« von 5. Oktober 1913. (Zum Streit Gentiles mit Croce vgl. Garin, »Introduzione«, in Gentile, Opere filosofiche, Milano, 1991; ders., Cronache di ...,
op.cit., B II, S.366 ff.; S. H. Harris, La filosofia di Giovanni Gentile, Roma, 1973, S. 131
ff.; G. Turi, Giovanni Gentile. Una biografia, Firenze, 1995, S. 212 ff.).
Croce, Nuovi saggi di estetica, Bari, 1948, S. 357-8.
Croce, »Intorno all’idealismo«, in: La voce, op.cit.
Croce »Risposta degli scrittori, dei professori e dei pubblicisti italiani ...«, Deutsche
Übersetzung in: Nolte, Theorien über den Faschismus ..., op.cit., S. 139-140.
Croce,: La religione della libertà. Antologia degli scritti politici, Milano, 1986, S. 203.
benda., S.200-201.
Der Philosoph Augusto Del Noce hat die Hegemonie Gentiles während des Faschismus
und die Verbindung des Aktualismus mit dem Faschismus auf eine Reihe von »Übereinstimmungen« zurückgeführt. Nicht nur seien sie von ihrem Aktivismus und ihrem Solipsismus gekennzeichnet, sondern sie seien sozusagen auch einander ergänzend: »der Aktualismus war einerseits gequält von seinem Streben nach der Aktion (wegen des Denkens, daß das Denken kein wahres Denken sei, wenn es keine Aktion sei), andererseits
ganz ohnmächtig, eine politische Bewegung zu bilden, zu formen, zu entwerfen ... 1922
brauchte Gentile den Faschismus, um seiner Formel der Identität von Denken und Handeln einen Anschein von Wahrheit zu geben; und umgekehrt brauchte der Faschismus eine kulturelle Legitimation« (vgl. Del Noce, »Idee per l’interpretazione del fascismo«, in:
Casucci (Hrsg.), Il fascismo. Antologia di scritti critici, Bologna, 1961, S. 378, vgl. aber
auch Del Noce, Il problema storico del fascismo, op. cit.; ders., »Appunti sul primo Gentile«, in: Giornale critico della filosofia Italiana, Okt./Dez. 1964; ders., »L’idea del Risorgimento come categoria filosofica«, Ebda., April/Juni 1968; G. Melhis, Il pensiero di
Mussolini e il significato del fascismo, Milano, 1930; De Felice, Mussolini il duce. Gli
anni del consenso, Torino, 1996, S. 36 ff.)
49 So schrieb der antifaschistische Intellektuelle Piero Gobetti 1924: »Marinetti bleibt der
repräsentative Mensch der Epoche« und »unsere Ironie kann [in Marinetti] alle Eigenschaften finden, die ein anderer [Mussolini] sich zu Unrecht angemaßt hat. Marinetti ist
der authentische Meister der Italiener« (»Marinetti, il precursore«, in: Il lavoro di Genova,
31 Jan. 1924).
50 Die drei erwähnten Figuren gehörten ursprünglich zu den Nationalisten.
51 Gramsci, »Relazione per il comitato direttivo del PCdI (2-3 Ag. 1926)«, in Rinascita, 14.
April 1967.
52 Volt, »Le cinque anime del fascismo«, in Critica fascista, 15. Feb. 1925.
53 Die sindicalisti waren zwar Nachfolger des revolutionären Syndikalismus, aber sie hatten
alle sozialistischen Elementen seiner Doktrin fallen lassen, um eine korporative Auffassung der Arbeitsbeziehungen zu erarbeiten, welche die Unterschiedlichkeit der Klasseninteressen und den entsprechenden Klassenkampf verneinte und die Lösung der sozialen
Frage in der Kooperation der Produzenten mit den Eigentümern sah.
54 Obwohl Bottai von Volt in die Kategorie der Nationalisten eingeordnet wurde.
55 Das Zentrum ist unsichtbar, da Mussolini seine Politik als Strategie verstand, welche die
verschiedenen und gegenseitigen Kräfte und Auffassungen der faschistischen Ideologie
zusammenbringen sollte, um einen breiten Konsens im politischen wie im intellektuellen
Feld zu gewinnen.
56 G. Prezzolini, »Fascismo e futurismo«, in Il secolo, 3. Juli 1923, zitiert von De Maria,
Marinetti e il futurismo, Milano, Mondadori, 1973, S. 286-291.
57 In seiner Biographie (De Begnac, Palazzo Venezia. Storia di un regime, 1959, Roma)
beschreibt Mussolini sein Treffen mit den Intellektuellen von »La voce«, die ihm sein
Schicksal bewußt machten: die neue Welt der vociani sei in den jungen Mussolini eingedrungen und habe ihm neue Möglichkeiten seiner Entwicklung eröffnet.
58 Marinetti, »Al di là del comunismo« (1920), in ders., Teoria e invenzione ..., De Maria
(hrsg.), op.cit.
59 Die Faschistische Zeitung »L’Ardito« veröffentlichte den Artikel »Il Futurismo è morto«
(»Der Futurismus ist tot«) am 27. Juni 1920.
60 Die Reaktion des Futuristen Bottai war sehr bitter und einige Futuristen - Soffici, Balla,
Rosai - schlossen sich mit ihm zusammen. Vgl. Giordano Bruno Guerri, »Bottai: da intellettuale futurista a leader fascista«, in: De Felice (Hrsg.), Futurismo, cultura e politica,
S. 221-245.
61 Vgl. Marinetti, »I diritti artistici propugnati dai futuristi italiani«, in Il futurismo, 5, 1.
März 1923, und in L’Impero, 11. März 1923; sowie in Noi, 1. April 1923.
62 Vgl. das ausgezeichnete Buch von Salaris, Artecrazia. L’Avanguardia futurista negli anni
del fascismo, Firenze, 1992.
63 Marinetti kritisierte viele Entscheidungen Mussolinis, insbesondere seinen Bund mit
Hitler und den Rassismus.
64 Croce war Zeuge dieser Geschichte des Futurismus und hat die Verbindung des Futurismus mit dem ursprünglichen Faschismus genau beobachtet und mit folgenden Worten beschrieben: »Tatsächlich findet derjenige, der das Gefühl für historische Verbindungen hat,
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den idealen Ursprung des Faschismus im Futurismus: in dieser Entschlossenheit, auf die
Straße zu gehen, seine Gefühle durchzusetzen, die Andersdenkenden mundtot zu machen,
das Neue nicht zu fürchten; in dieser Glut, jede Tradition zu brechen; in dieser Verherrlichung der Jugend, die der Futurismus besaß und die zum Herz der Grabenveteranen
sprach ...« Er verstand auch, daß die »Reinheit« des Futurismus, seine Unfähigkeit zu
Kompromissen und seine Verbindung mit den ursprünglichen antibürgerlichen und anarchistischen fasci im Falle einer »zweiten Welle« sein politisches Ende wegen und zugunsten der »neuen Faschisten« verursacht hätten: »Die ›zweite Welle‹ ist nicht dieselbe wie
die erste und, wenn sie auf die eine oder andere Art Erfolg hat, trägt sie auch den Makel
der ›Unreinheit’, d.h. [den Makel] der Bedingungen und der neuen Gründe, zwischen denen und aus denen sie geboren ist«. Croce »Futurismo e fascismo«, in der Rubrik »Fatti
politici e interpretazioni storiche«, aus La critica, März 1924.
Hier wird ein wesentlicher Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Faschismus
deutlich: der Faschismus tolerierte innerhalb seiner Struktur sogar eine Diskussion zwischen verschiedenen Interpretationen und liquidierte, obwohl er die Verbreitung der alternativen Meinung der extremen integralistischen Intellektuellen durch die Zensur behinderte, diese Opponenten nicht (andere »externe« antifaschistische Opponenten wurden
allerdings getötet oder ins Gefängnis gesteckt). Die internen politischen und intellektuellen Opponenten wurden zwar behindert, aber nie ganz eliminiert.
Diese Definition rührt von ihrer Vision der Kultur und der Politik her und wird später
erklärt.
Die Definition stammt von Silvio Lanaro, der die »Karte« der fünf Geister des Faschismus von Volt übernimmt. Seine Analyse der »Pseudo-Linken« innerhalb des Faschismus
(Lanaro, »Appunti sul fascismo ›di sinistra’. La dottrina corporativa di Ugo Spirito«, in:
A. Aquarone/ M. Vernassa (Hrsg.), Il regime fascista, Bologna, 1974) wurde von vielen
Historikern akzeptiert, wird aber hier abgelehnt.
Deswegen werden auch ihre gemeinsame Arbeit, ihre Kontakte mit der Avantgarde und
ihre Tätigkeit als Organisatoren und Leiter von Zeitschriften, ihre Beziehung als Freunde
und Mitarbeiter untersucht - in anderen Worten, ihr Milieu und ihre structures de sociabilité, d.h. die »Gruppierungen, denen man anzugehören auswählt« und die man organisiert
und gründet. (Vgl. Sirinelli, »Hasard ou necessité? Une histoire en chantier: l’histoire des
intellectuels«, in Vingtième siècle, 1986, 9; ders., »Les intellectuels«, in R. Rémond
(Hrsg.), Pour une histoire politique, Paris, 1988; F. Beilecke, »Die Form der sociabilité
intellectuelle am Beispiel der Union pour la vérité«, in: Deutsch-französisches Institut
(Hrsg.), Frankreich Jahrbuch 1998, Opladen, 1998).
Er war auch Chef der Jugend-Sektion der republikanischen Partei.
Die »Legione Garibaldina« bestand aus Syndikalisten, Anarchisten und Republikanern.
»Brano di un’autobiografia rimasta incompiuta« in: Edda Ronchi Suckert, Malaparte,
1905-1926, B.1, Firenze, 1991, S. 82. Zum Leben Malapartes vgl. Giordano Bruno Guerri, L’Arcitaliano, Milano, 1991. Über Suckert vgl. u.a. De Grand, »Curzio Malaparte. The
Illusion of the fascist Revolution«, in: Journal of contemporary History, VII, 1972, 1-2;
A. Hamilton, The Appeal of Fascism. A Study of Intellectuals and Fascism 1919-1924,
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New York, 1961; L. Righi, L’uccellaccio di Prato, Curzio Malaparte 1889-1957, Fiesole,
1973; M. Isnieghi, Il mito della grande guerra da Marinetti a Malaparte, Bari, 1970;
ders., I vinti di Caporetto nella letteratura di guerra, Vicenza, 1967; G. Grana, Malaparte, Firenze, 1968; ders., Novecento. Le avanguardie letterarie, B.II, Milano, 1968. Über
Maccari vgl.: R. Longhi, »Maccari all’arcobaleno«, in: L’Arcobaleno, Nov.Dez. 1938;
C.L. Ragghianti, Il Selvaggio di Mino Maccari, Venezia, 1959; A. Asor Rosa, Scrittori e
popolo, il populismo nella letteratura italiana contemporanea, Roma, 1965; R. Busini, »Il
selvaggio squadrista (1924-5): le radici di una corrente del cosiddetto <fascismo di sinistra>», in: L. Piantini, R. Busini u.a., Quaderno 70 sul novecento, Padova, 1970; F. Petrocchi D’Auria, »Il selvaggio dallo squadrismo a strapaese 1924-1927«, in: Critica letteraria, V, 1977, 15 und 16; L. Cavallo (Hrsg.), L’indice del Selvaggio, Firenze, 1968; L.
Troisio, Le riviste di Strapaese e stracittà. »Il Selvaggio«, »L’Italiano«, »900«, Treviso,
1975; P. Cesarini, Italiani cacciate il tiranno, ovvero Maccari e dintorni, Milano, 1978;
M.L. Weichmann, Italienische Literatur im ersten Jahrzehnt des Faschismus: »Stracittà »
und »Strapaese«, Weiden, 1991.
1923 wurde der Titel in »La rivolta dei santi maledetti« (Rom 1923) geändert.
Sie heißt »Ritratto delle cose d’Italia, degli eroi del popolo, degli avvenimenti, delle
esperienze e inquietudini della nostra generazione«.
Mussolini wird hier als »ein traditioneller und legitimer, reinblütiger, vorurteilsloser,
optimistischer, großzügiger aber fester antibürgerlicher, antiproletarischer, antiliberaler,
antidemokratischer, antimoderner, antieuropäischer Held« beschrieben, ebenda., S.36
Der Vater von Suckert war ein deutscher Immigrant, ein Facharbeiter. Maccari war Sohn
eines Lehrers und Landbesitzers.
Eine Selbstdarstellung als rebellischer Künstler gibt Maccari in seinem ersten Buch »Orgia« (Siena 1918).
Die Zeitschrift wurde am 13. Juli 1924 in Colle Val D’Elsa gegründet; der Leiter war
Angiolo Bencini, unter den Mitarbeiter waren Sangiorgi, Cerrano und natürlich Maccari,
alle Squadristi.
A. Soffici war dann ab 1926 Leiter von »Il Selvaggio«; seine Leitung sowie der Umzug
der Redaktion nach Florenz bedeutete das Ende des politischen Engagements der Zeitschrift.
Suckert, »Ora viene il bello« vom 1. April 1925; »Il partito deve controllare la burocrazia« vom 13. April 1925; »Dì ben so fantesima ... ovvero i compiti dell’estremismo« vom
5. und 11. Juli 1925; »I selvaggi contro la discesa dell’Aventino« vom 30. September
1925.
Vgl. das nächste Kapitel.
Zu den zwei Autoren vgl. u.a. R. Chiti, I creatori del teatro futurista: Marinetti - Corradini- Settimelli, Firenze, 1915; Buchignani, »Settimelli e Carli dal futurismo als fascismo«, in Futurismo, cultura e politica, De Felice (Hrsg.), ..., op.cit.; Verdone M., »Il teatro
futurista a Firenze«, in Futurismo a Firenze 1910-1920, Gloria Manghetti (Hrsg.), Verona, 1984; Carpi »Ideologia e politica del futurismo fiorentino« in Futurismo a Firenze
1910-20, Manghetti (Hrsg.), Verona, 1984.; Salaris, Artecrazia ..., op.cit.
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82 Carli, Settimelli Marinetti, Il teatro futurista sintetico, Band 1, Istituto editoriale italiano,
1915.
83 1916 gegründet, von Settimelli und Corra geleitet.
84 Brief Carlis an Marinetti, August 1918, Carli Archive, zitiert in: Buchignani, »Settimelli e
Carli ... », S. 197.
85 In: Roma futurista, 17. August 1919.
86 Vgl. den Artikel »Partiti d’avanguardia, e se tentassimo di collaborare?«, in: Roma futurista, 13. Juli 1919 und die von Carli geleitete Zeitschrift »Testa di ferro« in den Jahren
1919-1920.
87 Obwohl die Zeitschrift am Anfang von Mussolini direkt unterstützt worden war, wurde
sie später immer mehr - insbesondere während der Krise Matteotti - von Mussolini getadelt und am Ende zensiert.
88 Carli, Settimelli und Marinetti »L’Impero italiano«, in Il Futurismo, 6, 1. Mai 1923.
89 Curzio Suckert »Una lettera di C.E. Suckert. Il nostro referendum« in »L’impero«, 11.
April 1923.
90 Maccari M., »Gazzettino ufficiale di Strapaese«, in Il Selvaggio, 31. Dez. 1935.
91 Longanesi L., »Uova sode«, in L’Italiano, I, 16-17, 24 Dez. 1926.
92 Malaparte, L’Europa vivente e altri saggi politici (1921-1931), Firenze 1961, S. 642.
93 Maccari, »Bollettino ufficiale di strapaese«, in Il selvaggio, 15. Jan. 1928.
94 Carli, Fascismo intransigente, Bemporad, Firenze, 1926, S. 43-44.
95 Settimelli, »Mentalità fascista«, in ders., Sassate, Roma-Firenze, 1926, S. 25.
96 Malaparte, L’Europa vivente e altri saggi, Firenze, 1961, S. 410 ff. und S. 459 ff.
97 Settimelli, »Liberiamo il fascismo dai falsi Fascisti«, in L’impero, 30. Aug. 1924.
98 Carli, »Romain Rolland e il romanzo dell’avvenire«, in La critica di Croce, E. Settimelli,
Bologna 1912, S. 228-229.
99 Carli, Fascismo intransigente, Firenze, 1926, S.184-185.
100 Maccari, »Parla il Selvaggio«, in Il selvaggio, 28. Sept. 1924.
101 Suckert, »Il dramma della modernità«, in Rivoluzione liberale, 4. Juni 1922.
102 Malaparte, L’Europa vivente e altri saggi politici ..., op.cit., S. 468 ff.
103 Ebenda. S. 378
104 Jedes Werk sollte nach den Entdeckungen, der Originalität und den vom Artist geleisteten
entsprechenden intellektuellen Anstrengungen für das Kunstwerk bewertet werden. Vgl.
E. Settimelli; V. Scattolini, »Il nuovo sistema di critica«, in La difesa dell’arte, I, 2, Firenze, 2 Nov. 1909.
105 Einige Exponenten der Strömung waren Scattolini, Gregiuoli, Chieti, Corra, Ginna,
Ginanni, Nannetti L’Apostata und natürlich Carli (vgl. Buchignani, »Settimelli e Carli ...
», op. cit.).
106 Vgl. Busini, »Il selvaggio squadrista 1924-1925: le radici di una corrente del cosiddetto
fascismo di sinistra« in Piantini L./Busini R. u.a., Quaderno 70 del novecento, Padova
1970.
107 Malaparte, L’Europa vivente ..., op.cit. S. 424 ff.
108 Malaparte, L’Europa vivente ..., op.cit., S. 463-464.
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109 Erst in der zweiten Auflage des Buchs »La rivolta dei santi maledetti« von 1923 sieht er
den Faschismus als Nachfolger des Risorgimento.
110 Maccari, in Il selvaggio, 24. Nov. 1927.
111 E. Gentile, Origini dell’ideologia ..., op.cit., S. 348-369.
112 Ebenda., S. 351.
113 Suckert, »Lo stato in dissoluzione«, in La conquista dello stato, 24. Okt. 1924.
114 Bottai, »Il fascismo nel suo fondamento dottrinario« (Konferenz 27 März 1924) in: Pagine di critica fascista, Pacces (Hrsg.), Firenze, 1941, S.331 ff.
115 Einige der revisionisti sollten hier erwähnt werden: Giuseppe Bottai, Leiter von »Critica
fascista«; De Marsanich - Mitarbeiter der Zeitschrift »Critica fascista«; Bruno Spampanato - mit der Zeitschrift »La montagna«; Gherardo Casini und Simone Sammartini - mit
der Zeitschrift »Rivoluzione fascista«.
116 De Marsanich, »La situazione del PNF«, in: Rivoluzione fascista, 15. Dez. 1924.
117 Der revisionismo sei »nicht eine Frage der Säuberung oder der Polizei innerhalb der
Partei«, sondern ein »politisches spirituelles Problem der Revision der Methoden, der
Ordnungen, der Ideen« (Bottai, »Dichiarazioni sul revisionismo«, in: Critica fascista, 17.
Juli 1924.)
118 Bottai »Dichiarazione sul revisionismo«, in: Critica Fascista, 15. Juli, 1924.
119 Ebenda., S. 343-344.
120 Vgl. Pellizzi, »L’essenza aristocratica del fascismo«, in: Critica fascista, 15 Juni 1924;
Bottai, Il fascismo e l’Italia nuova, Roma 1923, S.18 ff.
121 Suckert, »Fascismo storico e fascismo politico«, ..., op.cit.
122 Ebd.
123 Ebd.
124 Der Wunsch Maccaris, eine Reaktion gegen die korrupten Mächte hervorzurufen, ging
mit einer negativen Bewertung Mussolinis einher: »man soll reagieren: überwachen und
reagieren, und man muß den duce überwachen« (Maccari, »L’uomo normale è un imbecille«, in Il selvaggio, 21. Dez. 1924).
125 Sugo di Bosco (Pseudonym von Maccari), »Il benservito agli squadristi«, in Il Selvaggio,
16 Nov. 1924. Dieses Heft ist sehr polemisch gegen Mussolini: sein Titel ist »Führer, die
Toten des Faschismus beobachten Euch«, und es enthält viele Artikel, welche die Rede
Mussolinis kritisieren; u.a. »La santa canaglia« (Anonym).
126 Dieses harte Urteil gegen den duce läßt sich nur aus der idealistischen Perspektive des
integralen Faschismus verstehen, der die Reinheit des Faschismus der Provinzen »gegen
die Kompromisse, die Feigheiten, die Verhandlungen, die parlamentarischen Verwicklungen« schützen wollte, gegen die »sogenannten Führer der Revolution, die in zwei Jahren im Staatsamt ... nichts anderes machen wollten, als ihre [eigenen] Interessen zu verteidigen«. Sie trügen die Schuld an der Unterbrechung und am Verderben der faschistischen Revolution, die aus der provinziellen Bewegung entstanden sei. (in: Suckert, »Il fascismo contro Mussolini«, in La conquista della Stato, 21. Dez. 1924).
127 Suckert, »Tutti debbono obbedire, anche Mussolini, al monito del fascismo integrale«, in
La conquista dello stato, 28. Dez. 1924.
161
128 Suckert, »Mussolini accetta e proclama alla camera la tesi del fascismo integrale«, in La
conquista dello stato, 4. Januar 1925.
129 Suckert, »Rivoluzione ed elezioni«, in La conquista della stato, 18. Januar 1925.
130 Maccari, »Prepariamoci a fare ai cazzotti«, in Il selvaggio, 9. Feb. 1925.
131 Maccari schrieb in der ersten Nummer von »Il selvaggio«: »Wild ist derjenige, der sich
rettet. Es ist nötig, sich vor der Engherzigkeit, vor der Banalität, vor dem Elend, vor der
Lächerlichkeit der Politik zu retten ... Es gibt nichts außer der Kunst ... Die Zeit der Politik des squadrismo ist beendet und die Aufgabe ist jetzt die Entwicklung der Kunst.«
(»Addio al passato«, 1. März 1926).
132 Settimelli aus politischen Gründen, Suckert hingegen aus persönlichen Gründen, wegen
einer Auseinandersetzung mit einem faschistischen Führer.
133 Vgl. die Studien über Maccari von C.L. Ragghianti, »Il Selvaggio di Mino Maccari«,
Venezia, 1955; Asor Rosa, Scrittori e popolo ..., op.cit.; Manacorda, Letteratura e cultura
del periodo fascista, Milano, 1974; und teilweise G. Luti, Cronache letterarie fra le due
guerre (1920-1940), Bari Laterza 1966.
134 Maccari, »Fascismo toscano«, in Il Selvaggio, 10. Nov. 1925.
135 Suckert, »Intervista«, in: Popolo D’Italia, 31 März, 1925.
136 Maccari, »L’uomo normale è un imbecille«, in Il selvaggio, 23. Nov. 1924.
137 Ebenda, S. 136.
138 Malaparte, L’europa vivente ..., op.cit., S. 135.
139 Maccari, »Made in England«, in: Il Selvaggio, 14. August 1924
140 Carli wurde vom Führer der Faschistischen Partei wegen seines »undisziplinierten Verhaltens« 1927 ermahnt; Settimelli wurde von der Partei viermal ausgeschlossen - im Jahr
1927, 1929, 1937 und 1938. Am Ende wurde er von Mussolini wegen seiner Kritik - an
der Korruption und der Mittelmäßigkeit der faschistischen Politik und Kultur - ins Exil
geschickt.
141 Vgl. die Akten der faschistischen Polizei über Maccari und Suckert in den Staatsarchiven
Rom.
142 Damit ist das gegenrevolutionäre französische Denken von Bonald und De Maistre gemeint.
162
Die Ultrafaschisten
Die radikalen Intellektuellen im Faschismus von 1925 bis 1933
Wenn die allgemeine Entwicklung des Faschismus von Anfang der 20er bis
Anfang der 30er Jahre skizziert und zusammengefaßt werden sollte, wäre der
Übergang von der »Ästhetisierung« zur »Sakralisierung« der Politik das
wesentliche Charakteristikum dieser Entwicklung. Der Faschismus wurde
immer mehr zu einer »weltlichen Religion« und verlor seine ästhetische
Bedeutung als »Lebensstil«: Er organisierte seine Rituale immer systematischer, erarbeitete und verstärkte seine Orthodoxie gegen die »Ketzer«, benutzte eschatologische und messianische religiöse Argumente – die Idee
eines neuen Menschen, der Triumph des Guten, usw.1 In diesen Jahren wurde
zum Beispiel der Begriff der »Mystik des Faschismus« entwickelt, der in
spezifischen kulturellen Institutionen – wie im Institut für faschistische Mystik in Mailand (Scuola di mistica fascista, die Schule der zukünftigen faschistischen, regierenden Klasse) – diskutiert und interpretiert wurde. Die
Gleichsetzung von Faschismus und Religion wurde manchmal besonders
deutlich, wie in einem Artikel (»La mistica del fascismo«) des faschistischen
Exponenten Misciatelli: »Die Faschisten haben recht, wenn sie die Ketzer
der Heimat exkommunizieren, so wie die Kirche immer recht hat, wenn sie
die Ketzer von der Kommunion der wahren Gläubigen vertreibt.« 2
Die Idee der Schaffung einer weltlichen Religion entwickelte sich im
Rahmen der faschistischen Politik dieser Jahre aus zwei gegensätzlichen
Richtungen, aus der der Gewalt und des Konsenses, die eine kurzfristige und
eine langfristige zeitliche Ebene bezeichnen: In kurzer Zeit strebte Mussolini
durch die Gewalt und den Gewinn eines immer breiteren Konsenses nach der
sofortigen Stabilisierung seines Regimes und seiner Autorität – unabhängig
von der authentischen Überzeugung und der politischen und intellektuellen
Diskussion über die faschistische Ideologie. Gleichzeitig träumte er davon,
langfristig eine zukünftige, »reale« faschistische Gesellschaft durch die Er163
ziehung der nachfolgenden Generationen zu schaffen. Auch der Unterschied
zwischen »Hochkultur« und »Propaganda«, der in der Trennung der jeweils
zuständigen institutionellen und politischen Organismen – zum Beispiel den
Akademien und Universitäten einerseits und dem Ministerium der völkischen Kultur (Minculpop) andererseits3 – seinen Ausdruck fand, läßt sich
anhand dieser zwei Strategien verstehen.
Die Vielfältigkeit der Strategien, die eine totale faschistische Gesellschaft
durch die Entwicklung faschistischer Kultur- und Bildungsinstitutionen
schaffen und die Volksmeinung durch die Propaganda verarbeiten sollten,
muß betrachtet werden, um den Einfluß des Faschismus auf das intellektuelle
Feld zu analysieren und so ein vollständigeres Bild des Faschismus Ende der
20er und Anfang der 30er Jahre zu gewinnen. An dieser Stelle kann aber
weder eine abgeschlossene Analyse der politischen Strategien und Visionen
Mussolinis, den Faschismus zu konsolidieren und zu strukturieren, noch eine
umfassende Betrachtung der kulturellen Politik im Regime erfolgen, sondern
lediglich die Herausbildung der ketzerischen Tendenzen in der faschistischen
Kultur und die Haltung der offiziellen Politik und der Hochkultur ihnen gegenüber untersucht werden. Um diese Interaktionen zu verstehen, ist es nötig, die Rahmbedingungen zu verdeutlichen, in denen dieser Kampf um
ideologische Legitimation stattfand, und wie und warum einige Strömungen
besonders marginalisiert wurden. Deshalb muß die allgemeine Haltung des
Regimes zu Orthodoxie und Heterodoxie analysiert werden, um zu verdeutlichen, daß in dieser Zeitspanne der Faschismus den externen und internen
Kritiken immer geschlossener und feindseliger gegenübertrat. Er entwickelte
eine stärkere Identität, eine bestimmtere politische Orientierung, ein Ideal der
zukünftigen Gesellschaft und versuchte, eine feste Doktrin zu schaffen, so
daß alles, was von diesem offiziellen Muster abwich, abgelehnt und bekämpft wurde.
Zunächst wird die Politik Mussolinis analysiert, welche die Ziele der Gewalt und des Konsenses verfolgte. Durch den Erlaß der fascistissime-Gesetze
und durch den Krieg gegen den Aventino wurde die externe kommunistische
und sozialistische Opposition besiegt; durch den Einfluß Mussolinis auf die
Politik innerhalb der Partei und das Scheitern des faschistischen Syndikalismus wurde die interne Oppositionen entweder absorbiert oder erstickt. Außerdem verfolgte Mussolini durch das Abkommen mit dem Vatikan und
durch die Entwicklung einer faschistischen Kultur und Ideologie mittels
164
Errichtung der entsprechenden faschistischen Akademien und Institute einerseits und Verbreitung der Propaganda andererseits die Linie eines Konsenses,
der ihm aber nicht genügte, um eine stabile Unterstützung zu gewinnen. Die
Adressaten der Politik werden in diesem Rahmen nicht als rein passive Objekte betrachtet: Sie werden als Akteure beschrieben, die Positionen einnahmen, diese Politik kritisierten oder bestätigten. Was die vorliegende Arbeit
betrifft, ist vor allem der Konsens einer Kategorie von Adressaten wichtig:
der Intellektuellen. Zu den Ereignissen, die den intellektuellen Konsens – oft
im negativen Sinne – veränderten, gehören der Erlaß der fascistissimeGesetze im Jahr 1926, die die konservative und autoritäre Veränderung des
Faschismus zeigten, der Concordato mit dem Vatikan und die Eidespflicht
der Akademiker 1931. Diese politischen Ereignisse werden hier kurz skizziert, um die politischen Strategien und Positionen der schon vorher betrachteten Strömungen der Zeit- intransigenti, gentiliani, revisionisti, Nationalisten – zu rekonstruieren, welche die ideologische Legitimation des Faschismus, seine Identifizierung mit einigen Bewegungen des kulturellen
Felds sowie die Marginalisierung anderer politischer und ideologischer Bewegungen beleuchten.
Im zweiten Teil dieses Kapitels wird die Umformung des intellektuellen
Feldes mit der zunehmenden politischen Kontrolle und Verstärkung der Orthodoxie verbunden, um dann die Wandlung und Permanenz einer internen
Kritik im intellektuellen Feld und ihre Eigenschaften zu beschreiben. Das
intellektuelle Feld blieb nicht unberührt, da der externe, direkte Einfluß des
Regimes und die politische Situation der Konsolidierung des Faschismus es
umformten und neu gestalteten. Vier wesentliche Veränderungen werden
deutlich: die Abhängigkeit der Selbstdarstellung der Intellektuellen und ihrer
Arbeit von der politischen Orthodoxie, d.h. von den den Intellektuellen vom
Regime auferlegten Vorgaben für die Bedeutung und Auffassung von Kunst
und Literatur als Mittel zur Integration; die Einführung der katholischen
Elemente und Kultur in die faschistischen Zeitschriften; die immer stärkere
Position der Nationalisten – insbesondere Alfredo Roccos – für die Definition und Entwicklung der faschistischen Doktrin; die Absorption und Neutralisierung der extremen Flügel entweder, wie bei Settimelli, durch die komplette Ächtung durch das Regime, oder, wie bei den selvaggi, durch die Einbindung in institutionellen und offiziellen faschistischen Zeitschriften. Was
diesen letzten Punkt betrifft, ist bemerkenswert, daß Mino Maccari und Cur165
zio Suckert zwar immer noch eine andere Position vertraten, aber ihr revolutionäres und kritisches Streben verloren hatten. Außerdem begannen sie, in
der faschistischen Kultur mitzuarbeiten: Maccari bei den revisionisti und
Suckert bei der Bewegung 900. Auch wenn beide teilweise noch eine Gefahr
für Mussolini darstellten, was schließlich zu ihrem Ausschluß führte, verloren sie allmählich ihre repräsentative Rolle als Organisator und Führer der
Zeitschriften und der mit diesen verbundenen Gruppen der selvaggi. Ihre
Nachfolger, der Kreis um die neue, von Ardengo Soffici geleitete Zeitschrift
»Il Selvaggio« und jener um die Zeitschrift »L’Italiano« von Longanesi,
stellten ihre rein künstlerische Auffassung in den Vordergrund und hatten
keine Bedeutung mehr in der Politik. Die Personifizierung des Faschismus in
Mussolini blieb die Grundlage, in deren Rahmen eine Diskussion möglich
war: Die Kritik, die sie und die mit ihnen neuerlich verbundenen Gruppen –
die revisionisti, die Nachfolger der Aktualisten, die Nationalisten, die ehemaligen selvaggi – zu dieser Zeit am Regime übten, stellte nicht mehr die
Persönlichkeit Mussolinis und sein Handeln als Führer des Faschismus in
Frage. Eine andere Strömung, ein anderes politisch-künstlerisches Experiment sollte jedoch teilweise die radikalen und kritischen Ansprüche der integralisti weiterführen: die Traditionalisten um Julius Evola.
Von der Ästhetisierung zur Sakralisierung der Politik: der Faschismus als Orthodoxie 1926-1933
Der Wille Mussolinis, eine monolithische, faschistische Struktur zu bilden,
welche die interne und externe Opposition und die Diskussionen annulliert
hätte, kann bei der Analyse der Konsolidierungsphase des Faschismus als
Leitmotiv dienen. Hier ist mit Konsolidierung der Prozeß gemeint, durch den
der Faschismus von den alten politischen Institutionen wie auch von seiner
Basis immer (relativ) unabhängiger wurde; so daß er einige unorthodoxe und
andersdenkende Tendenzen und Kräfte zerstören oder absorbieren konnte
und auf diese Weise seine Ideologie und Gestalt veränderte. Dies implizierte
zum Beispiel die Anerkennung einiger traditioneller Institutionen wie Monarchie und Kirche und die entsprechende Unterdrückung bestimmter Komponenten innerhalb des Faschismus, die entweder den totalitären faschisti166
schen Staat verwirklichen wollten oder die in jedem Kompromiß mit traditionellen Institutionen eine Schwächung der faschistischen Prinzipien sahen.
Vor diesem Hintergrund läßt sich die Beseitigung der bekannten faschistischen Politiker Ende der 20er Jahre, die eventuell eine kritische Alternative
zu Mussolini hätten darstellen können4, und die Vernichtung und Absorption
der »ketzerischen« Tendenzen innerhalb des Faschismus verstehen. Der Staat
sollte die Einheit und den Kern des Faschismus darstellen, »alles innerhalb
des Staates, nichts außer ihm, nichts gegen ihn.«5 Die Partei wurde dementsprechend zwar langsam aber unerbittlich ihrer ursprünglichen Bedeutung
»entleert« und die Möglichkeiten der internen Diskussion und der Auseinandersetzung wurden vernichtet; die Gefahr der Anerkennung der Monarchie,
die noch ein mögliches alternatives Machtzentrum hätte bilden können, wurde durch die starke und hierarchische Organisation des faschistischen Staates
reduziert. Diese starke Zentralisierung der Macht im Staat wurde durch die
besondere Situation bedingt: Die bedeutende Rolle der ursprünglichen Partei
hätte in Italien zu einer Zersplitterung der Macht auf drei Ebenen – Staat,
Monarchie und Partei – und somit zur Schwächung der Autorität Mussolinis
führen können.6 Vor diesem Hintergrund müssen die politischen Entscheidungen Mussolinis betrachtet werden, den Staat zu stärken und die Partei in
eine reine Propagandaorganisation zu verwandeln.
Mit dieser Entwicklung, die nach der Stärkung der Autorität Mussolinis
in Form des Personalismus und der Einheit der Partei strebte, verbanden sich
die Bemühungen, die Grundbedingungen für eine dauerhafte Existenz des
Faschismus zu schaffen. In der revolutionären Atmosphäre der 20er Jahre
hatte das Charisma Mussolinis genügt, um die Macht zu erobern, aber als die
»Normalisierung« des Faschismus und seine Konsolidierung in einer bestimmten politischen Form vollendet waren, konnten nicht allein der persönliche Erfolg Mussolinis und die Treue seiner Mitarbeiter eine stabile politische Situation sichern. Das reine Charisma kann, wie Max Weber gezeigt
hat, nur in außergewöhnlichen politischen und sozialen Lagen wirken, wenn
das idealistische und revolutionäre Streben die notwendige Kohäsion der
Massen schaffen kann; wenn der revolutionäre Elan aber erlahmt und das
außergewöhnliche politische Ereignis – die politische Veränderung – stattgefunden hat, wird die Frage des Übergangs zu einem »normalen« und alltäglichen politischen Leben und der Auseinandersetzung mit den Institutionen
und der Bürokratie immer problematischer. Weder die Massen noch die Ba167
sis der Partei stellten für Mussolini zuverlässige Elemente dar, um das Problem der »Dauer« zu lösen, da nur die persönliche Verbindung mit dem Duce und die Faszination, die von ihm ausging, dauerhafte Bindung begründen
konnte. Die planmäßige Entwicklung des Konsenses und die Anwendung der
Gewalt waren die zwei Mittel, um Unterstützung einzufordern und gleichzeitig den monolithischen Charakter des Faschismus dauerhaft zu behaupten.
»Meine Parole ist ein Verb: dauern! Dauern, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, derart daß alle Zurückhaltungen, Kritiken, Oppositionen an
diesem monolithischen Block des faschistischen Willens und der Hartnäkkigkeit wie verächtlicher Schlamm zerschellen.«7 Dies bedeutete für Mussolini die »Faschistisierung« Italiens, so daß die externe wie interne Opposition
ausgeschlossen wurden und durch Propaganda die totale Zustimmung erreicht werden sollte. Da die Massen ihm aber nur eine »Schafherde« waren,
die durch »Enthusiasmus und Interesse« gewonnen werden konnte – »Musik
und Frauen waren« nach Mussolini8 »die ›Hefe‹ der Massen«, der in seiner
Realpolitik Le Bons Theorien der Massenpsychologie anwendete – konnte
Mussolinis »Utopie« einer faschistischen Gesellschaft nicht sofort verwirklicht werden. Es bedurfte einer neuen Generation junger Faschisten, »den
neuen Menschen«, die ihr faschistisches Credo zum Kern ihrer politischen
Erfahrung machen sollten. Das Leben der zukünftigen Faschisten wurde von
der Schule bis zur Freizeit in jeder Beziehung organisiert und kontrolliert, so
daß die neue Generation nach einem »Muster« – wie in einem Labor – geformt werden sollte: »Wir werden durch hartnäckige Selektionsarbeit die
neue Generation schaffen, dabei alles ins Leben übertragend, was aus der
Politik nicht zu verbannen ist, ohne schwere Fehler zu machen. Manchmal
flüstert mir die Idee der im Labor geborenen Generationen zu, eine Klasse
von Kriegern zu schaffen, die immer zum Sterben bereit sind, oder eine
Klasse von Erfindern, die nach dem Geheimnis des Mysteriums strebt ... Und
durch diese methodische Selektion werden die hohen Kategorien geschaffen,
die jeweils die Imperien bilden«.9 Die Grundidee von Mussolinis Kulturpolitik, die den Einfluß des politischen Feldes im intellektuellen Feld bestimmte,
läßt sich auf zwei Ebenen betrachten: die Sicherung des momentanen Konsenses der Massen und der fiancheggiatori einerseits und der langfristige
Plan der Bildung einer faschistischen Gesellschaft andererseits.
168
Die Unterdrückung der externen und internen Feinde
Nach der Wahl von 1924 und mit dem Ende der Krise Matteotti war die Position des Faschismus gestärkt: Mussolini hatte die Unterstützung der Industrie und der konservativen Bourgeoisie gewonnen, seine Autorität in der
Partei gefestigt und die Vorstellung der Stabilität des faschistischen Regimes
bestätigt. Dadurch wurde die Opposition immer schwächer und zerstrittener.
Während die kommunistischen Gruppen in den Fabriken eine Revolte der
Arbeiterklasse zu entfachen versuchten, betrachteten die aventiniani – ein
großer Teil der Sozialisten, die katholische PPI, die sozialdemokratische DS
und die republikanische PRI – Widerstand immer noch als eine »ethische
Frage«, die in der moralischen Ablehnung der Kollaboration mit dem faschistischen Regime ihren Ausdruck finden sollte, um eine öffentliche Debatte
und eine dementsprechende Reaktion der öffentlichen Meinung zu provozieren. Die einzige relevante Initiative des Antifaschismus ging von Pietro Nenni und Carlo Rosselli mit der Gruppe »Quarto stato« aus, welche versuchten,
die republikanischen und die von Arturo Labriola geleiteten sozialistischen
Kräfte außerhalb der politisch passiven Strategie des Aventino zu vereinigen.10
Nach Darstellung Mussolinis wurden die beschränkenden Gesetze von
1926 durch diese Entwicklung der »feindlichen, politischen Front« verursacht.11 Schon Ende 1925 wurden vier restriktive Gesetze erlassen: Die Zensur der Presse wurde eingeführt, die Regierung zur Reform des Strafgesetzbuchs und des öffentlichen Sicherheitsgesetzes ermächtigt, die Abschaffung
der Geheimbünde (insbesondere der Freimauerloge) und die Dienstenthebung derjenigen öffentlichen Beamten beschlossen, »die keine Garantie für
die treue Erfüllung ihrer Aufgaben« boten oder deren Haltung »inkompatibel
mit den allgemeinen politischen Richtlinien der Regierung« war.12 Diesen
Gesetzen folgten die Verwaltungsmaßnahmen vom November 1926: die
Revision der Pässe und die Strafen für den widerrechtlichen Grenzübertritt,
die Abschaffung der oppositionellen Presse und die Auflösung aller Parteien
und politischen Organisationen, »die dem Regime gegenüber ein entgegengesetztes Ziel verfolgen«, die Strafe der Wohnortsbeschränkung für Andersdenkende und die Bildung eines Büros für die politische Überwachung (Servizio di Investigazione Politica).13 Diese Maßnahmen, die Reform des Strafgesetzbuchs und die Erklärung der PNF, daß die parlamentarischen Mandate
169
der Aventino-Deputierten ungültig seien (9. November 1926), vollendeten
den faschistischen Umbau des Staates: Mussolini hatte nicht nur die Opposition in Italien besiegt, sondern alle alten, liberalen Garantien abgeschafft, um
den faschistischen, autoritären Staat und damit die absolute Macht des Regierungschefs durchzusetzen. Die Umwandlung des Staates folgte nicht den
Prinzipien des totalen Staates von Gentile, sondern den Vorstellungen des
nationalistischen, monarchistischen Alfredo Rocco, der seine Idee einer starken, konservativen, autoritären Regierung mit Hilfe der oben erwähnten
Gesetze verwirklichen konnte. Sein Motto war, eine »neue Legalität zu bilden, um zur Legalität zurückzukehren«: Die neuen Gesetze sollten die Leistung der faschistischen Revolution widerspiegeln, die zu »einer Veränderung des Regimes, aber nicht nur der Regierungsmethode, sondern auch der
Mentalität, des politischen Geistes, der Auffassung des Staates« 14 geführt
hatten. Die politische Vision Roccos zielte nicht nur auf Schutz und Verstärkung des Regimes gegen jeden von der Opposition unternommenen Versuch,
den Faschismus umzustürzen, sondern auch auf die Sicherung der internen
Stabilität, um Veränderungen des politischen Systems und der Machtverteilung von Seiten der Faschisten vorzubeugen. Der Primat des monarchischen
Prinzips und die Abschaffung der demokratischen Normen und Regelungen
waren einerseits auf die Verstärkung des Faschismus gegen interne Opposition, andererseits auf die Begrenzung der faschistischen Macht dem König
gegenüber gerichtet.15
Was die kulturelle Freiheit und die öffentliche Meinung betrifft, war die
Veränderung der Funktion der Presse exemplarisch: Sie wandelte sich zu
»einer nationalen Presse, die innerhalb des Machtbereichs des Staates wirkt
und der Kontrolle und der Sanktion des Staates unterliegt, und zu einer faschistischen Presse, die Instrument des Regimes ist, eine bereite, sichere,
außerordentliche Waffe der faschistischen Revolution«.16 Anfang der 30er
Jahre bedeutete dies eine weitere Schwächung der antifaschistischen Opposition: Der interne, intellektuelle Widerstand sammelte sich um Benedetto
Croce und andere Akademiker und Gelehrte wie Lombardo-Radice; die
Kommunisten waren weiter in den Fabriken tätig, aber das Exil und die Verhaftung vieler Führer und Mitglieder bedeutete eine erhebliche Schwächung
ihres Einflusses.
Gleichzeitig versuchte Mussolini, die Einigkeit des Staates durch die
Unterdrückung der internen Feinden – der intransigenti – zu erreichen. Fa170
rinacci trat am 30. März 1926 vom Parteisekretariat zurück, und an seiner
Stelle wurde Augusto Turati ernannt: Dieses Ereignis markiert den Anfang
der Schwächung der faschistischen Partei in der politischen Machthierarchie
und die daraus folgende Auflösung der intransigenti, die bisher innerhalb des
Faschismus eine alternative Linie zu Mussolini vertreten hatten. Die Funktion des neuen Sekretärs Turati sollte nach Mussolini darin bestehen, die
»Einordnung« zu vollenden und die Partei in ein treues Instrument Mussolinis zu verwandeln, damit jede Kritik und Abweichung von der Regierungspolitik unterdrückt würde und die hierarchische Kontrolle und die Macht
Mussolinis unumstritten bleiben sollten. »Um die PNF ›einzuordnen‹ und sie
in das faschistische Regime ganz einzufügen, war es nach Mussolini nötig,
der Partei jeden eigenen Charakter, jede nicht nur politische, sondern auch
soziale Besonderheit zu nehmen; es war nötig, sie komplett an die Realitäten,
auf denen seine Macht im Lande beruhte, anzupassen ... ».17
Die Homogenität von Partei und Staat und ihre komplette Abhängigkeit
vom Regime bedeutete das Ende der »Provinzen« und der inoffiziellen »ketzerischen« Tendenzen der intransigenti, die innerhalb weniger Jahre aus den
Kadern entlassen wurden – obwohl ihr Führer, Farinacci, nie aus der PNF
ausgeschlossen wurde. Was an der Arbeit Turatis im Parteisekretariat von
1926 bis 1930 beeindruckend und zugleich beängstigend war, war der Umfang der Säuberungen und der Zensur der faschistischen Presse. Schon in den
ersten Monaten wurde eine so starke Disziplinierung der Presse vorgenommen, daß 30 faschistische Zeitschriften abgeschafft wurden – natürlich war
die Mehrheit von ihnen intransigenti-orientiert. Die Säuberung der Partei
folgte demselben Schema: Bereits während des ersten Jahres wurden 2.000
Parteileiter und 30.000 Mitglieder ausgeschlossen; in den folgenden Jahren
wurden diese Maßnahmen derart intensiviert, daß die Mehrheit der intransigenti schon 1928 nicht mehr in der PNF war18 – nicht nur wegen der Säuberung, sondern auch, weil die meisten sich nicht länger nach der Politik der
Partei Turatis richten wollten. Sie wurden durch die »neuen« Faschisten
ersetzt, d.h. durch fiancheggiatori, Exponenten des Bürgertums, ehemalige
Liberale. Die Physiognomie der Partei hatte sich also gänzlich verändert: Die
Mehrheit der Mitglieder bestand Ende der 20er Jahre aus Industriellen, Geschäftsmännern und Vertretern des Bürgertums.19 Giovanni Giuriati, Parteisekretär von 1930 bis 1931, führte die Politik der Säuberung von ehemaligen
intransigenti und auch von einigen »neuen« Faschisten weiter, so daß nach
171
nur einem Jahr die Zahl der (männlichen) Mitglieder der PNF um weitere
21.500 gesunken war. Aber erst unter Starace (1931-1939) wurde die komplette Abhängigkeit der PNF von Mussolini und ihre Absorption im Staat als
eine rein bürokratische Institution für die Organisation der politischen Propaganda und für die sogenannte politische, moralische, faschistische Erziehung erreicht. Die jetzt »eingeordnete« Partei sollte sich in verschiedenen
Organen um Freizeit und Sport, politische Demonstrationen und faschistische Massenrituale kümmern und so die »Einordnung« des gesamten italienischen Volkes verwirklichen.
Letztlich war dieses Projekt zum Scheitern verurteilt, was sich immer
deutlicher in den Polemiken der Zeitschriften dieser Jahre zeigt. Die Gründe
für das Scheitern der Disziplinierung der Gesellschaft und der Verwaltung im
faschistischen Regime – der bedeutendste Teil der sogenannten Faschistisierung der Gesellschaft – lagen im ursprünglichen Charakter des Faschismus
und in seiner Geschichte: Der Faschismus hatte auf Kompromissen mit verschiedenen Kräften und auf einem von Mussolini geschaffenen Gleichgewicht dieser Kräfte beruht. Drei Faktoren verdeutlichen dies: erstens die
Bewahrung einiger Spuren der alten liberalen Gesetze, die einige Stände –
etwa die Universitätsprofessoren, die erst 1931 den Eid auf das faschistische
Regime leisten mußten – noch schützten; zweitens die Mitgliedschaft alter
liberaler Politiker in der PNF, die den Faschismus nicht aus Überzeugung,
sondern aus Bequemlichkeit gewählt hatten; drittens der Mangel einer »wahren« faschistischen, politischen Elite. Die faschistische Bürokratie bestand
aus den alten liberalen Bürokraten und Politikern, die noch mit den alten
Normen und der alten Mentalität verbunden waren.
Die Unzufriedenheit der »alten« wie auch der neuen Generation der Faschisten wurde außerdem vom Ende der politischen Bedeutung des faschistischen Syndikalismus verursacht, der für viele Faschisten eine originäre ökonomische Vision zur Vollendung der Suche nach dem »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunismus dargestellt hatte.20 Dem Syndikalismus Edmondo Rossonis gemäß sollten die faschistischen confederazioni
(Arbeitergewerkschaften) nicht nur die Verbindung der Massen zum Faschismus herstellen und sie zum Zweck der Anerkennung ihrer Interessen
organisieren, sondern einen wirklichen Ansprechpartner der Industrie bilden;
der Streik war nicht nur eine Handlungsmöglichkeit der Arbeiter, sondern ein
»Kriegsakt«, der erklärt werden sollte, »um das Monopol der Organisationen
172
zu brechen, die ihre individuellen Interessen jenen der Nation und der Produktion überordnen.«21 Der Streik der faschistischen confederazioni im Jahr
1925 war zugleich Zeichen ihres Erfolgs und der Anfang ihres Konfliktes mit
der Industrie, der mit dem Abkommen von Palazzo Vidoni und der darauf
folgenden Stellungnahme des Gran Consiglio endete, welche zur Entscheidung des Streikverbots und damit zur Niederlage des Syndikalismus führten.
Diese Auseinandersetzung, die von den wichtigsten Figuren des Faschismus
wie Bottai, Turati und Rocco geführt wurde, erreichte 1928 ihren Höhepunkt,
als Mussolini die Umwandlung der nationalen confederazioni in provinzielle,
voneinander unabhängige confederazioni beschloß und damit das Ende jeder
gemeinsamen, organisierten Politik des Syndikalismus22 herbeiführte. Die
Unterdrückung neuer und originärer Initiativen und Debatten innerhalb des
Faschismus und die ständige Anpassung an die ökonomischen und politischen Kräfte könnten ein Grund für die Enttäuschung alter und neuer Faschisten gewesen sein, die zu unterschiedlichen Reaktionen führte. Die Zeichen
einer ideologischen bzw. einer Legitimierungskrise des Faschismus finden
sich in vielen Äußerungen zeitgenössischer Intellektueller und Politiker: in
der Forderung der revisionisti, eine faschistische, politische Elite zu bilden,
in den Klagen und der Unzufriedenheit der frühen Faschisten – unter anderen
der alten intransigenti Maccari und Suckert – und in der Verwirrung und
dem Unbehagen der Jugend – was von der faschistischen Intelligenz als
»Probleme der Jugend« bezeichnet wurde.23
Die Gewinnung des Konsenses
Mussolini war sich bewußt, daß er nur mit Gewalt weiter regieren konnte,
weil sein charismatischer Einfluß auf die Massen zwar den Erfolg in den
20er Jahren bewirkt hatte, aber das grundsätzliche Problem des Fortbestehens
des Faschismus in einer »normalisierten« Situation nicht lösen konnte. Er
mußte sich also mit der Frage befassen, wie ein stabiler Konsens zu erreichen
war, was eine komplizierte Aufgabe darstellte, da sich eine solche Politik an
viele verschiedene soziale Schichten zugleich richten und all die gegensätzlichen Bestandteile des Faschismus umfassen sollte. Einerseits mußte Mussolini seinen persönlichen Erfolg bei den Massen jederzeit bestätigen und vorzeigen können, selbst wenn er nicht Folge einer »intimen« Verbindung, son173
dern nur einer begrenzten, passiven Zustimmung war. Um dieses kurzfristige
Ziel zu erreichen, bediente er sich verschiedener Rituale und der Propaganda
und schuf dafür zuständige Institutionen. Andererseits war die passive Reaktion der Massen nicht zuverlässig. Der Weg zur langfristigen Dauer des Regimes führte für ihn über ein politisch-kulturelles Projekt, das sich an drei
Empfänger richtete: die konservativen Kräfte, die Jugend und die Intellektuellen. Im Sinne dieser politischen Auffassung lassen sich das Abkommen mit
dem Vatikan, die Bildungs- und Jugendpolitik und die traditionalistische
Wende der faschistischen politischen Darstellungen als bedeutende politische
Strategien dieser Jahre nennen.
1925 wurde eine Kommission (7 Laien und 3 Exponenten der Kirche und
des Präsidenten, d.h. einem faschistischen Politiker) eingesetzt, um die
schwierigen Beziehungen des Staates zur Kirche zu untersuchen und ein
Abkommen über die Frage der kirchlichen Macht über ein Territorium und
der Anerkennung der religiösen Vereine – insbesondere der Bildungsvereine
– zu erreichen. Drei Jahre später, am 11. Februar 1929, wurden die Patti
Vaticani zwischen Mussolini und dem Papst geschlossen. Das faschistische
Regime hatte einen unbestrittenen Erfolg erzielt: Als erstes Regime hatte es
nach der Wiedervereinigung Italiens ein friedliches Abkommen mit dem
Vatikan zustande gebracht. Damit wurde natürlich die Verbindung mit der
katholischen Öffentlichkeit und den konservativen Kräften – insbesondere
den Nationalisten – gefestigt und gesichert.
Die Conciliazione24 mit dem Vatikan bedeutete zwar den Gewinn eines
wichtigen Wählerreservoirs für Mussolini, verursachte jedoch eine regelrechte »Verschiebung« des Konsens, die auf politischer wie auch kultureller
Ebene nachwirkte. Ein großer Teil der ursprünglichen Faschisten – u. a. die
Futuristen und die intransigenti – verteidigte immer noch die antiklerikalen
Ursprünge der faschistischen Bewegung und strebte nach der kompletten
Umwandlung der existierenden Institutionen im faschistischen Sinne, was im
Widerspruch zur offiziellen Anerkennung des Vatikans als unabhängige
politische Institution durch dieses Abkommen stand. Auch einige ehemalige
Liberale lehnten die Patti Lateranensi ab: Für sie galt das Prinzip »freie Kirche in einem freien Staat«, das die Trennung der politischen von der religiösen Sphäre bedeutete, die in ihren jeweiligen getrennten Bereichen agieren
sollten. Der wichtigste Exponent dieser Richtung war Giovanni Gentile,
dessen Begriff des ethischen und totalen Staates mit der durch die Anerken174
nung der Kirche eingeführten Begrenzung seiner Souveränität nicht vereinbar war; der Staat sollte nämlich keine andere gleichwertige staatliche Institution innerhalb seines Territoriums anerkennen. In einem vor den endgültigen Patti veröffentlichen Artikel »La questione romana«25 vom 30. September 1927, in dem er jede Art eines Abkommens ablehnte und sich damit der
Linie des Regimes widersetzte, erklärte er: »Die Wahrheit ist, daß die berühmte Conciliazione ... eine Utopie ist; und wenn es schöne und häßliche
Utopien gibt, wie Manzoni bemerkte, läßt sie sich unter ersteren nicht einordnen ... «26
Wieso aber konnte der totale Staat im Sinne Gentiles, der »alle geistigen
Werte enthält und gewährleistet«27, eine andere politische und moralische
Institution in seinem Territorium anerkennen? Wie konnte der Staat als oberster Erzieher eine alternative religiöse Erziehung akzeptieren? Das Abkommen des faschistischen Staates mit dem Vatikan war für Gentile sowohl auf
theoretischer wie auch auf politischer Ebene undenkbar. Der Staat als »ethische Substanz« und als Wille des Individuums war schon die universelle
höchste Entität; sein Ziel lag sogar darin, alle Inhalte des Lebens zu entwikkeln. Aus diesem Grund konnte er keinen anderen souveränen Organismus
billigen, da er dadurch auf seine ethische Funktion verzichtet hätte. Auf politischer Ebene war die Versöhnung mit der Kirche ein Widerspruch, weil der
Staat keinen unabhängigen Organismus – einen anderen Staat – schaffen
konnte. »Der Staat, den die Kirche [für ihre Anerkennung] benötigt, kann
nicht aus dem Willen und dem Akt des italienischen Staats entstehen, der
immer Herr über seinen Willen bleibt, und deswegen das Recht hat, den Staat
der Kirche zu modifizieren und abzuschaffen«.28
Die Auseinandersetzung führte zum Streit zwischen Gentile und dem
Bruder und Mitarbeiter des duce, Arnaldo Mussolini, sowie vielen Exponenten der Kirche. Dies schwächte die Position Gentiles im faschistischen
Regime nachhaltig29 und nötigte ihn am Ende zur Revision seiner Position.30
Die Diskussion wirkte aber nicht nur auf das politische Prestige Gentiles,
sondern auf das ganze intellektuelle Feld, indem es die Anpassung der offiziellen Kultur dieser Zeit an die Richtung des Regimes förderte und die zunehmende Bedeutung der nationalistischen Staatskonzeption zeigte. Dadurch
wurde deutlich, daß der Aktualismus dem Faschismus nicht nur keine philosophische, politische und kulturelle Basis bot, sondern auch teilweise im
Gegensatz zu einigen Grundlinien des Regimes stand. Außerdem verursachte
175
diese Polemik eine neue Strukturierung des politischen und intellektuellen
Milieus: Durch den Frieden mit der Kirche und ihre Einbindung erreichten
neue politische und intellektuelle Exponenten eine zentrale Stellung im Regime, während andere »alte« und antiklerikale Faschisten – wie Gentile –
teilweise keine zuverlässigen und treuen Ideologen des Regimes mehr sein
konnten. So läßt sich auch eine zunehmende Präsenz – nach der Historikerin
Mangoni sogar eine Art von Hegemonie31 – der klerikalen Autoren in einigen Zeitschriften dieser Zeit (»Critica fascista«, »Il Selvaggio«), die Gründung von klerikalen Exponenten geleiteter Zeitschriften (wie »Il Frontespizio«) und eine Abkehr vom Paradigma des Idealismus, der bis zu dieser Zeit
die Kultur beherrscht hatte32, erklären.
Eine andere Strategie Mussolinis zur Erlangung eines stabilen Konsenses
stellte die Mobilisierung der Jugend dar, die schon immer eine zentrales
Anliegen totalitärer Regime gewesen war33, aber in Italien zum besonderen
Ziel vielfältiger Organisationen und Anstrengungen des Staates gemacht
wurde.34
Die Funktionen und die Geschichte dieses Aspekts des Regimes können
hier nicht eingehehend untersucht werden; relevant ist hier einerseits das
Projekt Mussolinis, eine neue italienische Kultur und Zivilisation durch Einflußnahme auf die Bildung und Kultur zu schaffen, andererseits das Scheitern dieser Initiative und die nachfolgende Krise der Legitimation und des
Konformismus sowie die daraus resultierende Verwirrung der jungen Generation. Es ist bemerkenswert, daß all diese Anstrengungen zur Bildung der
jüngeren Faschisten letzten Endes nicht zu einer neuen Diskussion über die
faschistische Ideologie und zu einer originären künstlerischen oder literarischen Bewegung im intellektuellen Feld führten, sondern nur eine konformistische Literatur und Kunst erbrachten. Es wäre zwar falsch, zu sagen, daß
sich überhaupt keine Innovationen entwickelt hatten; doch die innovativen
Künstler und Schriftsteller waren meist Randfiguren, die manchmal als gefährliche interne Opponenten angesehen wurden und oft die Krise der jüngeren kulturellen Exponenten deutlich machten.35 Aus dem vom Regime verherrlichten Projektes der »Schaffung der jüngeren Eliten«, in das viel Energie investiert wurde, entstand oft nur die Enttäuschung und der Konformismus der »neuen« Faschisten.
Was die Bildung der Jugend betrifft, so trafen sich hier widersprüchliche
Ziele und Ansprüche des Regimes. Sofern faschistische Prinzipien gefördert
176
und verteidigt wurden, wurde die aktive Teilnahme am politischen und kulturellen Leben propagiert – aber tatsächlich waren die einflußreichen Machtpositionen weiterhin von der alten Generation besetzt. Innovation und Kreativität sollten der »Stoff« des jungen Italien sein – aber in Wirklichkeit entwickelte sich eine Literatur, die die Tradition in Kunst und Literatur lobpries
und deshalb »freier« war und vom Regime mehr Unterstützung erhielt, weil
sie nicht als zu »ketzerisch« betrachtet wurde. Alle diese Widersprüche gingen auf die grundsätzliche Antinomie zwischen der Selbstdarstellung und der
Realität des Regimes zurück. Die Diskurse Mussolinis und vieler Faschisten
betrachteten den Faschismus immer noch als eine Revolution, welche sozialen Friede, Wohlfahrt und Gerechtigkeit bringen und die kritische Debatte
fördern sollte; in Wahrheit war er mit den Interessen der Bourgeoisie verbunden und die faschistische Politik war nicht nur konservativ, sondern teilweise reaktionär und immer autoritär. Die Lobpreisung der Initiativen der
Jugend hätte zum Anspruch einer Liberalisierung des Regimes führen können, wenn sie ernst genommen worden wäre; die Slogans der Gerechtigkeit
hätten die kapitalistische Herrschaft der regierenden Elite in Frage gestellt,
wenn die Jugend sie verwirklicht hätte. In Wahrheit wurde nicht nur keine
Kritik, sondern auch kein Anspruch auf die Vollendung der faschistischen
Prinzipien zugelassen, da beide das unter Anstrengung erreichte faschistische
Gleichgewicht hätten zersetzen können. Das Kennzeichen des frühen Faschismus – seine revolutionäre Imagination und sein konservativer Geist –
wurde nur genutzt, um den nötigen Konsens zu erreichen, und verkümmerte
dann zur Propaganda.36
Die Kultur dieser Zeit war von zwei gegenseitigen Tendenzen gekennzeichnet: dem Konformismus und den »utopischen« Interpretationen des
Faschismus. »Die Presse interessiert die öffentliche Meinung, weil sie zu
uniform ist. Das ist nicht neu, aber es ist trotzdem wahr ... Ist das Regime für
diese Uniformität der Presse verantwortlich? Ich glaube es nicht ... Die einzigen Männer, die das Recht haben, die allgemeine Richtlinien vorzugeben –
der Duce und der Parteisekretär – behaupteten wiederholt, daß man diskutieren kann, daß man diskutieren muß ... Warum wird dann so wenig diskutiert
und so viel gebrummt? Weil auch Diskutieren voraussetzt, daß man Ideen
und den Mut hat, sie zu zeigen ... Weil Diskutieren in der Presse eine Gefahr
sein kann, weil immer jemand päpstlicher als der Papst ist, und die Interpretation des zentralen Willens in der Peripherie nicht perfekt ist.«37 Dieser
177
Artikel von 1931 verdeutlicht die Konfusion und die Vielfältigkeit der Interpretationen des Faschismus, die dazu verleiten könnte, eine »zu« kritische
Vision des Faschismus zu vermitteln, was auch in der Untersuchung von
Michael Leeden38 gezeigt wird. Die Gefahr bestand eben auch darin, »päpstlicher als der Papst zu sein«, die in den Diskursen so verherrlichten Ideale
des Faschismus zu ernst zu nehmen und deswegen als ein interner Opponent
betrachtet zu werden.
Tatsächlich waren die Themen und Haltungen in Kunst und Literatur von
zunehmendem Konformismus und Traditionalismus gekennzeichnet. Da sie
sowohl auf die Strategien und Visionen Mussolinis, als auch auf das intellektuelle Leben wirkten, läßt sich die stärkere traditionalistische und konservative Wandlung der faschistischen Selbstdarstellung unter zwei Aspekten
betrachten. Auf der politischen Ebene richtete sich die Aufmerksamkeit mehr
und mehr auf die Propaganda, die traditionelle Ideen wie Heimat, die Werte
der Agrargesellschaft, die Wiederherstellung der Traditionen und des römischen Imperiums verbreitete.39 All diesen unterschiedlichen »neuen« Mythen
war ihr traditionalistischer Kern gemeinsam, d.h. ihre Bindung an eine Tradition blieb so unbestimmt, daß sie sich nach den Wünschen unterschiedlicher sozialer Gruppen deklinieren ließ. Tradition als loser Zusammenhang
von Vorstellungen – Heimat, Agrargesellschaft – konnte in der Tat ganz
verschiedene Schichten an sich binden: die Kleinbürger und die Bauern, die
im Faschismus endlich Schutz und Unterstützung für ihre Lebensprinzipien
und ihre Klasse finden wollten, die Rechtskonservativen und die extremen
Nationalisten, die immer eine imperialistische Politik angestrebt hatten, die
Reaktionäre, welche Autorität und hierarchische Ordnung in einem ruhmreichen Imperium wünschten, und schließlich auch einige ehemalige Liberale,
welche noch durch die Erinnerung an das Risorgimento und den Unabhängigkeitskrieg geprägt waren. Eine komplexe und widersprüchliche, aber sehr
geschickte Mischung propagandistischer Ideen sollte die Massen und die
Intellektuellen überzeugen und sie in eine Art politisch-religiöser Atmosphäre führen, in der der Faschismus nicht nur die Rolle einer politischen Doktrin, sondern die des Trägers einer spirituellen Mission spielen sollte. Die
Praktiken der »politischen Überzeugung« waren so organisiert, daß sie von
den Akademien und Instituten für die Hochkultur getrennt wurden. Die Massen sollten von der mythischen Figur des Duce unterjocht werden: dieses
Ziel strebten ein Ministerium (Ministero della Cultura Popolare) und die
178
Partei an, die bombastische Inszenierungen vorbereiteten. Doch die Vereinnahmung und Kontrolle der kulturellen Welt nahm ganz andere Wege, nämlich die der Unterdrückung und der Förderung. Jene wurde mit Zensur und
Kontrollinstitutionen gesichert und gipfelte im Eid der Lehrer im Jahr 1929
und der Akademiker im Jahr 1931; diese bestand in der Gründung und Finanzierung einer Reihe faschistischer Akademien, Schulen, Ausstellungen
etc. 1925 eröffnete Giovanni Gentile das Istituto Nazionale Fascista di Cultura, und noch im selben Jahr wurde die Gründung der faschistischen Reale
Accademia d’Italia angekündigt, welche den intellektuellen Bewegungen
helfen und sie fördern sollte. Seit 1922 existierte die Gewerkschaft der »intellektuellen Arbeiter« (Sindacato Nazionale del Lavoro Intellettuale), die
sich in ihrem Programme als »faschistische intellektuelle Arbeiter« darstellten, »die dem Proletariat durch ihr Kulturschaffen helfen wollten und zur
Belohnung dessen Disziplin, Liebe für die Arbeit und spontane Mitarbeit
verlangten«.40 Die grundlegende Idee all dieser Institutionen bestand darin,
daß Literatur, Kunst und Wissenschaft ein einziges Ziel haben sollten: die
Entwicklung der faschistischen Gesellschaft. In einem Manifest der »offiziellen« Künstler des Regimes der 30er Jahre wurde dies auf tragische Weise
deutlich: »Im faschistischen Staat hat die Kunst eine soziale Funktion: eine
erzieherische Funktion. Sie muß die Ethik unserer Zeit übertragen. Sie muß
dem gemeinsamen Leben die Einheit des Stils und die Größe der Linien geben. Die Kunst wird also wieder werden, was sie in ihren höchsten Zeiten
und in den höchsten Zivilisationen war: ein perfektes Instrument der spirituellen Regierung. Der individualistische Begriff des l’art pour l’art ist veraltet.«41
Die Umformung des intellektuellen Feldes
»Die scheinbar zerstörerische, ironische, selbstkritische Literatur der ersten
20 Jahre des Jahrhunderts hat ihren Anhaltspunkt im Marsch auf Rom gefunden, indem sie einer sich zunehmend verfestigenden Macht und einem mit
eigenen Initiativen ausgestatteten, kraftvollen politischen Regime gegenüber
entweder schmeichlerisch wird und sich mit den gemeinen Diensten der
Lobhudelei der Mächtigen beschäftigt, oder eine akademische Mentalität
179
wiederherstellt, mit tausend Sorgen um die Form und den Stil, mit Tendenzen zum Traditionalismus, zu ausladenden Kompositionen, zur Geziertheit
und Virtuosität.«42 So lautet die klare Analyse des faschistischen Intellektuellen Camillo Pellizzi, der das Problem des Fehlens einer jungen politischintellektuellen Elite der autoritären und antikritischen Haltung des Faschismus zuschrieb und das Fehlen des freien und kreativen Denkens und Diskutierens innerhalb des Regimes beklagte. Dieser Konformismus der Literatur
Ende der 20er Jahre muß mit der zunehmenden politischen Zensur und der
Schwierigkeit, eine offene und freie Diskussion innerhalb der faschistischen
Kultur zu führen, in Zusammenhang gebracht werden. Dies bedeutet, daß das
intellektuelle Feld nicht unverändert blieb: Es wurde immer stärker von den
politischen Anforderungen beeinflußt und gestaltet und immer abhängiger
vom Regime.
Will man eine Karte des intellektuellen Feldes dieser Jahren zeichnen, so
läßt sich weder eine klare Abgrenzung zwischen den intellektuellen Strömungen ziehen, noch eine deutliche Gegnerschaft – auch nicht zwischen den
Nationalisten und den Idealisten – oder die Entwicklung eines neuen künstlerischen oder wissenschaftlichen Projektes, das von den alten Auffassungen
ausgeht und sie erneuert, ausmachen. Dies könnte seine Ursache im Konformismus der Kultur haben, der von einigen Intellektuellen beschrieben wurde,
oder in der Leere und dem Fehlen ernster Diskussionen, Ideen, Vorschläge,
die zu jener Zeit unter dem Begriff »Krise der Jugend« subsumiert wurden.
Wie das politische Feld, in dem eine scheinbar monolithische Struktur durch
die Unterdrückung der externen und internen Gegner und durch die Absorption der Mehrheit der konservativen Kräfte gebildet wurde, die seine internen
Spannungen verdrängte, kann das intellektuelle Feld als eine scheinbar homogene Struktur ohne bedeutende Konflikte und Diskussionen dargestellt
werden.
Zusammenfassend läßt sich das Verschwinden der extremen Positionen,
die entweder in den Strömungen der revisionisti absorbiert oder stark zensiert
wurden, als Produkt einer allmählichen Heteronomie im intellektuellen Feld
betrachten: Die Gruppen der rechtsextremen und linksextremen Intellektuellen verloren ihre politische und kulturelle Rolle, ihre Zeitschriften wurden
zensiert oder von der einen oder anderen regimenahen Strömung geschluckt,
sie vertraten keine originären intellektuellen und politischen Position mehr.
Auch ihre Verbindung mit den intransigenti wurde geschwächt wie jene mit
180
der revolutionären Auffassung der schon völlig marginalisierten futuristischen Bewegung. Die unterschiedlichen Strömungen des Faschismus in der
Kultur wurden auf eine monolithische Einheit reduziert, so daß sich auch die
politische und kulturelle Opposition der Gruppen radikaler Intellektueller in
den Protest einzelner verwandelte, also unorganisiert blieb. Diskussionen
wurden zwar geführt – in »Critica fascista« oder unter den Schülern Gentiles
-, aber ihnen lag keine wirksame Kritik des Faschismus und seiner Methoden
zugrunde. In dieser Hinsicht verdeutlichte der Konflikt über das Abkommen
mit dem Vatikan eine vom Regime unterdrückte Auseinandersetzung und
Spaltung im intellektuellen Feld und zeigte zwei wichtige Faktoren: den
Verlust des Einflusses der aktualistischen Philosophie in der Politik und in
der Kultur und die Existenz einer politischen Opposition gegen die Abkommen. Diese bestand aus einer »Restopposition« der intransigenti, die aber
keine kulturelle, kritische Kampagne gegen das Regime organisierte, dem
Philosophen Gentile und schließlich einer neuen Gruppe von »Superfaschisten« unter der Führung Julius Evolas.
Die Verknüpfung mit den schon analysierten Strategien zur Neutralisierung und Absorption der Andersdenkenden und mit der Politik des Konsenses soll verständlich machen, daß die von den Intellektuellen und der Jugend
der Zeit wahrgenommene Leere damit verbunden war, daß sich die Kritik
und jeder Versuch zur Erneuerung des Kunst- und Politikbegriffs erschöpft
hatte. Der Konformismus der damaligen Literatur muß ebenso mit dem Ende
der integralistischen Kritik wie mit dem Niedergang des aktualistischen philosophischen Paradigma in Zusammenhang gebracht werden. Nicht nur die
selvaggi verloren an politischer Wirksamkeit und wurden durch die zunehmende Kontrolle des Regimes neutralisiert, sondern auch der Philosoph
Gentile wurde trotz seiner einflußreichen Position im Regime in seiner direkten Mitwirkung an der faschistischen Politik eingeschränkt.
Die Jungen und die Alten: Konformismus und Absorption der ketzerischen
Tendenzen
Die Unterdrückung der kommunistischen und sozialistischen Intellektuellen
hatte schon zur Verarmung des kulturellen Lebens geführt, aber die zunehmende Zensur gegen die intransigenti, ihre Marginalisierung oder ihre Ab181
sorption innerhalb der regimetreuen Institutionen und kulturellen Initiativen
wie auch die Unterdrückung einiger Exponenten der revisionisti – Massimo
Roccas z. B. – bedeuteten das Ende jeden Versuchs, eine grundlegende Diskussion über die faschistischen Ideale zu führen. Da die Partei sich zudem in
eine Organisation für Massenpropaganda wandelte, verlor sie dementsprechend jede Möglichkeit, irgendwelchen Einfluß im Staat und in der Regierung zu gewinnen – früher hatte der squadrismo immerhin noch eine eigenartige interne »Demokratie« innerhalb der Partei sichergestellt. Diese zwei
Phänomene verstärkten einander: Die Zensur und die Kontrolle über die
Kultur verschärften die Folgen der Marginalisierung der intransigenti und
führten zu einem direkten Ausschluß integralistischer Intellektueller. Dem
Mangel an interner Diskussion in den Eliten und einer langfristig erfolgreichen Politik, neue politische Eliten zu bilden, entsprach die parallele Krise
der Jugend und der jüngeren Intelligenz. Alle bedeutenden Exponenten des
revolutionären Faschismus, viele »Träger« der Erneuerungsansprüche, waren
entweder schon absorbiert oder an den Rand geschoben. Die Futuristen waren spezialisierte Techniker der Massenkommunikation oder Vertreter der
l’art pour l’art geworden; ihr künstlerisches und politisches Erneuerungsprojekt war schon veraltet.43 Der Aktualismus wurde zwar von einer Reihe
Intellektueller und Kultur- und Politikorganisatoren – u.a. den revisionisti –
weiterhin als Vorbild betrachtet, aber nicht wesentlich weiterentwickelt; erst
in den 30er Jahren sollte ein Schüler Gentiles, Ugo Spirito, eine neue und
sehr einflußreiche Auffassung des Idealismus erarbeiten.44 Die immer größer
werdende und intern differenzierte Gruppe der ehemaligen revisionisti um
Giuseppe Bottai versuchte, die alten »Ketzer« – die selvaggi – zu absorbieren
und eine Diskussion über die ungelösten Fragen der Staats- und Kulturorganisation auszulösen, doch ihre Doppelbeziehung zu Mussolini, d.h. ihre Position als Exponenten der Kultur des Regimes und ihr Interesse an der Analyse und Bildung der faschistischen Kultur – führte dazu, daß letztlich keine
neue Definition der Kultur und der Politik erarbeitet wurde. Hinzu kam, daß
auch die Diskussionen zwischen den jungen und alten faschistischen kulturellen Exponenten keine Auswirkung auf die politische Praxis hatte.
Die Generation des Weltkriegs und der Machteroberung des Faschismus
– die Generation von Bottai, Marinetti, Gentile, Maccari, Malaparte, Carli,
Settimelli – stellte noch Ende der 20er Jahre die Protagonisten der Kultur
und der Politik, obwohl die Diskussionen und die Polemiken der ersten Jahre
182
des Faschismus stark abgeschwächt waren. Wenngleich die integralistischen
Intellektuellen immer isolierter dastanden, wurden doch einige Intellektuellen der neuen Generation von ihnen noch maßgeblich geprägt.
Die Ende der 20er Jahre immer deutlicher werdende Entfernung von den
»alten Meistern«, unter denen der Aktualismus Gentiles und insbesondere
dessen Auffassung der Einheit von Philosophie, Politik und Geschichte hervorzuheben sind, konnte nur in einer Generation stattfinden, die die intellektuelle Debatte zu Anfang des Jahrhunderts und den Krieg nicht selbst erlebt
hatte. Diese Jugend, die nur im Faschismus gelebt hatte und das intellektuelle
Erneuerungsstreben und die Revolution nur als Teil der Geschichte kannte,
stand den »Meistern« Croce, Einaudi, aber auch Pareto und Gentile mit Befremden gegenüber. Sie hatte nur die Rhetorik der faschistischen Akademie,
den Konformismus der Zeitschriften und die akademische Macht der faschistischen Professoren erfahren, und wußte weder von einer Debatte und tragischen Auseinandersetzung unterschiedlicher, vom politischen Einfluß unabhängiger intellektueller Strömungen und Lebensauffassungen, noch von
kulturellen Erneuerungsprojekten, die auf eine totale Umwälzung des Lebens
abzielten.
Die hier betrachtete Krise der faschistischen Generation der Zwanzigjährigen, die keine Begeisterung für die faschistische Akademie, für die Philosophen und die Künstler hegten, ging entweder in eine opportunistische und
konformistische Haltung45 über, oder die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Kultur führte zur Annäherung an unorthodoxe – wie die selvaggi – oder
sogar kommunistische Denker, und manchmal zum Konflikt mit dem offiziellen Faschismus.
So schrieb Berto Ricci, einer der bedeutendsten Exponenten dieser jungen
Generation: »Zuviel Orthodoxie ... zuviel Einklang: Es ist nicht sicher, daß
der Einklang Übereinstimmung ist. Vorteile? Einige sind da, aber es gibt
auch Gefahren. Zuerst die des Reichtums der Mittelmäßigkeit ... Und wir
glauben nicht, daß wir gezwungen sind, zwischen einer gegenwärtigen Mittelmäßigkeit und einer vergangenen Mittelmäßigkeit zu wählen, die noch
teilweise überlebt; zwischen der schlechten Literatur des X. Jahres [der Revolution, 1932] und der des 19. Jahrhunderts; schließlich zwischen den faschistischen Wiederholungen und den liberalen Wiederholungen ... In Italien
gibt es Leute, jüngere Leute – die bereits anfangen, sich kennenzulernen und
183
sich zu zählen – die keine Lust haben, die Schmeichler zu spielen, die überprüfen, analysieren, ihren Horizont wechseln, die Häresie riskieren ... »46
Diese aktive Jugend war von Maccari und Settimelli fasziniert, von ihrer
Konsequenz und von ihrem Versuch, zu einer alternativen Vision des Faschismus beizutragen. Maccari und Settimelli wurden zusammen verehrt,
obwohl sie ganz unterschiedliche Visionen des Faschismus vertraten. Dino
Garrone, Berto Ricci und Edoardo Persico47 gründeten 1930 mit dem ehemaligen selvaggio Gioacchino Contri die Zeitschrift »Il Rosai«, um die italienische Kultur gegen die Kunst und die Kultur des Regimes – insbesondere
die akademische Kultur und die Strömung 900 – zu verteidigen. Insbesondere Ricci verstand sich als Nachfolger der selvaggi: Er hatte schon mit Maccari gearbeitet, um antidealistische, realistische, typisch traditionelle, kulturelle
Werte wiederherzustellen und den Mythos der Revolution weiterzuführen –
sogar der bolschewistischen Revolution. Gleichzeitig waren die Leiter von
»Rosai« auch Freunde Settimellis; Berti veröffentlichte in »L’Impero«, und
Settimelli unterschrieb mit ihm 1930 das Manifest »Svaticanamento« gegen
den Vatikan. Ihren Anspruch auf den antibürgerlichen, reinen Geist des Faschismus betrachteten diese Jüngeren als Basis ihres Engagements: »Die
Verspottung und die Ironie der Moderaten, der Lügner, der Unparteiischen,
der Kritiker, der Feinen, der Journalisten beeindrucken uns nicht: über die
Unreinen ... lachen wir nur ... ».48
Trotz der Kritik und des persönlichen politischen Engagements einiger
Jüngerer wie Berto Ricci waren auch für sie Kunst und Literatur von der
Politik getrennt. Keiner von Ihnen war ein Kulturorganisator, der versuchte,
eine alternative politisch-intellektuelle Vision des Faschismus durchzusetzen
und eine Polemik gegen die Autoritäten zu initiieren. In diesem Sinne waren
diese Jüngeren ebensowenig Nachfolger der intransigenti wie der Mitarbeiter
und neue Leiter von »Il Selvaggio«, Ardengo Soffici. Sie waren nämlich in
diesen Jahren unfähig, eine umfassende Kritik zu entwickeln, die den Bereich der Kunst und der Literatur überschritt, um eine ideelle Auffassung des
menschlichen Lebens zu entfalten. Andererseits erschöpfte sich die von Teilen der Jugend mit Interesse verfolgte politische Bedeutung der intregralistischen Intellektuellen – die sogenannte faschistische fronda (Opposition) der
Jahre 1924-25 – nach den Auseinandersetzungen mit Mussolini. Ihre Exponenten wurden entweder in faschistischen intellektuellen Gruppierungen
absorbiert (selvaggi), ihre politischen Interventionen wurden immer seltener
184
(Suckert) oder sie wurden noch stärker zensiert (Settimelli). Sie waren nicht
mehr Katalysatoren der alternativen Visionen der Bewegung und Organisatoren der extremistischen Intellektuellen, sondern nur noch isolierte Künstler
und Literaten, die ihre rein persönliche Kritik an bestimmten politischen
Fragen übten. Sie waren und wurden andererseits nie Vertreter der faschistischen Kultur, was auch in der Haltung Mussolinis ihnen gegenüber und in
ihrer prekären Lage innerhalb der faschistischen Kultur deutlich wird. Vom
Duce wurden Maccari und Suckert als »Frondiste«, als polemische Journalisten, Settimelli als Exponent einer »Kultur, die sich mit Flüchen und Beschimpfungen ausdrückt«49, beschimpft. » ... Sie leiden unter der Krankheit
des Exils von etwas, das nicht ist, von einem Land, das nicht existiert. Sie
suchen Trost in einem unerreichbaren Hinterland, das für sie Bollwerk einer
auf dem Nichts der unnützen Erfahrungen und der Ideenkonfusion basierenden poetischen Kultur [ist].«50
Suckert51 führte, trotz seiner sporadischen, ironischen und subtilen Polemik gegen das Regime52, die aber keine politische, alternative Vision darstellte, für kurze Zeit nur den künstlerischen Teil der »integralistischen Revolution« weiter. Er wirkte mit Maccari und seinem Nachfolger an der Leitung von »Il Selvaggio«, mit Ardengo Soffici an der Debatte zwischen den
Verteidigern der Kunst der »Provinzen« (strapaese) und der künstlerischen
Strömung 900 (stracittà) mit. Strapaese war »die Behauptung ... des aktuellen, wesentlichen, unverzichtbaren Werts der typisch italienischen Sitten und
Traditionen, die im Land ihren Ausdruck, Hüter und Erneuerer finden«53,
und widersetzte sich den Ansprüchen der Gruppe 900, eine europäische
Kunst zu bilden, die als rein ästhetisches Spiel zu verstehen sei, in dem der
Künstler seine Arbeit nur als Erzeugung von Mythen begriff54, ohne irgendwelchen Anspruch an der Diskussion und Intervention am politischen Leben
zu erheben. Diese Polemik offenbarte die Entleerung und die Ästhetisierung
des moralischen Erneuerungsstrebens der ehemaligen integralistischen Intellektuellen, die aber auch dieses Mal gegen eine von Mussolini und vom Regime unterstützte Strömung kämpften. Obwohl Mino Maccari und Ardengo
Soffici versuchten, eine eigene Position in der futuristischen Debatte zu vertreten und mit Suckert55 in »Il Selvaggio« die Auffassung der Kunst von
strapaese, d.h. die Entwicklung eines eigenen italienischen literarischen und
künstlerischen Ausdrucks, predigten, war für den Nachfolger Maccaris, Soffici, die Politik von der Literatur losgelöst. Kunst und Literatur waren ihm
185
Surrogate des politischen Engagements: »Alle wahren großen Italiener haben
...geschrieben oder gedichtet, wenn sie nicht handeln konnten.«56 Maccari
selbst versuchte, sein politisches Engagement teilweise noch weiterzuführen,
aber er war immer stärker isoliert, sogar in seiner eigenen Zeitschrift.57
Im Gegensatz dazu vergaß Carli noch stärker als Suckert seine politische
Kritik und seinen revolutionären Anspruch im Futurismus: Nur zwei Jahre
nach seinem politisch-intellektuellen Kampf für den faschistischen Futurismus predigte er den Künstlern die »Rückkehr in die Museen«58 Auf diese Art
erledigte sich die Bedeutung der Revolte der intransigenti-Intellektuellen
dadurch, daß die Aufgabe der Künstler als eine spezifische Tätigkeit verstanden wurde, um an der Entwicklung des Vaterlandes mitzuwirken. Die ästhetische Betrachtung des Faschismus als reiner »antitraditioneller, antikultureller« Stil verband sich bei Carli mit dem Verzicht auf politisches Engagement und mit der akritischen Annahme der Ideale des neuen Futurismus: der
Intellektuelle als »Regime-promoter«.59 Emilio Settimelli blieb wie Maccari
kohärenter und bezahlte für seine hartnäckige und utopische Vision, obwohl
er den Integralismus nach seinem Kampf für die intransigenti weniger vehement weiterführte: »L’impero« wurde oft beschlagnahmt und Settimelli
viermal aus der Partei ausgeschlossen – beim letzten Mal 1938 definitiv.
1933 wurde er auch vom Futurismus »exkommuniziert«60, nach einer Stellungnahme gegen Marinetti und Carli, als er den Anfang der »allgemeinen,
reinen, futuristischen Revolte gegen die Erstarrung der von Marinetti geleiteten offiziellen futuristischen Bewegung«61 erklärte. Die Ächtung der integralistischen Intellektuellen ging mit der Absorption eines Teils von ihnen in
der politischen Strömung der revisionisti einher, die sich auch auf deren
Haltungen und Themen auswirkte. Um die Veränderung dieser Jahren besser
erfassen zu können, kann die allmähliche Entfernung der revisionisti vom
Paradigma des Aktualismus einerseits an ihrer zunehmenden Zusammenarbeit mit klerikalen Autoren, andererseits an ihrer Kollaboration mit den ehemaligen selvaggi abgelesen werden. Die von vielen heutigen Forschern62 als
die bedeutendste kulturelle Strömung des Faschismus in diesen Jahren angesehenen revisionisti, insbesondere jene von »Critica fascista«, besaßen in den
Debatten um die wesentlichen Themen – die Krise der Jugend, die Bildung
der Elite und die Entwicklung einer kulturellen und politischen Erneuerung –
eine gewisse Freiheit und eine spezifische Kompetenz. In der »Critica fascista« der späten 20er Jahre findet man überraschenderweise die Namen ehe186
maliger unversöhnlicher Gegner aus der Mitte der 20er Jahre als Mitarbeiter
der Zeitschrift wieder: die ursprünglichen revisionisti (Casini, De Marsanich,
Sammartano), die ehemaligen Nationalisten (u.a. Ugo D’Andrea und Filippo
Carli), Syndikalisten wie Barni und Olivetti, Aktualisten wie Agostino Nacci
und Luigi Chiarini, die katholischen Intellektuellen (u.a. Piero Bargelli und
Eugenio Martire) und schließlich die selvaggi Maccari, Gioacchino Contri,
Alberto Luchini. Letztere nahmen seit 1926 eine immer wichtigere Rolle in
der Zeitschrift als Vertreter der »Bewegung« und Befürworter der Weiterentwicklung der Partei ein und widersetzten sich der von Mussolini durchgeführten Politik der Verwandlung der PNF in eine Institution für die Verbreitung von Propaganda. Giuseppe Bottai, der bedeutende Kulturexponent des
Revisionismus und Schöpfer dieses Gleichgewichts, das unterschiedliche
und teilweise widersprüchliche Strömungen vereinte63, hatte schon ab 1925
ein Bündnis mit den intransigenti-Intellektuellen der selvaggi vorgeschlagen64, das zur Entstehung von »Kulturzentren« des Faschismus führen sollte,
um die »liberale Gegenrevolution« zu bekämpfen. Die Bedrohung durch die
»Männer der alten regierenden Klasse«65, bestand nach Bottai in der Entleerung der faschistischen Prinzipien und der Wiederherstellung der alten Trennung von Staat und Regierten, wobei mit diesen »Männern« die Nationalisten und insbesondere Alfredo Rocco gemeint waren. Das Programm der
revisionisti lautete, »Mussolini zu konstitutionalisieren«, d.h. den Faschismus zu konsolidieren, um eine politische Organisation und Doktrin – d.h.
insbesondere eine faschistische Elite – zu bilden; im Gegensatz zu Alfredo
Roccos Doktrin der Staatsautorität sollte die faschistische Regierung sich die
Unterstützung der Massen nicht durch ihre Unterdrückung, sondern durch
ihre Organisation in den Parteistrukturen und teilweise durch ihre Selbstbestimmung sichern. Die Verteidigung der Partei und der Traditionen des ursprünglichen Faschismus sowie der entsprechende Verweis auf die demokratischen Strukturen der ursprünglichen Partei boten eine Basis zur Zusammenarbeit von revisionisti und selvaggi, um die Funktion der PNF für die
Bildung der faschistischen Elite zu verstärken und damit die gegenwärtige
Politik Roccos zu stören.66 Dies stand außerdem in starkem Gegensatz zur
damaligen Strategie Mussolinis, die Partei als Machtzentrum zu zerstören.
Dennoch scheiterte die Reform der Partei und das Bündnis der selvaggi mit
den revisionisti. Erstere hoben die bürgerliche und idealistische Auffassung
187
der revisionisti als zu starken Unterschied zur eigenen Position hervor, so
daß ihr Bündnis nie wirklich funktionieren konnte.
Gleichzeitig veränderten die selvaggi und die Gruppe um »Critica fascista« ihre kulturellen Referenzen und Vorbilder, so daß ihre Auffassung der
antiklerikalen Grundlinie des Faschismus teilweise revidiert wurde. Der
Verweis der revisionisti auf den Aktualismus Gentiles und die Vision der
absoluten Herrschaft des Faschismus über alle Institutionen – auch die Kirche – wurden bei den selvaggi erheblich reduziert, um sich der neuen politischen Situation anzupassen. So fingen die katholischen Intellektuellen Bargellini, Lisi und Bertocchi ab 1928 an, in der Zeitschrift »Il Selvaggio« mitzuarbeiten, zeitgleich zur Diskussion über die katholische Frage in »Critica
fascista«, die teilweise von denselben Autoren geführt wurde.67 Die Beziehung des Aktualismus zum Faschismus und seine Bedeutung als dessen
Philosophie waren damit bedroht: Für die Katholiken De Luca, Martire und
Bargellini stellten der Aktualismus und seine Position als politische und
kulturelle Basis des Faschismus ein Hindernis für die Annäherung des Vatikans an Mussolini dar, da die traditionelle Bedeutung und universelle Tradition der Kirche einer bestimmten philosophischen Auffassung des Staates –
dem totalen Staat Gentiles – untergeordnet wurden. Bottai und seinen Mitarbeitern wurde immer klarer, daß der Aktualismus keine starke faschistische
Identität und dauerhafte Legitimität bilden konnte – was auch die Meinung
Mussolinis war – und daß stattdessen der starke institutionelle Apparat der
Kirche, der auf einer universellen, dauerhaften Tradition begründet war, am
Ziel der Einheit und der ideologischen Legitimation des Faschismus mitwirken könnte. Außerdem stellten die katholischen Jugend- und Massenorgansiationen eine bereits existierende Struktur dar, die für das Ziel der Normalisierung des Faschismus erfolgreich verwendet werden könnte. Gleichzeitig
gewannen katholische Zeitschriften und kulturelle Initiativen dadurch, daß
sie einen wesentlichen Teils der faschistischen Politiker und Intellektuellen
zu untersützten begannen immer mehr Gewicht im Faschismus.68 Im Gegensatz dazu war der Aktualismus in immer geringerem Maße der offizielle
Spiegel des Faschismus; nicht nur »Il Selvaggio«, sondern auch die Redakteure von »Critica fascista« begannen eine kritische Kampagne gegen Gentile, die seine Ideen im Hinblick auf die Verhältnisse des Staates zur Kirche
attackierte und die Basis des Aktualismus unterminierte.69 Dies steht im Zusammenhang mit dem immer engeren Bündnis Mussolinis mit den Nationali188
sten und mit Alfredo Rocco, dem Schöpfer des faschistischen Rechtssystems.70
Schon die Diskussion der Bildungsreform Gentiles71 und die fehlende
Verwirklichung des Finalen Dokuments der achtzehnköpfigen Kommision
hatten gezeigt, daß der politische Einfluß Gentiles geringer geworden war
und daß Mussolini einen neuen kulturellen Bezug in dem Nationalisten Alfredo Rocco gefunden hatte. In dieser Hinsicht war die Auseinandersetzung
Gentiles mit dem Regime – und mit den Klerikalnationalisten – wegen der
Conciliazione nur ein verspätetes Zeichen einer Divergenz von Aktualismus
und Faschismus, der dem Regime nur noch zur Legitimation diente. Mussolini hatte andere und praktische Interessen zu vertreten, die mit dem totalen
Staat Gentiles nicht vereinbar waren. Die Auffassung Roccos, eines der
wichtigsten Exponenten des Nationalismus, faschistischer Intellektueller und
Staatstheoretiker des Faschismus, wird hier erwähnt, um die Distanz der
kulturellen und politischen Motive des tatsächlichen Urhebers des faschistischen Staatssystems Rocco zum Philosoph des Aktualismus zu zeigen. Alfredo Rocco, der wie Gentile eine politisch wichtige Rolle in der Regierung
spielte72, setzte seine Staatstheorie aufgrund ihres Konservatismus und Nationalismus dem ethischen Staat Gentiles entgegen. Anders als Gentile, der
in der achtzehnköpfigen Kommission die Kontinuität des faschistischen
Staats mit der liberalen monarchischen Regierung behauptete, unterstützte
und forderte Rocco illegale und gewalttätige Methoden zur Vernichtung
jedweder Spur des vorherigen liberalen und demokratischen Systems. Mit
der Verabschiedung der von ihm erarbeiteten Gesetze in den Jahren 1925 bis
1928 – der sogenannten leggi fascistissime – erreichte er die Identifizierung
des Staats mit dem faschistischen Duce beziehungsweise seine Trennung von
der Partei, aber auch die Kontrolle Mussolinis über alle politischen Funktionen und Institutionen. Die Regierung wurde zum beratenden Organ ohne
gemeinsame Verantwortung; die Partei wurde eine Institution innerhalb des
Staats, dessen Führer und Organe direkt von Mussolini ernannt wurden; der
Gran Consiglio, der strikte Beirat der höchsten faschistischen Führer, wurde
zur Versammlung der Anhänger Mussolinis: Die Kammer hatte keine Legislativgewalt mehr. Alle Veränderungen strebten eine Verringerung der
Risiken politischer Instabilität an, was bedeutete, daß nicht nur die Initiative
der Massen, sondern auch jene der faschistischen Eliten beschränkt werden
mußte, um die Hierarchie und die Kontrolle des Führers nicht in Frage zu
189
stellen. Das war das Gegenteil von Demokratisierung des politischen Lebens
und gradueller Partizipation der Massen an den Staatstätigkeiten, die Gentile
und die mit ihm verbundene Strömung der revisionisti als langfristige Ziele
geplant hatten. Die Demokratie, die liberalen Ideale und der Sozialismus
wurden in Roccos reaktionärer Vision sogar als Prinzipien der Unordnung
und der Anarchie bezeichnet: Sie seien im dekadenten Milieu der protestantischen Länder erzeugt worden und führten zur sozialen Zersetzung der italienischen Kultur und Politik. Aufgabe des italienischen Staates sei es, sich
gegen diese gefährlichen fremden Modernitätsideologien zu wenden, um die
Traditionen des römischen Reiches und der Kirche zu erneuern und damit die
Autorität und die entsprechende Ordnung und Hierarchie wiederherzustellen.
Die Avantgarde wird zur Tradition: Julius Evola
Der biographische Hintergrund Evolas
Julius Evola, ein Autor aus der Generation von Maccari, Suckert, Settimelli
und Carli, vertrat eine Position im intellektuellen Feld, die unter einigen
Aspekten mit der der extremen Intellektuellen verglichen werden kann und
sich als Fortsetzung des von ihnen erarbeiteten Standpunkts interpretieren
läßt. Evola wurde oft als Autor betrachtet, der aufgrund mangelnder Identifizierbarkeit mit einer der kulturellen italienischen Strömungen und aufgrund
seiner Rekurse auf die europäische Kultur nicht in Bezug auf andere zeitgenössische Akteure analysiert wurde. Diese Auffassung, dergemäß Evola sich
als ein »Alleinstehender«, als eine Ausnahme in der Literatur der Zeit profiliert habe, wird durch die Untersuchung seiner intellektuellen und politischen
Tätigkeit in Frage gestellt. Aufgrund der Ähnlichkeit seines Lebenslaufs,
seiner Position im intellektuellen Feld und seiner Themen mit den vier integralistischen Autoren einerseits, seines Verweises auf den Faschismus – oder
besser: auf jenen der intransigenti – und seiner Opposition gegen die Normalisierungselemente und die Politik andererseits muß seine intellektuelle
und politische Tätigkeit in den Rahmen der kulturellen und politischen Diskussionen und Milieus der 20er Jahre gestellt werden. Diese verschiedenen
Aspekte der Auffassung Evolas ergeben sich aus seinem intellektuellen Le190
benslauf: von seinem Anfang im Futurismus, wo er den antibürgerlichen und
antiintellektuellen Protest entwickelte, über seine philosophische Periode, in
der er eine starke Kritik am Aktualismus und der Rationalität übte, hin zur
postphilosophischen Phase, in der sich die Entfaltung seiner Theorie der
Tradition und der spirituellen Revolte zeigte.
Evola stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie73 und war noch recht
jung, als er mit der utopischen Hoffnung, daß der Krieg eine totale Revolution brächte, am Ersten Weltkrieg teilnahm. Den Futurismus und Militarismus
teilte der junge Evola mit vielen anderen seiner Generation ebenso wie den
Glauben, die zentralen europäischen Mächte zu besiegen; unüblich war der
idealistische Grund für seine Teilnahme an dem Krieg: Er wollte das moderne Deutschland zerstören, um die deutschen Traditionen der Ordnung und
der Hierarchie von den modernen verdorbenen Sitten zu befreien.74 Am Ende
des Kriegs kam die Ernüchterung: Die Kultur und die politischen Institutionen blieben unverändert. Dies führte aber nicht dazu, daß Evola in eine politische Partei eintrat; im Gegensatz zu den Integralisten wurde er nie Angehöriger der faschistischen Bewegung und beschäftigte sich mit dem Problem
des politischen italienischen Systems erst nach 1925.
Es fällt schwer, Evola einem kulturellen Teilbereich zuzuordnen: Er war
Futurist, der viele Ideale des Futurismus nicht teilte, und für eine kurze Zeit
Dadaist; danach versuchte er, aus einer Mischung von Aktualismus und theosophischem und esoterischem Wissen ein philosophisches System zu entwickeln, und wurde schließlich Experte des traditionellen Wissens und Esoteriker. Seiner ganzen Laufbahn lag das Streben nach der Überwindung der
Philosophie und die Polemik gegen die westliche moderne Kultur zugrunde.
Im intellektuellen Feld stand er immer am Rand der anerkannten Kultur, und
bezeichnenderweise wurden seine philosophischen Essays von den damaligen philosophischen Autoritäten nicht ernst genommen. Obwohl er persönliche Beziehungen mit vielen dieser Intellektuellen zu pflegen versuchte, verachtete er das akademische und intellektuelle Milieu und richtete ständig
philosophische Polemiken gegen die »Professoren« – insbesondere Giovanni
Gentile –, die schuldig seien, die nicht-akademische Kultur – d.h. seine Werke – nicht zu beachten. 1925 schrieb Evola über die unüberwindbare Trennung zwischen seinem »magischen Idealismus« und dem Aktualismus:
»Könnte Gentile wirklich den ›reinen Akt‹ seines Rationalismus als ›Ich‹
bezeichnen, so schiene er nicht nur ein Universitäts-Professor zu sein, ...,
191
sondern ein kosmisches Zentrum, das die Esoterik in den Typen des rishis,
des yogin, des Christus und des Buddhas zeigt. Dies ist der ganze Unterschied zwischen dem ›aktuellen Idealismus‹ und dem ›magischen Idealismus‹.«75 Die heftigen Attacken Evolas deuten auf seine isolierte Stellung in
Bezug auf die anerkannte Kultur hin und zeigen gleichzeitig sein Bemühen,
in der Kultur Anerkennung zu finden. Nach der interessanten Hypothese
Antonio Negris76 wollte Evola sogar die Rolle des Anti-Gentile in der italienischen Kultur spielen und dessen Konkurrent werden, vielleicht nicht aufgrund der intellektuellen Position des aktualistischen Philosophen, sondern
wegen seines politisch-kulturellen Prestiges: In seiner »politischen Phase«
versuchte Evola tatsächlich, einen kulturellen Hintergrund des Faschismus zu
schaffen, ihn zu berichtigen und damit eine neue Legitimation für den Faschismus – oder besser für die Rechte – anzubieten. Klar ist, daß Evola weder ein akademischer Intellektueller, der eine gesicherte und »konsekrierte«
Stelle in der offiziellen Hochkultur innehatte, noch ein von Mussolini finanzierter und unterstützter regimetreuer Intellektueller war. Doch er war auch
kein isolierter Gelehrter. Als Exponent eines Randsektors der Kultur, d.h.
zuerst des Milieus der Dadaisten, danach jenes der Spiritualisten, hatte er
einen gewissen Erfolg und gründete sogar die spiritualistische, antimoderne
Gruppe »Krur« und danach »La Torre«.
Seine ersten Kontakte mit der Kunst und der Literatur der Zeit fanden im
futuristischen Milieu77 der römischen »Casa d’arte« Bragaglia78 statt, die in
den 20er Jahren ein wichtiger Treffpunkt von Exponenten des Futurismus,
des Dada und der Avantgarde, von Künstlern wie Ginna, Carli, Settimelli
und Suckert war. Die Besucher der »casa d’arte« unterhielten mannigfaltige
Kontakte, und einige waren sogar Mitglieder esoterischer und theosophischer
Gruppen, wie die Futuristen Corra, Ginni, Carli und Settimelli. Wie letztere
war auch Evola Avantgardist und frequentierte spiritualistische Kreise. Zu
Anfang der 20er Jahren verkehrte Evola auch in der Freimauerloge der
Piazza del Gesú in Rom und insbesondere mit ihrem bedeutenden Mitglied
Arturo Reghini.79 Die Bedeutung der Freimaurerloge wird oft in der Beschreibung der politischen und literarischen Milieus unterschätzt. Sie war
aber nicht nur ein Treffpunkt vieler bedeutender Intellektueller und Politiker,
sondern zudem ein wenn auch marginaler, so doch höchst lebendiger kultureller Kreis innerhalb des römischen Milieus. Außerdem hatte besagter Leiter
der Freimaurerloge, Arturo Reghini, Kontakte zu berühmten Exponenten des
192
sogennanten pensée de la tradition, wie Guido De Giorgio und Réné
Guénon, mit denen Evola eine für seine Entwicklung wichtige persönliche
und intellektuelle Beziehung begann. Ferner hatten die Mitglieder der Freimaurerloge enge Beziehungen zu dem von Decio Calvari geleiteten theosophischen Verband »Lega teosofica indipendente«, in dem einige der wichtigsten antifaschistischen Politiker und viele Intellektuelle (unter ihnen Adriano
Tilgher) tätig waren. So lernte Evola durch Reghini Decio Calvari, den Leiter
der Zeitung »Ultra«80, kennen und trat dem theosophischen Bund bei.81 Aus
dieser Perspektive läßt sich die Mitarbeit Evolas an der antifaschistischen
Zeitschrift »Il Mondo«82, welche die Politik Giovanni Amendolas unterstützte83, und an der von Colonna di Cesarò geleiteten »Lo Stato Democratico«84 nicht als politische Intervention gegen den Faschismus betrachten,
sondern als Versuch, eine neue Form der Philosophie (den »magischen Idealismus«) zu gründen – eine Philosophie, die auch die Bedürfnisse des Spiritualismus und des esoterischen Wissens erfüllen könnte.
In der zweiten Hälfte der 20er Jahre hatte Evola Zugang zum faschistischen kulturellen Milieu durch seine Mitarbeit an der vom revisionista Bottai
geleiteten Zeitschrift »Critica fascista« und der von Leandro Arpinati geleiteten »Vita nova«.85 Die Möglichkeit, in der Zeitschrift Bottais weiterhin
mitzuwirken, war aber schon 1928, nach der Veröffentlichung seiner Essays
gegen das Abkommen mit dem Vatikan86 und dem nachfolgenden Skandal,
ausgeschlossen. In diesem Klima gründete Evola die Zeitschrift »La Torre«,
die viele Exponenten des spiritualistischen Milieus – Theosophen und Freimauer – anzog: den italienischen Schüler Guénons, Guido De Giorgio, den
avantgardistische Künstler Girolamo Comi, Ermanno Gelovich, Arturo Onofri und den berühmten Psychologe Emilio Servadio. Dieses Milieu stand am
Rand der Kultur, wie die Erklärungen Evolas bestätigen: Alle Mitarbeiter,
erklärte der Anfangsartikel »Ai Lettori« von »La torre«, gingen davon aus,
daß »die Ablehnung der modernen Zivilisierung das Prinzip und die Voraussetzung jeder kreativen Aktivität« 87 sei, d.h. zur Wiederherstellung der aristokratischen und spiritualistischen Lebensauffassung führe. Ihre Selbstdarstellung spiegelte ihre Isolation und auch ihre aktive Einstellung gegenüber
der Politik und der Gesellschaft wider: »Einige ›Einzelgänger‹, einige ›Unbeugsame‹, einige ›Freie‹ kommen in ›La torre‹ [der Turm] zusammen, nicht
wie in einem Refugium oder einem mehr oder weniger mystischen Fluchtort,
sondern wie in einem Ort des Widerstandes, des Kampfes und des überlege193
nen Realismus. Mehr als Programme oder Richtungen: Wege, verschiedene
Äußerungen der einen Tradition, die in der Vielfältigkeit der Verwirklichung
nicht nach der Bildung, sondern nach dem Zusammenkommen von Individuen nicht in dem gleichen Credo, sondern in der gleichen Würde strebt«.88 In
dieser Hinsicht behandelten die Mitarbeiter von »La torre« esoterische, historische und politische Fragen, wie z.B. die Essenz der Tradition, die Dekadenz des Abendlands, die Demokratie, die aristokratische Haltung und die
Frage der Rassen. Auch dieser Versuch, einer Intervention der spiritualistischen Strömung im politischen Diskurs Vorschub zu leisten, war wie die
vorherigen freimauerisch orientierten Zeitschriften »Ignis« und »Atanor«
zum Scheitern verurteilt: »La Torre« wurde von den faschistischen Autoritäten behindert und zensiert. Tatsächlich veröffentlichte »La torre« Kritiken
an der Politik des Regimes (insbesondere an den Maßnahmen zum Bevölkerungswachstum, welche die Menschen als »Hasen« und »Tiere« betrachteten89) und an politischen Intellektuellen – an erster Stelle natürlich Gentile –
und Politikern. Einige Exponenten mehr oder weniger faschistischer Zeitschriften – Gherardo Casini von der regimenahen »Critica fascista«, »Il resto
del Carlino«, »Antieuropa«, aber auch »Il Bargello«90 – attackierten wiederum mit Billigung des Regimes die Gruppe von »La torre«, u.a. auch wegen
ihres angeblichen Antifaschismus. Evola wurde in der Folge immer stärker
überwacht und die Zeitschrift von der Polizei als »Organ des deutschen Imperialismus« definiert.91
Dennoch gelang es Evola dank seiner Beziehung zu Giovanni Preziosi,
Leiter der Zeitschrift »La vita italiana«, die Unterstützung Farinaccis zu gewinnen. Das Bestreben Farinaccis, eine integrale Strömung der intransigenti
innerhalb des Faschismus zu vertreten und zu führen, um die Normalisierung
des Faschismus zu verhindern, besaß viel Ähnlichkeit mit der integralistischen und traditionalistischen Vision Evolas und seinem Versuch, den Faschismus zu korrigieren.92 Die wahre Revolution wurde von ihm als eine
Veränderung des Lebensstils (ästhetisch) und der Spiritualität (moralisch)
definiert, in der die Tradition sich als höchstes Ideal darstellte, das die
Menschheit erreichen könne. In diesem Punkt traf sich Evola mit den intransigenti und mit Farinacci. Er begann seine Mitarbeit an dem von Farinacci
geleiteten »Regime fascista«, weil es eine Radikalisierung der antibürgerlichen Elemente des Faschismus, die Zerstörung des demokratischen und liberalen Erbes und die Bildung einer hierarchischen traditionellen Gesellschaft
194
anstrebte. Evola, der seit seinen Anfängen im künstlerischen Milieu auf die
Radikalisierung des antibürgerlichen Protestes zielte, verwandelte und integrierte seine künstlerische Auffassung nun in eine totale, spiritualistische
Auffassung, deren politischer Aspekt in der Entwicklung der reinen und
traditionellen Rechtselemente des Faschismus bestand. Evola betreute in »Il
regime fascista« die Rubrik »Diorama filosofico«. Dort machte er das italienischen Publikum mit den Essays der »Traditionsdenker« Réné Guénon und
Guido De Giorgio sowie einiger Autoren der sogenannten konservativen
Revolution – Othmar Spann, Karl A. Rohan, Wilhelm Stapel und Walter
Heinrich – bekannt. »Diorama filosofico« stellte die Fortsetzung des Projektes von »La torre« dar: Sein Ziel war die Entwicklung des traditionalistischen
Denkens. Die Beiträge verschiedener wichtiger Autoren des pensée de la
tradition und der konservativen Revolution waren charakteristisch für den
Versuch, eine intellektuelle Denkströmung der Rechten zu bilden, die auch
jenseits der historischen Entwicklungen des Faschismus die Diskussion über
die Begriffe der Tradition und der Gesellschaft aus einer antikapitalistischen
und antisozialistischen Perspektive kultivierte und verbreitete.
Das Zerbrechen der bürgerlichen Regeln: Evolas Dadaismus
Trotz aller Unterschiede war der Dadaismus eine Frucht des Futurismus:
Dieser hatte einen Ausgangspunkt gesetzt, um ein neues und noch radikaleres ästhetisches und moralisches Selbstbewußtsein zu gewinnen. Der 1916
von dem rumänischen Künstler Tristan Tzara begründete Dadaismus führte
die revolutionäre und negative Idee des Futurismus ad absurdum, indem er
den Begriff der Kunst und der künstlerlischen Bewegung zerstörte. Er strebte
die Konfusion der ästhetischen Kategorien an, um das Spiel in das starre
»Gebäude« der Kunst einzuführen, die nach Tzara nur zum Verstecken der
Lügen und der Heuchelei der Gesellschaft existierte. Im Gegensatz zum Futurismus wollte der Dadaismus den Begriff der Kunst lediglich zerstören,
nicht aber erneuern; kein anderes künstlerisches Projekt begründete eine
Bewegung vergleichbar dem Dadaismus, der keine künstlerische Lehre sein
und keine Schüler haben wollte. Ganz deutlich trat bei den Dadaisten die
Verwandlung der hypermodernen Avantgarde in eine primitivistische Kunst
hervor, die unter Vollendung des negativen und destruktiven Aspektes des
195
futuristischen Projekts die Selbstzerstörung der Kunst als eines bürgerlichen
Ausdrucksmittels und die radikale Ablehnung der Modernität verwirklichen
wollte.
Tzara verachtete sogar die Idee des Kunstwerks und das gemeinsame
Projekt und die Arbeit der Avantgarde: Die Kunst solle nicht mehr gelehrt
und gepflegt werden. Mit der Kunst sei auch die bürgerliche Idee des Individuums – des Autors – gestorben, um eine kosmische, organische und anonyme Kunst entstehen zu lassen: Einziges Projekt des Dadaismus war,
»gemeinsam, anonym, an der großen Kathedrale des Lebens, das wir vorbereiten, zu arbeiten«.93 Der Bezug auf die gotischen Kathedralen war nicht nur
ein künstlerisches Bild, sondern ein spezifisches Zeichen des wesentlichen
Unterschieds zwischen Dadaismus und Futurismus: Während letzterer die
Geschwindigkeit und die Technologie der Moderne als Vorbild hatte, zielte
der Dadaismus auf die Zerstörung der rationalen Welt der Moderne und die
Wiederkehr der gotischen und prämodernen Formen. Die Dadaisten wollten
»die Tradition des Negers, die ägyptische, byzantinische, gotische Kunst
weiterführen und in uns die atavistische Empfindlichkeit zerstören, die uns
die abscheuliche, dem 14. Jahrhundert folgende Epoche vererbt hat.«94
Evolas Haltung der künstlerischen Revolution des Futurismus gegenüber
war, wie bei den Dadaisten, zweideutig95: Der futuristische Ansatz sollte
einerseits in seiner Opposition gegen die bürgerliche Mentalität weitergeführt
und radikalisiert, andererseits durch die Ablehnung seines Aktivismus und
Modernisierungsstrebens auf den Kopf gestellt werden. Im Gegensatz zum
Futurismus, der auch als Technik für die Massenpropaganda verwendet werden konnte, strebte der Dadaismus zuerst nach einer persönlichen, inneren
Revolution, welche »die Orientierung der intimen individuellen Essenz, eines
unmittelbaren Lebenszustandes«96 hätte hervortreten lassen. Der Dadaismus
sei »absolute Interiorität«, während der Futurismus, der in der Kategorie der
traditionellen bürgerlichen Kunstbewegungen eingestuft wurde, die »absolute Exteriorität« vertrete.97 Die abstrakte Kunst sei die höchste ästhetische
Form, indem sie nicht nach der Darstellung der alltäglichen Gefühle oder
Erinnerungen strebe, sondern das Individuum außerhalb seiner normalen
Erfahrungen leite. Der Künstler und der Betrachter sollten ihr individuelles
und sinnliches Leben – ihre alltäglichen Erfahrungen – überwinden und zu
einem Spiel übermenschlicher Kräfte geführt werden .98 Das Ich sei das einzige Objekt und Subjekt der Kunst; seine Entwicklung als »Sinn der intimen
196
Freiheit, des unendlichen Reichtums«99, als das Einzige, als Zentrum des
Universums – in der Bedeutung Stirners – sei das moralische Ziel des
Kunstwerks. Man könne dann die Kunst als eine Therapie des Individuums
auffassen, da sie die Entfremdung vom Alltag und von bürgerlichen Werten
und Gefühlen – die Überwindung der normalen Selbstwahrnehmung – ermögliche und damit die wahre Offenbarung fördere, d.h. die mystische Vision von »etwas Anderem«. Diese »mystische«100 Erfahrung werde nicht nur
durch die Verneinung des Alltagslebens, sondern auch durch jene der Wissenschaft, der Philosophie und sogar der Kunst selbst und letztlich durch eine
Ablehnung der Rationalität und der Kommunikation erreicht. Im Gegensatz
zum Futurismus sei die Beziehung der Künstler zum Publikum im Dadaismus unterminiert, um einen solipsistischen Individualismus zu behaupten.
Für den Dadaismus stellte die Kunst nicht mehr die herrschenden Werte
und Begriffe in Frage, um eine totale, von den Massen unterstützte künstlerische und politische Revolution zu verwirklichen. Die Kunst sollte vielmehr
die wissenschaftlichen Kenntnisse, die Werte und Gefühle – die Auffassung
der Kunst als Kommunikation eingeschlossen – überwinden und zerstören,
um das Ich der Künstler als exemplarische Vertreter der spirituellen, wahren
Elite zu fördern und zu pflegen. Der Mann »der Straße«, das »normale« Individuum, war im Gegensatz dazu zum »Nicht-Leben« verurteilt: Lässigkeit
und Feigheit waren die Kennzeichen seines statischen Lebens, das sich nie
veränderte, da »das vitale Element ... ihn vernichten würde«, wenn er mit
ihm konfrontiert würde.101 Ergänzt wurde diese spirituelle und »heilige«
Bedeutung der Kunst für den jungen italienischen Dadaisten Evola – der sich
in dieser Hinsicht von der provokativen und ironischen Sicht des DadaFührers Tzara entfernte102 – durch die »moralische« Entwertung und Verneinung des Lebens der Anderen, da Moralität gerade als Zerstörung der Bindung zwischen den Menschen und Erweiterung der Kluft zwischen dem
wahren Ich und den Anderen verstanden wurde. Wie der Historiker Marco
Rossi bemerkt hat103, waren die Philosophie und die antibürgerliche und
antiintellektuelle Kritik Evolas bereits in nuce in seinen dadaistischen Werken angelegt.104 Auf welche Weise sich diese visionäre und solipsistische
Auffassung in eine politische verwandelte und damit die elitären und exzentrischen Aspekte seiner avantgardistischen Auffassung einen reaktionären
und traditionsorientierten Charakter gewinnen konnten, zeigt die weitere
Entwicklung Evolas.
197
Die Umwertung aller Werte: der magische Idealismus
Die Philosophie Evolas105 soll folgend skizziert werden, um seine »Revolte«
gegen den Aktualismus als ein Beispiel der Generationsrevolte und seine
Philosophie des »Transidealismus«106 im Rahmen seiner Überwindung der
philosophischen Methoden und der Polemik gegen Gentile und die offizielle
Hochkultur zu untersuchen. Außerdem soll die Entwicklung der drei wichtigsten Themen Evolas, des Antiintellektualismus, der antibürgerlichen Kritik und der Ablehnung wissenschaftlicher Methoden, verdeutlicht werden.
Die Radikalisierung dieser Themen, die in der Kultur Anfang des Jahrhunderts und später in der Literatur der Integralisten in den 20er Jahren besonders verbreitet waren, erreichte mit Evola ihren Höhepunkt. Er kritisierte
nicht nur eine Strömung – den Idealismus -, sondern pauschal sowohl die
ganze Philosophie wie auch die Wissenschaft. Die Abkehr von der philosophischen Methode deutet einen Widerspruch im Zentrum des Denkens Evolas an, der auf zwei Besonderheiten der radikalen rechten Intellektuellen
hinweist und in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Antiintellektualismus steht, der zur Ablehnung aller intellektuellen Formen und im besonderen
der philosophischen Tradition führte. Bei Evola nimmt diese Absage an
überkommene Formen selbst eine traditionelle Form an: Er schrieb paradoxerweise philosophische Essays und Bücher und gebrauchte die philosophische Sprache, um die Philosophie, die Logik und die Rationalität abzulehnen.107 Diesem Selbstwiderspruch zu entgehen wurde ihm durch den Umstand ermöglicht, daß seine Philosophie eine esoterische und »magische«
Praxis einschloß. Das alte aktualistische Paradigma genügte ihm nicht wegen
seiner Ohnmacht, an der realen Tätigkeit der Menschen direkt mitzuwirken;
im Gegensatz dazu war die praktische individuelle Verwandlung der wichtigste Teil des philosophischen Denkens Evolas. Auf diese Weise führte
Evola ein neues und heterogenes Element – und zwar die Praktik der spirituellen Forschung – in den philosophischen Diskurs ein, um die Begrenzungen
des Idealismus zu überwinden. Damit verband er zwei traditionell getrennte
»Sprachen«, die zu zwei unterschiedlichen Traditionen und Milieus gehörten: Die logische und theoretisch-philosophische Sprache und die praktischen
Übungen der spiritualistischen Kreise, in denen sich allein eine Lösung des
Problems der Kulturkrise finden ließe. Ein traditionell sekundäres und verfemtes Wissen (die Esoterik und die Theosophie) konnte dadurch auf dersel198
ben Ebene wie die Philosophie betrachtet und sogar als Lösung aller Fragen
bezeichnet werden. Das »ketzerische« Projekt Evolas bestand also darin, die
Philosophie in eine praktische Tätigkeit, in ein spirituelles und esoterisches
Wissen zu verwandeln. Evola wollte seine Philosophie als absoluten und
magischen Idealismus bezeichnet wissen, der sich sowohl auf die Ablehnung
des Positivismus und des Realismus als auch auf die Kritik des Idealismus
gründete. Die historische Kulturkrise der Gesellschaft und ihre Dekadenz
schrieb Evola der unvollständigen Form der Gewißheit zu, da das moderne
Denken sich nicht selbst überwinden und zur Tat wandeln konnte. Evola
ging von der idealistischen Prämisse aus, daß die Welt nur in der Darstellung
und im Handeln des Ichs existieren konnte, kritisierte aber die praktische
Ohnmacht des einzelnen Idealisten – und des Aktualisten -, das Nicht-Ich in
der Wirklichkeit zu bestimmen und auf sich selbst zu reduzieren. Die Antwort auf diese Frage fand Evola in einem anderen Wissen, nämlich in der
Überwindung der Philosophie durch die praktische esoterische Doktrin. Da
die Trennung zwischen der subjektiven Vorstellung und der Wirklichkeit auf
ein und dasselbe Subjekt zurückgeführt und als Mangel seiner Tätigkeit und
Macht, der noch zu eliminieren sei, betrachtet werden müsse, könne diese
Tätigkeit nur als praktische »magische« Entwicklung des Ichs verstanden
werden. Auf dieser Überzeugung basierte Evolas Solipsismus.108 Absoluter
Idealismus bedeutete nach Evola eine »Grenzphilosophie«, welche alle wissenschaftlichen Argumente und Methoden überwinden sollte, um eine neue
Phase in der Gewißheitsentwicklung des absoluten Ich hervorzubringen109,
deren regierendes Prinzip das Machtvermögen war.110 Das Individuum erkannte in dieser Phase die Natur als von ihm geschaffen. Was eine eigene,
von der Tätigkeit des Individuums getrennte Existenz zu haben schien, war
nur eine vom Ich zu beherrschende und zu zähmende »Existentia«, und zwar
ein Mangel des Willens des Ich, der durch eine »transzendental moralisierende« Tätigkeit unter die Macht des Ichs gebracht werden mußte. Auf diese
Art zeigte sich »der absolute Idealismus ... erst dann als Lösung: Die Natur
selbst wird Akt des Individuums, so wie das Individuum Akt der Natur –
jener Akt, der sie befreit und mit seiner Erlösung erlöst.«111 Der Übergang
von einer passiven, spontanen Selbstdarstellung des Ichs zum absoluten Ich
bedeutete auch die Überwindung des ganzen philosophischen Wissens und
die Opposition gegen dieses: »Die menschlichen Möglichkeiten erschöpfen
sich nicht – wie Hegel glaubte – in Kunst, offenbarter Religion und Philoso199
phie ... Erst nach all diesem kann ein Prozeß von absoluter und konkreter
Aktualität anfangen und das Licht einer ›magischen‹, nicht mehr ›menschlichen‹ Epoche des Geistes scheinen.«112 Das absolute Individuum war demgemäß auf keinen Fall der Philosoph, der die Realität durch seine Reflexion
untersuche, aber nicht beherrsche, sondern derjenige, der mit seiner »Kraft
des intellektuelles Aktes« auf die Realität einwirke.
Evola kritisierte die Unzulänglichkeit des Aktualismus für die konkrete
Selbstverwirklichung des Individuums deshalb, weil diese eine Hinwendung
zur Tat benötigte, die durch esoterische Veränderung des Individuums durch
Initiation erreicht werden sollte. Die Verwandlung definierte Evola als Produkt des »transzendentalen Experimentierens«: Die Methoden der antiken
Religionen, insbesondere die verschiedenen Askese- und Yogamethoden,
stellten sich als praktische Überwindung der rationalistischen und philosophischen Mentalität dar, die nach demselben Ziel, aber eben mit falschen
Mitteln, strebte. Dieses Ziel lag darin, »die Spontaneität [zu] überwinden
(welche dort den Namen Gier, Durst, Unwissenheit, ›irdischer‹ oder ›dämonischer‹ Wille u.s.w. annimmt), sie zu Willen, zu vollkommener Herrschaft
um[zu]wandeln und [zu]erheben.«113 Deswegen sollte das absolute Individuum die falschen Wege zu seiner Selbstverwirklichung vermeiden und sogar
zerstören, und mit ihnen auch alle Werte, Normen und Sicherheiten. Dadurch
wurde es möglich, die höchste Gewißheit zu gewinnen, seine »kosmischen
immateriellen Kräfte« zu entwickeln, und das unvollständige intellektuelle
Wissen in Handeln zu verwandeln. Die antiintellektuelle Kritik, die bei Evola
nicht nur gegen die Philosophie, sondern gegen alle Formen der westlichen
Rationalität gerichtet war, wurde gegen die herrschenden Intellektuellen der
damaligen Zeit besonders vehement. Der Idealismus wurde als eine »ungenügende Philosophie« beschrieben, da er das Wissen vom praktischen Handeln trenne und das Subjekt als abstraktes Wesen konzipiere. Aus diesem
Grund sei er »inhuman und amoralisch«114, und seine Vertreter Gentile und
Croce nur veraltete Professoren. Die Idealisten wurden als Exponenten der
spirituellen und moralischen Krise gekennzeichnet, die den bürgerlichen
Rationalismus und die Moralität repräsentierten. Auf diese Art verband sich
die Überwindung der Philosophie bei Evola mit der Überwindung der modernen und bürgerlichen Gesellschaft.
Die Moralität des absoluten Individuums gründete sich zuerst auf die
Ablehnung der religiösen Auffassung, da es »an eine von einem Ord200
nungsprinzip regierte Welt«115 glaube, welches sich außerhalb des Ichs finden ließe. Der Weg zur Selbstverwirklichung bestehe darin, daß das Individuum »die Form transzendieren sollte, um sich mit der originären Grausamkeit einer Welt zu verbinden, in der das Gute und das Böse, das Göttliche
und das Menschliche, das Rationale und das Irrationale, die Ungerechtigkeit
und die Gerechtigkeit keinen Sinn haben, da sie zur Macht verwandelt
sind«.116 Dieses vergöttlichte Ich war »die absolute und selbständige Immanenz, die keinen Platz zur Anschauung, zur Kontemplation und zur Liebe
läßt«117; es mußte die Regeln, die Moral und die Religion ablehnen, um seine
Freiheit und seine Macht zu gewinnen. Das Schlußwort läßt bereits die spätere Entwicklung im Denken Evolas über den radikalen und gewalttätigen
Kampf gegen die Zivilisation erahnen: »Wie könnten wir nicht im Bösen und
in der Grausamkeit die höchste Disziplin sehen? ... Dionysos offenbart sich
im Moment der Krise und der Schuld, in dem das Gesetz einstürzt: Dort
findet die Ekstase statt und der apollonische Schleier zerreißt ... man sollte
das Verbrechen nicht fürchten ... als die Tat im reinsten Sinne des Wortes.
Die Untat, die Ordnungsübertretung, ist eine Notwendigkeit für jene, die eine
titanische Macht begehren.«118 Wenn wir den Text genau interpretieren,
sehen wir, daß die Gewalt nicht nur gegen sich selbst angewendet wird. Die
Beziehung zu den Anderen wird nur durch den Willen des Individuums bestimmt, und wenn es will, kann es »das Gute, die Ordnung, die Liebe als die
äußerste Tätlichkeit, als die vortreffliche Umsetzung Dionysos«119 erreichen.
Diese Sichtweise der Verhältnisse des Ichs zu den Anderen ist mit der Herrschaft und der Verneinung der Beziehung zu den Anderen verbunden – mit
der Verneinung der sogenannten Moralität. Die vom absoluten Individuum
zu überschreitenden Grenzen der Philosophie und der Moralität sind eins: die
Anerkennung des anderen Ichs. »In Bezug auf einen einzigen Punkt gingen
fast alle Idealisten nicht bis zum Ende, weniger aus theoretischen als aus
moralistischen und ›menschlichen‹ Gründen: in Bezug auf die Verneinung
jeder Wirklichkeit an sich der anderen Subjekte, der anderen Ichs.«120 Der
Aktualismus hatte in dieser Hinsicht das Ich sogar auf dem »Uns« begründet,
d.h. auf der Anerkennung von etwas – des Uns, der Kollektivität -, das Priorität dem Individuum gegenüber besäße und von jedem immer als Quelle und
Ziel seines Selbst betrachtet werden sollte. Aber dieses Etwas war gemäß
Evola genau die zu zerstörende bürgerliche Moralität, die das absolute Individuum – das »seine Sache auf Nichts gebaut hat«- überwinden sollte, da sie
201
nur ein Hindernis und einen Beweis der Feigheit darstellte. Moral hieß hier,
sich über das Bedürfnis des »Sich-Mitteilens« und des »Sich-Verstehens«,
über die »Wollust des Liebens« und des »Sich-geliebt-Fühlens, des Sichgleich-und-zusammengehörig-Fühlens« zu erheben, die allesamt für Kräfte
der Korruption des Adels gehalten wurden, wohingegen die »NichtMitteilbarkeit« das Ideal des Adels darstellte. Die Anderen sind in dieser
solipsistischen Philosophie reine Objekte des Ichs und werden auf das Ich
reduziert.121 Das absolute Individuum Evolas versteckt aber seine Abhängigkeit von den Anderen genau in diesem Herrschaftsverhältnis: Er braucht
Objekte, um sein überlegenes Leben zu behaupten, beispielsweise die Frau122
oder den normalen (bürgerlichen) Menschen.123 Seine absolute Freiheit und
seine Macht äußerten sich darin, wie der Philosoph Ugo Spirito bemerkte,
daß die Freiheit die Ausübung der Macht auf die Wirklichkeit voraussetzt, in
der nur Objekte existieren, die auf den Einzigen reduziert werden sollen. Die
unbedingte Freiheit setzt voraus, daß »frei nur ein einziger heißen kann«.124
Die positive Freiheit des Einzigen, seine Macht über die Realität, setzt die
Unfreiheit der Anderen voraus, weil sie absolut ist und einer konkreten Umformung der Realität entspricht. »Ein ›anderes Ich‹ ist ein Widerspruch in
sich selbst, da es ... Begriff oder Vorstellung des Ichs und deswegen etwas
Untergeordnetes und Peripheres« sei.125
Die Ablehnung des Respekts vor den Anderen – von Evola als bürgerlich
bezeichnet – paart sich mit der Ablehnung der »bürgerlichen« demokratischen Ideen und der Bildung einer elitären Ethik: Die Entwicklung des Ichs
ist nur wenigen Individuen möglich, die eine Art von Selbstvergöttlichung
erreichen können. Diese philosophische und gleichzeitig esoterische Vision
bereitet bei Evola die Theorie der Herrschaft einer transzendentalen Tradition vor, die von den Eliten verbreitet und gewährleistet werden soll.126
Die Revolution der Tradition
Die philosophische Theorie Evolas mündete später in eine Auffassung, welche die Motive der europäischen Dekadenz im Rahmen einer globalen historisch-mythologischen Auffassung klärte und Lösungen der Krise einfordern
sollte. Es muß betont werden, daß Evola, wie Suckert oder Maccari, kein
reiner Wissenschaftler und Künstler war, der innerhalb der Grenzen seines
202
wissenschaftlichen Gebietes arbeitete, sondern versuchte, ein eigenes umfassendes Denksystem zu entwickeln, in dem die gesamten Erfahrungen und
Anforderungen der Gesellschaft und der Geschichte untersucht werden sollten. Sein Anspruch bestand darin, die totale und endgültige Erklärung der
politischen und kulturellen Situation anzubieten. Seine Theorie des absoluten
Individualismus versuchte eine elitäre Auffassung zu verwirklichen, die sich
in der späteren Überarbeitung zu einer Doktrin der Tradition entfaltete. Aus
dem absoluten Charakter der Freiheit des differenzierten Individuums ergab
sich für Evola die Notwendigkeit, eine politische und gleichzeitig soziale
Ordnung durchzusetzen, welche die absolute Herrschaft des Ichs festschreiben würde. Das differenzierte Individuum, das absolute Ich war aber in der
Vision Evolas nicht wirklich das Einzelne, sondern Exponent einer Elite,
welche etwas Anderes, Untergeordnetes voraussetzte. Die Anerkennung der
Differenz zwischen dem Ich und den Anderen führte zur hierarchischen Auffassung und Rechtfertigung – oder besser Lobpreisung – der freien Entfaltung der Gesellschaft der Ungleichen, d.h. zur Apologie der sogenannten
traditionellen Ordnung der Natur. Die wahre Freiheit war dann nicht von der
Bildung einer Hierarchie und vom Gehorsam der Massen zu trennen: »Wahre
Freiheit gibt es nur in der Hierarchie, im Unterschied, in der Unversehrbarkeit der individuellen Qualitäten; es gibt sie nur dort, wo das soziale Problem
derart gelöst ist, daß man die restlose Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten begünstigt, auf Grund eines Ideals der Gliederung, folglich der Ungleichheit, wofür das vollkommenste Vorbild das antike Kasten-System ist –
aber abgesehen davon gibt es wahre Freiheit nur dann, wenn der Sinn der
Treue, des Heldentums, des Opfers die kleinen Werte des materiellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens zu überwinden vermag.«127 Hier wird
deutlich, daß die Herrschaft der freien Individuen, der wahren Aristokratie
für Evola wie für die integralistischen Autoren, auf die Wiederherstellung
der Tradition zielte, um die Geschichte, die alte Kultur – insbesondere die
römische – und die Werte des Mittelmeers wieder zu neuem Leben zu erwecken.
Die Überwindung der Dekadenz, d.h. der ökonomischen, materialistischen, rationalistischen, modernen, von Professoren und Bürokraten regierten Gesellschaft, verknüpfte sich bei Evola mit der totalen Ablehnung der
Modernität und dem Engagement für die Verstärkung einer »Rasse« des
Mittelmeeres, deren Kennzeichen wie bei Suckert nicht rein biologisch, son203
dern kulturell wären. Das zivilisierte Europa, die kritische Haltung der Reform, die bürgerliche und als oberflächlich definierten aufgeklärten Theorien
ihrer Verbreiter, d.h. der Philosophen, waren die Feindbilder Evolas, die ihn
mit den integralistischen Autoren verbanden. Was ihn von den integralistischen Autoren trennte, war die Vielfältigkeit und Artikulation der antimodernen Auffassung. Ein Grund hierfür liegt in Evolas vertiefter Rezeption der
Theorien der Tradition Réné Guénons128 und Mircea Eliades sowie in seinem
Verweis auf eine ganze Reihe von Autoren der reaktionären Strömung und
der konservativen Revolution.129 Ein gutes Beispiel ist der Begriff der Tradition bei Evola: Diese war ihm keine bestimmte historische Zeit – etwa der
Klassizismus bei Suckert -, sondern ein metaphysischer Status, ein Prinzip,
das die Wirklichkeit nach einer stabilen Ordnung gestaltete und sich im Sinne Guènons nur durch eine esoterische Doktrin erfassen ließe.130 Die Wirklichkeit sollte anhand dieses Prinzips erklärt werden, und dieses von der
Tradition hergeleitete Wissen sei das einzige Wissen. Deshalb blieb dieses
Wissen in seinem Kern unveränderlich und unabhängig von geschichtlichen
und menschlichen Alltagserfahrungen: »Tradition – ein Korpus von Lehren
mit einem metaphysischen Charakter, deshalb ganz unabhängig von der
menschlichen und zeitlichen Kontingenz«.131 Nur wenige besäßen dieses
Wissen, die anderen seien durch ihren Gehorsam der hierarchischen, legitimierten Autorität gegenüber und ihre entsprechende Adhäsion an ihre Funktion in der Gesellschaft dazu verurteilt, den Vertretern dieses Prinzips zu
folgen, ohne die Bedeutung der Tradition zu erkennen.132 Erkennen sei ein
Vorrecht der hohen Kasten, welche das Prinzip der Tradition vertreten, und
würde ihnen durch die traditionellen Initiationsmethoden übertragen. Wissen
sei die Eigenschaft der Eliten.
Es läßt sich feststellen, daß Evola in seinen Schriften unabhängig von
seinen Interessen und den Themen, die er entwickelte, immer dasselbe Vorbild zugrunde legte: den Dada-Künstler, das absolute Individuum und die
hohe Kaste der traditionellen Gesellschaft, die einen gemeinsamen Kern
besäßen und sich auf gewisse Weise glichen. Ihre Autorität stütze sich immer
auf das Wissen, das aber kein westliches, aufgeklärtes, rationalistisches Wissen, sondern eine esoterische, transzendentale, metaphysische Doktrin sei.
Ferner seien alle diese Figuren vom normalen Menschen »differenziert«133,
ihre Begründung und ihre Existenz leiteten sich aus ihrer hierarchisch übergeordneten Position ab: der Führerfunktion den ignoranten und »un204
individualisierten« Massen gegenüber. Es gebe kein wahres Wissen, das
nicht elitär wäre, da die Doktrin sich nicht in Büchern oder wissenschaftlichen Essays finden ließe und nicht einfach erklärt werden könne: Sie rühre
von der Ausübung der »männlichen« 134 Macht her; deshalb sei sie zugleich
ein »Sein«, das zur Veränderung (der Initiation) des Subjektes führe, eine
Transzendierung des Alltagslebens erfordere und nur von wenigen Männer
durch esoterische Praxis erreicht werden könne. Als Vorbild des Adels135
bezeichnete Evola die Figur der römischen Krieger, welche die sogenannte
Tradition des Mittelmeers in sich getragen habe, die ihrerseits nach Evolas
Geschichtstheorie dieselben Wurzeln wie die nordische arische Kultur gehabt
hätte. Damit versuchte er, die in den Werken vieler deutscher Autoren136
wesentliche Trennung der östlich-südlichen Tradition von der westlichnördlichen zu überwinden.137 Das Wesen dieser einzigen Tradition sei solar,
männlich und hierarchisch gewesen, seine Prinzipien seien die Individualität,
die Differenzierung, die Gliederung gewesen, d.h. eine Ordnung, die aus
nichts anderem als aus Persönlichkeiten bestanden hätte, die sich der weiblichen, tellurischen, dämonischen Tradition – der Entartung – entgegengestellt
hätte.138 Die beiden Pole – absolut positiv der erste, absolut negativ der
zweite – stellten auch Stadien eines mythischen, historischen Prozesses
dar139, der ihren Kampf und die darauffolgende progressive Dekadenz des
Abendlands zeige. Wie bei Spengler vollziehe sich die Geschichte in einer
Abfolge von Zyklen, so daß das Ideal des Fortschritts nur eine Illusion des
Westens sei, um sich die eigene Dekadenz nicht eingestehen zu müssen. Man
könnte sagen, daß die Geschichte in dieser Konzeption sogar rückwärts ging
und alles – insbesondere die aktuelle Gesellschaft – an einem absolut positiven Idealbild der ursprünglichen Welt gemessen wurde. Das Feindbild des
pensée de la tradition – dessen wichtigste Exponenten Guénon, Eliade und
Evola sind – ist dann die Modernität als solche. Wenn dieser negative Begriff
differenziert betrachtet wird, erscheinen die Feinde, die schon vorher bei den
Integralisten analysiert wurden: Europäismus, Reform, Intellektualismus,
Rationalismus, Positivismus. Allen Autoren des pensée de la tradition gemeinsam ist die Ablehnung der individuellen Kritik an der Autorität und der
Hierarchie, die die Reduktion der spirituellen und sakralen Kräfte auf materielle, hedonistische Bedürfnisse mit sich bringe. Europa bedeutet für Evola,
aber auch für Suckert140, das Reich der Technik, des Geldes und der »Gelehrten«, das Vergessen der sakralen römischen Ganzheit des Lebens, dem er
205
den mediterranen, »aktiven, antirhetorischen, antiphilosophischen, antisentimentalen, antichristlichen, antidemokratischen«141 Geist gegenüberstellt.
Erste Ursache der Dekadenz ist das Christentum, die »unmoralische« Religion der Sklaven, die auf dem Prinzip der Gleichheit basiere und damit die
natürliche Hierarchie und die Unterschiede der Menschheit verberge. Die
Reformation hätte den Zerfall der Tradition und der moralischen natürlichen
Prinzipien nur fortgesetzt und den Krieg der abstrakten individuellen Vernunft gegen die sakralen Normen erklärt.142 Die Aufklärung und die technologisch-industrielle Revolution hätten diesen Prozeß der Dekadenz vollendet:
Damit habe das Abendland die Kali Yuga (das eiserne Zeitalter Hesiods)
erreicht, in der die vierte Kaste (die Massen) regiere.143 Es wäre aber falsch,
aus diesem Bild – aus seiner Ablehnung der individuellen Kritik – zu schließen, daß Evola ein Antiindividualist war. Er verleugnete nie seine ursprüngliche Theorie des absoluten Individualismus und seinen Bezug auf Stirner.
So versuchte er, das hierarchische Prinzip mit einem adligen, »gegenbürgerlichen« Individualismus zu harmonisieren, indem er die zwei oberen Kasten
der Gesellschaft (die Krieger und die Priester) von den unteren Kasten
trennte und ihnen eine von diesen ganz unterschiedliche »Natur« verlieh. Nur
die Angehörigen der ersten Stände seien Individuen, die ihr »Ich« durch die
esoterische Doktrin entwickelten und durch Loyalität miteinander verbunden
wären, während die zwei tieferen Stände – die Händler und der vierte Stand –
die undifferenzierte Masse bildeten und nur gehorchen sollten. Alle sollten
ihre Funktion in der organischen Gesellschaft ihrer Natur gemäß erfüllen, um
ihren unterschiedlichen, von der Natur festgelegten Entwicklungen zu folgen.
Auf dieselbe Art erklärte Evola die Unterschiede zwischen Mann und Frau
und zwischen Kasten und Rassen als ein beizubehaltendes und zu verherrlichendes dato de facto; diejenigen, die es in Frage stellten und damit den
Wunsch der unteren Ständen (oder der Frauen) weckten, eine andere Position
zu erreichen, trügen die Schuld am Verfall unserer Kultur. »Die Aktion des
Geistes wirkt auf den Stoff eines bestimmten Rassenbestandes, den [der
Geist] anwendet und auf einem höheren Niveau blühen läßt ... Die Aktion
des Geistes ... besteht darin ..., daß er eine Form aus der Unform ›verwirklicht‹, nicht daß er sie verändert ... Jede vom Naturstatus herkommende Rasse hat ihre typische, entsprechende, eigene Natur, ..., und man muß sie anhand eines spirituellen Faktors erklären, der nicht auf irgendwelche ethnischen Faktoren zurückzuführen ist«.144
206
Es steht außer Frage, daß bei Evola der Begriff der Rasse viel stärker als
bei Suckert hervorgehoben wird und eine wichtige Stelle seines Denksystems
markiert, obwohl auch Evola unter Rasse in erster Linie die Kultur versteht.
So ist zum Beispiel die semitische Rasse nur aufgrund ihrer Mentalität für
die Dekadenz verantwortlich: Die semitische Antikultur führe zur Herrschaft
der Ökonomie, zur Reduktion jeder spirituellen Kraft auf materialistische
Faktoren, zum Rationalismus, zum abstrakten Intellektualismus – die meisten Intellektuellen seien entweder Juden oder »judifiziert«. Evola behauptet,
daß »den Juden die ›Freiheit‹ zu geben« zwar »bedeutet, den Weg zu ihrer
Herrschaft zu öffnen«145, aber er erklärt gegen Moeller van den Bruck, Jouvenel und die ganze nationalsozialistische, rassistische Literatur, daß die
Frage der Veränderung der Gesellschaft damit nicht gelöst sei: Die Juden
seien nur ein Teil des Problems, und der Kampf gegen sie könne auf keinen
Fall ausreichen146, um die ganze moderne verdorbene Gesellschaft zu verändern.
Die Rechte bei Evola
Die Betrachtung Evolas als politischer Intellektueller, d.h. als ein Autor, der
in der Absicht schrieb, durch seine intellektuelle Tätigkeit an einer totalen
gesellschaftlichen Veränderung mitzuwirken, ist nicht unproblematisch. Einige Forscher147 haben eine unpolitische Interpretation der Werke Evolas
bevorzugt und damit den von Evola selbst in seinen späteren Schriften hervorgehobenen Charakter der apolitia unterstrichen.148 Wenn Evola dennoch
auf einen apolitischen Denker reduziert wird, verliert seine Figur die sie von
den anderen Autoren der pensée de la Tradition unterscheidenden originären
Kennzeichen, und man versteht keinesfalls die diesbezüglichen Konflikte
Evolas mit seinen »Meistern« Guénon und Di Giorgio. Die Möglichkeit, die
Tradition konkret und politisch wiederherzustellen, war für Evola mit der
Existenz einer westlichen traditionellen esoterischen Gruppe verbunden.
Guénon hingegen blieb skeptisch bezüglich der Frage des Überlebens der
westlichen Tradition und wünschte auf keinen Fall eine auf nicht traditionell
legitimierten Gruppen basierende politische Ordnung149, so daß er die praktische Widerherstellung der Tradition im Westen und durch westliche Gruppen schließlich verneinte. Evola behauptete nicht nur die Existenz traditionell
207
legitimierter esoterischer Gruppen in Europa, sondern schob sogar die Frage
der Initiation in den Hintergrund. Damit war für Evola unwesentlich, ob die
zukünftig regierenden traditionellen Kreise legitim oder illegitim sein würden – d.h. ob sie eingeweihte Gruppen sein würden, da sie eine »Selbstinitiation« durchführen und folglich alle, auch die faschistische Partei, diese
Elite darstellen könnten. Dies war nach Guènons Auffassung inakzeptabel,
weil antitraditionell, und mit der esoterischen Tradition nicht vereinbar.150
Die Beziehung zwischen der Politik und der Wissenschaft einerseits und
der geistlichen Tradition andererseits, ist bei Evola jene zwischen Teil und
Ganzem: »Der Geist – alles, was jedwedes Interesse, jede Form und jeden
beweglichen, politischen und menschlichen Stoff transzendiert – ist für uns
Zentrum, absoluter Wert. Er gilt als ... Ort des Kampfes. Der Geistliche muß
den Weltlichen beherrschen«.151 Wenn Evola im Namen der Tradition die
Modernität bekämpfte, führte er einen »totalen« Krieg, in dem die Attacke
gegen die Politik, die Wissenschaft, die Kunst in einer idealen und radikalen
Auffassung der Ganzheit subsumiert wurden; wenn er sein Ziel einer traditionsorientierten, organischen Gemeinschaft ausrief, war die Politik nur ein
Aspekt seiner (anti)utopischen Vision.
Die ersten Attacken Evolas gegen den Faschismus lassen sich deshalb
nicht als apolitische, sondern als metapolitische Kritiken gegen die gesamte
kulturelle und spirituelle Leere der faschistischen Revolution ansehen, die
eine breitere Basis für die Verwirklichung einer erneuerten Gesellschaft benötigte. Dem Faschismus fehlten kulturelle und spirituelle Wurzeln infolge
seines Mangels an »innerer Bildung«; er habe später, d.h. nach der Machteroberung, versucht, eine kulturelle und spirituelle Identität zu gewinnen,
»nachdem er den Erfolg durch Kompromisse, materielle Gewalt und externe
Faktoren schon erreicht hatte ... Deswegen bedeutet der Ausdruck ›ideale
Superstruktur der Partei‹ nur ... eine Doktrin, die eine Art von Sack ist, der
alle möglichen Dinge enthalten kann«.152 Dieser Mangel an kultureller und
spiritueller Identität – der Faschismus sei, so Evola, »eine Ironie der Revolution« – bleibe eng mit seiner Zweideutigkeit, mit seinem »Schwanken zwischen Legalität und Illegalität«153 und mit seiner Unfähigkeit zur Lösung der
italienischen politischen Probleme verbunden. Diese Passage zeigt die Unzufriedenheit Evolas mit dem Regime und insbesondere mit dessen Denkern,
vor allem mit Gentile, der zu dieser Zeit zum ständigen Thema Evolas wird.
208
Das war nur der Anfang eines immer stärkeren Interesses Evolas an den
politischen Entwicklungen. Die Gründung der Gruppe Ur im Jahre 1927, die
mit einigen wichtigen Vertretern der Freimaurer wie Arturo Reghini verbunden war, bezeugte nicht nur das Interesse Evolas an der Esoterik, sondern
auch seinen Versuch, eine traditionelle integralistische Elite zu bilden, der
sich als Fortsetzung des gescheiterten Projekts der Freimaurer Reghinis begreifen läßt. Die Kritik an der modernen Gesellschaft wurde in diesem Sinne
auf zwei Ebenen durchgeführt: auf einer analytischen Ebene mit Hilfe des
Studiums des Charakters der Tradition und der orientalischen Gesellschaften,
auf einer praktischen und politischen Ebene durch die Formierung einer neuen spirituellen Elite (einer »unsterblichen Rasse«) zur Zerstörung der modernen Zivilisation und zur Ablösung der Ideen der technischen Entwicklung
durch die magische Auffassung der Welt.154 Da das von der Gruppe Ur
übertragene Wissen nicht nur die Entfaltung der rationalen Fähigkeiten des
Individuums, sondern seiner ganzen Persönlichkeit einschließlich seines
magischen Potentials erforderte, besaß es die »moralische Bedeutung« der
»Integration« und der Veränderung der menschlichen Natur.155 Transzendentales Experimentieren sei eine »aristokratische« Doktrin, die eine Verwandlung des Ichs forderte, damit sich die Laien durch das Studium und die
Praktiken zu diesem Erlebnis erhöhen konnten – was das Gegenteil der »demokratischen, sozialistischen und gleichmachenden Tendenz, welche die
heutige Kultur beherrscht«156, darstelle. Die Diskussion über die Initiation
und die Gründung dieser neuen Wissenschaft verband sich deutlich mit dem
Projekt der Bildung einer neuen traditionellen Gesellschaft:
» ... Und er wird denken, daß der Himmel vielleicht eines Tages wieder
öd werden wird, daß der Nebel sich zerstreut und langsam die elementare,
nackte, grausame und metallische Realität erscheint – und nichts anderes,
nichts auf das man sich stützen könnte ... An diesem Punkt wird die Schwäche zusammenbrechen und die Stärke sich durchsetzen. Und vielleicht wird
das verborgene und in den Jahrhunderten der esoterischen Tradition bewahrte Licht wieder in dieser westlichen Nacht scheinen. ... Und neues Leben [wird entstehen] ... in einer sonnigen Welt, in großen Wellen aus Licht
und aus Schrecken; neues Leben, das die von den Gnostikern prophezeite
›Rasse ohne König‹, die ›unsterbliche Rasse der Weltkönige‹ sein wird.«157
Die »Weltkönige« konnten nach Evola nur die »Eingeweihten« sein, welche
das Potential ihres magischen Ichs, und zwar als Teil der Gruppe Ur, er209
forscht hatten. Obwohl Evola eine visionäre Sprache benutzte, die sich nicht
nach der Rationalität des Publikums, sondern nach seinen Gefühlen und
Phantasien richtete, wird deutlich, daß er ein praktisches und politisches Ziel
verfolgte, nämlich die Wiederherstellung der traditionellen Ordnung durch
die Bildung einer und die Regierung durch eine traditionelle Elite.
Mit seinen Artikeln aus dem Jahr 1927, »Fascismo antifilosofico e tradizione mediterranea«158 und »Il fascismo quale volontà d’impero e il cristianesmo«159, sowie der Gründung der Zeitschrift »La Torre« ein Jahr nach dem
Ende der Gruppe Krur160 setzte Evola seinen Versuch, den Faschismus zu
»korrigieren«, fort. Dem Faschismus billigte Evola das Verdienst zu, eine
Alternative zur Dekadenz der modernen Gesellschaft darzustellen und ein
neues politisches Modell gegen den amerikanischen Kapitalismus und den
russischen Bolschewismus zu vertreten. Diese Regierungsformen waren für
ihn »zwei gleichwertige Beispiele, zwei nämliche Gesichter ein und derselben Sache«, d.h. der Herrschaft der »Massen-Menschen«, welche die Individualität und die mit ihr verbundene Spiritualität vernichteten und den Triumph der Mechanisierung und der Rationalisierung bestätigten.161 Deswegen
bedeutete der Faschismus, allerdings nur jener Teil, der von gewalttätiger
und zerstörender Kraft gekennzeichnet war – d.h. der reine ursprüngliche
Faschismus des squadrismo bzw. der intransigenti -, zunächst eine spontane
Revolte der Irrationalität, eine »antikulturelle Revolution«162, den Sieg der
Tat über das bürgerliche dekadente Denken. Die Spontaneität und der Kampf
gegen die Kultur verherrlichte Evola aus denselben Gründen und mit denselben Hoffnungen wie Suckert. Doch wie dieser spürte auch Evola die Notwendigkeit, die Revolution zu vollenden, d.h. durch die Entwicklung eines
spirituellen, traditionalistischen Projektes zur Wiederherstellung der Tradition, die von den faschistischen »spontanen« und integralen Kräften durchgeführt werden sollte.163 Diese Entwicklung des Faschismus zu fördern und
aufzuzeigen war das Ziel des jungen Evolas, der zwei Methoden anwendete:
die langfristige Bildung einer neuen Aristokratie von Helden und die Polemik gegen die politischen Entscheidungen, welche die positiven Kräfte und
Motive des Faschismus behinderten und die Normalisierung ermöglichten. In
Bezug auf die zweite Strategie begann Evola mit seinem Artikel »Il fascismo
quale volontà d’impero e il cristianesmo« in »Critica fascista« eine Polemik
gegen jede Form eines Abkommens zwischen dem Faschismus und der Kirche, die nicht nur viele Gegenangriffe auf ihn nach sich zog164, sondern auch
210
für das Ende seiner Mitarbeit an der Zeitschrift verantwortlich war. Zwei
Argumente brachte Evola gegen das Abkommen vor. Zuerst sei die Kirche
die Quelle der abendländischen Dekadenz und Trägerin der Entartung der
ursprünglichen Gesellschaft der Ungleichen. Zweitens lasse sich das Streben
des Faschismus nach Bildung einer übergeordneten politischen und Lebensorganisation mit einem Abkommen mit der Kirche nicht vereinbaren: Entweder bleibe der Faschismus, wie jede moderne Regierung, eine rein »materielle Organisation« und überlasse der Kirche die spirituelle Bildung und
Verantwortung, oder er verkörpere das ursprüngliche Reich und vereine
beide Funktionen der Vertretung und der Organisation der spirituellen und
materiellen Kräfte. Wenn der Faschismus letzteren Weg gehen wolle, müsse
er das hierarchische Prinzip wiederherstellen und damit jeden Rest der liberalen demokratischen Institutionen – insbesondere das repräsentative System
– abschaffen und sich als einziges, spirituelles, politisches Prinzip darstellen.
Das Vorbild Evolas war dabei die mittelalterliche politische Struktur: »in
dem Maße, wie die Herrscher, die vollendeten Individuen, die Achse des
ganzen sozialen Organismus bildeten, dieser Organismus also gleichsam ein
vom Geiste regierter Körper war, waren zeitliche Macht und geistliche Autorität eins; die Hierarchie war legitim im unbedingten Wortsinne«.165 Die
Spitze der Organisation bildete der Führer, der in sich die Eigenschaften des
Asketen, des Königs und des Priesters vereinigte und deshalb eine »universelle und fast übernatürliche Persönlichkeit« dargestellt habe.166 Die politische Methode, die Massen im »hierarchischen Organismus« zu regieren,
bestehe in der Verwendung von Mythen, von Ideen-Kraft, die der Führer,
wie bei Sorel, kaltblütig als Mittel, als hypnotisierende Instrumente betrachten solle, ohne selbst an sie zu glauben. Anders als bei der Aristokratie gelte
für die Massen das Prinzip, daß die Idee einen Wert habe, der unabhängig
von ihrem Wahrheitsgehalt sei: Sie sollte so lange gültig sein, wie sie wirke.167 Die zweite Methode zur Beherrschung sei die Gewalt, die jedoch als
solche für ein Zeichen der Schwäche der Herrschenden gehalten werden
müsse, weil sie den Kampf gegen einen Widerstand voraussetze und deshalb
eine paritätische Beziehung zwischen den Herrschenden und den Beherrschten suggeriere. »Die Gewalt ist zu wenig. Die Macht ist nicht die Gewalt,
insofern diese ein ›Dagegen-Stehen‹ (und damit ein Stehen auf der gleichen
Ebene) ausdrückt, und nicht ein ›Darüberstehen‹.«168 Dies gelte jedoch nur
von einem absoluten Standpunkt aus. Evola behauptet einige Zeilen später,
211
daß die Gewalt durchaus auch nützlich sein könne – ohne daß eine klare
Grenze zwischen der »richtigen« und »unrichtigen« Anwendung von Gewalt
gezogen werden könne. Auf diese Art versöhnte Evola eine machiavellistische Vision der politischen Machtinstrumente, die in der Ära von Politikern
wie Mussolini und von Intellektuellen wie Pareto und Sorel unterstützt wurde, mit einer spirituellen, »hohen« Interpretation der politischen Aufgaben,
die nur von einem kleinen elitären Kreis verstanden und übertragen werden
sollten.169
In »Imperialismo pagano« macht Evola die Durchführbarkeit seiner politischen Vision von der Voraussetzung abhängig, daß der Faschismus sich in
seiner »reinsten Kraft mit dem Reichswillen identifiziert, daß sein Wachrufen der Adler und des Liktorenbündels nicht nur rhetorisch ist, ... daß er etwas Neues darstellt.«170
Aus dieser Perspektive läßt sich die Gründung von »La Torre« als Versuch verstehen, den integralen Imperialismus durch Bildung faschistischer
Aristokratien durchzusetzen, um dadurch den Faschismus in eine traditionalistische Richtung zu lenken. Als Antwort auf die Attacke der faschistischen
Presse und die Beschlagnahmung der Zeitschrift infolge der Kritik von »La
Torre« an der demographischen Kampagne der Regierung schrieb Evola:
»Wir sind weder ›Faschisten‹ noch ›Antifaschisten‹. Der ›Antifaschismus‹ ist
nichts. Aber für uns integrale Imperialisten, für uns Aristokraten, unbeugsame Feinde jeder plebejischen Politik, jeder ›nationalistischen‹ Ideologie,
jeder Intrige oder jeden Geistes der ›Partei‹, jeder mehr oder weniger versteckten Form von Sozialismus und Demokratie, ist der Faschismus zu wenig
... Wir können nie als ›Antifaschisten‹ betrachtet werden, höchstens wenn der
›Superfaschismus‹ dieselbe Bedeutung wie der ›Antifaschismus‹ hat ...«.171
Dieser nie wirklich erforschte Versuch Evolas und seiner Gruppe von »La
Torre«, die zum großen Teil aus ehemaligen Mitgliedern der Freimaurerloge
der Piazza del Gesù und des Theosophischen Bund bestand, sollte die Richtlinie für das weitere Vorgehen vorgeben, dergestalt, daß die Adressaten – die
zukünftige Elite – und die als positiv bezeichneten Kräfte innerhalb des Faschismus, die diese Revolution unterstützen sollten, definiert wurden. Diese
Gruppen entsprachen dem heterogenen Leserkreis von »Imperialismo pagano« und später von »La Torre«. Die Gründe dieser Uneinheitlichkeit werden
im Folgenden erklärt. Die zu unterstützende und zu bildende Elite bestand
aus jenen, welche die Lehre der Tradition verstehen oder wenigstens an ihrer
212
Entwicklung, wenn auch nicht immer bewußt, mitwirken konnten. Zum einen waren damit die Soldaten gemeint – aber nicht irgendwelche Soldaten,
sondern nur jene, die den Krieg als einen Wert für sich selbst und für die
Entwicklung des eigenen Ichs betrachteten.172 Ferner umfaßte sie die Aristokraten173 – nicht als Träger eines Titels, sondern als Repräsentanten einer
moralischen, spirituellen, traditionellen Vision.174 Um die Elite und das
Reich zu bilden, wünschte Evola eine konkrete politische Schicht und Ideologie innerhalb des Faschismus, die sein Projekt verwirklichen sollten, eine
»reine« faschistische Ideologie175 und eine Art »Aristokratie«, welche das
positive und antibürgerliche Streben vertreten, verbreiten und eine ständige
Revolution in der vollständigen Beziehung des Einzelnen zu seiner Existenz
ermöglichen sollte. Diese faschistische Kraft war jene »ultraintransigente«176, welche die Normalisierung bekämpfte, d.h. die squadristi,
die »Soldaten« des Faschismus, die einzigen Protagonisten der »integralen
faschistischen Revolution«.177 Auf diese Art ließ sich das aristokratische
Projekt von Evola trotz seiner esoterischen Wurzeln auf das konkrete politische Leben übertragen und fand in »den reinen Faschisten« – den nicht so
kultivierten squadristi und den intransigenti – seine Vertreter.
Hier werden Evolas Ähnlichkeiten mit und gleichzeitig seine Differenzen
zu den integralistischen Intellektuellen in Bezug auf die politische Auffassung deutlich: Alle unterschieden zwischen einer rein antibürgerlichen Strömung innerhalb des Faschismus und einer normalisierenden, korrupten und
modernen Entartungskraft. Alle sahen den Faschismus als Aktivismus und
zerstörende Revolution an; alle zielten auf die Wiederherstellung der Tradition, d.h. der natürlichen Hierarchien, die aus der Aristokratie der Krieger
bestehe; alle bezogen sich auf die »Integralen«, auf die Feinde der modernen
bürgerlichen Kultur und Politik – die intransigenti; alle differenzieren die
»reinen« Faschisten von den »unreinen«; alle hatten schließlich ein Ideal der
traditionellen zukünftigen Gesellschaft, das sie dem »realen« Faschismus
entgegensetzten. Das Vorbild der Tradition entlehnten alle diese Autoren
dem römischen Reich. Das Ideal Evolas und der Gruppe um »La torre« steht
jedoch in einer mystischen Distanz, in der esoterischen Welt der Tradition,
während die integralistischen Intellektuellen oft eine konkrete, begrenzte
politische Bewegung – die intransigenti – mit der Tradition identifizierten.
Der wesentliche Unterschied besteht jedoch nicht in ihrer Haltung dem Faschismus gegenüber, der als eine Mischung positiver und negativer Motive
213
betrachtet wurde, sondern in ihrer Auffassung der Tradition. Maccari, Sukkert, Settimelli und Carli waren weniger konsequent und weniger originell,
so daß sich ihr Ideal oft auf eine konkrete politischen Strömung und einen
konkreten Kampf begrenzen läßt.
Das Verhältnis Evolas und der Gruppe um »La torre« zu Maccari und
Suckert läßt sich auch an den Kritiken an diesen in »La torre« zeigen. Obwohl sie teilweise als Vorreiter des Kampfes gegen die Modernität und der
antiamerikanischen und antikapitalistischen Kritik anerkannt werden, wird
ihre Vision dennoch als »dilettantisch und literarisch« bewertet, weil sie die
Tradition auf einer begrenzten Wirklichkeit, etwa die der Provinzen, reduziert hätten.178 Ihr Ziel sei zwar hoch zu schätzen, aber ihre Methoden nicht
radikal genug, weil ihre Analyse an der Oberfläche bleibe. Daß sie dennoch
relativ positiv bewertet wurden, stellt ebenso wie die wechselhafte Kritik am
Dadaismus eine Ausnahme vom grundsätzlichen Tenor der in »La Torre«
publizierten Artikel dar, in denen der Futurismus, Gentile, Croce und ihre
Schüler zusammen mit einem großen Teil der italienischen Kulturexponenten
ständig verrissen wurden.
Evola und die Kontinuität mit den Integralisten
Der Radikalismus des Denkens Evolas und sein Begriff der Tradition stellen
im Vergleich zu den Auffassungen der integralistischen Intellektuellen ein
artikuliertes System dar. Aber auch zwischen jenen selbst gibt es Unterschiede, obwohl sie weniger auffällig sind: Maccari war kein systematischer Denker, sondern ein Künstler, der eine unreflektierte und spontane Kritik des
Faschismus und der Modernität übte. Carli und Settimelli waren ursprünglich
auch keine Erneuerer der Literatur, aber bei ihnen wurden die Themen der
politischen und kulturellen Revolution schon in Verbindung zur Entwicklung
der Tradition – des römischen Reichs – gesetzt. Bei Suckert ist die historische und kulturelle Reflexion über die Tradition stark entwickelt. Es ist auch
bemerkenswert, daß Maccari und Suckert insbesondere an die Jüngeren der
Partei denken, wenn sie über die natürliche Elite sprechen, während Evola
eine aristokratische Konzeption der Politik und der gesellschaftlichen Beziehungen hat. Dieser Unterschied kann aber dennoch nicht die Tatsache verdecken, daß bei diesen Autoren eine elitäre Definition der politischen Bezie214
hungen und eine hierarchische Auffassung des sozialen Bündnisses den Kern
ihrer Ansichten bildeten. Die Eliten lassen sich unterschiedlich definieren,
als »jüngere« squadristi (Maccari) oder als squadristische Miliz (Evola) aber
sie stellen immer eine spirituelle Elite dar, deren Wert nicht in wissenschaftlichen oder politischen Fähigkeiten gründet, sondern an persönliche geistige
Eigenschaften gebunden bleibt. Ein weiterer Unterschied zeigt sich bei Betrachtung der Ursrpünge der hier analysierten Autoren. Maccari, Suckert,
Settimelli und Carli waren Faschisten der Bewegung, deren Träume und
idealistische Vorstellungen enttäuscht wurden. Evola hingegen war ursprünglich kein Faschist, sah jedoch im integralistischen Faschismus die
Möglichkeit, eine hierarchische Gesellschaft und die Verwirklichung eines
reaktionären Regimes zu erreichen, das der Tradition entsprach. Aus diesem
Grund knüpfte Evola an die Themen der Integralisten an und transponierte
deren antimoderne und antieuropäische Haltung auf ein höheres und komplexeres Niveau, auf dem die Strömungen des pensée de la tradition, der
Literatur über die Dekadenz und der Theorien des organischen Staates zusammenflossen. Evola verlieh den Themen der antimodernen und antimaterialistischen Kritik eine neue Bedeutung und erarbeitete eine komplexere
Utopie, die sich quasi als logische Folge des integralistischen Protestes darstellte. Die bei den vier integralistischen Autoren noch unbestimmten Begriffe der Rasse, der Tradition, der Hierarchie und der Ordnung wurden bei
Evola in ein abgeschlossenes Denksystem integriert und entsprachen damit
einem Ideal, das immer weniger mit dem ursprünglichen Faschismus und
dem politischen Regime übereinstimmen konnte.
Evola ging zunächst denselben Weg wie die integralistischen Intellektuellen: von der Avantgarde zur Tradition, vom Wunsch nach Zerstörung der
liberalen und bürgerlichen Gesellschaft zur Verteidigung der Tradition und
der Hierarchie. Dabei kämpften sie alle immer gegen dasselbe Feindbild: die
konservativen und die moderaten Exponenten sowohl der Politik wie der
künstlerischen und literarischen Welt. Die vier integralistischen Autoren
verteidigten wie Evola eine totale Funktion von Kunst und Wissenschaft:
Ihre Auffassung war dadurch gekennzeichnet, daß sie eine politische, intellektuelle und kulturelle »Revolution« durchführen wollten, in der diese drei
Momente zusammengehörten. War deren Kritik bereits radikal und absolut,
so radikalisierte Evola wiederum ihre Ansätze. Den Faschismus kritisierte er
mit seiner Gruppe von »La Torre«, er versuchte ihn zu berichtigen, pochte
215
aber in erster Linie auf die Freiheit seiner Prinzipien: »Unsere Zeitschrift ist
nicht geboren, um Faschismus zu predigen ... sie ist im Gegensatz geboren,
um Prinzipien zu verteidigen, die ganz dieselben wären, sei es unter einem
faschistischen oder kommunistischen, anarchistischen oder republikanischen
Regime ... In dem Maße, in dem der Faschismus diese Prinzipien verfolgt
und verteidigt, und nur in diesem Maße können wir uns als Faschisten betrachten«.179 Die ganze Zivilisation zu zerstören, die Modernität, ihr Fortschrittsprogramm und ihre bürgerlichen Professoren endgültig zu verabschieden: hierin lag der Kern seines antiintellektuellen intellektuellen Projektes, dafür war sogar der Faschismus zu wenig.
1 Vgl. E. Gentile, Il culto del Littorio, Laterza, Bari, 1993.
2 P. Misciatelli, »La mistica del fascismo«, in: Critica fascista, 15. Juli, 1923.
3 Vgl. P. Cannistraro, La fabbrica del consenso, Laterza, Bari, 1975; A.L. De Castris
»Gramsci e il problema dell’egemonia negli anni ‘30«, in: Lavoro critico, XIX, 1980;
P.G. Zunino, L’ideologia del fascismo, Bologna, 1985; E. Gentile, Il culto del Littorio ...,
op.cit.
4 Volpi, Rossoni und Federzoni wurden 1928 von den politischen relevanten Posten entfernt; Turati im Jahr 1930; Bottai im Jahr 1932; Rocco im Jahr 1933.
5 Mussolini, »Per la medaglia dei benemeriti nel comune di Milano«, in: Opera omnia,
XXI, Firenze, 1960, S.425.
6 Vgl. De Felice, Mussolini il fascista. L’organizzazione ..., op.cit., 296 ff. Hannah Arendt
macht den Unterschied des italienischen faschistischen Regimes zu den »reinen« totalitären Regimen dadurch klar, daß nur im Faschismus die Überlagerung des Staates mit dem
Regime stattfinde; wobei in Deutschland zum Beispiel der Staat der Partei und ihrer Militärgruppe untergeordnet war. »Die Nazis haben sich von dieser faschistischen Form der
Diktatur, in der die ›Bewegung‹ nur dazu dient, die Partei an die Macht zu bringen, bereits vor der Machtergreifung deutlichst distanziert, und zwar dadurch, daß sie die Partei
dazu benutzten, ›die Bewegung vorwärts zu treiben’, die ihrerseits, im Gegensatz zur
Partei, keine ›bestimmten, fest umrissenen Ziele‹ haben darf« (H. Arendt, Elemente und
Ursprüng totaler Herrschaft, 1998, München, S. 545).
7 Mussolini, »Al popolo di Roma per il 28 ottobre« in: Opera ..., op.cit., XXII, S. 241 ff.
8 Ludwig, Colloqui con Mussolini, Milano, 19503, S. 64.
9 Mussolini, »Intransigenza assoluta«, in: Opera omnia ..., op.cit. B. XXI, S. 363.
10 Vgl. De Felice Mussolini il fascista. L'organizzazione ..., op.cit., S. 159 ff.
11 Vgl. Y. De Begnac, Palazzo Venezia. Storia di un regime, 1959, Roma, S. 286.
12 De Felice, Mussolini il fascista. L'organizzazione ..., op.cit., S.120 ff.
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13 Zur Bedeutung dieser Maßnahmen vgl. u.a. A. Aquarone, L’organizzazione dello stato
totalitario, Torino, 1965; L. Paladin, »Fascismo (diritto costituzionale)« sub voce, in Enciclopedia del diritto, B. XVI, Milano, 1966.
14 A. Rocco, La trasformazione dello Stato, Roma, 1927, S. 178 ff.
15 Über die Figur von Alfredo Rocco vgl. u.a. P. Ungari, Alfredo Rocco e l’ideologia giuridica del fascismo, Brescia, 1974; De Felice, Mussolini il fascista. L'organizzazione ...,
op.cit., S. 161 ff., Gentile, Il mito dello stato nuovo ..., op.cit.
16 E. Amicucci, Il giornalismo nel regime fascista, Roma, 1930, S. 60 ff., zitiert in: De
Felice, Mussolini il duce. Gli anni ..., op.cit., S. 182-3.
17 De Felice, Mussolini il fascista. L’organizzazione ..., op.cit., S.190.
18 Nach De Felice lag die Gesamtzahl der Säuberungsaktionen zwischen 55.000 und 60.000.
(De Felice, Ebenda., S.187).
19 Um die Verbindung der Partei zum Regime zu festigen, veränderte der neue Sekretär die
Struktur der Partei so, daß kein demokratisches Gremium und keine Wahl zur Ernennung
der Kader beitrugen: der Gran Consiglio (der zentrale Beirat der Partei), der aus Mussolini, den faschistischen Senatoren und anderen faschistischen politischen Exponenten bestand, sollte auch die untere Führungsschicht in der Partei ernennen, damit jeder Einfluß
der Basis auf die oberen Ränge verhindert werde. Um die Autonomie der Partei noch
weiter zu beschränken, wurde die Figur des Präfekten gestärkt, der nicht nur die antifaschistischen Tätigkeiten unterdrücken, sondern auch die Haltung und das politisches Leben der Faschisten überwachen sollte. Dadurch wurden die Entwicklungen und die für das
Regime »gefährlichen« Tendenzen innerhalb der PNF besser kontrollierbar.
20 Leider lassen sich hier nur wenige Hinweise auf die Diskussion über den faschistischen
Syndikalismus geben, aufgrund der Komplexität und des Reichtums der Themen und der
Dokumenten, die nur eine spezifische Analyse komplett untersuchen könnte.
21 Erklärungen des Gran Consiglio del fascismo, April 1925, in: De Felice, Mussolini il
fascista. L’organizzazione ..., op.cit., S. 93 ff.
22 Vgl. De Felice. Ebenda., S. 330 ff.
23 Zur Krise der Jugend vgl. die Untersuchungen von G. Germani, Autoritarismo, fascismo e
classi sociali, Bologna, 1975 und von M. Leeden, L’internazionale ..., op.cit.
24 Conciliazione ist der Lateranvertrag. Das Wort »conciliazione« bedeutet eigentlich Versöhnung.
25 In »Il corriere della sera«, jetzt in: Opere, XLV ..., op.cit., S. 350-351
26 Gentile, Ebenda; vgl. auch De Felice, Mussolini il fascista. L’organizzazione dello ...,
op.cit. ., S. 387 ff.
27 Gentile, »Fascismo e cultura«, in: Opere ..., op.cit., XLV, S. 343; und noch S. 349 ff.
28 Ebd., S. 351.
29 1934 wurden z.B. die Opera omnia von Gentile von der Kirche mit schweigender Zustimmung des Faschismus auf den Index gesetzt.
30 Vgl. Erklärung von Gentile in Foglio d’ordini, 37, 20. Oktober, V Jahr (1927).
31 Mangoni, L’Interventismo ..., op.cit.
32 Vgl. Mangoni, L’interventismo ..., op.cit.; Gentile, Le origini ..., op.cit.
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33 Vgl. Germani, Autoritarismo, fascismo ..., op.cit.
34 Die ersten Jugendorganisationen wurden schon 1922 gebildet, aber später erweitert und
verstärkt. 1926 wurde die Opera nazionale balilla gegründet, die sich später in die Organisation Gioventù italiana del Littorio verwandelte. Zu dieser Institution für die politische
und kulturelle Bildung der faschistischen Jugend kamen die Gruppi Universitari Fascisti
(faschistische Universitätsvereine) wie auch die Fasci Giovanili di Combattimento hinzu.
35 Vgl. die von »Critica fascista« während der 30er Jahren veröffentlichten Debatten.
36 Diese Analyse stammt von Germani, Autoritarismo, fascismo ..., op.cit.
37 G. Giovanelli, »Conversazione ?«, in: Critica fascista, 15 März 1931.
38 M. Leeden, Internazionale ..., op.cit.
39 Dieses Thema wird hier nur teilweise betrachtet, um den politischen Hintergrunds zu
skizzieren. Ich verweise lediglich auf einem kleinen Teil der Literatur zu diesem Thema:
De Felice, Mussolini il fascista L’organizzazione ..., op.cit.; Ders., Mussolini il duce. Gli
anni ..., op.cit.; Gentile, Il culto del littorio ..., op.cit.; Cannistraro, La fabbrica del consenso ..., op.cit.; Zunino, L’ideologia del fascismo ..., op.cit.
40 Cannistraro, La fabbrica del ..., op.cit., S.31.
41 M. Campigli, C. Carrá, A. Funi, M. Sironi »Manifesto della pittura murale« in: La colonna, Dez. 1933.
42 Camillo Pellizzi, Le lettere italiane nel nostro secolo, Milano, 1929, S. 175 ff.
43 Vgl. Salaris, Artecrazia ..., op.cit.
44 Der Kongreß von Ferrara, auf dem sich eine bedeutende Entwicklung des Aktualismus
durch den Korporativismus Ugo Spiritos profilierte, fand erst 1932 statt. Zur Analyse des
Aktualismus in den späten 20er und 30er Jahren vgl. u.a. Del Noce, »Idee per
l’interpretazione del fascismo«, in: Casucci (Hrsg.), Il fascismo ..., op.cit.; Bonsanti, »La
cultura degli anni 30. Dai littoriali all’antifascismo«, in: Il segnacolo, Nov./ Dez. 1963,
und Jan./Feb., 1964; Festa, Cultura e intellettuali nelle riviste del 900, 1984, Urbino.
45 In seinem Roman »Gli indifferenti« beschreibt ein wichtiger Schriftsteller dieser Zeit,
Alberto Moravia, der auch dieser Generation angehört, diese Haltung.
46 Berto Ricci »Avvisi« in: L’universale, Mai 1932.
47 Letzterer war kein überzeugter Anhänger des Regimes.
48 Anonym »I Rosai«, Firenze, 1930, S. 3.
49 De Begnac, Taccuini mussoliniani, Bologna, 1990, S. 402.
50 Ebenda., S. 440.
51 Er war bis 1929 Leiter der Zeitung »Il Mattino«, dann Leiter von »La Stampa« und verließ 1931 die Partei und emigrierte nach Frankreich. Obwohl sein Buch »Technique du
coup d’état« in Italien zensiert, in Deutschland sogar verbrannt und Malaparte 1933 ins
Exil geschickt wurde, wurde er nie vom Faschismus ganz unterdrückt. Auch während seines Exils konnte er Artikel für die Zeitung »Il corriere della sera« schreiben. Sein Faschismus wie seine Polemik gegen den Faschismus nach seiner Unterstützung der intransigenti waren nie mehr konsequent und zielstrebig. Sein Pessimismus wird in diesen
Worten von 1940 deutlich: »die alexandrinische Zeit von Europa (unsere Zeit, leider)
schließt sich. Und wir fangen schon an zu stinken. Gott sei Dank stinken wir alle; und der
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einzige Trost ist, daß wir nicht auf die gleiche Art stinken. Einige stinken mehr, einige
weniger. Einige sind mehr tot, einige weniger. Aber der Schluß jedes Diskurses über die
aktuelle italienische und europäische Literatur kann nur sein, daß unsere literarische Generation ihre Aufgabe beendet hat« (in: Prospettive, Nn.6-7, 1940).
Vgl. Don Camaleo e altri scritti satirici, Florenz, 1963. Diese Erzählung hätte schon von
dem antifaschistischen Freund Suckerts, Piero Gobetti, veröffentlicht werden sollen, aber
1926 wurde Gobetti getötet. Als Leo Longanesi in seiner Zeitschrift »Giornale di Genova« ihre Veröffentlichung begann, wurde sie von Mussolini zensiert (zum Leben Suckerts
vgl. Grana, Curzio Malaparte, 1968, Firenze; Martelli, Curzio Malaparte, Torino 1968);
De Grand, »Curzio Malaparte. The Illusion of the fascist revolution«, in: Journal for
contemporary history, N.7, 1972; A. Hamilton, The Appeal of fascism. A Study of Intellectuals and Fascism, 1919-1945, London, 1971; A. Lyttleton, The Seizure of power. Fascism in Italy 1919-1929, London, 1973).
Orco Bisorco (Pseudonym von Ardengo Soffici), »Bollettino ufficiale di strapaese«, in: Il
Selvaggio, 24 Nov. 1927.
Bontempelli, in: Novecento, N. 3, 1940.
Malaparte, »Strapaese e stracittà«, in: Il Selvaggio, 10 Nov. 1927; Vgl. Mangoni,
L’interventismo ..., op.cit., S. 141 ff.
Soffici, »Semplicissimi«, in: Il Selvaggio, 30 Jan. 1927.
Die Historikerin Mangoni hat scharfsinnig die Haltung Maccaris und die Gründe seines
Scheiterns und seines endgültigen Ausschlusses erklärt: »... ›Il Selvaggio‹ übernahm mit
absoluter Strenge und pathetischem Ernst die Propaganda-Slogans des Faschismus von
Mussolini, als Anregungen zur Vollendung der Kämpfe und der Diskurse, an denen der
Faschismus tatsächlich nicht interessiert war.« (Mangoni, L’interventismo ..., op.cit.,
S.148). Aus diesem Grund waren Maccari und seine Zeitschrift als gefährliche fronda
verschrien, und Maccari war wiederholt gezwungen, seine Treue zum Faschismus zu unterstreichen. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als Arnaldo Mussolini 1927 in der
regimetreuen Zeitung »Il Popolo d’Italia« die kleinen, parteiischen und faktiösen Versammlungen der florentinischen Gruppe attackierte. Dies war auch der Anfang einer Attacke derjenigen Faschisten, die nach der Isolierung Maccaris strebten.
Carli, »Il ritorno delle muse«, in: L’Arte fascista, 1928, 3-4, 1928, S. 47 ff. vgl. auch,
Solaris, Artecrazia ..., op.cit.
Ebd.
Marinetti brachte auf dem Kongreß des Futurismus (Bologna 1933) den Ausschluß Settimellis zur Abstimmung, da Settimelli und seine Zeitschrift »die auslandsorientierten Kritiker« gefördert hätten (Settimelli, »Al buon Marinetti«, in: L’impero, 21. Mai 1933).
Bemerkenswert ist der von Marinetti angegebene Grund für die Ausstoßung Carlis, da
Marinetti sich immer als kosmopolitischer und europäischer Autor darstellte (Vgl. Solaris,
Artecrazia ..., op.cit., S.127 ff.; Buchignagni, »Settimelli e Carli dal futurismo al fascismo«, op.cit., S. 212 ff.).
Settimelli, »Fine del movimento futurista«, in: L’Impero, 31. Dez. 1932.
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62 Vgl. u.a. De Felice, Mussolini il duce. Gli anni del consenso, ..., op.cit.; Gentile, Le
origini dell’Ideologia ..., op.cit.; Mangoni, L’interventismo della cultura ..., op.cit. Die
Theorie des Korporativismus, die anfänglich von Bottai entwickelt worden war, wird erst
Mitte der 30er Jahren mit Ugo Spirito die wichtigste Strömung der jüngeren intellektuellen Generation. Aus diesem Grund wird sie hier nicht betrachtet.
63 Zur Figur Bottais und zu seinem Werk vgl. u.a. De Grand, Bottai e la cultura fascista,
Bari, 1978; Cassese, »Un programmatore degli anni ‘30: Giuseppe Bottai«, in: Politica
del diritto, 1970, N.3; E. Gentile, »Bottai e il fascismo Osservazioni per una biografia«,
in: Storia contemporanea, Juni 1979; Giordano B. Guerri »Introduzione« in: Bottai, Diario, Milano 1994; Bottai, Diario, Milano 1994; ders., Vent’anni e un giorno, Milano,
1949.
64 Die Position Suckerts war zu weit entfernt vom modernisierungsorientierten Ansatz
Bottais, während die selvaggi wegen ihres mangelnden Radikalismus – und vielleicht
auch ihrer fehlenden Konsistenz - leichter zu Bottais Partnern werden konnten.
65 Bottai, »Per arginare una controrivoluzione«, in: Critica fascista, 15. Mai 1925.
66 Nicht nur eine Mitarbeit der selvaggi an »Critica fascista«, sondern auch die positiven
Bewertungen der Zeitschrift »Il Selvaggio« durch Bottai, und viceversa, machten deutlich, daß ein Prozeß der Annäherung stattgefunden hatte. Vgl. Mangoni L’interventismo
... op. cit., S.162 ff.
67 Vgl. Mangoni, L’interventismo ..., op.cit., S. 167 ff.; 170 ff.
68 Vgl. Ebda., S. 239 ff.
69 Vgl. Sechi »Critica fascista 1929-32. Idealismo politico e fermenti di una cultura nuova
alla svolta del regime«, op.cit.; zur Kritik der jüngeren Intellektuellen an Gentile vgl. Garin, Cronache ..., op.cit., II, S. 405 ff.
70 Vgl. Ungari, Alfredo Rocco e l’ideologia giuridica del fascismo, Brescia, 1974.
71 vgl. Turi, Giovanni Gentile ..., op.cit., S.381 ff.: die Auseinandersetzung fing 1924 im
Senat wegen der Frage der katholischen Lehre an, die laut Fedele implementiert werden
sollte. Diese Diskussion mit den katholischen Kräften ging weiter und führte zur wesentlichen Modifizierung des Geistes der Bildungsreform.
72 Nach dem Marsch auf Rom war er Minister in der faschistischen Regierung: Finanzminister 1922, Parlamentspräsident 1924 und Justizminister 1925.
73 Der Vater Evolas entstammte einer verarmten aristokratischen Familie. Julius Evola
führte immer den Titel eines Barons in seinem Namen.
74 Evola, Il cammino del cinabro, Milano, 1972, S. 19 ff.
75 Evola, Saggi sull’idealismo magico, Todi, 1925, S. 148.
76 Negri, Julius Evola e la filosofia, Milano, 1988.
77 E. Valento, Homo faber, Roma 1994.
78 Sie war ein kulturelles Zentrum, das insbesondere für die Verbreitung der futuristischen
und Dada Avantgarde eine wesentliche Bedeutung hatte (vgl. M. Verdone, »La casa
d’arte Bragaglia 1918-1930«, in: terzo occhio, 2 (59), 1991).
79 Die Rolle der Freimaurerei für den Aufstieg des Faschismus und für die Bildung der
integralistisch-traditionellen Bewegung ist wesentlich, obwohl die Freimaurerei als kultu-
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relle Kraft marginal war und vom Milieu der Hochkultur (Universitäten, kulturelle Institutionen) ausgeschlossen blieb. Die Freimaurer boten Mussolini wichtige Unterstützung
während des Marsches auf Rom 1922; und das, obwohl sie von einer dem Faschismus
verbundenen politischen Komponente der Nationalisten (ANI) bis 1925 bekämpft wurden, als die Gesetze zur Abschaffung der Geheimbünde verkündet wurden.
»Ultra« wurde 1907 gegründet und von Decio Calvari geleitet, der zu dieser Zeit ein
hohes Regierungsamt bekleidete.
In diesem Milieu lernte Evola einige antifaschistische Intellektuelle und Politiker kennen,
insbesondere Giovanni Amendola, einen der Führer der Partito di opposizione costituzionale, der nach der Matteotti-Krise (1924) die antifaschistische Opposition des Aventino
leitete, und den Grafen Colonna di Cesarò, Führer der Democrazia Sociale. Außerdem
freundete er sich mit Adriano Tilgher an, einem bedeutenden Intellektuellen, mit dem er
bei der Zeitschrift »Idealismo realistico« zusammenarbeitete, und mit Sir John Woodroffe
(Arthur Avalon), dem Übersetzer des »Tantra«, das einen starken Einfluß auf die Entwicklung von Evolas Denken ausübte.
Die Artikel von Evola in »Il mondo« sind: »L’io supernormale«, 24 Jan, 1924; »La scuola
della sapienza di Keyserling«, 4. März 1924; »La costruzione dell’immortalità«, 12 April
1924; »L’idealismo dell’insufficienza«, 26 Juni, 1924.
Deswegen ist es fragwürdig, zu behaupten, daß die Mitarbeit Evolas an »Il mondo« einen
politisch antifaschistischen Charakter hatte, oder Evola mit Amendola zu vergleichen.
Obwohl Evola in dieser Zeit nicht faschistisch war und er diese Position in »Lo stato democratico« vertrat, ist er ganz klar kein Antifaschist.
Die Artikel von Evola in »Lo Stato democratico« sind recht interessant wegen ihrer
kritischen Bewertung des Faschismus. Insbesondere »Stato potenza e libertà« (I, 7, 1 Mai
1925) und »Per un rinnovamento dell’idea politica«(I, 24, 31 Dez. 1925) sind bemerkenswert.
»Vita nova« wurde in Bologna gegründet und von Giuseppe Saitta geleitet. Diese Zeitschrift, die eine kritische Position gegen die Abkommen mit dem Vatikan einnahm und
die Auffassung Gentiles unterstützte, spielte eine gewisse Rolle in der faschistischen
Kultur und enthielt die Essays von jungen Intellektuellen wie Delio Cantimori und Ugo
Spirito, die auch nach dem Faschismus eine wichtige Rolle in der italienischen Kultur
spielten.
Evola, »Fascismo antifilosofico e tradizione meditterranea«, in: Critica fascista, V, 12, 15
Juni 1927; »Il fascismo quale volontà d’impero e il cristianesimo«, in: Critica fascista, V,
24, 15 Dez. 1927.
Evola, »Ai lettori«, in: La Torre, 1, 1. Feb. 1930; jetzt in: ders., La torre. Foglio di espressioni varie e di tradizione una, Tarchi (Hrsg.), Roma, 1995, S. 21.
Ebd.
Nummer 3 von La torre, 1 Mars 1930.
Insbesondere mit Bottai und seinen Mitarbeiter von »Critica fascista« kam es zu heftigem
Streit. Zwischen Mario Carli und Evola fand sogar eine gewalttätige Auseinandersetzung
statt, die aber durch rein persönliche Motive verursacht wurde.
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91 Akten über Evola, Polizia Politica, Staatsarchive, Rom.
92 Daraus ergibt sich aber keine Übereinstimmung der politischen Ideen des Rechtsdenkers
Evolas und des Politikers Farinaccis, was auch in einer späteren Kritik Evolas (Evola,
»Storia vissuta della rivoluzione fascista«, in: Vita italiana, Feb. 1940) an Farinaccis
»Storia della rivoluzione fascista« deutlich wird.
93 »Travailler en commun, anonymement, à la grande cathédrale de la vie que nous
préparons; niveler les instincts de l’homme qui, si l’on accentuait trop la personnalité,
prenderait des proportions babyloniennes de méchanceté et de cynisme« (Tristan Tzara
»Lampisterie-Sept Manifestes Dada« Paris, 1963, S. 95)
94 »Nous voulons continuer la tradition de l’art nègre, égyptien, byzantin, gothique et détruire en nous l’atavique sensibilité que nous a léguée la détestable époque qui suivit le
Quattrocento«, Ebenda., S. 94
95 Der junge Julius Evola nahm an den Bewegungen des Futurismo und des Dadaismus teil
und beschrieb sie später als den einzigen italienischen »Sturm und Drang«. Sein interventistisches Engagement diente aber lediglich der Verwirklichung seiner Werte, die nach
Evola in Deutschland verdorben wurden. Diese Position Evolas stellte eine erste Differenz zum Futurismus dar, so daß Marinetti zu Evola sagte: »Deine Ideen sind meinen so
fern wie die eines Eskimos«. Abgesehen von der boutade, zeigt dies die Entfernung Evolas, der die von Marinetti und den Futuristen abgelehnte Literatur und Philosophie
Deutschlands las und liebte. Nach einiger Zeit (während der er in Zeitschriften wie »Roma futurista« und »Cronache d’attualità« schrieb und in der Ausstellung »Grande Esposizione Nazionale Futurista« im Jahre 1919 seine Gemälde ausstellte) begann Evola, sich
für den Dadaismus zu interessieren.
96 Tzara, »Manifeste Dada 1918«, in: Ders., Manifesti del dadaismo e Lampisterie, Torino,
1964
97 Evola »L’arte come libertá e come egoismo«, in: Noi, 6-7, Jan. 1920.
98 Ebd. Das Ziel der Polemik Evolas waren der Futurismus, der Sensorismus und die Ästhetik Rimbauds, da sie eine »brutale/antigeistige Ästhetik« bildeten und »die Aufgabe des
praktischen Ichs auf ein Element des reinen und subjektiven Gefühls« reduzierten (Ebd.).
99 Ebd.
100 Vom Mystizismus als ästhetische Erfahrung sprach auch Evola in dem letzten Kapitel von
Saggi sull’idealismo magico, Todi, 1925.
101 Evola, »L’arte come libertà«, op.cit.
102 Vgl. C. Solaris »Einführung« in: Valento, Homo faber, Roma, 1994.
103 vgl. Rossi, »L’Avanguardia che si fa tradizione: L’Itinerario culturale di Julius Evola dal
primo dopoguerra agli metà degli anni ‘30« in: Storia contemporanea, XXII, 6, 1991.
104 Die Tätigkeit Evolas im Dadaismus war bedeutend: er nahm mit der ersten Gruppe italienischer Dadaisten (Fiotti und Cantarelli) 1921 an einer Ausstellung in Rom teil; darüber
hinaus schrieb er einige Artikel in Zeitschriften der Avantgarde (»Noi«; »Bleu«; »Dadaphone«) sowie dadaistische Gedichte und Essays, so daß er im Laufe der DadaAusstellung des Jahres 1921 als Maler, Dichter und Philosoph (vgl. Evola, Arte astratta
1920; La parole obscure du paysage intérieur, 1921) des Dadaismus vorgestellt wurde.
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105 Zwischen 1921 und 1924 verfaßte Evola seine philosophischen Werke - Saggi
sull’individualismo magico (erschienen 1925); Teoria dell’individuo assoluto (1927) und
Fenomenologia dell’individuo assoluto (1930). Die Philosophie Evolas wird nur bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Politik betrachtet; deswegen werde ich hier vorzugsweise
die Artikel Evolas analysieren, unterstützt nur durch einige Bemerkungen über seine philosophischen Arbeiten.
106 A. Negri, Julius Evola e la filosofia ..., op.cit.
107 Dieses Widerspruch wird auch von Furio Jesi in seinem Buch La cultura di destra (Milano, 1979) als der Grundcharakter des Denkens der Rechtsintellektuellen bezeichnet.
108 Evola, »Sulle ragioni del solipsismo«, in: L’Idealismo realistico, 15. März, 1925 (jetzt in:
Evola, L’idealismo realistico (1924-28), Lami (Hrsg.), S. 71 ff.
109 Evola, »Die drei Epochen der Gewissheitsproblems«, in: Logos, XX, 1931. Übersetzung
von »L’individuo e il divenire del mondo«, (in: Ultra, XIX, Dez. 1925, jetzt in: Evola,
L’individuo e il divenire del mondo, Milano, 1976).
110 Evola unterschied in seinem Essay »Die drei Epochen des Gewißheitsproblems« drei
Phasen der Gewißheit: die ersten zwei Phasen - die der spontanen Identifizierung des
Subjektes mit der Welt und die der Ablehnung der Welt - seien nicht vollkommen, weil
sie von der Spontaneität regiert würden. Das Individuum sei in diesen Situationen passiv
der Welt gegenüber. Es sei nur in einer negativen Bedeutung frei, d.h. obwohl es nicht
von Außen determiniert werde, verwandele es die Welt nicht durch seine Taten. Es »bezieht sich tatsächlich auf jenes Wirken, durch welches man die Dinge perzipiert und dann
ins System des Erkennens einordnet. Doch ist ein solches Wirken, wenn auch notwendige
Bedingung für jede Wirklichkeit, insofern sie für uns sein soll, nicht genügende Bedingung. In der Tat wird bei der vorstellenden Tätigkeit in engeren Sinne das Reale nicht
vom Möglichen beherrscht, das Ich bleibt passiv den eigenen vorstellenden Handlungen
gegenüber: nicht so sehr, daß es die Dinge bejaht, sondern, daß sich sozusagen die Dinge
in ihm bejahen.« (Evola »Die drei Epochen ...«, op.cit.) Die dritte Epoche stelle die
Überwindung dieser partiellen Form der Erkenntnis dar und entspräche dem absoluten
Idealismus.
111 Ebd. 410.
112 Ebd. 412.
113 Ebd. 413.
114 Evola, »L’idealismo dell’insufficienza«, in L’Idealismo realistico, 2, 15 Dez. 1924, jetzt
in ders., L’idealismo realistico ..., op.cit., S. 37 ff.
115 Evola, »Dioniso«, in Ignis, 11-12, Nov./Dez. 1925 (jetzt in: L’individuo e il divenire del
mondo op. cit., S. 72). Dieser Essay Evolas wurde stark beachtet und in der zweiten
Nummer (Winter 1926-27) der von Massimo Bontempelli und Curzio Malaparte geleiteten Zeitschrift »900« unter dem Titel »Par delà de Nietzsche« veröffentlicht.
116 Ebd., S. 86.
117 Ebd., S. 89.
118 Ebd., S. 90-91.
119 Ebd. S. 95.
223
120 Evola, Il cammino del cinabro ..., op.cit., S. 39 ff.
121 Auch die Gefühle seien eine entsprechende Reduktion des Anderen zum Ich: »Was ist
tatsächlich die Liebe, wenn nicht eine Selbst-Eroberung in dem Anderen, wo es aber von
dem ›Anderen‹ als solchem gelöst wird (als etwas Fremdes und Externes), um es im Prinzip des Ichs wiederaufzunehmen?« (in Evola, »Sulle ragioni del solipsismo«, in Idealismo
realistico, II, 6-7, jetzt in: ders. Idealismo realistico ..., op.cit., S. 77).
122 vgl. Evola, »La donna come cosa«, in: Ignis, 1-2, Jan./Feb. 1925.
123 Vgl. Ugo Spirito, »Rassegna di studi sull’idealismo attuale«, IV, in, Giornale critico della
filosofia italiana, N. 4, April, 1927 (jetzt in Spirito, »L’idealismo italiano e i suoi critici«,
Firenze, 1930); Negri, Julius Evola e ..., op.cit.
124 Evola, Heidnischer Iperialismus, Leipzig, 1933, S. 27 (Or. Imperialismo pagano, 1928,
Roma).
125 Evola, »Le ragioni del Solipsismo«, op.cit., jetzt in: Idealismo realistico ..., op.cit. S. 73.
126 Die vielen Verweise Evolas auf Nietzsche hinsichtlich der Ablehnung der bürgerlichen,
christlichen und sozialistischen Moralität sollten nicht die grundlegenden Unterschiede
der zwei Autoren verstecken (vgl. contra Melchionda, »Il volto di Dioniso«, Roma,
1984). Evola wie Nietzsche wollten die bürgerliche und christliche Moralität zerstören,
um eine neue transzendentale metaphysische Moralität zu schaffen; dennoch ist Evolas
Vision von der magischen und esoterischen Praxis geprägt, was mit der Deutung des
deutschen Philosophen unversöhnbar ist. Auch Evolas Auffassung des Ichs orientiert sich
eher am solipsistischen Individualismus Stirners als an der Deutung Nietzsches. (vgl.
auch Jellamo, »Il pensatore della tradizione«, in, Ferraresi u.a., La destra radicale, Milano, 1984).
127 Ebd., S.34
128 Mit Guénon und seinem Schüler De Giorgio hatte Evola persönliche Kontakte (vgl.
Evola, »La mia corrispondenza con Guénon«, in, La destra, Mars, 1972; Evola, Il cammino ..., op.cit.). Mit De Giorgio war er sogar befreundet; sie arbeiteten an der von Evola
geleiteten Zeitschrift »La Torre« zusammen.
129 Bonald und De Maistre waren die Vorbilder für seine Theorie der sakralen Monarchie;
andererseits waren auch Moeller van der Bruck, Spengler, Rosenberg, Jünger, Othmar
Spann, Walter Heinrich und die Rassentheoretiker (Chamberlain, Gobineau) wichtige
Quellen für Evola.
130 Zur Beziehung zwischen der Auffassung Evolas und jener Guénons vgl. Di Vona, Evola e
Guénon. Tradizione e civiltá, Napoli, 1985.
131 Evola, »Appendice«, in: ders. Imperialismo pagano ..., op.cit., S. 152.
132 Vgl. Evola, Revolte gegen die moderne Welt, 1982, Interlaken, S. 17 ff., S. 29 ff.
133 Der Ausdrück stammt aus Evolas späterem Buch Cavalcare la tigre.
134 Ich benutze das Wort »männlich«, weil die Macht für Evola eine virile Eigenschaft ist.
Die Frauen sind nicht nur kein Teil der Elite, sondern auch das Gegenprinzip der traditionellen und positiven Ordnung. Was die Betrachtung der Opposition weiblich/männlich
angeht, wurde Evola von Otto Weininger und dessen Buch Geschlecht und Charakter
(1917) stark beeinflußt.
224
135 Evola, Heidnischer ..., op.cit., S. 64 ff.
136 Siehe u.a. Rosenberg A., Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München, 1932.
137 Seine Kritik an Rosenbergs Buch basiert auf zwei Punkten: zum einen, daß keine Bewertung der Kultur von einer reinen Zugehörigkeit zu einer Rasse abgeleitet werden könne,
da die biologische Rasse nur eine der Komponenten zur Erklärung der Dekadenz oder der
Beherrschung eines Volks sei; zum andern, daß die italienische Rasse ihre Ursprung in
den nordischen Rasse habe (vgl. Evola, »Il mito del nuovo nazionalismo tedesco« in: Vita
nova, Nov. 1930).
138 Evola, Heidnischer Imperialismus ..., op. cit. S. 5 ff.
139 Nach Evola, der sich auf die Konzeption Bachofens bezieht, existiert kein Bruch zwischen Geschichte und Mythos; der Mythos ist eine Metapher, welche die wahre Bedeutung der Geschichte enthält und überträgt (Evola, Revolte gegen die moderne ..., op.cit., S.
17 ff.).
140 »Der Faschismus - sagte uns einmal Curzio Suckert - ist Antieuropa. Wäre er das! Wollte
er so sein!« (Evola, »Fascismo antifilosofico«, in: Critica fascista, 15 Juni, 1927).
141 Evola, Heidnischer Imperialismus ..., op. cit. S. 5 ff.
142 Evola, Heidnischer Imperialismus ..., op.cit.
143 Ursprünglich hätten im goldenen Zeitalter die sakralen Könige regiert; im zweiten Zeitalter werde die sakrale Macht von der weltlichen Macht getrennt, die zweite Kaste der
Krieger und der König käme an die Macht (Mittelalter, insbesondere Zeit der Hohenstaufen); im dritten (Aufklärung, französische Revolution) sei der dritte Stand der Bürger und
der Händler Herrscher; im vierten (mit dem Bolschewismus und der Massengesellschaft)
regieren die Massen (Evola, Heidnischer Imperialismus ..., op.cit.).
144 Evola, »Stirpe e spiritualità«, in: Vita Nova, Juli, 1931.
145 Und weiter: »Und aus diesem Grund ist die liberale und demokratische Ideologie, pour
cause, eine jüdische Ideologie« (Evola, »Sulle ragioni dell’antisemitismo«, in: Vita nova,
August 1933).
146 Das ist Evolas Position in der Zeit bis 1933. Danach sind auch bei ihm einige Veränderungen bemerkbar, obwohl seine Theorie immer auf einem spirituellen Rassismus begründet blieb.
147 Insbesondere Autoren der nuova destra (neue Rechten, eine gegenwärtige Rechtsbewegung), wie Marco Tarchi (»Introduzione« in Evola, Diorama filosofico, Roma, 1974);
Marcello Veneziani (Veneziani, Julius Evola tra filosofia e tradizione, Roma, 1984), unterstreichen den unpolitischen Charakter Evolas (die sogenannte ›Apolitia‹, die aber nur
in der Nachkriegszeit von Evola vertreten wurde). Es ist bemerkenswert, daß die gegensätzliche Bewertung dieser Eigenschaft der Werke von Evola meistens von Interpreten
stammt, die keine Angehörige der Rechtsbewegungen und manchmal sogar Experten der
Phänomen der Rechtsbrigaden sind (wie zum Beispiel Franco Ferraresi; Furio Jesi; Marco
Revelli; Christoph Boutin).
148 Evola, Cavalcare la tigre, 1961, Milano.
149 »Traditionell legitime« Gruppen waren laut Guénon nur diejenigen, die eine direkte
Verbindung zu den traditionellen Prinzipien hatten und die ursprünglich sakrale Doktri-
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nen übertrugen, d.h. die katholische Kirche, weil sie auf das Wort Gottes verweise und direkt von einer alten Religion herstamme, und die Freimaurerei, weil sie teilweise auf der
Tradition des mittelalterlichen Ritterstands beruhe.
Vgl. u.a. Di Vona, Evola e Guénon ..., op.cit.; ders., »R. Guénon e il pensiero di destra«,
in: Hermeneutica, 6, 1986; Evola, »La mia corrispondenza con Guénon« in: La destra ...,
op.cit.; Robin, » ›La contreinitiation‹ selon Guénon et Evola«, in: Politica Hermetica, 1,
1987.
Evola, »Cose a posto e parole chiare«, in: ders., La torre, op.cit., S. 177.
Evola, »Stato, potenza e libertà«, in: Lo stato democratico, 7, I. Mai 1925.
Ebd.
»Introduzione a Ur«, in Ur. Rivista di orientamenti per una scienza dell’io, 1, 1928, jetzt
in: Evola, Introduzione alla magia, Roma, 1971.
Evola, »Il valore dell’occultismo nella cultura contemporanea«, in: Bilycnis, XVI, Nov.,
1927, jetzt in: Ders., I saggi di Bilycnis, Padova, 1970, S. 71.
Ebenda, S. 72.
Ebenda, S. 90
In: Critica Fascista, V, 12, 15 Juni, 1927.
In: Critica Fascista, V, 24, 15 Dez., 1927. Die Texte der zwei Artikel wurden 1928 in
seinem Buch Imperialismo pagano zusammengestellt, das 1933 von Friedrich Bauer unter
dem Titel »Heidnischer Imperialismus« ins Deutsche übersetzt wurde.
»Krur« wurde 1928 von Evola gegründet, nach einer starken Auseinandersetzung mit
Reghini. Sie war die Fortsetzung von »Ur«.
Evola, »Das Doppelantlitz des Nationalismus«, in: Europäische Revue, 1932, B. 8.
Vgl. Evola, »Cultura e stile di vita fascista«, in: Vita nova, Januar, 1932.
Evola, in: Imperialismo pagano ..., op.cit., S. 11. In der deutschen Version existiert diese
Stelle nicht.
Dem Anhang zu Imperialismo pagano - nicht in der deutschen Übersetzung - sind die
Liste der Reaktionen auf diesen Essay und die Antworten Evolas beigefügt.
Evola, »Das Doppelantlitz ...«, op.cit. In dieser Zeit war die organische Auffassung des
Staates im Wiener Kreis um Walter Heinrich und Othmar Spann - mit letzerem pflegte
Evola persönlichen Kontakt - eine alternative Vision der Aufgabe des Faschismus. Evola
und Carlo Costamagna führten diese Literatur im intellektuellen italienischen Milieu ein.
(vgl. O. Spann und W. Heinrich, Lo stato organico, Rom, 1997; Evola, Lo stato, Lami
(Hrsg.), Rom, 1995). Auch die elitäre Auffassung Evolas und der Primat der Politik gegenüber der Ökonomie sind Themen, die von Spann und Heinrich entwickelt wurden.
Evola, »Das Doppelantlitz des Nationalismus«, op.cit.
Ein Beispiel dafür ist das Abkommen mit der Kirche. Es zu unterstützen könne nur gerechtfertigt werden, wenn es ein Schein-Abkommen wäre, um die Massen und die Kirche
zu unterjochen, behauptete Evola in Heidnischem Imperialismus.
Evola, Heidnischer Imperialismus ..., op.cit., S. 29-30.
169 Was Stapel in seiner Rezension von »Heidnischer Imperialismus« (in: Deutsches Volkstum, 9. 1934) kritisierte: die Trennung von König und Volk sei der deutschen Tradition
fremd, weil dort der Führer immer schon »erster Diener« des Volkes gewesen sei.
170 Evola, Anhang in Imperialismo pagano ..., op.cit., S. 160.
171 Evola, »Cose a posto ...«, op.cit., S. 176.
172 »L’Arco e la clava« in La Torre, 8, 15 Mai, 1930; Evola, »La grande e la piccola guerra
santa«, in, La Torre, 10, 15 Juni, 1930, jetzt beide in Evola, La torre, op.cit., S. 312 ff.;
S. 355 ff.
173 Evola, »La consacrazione dei re e lo spirito santo«, in La torre, 6, 15 April, 1930 (Jetzt in
Evola, La torre, S. 224 ff.); Peg, »Dizionario etnico«, Ebda., 7, 1 Mai, 1930 (Ebenda,
S. 257 ff.); C. Rossi di Lauriano, »Spirito aristocratico e casta aristocratica«, Ebda., 8, 15
Mai, 1930 (Ebenda, S. 185 ff.); »L’arco e la clava«, ebd., 1 Juni, 1930, (Ebenda, 347 ff.).
174 Obwohl häufig die Übereinstimmung beider bei Evola zu finden ist; vgl. »L’arco e la
clava«, in ebd., 1 Juni 1930 (Ebenda., S. 347 ff.).
175 vgl. Evola, » ›Cultura‹ stile di vita e stile fascista«, in: Vita nova, Januar, 1932.
176 Evola, »Il fascismo quale volontà d’impero e il cristianesimo«, in: Critica fascista,
15. Dez., 1927.
177 Evola, »Cultura e rivoluzione fascista integrale«, in: Vita nova, Feb., 1933.
178 »L’arco e la clava«, 2, 1 Mars, 1930, jetzt in Evola, La torre, op.cit., S. 90 ff.
179 Evola, »Carta d’identità«, in: La Torre, 1, 1 Feb. 1930, jetzt in: Evola, La torre, op. cit.,
S. 43.
227
Schlußbemerkungen
Die »Integralisten«, die »Reinen«, die »Wilden«, die »Superfaschisten« sind
der Gegenstand der vorangegangenen Kapitel. Herausgestellt wurden ihre
Ansprüche an eine reine Entwicklung des Faschismus, der ohne Kompromisse und Verzögerung eine neue Welt und Kultur schaffen sollte; ihre fanatische Kritik an allem, was mit den verhaßten liberalen und demokratischen
Institutionen verbunden war; ihr Kampf gegen die okzidentale Kultur und die
moderne Welt; ihre strenge Trennung zwischen Gut und Böse, Rein und
Unrein; ihre utopische Vision einer kompletten und zerstörenden Gegenrevolution; und insbesondere ihr Anspruch an die »Absolutheit«, an die »Reinheit« und an die »wahre« Interpretation des Faschismus. Die »Reinen« waren
keine antifaschistischen Gegner des Regimes: Sie verwiesen entweder auf
die ursprünglichen Wurzeln des Faschismus, auf die Bewegung von 1919,
die von diesem absoluten Streben nach einer radikalen Veränderung gekennzeichnet war, oder sie beriefen sich auf eine höhere Tradition der Rechten
(Evola). Sie verherrlichten den squadrismo, als ein gewalttätiges und »edles«
Element und als Träger des originären, faschistischen Geistes; wenn sie
Mussolini und Gentile bekämpften, taten sie dies vom Standpunkt einer
Idealvorstellung des Faschismus und der Revolution aus, die noch vom Faschismus vollendet werden sollte. Somit stellten sie sich als Interpreten und
Verteidiger der Reinheit der faschistischen Prinzipien dar, an dessen Modell
sich die politischen Spiele und Strategien orientieren sollten, was eine ideologische Konkurrenz der Integralisten zum Führer des Faschismus zur Folge
hatte. Aus verschiedenen Gründen betrachteten sowohl Mussolini als auch
die faschistischen Politiker und Intellektuellen der Zeit diese »Rettungsversuche« als besonders gefährlich und drängten die Integralisten und Evola an
den Rand.1 Diese ließen sich – und lassen sich noch heute – in keine der
verschiedenen Strömungen innerhalb des orthodoxen Faschismus einordnen.
228
Ihre Existenz stellte eine Bedrohung dar, die mit dem stabilitätsgefährdenden
Potential der Diskussionen der revisionisti oder der Aktualisten nicht verglichen werden kann. Dies liegt weniger am polemischen und gewalttätigen
Charakter der Attacken der Integralisten und Traditionalisten, als an ihrer
komplexen und anspruchsvollen Vision, die sie nicht nur auf die Politik,
sondern auch auf die Kultur und die umfassende spirituelle Entwicklung der
Menschheit projizierten.
Die Radikalität ihres Denkens und ihrer Kritik waren wesentlich mit einer
Geisteshaltung verbunden, die sie als Nachfolger des Futurismus kennzeichnet: Ihre totale Vision der Gegenrevolution. Mussolini, der Faschismus und
sogar die Politik waren nur untergeordnete Momente, nur Mittel, um eine
neue Gesellschaft zu erschaffen und der Modernität den Weg zu versperren:
Die Revolution sollte weder rein politisch und noch rein kulturell sein, sondern eine Veränderung der Einzelnen bewirken und ihre bisherigen Lebensauffassungen zerstören. Der Utopismus kennzeichnete die kulturelle und
die politische Vision Suckerts und Maccaris, in der sie ihre konfusen Ideale
auf die Wirklichkeit projizierten. Der Faschismus sollte zum Beispiel laut
Suckert nicht danach bewertet werden, was er wirklich war, d.h. nach seinen
politischen, aktuellen Strategien, sondern als eine ideale Weiterentwicklung
des unterdrückten italienischen Geistes angesehen werden, die relativ unabhängig von der Politik Mussolinis sei. Demgemäß dürften auch die Fehler
und die Mängel des realen Faschismus nicht als feste, sondern verbesserungsfähige Bestandteile verstanden werden. »Die Dinge, die Ereignisse und
die Personen erhalten auf diese Art eine Bedeutung, welche über die Grenzen
der unmittelbaren Taten hinausgeht und die zufälligen Aspekte in historische
Aspekte verwandelt.«2
Die neue Kultur und Politik brachten die Zerstörung aller Perspektiven
und Denkarten mit sich, so daß selbst die Begriffe der Kultur und Politik eine
unterschiedliche Bedeutung gewannen. Die Gegenrevolution war die Voraussetzung für die Bildung des neuen Menschen. Der Bruch mit der dekadenten, alten, demokratischen Gesellschaft wurde von den hier untersuchten
Integralisten als die Revolution definiert, von Evola als Initiation der Eliten,
die eine Revolution – im Sinne von re-volvere, zurückkehren – ermögliche.
Der wesentliche Aspekt der beiden Begriffe, Revolution und Initiation, wurde in der Veränderung durch moralische und ästhetische Kategorien gesehen:
Die Veränderung wirkte nicht auf die materiellen Bedingungen und Mittel,
229
sondern auf den Geist. Die totale Revolution, nach der diese Intellektuellen
strebten, war außerdem mit ihrer Selbstdarstellung – und zwar mit der Darstellung ihres Engagements und ihrer Arbeit – verknüpft. Sie wollten als
Künstler, Literaten, Philosophen und gleichzeitig Politiker (oder besser als
Berater von Politikern) betrachtet werden3, da ihre Vision alle menschlichen
Lebensansichten berührte. Diese Vorstellung umfaßte nicht nur die Umkehrung der Werte der modernen Gesellschaft, sondern auch der Methoden der
Wissenschaft und der Darstellung der Kunst und der Politik. In einer totalen,
alles umfassenden Theorie lösten sich alle Unterschiede und Sphären der
Moderne auf: jene zwischen Wissenschaft und Politik, Kunst und Alltagsverstand, Privatheit und Öffentlichkeit, Religion und Ästhetik. Der Grundunterschied in der Politik – die Links-Rechts-Polarisierung – verschwand: Bolschewismus und Faschismus waren ähnliche antidemokratische Revolutionen, und die Modernität im Sinne Suckerts, die einen »antiklassizistischen,
friedenbringenden nationalen Syndikalismus« hervorbringen würde, war
Nachfolger des Sozialismus. Kapitalismus und Sozialismus waren nach
Evola zwei vergleichbare Krankheiten, »die zwei Gesichter ein und derselben Sache«4, welche die Dekadenz des Westens zeigten. Ähnlich sahen es
auch Maccari, Settimelli und Carli.5 Ein »mystisches Kriterium«6 lag ihrer
Auffassung zugrunde, das die Unterschiede und Trennungen verschwinden
ließ. Der spirituelle und metaphysische Charakter ihrer utopischen Vision
war mehr oder weniger artikuliert und bewußt gewählt: von Maccari, der viel
konkreter auf die Probleme der Zeit verwies, über Settimelli und Carli, die
nach der Wiederherstellung der römischen Werte und Mentalität im politischen Reich strebten, über Suckert, der eine Theorie der Geschichte und der
Politik auf der Entwicklung der mythischen Mentalität und Zivilisation aufbaute, bis hin zu Evola, der die metaphysische Auffassung der Tradition als
Ordnungsprinzip und als Wissen entfaltete. Bei Suckert und Evola herrschte
ein metaphysisches Prinzip, das schon bei de Maistre den zentralen Punkt der
Theorie der Wiederherstellung der Tradition darstellte.7 Es wurde von den
Integralisten und von Evola übernommen und weiterentwickelt. »Metaphysisch« verwies bei ihnen auf keinen philosophischen Begriff der westlichen
Denktradition, sondern auf ihre Idealvorstellung der Form der utopischen
Gesellschaft und des Lebens in ihr. Diese werde nicht von materiellen und
konkreten Veränderungen hervorgebracht, sondern durch eine geistige Erneuerung, welche zum Gehorsam gegenüber einem nicht materiellen (hier als
230
»metaphysisch« bezeichneten) Prinzip führte, d.h. einer »höheren Form«,
welche die Gesellschaft prägte und sie verwandelte. Nicht durch materielle
Faktoren ließ sich laut Suckert die Dekadenz der modernen Gesellschaft
überwinden, welche nur durch die Wiederherstellung der dogmatischen und
mystischen Mentalität des Mittelmeers eine neue Harmonie gewinnen könnte.8 Die metaphysische Haltung bedeutete für Evola, die Wirklichkeit von
einer höheren Ebene erfassen zu können, um die wahren, nicht evidenten
Regelungsprinzipien zu entdecken. Die wissenschaftlichen Methoden werden
hier umkehrt: Die Realität soll nach einem metaphysischen Prinzip gemessen
werden und sich diesem anpassen.
In den systematisch artikulierten Versionen dieses Denkens (bei Suckert
und Evola) existierten kein Wirklichkeitskriterium, keine Wissenschaft und
schließlich auch keine Politik. Im Gegensatz zu modernen westlichen, wissenschaftlichen Methoden sollte alles mittels metaphysischer Axiome beurteilt werden. Mit dem Begriff der Wissenschaft wurde die rationale Haltung
und der »Mythos« der Aufklärung als oberflächliche und lügnerische
Selbsttäuschung der modernen Gesellschaft denunziert.9 Die kritische moderne Haltung und das Emanzipationsstreben wurden gar als Produkte der
Unterwanderung durch fremde Kräfte der nordischen (Suckert) oder der
christlich-jüdischen Mentalität (Evola) verstanden, die aus der italienischen
Kultur entfernt werden müßten. Der »Mythos des Fortschritts« wurde
schließlich als eine Lüge und eine Illusion bezeichnet.10 Die Ablehnung der
Rationalität führte aber nicht zum Irrationalismus, sondern nur zur Ablehnung der modernen Rationalität11 und zur Entdeckung ihrer »anderen« Dimension, die auf den Mythen und der Intuition basierte, und eines Wissens,
das bei Evola schon Sein war und die direkte Entwicklung des Subjektes auf
einer höheren Ebene bewirkte (die Initiation), das das Individuum mit der
Tradition verband und die Vernichtung seiner vorherigen falschen Kenntnisse voraussetzte: »Die Tradition beginnt dort, wo es mit der Erlangung eines
überindividuellen und nicht rein menschlichen Standpunktes gelingt, sich
über das alles [das moderne Wissen] zu stellen ... Am Diskutieren und ›Beweisen‹ liegt uns daher wenig. Die Wahrheiten, die die Welt der Tradition
verstehen lassen, sind nicht jene, die man ›erlernt‹ oder über die man ›diskutiert‹. Entweder sind sie oder sind sie nicht.«12
Die Abschaffung der Trennung zwischen den Rollen und den Sphären,
die mit der Modernität eingeführt wurden, zog auch die Abschaffung eines
231
»politischen« Projekts nach sich. Die Politik war bei diesen Autoren keine
getrennte Tätigkeit oder Sphäre, sondern nur Teil der menschlichen Tätigkeiten, die alle unter dem Druck der neuen Gegenrevolution und unter der
Voraussetzung der Bildung einer neuen Gesellschaft eine entsprechende
andere Bedeutung erhielten. Der zentrale Gegensatz bestand nicht so sehr
zwischen Faschismus oder Sozialismus als vielmehr in der Alternative zwischen der modernen und der traditionellen Gesellschaft, unter der sich alle
anderen Gegensätze – Gleichheit versus Hierarchie, Demokratie versus Oligarchie usw. – subsumieren ließen; ein Gegensatz, der »vielmehr ideeller als
historischer Natur ist, also morphologischer und sogar metaphysischer
Art«.13 Der offizielle Faschismus war in diesem Sinne für Evola zu wenig
und ein nicht perfektes Instrument, da die unterschiedlichen bürgerlichen und
veralteten Komponenten des Regimes die Durchführung der »wahren« Revolution verhinderten. Der Faschismus, diese »Rache« der Kultur des Mittelmeeres an der Modernität, war auch für Suckert von den korrupten und
dekadenten Elementen und Persönlichkeiten des alten Regimes verdorben.
Um ihn zu retten und das wahre Projekt der totalen Lebensveränderung wiederzuentdecken und zu verwirklichen, plädierten die Integralisten und Evola
für eine Säuberung.
Eine Säuberung fand dann auch statt, aber sie richtete sich gegen die Befürworter der Reinheit. Die Herausforderung der Integralisten konnte Mussolini nicht akzeptieren, da er seine Macht auf den Kompromissen mit den
regierenden Klassen – den Feinden der Integralisten und Evolas – aufgebaut
hatte. Es ist bekannt, daß der Faschismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus weniger strukturiert war.14 Er stellte die Praxis über die Doktrin und
die Ideologie und benutzte Visionen, Darstellungen und Ideale des ganzen
politischen Spektrums, unabhängig von ihrer ideologischen Herkunft. In
dieser Hinsicht war der Faschismus teilweise eine Weiterentwicklung der
Moderne15 wie auch eine Reaktion gegen sie. Die »revolutionäre Rechte«16
benutzte Techniken zur Massenmobilisierung und die ideologischen Argumente des Sozialismus, um ein totalitäres System durchzusetzen und die
Macht und Kontrolle über die Gesellschaft zu zentralisieren. Das »andere
Denken«17 der Integralisten und der Traditionalisten war nicht nur deshalb
bedrohlich für das Regime, weil es auch gegen einen wesentlichen (modernen) Teil von ihm gerichtet war, sondern primät, weil es jenseits einer Kritik
an einzelnen Institutionen oder Praktiken eine »unterschiedliche Art zu den232
ken« und damit die totale Umwertung der modernen Werte einforderte. Dem
hybriden Charakter der faschistischen Ideologie stellten die Integralisten,
aber insbesondere Evola, die klare Eröffnung einer neue Perspektive gegenüber, die keine reine Doktrin bleiben, sondern ein soziales und moralisches
Projekt werden solle.
Die gravierende Spaltung: der Typus des Rechtsintellektuellen
Die Auseinandersetzung zwischen den faschistischen und den radikalen Auffassungen von Politik und Kultur wurde im Rahmen dieser Arbeit als eine
gravierende Spaltung betrachtet, die mit keiner anderen Diskussion innerhalb
der Kultur und der Partei verglichen werden kann. Sie bedeutete die Opposition zwischen einem komplexen und utopischen Projekt auf der einen Seite
und dem Regime mit seinen kulturellen Exponenten auf der anderen Seite.
Die Spaltung im intellektuellen Feld zwischen den Integralisten und den
Revisionisten/Aktualisten/Nationalisten ereignete sich zur gleichen Zeit wie
jene zwischen faschistischen und antifaschistischen Intellektuellen und diejenige im politischen Feld zwischen den intransigenti und Mussolini. In der
Logik und der Geschichte der Politik und der Kultur kam dieser Moment im
politischen Feld der Strukturierung des Faschismus, und im intellektuellen
Feld dem Anfang der Kontrolle und der Zensur, d.h. des Überganges von
einer relativen Autonomie zu einer relativen Heteronomie, gleich. Die Reaktion der ursprünglichen Bewegung gegenüber der Konversion und neuen
Organisation der Partei fand ihren Ausdruck im Protest der intransigenti:
ihre Forderungen nach Rückkehr zum ursprünglichen Faschismus, nach Entfernung der neuen Faschisten und Vollendung der Revolution, die insgesamt
als »zweite Welle« definiert wurden, lassen sich als Kampf um den Erhalt
der Positionen der »alten Faschisten« in einer Partei deuten, die ihnen zunehmend fremd wurde, da sie ihre Physiognomie verändert hatte18 und vom
Staat allmählich absorbiert worden war. Im intellektuellen Feld drückte sich
die Opposition der Integralisten in der Verteidigung der ursprünglichen,
futuristischen Ideale und Revolte gegen die neuen liberalen Intellektuellen
aus, die eine immer wichtigere Position im Regime gewannen. Es war die
Reaktion gegen den Konformismus der faschistischen Kultur, welche die
233
revolutionäre und totalitäre Auffassung der Avantgarde verworfen hatte und
die Verbindung mit ihr leugnete. Zugleich war es auch der Protest gegen den
heterogenen Charakter dieser Kultur und der Kampf zur Wiederherstellung
der »totalen« Idee der Kultur und des Intellektuellen.
Reinheit des Faschismus, Revolution in der Kultur, dies waren die
Schlagworte der intransigenti im politischen und der Integralisten im intellektuellen Feld in ihrem Kampf um die Definitionsmacht dessen, was als
»wahrer Faschismus« zu gelten habe. Für beide war der Charakter der Authentizität durch die »Nähe« zum Ursprung bestimmt: Der reine Faschismus
sei die ursprüngliche Bewegung gewesen, so wie die revolutionäre und wahre Kultur die Rückkehr zur ursprünglichen Kultur des Mittelmeeres oder des
Landes (der »Provinzen«) darstellte. Zwei Gründe liegen der Homologie
zwischen den Randposition der intransigenti und jener der integralistischen
Intellektuellen zugrunde. Der erste ist ein methodologischer: Das Zusammentreffen von Integralisten und intransigenti bedeutete keine direkte Übertragung der politischen Anforderungen auf das intellektuelle Feld, da dieses
bis 1925 relativ unabhängig blieb. Durch das Unabhängigkeitsverhältnis
allein lassen sich aber die Wechselwirkungen und die Interaktionen der zwei
Felder nicht erfassen, die für diese Arbeit wesentlich sind und der kulturellen
und politischen Auseinandersetzung der integralistischen und traditionalistischen Intellektuellen zugrunde lagen. Der zweite Grund besteht in der Entdeckung gemeinsamer Aspekte und Lagen, die zum Treffen der intransigenti
mit den Integralisten führten. Unter Aspekten wurden hier die Themen und
unter Lagen die Kämpfe und Diskussionen verstanden, die ihre Positionen
bedingten. An ihrem Kampf gegen die normalizzatori und ihrer subversiven
Haltung konnte ihre konkrete Randposition innerhalb der jeweiligen Felder
ebenso nachgewiesen werden wie die Relevanz des politischen Engagements
dieser Intellektuellen, die eine praktische Rolle in den politischen Debatten
der Zeit spielten. Sie stellten eine Herausforderung und Bedrohung dar, da
sie eine reale politische und kulturelle Alternative zu Mussolinis Regime und
zur Definition des Faschismus seitens Gentiles und seitens der revisionisti
bieten wollten und ihre kulturellen Subversionsbemühungen eine politische
Basis (die intransigenti) gefunden hatten.
Diese Arbeit versucht zudem, die verbreitete Ansicht zu widerlegen, daß
die Existenz der Intellektuellen nur als »Anwalt des Universellen«, als Verteidiger der Menschenrechte und Gerechtigkeit gegeben sei – ein Modell, das
234
in idealtypischer Weise von den Persönlichkeiten der Dreyfus-Affäre verkörpert wird. Der Intellektuelle der Rechten wird in dieser Betrachtungsweise
oft ignoriert oder ohne weitere Untersuchungen in der allgemeinen Definition des konservativen Intellektuellen erfaßt. Diese Definition des konservativen Intellektuellen als einzige Kategorie scheint zu allgemein: Gentile, Rocco, Bottai, Marinetti, Suckert und Evola ein und derselben Gruppe zuzurechnen, heißt ihre thematischen sozialen und politischen Unterschiede sowie
ihre Diskussionen und Kämpfe zu vernachlässigen. Außerdem läßt sich nach
den Kriterien der Radikalität und des antimodernen Strebens – was »anders
Denken« genannt werden kann – eine klare Unterscheidung in zwei Gruppen
treffen, die trotz ihres persönlichen und individuellen Charakters die Definition zweier Typen des Rechtsintellektuellen ermöglicht.
Die hier betrachteten radikalen Rechtsintellektuellen waren keine konservativen Intellektuellen, die eine herrschende Position im herrschenden Feld
verteidigten. Sie standen am Rand, im politischen wie im intellektuellen
Feld. Außerdem stammten sie aus kleinbürgerlichen Familien und verfügten
über keine dominierende Stellung, deren Werte und »Glauben« sie verteidigen sollten. So ist die in der Theorie Bourdieus für die konservativen Intellektuellen bestimmende trajectoire croisée, die »gekreuzte Bahn«, kein Attribut ihrer Position. Sie kämpften nicht um ein Gleichgewicht zwischen
ihrem Streben nach einer herrschenden Position im intellektuellen (relativ
beherrschten) Feld und ihrer Zugehörigkeit zur herrschenden Position im
politischen (herrschenden) Feld. Aus diesem Grund war ihre Strategie nicht
darauf ausgerichtet, den »Konservatismus auf erster Stufe« der Herrschenden
im politischen Feld zu bekämpfen und gleichzeitig den intellektuellen Werten und Regeln die »einfachen Wahrheiten« und den politischen Realismus
entgegenzusetzen, um ihre Ausdifferenzierung von den Herrschenden im
politischen und gleichzeitig im intellektuellen Feld zu erreichen – was Bourdieu als Strategie der »doppelten Distanz« bezeichnet.
Ihre Position im politischen Feld entsprach jener des Kleinbürgertums,
das eine relativ unorganisierte und mit alten Produktionsmethoden und Werten verbundene soziale Kraft war, die zwischen der herrschenden kapitalistischen Hochbourgeoisie und der in diesen Jahren immer besser organisierten
Arbeiterklasse »erdrückt« wird. Das Kleinbürgertum mit seinem Streben
nach einem »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus und nach
einer Revolution, die gleichzeitig die Rückkehr zur traditionellen Gesell235
schaft sein sollte, wird der Protagonist der faschistischen Bewegung und
wirkt an seinem Projekt mit. Dieses Kleinbürgertum wurde später allmählich
an den Rand geschoben, als Mussolini sich den konservativen und herrschenden Kräften zuwandte und das entsprechende konservative intellektuelle »Personal« – z.B. Giovanni Gentile und Alfredo Rocco – förderte. Während sich viele dieser Persönlichkeiten in Bourdieus Kategorie der »konservativen Intellektuellen« einordnen lassen, stellen die radikalen Rechtsintellektuellen ein gegenteiliges Modell dar – und sie waren deren größte Feinde
und Opponenten.
Vor der Beschreibung der besonderen Kennzeichen des Typus der radikelen, integralistischen und traditionalistischen Rechtsintellektuellen sei
noch einmal an die Definition dieses »Intellektuellentypus« Bourdieus erinnert, die dieser Arbeit zugrunde liegt: er sei »jemand, der in der Gelehrtenrepublik über Autorität verfügt, im Bereich der Politik intervenieren kann, und
zwar nicht nach Art eines Politikers ..., sondern eben als Intellektueller, mit
einer intellektuellen Autorität, die der Intellektuelle zum Teil gerade der
Tatsache verdankt, daß er nicht Politik treibt, sondern ›interessenlos‹ ist,
›rein‹ ist, daß er transzendente Werte hat etc.«19 Das intellektuelle Engagement der Integralisten und der Traditionalisten läßt in dieser Hinsicht keine
Zweifel an ihrer Kategorisierung als Intellektuelle aufkommen. Es ist genau
ihr politisches Engagement als Träger eines höheren Wissens, das nicht politisch spezialisiert ist, und ihre totale – oder bei Evola metapolitische – Auffassung der intellektuellen Tätigkeit und der kulturellen Revolution, die ihre
besondere Rolle in der Kultur der Zeit und auch ihre Randposition verursachen und kennzeichnen. Ihr politisches Engagement läßt sich von ihrer kulturellen Tätigkeit nicht trennen, so wie ihr politisches Projekt nur Teil ihrer
gesamten Utopie zur Veränderung des Lebens ist. Die Selbstdarstellung als
Intellektuelle wird deswegen mit dem politischen Engagement verknüpft, so
daß die Kritik der intellektuellen Methoden und die Apologie der »neuen«
traditionellen Kultur mit ihrem Projekt der politischen Erneuerung verschmilzt. Diese Intellektuellen waren aber nicht einfach »antiintellektuelle
Intellektuelle«, die der Darstellung der Intellektuellen als Verteidiger der
universellen Vernunft zuwiderhandelten – wie z.B. die Protagonisten der
intellektuellen Front gegen Dreyfus.20 Sie predigten die Zerstörung eben
dieser Rationalität und Modernität, so daß sie zuerst antirationale Intellektuelle waren. Aus diesem Grund lehnten sie die Mission und den »Beruf« aller
236
Exponenten der modernen Zivilisation ab – die Intellektuellen eingeschlossen. Ihrer Selbstdarstellung entspricht in diesem Sinne, wie schon gesagt
wurde, das »andere Denken«. Dieses zielte nicht auf die Zerstörung einiger
Institutionen und Praktiken, sondern auf die des ganzen Systems, d.h. der
Modernität und ihrer Kultur. In dieser Hinsicht spiegelte sich ihre politische
Vision in ihren kulturellen Forderungen wider: Die Überwindung des Kapitalismus und des Sozialismus bedeutete gleichzeitig immer die Überwindung
des liberalen und des sozialistischen Modells der Intellektuellen. Diese Konzeption ging gelegentlich mit einer anfänglichen Oszillation der Integralisten
und Traditionalisten zwischen der extremen Linken (Syndikalismus) und
dem Faschismus einher. Entgegen der Wertfreiheit der Wissenschaft, die zu
jener Zeit von den liberalen Intellektuellen des antifaschistischen Manifests
befürwortet wurde, vertraten sie eine totale Auffassung der intellektuellen
Arbeit, die die moderne Trennung der Wissenschaft von der Politik abschaffen sollte. Ihr reiner Faschismus beinhaltete zugleich den Anspruch auf eine
»höhere« und traditionelle Interpretation von Kultur, die sich als ein totaler
»Akt« – ästhetisch und zugleich moralisch und politisch – verstehen läßt.
Der Mission der kommunistischen Intellektuellen als Erzieher21 und als
Träger der politischen hegemonialen Funktion setzten sie den elitären Charakter ihres Wissens entgegen. Sie wollten nicht die Massen erziehen, sondern sie durch Mythen für eine ästhetischen Revolution mobilisieren und für
das »wahre« faschistische Projekt gewinnen. Ein Merkmal ihres Denkens
bestand darin, daß ihr Wissen nicht gelehrt, sondern nur von einer spirituellen Elite gefühlt und geteilt werden könnte. Es ist kein Zufall, daß ihr Ideal
des Menschen der squadrista war, der vielleicht ignorant war, aber die Revolution agiert und »fühlt«. Die von den Integralisten durchgeführte Apologie des »Zusammenfühlens« und der »beau geste«, die höheren Wert als eine
akademische Rede hätten, traf auf diese Art mit dem esoterischen Wissen
von Evola und der Gruppe um »La Torre« zusammen: beide sind nicht zu
lehren oder zu lernen, sondern nur zu fühlen; sie sind ein Sein, indem sie die
Verwandlung des Subjektes und die moralische Entwicklung seines Geistes
erfordern.
Diese Intellektuellen waren entwurzelte: »weder Religion noch politische
Tradition, noch ein berufsständisches Leitbild, noch sonst ein unbestrittenes
Klischee gibt ihnen komplette Modelle für ihre Ich-Findung vor. Sodann: Sie
handeln im politischen Feld, als ob dies ein leerer Raum wäre, in dem man
237
gefahrlos und gleichsam experimentierend neurotische Dekonstruktionstriebe
zum Durchbruch kommen lassen darf.«22 Zusammenfassend ist das Kennzeichen der radikalen Rechtsintellektuellen die Marginalität im politischen und
zugleich im intellektuellen Feld, was ihrem Kampf gegen die existierenden
intellektuellen Modelle und politischen Alternativen entspricht: »erdrückt«
im politischen Feld, als Vertreter des Kleinbürgertums, übertrugen sie diese
Position und die entsprechende doppelte Ablehnung der liberalen und der
sozialistischen Selbstdarstellung der intellektuellen Arbeit in das intellektuelle Feld. Sie stellten die extreme Position dar: Sie bekämpften alle anderen
Denkstile und Projekte und sprachen damit aus einer »rein utopischen« Perspektive, welche der totalen Umkehrung der modernen Zivilisation das Wort
redete. Ihre Ausdifferenzierung wurde von ihrer Suche nach einer Alternative
bestimmt, die auf der »Karte der Möglichkeiten« nicht existierte, sowie von
ihrer Position, die sie gegen alle und an den Rand aller anderen stellte. Was
Antimo Negri über Evola geschrieben hat, läßt sich auch für die Integralisten
bestätigen: »Überholen, Überholen! Man kann, ja man muß sogar überholen«23; das war ihre fixe Idee.
Das traditionalistische Denken
Die radikale Ablehnung der aufgeklärten Rationalität und ihre Randposition
im politischen Feld stellten einen wichtigen Unterschied dieser Intellektuellen zu den konservativen dar und kennzeichneten ihre Auffassung als das
Produkt eines traditionalistischen Denkens. Für sie bedeutet die Apologie der
Tradition nicht die Verteidigung der Privilegien der herrschenden Klassen, so
daß die von Mannheim erarbeitete Kategorie des konservativen Denkens hier
nicht gelten kann.24 Geeigneter hingegen ist Mannheims Definition der traditionalistischen Haltung, die aber bei ihm nur eine psychologische Bedeutung
besitzt. Diese Haltung verwandelten die Autoren, die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, in eine politische und kulturelle Vision: Aus einer reaktiven und formellen Position wurde eine »spirituelle objektive Struktur«, die
sich, ähnlich dem Konservatismus, entwickelte und sich als Produkt von
Kämpfen, Oppositionen und Ausdifferenzierungen konstituierte – was
Mannheim als dynamische Struktur bezeichnete. In der vorliegenden Studie
238
wurden ein Typus und ein Modell für die Entwicklung des radikalen Denkens der Rechten untersucht. Diese historische Denkstruktur verwandelte
sich im historischen Verlauf des Faschismus und gewann dadurch ihre spezifische Gestalt, was implizit die Hypothese Noltes über das Denken der
Rechten in Frage stellt. Die Rechte wurde von ihm als eine ideenhistorische
Linie beschrieben, die von den reaktionären Denkern zur Action Française,
zum Faschismus und zum Nationalsozialismus gehe und ohne Bruch bis
heute weiterentwickelt werde.25 Im Gegensatz dazu konnte in dieser Arbeit
die Trennung zwischen einer radikalen Rechten und einer konservativen
Rechten innerhalb des Faschismus aufgezeigt werden, die gegensätzliche
Interpretationen der faschistischen Revolution erzeugten und miteinander in
Konflikt gerieten. Die radikale Rechte gewann eine besondere Bedeutung
und Form in dem Moment, als sie sich vom offiziellen Faschismus löste und
ihm ein totales Projekt für die Rückkehr zur Tradition und für die radikale
»Re-volution« entgegenstellte. Diese radikale Rechte formte auch nach dem
Krieg einen wesentlichen Teil der Doktrin der »Neuen Rechten«, was durch
deren Bezug auf die radikalen Autoren, die interne Opponenten des Faschismus waren, und nicht auf die konservativen Autoren innerhalb des offiziellen
Faschismus, deutlich wird.
Es kann und soll nicht geleugnet werden, daß die Rechte vor dem Faschismus existierte, aber sie war, die sogenannte konservative Revolution
ausgeschlossen, nur eine Weiterentwicklung der Reaktion gegen die Aufklärung, die später keine politische Ideologie und kein Programm in die moderne Gesellschaft getragen hat. Die Auffassung der Reaktionäre, welche die
Themen der Wiederherstellung der sakralen Monarchie und der hierarchischen Gemeinschaft als Reaktion der Noblesse auf die französische Revolution artikulierten, hat in einer vom Klassenkampf gekennzeichneten Gesellschaft ihre politische Bedeutung verloren. Die politischen Alternativen am
Ende des 19. Jahrhunderts bestanden nicht mehr, wie noch zu Beginn desselben, zwischen der Rückkehr zur Tradition und der Entwicklung der Modernität. Es bestand die Wahl zwischen Sozialismus und Kapitalismus (deren
jeweilige Voraussetzung die Modernität ist), da sie zwei antithetische Lösungen für die Probleme der modernen Entwicklung anboten. Die Machteroberung des Faschismus in Italien stellte für viele den ersten erfolgreichen politischen Versuch dar, die Programme und das Projekt der Rechten in der modernen Zeit zu verwirklichen: Mussolini und die Futuristen stellten sich, wie
239
gezeigt wurde, als Befürworter der Zerstörung der dekadenten modernen
Institutionen dar, was ihren Erfolg beim Kleinbürgertum ermöglichte. Andererseits war ihr Programm eine Mischung aus sozialistischen, revolutionären
und reaktionären Motiven, ohne eine bestimmte Struktur und eine klare politische Linie zu präsentieren: Die Praxis, d.h. die Anpassung an die politischen Gegebenheiten und Kompromisse, wog viel schwerer als die Artikulation einer konkreten Doktrin. Auch die Verbindung des politischen Regimes
mit einer homogenen intellektuellen Schicht, die zur Formulierung seiner
Legitimation und einer offiziellen Ideologie beitragen sollte, gelang nie vollständig, trotz entsprechender Anstrengungen Mussolinis und von Teilen der
faschistischen Kulturorganisatoren wie Bottai und Gentile. Der Faschismus
blieb eine »revolutionäre Rechte«, eine »politische Praxis«, die sich oszillierend zwischen sozialistischen und reaktionären Motiven und Ideen entfaltete
und die Methode der Massenmobilisierung und -organisation für eine Politik
zum Schutz der Interessen des konservativen Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse nutzte. Der konkreten Entwicklung einer konservativen Rechten,
die ihre radikalen Ansprüche beiseite legte und eine realistische Position
einnahm, setzten die Integralisten und später Evola die Verwirklichung der
absoluten und reinen Revolution entgegen. Gegen die Praxis Mussolinis
predigten sie ein Denksystem, in das sich der Faschismus, der seine Bedeutung für die allgemeine menschliche Entwicklung sogar außerhalb seines
konkreten historischen Verlaufs finden sollte, integrieren sollte. Der offizielle Faschismus war für sie eine »partielle« Revolution, die Mussolini nie
vollendet hatte und die sie zu vollenden versuchten. Gegen die Unbestimmtheit der faschistischen Praxis opponierten sie mit einem kulturellen und politischen Projekt, das ihnen Gestalt und Identität dem offiziellen Faschismus
und dem Konservatismus gegenüber verlieh: Sie gehörten derselben Familie
des Rechtsdenkens an, aber sie besaßen einen absoluten, totalen (»reinen«)
Charakter.26 Das reaktionäre Denken wurde durch die radikale Rechte, und
vorher bereits durch die konservative Revolution, erneuert und wiederhergestellt. Die nostalgischen Wünsche und die Verteidigung der herrschenden
Klassen nach der französischen Revolution wurden damit zur politischen,
kulturellen Utopie, die mit den intransigenti einen politischen Arm gewann.
240
Die Tradition der Rechten
Die von einer Reihe von Forschern27 als typisch für die Tradition des
Rechtsdenkens analysierten Themen sind von den Integralisten entwickelt
worden: die Verherrlichung der Ungleichheit als Gegensatz zu den Prinzipien sozialistischer und demokratischer Doktrinen; die hierarchische Konzeption der politischen und sozialen Beziehungen; die Verteidigung des »natürlichen« Standes der menschlichen Beziehungen, dem ein Naturbegriff zugrunde lag, der die unüberwindbare Existenz der Ungleichheiten, der Kriege
und der Gewalt beinhaltet; die Verherrlichung der ursprünglichen Gemeinschaften und die Wiederherstellung der Vergangenheit. Die Grundideen und
Themen der Autoren der radikalen Rechten entsprechen diesen »klassischen«
Topoi der Literatur des Rechtsdenkens, so daß ihre Einordnung nicht schwer
fällt. Ihren Visionen liegen aber auch eine Reihe von Haltungen zugrunde,
die ihre Auffassung in jener Zeit gegenüber den faschistischen Intellektuellen
kennzeichnen. Viele dieser Themen wurden als Aspekte der Verteidigung der
Reinheit behandelt: Wie schon mehrfach bemerkt wurde, waren Reinheit
bzw. Integralität Schlüsselwörter der Integralisten und der Traditionalisten.
Ihr Vorbild ist eine ungestörte, reine, perfekte Gesellschaft, in der alles harmonisiert und kontrolliert wird und einem höherem Prinzip gehorcht. Die
hierarchische, traditionelle Gesellschaft von Suckert, die Provinz von Maccari, der monarchische Staat von Carli und Settimelli und der organische Staat
von Evola sind reine, perfekte Utopien, in denen die Ordnung nur selten
durch Gewalt, sondern durch die freiwillige Fusion der Menschen mit einem
Ordnungsprinzip, das oft metaphysischen Ursprungs ist, erhalten wird.28 Die
Koinzidenz von individuellen und sozialen Forderungen, von Wünschen und
Bedürfnissen, von natürlichen und kulturellen Anforderungen wird durch das
natürliche Streben nach einem metaphysischen Prinzip erreicht: das Prinzip
der Tradition. Obwohl es bei den verschiedenen Autoren unterschiedlich
artikuliert wird, bleibt es immer die kohäsive Kraft, welche die Harmonie
und die Integration der Einzelnen erzeugt und spirituelle Bedeutung trägt.
Der Tradition verliehen Suckert und insbesondere Evola einen transzendentalen Wert: Bei Evola setzt sie »die Betrachtungsweise von einem außermenschlichen Standpunkt, objektiv in einem transzendenten Sinne« voraus,
welche »die traditionelle Betrachtung ist, die man in Hinblick auf die traditionale Welt anwenden muß«.29 Auf die Transzendenz verweist ihr Vorbild
241
der Gesellschaft und ihre Theorie, in der die Transzendenz als »Motor« der
Gemeinschaft, als Voraussetzung und Ziel der Entwicklung des Einzelnen
verstanden wird. Die menschliche Entwicklung wird von diesen Autoren
insofern eingefordert, als die Initiation oder die geistige Erneuerung Kernthemen ihrer Auffassung sind.
Allen Autoren gemeinsam sind die Unbestimmtheit und der nicht materielle Charakter dieses Ordnungsprinzips. Was die Tradition bei Evola, die
Zivilisation des Mittelmeers bei Suckert, die traditionelle monarchische Gesellschaft bei Settimelli und Carli oder gar die Provinz bei Maccari konkret
bedeutet und wie sich auf ihnen eine neue Gesellschaft gründen ließe, bleibt
vage und im Dunkeln, denn die materiellen Bedingungen und notwendigen
Veränderungen werden nicht klar definiert. Nur eins wird deutlich, nämlich
daß dem Duce oder dem Monarchen als Verkörperung dieses Prinzips bedingungslos gehorcht und gefolgt werden muß. Die Theorie Noltes, nach der der
Widerstand gegen die Transzendenz dem rechten Denken zugrunde liegt,
muß hier in Frage gestellt werden. Das Streben nach Transzendenz wurde
von den Integralisten und Traditionalisten nicht verneint. Vielmehr erarbeiteten sie eine eigene Auffassung von Transzendenz, die »statisch« war und
keine Folgen für die sozialen Beziehungen haben sollte. Die Transzendenz
verliert hier ihren Charakter als unendliche und unentschlossene Suche nach
etwas, was das menschliche Leben überwindet. Sie ist ein erreichbarer, bestimmter Punkt, an dem die Verschmelzung des einzelnen mit den vielen, der
Natur mit der Kultur, der Bedürfnisse mit den Wünschen möglich wird. Sie
ist das Reich der Versöhnung und der Harmonie mit der Natur – mit ihren
Ungleichheiten, ihren Kriegen und ihrer Gewalt – mit dem menschlichen
Streben nach Verbesserung des Lebens, in dem die natürliche Ordnung in
einem anderen Licht akzeptiert und »umarmt« wird. Das Reich der Naturordnung wird von den neuen Menschen gebildet: »der typische Charakter
dieses neuen italienischen Typus ist es, treu gegen sich selbst zu sein«.30 Das
Ziel der Harmonie mit der Ordnung des einzelnen wird auch bei Evola deutlich: Die Harmonie bestehe darin, »die ›Dominante‹ in sich zu entdecken und
sie zu wollen, d.h. sie in einen ethischen Imperativ umzuwandeln, um sie
darüber hinaus noch in Treue ›rituell‹ zu verwirklichen und damit alles, was
als Instinkt hedonistischer Motive, materialistischer Bewertungen an die
Erde fesselt, zu zerstören«.31 Es wäre aber falsch zu sagen, daß der Ausgangspunkt dieser Autoren einfach in der Rechtfertigung der Existenz be242
stand; er lag eher in dem Streben des einzelnen, die Gründe der Ordnung und
der natürlichen Harmonie verstehen und völlig »bejahen« zu können. Aber
dies bedingt immer eine individuelle Veränderung, die nur die spirituellen
Eliten durchlaufen können und die nicht direkt in Bezug zu den Massen
steht. Auch den Theorien von Maccari und Suckert lag diese Apologie der
Eliten zugrunde. Sie definierten zwar diese Eliten als »Volk der squadre«,
meinten aber nicht das Volk im eigentlichen Sinne. Es handelte sich um eine
spirituelle Elite der nicht korrupten Jugend, die nie als soziale Schicht definiert wurde. In dieser Hinsicht wurde die Transzendenz als Streben für alle,
die moralische, aber auch soziale und entsprechende materielle Veränderungen vornehmen wollten, verneint oder vernachlässigt.
Zum Wunsch nach Vollendung und Harmonisierung der Widersprüchlichkeit des Lebens gesellte sich die Angst vor dem Bruch der Harmonie,
welcher immer auf das Einwirken externer, fremder Kräfte zurückzuführen
wäre. Ein wesentliches Merkmal des Denkens der in dieser Arbeit behandelten Intellektuellen war folglich, daß das Eindringen der Fremden desto gefährlicher und bedrohlicher erschien, je reiner das Ideal der traditionellen
Gemeinschaft konzipiert wurde: Die Reinheit erforderte die Gefahr. Und
desto stärker mußte die »Revolution« gegen die Fremden sein. Hier läßt sich
das wiederholte Wort »Revolution« nach Evola verdeutlichen: Sie stelle eine
gewalttätige Veränderung der kulturellen und politischen sozialen Strukturen
dar, die eine Befreiung von externen Einflüssen verursache, die den Fortschritt der Menschheit ermögliche, indem sie die Wiederherstellung der natürlichen Ordnungsprinzipien bewirke. Die Haltung der kosmopolitischen
Politiker (der »Politiker made in England«)32 und die materielle Auffassung
der nordischen Kultur nahmen bei den Autoren dieselbe Metapher an: die
Gefahr des Eindringens. Luther galt als das Symbol des »Fremden«, unter
dessen Einfluß die »Krankheit der Jahrhunderte« angefangen hatte: Er habe
die »universelle und minuziöse Tendenz zur Erklärung und Rechtfertigung
von allem, der Gesetze und der natürlichen Phänomene«, eine Tendenz
»voller Schatten«33, der dogmatischen südlichen Mentalität entgegengesetzt.
Luther bei Suckert, die christlich-jüdischen Exponenten bei Evola und jene
des Rationalismus bei den übrigen drei Genannten galten als die Kräfte, die
die alten, sakralen Traditionen verändert und die alte Gemeinschaft zerstört
hätten. Unter Gemeinschaft wurde dabei ein geschlossener Raum verstanden,
der seine starke interne Kohäsion durch den Gehorsam der vielen gegenüber
243
diesen traditionellen Prinzipien gewann. Die Demokratie und die öffentliche
Diskussion, die Rationalität und die Kritik wurden als Produkte des Eindringens der Fremden verstanden, da sie eine Pluralität voraussetzten, die zur
Auflösung der geschlossenen Gruppe führen konnte. Der Feind erschien hier
als besonders bedrohlich, da er ein innerer Feind in Form einer Mentalität
oder einer Kultur und nicht ein identifizierbarer Fremder war. Interessant an
dieser Vorstellung ist, daß der Konflikt der Kulturen und der Mentalitäten im
Vergleich zum Kampf zwischen Rassen dominiert. Er bestimmt die Rolle
und die Mission eines Volks, während die Rasse nie »als solche«, sondern
nur als Metapher für die Kultur Erwähnung findet – bei Suckert, Maccari und
Settimelli -, oder als ein sekundäres Element dargestellt wird – so bei Evola.34
Die fremde Mentalität bringe die Entwurzelung des Einzelnen vom geborgenen Leben in der Gemeinschaft, die Entfernung vom natürlichen Streben nach Ordnung, und das Chaos werde von etwas Fremdem, von einer
ganz anderen Zivilisation verursacht. All dies sei Folge der modernen, intellektuellen, rationalistischen Haltung, der diese Autoren die traditionsorientierte Denkweise gegenüberstellten.
Der Konflikt mit der rationalistischen Auffassung blieb bei den Integralisten relativ unbewußt und unartikuliert, während Evola die mythologische
Konzeption der Geschichte propagierte. Suckert, Maccari, Settimelli und
Carli sprachen sich für die Zerstörung des modernen kritischen und rationalen Systems aus, aber ihre Ablehnung folgte keiner bewußten Systematik:
Sie erarbeiteten eine »mythische« Vision der Geschichte, setzten ihre Arbeitsmethode aber nie dem Vergleich mit der modernen Wissenschaft aus.
Im Gegensatz zu ihnen fügte Evola seine Theorie in eine der modernen Wissenschaft gegensätzliche Tradition ein – in die Esoterik und die mythologische Deutung der Geschichte.35
Zwei Kennzeichen dieser Vision der feindlichen Mentalität, welche die
italienische Zivilisation zerstöre, lassen sich bestimmen: Die metapolitische
Ebene und die Grundidee, daß jede Zivilisation ein »Wesen für sich« ist, das
in seiner Integrität unangetastet bleiben solle. Der Feind sei kein bestimmtes
Volk, keine politische Doktrin oder Ideologie, sondern eine Kraft, eine
Mentalität, die die historischen Formen des Liberalismus, der Reform, des
Sozialismus und der christlich-jüdischen Tradition annehme. Alles und jeder
kann zum Feind werden, da die gesamte Modernität der Feind sei. Wenn aber
244
die Natur dieses Feindes, sein bestimmender Charakter analysiert werden,
stellt man fest, daß er eine Gefahr für die Integrität der Gemeinschaft darstelle. Einer organischen Metapher vergleichbar werde der »Körper« (die
traditionelle Organisation) von einem »Virus« (etwas Unterschiedlichem)
bedroht – eine Vorstellung, der die Idee der Verneinung des sozialen und
kulturellen Austauschs zugrunde liegt. Die Interaktion und die Verschmelzung unterschiedlicher Kulturen seien das »Böse« an sich, weil sie eine Verringerung der Fähigkeit und der Würde der Kultur bedeuteten. In dieser Hinsicht läßt sich die unüberwindbare Trennung der modernen und der traditionellen Zivilisation bei Evola ebenso erklären wie die Ablehnung der Idee des
Fortschritts, die auch bei Suckert eine bedeutende Rolle spielt: Die Geschichte wird nicht als Produkt der positiven und fruchtbaren Kreuzungen
der Menschen und der Kulturen, sondern als Kampf zwischen »Blöcken«
von Zivilisationen beschrieben, um die Integrität zu bewahren. Während die
Idee der Veränderung dem Ideal des Fortschritts zugrunde liegt, was oft bedeutet, die Möglichkeiten für das Lernen und für des Treffen unterschiedlicher Meinungen und Kulturen zu eröffnen und die unberechenbaren Ergebnisse dieser Mischungen und dieses Austauschs in Kauf zu nehmen, ist die
Tradition ein perfekter Spiegel der statischen und geschlossenen Gemeinschaft, die ein bestimmtes Ziel – eben die Verwirklichung derselben Tradition – erreichen oder untergehen kann. Dem nie endenden Streben nach einem
immer besserem Verständnis und mehr Wissen stellt Evola ein anderes Wissen als Mythos und als Erinnerung entgegen: Das Wissen der Tradition steht
schon fest auf einer anderen, »metaphysischen« Ebene und muß nicht implementiert werden. Die esoterischen Doktrinen der Tradition »sind oder sind
nicht«, wie Evola behauptet: Sie würden bei den Eliten durch einen Erinnerungsprozeß wiedergewonnen. Deswegen spielten die wissenschaftlichen
Methoden, die rationalen Ideen, die politischen Ideale keine Rolle in Evolas
Vision der Geschichte.36
1 Ein interessantes Beispiel für die »Rätsel« der offiziellen faschistischen Haltung ist die
Zensur gegen Settimelli und Carli: die Themen von »L’impero« - d.h. die Bildung eines
faschistischen Reichs und einer faschistischen Aristokratie nach dem Modell des römischen Reiches - wurden später von der konformistischen, regimetreuen Literatur aufge-
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nommen und verarbeitet, ohne Protest oder gar Zensur des Regimes zu erwecken. Anhand
der Ergebnisse dieser Arbeit läßt sich dieses Rätsel insofern lösen, als die Arbeiten Carlis
und Settimellis von einem kritischen, intrasigenten, utopischen Charakter gekennzeichnet
waren, der die Politik des Regimes oft in Frage stellte.
Suckert, L’Europa vivente ..., op.cit., S. 380.
Laut Evola solle der Intellektuelle dem Bild des Philosophen Platos entsprechen, d.h. den
Berater des Politikers und den Weisen darstellen (vgl. Evola, »La cultura nella rivoluzione«, in: Lo stato, Juli 1926; jetzt in: Evola, Lo Stato, Lami (Hrsg.), Roma, 1995).
Evola, »Das Doppelantlitz der Nationalismus«, in: Europäische Revue, 8, 1932; vgl. auch
ders., »Americanismo e bolscevismo«, in: La nuova antologia, 1930.
»Faschismus bedeutet für uns grundsätzlich die ›Befreiung von der veralteten Mentalität‹,
zu der auch die letzten - sozialistischen und liberalen - Anhängsel des Romantizismus gehören«, in Carli, Fascismo intransigente, Firenze, 1926, S. 12.
Der Ausdruck stammt von Antimo Negri (Negri, »Appunti sulla destabilizzazione (diseguale) di due categorie: ›destra‹ e ›sinistra‹, in: Hermeneutica, 1986, n.6), der ein wesentliches Kennzeichen der Ideologie der Rechten nach dem zweiten Weltkrieg in dem Versuch sieht, die Unterschiede (zwischen Links und Rechts) zu beseitigen.
Vgl. Berlin, The crooked Timber of Humanity, London, 1991; vgl. auch die Untersuchung
von Stern, der bei Moeller van den Bruck, Lagarde und Langbehn eine metaphysische
Grundkonzeption der gesellschaftlichen und politischen Beziehungen analysiert (Stern,
Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern/Stuttgart, 1963). Zur Rolle des metaphysischen Prinzips vgl. auch Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München, 1978.
Auch das zukünftige Reich Carlis und Settimellis war Folge einer neuen Mentalität,
welche Handeln und Denken in einer hierarchischen Gesellschaft versöhnte - was dem
Ideal des Kunst-Lebens entspricht (Carli, Fasscismo intransigente ..., op.cit., S. 38-39) -,
obwohl ihre Vision viel unartikulierter als jene Evolas und Suckerts blieb.
Vgl. Evola, Rivolta contro il mondo moderno ..., op.cit. (Deutsche Üb.: Revolte gegen die
moderne Welt ..., op.cit.) und Suckert, L’Europa vivente e altri saggi ..., op.cit.
Suckert, L’europa vivente ..., op.cit., S. 371 ff.; Evola, Revolte gegen ..., op.cit., S. 17 ff.
In diesem Sinne wurde in dieser Arbeit das Wort »Irrationalismus« benutzt.
Evola, Revolte gegen ..., op.cit., S. 23-24.
Evola, Revolte ..., op.cit., S. 19.
U.a., Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München, 1963; Mosse, Masses and Man
..., op.cit.; für den Faschismus: Sternhell, La naissance ..., op.cit.
D. Cofrancesco, »Fascismo, destra o sinistra?«, in: K. D. Bracher, L. Valiani (Hrsg.),
Fascismo e nazionalsocialismo, Bologna, 1986; E. Gentile, Le origini ..., op.cit.
Cofrancesco, »Fascismo, destra ...«, op.cit.
K. Mannheim, Konservativismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt,
1984.
De Felice, Mussolini il fascista. La conquista del potere ..., op.cit.
19 Bourdieu, Über die Verantwortung der Intellektuellen, Berlin, 1989, S. 22 (Originalfassung, La responsabilité des intellectuels, Paris, 1982).
20 Bourdieu, Les règles de l’art ..., op.cit.; C. Charle, Naissance des intellectuels. 18801900, Paris, 1990, op.cit.; ders. »Naissance des intellecutels contemporains (1830-1898)«,
in: J. Le Goff-B. Kopeczi (Hrsg.), Intellectuel francais, intellectuel hongrois, 1985 Budapest.
21 Gramsci ist derjenige Theoretiker, der eine komplexe Definition des sozialistischen Intellektuellen erarbeitete. Für ihn sind von der Politik unabhängige Intellektuelle eine Fiktion,
da sie immer eine politische Funktion ausüben, um die Macht - die Hegemonie - der herrschenden Klassen zu sichern. Gramsci, Hefte ..., op.cit. (1977), XI (XVIII).
22 Zitat von T. Mann in: Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern/Stuttgart,
1963. Die Ergebnisse der Analyse von Fritz Stern über Lagarde, Moeller van den Bruck
und Langbehn zeigen einen ähnlichen Charakter dieser drei Autoren, die eine utopische,
von der Realität weit entfernte politische Perspektive vertraten.
23 Negri, Julius Evola e la filosofia ..., op.cit., S. 14.
24 Mannheim, Konservatismus ..., op.cit.
25 Laut Nolte läßt sich die Grundstruktur der Rechten vor dem Zeitalter des Faschismus
finden, d.h. in der Action Française und in der rassistischen und reaktionären Literatur,
die vor dem Faschismus erschien. Der Faschismus sei eine Weiterentwicklung dieser Auffassung und Denkstruktur und verwirkliche sie. Eine andere Interpretation, die den Faschismus als Fortsetzung der reaktionären Auffassung darstellt, ist jene von Isaiah Berlin,
The crooked Timber ..., op.cit.
26 Über den stärkeren Bezug Evolas und der aktuellen »neuen Rechten« zum Nationalsozialismus als zum Faschismus haben einige Forscher geschrieben. Zu Evola und dem Nationalsozialismus vgl. Boutin, Politique et tradition ..., op.cit., Jesi Cultura di destra ...,
op.cit.; zu Evola und der radikalen Rechte vgl. die Werke von Ferraresi: »Julius Evola et
la droite radicale de l’après guerre«, in: Politica hermetica, 1, 1987; ders. (Hrsg.), La destra radicale, Milano, 1984; ders., Minacce alla democrazia, Milano, 1995; Drake, »Julius Evola and the ideological origins of radical Right in contemporary Italy«, in: Merkl
(Hrsg.), Political violence and Terror, 1986, Berkeley; T. Sheeman, »Myth and violence.
The fascism in J. Evola and A. de Benoist«, in Social Research, XLVIII, 1981.
27 u.a. Bobbio, »Per una definizione della destra reazionaria«, in, Quazza (Hrsg.), Nuova
destra e cultura reazionaria negli anni ‘80, Cuneo, 1983; ders., Destra e sinistra, Milano,
1994; Tranfaglia, »Fascismo, neofascismo e nuova destra. Appunti per una nuova definizione storica«, in Quazza (Hrsg.), Nuova destra e cultura ..., op.cit.; Confrancesco, »La
nuova destra davanti al fascismo«, Ebda.; Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche ...,
op.cit.; Revelli, »Panorama editoriale e temi culturali della destra militante«, in: Quazza
(Hrsg.), Nuova destra e cultura ..., op.cit., Revelli, »La nuova destra«, in: Ferraresi
(Hrsg.), La destra radicale ..., op.cit.; Ferraresi, »Da Evola a Freda«, Ebda.; Ignazi,
L’estrema destra in Europa, Bologna, 1994.
28 Bei Maccari ist diese metaphysische Dimension schwächer, sein Ideal ist die Provinz und
deren lebensweltliche Harmonie.
247
29 Evola, Revolte ..., op.cit., S. 24.
30 Und weiter: »d.h. er hat das überhäufte Eigene trotz der Verirrungen und Verunstaltungen
der fremden Jahrhunderte wiedergefunden und hat es unversehrt und erneut im Licht der
Moderne wiederhergestellt.« Carli, Fascismo intransigente ..., op.cit., S. 41.
31 Evola, Revolte gegen ..., op.cit., S. 128.
32 Maccari attackierte (»Made in England« in: Il Selvaggio, 16 Aug. 1924) die liberalen
bürgerlichen italienischen Politiker, welche die Revolution des Risorgimento mit ihrer
»Politik des gesunden Menschenverstandes« zerstört hätten.
33 Suckert, L’Europa vivente ..., op.cit., S. 362.
34 Obwohl sich die Position Evolas zur Theorie der Rassen in den 30er Jahren verändert und
die Umsetzung seiner Theorie auf politischer Ebene zum Rassismus führte, bleibt sein
Augenmerk immer auf die Kultur, und erst danach auf die Rasse gerichtet.
35 Die Grenze zwischen der traditionellen Doktrin und der weltlichen Kultur werde deutlich,
wenn »das, was als Mythos, Legende, oder Sage ohne historischen Wahrheitsgewalt und
ohne Beweiskraft ist, gerade dadurch eine höhere Wertigkeit erlangt und zur Quelle einer
echten und sichereren Erkenntnis wird«. Evola, Revolte ..., op.cit., S.23.
36 Diese Auffassung Evolas läßt sich mit der Literatur der »Bachofen-Renaissance« vergleichen, insbesondere mit der zweiten Phase dieser Renaissance (Alfred Baeumler), in der
die Theorie Bachofens derart verzerrt wird, daß sie eine politische Bedeutung für die
Herrschaft der Zivilisation der Väter - die dem Nationalsozialismus entspricht - gewinnt.
(vgl. zu Bachofen Grossman, Orpheus Philologus versus Mommsen on the Study of Antiquity, Philadelphia, 1983; ders., »Basle, Bachofen, and the Critique of Modernity«, in
Journal of Warburg and Courtland Institut, 47, 1984; über Bachofen und die Bachofen
Renaissance: Giulio Schiavoni, »Un capitolo di cultura di destra: dai cosmici monacensi
al Bachofen di Alfred Baeumler« in F. Amendolagine, B. Bandini, A. Benelli et al., Il
pensiero reazionario, Ravenna, 1982).
248
Nachwort
Die Debatten und Auseinandersetzungen einer Gruppe fanatischer Anhänger
der ursprünglichen faschistischen Prinzipien und Befürworter einer unvorstellbaren Rückkehr zur Tradition: So könnten die hier betrachteten Ereignisse und die Konflikte der radikalen Faschisten abgetan werden. Selbst Marco
Tarchi, der Begründer der italienischen »Neuen Rechten«, nimmt diese Position ein, wenn er immer wieder die auf Evola verweisenden traditionalistischen und fanatischen Tendenzen im Denken und in der Ideologie der Rechten »minimiert«, deren Verfechter er als Splittergruppe bezeichnet, als Extremisten, die ohne jede Rücksicht auf politische und soziale Lebenszusammenhänge eine naive oder unpraktikable Vorstellung von der »Revolte gegen
die moderne Welt« predigten.1 Damit wird den Kämpfen um die wahre Interpretation des Faschismus in den 20er Jahren kaum Bedeutung zugemessen: Selbst wenn Evola und Suckert in der faschistischen Zeit und auch noch
in den ersten Jahren nach dem Krieg positive oder negative Symbole und
Vorbilder für die Jugend waren, seien sie heute nur Protagonisten der Vergangenheit, Figuren einer für immer beendeten Geschichte. In diesem Fall
wäre diese Untersuchung nur eine historische Beschreibung dieser Zeit, ein
Bild der täglichen Kämpfe und Diskussionen der faschistischen kulturellen
und politischen Exponenten, die Beschreibung des Scheiterns einer faschistischen Strömung. Evola, Suckert, Settimelli, Carli und Maccari scheiterten
am Faschismus, aber sind ihre Werke und Ideen wirklich mit dem Faschismus und dem Nazismus verschwunden? Blieben sie so unbeachtet, wie die
von den Faschisten scheinbar distanzierte »Neue Rechte« behauptet? Diese
Frage, welche auch den Nutzen dieser Untersuchung betrifft, läßt sich auf
zwei Ebenen beantworten, nämlich auf der Ebene der direkten Wirkung der
hier betrachteten Autoren, und auf jener der Forschungsbegriffe, d.h. ob die
für die 20er und 30er Jahre gebildeten Begriffe und Kategorien und insbe249
sondere die hier betonten Spaltungen für die Analyse des heutigen politischen Diskurses hilfreich sein können. Ich möchte kurz einen Fall skizzieren,
bei dem sich die Untersuchung der Ideologie der radikalen Rechten als sehr
fruchtbar für die jetzige politische Analyse erweisen könnte, indem ich eine
Anwendungsmöglichkeit in Bezug auf die Interpretation der sogenannten
»neuen Rechten« 2 vorschlage.
Nicht nur nach postmoderner Lesart scheinen der Faschismus, der Nazismus und sogar der Rassismus überholt zu sein: Das von einem breiten
Spektrum von Wissenschaftlern und Autoren der Linken und Rechten gepredigte und ständig wiederholte Ende der Ideologie3 scheint die Ideale, aber
glücklicherweise auch die »Monster« der Modernität weggewischt zu haben.
Die Rassen als solche werden nur von einigen extremen politischen Gruppen
als Basis für ihre praktische Politik und ihre Programme benutzt: in der Wissenschaft hat das rassistische Paradigma jedwede Bedeutung verloren und ist
zum Objekt von Forschungen über politische und ideologische Darstellungen
geworden. Kein anerkannter Denker kann heute, ohne die Marginalisierung
in fast sämtlichen wissenschaftlichen Milieus zu riskieren, die Rassenlehre
und den direkten und bestimmenden Einfluß der physischen Rasse auf Kultur
und Geschichte behaupten; keine politische Partei wagt es, das faschistische
Erbe zu beanspruchen, um damit in der Politik der im antifaschistischen
Geiste gegründeten Nachkriegs-Demokratien aufzutreten. Gleichzeitig verschwand das Wort Faschismus und sogar manchmal Kommunismus als politische Bezeichnung der demokratischen Parteien. Nur kleine Gruppen, Skinheads oder extreme Organisationen besetzen die »verbrannte Erde« der faschistischen oder nazistischen Rechten. Diese Gruppen werden oft als »gesellschaftliche Krankheit«, als Pathologie der demokratischen Mechanismen
bezeichnet. Die »Neue Rechte« scheint eine ganz andere Identität als diese
Randgruppen zu haben: Ihr Publikum, ihr kulturelles und intellektuelles Niveau, ihre Haltung der alten Rechten gegenüber sollen diesen Unterschied
beweisen. Sie nimmt eine kritische Haltung dem alten Faschismus gegenüber
ein und unterstreicht ihre Distanz zu der faschistischen Doktrin und ihren
Persönlichkeiten. Ein breites Spektrum an Literatur wird von der »Neuen
Rechten« benutzt. Obwohl die »Klassiker des Faschismus« wie Gentile und
Rocco nicht zitiert werden, stehen die Theorien der Autoren der konservativen Revolution (Eliade und sogar Guénon, der sich nicht für politische Ent-
250
wicklungen interessierte) neben Autoren wie Evola und sogar dem
Rassentheoretiker Clauss.4
In mancher Hinsicht distanziert sich Alain De Benoist, der Führer der
französichen Bewegung, von der dunklen Seite der »alten Rechten«: Neben
dem Totalitarismus werden der Nationalismus und der Rassismus abgelehnt.5
Auf ideologischem Niveau erklärt die »Neue Rechte« ihre Opposition zur
totalitären Doktrin des faschistischen Staates, welcher eine organische Auffassung entgegengesetzt wird. Der Staat brauche keine Kontrolle und keine
starke Regierung aus Institutionen und Individuen; er ziele auf die gewaltlose
Integration des Einzelnen auf natürliche Art6, so daß der Staatsorganismus
seine Funktionen als lebendiges Wesen erfülle. Die soziale Ordnung und die
Hierarchie werden als natürliche Folgen dieser Integration betrachtet, die
Individuen folgen ihren natürlichen und gemeinschaftlichen Stellungen und
Funktionen und der Staat ist ein motor immobile, der wie in einem magnetischen Feld die Haltung der Individuen beeinflußt und ihren Gehorsam erzeugt. Deshalb sei der organische Staat im Gegensatz zum totalen und totalitären Staat dezentralisiert, er koordiniere die Kräfte, deren Freiheit er anerkennt, und bringe sie zur Mitwirkung an einer höheren Einheit, so daß die
Gesellschaft in unterschiedliche Stände und Organismen aufgeteilt werden
könne.7 Die organischen Gemeinschaften und nicht die Rassen sind das wesentliche Grundprinzip der »Neuen Rechten« als Ausgangspunkt der individuellen Entwicklungen und der internationalen Beziehungen. Gemeinschaft
stimmt in ihrer Auffassung mit dem Begriff des Volkes überein: Diese zwei
Begriffe beschreiben quasi lebendige Wesen, homogene Entitäten, »Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit, die im Laufe der Geschichte geprägt wurde«8, die eine besondere »ethnokulturelle« Identität besäßen. Im Gegensatz
zum physischen und rassistischen Charakter der Volksidentität in der NaziIdeologie stehen hier die kulturellen Elemente im Vordergrund: Unter »ethnokultureller« Identität werden die Tradition, die Sitten und die Mentalität
eines Volks verstanden. Die Verteidigung und Entwicklung der ethnokulturellen Identität ermögliche die Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft, was zur Wiederentdeckung der Werte und des Sinnes des Lebens
führe und damit die Gefahr der Entwurzelung in der modernen Massengesellschaft vermeide. Die »neue Rechte« lehnt den Rassismus ab und predigt
die Wiederbelebung der lokalen Gemeinschaften, die mit der Wiedergeburt
251
volkstümlicher Traditionen einhergehe, »deren Verfall oder, schlimmer noch,
deren Vermarktung die Moderne hervorgerufen hat«.9
Das Ziel der neuen Rechten ist letztendlich kein nationalistisches Ideal:
Die lokalen Gemeinschaften und die Völker sind nur ein Teil eines zu bildenden einheitlichen europäischen Organismus (eines Imperiums vielleicht),
der sich gegen den amerikanischen Imperialismus durchsetzen solle. Amerika steht hier nicht nur für eine externe feindliche Nation, sondern auch für
die materialistische Mentalität, die hedonistische, konsumorientierte Lebensart, die Europa bedrohe. Dies wird durch die Interpretation der westlichen
Entwicklungsgeschichte zu belegen versucht: Europa habe sich immer gegen
Feinde seiner Kultur verteidigen müssen. Die christlich-jüdische Mentalität
sei zum Beispiel in Europa eingedrungen, habe das falsche und entartete
Prinzip der Gleichheit eingeführt und damit die Annahme der natürlichen
Ungleichheit sowie den Glauben an die natürliche Hierarchie zerstört.10
Heute werde Europa auf ähnliche Weise bedroht: Die fremde Mentalität
verursache die Entwurzelung der Individuen und die Entwertung der europäischen Traditionen. Mit der Wiederherstellung der Gemeinschaften und
der Apologie Europas predigt die neue Rechte zugleich die Verteidigung des
ökologischen Systems: Die Integration des Individuums in lokale, selbstorganisierte Gemeinschaften geht mit der Harmonie des Menschen mit der
Natur und der Wiederentdeckung seines Körpers und seiner Position im
biologischen System einher.
Die Vielfältigkeit der Bilder und Ideen, die diese Vision begleiten, ist beeindruckend: Das Ideal der direkten, plebiszitären Demokratie wird neben
die persönliche Verantwortung und die ökologische Politik gestellt; die moralisierende Attacke gegen das Kapital und den Hedonismus fällt mit der
Ablehnung der Utopien des Universalismus und mit der radikalen Kritik am
Fortschritt zusammen; das Plädoyer für die autonome und getrennte Entwicklung der dritten Welt paart sich mit dem Zwang, das Öko-System zur
zyklischen Erneuerung der Ressourcen zu schützen. Diese Mischung von
Argumenten und Themen aus einem breiten Spektrum ist mit der generellen
Haltung der »Neuen Rechten« gegenüber starren politischen Positionen verknüpft. Die Trennung zwischen der Linken und Rechten wird praktisch verneint und die Gegensätze in der Politik werden auf ein sogenanntes metapolitisches Niveau übertragen. Auf eine »Kultur neuer Synthesen« beruft sich
Marco Tarchi11; und der französische Gründer der nouvelle droite leitet seine
252
Zeitschrift »Krisis« mit den Worten ein: »Auf politischer Ebene wird [Krisis]
links sein, rechts sein, tief in den Dingen und am Zentrum der Welt«.12 Wie
schwierig eine einfache Einordnung der neuen Rechten ist, wird unter anderem in ihren Konflikten mit der konservativen Rechten13 deutlich, die durch
die Ablehnung der materialistischen Gesellschaft durch die »Neue Rechte«
hervorgerufen werden. Zusammenfassend ist die Selbstdarstellung der »Neuen Rechten« durch eine »utopische« Position gekennzeichnet: gegen den
Kapitalismus und zugleich gegen den Kommunismus, auf der Suche nach
einem dritten Weg. Letztendlich aber entnimmt die neue Rechte ihre Themen
verschiedenen politischen Quellen.
Auf de Maistre verweisend, verneint de Benoist die Existenz einer
menschlichen Gattung: Es gebe nur einzelne Menschen mit individuellen
Eigenschaften und Unterschieden, die gegen die Gleichmacherei der modernen Massengesellschaft geschützt werden sollten. Die unterschiedliche individuelle Identität bedeutet für Benoist automatisch, daß keine Gleichheit der
Menschen existieren könne. Damit wird die Gleichheit als »universalistische
Utopie« bezeichnet, der gegenüber die nouvelle droite »die Kraft und die
Normalität der Unterschiede« betont, »die weder ein Übergangszustand zu
einer höheren Einheit noch eine nebensächliche Einzelheit des Privatlebens
sind, sondern die eigentliche Substanz des gesellschaftlichen Lebens«.14
Diese Auffassung führt aber nicht zu einer individualistischen Doktrin, sondern zur Apologie und Verteidigung der organischen Gemeinschaft und
Identitäten. In der modernen, pluralistischen, kapitalistischen Gesellschaft
seien die »Quellen« des individuellen und gemeinschaftlichen Wohlstands –
die »ethnokulturellen« Identitäten – durch Entwertung bedroht. Die organischen Gemeinschaften werden durch Bevölkerungsimmigrationen gleichgeschaltet und durch eine auf Konsum angelegte Gesellschaftsform ersetzt. Die
Mischung der Kulturen und die Durchsetzung mit einer materialistischen
Mentalität bedrohten unsere Lebensart. Was nicht die Schuld der Einwanderer, sondern der »Logik des Kapitals« sei. Hinter dieser begrifflichen Abstraktion, die in dem Werk eines sich als Nominalisten darstellenden Autors
überrascht, versteckt sich eine »neue Klasse«, eine »Führungskaste, deren
einzige Rechtmäßigkeit in der abstrakten (logisch-symbolischen) Handhabung der Zeichen und Werte des herrschenden Systems liegt«.15 Die Gemeinschaften und ihre »ethnokulturelle« Identität werden von einem sichtbaren Feind – dem Ausländer – und einem unsichtbaren Feind – dem Materia253
lismus, dem Kapital – bedroht. Letzterer sei gefährlicher als ersterer, da er
ein gezieltes Projekt zur Eliminierung der Traditionen und der organischen
Lebensarten verfolge; die Immigration sei nur Folge dieser »Logik des Kapitals«, die Menschen zwinge, ihre Heimat zu verlassen.16
Zwei Elemente kommen hier zum Vorschein: die paranoide Haltung gegenüber einem »Feind«, der einen »metaphysischen« Charakter besitze und
nicht einfach zu identifizieren sei, und der »persönliche« Charakter der Kulturen, die homogen seien und deren Reinheit gegen äußere Einflüsse und
»Verschmutzungen« bewahrt werden müsse. Dies erinnert stark an die Haltung der radikalen Rechten der 20er Jahren: Auch diese Autoren betonten die
Bewahrung der Kulturen und der Traditionen mehr als jene der Rassen, was
sie von den traditionellen Rassisten unterschied. Es läßt sich die Hypothese
formulieren, daß bereits in den 20er und 30er Jahren eine Trennung zwischen
einer kulturellen und einer biologischen rassistischen Auffassung gemacht
wurde, die zur heutigen nouvelle droite führt.
Betrachtet man die Themen und Argumente der »Neuen Rechten«, so
findet man in ihren Grundprinzipien auch andere Spuren der »alten Rechten«17: die klare Trennung der Moderne von der traditionellen Gesellschaft;
die Ablehnung der Wissenschaft und der Rationalität; die moralisierende
Attacke gegen die hedonistische Konsumsgesellschaft; die »KomplottMentalität«, nach der die Geschichte von dunklen, geheimnisvollen Kräften
und Zirkeln gesteuert werde; das Zurückführen aller Unterschiede und ungleichen Beziehungen (zwischen Mann und Frau, aber auch die sozialen
Unterschiede) auf die Natur, deren unveränderlichen Gesetzen gehorcht werden müsse; die nachfolgende Apologie der Hierarchie und die Hervorhebung
konstanter Werte und natürlicher Gegebenheiten – der Körper, die Natur und
das ökologische System – und der Tradition als stabile und sinngebende
Entitäten. Es bleibt noch die Ursache dafür zu klären, warum die »Neue
Rechte« ihren Bezug zur Alten, zu Evola und den Traditionalisten leugnet,
warum sie sich jenseits der Oppositionen Links und Rechts sehen will. Läßt
sich die von der nouvelle droite gepredigte Distanz zum Faschismus in Bezug auf diesen Aspekt nur mit dem Motiv des politischen Opportunismus
erklären, so daß die Beziehungen zu einer unterlegenen Ideologie und einem
gescheiterten Regime abgelehnt werden, um eine neue Legitimation in der
demokratischen Gesellschaft zu finden?18 Die Gründe dieser Wahl lassen
254
sich hier zwar nicht restlos aufklären, aber aus dieser Untersuchung ergeben
sich einige weiterführende Hinweise.
Sicher haben Benoist und Tarchi Recht, wenn sie behaupten, sie seien
keine Kinder der französischen Konterrevolutionäre de Maistre und Bonald.
Aber sie und andere lassen sich mit Recht als Kinder von Evola und Suckert
sehen. Die Ähnlichkeit zwischen den Themen und Positionen der »neuen
Rechten« und jenen der radikalen Rechten im Faschismus hat womöglich
ihre Ursache in der Anwendungsmöglichkeit der Theorien von Evola und
Suckert: Die Theorien der Tradition eignen sich besser dazu, in der heutigen
Gesellschaft verbreitet zu werden. Evola wie Suckert sind dem heutigen
Publikum viel näher als de Maistre oder Bonald, indem sie einen Vorschlag
zur Wiederherstellung der metaphysischen Ordnung in einer modernen Gesellschaft entwerfen und damit die Ideen des Sozialismus, des Kapitialismus
und sogar des konservativen Teils des Faschismus sowie die Probleme der
modernen Gesellschaft ansprechen. Dennoch ist es genau die Alternative
zwischen Sozialismus und Kapitalismus, die diese neue politische Kraft
»jenseits der Linken und der Rechten«19 überwinden will. Was wären dann
aber die Folgen dieser Perspektive? Und warum sollte sich die Neue Rechte
in diesem Fall noch »Rechte« nennen lassen, wenn sie die Kategorien der
Rechten und Linken als veraltete Werkzeuge verwirft? Und sind diejenigen,
die noch einer solchen Kategorisierung der politischen Positionen nachhängen, einfach als Vertreter einer veralteten Mentalität zu beschreiben – was
übrigens schon Mussolini in den 20er Jahren tat, als er den bürgerlichen politischen Kategorien den Kampf erklärte?
Gemäß der Politikauffassung der neuen Rechten würden sich die Grenzen
der traditionellen politischen Kategorien auflösen, wodurch sich eine postideologische Welt eröffnete. Paradoxerweise ist Alain de Benoist, Verteidiger der Werte und der Traditionen, Autor dieser als »postmodern« darstellbaren Wende des politischen Diskurses. Ohne die gewohnten, die politischen
Erfahrungen ordnenden räumlichen Kriterien findet man sich sozusagen in
einem ungeformten politischen Raum wieder, in einer Art Nebel, in dem alle
Grenzen und Gegensätze überschritten sind. Durch ein mystisches Kriterium,
sagte Negri, verschwinden alle Unterschiede. Die alten Kategorien und die
Analyse der alten Positionen und Spaltungen sowie der historischen Ereignisse können dann zwar einige versteckte Hinweise, Bezüge und Verknüpfungen aufdecken, die jedoch im Nebel fehlender Trennungen und Gegensät255
ze verloren gehen. Von Nutzen sind allein unser Verständnis und unsere von
der Rechten so kritisierte Urteilskraft, denn kein mystisches Kriterium und
keine sakrale Intuition erleuchten die Verbindungen, die Konfusionen und
die Natur der ideologischen Kämpfe. Kritik der Linken und der Rechten
bedeutet dann, wie Antimo Negri erklärt, auf keinen Fall ihre Auflösung,
sondern ihre Unterscheidung, ihre Betrachtung als gegensätzliche Kategorien
und ihre kritische Gegenüberstellung. Sie bedeutet auch, die Programme der
neuen Rechten ernst zu nehmen, d.h. ihre Verteidigung von Werten und Traditionen, ihre Kennzeichnung der Feinde als Fremde und als »neue regierende Klasse«, ihre Ablehnung der Gleichheit, der Modernität, des Fortschrittes
als wichtige und starke Position zu betrachten und sich ihr kritisch gegenüber
zu stellen.20 Die Re-Kategorisierung der politischen Positionen, welche eine
Perspektive bietet, aus der die Kreuzungen, Überlagerungen und Entwicklungen der Ideen deutlicher werden, setzt einen Erinnerungsprozeß und eine
Analyse von Geschichte und Kultur, d.h. auch wissenschaftliche Arbeit,
voraus. Um den Spuren der Ausgangsbedingungen und der ursprünglichen
Bedeutung einiger Begriffe, Strukturen, Ideen, Positionen zu folgen, muß die
Sicht der heutigen Geschichte problematisiert werden. Rekonstruieren bedeutet hier kontextualisieren, d.h. Verknüpfungen zwischen Begriffen,
Grundstrukturen, Personen, Veröffentlichungen, Regimen und Parteien aufdecken, die der Selbstdarstellung der »Neuen Rechten«, die auf eine Enthistorisieung ihrer Identität zielt, zuwiderlaufen. Neben den Erklärungen der
Autoren und den veröffentlichten Programmen besteht eine »ebenso banale
wie unveränderliche Wirklichkeit: die sozialen Milieus, die politischen
Bündnisse, die intellektuellen und gefühlsmäßigen Wahlverwandtschaften
existieren«.21 Es ließe sich zeigen, daß einige Mythen und Symbole aus der
wissenschaftlichen und literarischen in die politische Rede übertragen wurden und daß einige politische Ideologien keine Früchte der neuen Kultur und
des politischen Wandels sind, sondern seit langer Zeit existieren. Und die
»Neue Rechte« steht vielleicht wirklich jenseits des Faschismus, aber eben
auf der anderen Seite: Der Faschismus ist für sie, wie für Evola, zu wenig.22
Er sei eine nie richtig genutzte Möglichkeit zum Umsturz der modernen
Welt, eine nie vollendete Revolution, die wegen menschlichen Versagens
und der Mischung guter und böser (unreiner) Ideen gescheitert sei, wie Marcello Veneziani schreibt23 – was übrigens völlig mit der Meinung Evolas
übereinstimmt.24 Eine solche Auffassung setzt voraus, daß ideologische
256
Entwicklungen auf die Einstellung der Menschen wirkten und daß es keinen
großen Bruch zwischen Alltagsverstand, politischem Diskurs und wissenschaftlicher Praxis gebe.25 Sie setzt auch voraus, daß die wissenschaftliche
Analyse zu einer kritischen Betrachtung der politischen Reden und der
Wirklichkeit beitragen kann und daß jeder Wissenschaftler ein Recht und
eine Pflicht zur Kritik besitzt.
1 Vgl. Tarchi, »Viele Menschen akzeptieren, daß man sie der Rechten zuordnet«, in: Junge
Freiheit, 15. Okt. 1999.
2 Zur »Neuen Rechten« werden hier gezählt die im Jahr 1968 gegründete Organisation
GRECE (Groupement de Recherche et d’Études pour la civilisation européenne) und die
Intellektuellen im Umfeld dieser Gruppe (z.B. Alain de Benoist; Guillaume Faye; JeanClaude Valla), die Ende der 70er Jahre (laut Revelli im Jahr 1977) gegründete italienische
nuova destra, deren Exponenten u.a. Marco Tarchi, Marcello Veneziani, Stenio Solinas,
Enzo Erra und Franco Cardini sind. Mittlerweile hat sich die »Neue Rechte« in ganz Europa - in Deutschland u.a. mit Pierre Krebs und in Österreich mit Andreas Mölzer, »intellektueller« Vetreter der FPÖ - verbreitet.
3 De Benoist, »Aufstand der Kulturen. Rückkehr zur Arbeit des Denkens«, in: Junge Freiheit, 24. Sept. 1999.
4 Vgl. Programme der Veröffentlichungen in: Éléments, 70, 1991, S. 24.
5 De Benoist, Les idées à l’endroit, Paris, 1977.
6 vgl. u.a. Seminar von GRECE, »Against Totalitarianism: Toward a new Culture«, Paris,
1979; Tarchi, »Presentazione«, in: De Benoist, Visto da destra. Antologia critica delle
idee contemporanee, Napoli, 1981, (Original Auff.: Vu de droite, Paris, 1977).
7 Hier zeigt sich eine starke Ähnlichkeit der Ideen der neuen Rechten mit dem Begriff des
organischen Staates von Evola und insbesondere von Wilhelm Stapel und der Wiener
Schule von Othmar Spann und Walter Heinrich.
8 Benoist, »Aufstand der Kulturen ... », op.cit.
9 Ebd.
10 Benoist, Les idées ..., op.cit.; Pierre Vial, »Jean-Claude Vialla: une Communauté de
Travail et de Pensée«, in ders., Pour une Renaissance culturelle, Paris, 1979.
11 Tarchi, »Viele Menschen akzeptieren, daß man sie der Rechten zurechnet«, ..., op.cit.
12 »Sur le plan politique elle sera de gauche, de droite, du fond des choses et du milieu du
monde«, (Benoist, in: Krisis, 1, 1988).
13 Unter der konservativen Rechten wird die »New Right« verstanden (wie z.B. die Partei
Front National und die Organisation Club de l’Horologe in Frankreich; die Partei des Polos in Italien), die von einer neokonservativen Haltung gekennzeichnet ist: sie predigt den
ökonomischen Liberalismus, den Konservatorismus, den Individualismus und das Ende
des Wohlfahrtsstaates. (vgl. Ignazi, L’estrema destra in Europa, Milano, 1994).
14 Benoist, »Aufstand der Kulturen ... », op.cit.
257
15 Ebd.
16 Ebd.
17 Vgl. Revelli, »Panorama editoriale e temi culturali della destra militante«, in: Quazza
(Hrsg.), Nuova destra e cultura reazionaria negli anni ottanta, Cuneo, 1983; ders., »La
nuova destra«, in: Ferraresi (Hrsg.), La destra radicale, Milano, 1984; Ferraresi »Da
Evola a Freda. Le dottrine della destra radicale fino al 1977«, in: Ferraresi (Hrsg.), La destra radicale, op. cit.
18 Diese Strategie wurde von Ferraresi (»Julius Evola, Tradition, Reaction und the radical
Right«, in Archives européennes de Sociologie, XXVIII, n.1, 1987) und Taguieff (»La
stratégie culturelle de la nouvelle droite en France, 1968-83« in, R. Badinter, (Hrsg.),
Vous avez dit fascisme?, Paris, 1984) untersucht. Das Verstecken der Motive und Themen
- wie Rassismus und Totalitarismus -, die eine negative Reaktion der öffentlichen Meinung hervorrufen könnten und die Bewegung disqualifizieren würden, und die Verwendung anderer und »political correct«-Begriffe wird von Ferraresi Strategie der »Euphemisierung« genannt und hat eine doppelte Funktion: die Quellen und die Kontinuität der
neuen Rechten mit den Faschismen zu verbergen, und mit den Initiaten durch einen verschlüsselten Kode zu kommunizieren. Auch die Beziehungen der Rechten zu den schwarzen Brigaden und ihrem ideologischen Hintergrund läßt sich in Bezug auf die Ideologie
der radikalen Rechten innerhalb des Faschismus erforschen. (Vgl. u.a. Ferraresi, (Hrsg.),
»La destra radicale«, Milano, 1984; Ferraresi, »Minacce alla democrazia«, Milano, 1995;
Quazza (Hrsg.), Nuova destra e cultura reazionaria negli anni ‘80. Atti del convegno.
Cuneo, Nov. 1982, Cuneo, 1983; Peter Merkl (Hrsg.), Political violence and terror. Motivs and motivations, Berkeley, 1986) Die Definition der radikalen Rechten und der extremen Rechten läßt sich in Ignazi (Ignazi, L’estrema destra in Europa, Bologna, 1994)
und in Ferraresi (Ferraresi, Minacce alla democrazia, op.cit.) finden.
19 Vgl. das Buch Al di là della destra e della sinistra, Roma, 1982, (Tarchi M/ Solinas .u.a.)
das die Akten eines Kongresses enthält.
20 Diese Reflexionen sind das Ergebnis der Lektüre der reichhaltigen und tiefen Essays
Antimo Negris, »Appunti sulla destabilizzazione (diseguale) di due categorie: ›destra‹ e
›sinistra‹«, in: Hermeneutica, 6, 1986.
21 Olender »Usages ›politiques‹ de la préhistoire indo-européenne«, in: Wieworka M.,
(Hrsg.), Racisme et modernité, Paris, 1993, S. 93.
22 Diese Meinung wird von Cofrancesco (La nuova destra..., op.cit.) bestätigt. Vgl. die
interessante Hypothese von Jacques Julliard, nach der die Rechte nur durch ihre extremere
Position ihre Identität bildet. Die konservative Rechte sei keine Rechte, sondern das Produkt des Kompromisses mit bürgerlichen und kapitalistischen Anforderungen. (Julliard,
»De l’extremisme à la droite«, in: Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle, 1991, 9).
23 Veneziani, Mussolini il politico, Roma, 1981, S. 72 ff.
24 Evola, Il fascismo visto dalla destra ..., op.cit.
25 Eine andere Meinung wird teilweise von Taguieff vertreten, wenn er die Trennung zwischen Rassismus als Haltung und Rassismus als Ideologie betont. (vgl Taguieff, Le racisme, Paris, 1997).
258
Bibliographie
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Carli M./Vecchi F., »Manifesto dell’ardito futurista«, in: Roma futurista, 17. August 1919.
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