Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit /
Studies in Early Modern History, Culture and
Science, Band 15 (2011), H. 1: Soziale
Ungleichheit und ständische Gesellschaft.
Theorien und Debatten in der
Ständischehrsg.
Ungleichheit
und Geschlechterforschung
Frühneuzeitforschung,
von Marian
Füssel
und Thomas Weller, S. 85-104.
Claudia Ulbrich
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
Zwei Beispiele zum Anfang
Um die gesellschaftlichen Transformationsprozesse zwischen und in
den Blick zu bekommen, beschäftigte sich Hans-Ulrich Wehler in seinem
erschienenen Werk Deutsche Gesellschaftsgeschichte ausführlich mit den Strukturbedingungen und Prozessen sozialer Ungleichheit. Unter sozialer Ungleichheit verstand er »die verschiedenartige Verteilung von Lebenschancen und Lebensrisiken«, die »als eine der Grunderfahrungen gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt« gelten könne. Wer erwartet hatte, dass die Kategorie Geschlecht in einer solchen Analyse eine Rolle spielt, wurde enttäuscht. Denn Wehler stellte Geschlecht zwar gleichwertig neben Alter und soziale Ungleichheit als
anthropologische Universalien gesellschaftlicher Hierarchisierung, räumte aber
in einer Fußnote ein: »Geschlecht und Alter werden als Stratifikationskriterien
offensichtlich immer wichtiger, bleiben aber hier aus pragmatischen Gründen
von der folgenden Diskussion ausgeschlossen, wie das auch der größte Teil der
Fachliteratur tut. Dadurch wird die Ungleichheitsdebatte in der Regel auf die
berufstätigen Männer eingegrenzt, wobei allerdings der Beruf seit langem über
die Lebenschancen der Familien in wesentlicher Hinsicht und auf Dauer entscheidet.« Mit dieser Aussage, die hinter der soziologischen Ungleichheitsforschung der er Jahre zurück bleibt, wurde nicht nur die Geschlechterforschung, sondern auch die damals bereits gut etablierte Familienforschung, die
die Bedeutung von Ehe, Familie und Verwandtschaft für die Positionierung des
Einzelnen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft herausgearbeitet hat, marginalisiert.
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. : Vom Feudalismus des Alten Reichs bis
zur Modernisierung der Reformära – , München .
Ebd., S. .
Ebd., S. .
Für die soziologische Ungleichheitsforschung ist u. a. auf Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband ), Göttingen , zu verweisen. Einen knappen Überblick zu den Anfängen der Familienforschung gibt: Hans Medick, »Zwischen Mythos und Realität – die historische Erforschung der Familie«, in: Susanne Mayer u. Dietmar Schulte (Hgg.),
Die Zukunft der Familie, München , S. -.
Claudia Ulbrich
Zwölf Jahre später, , erschien ein ebenso bedeutendes Buch, diesmal nicht
zur Gesellschafts-, sondern zur Politikgeschichte, Wolfgang Reinhards Geschichte der Staatsgewalt. In seiner Einleitung hat Reinhard Männern und Frauen zwei
Seiten gewidmet. Gleich zu Beginn verweist er darauf, dass »Politik im allgemeinen und Monarchie im besonderen grundsätzlich Männersache« gewesen sei.
»Frauen«, so heißt es weiter, »waren in Europa wie in seinen Vorläuferkulturen
zwar nirgends rechtlos und nicht einmal immer benachteiligt, kamen aber als
politisch Handelnde in der Regel nicht vor.« Reinhard operiert in Bezug auf die
Partizipation von Frauen mit einem linearen Geschichtskonzept und einem ahistorischen Politikbegriff. Wenn von Politik als Männersache und von Frauen
als Objekten der Politik gesprochen wird, dann wird so getan, als gäbe es einen
ein für allemal fest stehenden Begriff von Politik mit ein für allemal fest stehenden Grenzen dessen, was politisch ist und was nicht. In einem solchen Konzept,
das auf einer binär gedachten Geschlechterordnung aufbaut, wird Politik in einer ganz traditionellen Weise mit dem Staat gleichgesetzt und ganz klassisch mit
der Exklusion von Frauen verbunden. Natürlich weiß ein so kompetenter Historiker wie Wolfgang Reinhard, dass sich mit einem solch exklusiv männlichen
Politikbegriff die Realität der Frühen Neuzeit nicht abbilden lässt, da Frauen
hier als Herrscherinnen, Regentinnen, Landvögtinnen, Mätressen oder Botschafterinnen selbst im traditionellen Politikfeld gut vertreten waren. Es bedürfte also nicht einmal der von der feministischen Theorie seit Jahrzehnten eingeforderten umfassenden Revision des Politikbegriffs, es würde schon reichen, Frauen einfach in die Geschichtserzählung zu integrieren, was auf der Ereignisebene
ja auch geschieht. Elisabeth von England, Katharina II. oder Maria Theresia
gehören zum Grundwissen der Geschichte. Auch Reinhard berücksichtigt sie in
seiner Darstellung, aber er grenzt Frauen aus der Struktur aus, indem er diejenigen, die politisch einflussreich sind, als Ausnahmen bezeichnet. Auf diese Weise
wird es ihm möglich, von einer »politischen Unrolle« von Frauen zu sprechen,
»die in Europa trotz Aufklärung und Revolution ein so selbstverständliches kulturelles Verhaltensmuster« gewesen sei, »dass sie kaum begründet werden musste.« In diesem Verfahren bestätigt sich einmal mehr die in der feministischen
Politiktheorie formulierte These, »dass ein enger Politikbegriff Frauen kategorisch aus dem Feld des Politischen herausdrängt und ihre historische Exklusion
damit gleichsam begrifflich-methodisch reproduziert.«
Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas
von den Anfängen bis zur Gegenwart, München , S. .
Ebd.
Ute Frevert, »Neue Politikgeschichte«, in: Joachim Eibach u. Günther Lottes (Hgg.), Kompass
der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen , S. -, hier S. .
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
An den beiden eingangs erwähnten Beispielen lassen sich Diskurse und Mechanismen aufzeigen, mit denen Geschlecht aus der historischen Analyse ausgeschlossen wird. Im ersten Beispiel taucht Geschlecht als additive, aber dennoch
verzichtbare Kategorie auf, im zweiten Fall erfolgt die Exklusion von Frauen auf
der strukturellen Ebene. Politisch aktive Frauen werden von vornherein als Ausnahme bezeichnet, weil sich die politische Realität nicht in der vorgegebenen,
rein männlich definierten Struktur abbilden lässt. Eine solche Ergänzung des
Geschichtsbildes um »Ausnahmefrauen« kann leicht verdecken, dass durch sie
die geschlechterblinden Meistererzählungen eher bestätigt als verändert werden.
Weiterführende Fragen, wie sie etwa Natalie Zemon Davis in ihrem Kapitel
über »Frauen, Politik und Macht« in Geschichte der Frauen formuliert hatte,
kommen dabei gar nicht erst in den Blick. Zwar hatte auch Davis darauf hingewiesen, dass gerade in der politischen Sphäre die Partizipationsmöglichkeiten
von Männern und Frauen ungleich verteilt waren, doch ermöglichte ihr der
geschlechtergeschichtliche Zugang eine für die europäische Verfassungsgeschichte
wichtige Differenzierung: Während Frauen in republikanischen Gemeinwesen
bestenfalls informell über Familie und Verwandtschaft Einfluss auf die Politik
nehmen konnten, konnten sie dort, wo die Nachfolge durch dynastische Erbfolge bestimmt war, unmittelbaren Zugang zur Macht erhalten. Davis spricht
nicht von einer »politischen Unrolle von Frauen«, sondern ganz im Gegenteil
davon, dass in Monarchien und Fürstentümern Geburten und Eheschließungen »zum Gegenstand der großen Politik« wurden und zeigt Wege auf, wie
man die Asymmetrie zwischen Männern und Frauen genauer analysieren könnte. Bereits hatte sie »Vorschläge für eine neue Frauengeschichte« erarbeitet
und davor gewarnt, an der Gegenwart entwickelte Verfahren auf die Vergangenheit zu übertragen. Mit Blick auf die Frühe Neuzeit fragte sie, »ob nicht eine
multidimensionale Erfassung der Sozialstruktur – die etwa die Beziehungen
männlich/weiblich und Klerus/Laien auszudrücken vermag – den einfacheren
Dass die beiden erwähnten Autoren keine Ausnahme waren, mag ein Hinweis auf Philipp
Sarasin zeigen, der in seinen Überlegungen zu Alltag, Sprache, Arbeit die Geschlechtergeschichte übergeht, »weil dazu gegenwärtig von anderer Seite genug gesagt wird«. Vgl. dazu die
kritische Auseinandersetzung mit diesem Aufsatz von Ulrike Gleixner, »Die ›Tonart des Unbedingten‹ und die Abwesenheit der Frauen- und Geschlechtergeschichte«, in: Werkstatt Geschichte
(), S. -.
Gianna Pomata, »Partikulargeschichte und Universalgeschichte – Bemerkungen zu einigen
Handbüchern der Frauengeschichte«, in: L’Homme. ZfG /, (), S. -.
Natalie Zemon Davis, »Frauen, Politik und Macht«, in: Georges Duby u. Michelle Perrot
(Hgg.), Geschichte der Frauen. Bd. : Frühe Neuzeit, hrsg. v. Arlette Farge u. Natalie Zemon
Davis, Frankfurt a. M. , S. -.
Ebd., S. .
Claudia Ulbrich
Modellen, die wir benutzen, vorzuziehen ist«. Diese Frage gehört zu den zentralen Problemen, mit denen sich die Geschlechterforschung in den letzten Jahrzehnten befasst hat, ohne dass die Ansätze in der Allgemeinen Geschichte auf
breite Resonanz gestoßen wären. Bis heute scheint das von Hans Medick
und Anne-Charlott Trepp auf einer Tagung des Max-Planck-Institutes für Geschichte in Göttingen formulierte Postulat, Geschlechtergeschichte als Allgemeine Geschichte zu verstehen und das Potential geschlechtergeschichtlicher Forschung konstruktiv zu nutzen, nur selten umgesetzt. Das Leitmotiv der Diskussion jener Tagung fokussierte auf die bis heute aktuelle Frage: »Wie kann
eine zukünftige Geschichtswissenschaft aussehen, in welcher die Geschlechtergeschichte nicht nur als Anbau ans Haus der Allgemeinen Geschichte akzeptiert
wird, oder bestenfalls als ein abgeschlossener Raum innerhalb dieses ›Hauses
mit vielen Zimmern‹ (Jürgen Kocka), sondern als eine Aufforderung zum Umbau des ›ganzen Hauses‹?« Möglicherweise stellt das Konzept der Intersektionalität, das in den letzten zehn Jahren in den Gender Studies breite Aufmerksamkeit gefunden hat, einen Weg dar, den Raum zu öffnen und Geschlecht in
die Allgemeine Geschichte zu integrieren. Da dieses Konzept vor allem im Hinblick auf die Analyse sozialer Ungleichheit in Gegenwartsgesellschaften entwickelt wurde und mit dem Anliegen verbunden war, die Kategorie Geschlecht zu
dezentralisieren, steht die Theoriedebatte jedoch in einem ganz anderen Kontext als die entsprechenden Ansätze, die sich auf vormoderne Gesellschaften
beziehen und von der Prämisse ausgehen, dass der Kategorie Geschlecht in der
ständischen Gesellschaft ohnehin nicht die gleiche universelle Strukturierungskraft zukam, die ihr in der bürgerlichen Gesellschaft des . Jahrhunderts zuge Zitiert nach der erschienenen deutschen Übersetzung: Natalie Zemon Davis, »Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte«, in: dies. (Hg.), Frauen
und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers, Berlin , S. -, hier S. . Der Aufsatz ist zuerst erschienen
unter dem Titel: »Women’s History in Transition: The European Case«, in: Feminist Studies III
/ (), S. -.
Hans Medick u. Anne-Charlott Trepp, »Einleitung«, in: dies. (Hgg.), Geschlechtergeschichte
und Allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft ), Göttingen .
Ebd., S. .
Das Spektrum der Intersektionalitätsforschung, aber auch ihre Grenzen waren Gegenstand
einer im Januar vom Cornelia Goethe Centrum in Frankfurt a. M. (Helma Lutz) organisierten Tagung zum Thema: »Celebrating Intersectionality? Debates on a multi-faceted Concept in Gender Studies«. Vgl. dazu den Bericht von Gail Louis, «Celebrating Intersectionality?
Debates on a multi-faceted Concept in Gender Studies: themes from a Conference«, in: European Journal of Women’s Studies / (), S. -. Zum Versuch einer theoretischen Perspektivierung dieses Konzeptes siehe: Gabriele Winker u. Nina Degele, Intersektionalität. Zur
Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld .
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
schrieben wurde. Auch in der Ständegesellschaft wurden die Menschen nach
Geschlecht kategorisiert. »Die Geschlechtszugehörigkeit bestimmte«, so betonten Barbara Vogel und Ulrike Weckel, »als eine unter vielen Standesdefinitionen
die Alltagserfahrung von Frauen und Männern [...], das heißt sowohl die Differenz der Geschlechter als auch die Differenzen innerhalb der Geschlechter waren für sie eine Selbstverständlichkeit.« Die Zugehörigkeit zu einem Stand begründete die Verpflichtung auf besondere Lebensformen. Sie war nicht unveränderlich, es gab auch innerhalb der Ständeordnung sozialen Auf- und Abstieg
und innerhalb der Stände erhebliche Hierarchien und Differenzen. Weder Stand
noch Geschlecht waren naturgegeben, vielmehr waren sie das Ergebnis komplexer Zuordnungsprozesse. Erst mit der Entnaturalisierung von Geschlecht war
die Voraussetzung gegeben, nach den Zusammenhängen und Wechselwirkungen
zu fragen, in denen Geschlecht in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten hergestellt wurde und in denen die Geschlechterdifferenz bzw. die Zweigeschlechtlichkeit Bedeutung erhielt. Für die Moderne konnte Geschlecht ebenso
wie ›Rasse‹ als Konstrukt neben Klasse als gesellschaftliche Bestimmmungsfaktoren gesetzt werden. Bevor ich die damit verbundenen Neuansätze zur Erforschung von Ungleichheit im Rahmen des Konzepts Intersektionalität skizziere und nach dem Anregungspotential für die Erforschung der Ständegesellschaft
frage, möchte ich einige Grundlinien der Geschlechterforschung und feminis Heide Wunder, »Er ist die Sonn, sie ist der Mond«: Frauen in der frühen Neuzeit, München ,
S. .
Barbara Vogel u. Ulrike Weckel, »Vorwort«, in: dies. (Hgg.), Frauen in der Ständegesellschaft.
Leben und Arbeiten in der Stadt vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, Hamburg, , S. .
Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen
Gesellschaft (Aschkenas, Beiheft ), Wien , S. ff.
›Rasse‹ wurde im . Jahrhundert ähnlich wie Geschlecht als Naturphänomen betrachtet. Die
Einsicht in den Konstruktionscharakter von ›Rasse‹ erfolgte etwa zur gleichen Zeit wie die
Entnaturalisierung von Geschlecht. Als Konstruktionen wurden beide Kategorien ähnlich diffus und komplex wie Klasse. Cornelia Klinger u. Gudrun-Axeli Knapp, »Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, ›Rasse‹/ Ethnizität«, in: Transit (). (http://www.iwm.at/index.phb?option=com_content&task
=view&id) zuletzt besucht: . September . Der Beitrag ist wieder abgedruckt in: Cornelia Klinger, Gudrun-Axeli Knapp und Birgit Sauer (Hgg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a. M. , S. -, hier S. .
Zur Geschlechterforschung gibt es zahlreiche ausgezeichnete Einführungen, die hier nicht im
Einzelnen aufgeführt werden können. Für Beiträge, die einen engeren Bezug zur Frühen Neuzeit haben, sei verwiesen auf: Claudia Opitz, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in
die Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen, Bd. ) Tübingen ; Claudia Ulbrich,
Artikel »Geschlecht«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. , Stuttgart , Sp. -; dies.,
Artikel »Geschlechterrollen«, in: ebd., Sp. -; Michèle Riot-Sarcey (Hg.), De la différence
des sexes. Le genre en histoire, Paris .
Claudia Ulbrich
tischen Theorie von den Anfängen in den er und er Jahren bis hin zur
Hinwendung zur poststrukturalistischen Wende der er und er Jahre
nachzeichnen, die in der Geschichtswissenschaft eng mit Joan W. Scott verknüpft ist.
Geschlechterforschung und Feministische Theorie
Ausgangspunkt der Geschlechterforschung war die in US-amerikanischen Forschungen in den späten er und frühen er Jahren vorgeschlagene analytische Trennung zwischen sex und gender. Während sex auf eine biologisch begründete Zweigeschlechtlichkeit verwies, wurde gender zentral für die Erforschung der sozialen und kulturellen Aspekte, mit denen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Natürlichkeit der Geschlechterrollen hinterfragt werden konnten. Geschlechterrollen sollten als soziale und kulturelle Konstrukte erforscht und ihre Vielfalt und Wandelbarkeit aufgezeigt werden. Verbunden damit war die Frage, wie Unterdrückungsformen erzeugt und Widerstand geleistet wurden. Dieser Ansatz war produktiv und problematisch zugleich.
Da die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht dem
traditionellen Dualismus von Natur und Kultur verhaftet blieb, waren einer
grundlegenden Rekonzeptualisierung der Geschichtsschreibung enge Grenzen
gesetzt. Der ›naturhafte‹ Status eines letztlich a-historisch gedachten Körpers
wurde erst hinterfragt, als die Frauengeschichte in den er Jahren begann,
sich intensiv mit Fragen von Geschlecht und Geschlechtsidentität zu befassen
und betonte, dass nicht nur gender, sondern auch sex und damit zugleich die
Zweigeschlechtlichkeit kulturell bzw. diskursiv hervorgebracht werden. Mit dieser Neuorientierung rückten auch neue Themen ins Zentrum der Forschung,
die sich auch auf die disziplinübergreifende Theoriediskussion auswirkten.
In den er und er Jahren war zunächst die Frage der gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen ein mobilisierendes Thema der Frauenforschung. Im Zuge der Hausarbeitsdebatte der er Jahre wurde eine Erweiterung
Gudrun-Axeli Knapp u. Angelika Wetterer (Hgg.), Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie (Forum Frauenforschung, Bd. ), Freiburg ; Regina Becker-Schmidt u.
Gudrun-Axeli Knapp, Feministische Theorien zur Einführung, . Aufl, Hamburg ; Andrea
Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien ; Nina Degele,
Gender/ Queer Studies. Eine Einführung, Paderborn . Im Hinblick auf das Thema Ungleichheit ist in diesem Zusammenhang auf die grundlegenden Arbeiten von Ilse Lenz und
Ute Luig zu verweisen. Siehe z. B.: Ilse Lenz u. Ute Luig (Hgg.), Frauenmacht ohne Herrschaft.
Geschlechterverhältnisse in nicht patriarchalen Gesellschaften, . Aufl., Frankfurt a. M. .
Becker-Schmidt u. Knapp (wie Anm. ), S. .
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
des Begriffs gesellschaftlicher Arbeit vorgeschlagen und eine Begrenzung der
Ungleichheitsdebatte auf berufstätige Männer kritisch hinterfragt. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten die Forschungen zu Tätern, Opfern und der Mittäterschaft von Frauen. In den er und er Jahren traten im Rückgriff auf
den Poststrukturalismus Fragen nach Erfahrung, Identität und der binären Konstruktion von Geschlecht in den Fokus der Geschlechtergeschichte. Mit der
Hinwendung zu poststrukturalistischen Theorien war ein epistemologischer
Wandel innerhalb der Theoriebildung verbunden, der innerhalb der Frauenforschung, die den Anspruch erhebt, Theorie in emanzipatorischer Absicht zu
betreiben, kontrovers diskutiert wurde. Denn sie führte dazu, dass die Vorstellung, dass Frauen aufgrund vermeintlich gemeinsamer Erfahrungen von Ungleichheit, Unterordnung oder Ausgrenzung einheitliche und kohärente Interessen hätten, obsolet wurde. Zwar wurde die Annahme, dass die Geschlechterdifferenz kulturell konstruiert sei, bestimmend für die weiteren Theoriedebatten,
doch war dies nur ein Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen. Sie erhielten in den er Jahren neue Impulse durch die Postcolonial Studies, Queer
Theory und Critical Whiteness-Forschung, die sich u. a. mit Prozessen gesellschaftlicher Normierungen und Ausschlussmechanismen befassten, Kritik an der unhinterfragten Übernahme heterosexueller Ordnungsvorstellungen übten und auf
die Instabilität von Geschlechtergrenzen verwiesen. Die Kritik bezog auch die
Männlichkeitsforschung mit ein, der der Vorwurf gemacht wurde, die binäre
Geschlechterordnung zu reproduzieren. Im Kern der vielfältigen Kontroversen
der Gender Studies, der Queer Studies und der Erforschung von Masculinities, die
hier nur angedeutet werden können, stehen Konzepte von Macht, Ungleichheit
und Diskriminierung sowie Prozesse von Normierung und Ausschluss ebenso
wie Fragen von Erfahrung und Identität. Verbunden damit ist das Problem der
Subjektivierung und der Handlungsfähigkeit von Menschen. Gegen konstruktivistische Theorien wandte Judith Butler ein, dass Geschlecht performativ hergestellt wird, als Effekt einer sich ständig wiederholenden Praxis innerhalb einer
heterosexuellen Matrix. Daraus ergibt sich letztlich die Frage, wie es sein kann,
dass »das Subjekt als Bedingung und Instrument der Handlungsfähigkeit zugleich
Effekt der Unterordnung als Verlust seiner Handlungsfähigkeit« ist. Auch wenn
Degele (wie Anm. ), S. ff.
Silke Törpsch, Artikel »Männlichkeit«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. , Stuttgart , Sp.
-.
Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. (engl. ); dies., Körper
von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin , bes. S. ff. (engl. ).
Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. , S.
(zuerst engl. ).
Claudia Ulbrich
Subjekt und Individuum unterschieden werden müssen, stellt dieses Problem
für akteurszentrierte Forschungen eine große Herausforderung dar.
Obwohl Einigkeit darüber herrscht, dass alle Kategorien, auch die des Subjektes, historisiert werden müssen, ist es eine offene und wenig diskutierte Frage,
wie die Geschichtswissenschaft mit diesen meist an der Gegenwart entwickelten
bzw. auf die Philosophie oder Psychologie rekurrierenden Konzepten arbeiten
kann und welche Erkenntnismöglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten sich durch
die Vervielfältigung der Kategorien und Zugänge stellen.
Geschlecht und Geschichte
Wichtige Anregungen für die historische Forschung gingen von den Arbeiten
von Joan Scott aus, die, wie Claudia Honegger und Caroline Arni betonen, zu
den »wichtigsten Vertreterinnen der historischen Geschlechterforschung in gesellschaftstheoretischer Absicht« zählt. Bevor Scott mit ihren Vorschlägen, Gender als Kategorie in die historische Analyse zu integrieren, einen wegweisenden
Beitrag zur Weiterentwicklung der Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte geleistet hat, hat sie sich mit der Geschichte der Arbeiterklasse im . Jahrhundert befasst. Um über die Erforschung gesellschaftlicher Rollen von Frauen und Männern, anders gewendet, über das Sichtbarmachen von Frauen in der
Geschichte, hinaus zu kommen, schien es ihr wichtig herauszufinden, »auf welche Weise Geschlecht bei der Konstruktion gesellschaftlicher und politischer
Bedeutung präsent ist.« Ganz explizit brachte sie diesen Anspruch in ihrem
Aufsatz »Sprache, Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse« zum Ausdruck:
Mit Geschlecht meine ich nicht einfach gesellschaftliche Rollen für Frauen
und Männer, sondern die Artikulation gesellschaftlicher Verstehensweisen von
sexueller Differenz in spezifischen Kontexten. Wenn Bedeutung in den Kategorien der Differenz konstruiert wird (indem explizit oder implizit dasjenige,
Claudia Honegger u. Caroline Arni, »Vorwort«, in: Claudia Honegger u. Caroline Arni (Hg.),
Gender. Die Tücken einer Kategorie. Joan W. Scott, Geschichte und Politik. Beiträge zum Symposion anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises der Universiät Bern an Joan W. Scott,
Zürich , S. -, hier S. .
Joan W. Scott, The Glassworkers of Carmaux: French Craftsmen and Political Action in a Nineteenth-Century City, Harvard .
Joan W. Scott, »Über Sprache, Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse«, in: Christoph Conrad u. Martina Kessel (Hgg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur
aktuellen Diskussion, Stuttgart , S. -, hier S. . Eine erste Fassung dieses Aufsatzes
erschien in: International Labor and Working Class History , S. -.
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
was etwas ist, von demjenigen, was es nicht ist, unterschieden wird), dann ist
die sexuelle Differenz (die kulturell und historisch variabel ist, aber aufgrund
ihres Verweises auf natürliche, physische Körper immer unveränderlich und
unstrittig erscheint) eine wichtige Art und Weise, Bedeutung zu spezifizieren
und begründen. Meine These ist, dass wir, wenn wir darauf achten, auf welche Weise »Sprache« Bedeutung konstruiert, wir auch in der Lage sein werden, Geschlecht zu verorten.
Damit war ein zentrales Problem der Geschlechterforschung benannt, die Naturalisierung und Entdiskursivierung von Geschlechtverhältnissen, denen nach
wie vor »ein spezifisches Unsichtbarsein« anhaftet. Unabhängig von den konkreten Handlungsräumen von Männern und Frauen in einer Gesellschaft wurde die sexuelle Differenz in der Geschichte immer wieder dazu benutzt, Ungleichheit mit Verweis auf die Natur zu begründen und damit ihre soziale Konstruktion zu verschleiern. Um dieses Problem zu überwinden, schlägt Scott die
Unterscheidung zwischen männlich/weiblich für physische Personen und maskulin/feminin für abstrakte Eigenschaften vor. Obgleich zwischen beiden eine
Beziehung besteht, findet spätestens seit der Aufklärung in der westlichen Kultur auf der symbolischen Ebene eine als natürlich erscheinende binäre Kodierung (stark/schwach, öffentlich/privat etc.) statt, durch die die Geschlechterordnung gesellschaftliche und politische Bedeutung erhält, unabhängig davon,
ob einzelne Akteurinnen diese Definition akzeptieren oder umdeuten.
Die eingangs erwähnte Geschichte der Staatsgewalt ist ein gutes Beispiel dafür,
dass diese Unterscheidung auch für die Erforschung der Ständegesellschaft weiterführend ist. Mit ihr ließe sich die politische Partizipation von Frauen auf der
ereignisgeschichtlichen Ebene und die »politische Unrolle« auf der diskursiven
Ebene erklären, ohne dass auf die Hilfskonstruktion der Ausnahme zurückgegriffen werden müsste, die letztlich nur dazu dient, eine vermeintlich ganz andere Normalität »weiblicher« Existenz zu bestätigen. Auch der Umstand, dass Frauen, die bestimmte Positionen inne hatten oder sich durch Eigenschaften auszeichneten, die männlich markiert waren, bereits in der Frühen Neuzeit als Ausnahmen bezeichnet wurden, rechtfertigt es nicht, diese Positionen unreflektiert
zu übernehmen und den diskursiven Charakter dieser Äußerungen zu übersehen. Während außergewöhnliche Männer in der Regel weder als Ausnahme
noch vor der Folie »männlicher Normalität« interpretiert werden, dient – auf-
Ebd., S. .
Becker-Schmid u. Knapp (wie Anm. ), S. .
Scott (wie Anm. ), S. .
Ebd., S. ff.
Claudia Ulbrich
grund der asymmetrischen Konstruktion von Geschlecht – die Erwähnung des
Außergewöhnlichen der »Ausnahmefrau« häufig dazu, die »normale«, d. h. die
passive, untergeordnete Frau zu konstruieren. Wie Natalie Zemon Davis betont hat, besteht in der Erforschung von Handlungsräumen und Lebenswelten
außergewöhnlicher Frauen eine Möglichkeit, die kulturellen Ressourcen einer
Gesellschaft zu erkennen. In Bezug auf Marie de l’incarnation, Maria Sybilla
Merian und Glikl bas Judah Leib betont sie:
Yes, these three women were exceptional, but they were not insulated Heroines. In their inventiveness and courage, they drew on cultural resources, especially religious resources of their time. If they were located on »margins« –
that is, far from centers of power and learning – they derived some benefit
from the choices available to them in these fluid settings.
Davis interessiert sich für das Handeln von Menschen, die an den Rändern der
Gesellschaft positioniert sind. Ihr Zugang ermöglicht ihr, eine Vielzahl von
Handlungsoptionen sichtbar zu machen, die Menschen verfügbar waren. Damit wird Geschichte für sie zu einem offenen Modell, in dem nicht nur Frauen,
sondern auch andere marginalisierte Gruppen ihren Platz finden. Während
Davis ihre ProtagonistInnen im Spannungsfeld von individueller Besonderheit
und historischer Bedingtheit verortet, schlägt Scott vor, sich der Kategorie Geschlecht mit Hilfe der Diskursanalyse zu nähern. In ihrem vielbeachteten Aufsatz »Gender: A Useful Category of Historical Analysis« kritisiert sie die bis
dahin vorliegenden sozialhistorischen Ansätze und schlägt eine Definition von
gender vor, die die diskursiven Konstruktionsprozesse ins Zentrum der Analyse
rückt. Dabei geht es ihr vor allem um die Frage, in welcher Weise die Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz das soziale Leben organisiert und Machtbeziehungen strukturiert:
Claudia Ulbrich u. David Sabean, »Personenkonzepte in der Frühen Neuzeit«, in: Claudia von
Braunmühl (Hg.), Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog (Wissenschaft in
der Verantwortung), Berlin , S. .
Natalie Zemon Davis, »Heroes, Heroines, Protagonists«, eingeleitet von Gabriele Jancke und
Claudia Ulbrich, in: L’Homme /, , S. -, hier S. .
Ebd., S. f.
Als Beispiel für diesen Zugang sei verwiesen auf: Claudia Ulbrich (wie Anm. ).
Zu Scotts Ansatz s. Claudia Opitz, »Gender – eine unverzichtbare Kategorie der historischen
Analyse. Zur Rezeption von Joan W. Scotts Studien in Deutschland, Österreich und der
Schweiz«, in: Honegger u. Arni (wie Anm. ), S. -; Andrea Griesebner »Geschlecht als
mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit«, in: Veronika Aegerter u. a. (Hgg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Zürich , S. -, bes. S. -.
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
The core of the definition rests on an integral connection between two propositions: gender is a constitutive element of social relationships based on
perceived differences between the sexes, and gender is a primary way of signifying relationships of power. Changes in the organization of social relationships always correspond to changes in representations of power, but the direction of change is not necessarily one way. As a constitutive element of
social relationships based on perceived differences between the sexes, gender
involves four interrelated elements: first, culturally available symbols that evoke
multiple (and often contradictory) representations […] Second, normative
concepts […]. The point of new historical investigation is […] to discover
the nature of the debate or repression that leads to the appearance of timeless
permanence in binary gender representation. This kind of analysis must include a notion of politics as well as reference to social institutions and organizations – the third aspect of gender relationships. […] The fourth aspect of
gender is subjective identity.
Viele Fragen, die Joan Scott in ihren Aufsätzen aufgeworfen hat, und viele Diskussionen, die sie ausgelöst hat, wurden in Arbeiten zur Frühen Neuzeit aufgegriffen. In der Historischen Anthropologie und der Neuen Kulturgeschichte
wurden Subjektivität und Erfahrung, Körper und Macht in den letzten Jahren
wichtige Themen. Trotzdem blieben viele dieser Arbeiten in Bezug auf Geschlecht
in einem binären Erklärungszusammenhang, der die Naturgegenbenheit der
Geschlechterdifferenz nicht hinterfragt. Nach wie vor wird gender oft mit Frauen gleichgesetzt und eher dazu benutzt, die Geschlechterdifferenz zu bestätigen
als sie zu erforschen. Wie Scott in ihrer kritischen Betrachtung über »Die
Zukunft von gender« betonte, diente gender nur dort als provokative Kategorie,
wo es »als eine offene Frage nach unterschiedlichen Konzeptionen von geschlechtlicher Differenz verstanden wurde«. In ihren eigenen Arbeiten wandte sie diese
Offenheit auch auf die Achsen der Ungleichheit an. Für die Arbeitergeschichte
des . Jahrhunderts zeigte sie, dass Geschlecht und Klasse auf der sprachlichen
Ebene so stark miteinander verwoben waren, dass das eine nicht ohne das andere untersucht werden kann. Auch Politik, Geschlecht, Sexualität und Familie
sind nach ihrer Auffassung diskursiv aufeinander bezogene Systeme und als solche zu analysieren. Damit geht Scott über die Trias ›Rasse‹, Klasse, Geschlecht,
Joan W. Scott, »Gender. A Useful Category of Historical Analysis«, in: American Historical
Review (), S. -, hier S. f. (deutsch: »Gender: Eine nützliche Kategorie der
historischen Analyse«, in: Nancy Kaiser (Hg.), Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig
).
Joan W. Scott, »Die Zukunft von gender. Fantasien zur ›Jahrtausendwende‹«, in: Honegger u.
Arni (wie Anm. ), S. -, hier S. .
Scott (wie Anm. ), S. .
Claudia Ulbrich
die seit Beginn der Feministischen Theorie in den er Jahren zunächst in der
US-amerikanischen Forschung als grundlegend für die Untersuchung der Ungleichheit erachtet wurde, hinaus.
Auch in der geschlechtergeschichtlich orientierten Frühneuzeitforschung
wurde eine Erweiterung der Kategorien angemahnt, die als veränderbare Effekte
spezifischer Machtdynamiken in ihrer wechselseitigen Verwobenheit untersucht
werden sollten. Andrea Griesebner schlug vor, »Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie« zu fassen und diskursanalytische und praxeologische Herangehensweisen zusammenzubringen, da »Subjekte an Schnittpunkten von verschiedenen Diskursen und Praktiken konstituiert werden und sich selbst konstituieren.« Unter Bezug auf mikrohistorische Studien verwies sie darauf, »dass je
nach Raum, Zeit und Situation Klassifizierungssysteme wie Geschlecht, Rasse,
Ethnie, Sexualität, Klasse, Stand, Sprache, Alter, Religion, Bildungsgrad etc.
Gewicht haben.« Christina Lutter betonte, dass neben Geschlecht auch Wissen eine der zentralen Kategorien ist, über die sich Gesellschaften eine Ordnung
geben und durch die Herrschaft organisiert wird. Die Bedeutung dieser Kategorien wird freilich erst deutlich, wenn sie historisiert und kontextualisiert werden. Am Beispiel des steirischen Doppelklosters Admont ist sie der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben für die
Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern hatte. Sylvie Steinberg hat
nicht nur wichtige Beiträge vorgelegt, in denen sie zeigen kann, auf welche Weise in der Travestie und Maskerade der Konstruktionscharakter von Geschlecht
entlarvt wird, sie hat auch, ausgehend von Frauen wie Chrétienne d’Aguerre,
Comtesse de Sault und Madame de Montravel, die eine aktive Rolle in den
Religionskriegen gespielt haben, die Frage diskutiert, in welchem Verhältnis die
Ordnung der Geschlechter und die Ordnung der Gesellschaft zueinander stehen. Auch hier geht es um Wechselwirkungen, Brüche und Überschneidungen. Michaela Hohkamp hat darauf hingewiesen, dass in partikularen Gesell-
Vgl. dazu Andrea Griesebner, »Geschlecht als soziale und analytische Kategorie«, in: Johanna
Gehmacher u. a. (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/ Perspektiven, Wien ,
S. -; sowie das von Andrea Griesebner und Christina Lutter hg. Themenheft der Wiener
Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit: »Die Macht der Kategorien. Perspektiven historischer
Geschlechterforschung«, Wien .
Griesebner (wie Anm. ), S. .
Christina Lutter, Geschlecht & Wissen, Norm & Praxis, Lesen & Schreiben. Monastische Reformgemeinschafen im . Jahrhundert, Wien, München .
Sylvie Steinberg, La confusion des sexes. Le travestissement de la Renaissance à la Révolution, Paris
.
Sylvie Steinberg, »Hiérarchies dans l’Ancien Régime«, in: Riot-Sarcey (wie Anm. ), S. .
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
schaften wie der Frühen Neuzeit nicht nur die Zuordnung zum Personenstand
(Verheiratete, Ledige oder Witwen und Witwer) den Lebensalltag strukturierte:
»Daneben lenkten auch verwandtschaftliche Zusammenhänge, herrschaftliche
Abhängigkeiten oder geschlechterspezifische Zuweisungen im alltäglichen Leben den Zugang zu und die Verfügung über soziale(n), herrschaftliche(n) und
kulturelle(n) Ressourcen.« Sie schlägt vor, die verschiedenen Kategorien »als ein
Ensemble von Elementen« zu verstehen, »dessen Gestalt sich kaleidoskopartig
verändern und laufend neu figurieren kann.« Die für die Frühe Neuzeit formulierten Ansätze, Geschlecht als mehrfachrelationale Kategorie zu fassen, verfolgen letztlich das gleiche Ziel wie die gegenwärtigen Debatten um Intersektionalität, doch stehen diese in einem ganz anderen Kontext. Einer der zentralen
Ansatzpunkte war der Versuch, neue Ansätze in der Ungleichheitsforschung zu
entwickeln.
Ungleichheit und Intersektionalität
Unter Intersektionalität wird ein Konzept verstanden, mit dessen Hilfe die Wechselwirkungen und das Ineinandergreifen verschiedener sozialer Strukturen erfasst werden können. Die Stärke des Konzepts wird unter anderem darin gesehen, »die Mehrstimmigkeit (sozialer Bewegungen) hörbar zu machen, sowie die
Multidimensionalität (von Identitäten und sozialen Platzanweisern) sichtbar zu
machen.« Verbunden damit ist die Erwartung, marginalisierte Perspektiven
integrieren und das komplexe Zusammenwirken von Privilegien und Benachteiligungen erkennen zu können.
Die Metapher der Intersection (Straßenkreuzung) wurde von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw eingebracht, deren Anliegen es war, aufzuzeigen, welche Folgen es für die Struktur und Praxis von Herrschaft hat, wenn
Ungleichheitskategorien lediglich additiv nebeneinander gestellt werden. Ganz
konkret bezog sich ihre Intervention auf amerikanische Antidiskriminierungsgesetze, die – wie die Praxis herausgestellt hat – zugunsten schwarzer Männer
Michaela Hohkamp, »Im Gestrüpp der Kategorien: zum Gebrauch von Geschlecht in der
Frühen Neuzeit«, in: Griesebner u. Lutter (wie Anm. ), S. -, hier S. .
Helma Lutz, Maria Teresa Herrera Vivar u. Linda Supik, »Fokus Intersektionalität – Eine
Einführung«, in: dies. (Hgg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden , S. . Dort wird auch ausführlich auf die Rezeption der
Debatte in unterschiedlichen Ländern und die Übersetzungsproblematik in verschiedene Kulturen eingegangen.
Ebd., S. .
Claudia Ulbrich
und weißer Frauen wirkten, während schwarze Frauen systematisch benachteiligt blieben, »da die Kategorien Gender und Race in diesen Gesetzen als sich
gegenseitig ausschließende Konzepte gefasst werden.« Schon in der von
Crenshaw gewählten Metapher der Intersection wird eines der grundlegenden
Probleme dieses Ansatzes deutlich: Er kann dazu führen, dass die Kategorien
nach wie vor als kohärente Einheiten getrennt gedacht und ihre Verwobenheiten
nur dann in den Blick genommen werden, wenn sich die Kategorien wie im
beschriebenen Fall kreuzen. Zur Frage, wie der Anspruch, die Komplexität und
Vielfalt von Kategorien in ihrer Verwobenheit und Dynamik herauszuarbeiten,
eingelöst werden kann, gibt es kontroverse Debatten, die es als sinnvoll erscheinen lassen, von Intersektionalität als Perspektive oder offenem Konzept zu sprechen. Zu dieser Offenheit gehört es, sich einzugestehen, dass das Konzept so
komplex ist, dass es zu diffusen Ergebnissen oder zu unerwünschten Reifizierungen führen kann. Die Hinwendung zu kategorial operierenden Zugängen
ist allein schon deshalb nicht unproblematisch, weil Kategorien etwas Essentialistisches anhaftet und sie zu Vereinheitlichungen und Ausschlüssen tendieren.
In diesem Zusammenhang sei noch einmal Joan Scott zitiert, die in
ihrer Rede auf der Berkeshire-Conference ausführte:
As feminists, we have learned to be wary of such categories – Denise Riley has
dubbed them »fictitious unities« – because even as they offer terms for identification, they create hierarchies and obscure differences that need to be
seen […]. (Paradoxically, the fact that they are fictitious makes their effects
no less real.) »Men« and »women«, we now know, are not simple descriptions
of biological persons, but representations that secure their meanings through
interdependent contrasts: strong/weak, active/passive, reasonable/emotional,
public/private, political/domestic, mind/body. One term gains its meaning
in relation to the other and also to other binary pairs nearby. Indeed, »the
other« is a crucial (negative) factor for any positive identity – and the positive
identity stands in superior relation to the negative. Women’s supposed lack of
reason has historically been not only a justification for denying them education or citizenship; it has also served to depict reason as a function of masculinity. The boundaries of public and private have not reflected the existing
Katharina Walgenbach, »Gender als interdependente Kategorie«, in: Katharina Walgenbach,
Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt u. Kerstin Palm, Gender als interdependente Kategorie. Neue
Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen u. a. , S. . Kimberlé W. Crenshaw, »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics and Violence
against Women of Color«, in: Albertson Fineman u. M. u. R. Mykitiuk (Hgg.), The public
nature of private violence: Women and the Discovery of Abuse, New York , S. -.
Walgenbach (wie Anm. ), S. .
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
roles of men and women, but have instead created them; the imagined map
of gender territories has become the referent not only for social organization,
but for the very meanings (social, cultural, psychological) of the differences
between the sexes. If the meanings of difference are created by contrasting
categories, within the categories coherent identities are produced by denying
differences.
Was hier in Bezug auf Geschlecht ausgeführt ist, gilt in ähnlichem Maße auch
für andere Kategorien. Es ist daher, wie Regina Becker-Schmidt betont, erforderlich, dass jede Achse sozialer Ungleichheit gesondert untersucht wird, bevor
die Wechselwirkungen, Überschneidungen und Durchkreuzungen in den Blick
genommen werden. Eine Möglichkeit dies zu tun, bietet sich – zumindest für
die Geschichtswissenschaft – im mehrperspektivischen Erzählen. Je nachdem,
ob Rasse, Klasse oder Geschlecht als Ausgangspunkt für eine ergebnisoffene
Analyse gewählt werden, werden unterschiedliche Geschichten entstehen, durch
die die jeweils andere Geschichte relativiert wird. Dabei stellt sich die Frage, ob
diese Geschichten zu einer kohärenten Geschichte verknüpft werden können
und sollen oder ob sie nicht doch mit all ihren Widersprüchen nebeneinander
stehen bleiben müssen, wenn der Anspruch wirklich ernst zu nehmen ist, dass
eine intersektionelle Analyse die Multidimensionalität von Identitäten und Bewegungen aufdecken kann. Letztlich kann es dabei nicht mehr darum gehen,
kohärente Erzählungen zu liefern, vielmehr müsste das Aufzeigen von Fragmentierung und Partikularitäten – wie in der Postcolonial Theory gefordert – zu den
Zielen einer solchen Analyse gehören. Ein solches Nebeneinander in der jeweiligen Verwobenheit der Kategorien ebenso wie der Standpunkte aufzuzeigen,
würde über die additive Aneinanderreihung von Kategorien hinausgehen und
eine Offenheit gegenüber den Ergebnissen ermöglichen, die in den Konzeptualisierungen von Intersektionalität nicht immer gegeben zu sein scheint.
Die Komplexität intersektioneller Analysen birgt aber noch weitere Probleme. Sie beziehen sich nicht nur auf die intra-kategoriale, sondern auch auf die
inter-kategoriale Ebene. Wenn mehrere Untersuchungsebenen kontextualisiert
und gesellschaftstheoretisch eingebettet werden müssen, so stößt dies schnell an
die Grenze der Möglichkeiten einer Umsetzung in der Forschungspraxis. Vor
allem aber ist es erforderlich, wichtige Vorentscheidungen zu treffen. Sie bezie Joan W. Scott, »Feminist Reverberations«, in: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies
/, (), S. -; Denise Riley, The Words of Selves: Identification, Solidarity, and Irony, Stanford .
Regina Becker-Schmidt, »›Class‹, ›gender‹, ›ethnicity‹, ›race‹: Logiken der Differenzierung, Verschränkungen von Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Strukturierung«, in: Klinger, Knapp
u. Sauer (wie Anm. ), S. -, hier S. f.
Degele (wie Anm. ), S. .
Claudia Ulbrich
hen sich zum einen auf die Wahl der Kategorien, die als relevant erachtet werden, zum andern aber auch auf die Untersuchungsebenen. Während auf der
Mikroebene eine vergleichsweise große Zahl von Kategorien analysiert werden
können, lassen Forschungen über sozialstrukturelle oder institutionelle Ungleichheiten auf der Makroebene nur eine begrenzte Anzahl von Kategorien zu. Die
neuere deutsche Ungleichheitsforschung konzentriert sich meist auf Klasse, ›Rasse‹
und Geschlecht und knüpft damit an Forschungstraditionen aus dem USamerikanischen Raum an. Gabriele Winker und Nina Degele gehen in ihrem
Versuch, ein theoretisches Konzept von Intersektionalität zu entwickeln, für die
Untersuchung der Makroebene von vier Kategorien (Klasse, Geschlecht, Rasse,
Körper) aus, andere schlagen – ähnlich, wie es in der historischen Frühneuzeitforschung geschehen ist – eine erheblich größere Zahl von Kategorien vor und
möchten auch so unterschiedliche Aspekte wie Nation, Gesundheit, Alter oder
Sesshaftigkeit kategorial in die Analyse integrieren. Die – oft ethnologisch begründete – Migrationsforschung sieht im Zusammenhang von Geschlecht und
Ethnizität eine der zentralen Zukunftsfragen, da Migration soziale Ungleichheit
fördere und mit kollektiv zugewiesener Geschlechterungleichheit verwoben sei.
Letztlich sind alle hier verhandelten Kategorien Produkte der Moderne und der
Postmoderne und keineswegs geeignet, vormoderne Gesellschaften zu erklären.
Dennoch lohnt es sich darüber nachzudenken, ob und auf welche Weise moderne Kategorien mit vormodernen Konzepten in Bezug gesetzt werden können.
Christina Lutter, die diesen Vorschlag gemacht hat, vermutet, »dass die Kategorie ›Klasse/class‹ mit dem vormodernen Konzept ordo, oder aber die Katgegorie
›race‹ mit jenem von Ethnizität bzw. Herkunft hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktionen und Wirkungsweisen durchaus verglichen werden können«.
In vielen Fällen wird aber für vormoderne Gesellschaften ein ganz anderes Forschungsdesign erforderlich sein. Um die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in
der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu ermitteln, dürften »Kategorien wie Verwandtschaft, Generation, ziviler Stand oder auch die Position in der Erbfolge«
wesentlich wichtiger gewesen sein als diejenigen, die sich für die Untersuchung
moderner Gesellschaften anbieten. Trotzdem wäre auch in der Frage der
Ebd., S. .
Vgl. etwa Klinger u. Knapp (wie Anm. ). Für den deutschsprachigen Kontext ist »Rasse« ein
umstrittenes Konzept. Es wird oft durch Ethnizität ersetzt oder ergänzt.
Ilse Lenz, Andrea Germer u. Brigitte Hasenjürgen, »Einleitung«, in: dies. (Hgg.), Wechselnde
Blicke. Frauenforschung in internationaler Perspektive, Opladen , S. .
Lutter (wie Anm. ), S. .
Andrea Griesebner u. Christina Lutter, »Mehrfach relational. Geschlecht als soziale und analytische Kategorie«, in: dies. (wie Anm. ), S.
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
Kategorienbildung ein transepochaler Dialog aufschlussreich. Er würde freilich
das Projekt Intersektionalität noch schwieriger machen, als es ohnehin schon
ist.
Auch wenn es in den neueren Debatten weniger deutlich gesagt wird als in
den älteren, handelt es sich bei der Frage, welche Kategorien der Wahrnehmung
zu zentralen Analysekategorien erhoben werden, letztlich nicht nur um eine
erkenntnistheoretische, sondern auch um eine wissenschaftspolitische Entscheidung.
Das Problem der Untersuchungsebenen scheint weniger umstritten. Gabriele
Winker und Nina Degele berücksichtigen in ihrem Vorschlag für eine Mehrebenenanalyse die Sozialstrukturen (Makro-/Mesoebene), Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) und kulturelle Symbole (Repräsentationsebene). Helma
Lutz schlägt unter Bezugnahme auf die britische Soziologin Floya Anthias vor,
die Kreuzung von Differenzlinien auf vier Ebenen zu untersuchen: »a) auf der
Ebene der (Diskriminierungs-)erfahrung; b) auf der Akteursebene (intersubjektive Praxis); c) auf der institutionellen Ebene (Institutsregime) und d) auf der
Ebene der Repräsentation (symbolisch und diskursiv).« Nimmt man diese Vorschläge ernst und versucht, sie in die Praxis umzusetzen, so wird aus Intersektionalität ein so hybrides Forschungsprogramm, dass es kaum mehr operationalisierbar
ist. Am ehesten werden die Ansprüche intersektioneller Analysen auf der Mikroebene einlösbar. Hier wurden sie vor allem genutzt, um Identitätskonstruktionen
zu erforschen.
In einem provokativen und anregenden Aufsatz hat Cornelia Klinger
die Bevorzugung von Identität als Forschungsthema der Ungleichheitsforschung
Unter dem Label »Gegenlektüre« bzw. transkultureller oder transepochaler Dialog wurden in
der FG Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive Ansätze zusammengefasst, kontextnahe und kontextferne Kompetenzen bei der Bearbeitung eines Textes zusammenzubringen.
Als Beispiel für diesen methodischen Zugang sei verwiesen auf: Elke Hartmann u. Gabriele
Jancke, »Roupens ›Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs‹ (/ ) im transepochalen Dialog – Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität«, in: Hans Medick, Angelika Schaser u. Claudia Ulbrich (Hgg.), Selbstzeugnis und Person – Transkulturelle Perspektiven (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. ), Köln,
Weimar, Wien (i. V.); Gabriele Jancke u. Sebastian Cwiklinski, »Räume des Selbst –
Gastfreundschaft im Reisebericht des tatarischen Gelehrten Publizisten Abdurraschid Ibrahim
(frühes . Jahrhundert)«, in: Andreas Bähr, Peter Burschel u. Gabriele Jancke (Hgg.), Räume
des Selbst. Selbstzeugnisse transkulturell (Selbstzeignisse der Neuzeit, Bd. ), Köln, Weimar,
Wien , S. -.
Griesebner u. Lutter (wie Anm. ), S. .
Winker u. Degele (wie Anm. ), S. .
Helma Lutz, »›Die -Stunden-Poli‹ – Eine intersektionale Analyse transnationaler Dienstleistungen«, in: Klinger, Knapp u. Sauer (wie Anm. ), S. -, hier S. .
Claudia Ulbrich
hinterfragt und einen »social (re)turn« gefordert. Um die »Sackgasse der Identitätspolitik« zu überwinden, müssten ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht als Kategorien der Gesellschaftsanalyse neu gewonnen werden. Erst wenn man wisse,
wie und wodurch die Kategorien Klasse, ›Rasse‹ und Geschlecht konstituiert
sind, könne man nach den Erfahrungen der Subjekte und ihren Subjektpositionen
fragen. Angesichts der neuen Dimension sozialer Ungleichheit in globalen und
europäischen Kontexten forderte sie, »Ungleichheit als Prinzip der modernen
Gesellschaft« zu analysieren und zu fragen, »inwiefern und inwieweit die moderne Gesellschaft zu ihrem Funktionieren der Ungleichheit bedarf, das heißt,
auf (alter) Ungleichheit aufbaut und (neue) Ungleichheit produziert«. Eine
ihrer Thesen ist, dass Ungleichheit im Zuge der Säkularisierung der westlichen
Welt nicht verschwand, sondern einem Formenwandel unterlag. Zusammen mit
Gudrun-Axeli Knapp plädierte sie schließlich »für einen integrierten Blick
auf Ungleichheit entlang der Achsen von Klasse, ›Rasse‹/Ethnizität und Geschlecht als differenten, aber miteinander in Wechselwirkungen stehenden gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen«. Diese Achsen werden im Rahmen
einer an Marx und Weber orientierten Gesellschafttheorie begründet. Da sich
Klasse, ›Rasse‹/Ethnizität und Geschlecht »als Relationen gesellschaftlicher Ungleichheit sowie als Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse« im Übergang zur Moderne ausgebildet hätten, plädieren sie dafür, auch die Geschichte der Ungleichheit unter einer erweiterten Perspektive neu zu erforschen, um »Formen und
Konfigurationen von Ungleichheit und Differenz in unterschiedlichen Phasen
der gesellschaftlichen Veränderung genauer als bisher bestimmen zu können«.
Perspektiven für die Frühneuzeitforschung
Angesichts der steigenden Bedeutung von Ungleichheit in gegenwärtigen Gesellschaften wäre der »social (re)turn«, den Cornelia Klinger angemahnt hat,
auch in der Frühneuzeitforschung angebracht, vorausgesetzt er ist, wie in der
soziologischen Ungleichheitsforschung in geschlechtergeschichtlicher Erweiterung mit einer epistemologischen Wende verknüpft. Zumindest ebenso wichtig
wäre es aber, die zahlreichen, bereits vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der
Cornelia Klinger, »Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht«, in:
Gudrun-Axeli Knapp u. Angelika Wetterer (Hgg.), Achsen der Differenz. Gessellschaftstheorie
und feministische Kritik II, Münster , S. -, hier S. .
Ebd., S. .
Ebd., S. .
Klinger u. Knapp (wie Anm. ), S. f.
Ebd., S. .
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
Frühen Neuzeit zu rezipieren, die Geschlecht nicht als isolierte oder additive,
sondern als integrative Kategorie genutzt und wichtige Impulse gegeben haben,
soziale Ungleichheit in der Ständegesellschaft neu zu denken. Zu erinnern ist
etwa an die Studie von Isabel Hull, die die Verwobenheit von Staat, Gesellschaft
und dem System sexueller Regulierung für den Übergang zur Moderne untersucht hat oder an Michaela Hohkamp, die in ihren Forschungen aufgezeigt
hat, in welchem Maße sich das Politische über komplexe verwandtschaftliche
Netzwerke konstituierte. Auch wenn beide Ansätze ganz unterschiedliche Perspektiven einnehmen, wird deutlich, dass eine Neukonfiguration des Konzepts
Ständegesellschaft, die unter anderem Diskurse über Körper und Sexualität ebenso
wie geschlechterspezifische Praktiken der Verwandtschaft integriert, erforderlich ist. Dass dabei auch das System sozialer und politischer Werte neu fokussiert werden müsste, hat Renate Blickle in ihren Überlegungen zu »Nahrung
und Eigentum als Kategorien der ständischen Gesellschaft« deutlich gemacht
und darauf verwiesen, dass in der Norm der Hausnotdurft »die hierarchische
Ordovorstellung der ständischen Gesellschaft mit einem egalitären Existenzrecht«
verbunden war. Formen von Gleichheit und Ungleichheit, die soziale Reichweite von Konzepten und ihre Situiertheit müssten sehr viel präziser gefasst
werden als bislang, wenn man Kategorien, die in der jeweiligen Gesellschaft
zentral waren, in die Analyse einbeziehen will. Auch Arbeiten, die sich mit einer
Neubestimmung von Person und Selbst in der Frühen Neuzeit befassen legen
nahe, dass ständische Gesellschaft anders als bislang verortet werden müsste. So
müsste z. B. der Aspekt der Gleichheit vor Gott, der in zahlreichen religionsgeschichtlichen Forschungen zur Frühen Neuzeit gerade in Bezug auf Frauen angesprochen wird, in die Untersuchung sozialer Ungleichheit und in ein zu entwerfendes Konzept von ständischer Gesellschaft integriert und nicht als getrenntes
Problem abgehandelt werden. Die Studie von Sheilagh Ogilvie über den Bei Isabel V. Hull, Sexuality, state, and civil society in Germany, – Ithaca [u. a.] .
Michaela Hohkamp, Trans-dynasticism at the Dawn of the Modern Era: Kinship dynamics
among Ruling Families, in: Francesca Trivellato u. a. (Hgg.), Trans-regional and Transnational
Families in Europe and Beyond: Experiences Since the Middle Ages, New York , S. -.
Dies. (Hg.), Tanten. Themenheft der Zeitschrift WerkstattGeschichte Heft ().
Renate Blickle, »Nahrung und Eigentum als Kategorien der Ständischen Gesellschaft«, in:
Winfried Schulze (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München , S. .
DFG FG : »Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive« (http://www.fu-berlin.de/dfgfg/fg/forschergruppe/ulbrich.html).
Das Spannungsfeld zwischen spiritueller Gleichheit und sozialer Ungleichheit wird beispielsweise
angedeutet bei Nicole Grochowina, »Zwischen Gleichheit im Martyrium und Unterordnung
in der Ehe. Aktionsräume von Frauen in der täuferischen Bewegung«, in: Anne Conrad (Hg.),
»In Christo ist weder man noch weyb«. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen
Claudia Ulbrich
trag von Frauen zur vorindustriellen Wirtschaft und den Einfluss von Zünften
und Kommunen auf die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen mögen schließlich
als einer von vielen möglichen Belegen dafür angeführt werden, dass soziale
Ungleichheit in den letzten Jahren unter geschlechtergeschichtlichem Blickwinkel neu erforscht wurde.
Geschlecht wird in den erwähnten Arbeiten nie isoliert betrachtet, sondern
immer in der Verwobenheit mit anderen Kategorien, theoretisch gesprochen als
»mehrfachrelationale Kategorie« angewendet. Ob von den soziologischen Ungleichheitsforschungen, insbesondere von dem Konzept der Intersektionalität,
neue Impulse ausgehen, bleibt abzuwarten. Immerhin scheint es Ausdruck für
die Öffnung neuer Denkräume zu sein. In ihm bündelt sich die Bereitschaft,
Ungleichheit in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit unter Einbeziehung
mehrerer Ungleichheitskategorien und unterschiedlicher Untersuchungsebenen
zu erforschen und mit der Forderung des both/and jene Gräben zu überwinden,
die es in Bezug auf diskursanalytische und praxeologische Forschungsansätze
gegeben hat und offensichtlich immer noch gibt. Wird Intersektionalität als
offenes Konzept, als Perspektive oder als eine neue Art, Fragen zu stellen, verstanden, so könnte sie ein Weg sein, das Haus der Allgemeinen Geschichte umzubauen.
Reform, Münster , S. -. In dem einleitenden Beitrag zu diesem Sammelband »Aufbruch der Laien – Aufbruch der Frauen. Überlegungen zu einer geschlechtergeschichte der
Reformation und der katholischen Reform« fordert Anne Conrad, Ungleichheit mehrperspektivisch zu untersuchen (in bezug auf Geschlechter, Laien/Kleriker oder ständische Unterschiede).
Sheilagh C. Ogilvie, A bitter living: women, markets, and social capital in early modern Germany,
Oxford [u. a.] .
Innerhalb der deutschen Forschung werden diskursanalytische Zugänge besonders vehement
von den eingangs erwähnten Historikern abgelehnt. Hier ist noch einmal auf Wolfgang Reinhard hinzuweisen, der sich in Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München polemisch über die Personen und Forschungsansätze von Foucault und Butler äußert und statt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit deren Zugängen essayistische Darstellungs- und biologistische Argumentationsweisen bevorzugt. Seine Aussagen über Foucault
(S. ) sind den Entgleisungen von Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München durchaus ähnlich. Zu diesem Zusammenhang s. Peter Schöttler, »Prologe im Himmel der Theorie. Die Historiker Richard Evans und Hans-Ulrich Wehler rufen
zum Kampf gegen die ›Postmoderne›‹«, in: Zeit online, Kultur, . September und ders.,
»Nach der Angst. Was könnte bleiben vom linguistic turn?« (im Druck).