I
Zentrum für Interdisziplinäre
Frauen- und Geschlechterforschung
Technische Universität Berlin
m Rahmen des Vorhabens GENDER TECHNIK
MUSEUM wurden Geschlechterwissen und
-politiken in technischen Museen untersucht. Die
Publikation versammelt die Ergebnisse der Auftaktkonferenz, der Mitarbeiter*innenbefragung
in fünf verschiedenen Institutionen sowie der
kuratorischen Beratung einer Ausstellung.
Über die Bestandsaufnahme in Technikmuseen
hinaus, eröffnen die Beiträge interdisziplinäre
Ansätze für eine reflexive und gendergerechte
Museumspraxis.
Daniela Döring · HannaH FitscH
isbn
978-3-00-053782-0
{genDer;
tecHnik;
MuseuM;
}
STRATEGIEN FÜR
EINE GESCHLECHTERGERECHTE
MUSEUMSPRAXIS
Herausgegeben von
Daniela Döring
unD HannaH FitscH
Impressum
Das dieser Publikation zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundes-
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Daniela Döring, Hannah Fitsch, Sabine Hark
7
ministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01FP1502 gefördert.
Die Verantwortung für den Inhalt dieses Informationsangebotes liegt bei den Autorinnen.
Das Vorhaben wurde vom 1. 10. 2015 bis 30. 9. 2016 realisiert.
Wir danken allen Kooperationspartner*innen, dem Nationalen Pakt für Frauen in MINT Berufen sowie den Mitarbeiter*innen der Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin,
des Deutschen Museums München, des Militärhistorischen Museums Dresden, des Technischen
Museums Wien und des Museums der Arbeit in Hamburg, die zum Gelingen dieser Untersuchung beigetragen haben.
1. Auflage 2016
© Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung
Technische Universität Berlin
Marchstraße 23, 10587 Berlin
Redaktion, Herausgabe : Daniela Döring, Hannah Fitsch
Kontakt :
info@gendertechnikmuseum.de
Website :
www.gendertechnikmuseum.de
Autorinnen :
Lisa Bor, Jülide Çakan, Daniela Döring, Smilla Ebeling, Hannah
Das Öffnen der black box. Perspektiven der Genderforschung
auf Technikgeschichte Martina Heßler
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»Rin in die Bude mit der Frau !« — Die Geschlechterfrage im
Berliner Technikmuseum 1980–2006 Gabriele Wohlauf
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Technologien der Geschlechter. Ansätze für eine gendergerechte
und reflexive Museumspraxis
Daniela Döring, Hannah Fitsch, Lisa Bor, Jülide Çakan
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Fragebogen der Untersuchung »GENDER TECHNIK MUSEUM.
Strategien für eine geschlechtergerechte Museumspraxis«
Daniela Döring, Hannah Fitsch
Dinge neu gebrauchen — Zum Umgang mit Sammlungen
von gegenderten »Dingen von Belang« Roswitha Muttenthaler
103
115
Fitsch, Martina Griesser, Sabine Hark, Martina Heßler, Roswitha
Muttenthaler, Elke Smodics, Nora Sternfeld, Gabriele Wohlauf,
Regina Wonisch
Lektorat :
Pia Volk
Korrektorat :
Mareike Giertler
Gestaltung :
Hagen Verleger, Berlin · www.hagenverleger.com
Druck :
druckhaus köthen Gmbh & Co. KG
Umsetzung Website :
dFacts Puell & Partner
FremdKörper — Geschlechterbilder in Migrationsausstellungen
Regina Wonisch
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»Duty, Guilt, Indifference, Awe, Fatigue, Nostalgia, Ecstasy, Fear, Panic«.
Unzeitgemäßes Kuratieren als dissidente Treue zum Material
Martina Griesser, Nora Sternfeld ( schnittpunkt )
145
Museum & Gender : Ein Leitfaden für gendergerechte Museen
Smilla Ebeling
159
In Normalitäten intervenieren und Regeln dekonstruieren.
Perspektiven einer emanzipatorischen Kunst- und Kulturvermittlung
Elke Smodics
Literatur
173
183
Martina griesser,
nora sternFelD
( schniTTPunkT. aussTellunGsTheorie & Praxis )
»DUTY, GUILT,
INDIFFERENCE,
AWE, FATIGUE,
NOSTALGIA,
ECSTASY, FEAR,
PANIC«
unZeiTGeMässes
kuraTieren als
dissidenTe Treue
ZuM MaTerial
A BSTRACT
Wie können machtspezifische ungleichheiten in ausstellungen
thematisiert werden, ohne sie dabei zu reproduzieren?
Wie können wir etwas aufzeigen, ohne es zu zeigen, wie unsichtbar überliefertes dekonstruieren, ohne sichtbar zu rekonstruieren? Wie können wir unseren erlernten blick und den
anderer anders lenken, um künftig anders zu handeln?
Mit diesen ambitionierten Fragen als Motor widmen wir uns in
unserem beitrag strategien des ausstellens, die einladen,
erlerntes zu verlernen, selbstverständlichkeiten in Frage zu
stellen, sogar neue zu erzeugen und binäre logiken zu
durchkreuzen — am beispiel einer Wanduhr des künstler*innenkollektivs raqs Media collective und anhand zweier schminkspiegel und einem Tandem, die sammlungsobjekte des
Technischen Museums Wien sind.
W
ie kann die Kritik am Museum im Museum Folgen haben ?« ( Sternfeld 2009 : 73 ) Diese Frage steht am Anfang unseres Beitrags, um weitergedacht
zu werden. Sie stellte sich in einem Text unserer Publikationsreihe ausstellungstheorie & praxis. Seither verfolgen wir sie und möchten sie im Hinblick auf die
gesuchte museale Handlungsfähigkeit für diesen Text umformulieren : Wie können wir kritisches Kuratieren denken, das binäre Logiken nicht nur erwidert,
sondern auch durchkreuzt ? Wie können wir in der Praxis des Museums erlernte Blicke und Deutungen verlernen, um künftig anders zu handeln? Und wie
können machtspezifische Ungleichheiten in Ausstellungen thematisiert werden,
ohne sie dabei zu reproduzieren ?
Eine Wanduhr
Wir sind auf der Suche nach einer Praxis, die machtvolle Unterscheidungen
unterläuft und dabei mehr will, als bloß dem Zeitgeist zu folgen. Nehmen wir
z. B. eine Wanduhr, ein technisches Ding, Teil einer Serie.↓ abb. 1 Ihre Erscheinung
ist schmucklos und funktional im Design. Sie verfügt über ein weiß emailliertes Zifferblatt, unterschiedlich lange Zeiger — einer schwarz, der andere rot —
und ist umlaufend schlicht gerahmt. Auf den ersten Blick könnte es sich auch
um ein Wetterbarometer handeln. Dieser Eindruck ergibt sich vor allem durch
die Beschriftung mit Wörtern anstatt der für Uhren üblichen zwölf Stundenziffern. Winzige schwarze Keile markieren im Uhrzeigersinn emotional aufgeladene Begriffe : epiphany, anxiety, duty, guilt, indifference, awe, fatigue, nostalgia,
ecstasy, fear, panic, remorse. Bei der Uhr handelt es sich um ein Werk des in
Delhi ansässigen Künstler*innenkollektivs Raqs Media Collective ( Shuddhabrata
Sengupta, Monica Narula und Jeebesh Bagchi ). Sie war Teil ihrer international
rezipierten Solo-Ausstellung Asamayavali / Untimely Calendar in der National
Gallery of Modern Art Delhi ( Dezember 2014 bis März 2015 ). Mit der etwa 3.000
qm großen Schau verfolgte das Raqs Media Collective das Ziel, gängige Vorstellungen von Zeit, ihrer technischen Disziplinierungsmacht im Alltag und ihrer
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{ Martina Griesser · Nora Sternfeld | schnittpunkt }
kapitalistischen Organisation zu unterwandern ( vgl. Mason 2015 ; Feher 2013–
2015 ). Diese erscheint uns nicht nur als immer schon verloren und immer schon
zu kurz. Wir sind vielmehr ständig zur Jetztzeit gezwungen, der wir nachlaufen,
ohne genau zu wissen, wohin. So finden wir uns immer öfter verzweifelt hinter
der Deadline wieder, bereits verschuldet und schon zu spät.
Was die Künstler*innen damit ansprechen, ist ein Effekt, der an der
Schnittstelle von Politik, Ökonomie, Ideologie und Technologieentwicklung entsteht. Zur kapitalistischen Fragmentierung des Menschen, unserer Arbeit, unserer Körper und unseres Alltags gehört auch die Privatisierung des Allgemeinen
in der Zeit. Sie ist stets zu knapp und aus dem Morgen wird eine Ware, in die es
zu investieren gilt ( was manche können und andere nicht ). Wenn wir es uns leisten können, werden wir aufgerufen, in unsere Gesundheit zu investieren und in
Versicherungen, die Risiken abfedern sollen. Wir sollen in Kosmetik, Kleidung
und Bildung investieren — in eine glücklichere Zukunft. Die Versprechen technologischen Versprechen für eine zeitgemäße Lebensführung sind groß.
Raqs Media Collective bezeichnet sein Projekt als Untimely. Was kann nun
eine Uhr und noch dazu eine, die auf unsere Gegenwart Bezug nimmt, mit der
Frage nach dem Verlernen von machtspezifischen Unterscheidungen im Museum zu tun haben ? Geben wir der zunächst verwirrenden Metapher ein bisschen
Zeit. Bevor wir auf ihre Mehrdeutigkeit zurückkommen, sehen wir uns den Stand
der Debatte um die Binarität im Technikmuseum an.
{ Unzeitgemäßes Kuratieren }
abb. 1 | raqs Media collective : »asamayavali / The untimely calendar«. national Gallery of Modern art delhi.
dezember 2014 bis März 2015. url : http://tinyurl.com/asamayavali ( 25. 5. 2016 )
Die Genderdebatte ist auch in den technischen Museen mittlerweile angekommen, zumindest in ein paar ( leider meist unveröffentlichten ) Sammlungsstrategien. In der Ausstellungspraxis präsentiert sich die Auseinandersetzung meist
in Form von Gegenüberstellungen und Ergänzungen, die im Prinzip der Logik
einer traditionellen Technikgeschichtsschreibung folgen. Den vielen männlichen Erfindergeschichten werden einige wenige Biografien weiblicher Erfinderinnen gegenübergestellt. Dabei müssen immer dieselben wenigen Frauen der
Überzahl an männlichen Erfindern entgegenhalten. Marie Curie, Käthe Paulus
oder Ada Lovelace bilden beispielsweise das homöopathische vis-à-vis zu einer
fast unüberschaubaren Heerschar an Männern wie Benz, Bessemer, Edison, Jac-
quard, Kaplan, Porsche, Tesla, Wright, um nur einen winzigen Bruchteil willkürlich zu nennen. Interessanterweise reichen bei den berühmten Männern meist
die Nachnamen, während wir bei der Aufzählung der weiblichen Verantwortlichen für technische oder naturwissenschaftliche Meilensteine auch die weiblichen Vornamen finden. Nennen wir diese Strategie das Marie-Curie-Phänomen
in Technikmuseen. Es handelt sich dabei nicht um ein von der Atomphysikerin
untersuchtes Phänomen, sondern um die mal mehr, mal weniger subversive
Strategie der Suche nach Frauen in der Technikgeschichte, um zumindest ein
paar wenige Erfinderinnen aufs Ausstellungsparkett und damit ins Bewusstsein
der Besucher*innen zu bringen. Das Curie-Phänomen dient im besten Fall auch
als Anreiz zur Forschung über und Suche nach weiteren Erfinderinnen, deren
Biografien und Leistungen von der männlich dominierten Technikgeschichtsschreibung vernachlässigt wurden. Das ist zwar sehr wichtig, aber noch keine
feministische oder kritische Intervention in die Technikgeschichtsschreibung. Wo
kann man alternativ ansetzen ? Und welche Frage ließe sich an die Sammlungen
in den meist recht großen Depots der Technikmuseen richten, um bisher unbeachtete widerständige Dinge und Geschichten anzusprechen ?
Die Aufgabe klingt spannend und vielversprechend, stellt sich aber im
Alltag als sehr komplex dar. Manchmal scheint es, als holten uns die jahrzehn-
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149
Das Marie-Curie-Phänomen
{ Martina Griesser · Nora Sternfeld | schnittpunkt }
{ Unzeitgemäßes Kuratieren }
te- oder gar jahrhundertelangen Versäumnisse ein, die in der Dokumentation
feministischer Technikgeschichten und widerständiger Sammlungsobjekte aufgetreten sind. Die kuratorische Arbeit setzt sich dem Risiko aus, eine Nadel im
Heuhaufen aufspüren zu wollen. Wenig hilfreich ist unserer Ansicht nach die
Suche nach weiblichen Sammlungsobjekten. Gäbe es tatsächlich typisch weibliche Objekte, müsste es auch typisch männliche geben ( und nichts dazwischen ? ).
Diese Logik entspräche dem althergebrachten Denkmodell vom Männlichem
und Weiblichem in Technikmuseen, dem wir uns in der Strategie des Verlernens bewusst entgegensetzen wollen. Zwar sind Machtverhältnisse und binäre
Geschlechterzuschreibungen den Dingen eingeschrieben, sie können jedoch ebenso dissidente Nutzungen und Dinggeschichten jenseits der Geschlechterordnungen mit sich bringen. Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, kuratorische
Strategien zu entwickeln, um Machtordnungen selbst zu unterlaufen. Wichtig
ist uns dabei, über den Feminismus hinaus auch rassistische Unterscheidungen
des Museums zu adressieren.
lierten Instrumente um und messen fortan den Fortschritt der Zeit in Emotionen
statt in Minuteneinheiten etc.
Die Ausstellung, zu der die Uhr gehörte, war voller Geschichten, die klassische Unterscheidungen unterliefen. Neben der Infragestellung der Zeit wurde auch die ethnozentrische Sichtweise des Westens auf die Weltordnung neu
ausgehandelt. Die Eigendefinition des Westens als Mittelpunkt der Welt war ein
wesentliches Mittel des Rassismus ethnografischer Erzählungen, die von der
Rückständigkeit der Einwohner eroberter und besetzter Weltgebiete erzählten.
Doch was ist Fortschritt und in wessen Zeitrechnung misst man ihn ?
Christian Kravagna referiert die Kritik an der Chronopolitik der Anthropologie und des ethnologischen Museums. Er zitiert aus Johannes Fabians 1983
erschienenen Buch Time and The Other : How Anthropology makes its Objects :
»Für Fabian ist das Verhältnis der Anthropologie zu ihrem Gegenstand seit jeher in signifikanten Korrelationen von Oppositionen wie Here-There und Now-Then organisiert,
die er als Techniken der Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt der ethnografischen
Praxis begreift, welche er wiederum in der übergeordneten kolonialen Distanzproduk-
Ordnungen verlernen
tion zwischen dem Westen und dem Rest begründet sieht. Neben der einst dominanten
›evolutionist time‹, die andere Kulturen auf früheren Stufen einer universalen Zeitachse
Inwiefern können wir nun bei der Uhr von Raqs Media Collective von einem Prozess des Verlernens sprechen ? Uhren, in welcher ihrer vielfältigen Ausformungen auch immer, gelten weltweit als Symbol der Disziplinierung und Ordnung
durch Technik. Kaum ein technisches Objekt vermittelt besser die Ambivalenz
des ( post- )modernen Menschen zur Zeit, von der wir immer entweder zu viel
oder zu wenig haben, je nachdem ob wir warten, hasten oder wollen, dass die
Zeit stehenbleibt. Die Zeit aber bleibt unverändert, das suggeriert uns jedenfalls ihr Messinstrument, die Uhr. Dabei gibt es sie eigentlich gar nicht, die Zeit,
nur Tag und Nacht. Die über Jahrhunderte entwickelte Kulturtechnik entspricht
jedoch dem menschlichen Bedürfnis nach kollektiven, messbaren Parametern,
die das Miteinander regeln sollen.
Die Uhr von Raqs Media Collective ersetzt die messbaren Parameter, die
Ziffern, mit emotional beladenen Begriffen. So führen die Künstler*innen einen
neuen Inhalt und eine neue Funktion in ein formal tradiertes Objekt ein. Mit
ihrer künstlerischen Intervention nehmen sie sich heraus, die menschliche Konstruktion der Zeit neu zu besetzen. Dazu widmen sie die entwickelten und etab-
Chronopolitik war eines der Mittel, mit dessen Hilfe einem Teil der Weltbevölkerung mit Gewalt Geschichte abgesprochen wurde. Hinter die Gewalt des Kolonialismus gibt es kein Zurück mehr. Es stellt sich deshalb die Frage, wie man sich
die Zeit aneignen kann, um Geschichte neu und anders zu schreiben. Denn die
Geschichten, die den Dingen eingeschrieben sind, sind Geschichten des Alltags
und Geschichten von Kämpfen sind Geschichten von Gewalt und Widerstand.
Wenn Raqs Media Collective nun die Zeitrechnung nicht ihrer Zeiger, aber
ihrer Kategorien beraubt, unterbricht es die Selbstverständlichkeit der Berechnung. Es zwingt uns auch dazu, die Kategorie des Zeitgemäßen, ihre Unterscheidungen und ihre Gewalt zu hinterfragen. So öffnet es uns neue Perspektiven auf
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151
der Entwicklung ansiedelt, deren Spitze die jeweilige Kultur des Anthropologen verkörpert, nennt Fabian die ›encapsulated time‹, die er mit funktionalistischen und strukturalistischen Ansätzen der Ethnografie in Verbindung bringt. Beide, wenn auch auf
unterschiedliche Weise, zeichnen sich durch eine ›Verweigerung von Gleichzeitigkeit‹
( ›denial of coevalness‹ ) aus« ( Kravagna 2009 : 133 ).
{ Martina Griesser · Nora Sternfeld | schnittpunkt }
mögliche Verhältnisse zu unserer Zeit. Mit der Intervention stellen die Künstler*innen der scheinbaren technischen Objektivität nicht nur eine subjektive
Emotionalität gegenüber. Sie lassen vielmehr die Zeit für sich arbeiten. Denn
auch wenn es wahrscheinlich keine andere Zeit als jene des globalen ( post- )kolonialen Kapitalismus gibt, kann es doch eine andere geben. Die mögliche andere
Zeitrechnung ist nicht zuletzt das Versprechen der Revolution. Bei der Uhr von
Raqs Media Collective geht es also unter anderem darum, Zeitrechnung im Hinblick auf andere Möglichkeiten zu verlernen. Ihr soll nicht nur etwas entgegengestellt werden, sondern eine neue Sichtweise soll entwickelt werden auf Zeit
und deren Unterscheidungen, auf Geschichte, Sammlungen und Objekte. Diesen
Prozess bezeichnet der Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung ( 2016 ) als Verlernen : »Verlernen bedeutet nicht vergessen, ebensowenig löschen, annullieren
oder niederbrennen. Es bedeutet mutiger zu schreiben, von Neuem zu schreiben. Es bedeutet auch neue Fußnoten an alte oder andere Narrative zu heften.
Es bedeutet, den Staub wegzuwischen, das Gras zu belüften und den Putz vom
Verdeckten abzuklopfen. Verlernen bedeutet, die Medaille umzudrehen und die
Geister wiederzuerwecken. Verlernen heißt, in den Spiegel zu schauen und die
Welt zu sehen« ( Ndikung 2016 ).
Diese Perspektive scheint uns keinesfalls nur für künstlerische Interventionen relevant. Vielmehr könnte sie als Forderung für Museen im Allgemeinen
stehen. Mehr noch als in Kunstmuseen, geht es in kulturhistorischen und technischen Narrativen um die Frage, was als Wissen gilt und was dabei überschrieben
und verdeckt wird bzw. ausgespart bleibt. Wie können wir nun ein solches Verständnis von Verlernen ernst nehmen, wenn wir uns technischen Sammlungen
kuratorisch widmen ? Statt die Technikgeschichte intakt zu lassen, wollen wir
also nach Strategien suchen, die Sammlungen anders befragen, um die Bedeutung von Objekten umzuschreiben, zu ergänzen und neu zu definieren.
Wir schlagen eine zweistufige Vorgehensweise vor. Erstens sollte mit neuen Fragen an Sammlungen herangegangen werden. Statt nach Erfinder*innenbiografien ließe sich zum Beispiel auch nach Selbstverständnissen von Zeit,
Geschichte und Technik fragen. Und wenn wir nun diese Fragen an das Material richten, dann schlagen wir zweitens vor, genau zu schauen und zu arbeiten.
Nicht selten stellen wir dann fest, dass sich klischeehafte Vorstellungen und
Erzählungen nicht mehr so einfach tradieren lassen. Diese Vorgangsweise, die
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{ Unzeitgemäßes Kuratieren }
nach möglichen verborgenen Geschichten1 und
Remapping Mozart im Wiener Mozartjahr 2006, ku»unterworfenen Wissensarten« ( Foucault 1999 )
ratiert von Ljubomir Bratic, Araba Johnston-Arthur,
fragt, die quer zu den mächtigen und binären
Lisl Ponger, Nora Sternfeld und Luisa Ziaja.
Unterscheidungen verlaufen und auf Recherchen basiert, die sich durch Genauigkeit und Dekonstruktionsvermögen auszeichnen, möchten wir als dissidente Treue zum Material beschreiben. Anhand
von zwei Beispielen im Technischen Museum Wien veranschaulichen wir im Folgenden, dass die Arbeit am Material Geschichten über Geschlechterbilder und
deren Veränderungen zutage treten lassen kann. Wir interpretieren sie anschließend mit den Mitteln der postkolonialen Ansätze von Raqs Media Collective und
Bonaventure Ndikung. Das kann allerdings nicht überdecken, dass es noch zu
wenige Beispiele in Technikmuseen gibt, die Ausschlüsse und Zuschreibungen
zusammen denken.
1 Vgl. das Ausstellungsprojekt Verborgene Geschichte/n.
Fahrer*innenwechsel
Das erste Beispiel bezieht sich auf einen ebenso unscheinbaren wie wichtigen
Gegenstand : die Sonnenblende im Auto. Christian Klösch, Kurator am Technischen Museum Wien, beschäftigte sich mit zwei Sonnenblenden↓ abb. 2 eines
VW -Käfers ( 1960er Jahre-Baureihe ), jeweils mit und ohne Schminkspiegel. Die
Produktion eines Gegenstandes — in unserem Fall eines Zubehörs zu einem alltäglichen Gefährt — ermöglicht und verunmöglicht auch hier Handlungen, macht
Alltag aus und schreibt sich in ihn ein. Die Möglichkeit bei runtergeklappter
Sonnenblende den Lippenstift im Auto nachzufahren, sich vor der Disco noch
zu schminken oder Pomade ins Haar zu kämmen macht das Auto zu einem intimen Raum, der sowohl fährt als auch der Vorbereitung für den Auftritt im Alltag dienen kann. Das Ding und das, was es kann, bestimmen unseren Alltag
und vielleicht auch die eine oder andere Erinnerung an einen erwartungsvollen
Moment im Auto. Allerdings haben wir es auch hier — ebenso wie bei der Zeitrechnung — mit Zuschreibungen zu tun, die auf wesentlichen binären Vorannahmen basieren. So stellt der Kurator anhand der Schminkspiegel folgende Fragen :
Welche Aussage trifft eine Automobilfirma, wenn sie den Schminkspiegel — wie
in unserem Fall — nur auf der Beifahrerseite anbringt ? Was erzählt uns der
Schminkspiegel über Geschlechterbilder in der Geschichte des Automobilismus ?
153
{ Martina Griesser · Nora Sternfeld | schnittpunkt }
Wie spiegelt sich das Rollenbild der Frau
im Fahrzeugbau wider ? Mobile Schminkspiegel mit dazugehörigen Schminkkoffern
wurden auf den Pariser Autosalons der
1920er Jahre präsentiert. Abgesehen von
ihnen sind die ersten fahrzeugintegrierten Kombinationen von Schminkspiegeln
und Sonnenblenden auf der Beifahrerinnenseite eine US -amerikanische Einführung zur Mitte der 1930er Jahre. Es sollte
jedoch bis in die 1950er Jahre dauern, bis
auch die Fahrerseite mit einem Schminkspiegel versehen wurde. Bis in die Zeit der
westlichen Massenmotorisierung herrschte die Annahme, dass Frauen nicht selbst
chauffieren würden. Heute verfügen etwa
80 Prozent der am US -amerikanischen
Markt angebotenen Autos ( für Europa und
Asien liegen keine Zahlen vor ) über einen abb. 2 | Zwei sonnenblenden für einen vW-käfer. 2014.
TMW-inv.-nr. 95.403. © Technisches Museum Wien mit
Schminkspiegel in beiden Sonnenblenden. österreichischer Mediathek
Das belegt entweder den Emanzipations- abb. 3 | Zweisitziges dreirad von coventry Machinists.
prozess der Frau als selbstständige Fahre- 2014. TMW-inv.-nr. 556. © Technisches Museum Wien mit
österreichischer Mediathek
rin und/oder aber die Annahme, dass alle
Geschlechter sich gerne im Auto schminken. Was hier stark verkürzt dargestellt
wurde, hat Klösch durch den gezielten Ankauf der beiden Objekte für die Sammlung des Technischen Museums ( ebay, 2014 ) und in präziser Neubefragung dieser auf den ersten Blick wenig sinnfälligen Exponate in der 2014 neu errichteten
Dauerausstellung Mobilität nachgezeichnet ( vgl. Klösch 2015 ).
Ebenfalls einen Fahrer*innenwechsel thematisiert Anne-Katrin Ebert
( 2015 ), Leiterin des Bereichs Mobilität und Verkehr am Technischen Museum
Wien, in der Auseinandersetzung mit einem in der Sammlung befindlichen Tandem.↑ abb. 3 Das Modell der englischen Firma Coventry Machinists von 1890 ist ein
typisches Beispiel für zweisitzige Dreiräder, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der geringeren Sturzgefahr gegenüber den damals auch üblichen
154
{ Unzeitgemäßes Kuratieren }
Hochrädern in gehobenen Kreisen großer Beliebtheit erfreuten. Tandems galten als gute Mittel zur Anbahnung von ehelichen Verbindungen, boten sie doch
die ansonsten seltene Möglichkeit für ein ungestörtes Miteinander von jungen
Frauen und Männern in der freien Natur. Sie ersetzten den sonntäglichen Spaziergang im Park, der meist nur in Anwesenheit einer Anstandsdame stattfinden konnte. Ebert machte sich Gedanken über die damalige Radfahrpraxis, die
soziale Funktion des Fahrrades sowie die damit verbundenen Geschlechterrollen. Auf den Tandems des 19. Jahrhunderts saß die Dame fast immer vorne, in
tradierter Kavaliersmanier zum besseren Sehen und in der Tradition des Sonntagsspaziergangs auch um besser gesehen zu werden. Bei den frühen Modellen
war der Dame auch das Steuern überlassen, eine Verbindungsstange ermöglichte »leichte Korrekturen« durch den Mann. Das änderte sich zu Beginn des 20.
Jahrhunderts. Spätestens in den 1950er Jahren — also zur selben Zeit, als im
Fahrzeugbau die ersten Schminkspiegel auf beiden Sonnenblenden aufkamen —
saß die Frau auf dem Tandem hinten und der Mann steuerte alleine. Wenn man
so will, kann dies als Rückschritt in der Geschichte gelesen werden, allerdings
geriet das Tandem zunehmend aus der Mode und das Einzelfahrrad für Damen
ermöglichte eine endgültige Loslösung vom paarweisen Treten und Steuern.
Unzeitgemäßes Kuratieren
Zeitgenössische Rollenbilder fanden in beiden Fällen ihre sichtbare technische
Umsetzung und sind den Objekten eingeschrieben. Die Dinge performen diese
Rollenbilder und prägen unseren Umgang mit ihnen, mit unseren Körpern und
unseren Erinnerungen. Allerdings wurden und werden Räder und Autos auf
verschiedene Weisen auch anders genutzt, als von den Herstellern vorgesehen.
Geschichten von ( Um- )Nutzungen prägen wiederum die Veränderung in der Produktion. Unser Vorschlag für ein kritisches Kuratieren besteht nun darin, die
Spuren all jener mikropolitischen und alltäglichen Formen der Zuschreibung
und Umschreibung ernst zu nehmen und in der konkreten Auseinandersetzung
mit dem Material zu bearbeiten. Sehr schnell wird dann klar, dass die Dinge im
Museum uns eben auch herausfordern. Alle Exponate, wie die Uhren, Schminkspiegel, Tandemräder, sind in Ordnungen organisiert und organisieren Ordnungen. Gerade in ihrer Materialität und in der Beschäftigung mit ihren Nutzungen
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{ Martina Griesser · Nora Sternfeld | schnittpunkt }
und Rezeptionen eröffnen sie Fragen, die über ihre Ordnungen hinausweisen,
sie durchkreuzen und uns daher einladen, sich ihnen zu widersetzen. Was können wir also von der Wanduhr von Raqs Media Collective lernen bzw. dank ihr
verlernen ? Wir sind von der Zeit zugerichtet, aber wir handeln auch in ihr. Was
wäre, wenn wir dem zeitgemäßen Kuratieren, das immer noch binäre, mächtige Unterscheidungen fortschreibt — und diese in Zeiten des Neoliberalismus
mit Zielgruppen- und Marketingargumenten untermauert — ein »unzeitgemäßes« Handeln im Sinne von Raqs Media Collective entgegensetzen würden ? Was
wäre, wenn wir für eine Museumspraxis, die die kritische Perspektive endlich
nicht mehr als Nische, sondern als Selbstverständnis im Kern der kuratorischen
Arbeit selbst begreift, keine Zeit zu verlieren hätten ?
{ Unzeitgemäßes Kuratieren }
Literaturnachweis
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Zweisitziges Dreirad von Coventry Machinists ( Inv.-Nr. 556 ).
In : Technisches Museum Wien mit Österreichischer
Mediathek ( Hg. ) : Mobilität. 30 Dinge, die bewegen. Wien,
MarTina Griesser ist Restauratorin und Museologin. Sie ist Sammlungslei-
terin am Technischen Museum Wien und Co-Leiterin des ecm-Masterlehrgangs
für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst
Wien. Sie ist im Kernteam von schnittpunkt. ausstellungstheorie & praxis und
publiziert zu Museumsgeschichte, Museologie und im Bereich der Konservierungswissenschaften.
Czernin, S. 132–136
FEHER, Michel ( 2013–2015 ) : The Age of Appreciation :
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In : Ders. : In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt am
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KLÖSCH, Christian ( 2015 ) : Haben Sie einen Schminkspiegel
im Auto ? Zwei Sonnenblenden für einen VW -Käfer
nora sTernFeld ist Vermittlerin und Kuratorin. Sie ist Professorin für Cura-
( Inv.-Nr. 95.403 ). In : Technisches Museum Wien mit Öster-
ting and Mediating Art an der Aalto University in Helsinki und Co-Leiterin des
reichischer Mediathek ( Hg. ) : Mobilität. 30 Dinge, die
ecm-Masterlehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für
angewandte Kunst Wien. Sie ist im Kernteam von schnittpunkt. ausstellungs-
bewegen. Wien, Czernin, S. 102–107
KRAVAGNA, Christian ( 2009 ) : Konserven des Kolonialismus.
Die Welt im Museum. In : schnittpunkt / Kazeem,
theorie & praxis sowie Mitbegründerin und Teilhaberin von trafo.K und publiziert
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zu Ausstellungstheorie, Vermittlung, zeitgenössischer Kunst, Geschichtspolitik
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