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ABDULLAH ÖCALAN Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage Auszüge aus der Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) K u r d i s t a n I n f o r m a t i o n s - Z e n t r u m e . V. 3 Wir bedanken uns bei den zahlreichen Freundinnen und Freunden, die uns ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit, ihre Fähigkeiten, ihre Arbeit, ihre Geduld und ihren Einsatz zur Verfügung gestellt haben, damit dieses Buch erscheinen konnte. 4 ABDULLAH ÖCALAN Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage Auszüge aus der Eingabe an den EGMR 5 Die deutsche Bibliothek – CIP-Einheitstitel Wege zur Lösung der kurdischen Frage Abdullah Öcalan Auszüge aus der Eingabe an den EGMR Original: Sümer Rahip Devletinden Halk Cumhuriyetine Kurdistan Informations-Zentrum e. V. (Hg.) Berlin, Eigenverlag, 1. Auflage 2002 Preis: 5 Euro ISBN 3-936541-00-0 Herausgegeben von: Kurdistan Informations-Zentrum e. V. Kaiser-Friedrich-Str. 63 Postfach 12 11 22 10605 Berlin Druck: Eigendruck Bezug: Kurdistan Informations-Zentrum Kaiser-Friedrich-Str. 63 10627 Berlin © 2002 Kurdistan Informations-Zentrum e. V. ISBN 3-00-00-5739-0 1. Auflage, September 2000 6 Die Ihnen vorliegende Veröffentlichung „Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage” wurde vom Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erarbeitet. Öcalan reichte dem EGMR eine umfangreiche und analytische Eingabe von etwa 1000 Seiten ein. Die folgenden Seiten stellen nur einen Auszug aus dem sechsten Kapitel der insgesamt 9 Kapitel umfassenden Eingabe dar. Wegen der Aktualität und Dringlichkeit haben wir uns entschlossen, diesen Abschnitt schon im Vorfeld der Herausgabe des gesamten übersetzen Werkes in deutscher Sprache herauszubringen. Neben dem Auszug „Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage” von Herrn Öcalan finden Sie im weiteren eine Analyse der gesamten Eingabe sowie das zugehörige komplette Inhaltsverzeichnis. Zu einem besseren Verständnis dieses Kapitels erachten wir es für notwendig, sich mit der gesamten Eingabe zu befassen. 7 Inhalt Inhalt Yas¸ar Kaya Zur Verteidigungsrede von Abdullah Öcalan 10 Abdullah Öcalan Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage 15 Auszüge aus der Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Vom Sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik 87 Erläuternde Bemerkungen zum Buch & Inhaltsangabe Fußnoten 8 133 9 Yaşar Kaya Yaşar Kaya Zur Verteidigungsrede von Abdullah Öcalan Ü ber Abdullah Öcalan, den wertvollen Spross und Vorkämpfer des kurdischen Volkes wird noch viel gesprochen und geschrieben werden. Er ist der Hauptarchitekt der Wiederauferstehungsgeschichte einer Nation, die schon am Rande ihres eigenen Grabes zur Beerdigung bereit stand. Unserer Meinung nach ist Öcalan ein Mensch schwieriger Zeiten. Er gründet eine Gruppe, es wird zum Ereignis, er gründet eine Partei, es wird zum Ereignis, er bricht in den Mittleren Osten aus, es wird zum Ereignis, er gründet eine Guerillaorganisation und beginnt den bewaffneten Kampf, und es wird zum Ereignis. Er verkündet einseitig einen Waffenstillstand und bricht vom Mittleren Osten nach Europa aus, und es wird zum Ereignis. Seine Entführung und Verhaftung führten weltweit zum Ereignis und bei den Kurden zu ihrer größten historischen Einheit. Diese Kette von Ereignissen, innerhalb von 25 Jahren entstanden durch die Aneinanderreihung der einzelnen Glieder, führte schließlich über die Eingabe während des Prozesses in Imrali zu den Eingaben an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof unter dem Titel „VOM SUMERISCHEN PRIESTERSTAAT ZUR DEMOKRATISCHEN ZIVILISATION”. Was beinhalten diese Eingaben? Meiner Meinung nach handelt es sich vor allem um eine juristische Methodologie, um die Geschichte der sozialen Kämpfe des Mittleren Ostens, um eine neue und gründliche Bewertung des Ursprungs der 10 Yaşar Kaya Zivilisation, um die Geschichte der kurdischen Befreiung und um das Manifest für eine Lösung der bisher ungelösten kurdischen Frage. Es besitzt als Manifest der demokratischen Zivilisation die Qualität einer Anleitung zur Demokratie für die Völker des Mittleren Ostens, der als Wiege der Zivilisation auf eine 5000-jährige Geschichte zurückblickt, einer Anleitung zum Leben für diese geheimnisvolle Gegend, aus der die drei monotheistischen Religionen hervorgegangen sind. Nachdem Abdullah Öcalan alles, was seit den dunklen Tiefen der Geschichte bis heute geschehen ist, alle Zivilisationen, die entstanden und wieder vergangen sind, und alle Kriege einer genaueren Betrachtung unterzieht, vernachlässigt er nicht die Quelle, die Gerechtigkeit, das Recht, das Menschenleben und die Frau. In der Eingabe Abdullah Öcalans werden die Werte des Zeitalters und der Region des Mittleren Ostens sowie neue und strategische Blickwinkel für eine Lösung der Probleme dargestellt. Offenherzig kritisiert Abdullah Öcalan vor allem das eigene Tun, die Fehler der Partei. Damit gibt er dem neuen Menschen und dem eigenen Kader eine ethische, soziologische und historische Anleitung zur Diplomatie. Die demokratische Zivilisation stellt er als eine unverzichtbare Alternative für die Völker der Region und die Lösung der kurdischen Frage dar. Was er sagt und schreibt, sind Voraussichten für viele Jahre und Tatsachen. Er fordert Veränderung und Überwindung und führt zu neuen Horizonten. Indem er demokratische Lösungswege für alle vier Teile Kurdistans aufzeigt, erläutert er historisch, wie sich Türken, Perser und Araber Jahrhunderte lang der kurdischen Frage angenähert haben. Er bringt neue historische Perspektiven hervor. 11 Yaşar Kaya Er stellt neue Strategien dar, mit denen er versucht, die Kurden in den rasanten Verlauf des Zeitalters mit einzubinden. Alles, was er von ihnen fordert, ist Veränderung und Wandel. Die oligarchische Republik analysierte der inhaftierte Vorsitzende eines vom Komplott betroffenen Volkes. Die Kemalisten in der Türkei und Kurdistan, die religiösen und die das Kurdentum vertretenden Menschen haben neu angefangen zu denken. Das bedeutet die Zerstörung des geistigen Status Quo. Demokratie und kurdische Frage kamen auf die Tagesordnung, nachdem das Komplott [durch das der PKK-Vorsitzende in türkische Gefangenschaft geriet; A.d.Ü.] aufgedeckt wurde. Die Kurden wurden nicht einfach so zur größten Stütze der Demokratie in der Türkei. Die PKK als ihre Partei hat zu jeder Zeit auf der Bühne der Geschichte ihre Existenz, Toleranz und Elastizität gezeigt. Und die Veränderung geht weiter. Wessen Werk ist das wohl? Über all das denken wir nach. So, wie die kurdisch-türkische Einheit für die demokratischen Republik in einer gemeinsamen Türkei, so ist eine demokratische Föderation im Mittleren Osten für die Lösung der kurdischen Frage von Bedeutung. Öcalan, der diese historisch bedeutsamen Thesen entwickelt hat, ist weit entfernt von einer persönlichen Verteidigung. Vielmehr geht es ihm um die Verteidigung der Völker einer sehr komplizierten Region. Als jemand, der das Komplott von Beginn an verfolgt hat, hat Herr Öcalan sein Dasein auf Imrali als einen „Spiegel” charakterisiert, in dem sich „die Kurden selbst zeigen können”. Wie er selbst ausgedrückt hat, sollten die Jah- 12 Yaşar Kaya restage [seiner Gefangennahme; A.d.Ü.] nicht als Trauertage begangen werden, sondern als Tage, aus denen eine Lehre gezogen werden kann. In diesem kleinen Buch sind Lektionen einer Geschichte enthalten, die groß bewertet werden. Yaşar Kaya 01.03.2002 Brüssel 13 14 Eingabe an den EGMR ABDULLAH ÖCALAN WEGE ZU EINER LÖSUNG DER KURDISCHEN FRAGE Auszug aus dem sechsten Kapitel Probleme des kurdischen Phänomens im Mittleren Osten und mögliche Lösungswege des zweiten Bandes seines Werkes Vom Sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik, Istanbul 2001. (Leicht überarbeitet) Übersetzt und annotiert von Oliver Kontny 15 Eingabe an den EGMR W enn ein gesellschaftliches Phänomen zu einem Konflikt wird, dessen Wurzeln Jahrhunderte zurückliegen, und wenn sich dafür überhaupt keine Lösung abzeichnet, die den Maßstäben unserer Zeit entspricht, ist es unrealistisch, die Verantwortung dafür ausschließlich in den inneren und äußeren objektiven Bedingungen zu suchen. Jedes Problem hat seine objektiven Bedingungen. Doch in der Regel behindern solche Umstände nicht endlos das Finden einer Lösung. Andererseits können die objektiven Bedingungen allein, egal wie ausgereift und geeignet sie auch sein mögen, auch keine Lösung bringen. Doch selbst unter widrigsten Umständen lässt sich immer noch irgendwo eine mögliche Lösung ausmachen. Unrealistisch ist es auch, unzulängliche subjektive Faktoren im engen Sinne für eine fehlende Lösung verantwortlich zu machen. Es ist auch kein gehaltvolles Argument zu meinen, es sei zu wenig Blut vergossen worden, oder das Wissensniveau innerhalb der Organisation sei zu gering. Und es kann auch irreführend sein, alles einer fehlgelaufenen oder falschen militärischen und politischen Strategie und Taktik zuzuschreiben. Zutreffend ist vielmehr, den Hauptgrund für das Ausbleiben einer Lösung in der Frage nach Realisierbarkeit und Praktikabilität des Lösungsansatzes selbst zu suchen, also in der Art, wie an eine Lösung herangegangen wird. Die Sowjetunion war eine Großmacht. Sie wurde weder militärisch noch politisch besiegt. Weder gab es Angriffe von außen, noch gab es Aufstände innerhalb des Landes. Und doch hat sie sich aufgelöst, ist besiegt worden hinsichtlich der Ziele, denen sie sich verpflichtet hatte. Der Grund dafür ist einfach: Der Grad der Freiheit des sozialis- 16 Eingabe an den EGMR tischen Individuums und der Grad der Demokratie innerhalb der Gesellschaft waren weit von einem dem Sozialismus angemessenen Gespür für Wirklichkeit entfernt. Das Versagen, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Realität des freien Menschen beschaffen sei, hat in eine ausweglose Situation geführt. Ähnliche Gründe können auch für den Niedergang des Faschismus, der mit diesen Problemen konfrontiert war, angeführt werden. Probleme zu lösen ist eine Kunst. Eine wissenschaftliche Methode ist dafür eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Gleichzeitig muss die Kunst beherrscht werden, ein Problem zu lösen. Ein Schlüssel öffnet nicht alle Türen. Alle Schlüssel mögen durchaus einander ähneln, doch reicht die bloße Ähnlichkeit eben nicht aus, um eine bestimmte Tür zu öffnen. Erst muss der passende Schlüssel zum passenden Schloss gefunden werden, um eine bestimmte verschlossene Tür öffnen zu können. Ohne diese Anstrengung ist es nicht gerade realistisch zu behaupten, keine Tür sei mit keinem Schlüssel zu öffnen. Für die Lösung der kurdischen Frage wurde weder zu wenig Blut vergossen, noch wurden zu wenig Organisationen gegründet. Man kann auch nicht sagen, dass zu wenig Krieg geführt und zu wenig Diplomatie betrieben wurde. Ungültig ist auch der Einwand, das Problem sei objektiv noch nicht herangereift. Die Spaltung [der Kurden und Kurdinnen auf mehrere Länder, A.d.Ü] muss nicht unbedingt nur von Nachteil sein, sondern kann durchaus auch Vorteile schaffen. Wenn man sich aber den Stand des Lösungsprozesses ansieht, wird man erkennen, dass noch nicht ein Fingerhut voll Fortschritt zu verzeichnen ist. Dabei 17 Eingabe an den EGMR können z.B. die Ereignisse der letzten zehn Jahre in Südkurdistan weder mit der Unzulänglichkeit der objektiven Bedingungen, noch mit dem Fehlen von Unterstützung von außen oder mit einem Mangel an Organisation und Bewusstsein erklärt werden. Im Gegenteil, alle Bedingungen sind ausgereift und zweckmäßig. Der Hauptgrund dafür, dass trotzdem keine Lösung erreicht wurde, liegt darin, dass die Realität missachtet wurde. Die bequemsten Lösungswege wurden sogar bewusst blockiert. Gerade diejenigen, die eigentlich eine Lösung hätten entwickeln müssen, versperrten beharrlich die Realisierung einer Lösung und den Weg dorthin. Für jedes ausgereifte Problem gibt es einen geeigneten Lösungsweg. Um diesen Weg zu erkennen und zu gehen, braucht es in erster Linie ein tiefes Verständnis der Realitäten. Beharrliche Willensstärke ist ebenso erforderlich wie die Geduld zur Anwendung einer Methode, die jede auch noch so begrenzte Lösungsmöglichkeit ernsthaft in Erwägung zieht. Gerade dieser besondere Faktor fehlt, um zu einer Lösung der kurdischen Frage zu kommen. Natürlich liegen auch und gerade diesem Verhalten historische, gesellschaftliche und politische Gründe zugrunde. Solche Gründe, aus denen bestimmte Verhaltensweisen resultieren, könnten lang und breit erläutert werden. Letztendlich hängt jedoch das Ergebnis davon ab, wie viel Ernsthaftigkeit und Beharrlichkeit für die unter den gegebenen Umständen geeigneteste Lösungsmöglichkeit aufgebracht wird. Es mag sich hier allem Anschein nach um zwei simple Begriffe handeln. Für Menschen ohne Ernsthaftigkeit und Beharrlichkeit wird jedoch selbst eine Lösung, die auf 18 Eingabe an den EGMR einem silbernen Tablett serviert wird, keine Bedeutung haben. Realismus gegenüber der Lösung, Ernsthaftigkeit und Beharrlichkeit bestimmen das Ergebnis, gerade sie sind der Schlüssel, der das Schloss öffnet. Solange Ihr unbedingt eine Autonomie nach Herzenswunsch oder einen perfekten eigenen Staat nach allen Regeln des Selbstbestimmungsrechts der Völker erwartet, ignoriert Ihr gerade die real vorhandene, angemessene Lösung und verpasst somit eine ganze Reihe von Chancen. Aber genau diese Logik und dieser Irrtum treten bei der kurdischen Frage immer wieder auf. Prinzipien und Realpolitik werden durcheinander gebracht, geradezu, als ob man keine Realpolitik betreiben dürfte, ohne die eigenen Prinzipien zu verletzen; oder umgekehrt, als müsste man sich von seinen Prinzipien lossagen, um reale Politik zu betreiben. Die politischen Strömungen, die dieser irrtümlichen Logik erliegen, können diese Widersprüchlichkeit nicht überwinden. Und genau diese Zerrissenheit hat einen großen Anteil an der Sackgasse, in die die Lösung der kurdischen Frage geraten ist. Vorstellungen, die Dogmatismus mit Prinzipien verwechseln und von einer maßlosen Kapitulation sprechen, tragen die Verantwortung dafür, dass das Problem eine geradezu heillose Form angenommen hat. Im wirklichen Leben allerdings herrscht Farbenvielfalt. Wer will, kann seine eigene Farbe erschaffen. Um die Farbe der Lösung bei gesellschaftlichen Problemen zu finden, müssen zuerst einmal jene, die keine Sehkraft jenseits von schwarz-weiß haben, ihre Farbenblindheit überwinden. Wir nehmen uns von der Kritik, die mit dieser Tatsache angesprochen ist, nicht aus. 19 Eingabe an den EGMR Auch wir haben dieselben Fehler gemacht. Wichtig ist zu lernen, Fehler zu korrigieren. Gerade bei Versuchen, den Lösungsprozess der kurdischen Frage zu verstehen, was sich in naher Zukunft deutlicher und intensiver darstellen wird, müssen diese methodischen Aspekte besonders berücksichtigt werden. Die Lösung wird weder durch Abkommen erreicht werden, wie viele glauben, noch durch Schritte, die der Staat sich erwartet. Die kurdische Wirklichkeit lässt für so etwas keinen Platz. Doch die Tatsache, dass solche Dinge eben nicht funktionieren, bedeutet noch lange nicht, dass unser Schicksal ausweglos ist. Ganz im Gegenteil, es folgt daraus, dass andere Wege zur Lösung gesucht werden müssen. Die Erfahrungen der letzten 200 Jahre zeigen, dass die kurdische Frage weder durch bürgerlich-nationalistische noch durch feudal-autonomistische Ansätze gelöst werden konnte. Die Beschaffenheit der umliegenden Nationalstaaten lässt solchen Modellen keine Chance. Vielmehr bergen sie die Gefahr, von einer Mauer umschlossen und in Isolation erstickt zu werden. Die Ausweglosigkeit und die unmenschlichen Konsequenzen des nationalistischen Ansatzes in Israel-Palästina machen das nur allzu deutlich. Dieses nationalistische Modell, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und vom Realsozialismus verfeinert wurde, ist mitverantwortlich für die enorme Verbreitung der Schwarz/Weiß-Logik. Eigentlich bietet das demokratische System, das von der westlichen Zivilisation unter großen Opfern erreicht wurde, den Schlüssel zur Lösung aller gesellschaftlichen Probleme. Der Westen hat zunächst einmal die eigenen geschichtlichen Kontroversen gelöst, und jetzt 20 Eingabe an den EGMR lehrt er es den Rest der Welt. Man kann nicht sagen, dass das demokratische System auch den Mittleren Osten einschließt, jedoch steht dieses System mehr denn je ante portas. Außer diesem demokratischen System ist kein anderer Weg in Sicht, mit dem man die immensen nationalen und gesellschaftlichen Probleme lösen könnte. Außerdem hat das demokratische System bereits seine praktische Überlegenheit bewiesen und zeigt zunehmend seinen Wert als Weg, auf dem alle Beteiligten mit minimalen Verlusten den größten gemeinsamen Nutzen erzielen können. Unter Anerkennung der gegebenen tatsächlichen politischen Grenzen gewährleistet das demokratische System allen gesellschaftlichen Strömungen, Gruppen und Kulturen, die Probleme haben, ihre Rechte. Im Prozess einer evolutionären Entwicklung hin zu Gleichberechtigung und Freiheitlichkeit gibt es jedem Phänomen die Chance, sich zu entfalten und die ihm angemessenen Entwicklungen aus eigener Kraft zu durchlaufen. Es zwingt dazu, sich ununterbrochen weiterzubilden, sich zu organisieren, zu wählen und gewählt zu werden, und trägt diesen Prozess durch demokratische Politik in den Staat und in die Gesetzgebung. Die westlichen Gesellschaften verdanken ihre Überlegenheit nicht nur dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Vielmehr führte das demokratische System zu dieser Überlegenheit. Wer noch immer die Demokratie fürchtet und sagt: „erst kommt die Wirtschaft, dann die Demokratie,“ versucht, den Wagen vor das Pferd zu spannen. Für den schnellen Aufstieg einer unterentwickelten Wirtschaft ist die Demokratie vorrangig. Im Lichte dieser wissenschaftlich erwiesenen Tatsache, deren führende Köpfe mit Nobel-Preisen 21 Eingabe an den EGMR ausgezeichnet wurden, stellt die Suche nach Lösungen für den Mittleren Osten im Allgemeinen und im Besonderen in der brennenden kurdischen Frage im Rahmen eines demokratischen Systems nicht nur einen der möglichen Wege dar, sondern ist, unter den gegebenen Umständen, gleichzeitig der Lösungsweg, der sich am besten eignet. Die Tatsache, dass die herrschenden Nationalstaaten weit von jeglicher Demokratie entfernt sind, sollte dabei weder als Hindernis betrachtet werden noch zum Anlass genommen werden, auf andere Wege auszuweichen. Wie in den vorangegangenen Kapiteln erläutert, wird die kurdische Frage selbst diese Staaten in Richtung einer Demokratisierung drängen, denn die tiefen Krisen und Sackgassen, in denen diese Staaten sich befinden, lassen auch ihnen als einzige Alternative nur die Demokratie übrig. Daraus resultiert, dass die Begegnung der zeitgenössischen demokratischen Zivilisation mit den problembehafteten Strukturen des Mittleren Ostens, insbesondere in der kurdischen Frage, den Übergang zu einem demokratischen System nahezu unausweichlich macht. (Da dieses Thema in dem entsprechenden Kapitel ausführlich behandelt wird, werde ich es hier nicht wieder aufgreifen.) Wie auch bei der historischen Geburt der Zivilisation am Beispiel der Sumerer, so drängt auch jetzt wieder etwas mit neuem, eigenem Inhalt auf die Geburt des Zeitalters der demokratischen Zivilisation im Mittleren Osten zu. Erneut hat das Schicksal den Kurden und Kurdinnen die Schlüsselrolle in der Herausbildung einer Zivilisationsform zugedacht, und zwar der demokratischen Zivilisation, in der sinnlose Klassenstrukturen überwunden werden. Die Kurden werden 22 Eingabe an den EGMR sich nicht damit begnügen, ihre eigenen, gravierenden Probleme zu lösen, sondern sie werden auch den Nachbarvölkern eine Möglichkeit an die Hand geben, wie in einem demokratischen System die Würde der Geschwisterlichkeit und einer wirklich freien Einheit geteilt werden kann. Sie werden den goldenen Schlüssel halten, auf den die Völker der Region ihre gesamte Geschichte hindurch gehofft haben; der wirkliche Befreiung, Frieden und ein Leben in Wohlstand bietet. Diesen Weg gilt es nicht als Illusion sondern als wirkliche Notwendigkeit zu beschreiten. Er ist notwendig, um das Zeitalter einzuholen, und bietet einen sicheren Weg zur Überwindung aller Rückständigkeit. Es ist notwendig, die Pflichten, die sich daraus ergeben, mit Verantwortung, Ernsthaftigkeit und allen Hindernissen zum Trotz zu erfüllen. Es ist notwendig, sich der eigenen historischen Aufgaben richtig anzunähern. Versuchen wir nunmehr im Lichte dieses allgemeinen Lösungsrahmens für die kurdische Frage, die Eckpunkte für mögliche Lösungsmodelle für alle Länder und Staaten, in denen Kurdinnen und Kurden leben, in der Form von Thesen zu benennen. 23 Eingabe an den EGMR Die Kurdenfrage in der Türkei und die demokratische Lösung Die klügste Methode ist es, die Gründe für die Eskalation der Kurdenfrage und den Lösungsweg in der Entstehungsund Entwicklungslogik der türkisch-kurdischen Beziehungen zu suchen. Die Lösung selbst ist das Ergebnis. Wir können dann von der Anwendung einer wissenschaftlichen Methode sprechen, wenn die historischen Ursprünge und der Entwicklungsweg der Phänomene in ihren Grundzügen so herausgestellt werden, dass die Lösung erfolgreich werden kann. Hier werden nur einige Grundzüge in Erinnerung gerufen, da in den jeweiligen Kapiteln ausführlich auf die Thematik eingegangen wurde. a. Die feudalen Fürstentümer und die Zeit des Sultanats Diese Phase begann mit den großen seldschukischen Sultanen und dem Auftauchen der Oguz-Stämme1 im 11. Jahrhundert. Sie war weniger von Auseinandersetzungen als vielmehr von Kompromissen geprägt. Gegen das byzantinische Reich wurde ein traditionelles islamisches Bündnis errichtet. Die geltenden Rechtsbräuche der jeweils anderen wurden respektiert, und die kurdischen und türkischen Fürstentümer erkannten gegenseitig ihre Existenz an. Dass bei vielen Schlachten und Kriegszügen, wie insbesondere in der Schlacht um Malazgirt2, auch militärische Bündnisse geschlossen wurden, war ausschlaggebend für das Durchsetzungsvermögen. 24 Eingabe an den EGMR Während die türkischen Fürstentümer und das Sultanat militärisch und politisch erstarkten, blieben die Kurden im wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereich überlegen. Die kurdische Kultur hatte eine assimilierende Wirkung. Die vorherrschenden Konflikte waren Machtkämpfe um Ausweitung des Einflussbereiches unter den Fürstentümern und Sultanaten, wie sie im Mittelalter überall verbreitet waren. Diese Auseinandersetzungen weisen kaum eine bewusste ethnische oder stammesbezogene Komponente auf. Sie waren vielmehr Interessenkonflikte um (Land-) Besitz, politischen und militärischen Einfluss innerhalb der herrschenden Klassen. Daher ist es nicht gerade sinnvoll, nach ethnischen oder stammesbezogenen Konflikten in den türkisch-kurdischen Beziehungen in dieser Zeit zu suchen. Im Regime des osmanischen Sultanats wurden die Beziehungen neu geordnet und erhielten einen festen Status. Dieser Status, der bis zum 19. Jahrhundert anhielt, legte für die kurdischen Fürstentümer vor allem Freiheit in den inneren Angelegenheiten fest und regelte das Prinzip der Übertragung der Erbregentschaft vom Vater auf den Sohn. Der Status der kurdischen Fürstentümer war vielleicht der markanteste für eine herrschende Klasse innerhalb des Reiches. Aus einer Reihe von Erlassen [ferman] ist zu entnehmen, dass die jeweiligen Sultane die Beziehung zu den kurdischen Fürstentümern vor allem strategisch zu nutzen verstanden. Die Beziehungen zu den Kurden, die von der Zentralregierung selbst aufgebaut worden waren und als die Provinz Kurdistan mit Provinzregierungen und Fürsten- 25 Eingabe an den EGMR tümern einen offiziellen Stellenwert gewonnen hatten, genossen in gewisser Hinsicht eine Sonderstellung. Hauptgrund hierfür dürfte die strategische Bedeutung der dicht von kurdischen Stämmen und Clans besiedelten geographischen Region gewesen sein, die für die Machterhaltung im Mittleren Osten wichtig war. Es wäre unmöglich gewesen, die iranischen und arabischen Feudalherrscher3 zu besiegen, ohne ein Bündnis mit den kurdischen Fürstentümern einzugehen. Die türkischen Sultane waren sich durchaus im klaren über diese Tatsache. Die kurdischen Fürstentümer verstanden es ihrerseits, das strategische Anliegen (der osmanischen Zentralmacht) zur Herausbildung einer der stärksten Autonomien innerhalb des Reiches zu nutzen. Die kurdische Autonomieherrschaft ist ein typischer Status des feudalen Zeitalters und somit auch in gewisser Weise ein Lösungsansatz. Erst als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der europäische Kolonialismus im Mittleren Osten zunehmend an Einfluss gewann, begann dieser Status Quo der türkisch-kurdischen Beziehungen zu wanken. Die führenden kapitalistischen Kolonialstaaten, unter ihnen vor allem Großbritannien, schlugen in ihrer Politik hinsichtlich des Mittleren Ostens eine gefährliche Richtung ein. Einerseits wollten sie sich der christlichen Minderheiten annehmen, andererseits das Sultanat vor dem zaristischen Großmachtstreben schützen. Die Kurden wurden dabei isoliert, und man versuchte, sie als Trumpfkarte je nach Bedarf einzusetzen. Diese Politik sollte als Teil des britischen Konzepts „divide and rule“ (teile und herrsche), das jeglicher ethischen Grundlage entbehrt, eine gefährliche Rolle spielen. Der eigentliche Aus- 26 Eingabe an den EGMR löser der Massaker in jener Zeit war das Spiel mit allen vorhandenen lokalen Mächten, um den eigenen Einfluss zu stärken. Dieses Spiel zerstörte den seit Jahrhunderten mehr oder weniger intakten Osmanischen Frieden4. Es beginnt eine Zeit, in der Stämme versuchen, sich gegenseitig auszurotten. Diese Zeit wird in die Geschichte als Phase des kapitalistischen Kolonialnationalismus eingehen. Man springt sich gegenseitig an die Kehle, und es kommt zu großen Zerwürfnissen. Diese Zeit muss als der eigentliche Ursprung der Probleme in den türkisch-kurdischen Beziehungen verstanden werden. b. Die Zeit des Nationalismus, der Aufstände und Repression Diese Phase, die vom kapitalistischen Kolonialismus losgetreten wurde, ist die Zeit, in der die kurdische Frage im aktuellen Sinne geboren wird und heranwächst. Die dem zugrunde liegende Logik stellte die Kurden als regelrechte Monster dar, um die christlichen Minderheiten an den Westen zu binden. Gleichzeitig sollten die kurdischen Aufstände, die zweifellos von den Kolonialmächten mit angefacht wurden, dazu genutzt werden, die türkischen, später die iranischen und arabischen Regierenden verstärkt abhängig zu machen. Die Kurden sollten als Versuchskaninchen und Aufwiegler benutzt werden. Dabei ging es gewiss nicht um irgendeine selbst erkorene zivilisatorische Missionierungsrolle, mit der man den Kurden begegnet wäre. Britannien war Vorreiter bei dieser Politik, während die übrigen kapitalistischen Kolonialmächte nicht hinten 27 Eingabe an den EGMR anstehen wollten und diese Politik begierig aufnahmen und fortführten. Diese bis heute fortgesetzte Kurdenpolitik des imperialistischen Kapitalismus hat für alle Völker des Mittleren Ostens, und für die Kurden besonders, zur destruktivsten Epoche ihrer bisherigen Geschichte geführt. Der bürgerliche Nationalismus, der ein untrennbarer Ausdruck dieser Politik ist, wirkte schon deshalb negativ, weil er seit seiner Entstehung den Zwecken der „divide and rule“-Politik diente. Während er in Europa eine elementare Rolle bei der Herausbildung einer nationalen Wirtschaft, Sprache und Kultur, kurz gesagt der Nationalstaaten spielte, diente er im Mittleren Osten eher dem gegenseitigen Ausrotten der Völker. Der bürgerliche Nationalismus war nicht nur wichtig bei der Auflösung des Osmanischen Reiches, sondern hat auch das (Völker-)Mosaik des Mittleren Ostens gestört. Die Völker wurden voneinander isoliert, z.B. die Araber von den Kurden, und wurden, sozusagen als Bruchstücke, zu einer leichten Beute. Diese Zersplitterung weitete sich später infolge eines erstarkenden lokalen Nationalismus sowie eines mikroethnischen Nationalismus aus und wurde so funktional für die „divide and rule“-Politik. Der türkische Nationalismus formiert sich als erster in der Art, in der auf die Auflösung des Osmanischen Reiches reagiert wurde. Zunächst zeigt er sich als Nationalismus mit einem begrenzten progressiven Fundament. Unter der Führung von Namik Kemal und seinen Gefährten ist das Ziel zunächst eine konstitutionelle Staatsreform (mesrutiyet)5, der Neo-Osmanismus. Dann taucht er gegen Ende des 19. Jahrhunderts einerseits als Pantürkismus im Komitee für Einheit und Fortschritt (Itti- 28 Eingabe an den EGMR hat ve Terraki)6 auf, andererseits aber auch als Panislamismus des Abdul-Hamid7. Die konstitutionelle Regierung rechnet sich diesen Nationalismus als eigenen Verdienst an. Doch ist er ohne jegliche demokratische Substanz. Die anfängliche Betonung von Freiheit und Brüderlichkeit weicht später der Diktatur und dem Rassismus. Der erste Weltkrieg, an dem sich das Osmanische Reich mit dieser Politik beteiligt, endet mit dessen Auflösung. Der Nationalismus der republikanischen Ära von Atatürk ist anders geartet. Er ist nicht rassistisch, sondern sieht alle anatolischen Zivilisationen als seine eigenen, zu respektierenden Quellen an. Um das Selbstwertgefühl und Nationalbewusstsein des unter osmanischer Herrschaft stets verächtlich behandelten türkischen Volkes zu stärken, propagierte man das Motto „Glücklich, wer sich ein Türke nennen darf“. Dies hatte zunächst keine rassistische Dimension, sondern sollte die Bildung der türkischen Nation stärken. Das türkische Volk war seit dem Mittelalter durch die Sultane stets verachtet und erniedrigt worden. Zwischen dem später entwickelten rassistischen türkischen Nationalismus und dem Nationalismus Atatürks besteht ein bedeutender Unterschied. Der rassistische türkische Nationalismus der Republik übernimmt zwar die Leitlinien des Komitees für Einheit und Fortschritt, doch ist er weitaus rückständiger als dieses. Ende der 60er Jahre bildet sich angesichts der wachsenden Wirtschaftskrisen, einer starken Landflucht und dem Aufstieg der Linken ein Nationalismus heraus, der seinen politischen Ausdruck in den Idealistenvereinen und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) findet. Er spal- 29 Eingabe an den EGMR tet sich in weitere Flügel auf und ist heute ein fester Teil der Machtstrukturen und der Regierung. Bei der Liquidierung der Linken spielte er eine wichtige Rolle. Seine Widersprüche gegenüber einer zeitgenössischen Interpretation von Atatürks Gedanken, seine Unfähigkeit zur Demokratisierung und sein Beharren auf faschistischem Autoritarismus werden zusammen mit dem rassistischen Fundament zum Hindernis. Besonders in den Reihen der Republikanischen Volkspartei (CHP) lassen sich Versuche erkennen, den Nationalismus von Atatürk zu erneuern. Allerdings wurde der erwartete qualitative Sprung noch nicht getan. Das Schicksal des Nationalismus von Atatürk hängt davon ab, ob dieser Sprung in Richtung Demokratisierung getan wird. Versuche, das traditionelle Osmanentum zu erneuern, zeigten sich in der türkischen Islamsynthese. Diese Strömung entstand aus dem politischen Aufstieg des Islam und formiert sich wesentlich als liberale Tendenz der sich neu entwickelnden anatolischen Bourgeoisie. Diese Tendenz betont den Islam mehr als das Türkentum und versucht, Kraft aus den islamischen Strömungen des Iran und der arabischen Welt zu schöpfen. In jüngster Zeit zeigt sie sich bedacht und versucht, sich nach dem Modell der christdemokratischen Parteien Europas zu entwickeln. Der traditionelle Machtblock der türkischen Bourgeoisie erlebt nach seiner Trennung von der CHP, nach dem Scheitern der Demokratischen Partei (DP), Gerechtigkeitspartei (AP) und Mutterlandspartei (ANAP), mit seinem Liberalisierungsanspruch einen Zerfallsprozess. Dieser Block hat kein ernstzunehmendes Beispiel für Demokratisierung 30 Eingabe an den EGMR erbracht. Heutzutage konzentriert sich die Bourgeoisie darauf, einen Parteiblock der demokratischen Mitte zu schaffen. Sowohl Strömungen der rechten als auch der linken Mitte versuchen, das Vakuum unter Betonung von Demokratie und Menschenrechten zu füllen. Die vielschichtige Krise, in der sich die Türkei im internationalen Vergleich befindet, macht erneut deutlich, dass der Nationalismus, der das letzte Jahrhundert geprägt hat, unfähig ist, die Probleme zu lösen und in einer Sackgasse landet. So ausschlaggebend der Atatürk’sche Nationalismus bei der Gründung der Republik zweifelsohne war, basiert sein Scheitern auf der Unfähigkeit zu einer demokratischen Evolution. Das gleiche Unvermögen findet man im gesamten Mittleren Osten. Europa leitete das Zeitalter des fortschrittlichen Nationalismus ein. Prägend für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war, dass es den rassistischen Nationalismus, der seinen Höhepunkt im Hitlerfaschismus fand, schließlich überwand und die Fahne der Demokratie gehisst hat. Atatürk konnte, wenn auch begrenzt, vom europäischen Nationalismus in seinem fortschrittlichen Stadium profitieren. In diesem Sinne war er zeitgenössisch und modern. Doch als nach dem zweiten Weltkrieg die demokratische Zivilisation als „zeitgemäß“ definiert wurde, versagten die türkischen Regierungen. Sie erkannten nicht die Essenz dieser Zivilisationsentwicklung; und falls sie sie doch erkannt haben, glaubten sie nicht daran, weil sie ihnen nicht in den Kram passte. Die Republik mit oligarchischer Macht zu verwalten, entsprach mehr ihren Interessen. Eine fortschrittliche Demokratie stellte 31 Eingabe an den EGMR eine Gefahr für ihre Interessen dar. Dadurch entfernte sich die Republik von der modernen Zivilisation. Diese Tatsache ist auch der Grund für die Wirtschaftskrise. Während alle zerstörten europäischen Staaten mit demokratischen Gesellschaftsmodellen ihr heutiges Niveau erreichten, hat sich die Türkei stets von der Demokratie ferngehalten. Sie meinte, sich entwickeln zu können, indem sie sich hinter einer demokratischen Rhetorik und Demagogie versteckte. Während man noch glaubt, das Spiel mit der Moderne bauernschlau gewinnen zu können, und versucht, jeden einzulullen, muss die Türkei gerade in letzter Zeit eingestehen, dass die Republik auf ein großes Riff gelaufen ist. Offensichtlich hat die politische Elite der Türkei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur den Kern des Modernisierungsanspruches für die Republik nicht verstanden, sondern sie hat sich auch nicht gescheut, das vorhandene, freilich begrenzte Erbe zu missbrauchen. Darauf reagierte die Armee mit der andauernden Kontrolle der politischen Clique und führte vier Putsche durch, um einem Entgleisen der Republik entgegenzusteuern. Da allerdings kein Putsch über ein ernsthaftes Programm verfügte und sich eher auf den Schutz der Republik nach klassischen Regeln beschränkte, blieb nichts zurück außer den aktuellen Erschütterungen. Die Putsche trugen erheblich zu einer wachsenden Abschottung und Introvertiertheit der Republik bei. Der Konservatismus nahm zu. Was wir also gegen Ende des 20. Jahrhunderts erlebten, war nicht nur eine Wirtschaftskrise, sondern eine allumfassende wirtschaftliche, kulturelle, soziale und politische Krise. Der 32 Eingabe an den EGMR nächste Schritt ist Chaos und Hyperinflation. Wenn die Rückständigkeit nicht aufhört, wird genau das eintreten. Grund für die wachsende Entfernung der Türkei von der zeitgenössischen demokratischen Zivilisation sind vor allem der reaktionäre Nationalismus und die antidemokratischen Machenschaften der oligarchischen Regierungen. Heute muss die Türkei die Konsequenzen dieser Widersprüche in Form der schwersten und durchdringendsten Krise ihrer Geschichte tragen. Während der autoritäre und (politisch gesehen) protektionistische Charakter des Regimes die Entstehung einer Gegenbewegung von innen verhindert, erwartet man die Lösung, wie so oft in der Geschichte, von einer Intervention von außen. IWF und EU versuchen jeweils auf ihre Weise zu intervenieren. Doch die traditionellen Ängste des Staates und die Verschlossenheit gegenüber demokratischen Erneuerungen seiner Struktur behindern den Erfolg eines Eingreifens von außen. Diese Behinderung von inneren und äußeren Lösungsansätzen für die Krise birgt die unmittelbare Gefahr einer gesellschaftlichen Implosion in sich. Während der türkische Nationalismus allgemein tief in einer Sackgasse steckt, stößt auch der rassistische türkische Nationalismus, der versucht, über den Faschismus einen Ausweg zu finden, an die harten Mauern der inneren und äußeren Bedingungen. Der Faschismus gewinnt an Aggressivität, weil er keine stabile Basis für Aufstieg und Machtübernahme finden kann. Er sieht sich eingeengt durch die Gefahr einer Schwächung. Alle inneren und äußeren Bedingungen stellen beide Formen von Nationalismus vor die Alternative, sich entweder zu transformieren oder sich zurückzuziehen. Die Armee weiß nur 33 Eingabe an den EGMR zu gut, dass mit einem traditionellen Putsch so gut wie nichts zu holen ist. Selbst die Machtergreifung der Armee zum Zwecke der Durchsetzung eines breit gefächerten Reformprogramms ist aufgrund der gegebenen internationalen Allianzen und inneren Bedingungen unwahrscheinlich. Erst wenn die Republik vor der Gefahr der Auflösung steht, könnte eine offene Intervention des Militärs auf die Tagesordnung kommen. Dazu kommt allerdings, dass die Armee mit Hilfe des wachsenden Einflusses des Nationalen Sicherheitsrates sowieso eine intensivere Kontrolle und Überwachung ausübt, als ihr zusteht. Das sind also die Bedingungen, unter denen die Türkei Fragen der umfassendsten Änderungen und Transformationen ihrer Geschichte diskutiert. Vermittelt durch die Medien erreichen diese Diskussionen täglich die hintersten Ecken des Landes. Diese Diskussionen ähneln weder den steifen Diskursen der intellektuellen Bürokraten aus der Zeit vor der konstitutionellen Staatsreform, noch dem Aufbruch der Demokraten innerhalb der CHP nach dem zweiten Weltkrieg. Sie liegen auch jenseits des links/rechts- Diskurses der Türkei der 70er Jahre. Gründe hierfür sind der augenblickliche Zustand der sozialökonomischen Ordnung, die Blockade des politischen Systems, das Ausmaß, das die Kurdenfrage angenommen hat, und internationale Konflikte. Niemand glaubt mehr, dass die Krise, wie in früheren Zeiten, mit gewöhnlichen Maßnahmen aus der Welt zu schaffen sei. Alle einseitig getroffenen Maßnahmen vermögen nichts weiter, als die Krise und die Probleme zu verschärfen. Das macht deutlich, dass noch keine hinreichend genaue Diagnose erstellt worden ist. 34 Eingabe an den EGMR Mit der nationalistischen Ideologie wurde es so weit getrieben wie irgend möglich. Diese Ideologie kann keine Probleme lösen, sondern nur verschärfen. Die Wirklichkeit im gesamten Mittleren Osten bestätigt das. Dabei ist die Krise der Türkei natürlich auch Ausdruck einer allgemeinen Situation unter imperialistischen Bedingungen. Ähnlichkeiten mit Argentinien, Brasilien oder Indonesien weisen darauf hin. Eine nähere Betrachtung des Beispiels Türkei zeigt, dass die kapitalistische Ökonomie sich unter dem gegebenen System nicht weiterentwickeln sondern ganz im Gegenteil nur zurückbilden kann. Die Zeit der Gründung der Republik war die Zeit der Kapitalakkumulation durch die Hand des Staates. Es war die Zeit der Pflege und Aufzucht einer jungen Bourgeoisie, die aus den Reihen der Staatsbürokratie rekrutiert wurde. So wurden die ersten Grundsteine für ein kapitalistisches System gelegt. In den 50er Jahren entwickelte sich der Kapitalismus und breitete sich aus. Sowohl der ländliche Agrarkapitalismus als auch der städtische Industriekapitalismus erlebten in jener Zeit einen Aufschwung. Neben dem bürokratischen Kapitalismus wurde auch die Phase der privaten Akkumulation eingeleitet. Handels- und Industriekapitalismus übernahmen die Führung. Nach den 80er Jahren begann der Aufschwung des Finanzkapitals. Ein weiterer Fortschritt wurde durch binnenländische Substitution vormaliger Importprodukte und die Öffnung der Industrie nach außen erzielt. Mit all diesen Schritten hat der türkische Kapitalismus eine Stufe erreicht, auf der er Bedingungen, die sich als unterentwickelte Dritte-Welt-Ökonomie bezeichnen lassen, hinter sich gelassen 35 Eingabe an den EGMR hat und eine Position der Konkurrenzfähigkeit mit europäischen Ländern erlangt hat. Sein Fehler war es, nicht das entsprechende politische System zu dieser Wirtschaftsstruktur geschaffen zu haben, sondern zaghaft und zögernd zu verharren. Das eigentliche Hindernis hierbei war die kurdische Frage. Betrachten wir dies im Zusammenhang mit der jüngsten Geschichte, so finden wir auch bei der Gründung der Republik eine ähnliche Situation vor. Bei der Systembildung hatte die Republik die Kurden vergessen. Allerdings spürte das System ununterbrochen Angst vor ihnen, was zu einer halbherzigen Integration führte, die jedoch weit von einer Lösung entfernt war. Die Aufstände der Kurden waren nicht separatistisch, wie sie meist dargestellt werden. Die kurdischen Aufstände, die das 19. Jahrhundert durchzogen, hatten nicht das Ziel, sich vom System abzulösen, sondern begegneten gerade der Ausgrenzung. Der wachsende Zentralismus räumte den Kurden keinen Platz ein. Sie mussten feststellen, dass sie sowohl ihre Autonomie verloren als auch keinen Platz im neuen zentralistischen System bekommen hatten. Die großen Staaten stachelten zwar von Zeit zu Zeit die Geschehnisse an, um die Türkei in stärkere Abhängigkeit zu bringen, leisteten aber keine Unterstützung beim Ziel der Loslösung. Mit der Gründung der Republik wiederholte sich das Gleiche auf fortgeschrittener Ebene. Die Kurden verloren nicht nur ihre Autonomie, sondern wurden plötzlich mit der völligen Verleugnung ihrer Existenz konfrontiert. Zweifelsohne haben Staaten mit entsprechenden Interessen, allen voran Britannien, ihre Vorteile aus den 36 Eingabe an den EGMR Aufständen gezogen, die sich gegen die neue Situation richteten, und konnten sich letztendlich mit den Kemalisten aussöhnen. Die folgende Phase aber bedeutete für die Kurden das komplette Verbot und die Auslieferung. Es bedeutete Fäulnis und Vergessen. Die Antwort darauf, die sich in der PKK konkretisierte, war der allseits bekannte Krieg niederer Intensität im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Die Republik, die sich schon bei ihrer Gründung unter dem Vorwand kurdischer Aufstände nicht demokratisieren konnte, verstieg sich vor lauter Angst und Spaltungsbedenken in die Illusion, das Problem durch bloße Unterdrückung der Kurden lösen zu können. Das geschah gerade zu der Zeit, als ihr System sich auf der entscheidenden Stufe des Modernisierungsprozesses befand und die Demokratisierung hätte vervollständigt werden müssen. Mit allumfassender Mobilmachung, mit dem gesamten Instrumentarium des Spezialkrieges wurde die Liquidierung des Problems auf die Tagesordnung gesetzt. Verschiedene Quellen geben Zahlen von 100 bis 400 Milliarden US-Dollar an, die zu diesem Zweck ausgegeben wurden. Die Bilanz: eine Krise der vorhandenen Wirtschaft, aus den Fugen geratene Sozialverhältnisse, völliger Bankrott der politischen Strukturen. Weniger als 10 Prozent der Bevölkerung unterstützen die jetzige Regierung. Der komplette Zusammenbruch der Wirtschaft wird von aller Welt vorausahnend mitverfolgt, und ohne die Unterstützung des IWF könnte sie sich tatsächlich nicht einen einzigen weiteren Tag auf den Beinen halten. Im Gegensatz zu jener Rhetorik, der zufolge die Türkei es mit dem Rest der Welt aufnimmt, ist sie zu einer 37 Eingabe an den EGMR Republik geworden, die sich ohne die USA, die EU und deren jeweilige Unterorganisationen nicht mehr auf den Beinen halten könnte. Das ist der Punkt, an den der türkische Nationalismus die Türkei gebracht hat. Ihre Kurden hat sie weder vernichten noch vollständig assimilieren können. Ganz im Gegenteil erleben die Kurden unter der Führung der PKK eine große demokratische Wandlung. Angesichts dieser objektiven Sachlage wird versucht, Schritte für die nahe Zukunft einzuleiten. Sowohl rechts als auch links der Mitte bemüht man sich, neue Parteien zu bilden. Die bestehenden Parteien, schon jetzt als verkalkt verschrieen, geben ihre Ansprüche nicht auf. Die Regierung spielt sprichwörtlich auf Verlängerung. Die Bevölkerung sehnt sich sehr nach einer grundlegenden Veränderung. Ihr Votum für eine demokratische Zivilisation steht außer Frage. Die Armee steht einem Putschversuch fern und sperrt sich nicht gegen Transformationen im demokratischen und laizistischen Sinne der Republik, solange diese nicht das Kräftegleichgewicht überstrapazieren. Die PKK, in der Position der Selbstverteidigung, hat ihre Präferenz für eine demokratische Lösung deutlich ausgedrückt. Angesichts dieses Panoramas wird deutlich, dass die Probleme nicht mit einseitigen Maßnahmen gelöst werden können. Schon die Logik erfordert, dass eine Lösung umfassend und vielschichtig sein und die Verflechtung der verschiedenen Problemebenen berücksichtigen muss. Wie beim Hausbau wird die gesamte Konstruktion sinnlos, wenn auch nur an einer Ecke das Fundament fehlt. Bei aktuellen Verfassungs- und Gesetzesänderungen werden die Kurden wieder einmal außen vor gelassen. Schon jetzt lässt 38 Eingabe an den EGMR man Boden brach liegen, auf dem neue Auseinandersetzungen und Konflikte entstehen könnten. Der rassistische Nationalismus spielt weiterhin mit dem Schicksal der Türkei. Er versucht, die Zukunft der Türkei noch einmal über Ängste festzulegen. So also verschärft sich die Krise immer weiter. Die Abschottung von der Außenwelt und Borniertheit nach innen bringen die Massen an den Rand der Implosion. Eigentlich durchläuft die Republik eine große Veränderung. Ihre althergebrachten Grundlagen werden laufend überholt. Erneuerung ist zu einer starken Überzeugungshaltung geworden. Die größte Empörung ziehen jene auf sich, die sich gegen Veränderungen stellen. Es sieht fast so aus, als ob niemand mehr so recht gegen Aussöhnung und Wandel sei. Aber die Türkei fürchtet sich. Sie fürchtet sich vor ihrer jüngsten Geschichte. Sie fürchtet sich vor den Verbrechen, die an den Kurden begangen worden sind. Ebenso fürchtet sie sich vor den Verbrechen, die noch in jüngster Vergangenheit an den Kräften der Demokratie begangen wurden. Sie fürchtet sich vor den Kriterien der Demokratie ebenso wie vor ihrer eigenen Unaufrichtigkeit ihnen gegenüber. Und alle diese Ängste verschärfen die Krise. Die Krise ist, wie gesagt, sicher nicht nur eindimensional, sie ist vorrangig eine politische Krise. Die politische, psychologische, soziale, moralische und wirtschaftliche Dimension sind eng miteinander verzahnt. Die Krise ist an einen Punkt gelangt, der entweder nur eine umfassende Lösung oder eine umfassende Aussichtslosigkeit zulässt. Weil sich kein Problem mehr mit Putsch und Unterdrückung lösen lässt, und eine 39 Eingabe an den EGMR solche Situation auch nicht vor der Tür steht, muss die Phase, in der wir uns befinden, zwangsläufig einen anderen Ausgang finden. Auch mit Nationalismus lässt sich nichts lösen. Es gibt weder eine Linke, die zerschlagen werden muss, noch gibt es eine kurdische Bewegung im bewaffneten Kampf. Gegen was soll der Nationalismus da in den Krieg ziehen? Alle Nachbarstaaten wollen Freundschaft. Die Bevölkerung ist ganz sicher nicht für Gewalt, im Gegenteil, sie ist ihrer überdrüssig geworden. Wenn sie noch weiter bedrängt und geschunden wird, droht sie mit einer riesigen sozialen Implosion. Das heißt also, dass in der Geschichte der Türkei eine Phase angebrochen ist, in der es keine materiellen Grundlagen für Nationalismus, Aufstand, Repression und Niederschlagung mehr gibt. Diese haben heute ihre Rolle erfüllt. Die Zeit des Nationalismus, der Aufstände und Repression geht ihrem Ende zu. Auch wenn es manchen nicht so ganz passt, auch wenn es noch Kräfte gibt, die den rassistischen Nationalismus und Chauvinismus der unterdrückenden Nation oder den Nationalismus der unterdrückten Bourgeoisie, die althergebrachte Linke oder den politischen Islam für sich beanspruchen – es ist eine Phase angebrochen, in der diese alle keine Rolle mehr spielen und auch in Zukunft nicht mehr spielen werden. Trotz ihres erheblichen Mankos an entsprechendem ideologischen und politischen Rüstzeug bewegt sich die Türkei in eine neue Phase. Die Volksmassen haben jetzt zweifelsohne ernsthafte Erwartungen. Der Staat ist an einen Punkt gekommen, wo er sich ganz gewaltig umsehen müssen wird, wenn er sich nicht einer Wandlung unterzieht. 40 Eingabe an den EGMR Sofern die Politik die neue Zeit nicht auf ideologischer, politischer und moralischer Ebene reproduzieren kann, wird sie unausweichlich durchfallen und sitzen bleiben. Wenn sich die soziale Implosion nicht als eine stetig wachsende Gefahr aufblähen soll, muss man sich der neuen Zeit stellen. Vor der Herausforderung der unausweichlich eskalierenden Krise, der politischen, psychologischen und sozialen Depression kann sich auch die Wirtschaft nicht retten, egal, wie viele Dollarspritzen sie noch bekommen sollte. Die Bedingungen der neuen Zeit sind herangewachsen, und die Neustrukturierung muss vollzogen werden. Die neue Zeit ist eine vertrackte Klemme, die überwunden werden muss. Es ist eine Zeit, in der sowohl mental als auch strukturell Veränderung und Transformation anstehen. Es ist die Zeit, in der die Republik als wirklicher demokratischer und säkularer Rechtsstaat neu strukturiert wird. Es ist die Zeit, in der die kurdische Frage nicht ausgegrenzt sondern auf Grundlage demokratischer Einheit ihrer Lösung zugeführt wird. c. Die Zeit der Neustrukturierung der Republik und einer demokratischen Lösung der Kurdenfrage Die Vorstellung, dass die Krise der Türkei im neuen Jahrtausend durch Demokratisierung der staatlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen überwunden werden kann, hat sich allgemein als Konsens etabliert. Weder neue Spannungen noch die von nationalistischer Rhetorik postulierte Einheit reflektieren die Erwartungen der Zeit. Die Bevölkerung fühlt sich weder durch nationalistische Slogans noch durch demagogische Schlachtrufe ange- 41 Eingabe an den EGMR sprochen. Sie will eine demokratische Wirtschaftsordnung, die durch Rechtsstaatlichkeit von Korruption bereinigt ist, ohne Inflation, die das Problem der Arbeitslosigkeit lösen kann und gerecht umverteilt. Die Bevölkerung will ihre historischen Sehnsüchte nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit realisiert wissen. Der Charakter der neuen Zeit wird sich über diese Werte herausbilden. Dazu bedarf es einer neuen Verfassung, die als Grundvoraussetzung ihrer Demokratietauglichkeit am bekundeten Willen des Volkes orientiert sein muss. Für eine demokratisch strukturierte Politik ist ein demokratisches Parteien- und Wahlgesetz unbedingte Voraussetzung. Die Verfassung demokratisiert den Staat, das Parteien- und Wahlgesetz die Politik. Zivilgesellschaftliche Organisationen, deren Existenz rechtlich abzusichern wäre, sind das fundamentalste Mittel für die Demokratisierung der Gesellschaft. Wenn volle Meinungsund Ausdrucksfreiheit in gedanklichen und kulturellen Bereichen erst einmal garantiert ist, werden auch die grundlegenden Menschenrechte an Funktionalität gewonnen haben. Jede politische Bewegung, die an die Macht will, wird nur dann eine Erfolgschance haben, wenn sie sich dem Demokratisierungsprojekt vollständig verpflichtet. Dies ist die allgemeine Tendenz, die sich Tag für Tag deutlicher abzeichnet. Doch die Umsetzung solcher struktureller Entwicklungen setzt eine Revolution des Bewusstseins voraus. In dem Maße, wie ein jeder und eine jede von sich sagen kann: „Auch ich habe mich verändert“, wird sich die mentale Revolution vollziehen. Realistischerweise lässt sich also der Prozess, vor dem die Türkei sowohl als Staat als auch als Gesellschaft steht, mit 42 Eingabe an den EGMR dem Begriff der Demokratischen Türkei erfassen. Die erste Phase der Republik war die ihrer Gründung, mit den dabei vollzogenen Reformen, den Schutz- und Abwehrmaßnahmen, es war die Phase der autoritären Republik (19201950). Die zweite Phase war die einer gemeinsamen Willkürherrschaft eines kleinen Teils der oberen Schichten, es war die oligarchische Republik (1950-2000). Die neue Phase, in die wir jetzt hineingehen, ist die Phase der demokratischen Republik. Sie ist gekennzeichnet durch die Reflexion des Volkswillens in einem demokratischen Funktionsmechanismus. Sowohl was den Bereich des Bewusstseins als auch den institutionellen Bereich angeht, formt sie sich unter intensiver gesellschaftlicher Beteiligung. Eine demokratische Lösung der Kurdenfrage ist sowohl der Hauptgrund für diese Phase als auch das, was sie vervollständigt. Die ersten beiden Phasen der Republik führten aufgrund von Nationalismus und Aufständen zu einer Ausgrenzung der Kurden, obwohl diese bei der Gründung strategische Partner gewesen waren. Dabei hatte der Führer der nationalen Befreiungsbewegung M. Kemal bei der Organisierung der Bewegung Kurden und Türken als zwei strategische Partner deklariert, die auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen seien. Die Ausnutzung der von feudalen Führern geleiteten kurdischen Aufstände zur Verleugnung der Kurden ist die unglücklichste Tatsache in der Geschichte der Republik. Sie hat sie verkrüppelt und widerspricht ihrer Gründungslogik. Die Verleugnung des Phänomens und des Problems hat deren Existenz nicht nur nicht aufgehoben, sondern ebenso wenig verhindern können, dass sie immer wieder erschwert und verschlimmert 43 Eingabe an den EGMR auftraten. Sie hat unentwegt Ängste produziert, die zur Verhärtung der Republik und somit zur Vereitelung ihrer Demokratisierung geführt haben. Der Auswuchs des Nationalismus zum Chauvinismus hat die Erkenntnis historischer Wahrheiten verhindert. Wie in den betreffenden Kapiteln ausgeführt, waren die Kurden der östliche Stützpfeiler des in Anatolien emporrankenden Aufstiegs der Türken. Wenn dieser Stützpfeiler weggezogen wird, hat das Türkentum in Anatolien es sehr schwer, auf den Beinen zu bleiben. In allen kritischen Phasen der Geschichte hat sich diese Tatsache gezeigt. Die Geschichte hat gezeigt, dass der Sieg bei Malazgirt 10718, der zum Einzug der Türken in Anatolien führte, ohne die Kurden nicht möglich gewesen wäre. Das Erstarken des Osmanischen Reiches zu einer Kraft im Mittleren Osten hängt eng mit dem Sieg in der Schlacht von Chaldiran 15149 zusammen, der wiederum der Teilnahme kurdischer Fürstentümer zu verdanken ist. Eine Reihe von Demarchen und Befehlen M. Kemals zeigen, dass der Befreiungskrieg ohne die Kurden nicht hätte gewonnen werden können. Eine Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungen haben sich gerade durch die Mitwirkung der Kurden vorteilhaft für die Türken ausgewirkt. Angesichts dieser Tatsachen bedeutet das Ignorieren der Kurden, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt. Hierin zeigt sich der Einfluss von blindem Chauvinismus. Die Kurden zunächst als Verbündete zu sehen, auf die man auf Gedeih und Verderb angewiesen ist, um sie dann, wenn dieser Bedarf nicht mehr besteht, zu ignorieren, ist die verhängnisvollste Politik der Republik. Sie war wie ein Schlag ins eigene Gesicht. Das Kalkül der Assimi- 44 Eingabe an den EGMR lation hat sich als falsch herausgestellt. Es hat sich gezeigt, dass derlei Methoden auf dem heutigen Stand von Technologie und Kommunikation wirkungslos sind. An dieser Stelle muss kurz auf einige Begriffe eingegangen werden, die zeigen, wie unsinnig es ist, vor dem kurdischen Problem Angst zu haben. Zunächst die „Besorgnis um die Einheit und Untrennbarkeit des Landes und Staates“. Diese Sorge hat ihren Ursprung in der Furcht vor der kurdischen Frage. Die Furcht führte zur Verleugnung, die wiederum verschiedene Aufstände und andauernde Krisen hervorbrachte. Die Folge waren Selbstbetrug und enorme materielle Verluste auf beiden Seiten. Dabei ist es doch nur zu offensichtlich, dass die Einheit des Landes viel stabiler zu gewährleisten ist, wenn die Kurden in ihren Heimatgebieten in geschwisterlicher Weise ihre sprachliche und kulturelle Existenz leben können. Es wird befürchtet, dass Freiheiten, die man den Kurden zugesteht, zur Trennung und der Konstituierung einer eigenen Nation führen könnten. Doch kann die Sinnlosigkeit von Abspaltung in freien Diskussionen leicht bewiesen werden. Der in jeder Hinsicht bereichernde Einfluss eines gemeinsamen Lebens in Freiheit ist offensichtlich. Sezession ist eine Strömung, die durch beidseitigen Nationalismus angefacht wird. Beide Seiten tragen dafür Verantwortung. Gegengift gegen die Sezession ist die Option der Freiheit und der demokratischen Einheit. Die Frage nach der Konstituierung einer eigenen Nation und die grundsätzliche nationale Frage lassen sich in einer wissenschaftlichen Diskussion aus dem Weg räumen. Die Behauptung, die Kurden seien noch nicht auf dem Stand der Nationenbil- 45 Eingabe an den EGMR dung angelangt und bildeten, sollten sie doch eine Nation sein, nur eine Gefahr für die türkische Nation, kennzeichnet einen nationalistischen Fanatismus. Offensichtlich trägt es nicht dazu bei, die türkische Nation zu stärken, wenn man die Kurden mit aller Gewalt als Türken behandeln will. Nicht zuletzt erstarken ja auch Türken nicht durch ihre bloße Anzahl, sondern durch eine entwickelte Wirtschaft und Demokratie. Die Kurden als soziologisches Phänomen zu betrachten, nützte da der türkischen Nation schon mehr. Eine türkische Nation, die ihre Existenz anerkennt, ruft bei den Kurden mehr Achtung und den Wunsch zur Einheit hervor. Umgekehrt bringen Verleugnung, Sprachverbot und das Vorenthalten des Rechts auf Erziehung und Bildung nur Zorn und Verachtung hervor. Nichts ist schädlicher für beide Seiten als dieser Ansatz. Diesbezüglich schlage ich als gemeinsamen Nenner eine Praxis wie in vielen Ländern vor, die Nationalität in Form des Ländernamens zu verstehen. Für die Türkei ist auch möglich, was z.B. in der Schweiz, Belgien, Spanien, Russland, den USA und vielen anderen Ländern gang und gäbe ist, nämlich bei aller Vielfalt an Sprachen und Kulturen eine einzige schweizerische, belgische, spanische oder US- amerikanische Nationalität zu bewahren. So kann auch die Türkei als eine Nation begriffen werden und für sie entsprechend der historischen und sozialen Gegebenheiten realistischerweise anstelle des ethnisch verstandenen Adjektivs „türkisch“ „Türkei“ als Landesname verwendet werden. Wie die Äste eines Baumes kann jede Sprache und Kultur als eigener Teil der gesamten Pflanze begriffen werden. Die von aller Welt als Reichtum begriffenen kulturel- 46 Eingabe an den EGMR len Existenzformen und sozialen Phänomene mit aller Gewalt für null und nichtig zu erklären, ist weder umsetzbar noch nützlich. Andererseits kann die Wertschätzung der Kurden dem nationalen Leben des einen und gleichen Landes, der Nation Türkei, wahre Dienste leisten. Dass die Kurden mit dem Gegenteil, mit dauernden Zweifeln, Konflikten und militärischen Feldzügen zu einer Quelle großen Schadens werden, ist hinreichend bewiesen. Soziale Phänomene der natürlichen Assimilation zu überlassen, dabei aber der Entfaltung von kulturellen Werten Raum zu geben, ist seit jeher eine grundlegende Tendenz in der Menschheitsgeschichte. Nur die schlimmsten Fanatiker haben sich an der Liquidierung kultureller Werte versucht. Deren Platz in der Geschichte ist bekannt. Wenn diese Begriffsverwirrung und chauvinistische Sichtweise der Vergangenheit überlassen werden, gibt es keinen Grund, warum nicht die Kurden zu aufrechten und bewussten Mitbürgern der Republik werden sollten. Die Lösung der kurdischen Frage beginnt an diesem Punkt, mit der freien Teilnahme, der Zugehörigkeit der Kurden mit ihrer eigenen kulturellen Identität zur Republik. Die Lösung ist weder ein eigener Staat, noch Verleugnung, noch militärische Feldzüge – sie liegt in der bewussten, organisierten Entscheidung der in jeder Hinsicht gleichberechtigten freien Bürger und Bürgerinnen für die Demokratische Republik. Das hat nichts mit Sezession zu tun, viel aber mit wirklich geschwisterlicher Einheit und dem gemeinsamen Genuss aller Rechte. Dieser Ansatz birgt keine Gefahr im Sinne der Einführung des Kurdischen als Amtssprache als Vorstufe 47 Eingabe an den EGMR zu einem Föderalmodell, wie sie immerzu in demagogischer Absicht von gewissen chauvinistisch-nationalistischen Stimmen beschworen wird. Dieser Unsinn beruht auf dem mangelnden Verständnis der Tatsache, dass eine wahre Demokratie wertvoller ist und mehr Rechte bereithält als ein eigener Staat oder eine Föderation. Die Kraft der Demokratie beruht auf ihrer einzigartigen Fähigkeit zur Problemlösung und Kompromissbereitschaft für breiteste Koalitionen. Nur wenn die Demokratie nicht als überlegenes Modell vorhanden ist, kann von der Gefahr einer Abspaltung oder Föderation gesprochen werden, was dann eine Minderheit für sich beanspruchen kann. Aber die voll entwickelte Demokratie hat ihre Überlegenheit gezeigt, als einziges System verschiedene Völker, Gruppen und sogar Klassen zu ihrem maximalen Nutzen zusammenfügen zu können. Es ist mittlerweile in jeder Hinsicht schwer, die Kurden daran zu hindern, sich als freie Mitbürger und Mitbürgerinnen mit ihrer kulturellen Identität an der Demokratischen Republik zu beteiligen, sowohl historisch als auch aus Sicht der Demokratisierung. Demagogische und destruktive Versuche, sich dem warnend entgegenzustellen mit der Begründung, die ungewollte freie Beteiligung [der Kurden und anderer; A. d. Ü] sei nur mit einem Verzicht auf Demokratie zu verhindern, sind ein Rückschritt, den unser Zeitalter nicht mehr akzeptiert. Das lässt sich weder mit den Notwendigkeiten der Modernisierung noch mit der Atatürk’schen Ideologie erklären, sondern ist ein Merkmal des Faschismus, von dem man ablassen muss. Was bleibt, ist die wirkliche Sicherung der Einheit und Untrennbarkeit des 48 Eingabe an den EGMR Landes und des Staates, die mit Nachdruck in ihrer Form und ihrem Inhalt durch die freie Willensäußerung der Völker bestimmt werden muss. Dieser Ansatz entspricht nicht nur dem Geiste der Gesamtgeschichte der türkisch-kurdischen Beziehungen, sondern befindet sich im Hinblick auf Demokratie und Menschenrechte auch im Einklang mit dem Charakter unseres Zeitalters. Bei dieser Lösung wird weder von einer Veränderung der Grenzen, noch von Autonomie, noch von einer Extraliste an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Rechten gesprochen. Alles, was dazu notwendig ist, ist eine wirkliche Verbundenheit mit dem demokratischen System, ein Ablassen von chauvinistischen und faschistischen Ansprüchen und Freiheit für die eigene kulturelle Identität und Bildung jeder Gruppe, ohne dass das offizielle System negiert wird. Das ist des Pudels Kern in der kurdischen Frage. Vielleicht werden sich einige nationalistische kurdische Kreise daran stören und von Verrat an der hundertjährigen Sache der Kurden sprechen. Aber auch dieser Nationalismus hat, ebenso wie jener der unterdrückenden Nation, anstelle einer Lösung nur Feindschaft, Streben nach Loslösung, Leid und Blut, materielle und geistige Verluste hervorgebracht. Sie drücken sich vor der demokratischen Lösung gerade deshalb, weil sie im Volk keine Unterstützung finden. Sie meiden die Demokratie, weil eine Autonomie ihren Klasseninteressen mehr nutzt. Sofern die demokratische Lösung unter solchen Minimalbedingungen einmal beginnen kann, werden auch die konstitutionelle und rechtliche Dimension des Problems auf dem Wege verschiedener Koalitionen im Laufe der Zeit ihre 49 Eingabe an den EGMR Lösung finden. Einen Platz in der Verfassung und in Gesetzen zu finden, ist nur eine Frage der Zeit und des demokratischen Kampfes. Dessen Früchte werden früher oder später geerntet werden. Sozioökonomische Planungsprojekte und Organisationen, die den Bedingungen der kurdischen Gebiete entsprechen, können eingerichtet werden. Kulturelle und künstlerische Tätigkeiten, Publikationen und Sender in der eigenen Sprache, muttersprachliche Erziehung und Bildung sind Punkte, die im Laufe der Zeit nach langen Vorbereitungen eine Lösung finden werden. Ist erst einmal die Demokratie zu einer Lebenskultur geworden, wird es undenkbar sein, diese Probleme nicht zu lösen. Ganz sicher wird die Lösung der kurdischen Frage in Bescheidenheit der Untrennbarkeit des Staates ebensoviel Kraft geben, wie der Einheit des Landes. Sie wird der Türkei neben der Mitgliedschaft in der Europäischen Union auch positive Ergebnisse und Achtung auf allen Beziehungsebenen mit anderen Ländern bringen, vom Mittleren Osten bis zum Kaukasus, von Zentralasien bis zum Balkan. Es ist undenkbar, dass eine Türkei, die ihre gesamte Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung zuwendet, die ihre Sicherheitsprobleme überwunden und sich mit allen ihren Bürgern ausgesöhnt hat, keinen raschen Entwicklungsschub verzeichnen sollte. Wenn die Kurden zu würdigen Staatsbürgern werden und in ihren eigenen Dörfern und Städten leben, wird dies zweifelsohne ein Beitrag zur Lösung des Problems der Ungleichheit in der Bevölkerung und des extremen Wachstums der Metropolen mit der damit verbundenen Überbelastung des Gesundheitswesens, Ver- 50 Eingabe an den EGMR kehrs und Bildungssystems sein. Allein schon die Erschließung der kurdischen Bevölkerung für Produktion und Markt ist eine Quelle von Reichtum. Es sollte nicht vergessen werden, dass der freie Mensch eher produziert und verbraucht. Dies ist der wahre Entwicklungsweg der Wirtschaft. Ganz zu schweigen von der Überwindung der Krise und Depression, kann die Türkei sogar eine Menge entwickelter Länder überflügeln und zu einer wahren Führungskraft der Region werden. Diese Fakten zeichnen sich am Horizont der skizzierten Lösung ab. Das Erbe des ungelösten Problems ist nur allzu bekannt: Blut, Schmerzen, Verluste in jeder Hinsicht und das ständige auf der Stelle treten. Wenn die Türkei denken sollte, sie könne sich unter Vernachlässigung der Kurden in naher Zukunft demokratisieren und ihre Krise überwinden, dabei innere Einheit und starke internationale Allianzen bewahren, so zeigen die Ereignisse der Gegenwart deutlich, dass dies nichts als Selbsttäuschung ist. Schon eine neue Offensive der PKK im Guerillakrieg, die weiterhin einen Waffenstillstand einhält, reicht aus, um der Türkei das erste Viertel des 21. Jahrhunderts zu verlorener Zeit zu machen. Doch wird niemand damit etwas gewinnen, außer dass vielleicht die Kurden ihre Existenz noch affirmativer erleben werden und das Problem sich nicht zuletzt dadurch verschärfen wird. Dennoch wird der Tag kommen, an dem sich wieder der gleiche Lösungsweg aufdrängen wird. Ist es nicht bitter, dass sich diese demokratische Lösung, die schon am Anfang der Republik hätte stehen müssen, so sehr verzögert hat und so schmerzvoll geworden ist? Wie viele Verluste dies für ein Land und ein Volk bedeu- 51 Eingabe an den EGMR tet! Dabei ist die Lösung doch nicht nur nicht unmöglich, sondern verspricht sogar Gewinne für beide Seiten, für alle Beteiligten. Warum sollte man vor dieser Lösung weglaufen? Wer wegläuft, gehört – wie sich an den Kriegsprofiteuren und Rentiers unserer Zeit deutlich sehen lässt – zu denjenigen, die ihr Auskommen den Krisen und Kriegen verdanken. Sie sind so weit von produktiver Arbeit entfernt wie irgend möglich, sie wurden grausam durch die Gier, sich ohne Arbeit zu bereichern. Doch zeigen uns die Tatsachen, dass auch deren Ende gekommen ist. Die Völker sind aufgewacht. Das Spiel ist aus. Deshalb sagen wir, dass in der bevorstehenden Phase die Republik demokratisch neu strukturiert wird und in diesem Zusammenhang die Lösung der kurdischen Frage in freier Einheit möglich ist. Dies ist der allgemeine Lauf der Geschichte. Zwar mögen einige Hindernisse auf dem Weg dorthin noch auftauchen, doch das Ziel wird zweifelsohne erreicht werden. Die legitime Position der PKK zur bewaffneten Selbstverteidigung mag problematisch sein. Doch wird die Überwindung dieses Problems sicher nicht von unerfüllbaren Forderungen verhindert. Eine zu verkündende Generalamnestie und tolerantes Verhalten können auch dieses Problem leicht aus der Welt schaffen. Doch man muss sich klar darüber sein: Solange Demokratie nicht vollständig garantiert ist, solange dem kurdischen Volk seine Existenz nicht zugestanden worden ist und das Recht, sich frei auszudrücken, seine kulturelle Identität und Muttersprache zu praktizieren und zu pflegen, ist an ein Ende und die Auflösung der PKK oder ähnlicher Organisationen nicht zu denken. Solange Berge von Problemen bestehen, werden 52 Eingabe an den EGMR diese jederzeit wieder Organisationen hervorbringen, die alle möglichen Methoden anwenden können. Letztendlich liegt es in der Verantwortung des Staates, im Geiste der Toleranz mit der Reife eines demokratischen Staates zwischen der Überwindung des Problems und seiner eigenen Haltung zu unterscheiden und dementsprechende Schritte zu tun. Der Staat muss sich darüber im Klaren sein, dass es von historischer Bedeutung ist, das Zeitalter zu beenden, in dem man sich aus nationalistischen Gründen an die Kehle ging, die Aufstände und Repression zu beenden und einen Prozess einzuleiten, in dem alle Probleme mit demokratischen Kompromissen gelöst werden können. Es liegt in seiner eigenen Verantwortung, das Nötige zu tun. Es gibt in der Geschichte zahlreiche Beispiele dafür, dass Menschen, Parteien oder Staaten, die ihre Probleme nicht rechtzeitig gelöst haben, große Schmerzen und Verluste verursacht haben. Die Türkei hat in ihrer Geschichte mehr Beispiele hierfür aufzuweisen als die meisten anderen Länder. Wenn das Osmanische Reich sich rechtzeitig in bestimmten, begrenzten Bereichen am britischen Liberalismus orientiert hätte, wäre der Verlauf der Geschichte ein anderer gewesen. Wenn die Republik in ihrer Gründungsphase jene Fähigkeit zur Entwicklung in Richtung Demokratie an den Tag gelegt hätte, an der nicht zuletzt auch Atatürk gelegen war, könnte sie heute vielleicht eine Position wie Japan haben. Doch die konservative Haltung der Türkei gegenüber ihren Problemen bringt sie in die Gefahr, noch hinter die Länder des erst gestern zerbrochenen sozialistischen Blocks zurückzufallen. Die Unfähigkeit zu einem 53 Eingabe an den EGMR positiven Umgang mit ihren Problemen ist nur ein anderer Ausdruck für selbstzugefügte Schmerzen, Verluste und Niederlagen. In der Meerenge der Geschichte, dem ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends, steht die Türkei auf einer Prüfungsstufe, wo sie niemandem so recht erklären kann, warum sie nur deshalb verlieren sollte, weil sie sich in ihre Fehler verliebt und ihren Ängsten hingegeben hat. Wir müssen einsehen, dass es kein Hindernis vor dem Erfolg gibt und entsprechend unseren Weg in Verbundenheit mit dem Geist der Zeit und deren Grundprinzipien fortsetzen. Die zu schreibende Geschichte selbst sollte den Zorn über zurückliegende Schmerzen und Verluste in Kraft verwandeln und mit dieser Kraft die Zukunft erobern, oder so sollte es zumindest sein. Die Geschichte ist reich an Beispielen, dass gerade in solchen Zeiten wirklicher Patriotismus und wahre Geschwisterlichkeit Menschen und Völker zu wahren Legenden beflügelt. Abschließend möchte ich unsere Entschlossenheit und unseren Glauben daran zum Ausdruck bringen, dass die wirklich verantwortungsvollen Kräfte in der Türkei und die wahren Freiheitskämpfer und -kämpferinnen des kurdischen Volkes gemeinsam in diesem Geiste und mit diesen Prinzipien den Erfolg der Demokratischen Republik sichern werden und das Verdikt der Geschichte in ihrem Sinne ausfallen wird. 54 Eingabe an den EGMR Die nationale Frage im Iran und die Demokratisch-Islamische Lösung Die multinationale Bevölkerungsstruktur des Iran hat seit Beginn der Geschichte eine provinzorientierte bzw. föderale Verwaltungsform herausgebildet. Das Land setzt sich zusammen aus den Heimatgebieten von insbesondere vier dort historisch verwurzelten ethnischen Stammesgruppen sowie einer Reihe von Gebieten, in denen Minderheiten leben. Die Provinz/der Bundesstaat Persien befindet sich im Süden und Südwesten des Iran. Hier weisen die Perser als größter Stamm über die Geschichte hinweg eine hohe Bevölkerungskonzentration auf. Hier lagen die Zentren ihrer Hochkultur. Im Nordosten liegt das historische Land der Parthen, der heutige Bundesstaat Khorasan mit seinen mannigfaltigen kulturellen Identitäten. Im Südosten liegt das Heimatgebiet der differenten, arischstämmigen Baluchis, das heutige Baluchistan. In einem Teil des Nordwestens liegt das historische Siedlungsgebiet eines Volkes mit wiederum andersartigen ethnischen Eigenschaften, das heute einen Dialekt spricht, das dem modernen Türkisch nahe kommt, Aserbeidschan. Der größere Teil des Nordwestens jedoch wird durch die Region eingenommen, aus der sich die erste medische Konföderation formte, Wiege der zarathustrischen Tradition10 und der Ahura Mazda-Religion (Mazdaismus)11, eine Region, in der die Kurden leben, ein Stamm, der den Persern am engsten verwandt war: das historische Land der Meder und der heutige offizielle Bundesstaat Kurdistan. Diese Region wird seit der Zeit der 55 Eingabe an den EGMR Großen Seldschuken unter dem Namen Kurdistan als politische und Verwaltungseinheit behandelt. Daneben bilden sowohl Khuzistan, in dem eine arabische Minderheit lebt, als auch eine Reihe anderer Gebiete, deren religiöse und kulturelle Eigenheiten sorgsam gehütet werden, je einen essentiellen Teil der kulturellen Geographie des Landes. In der historischen Tradition des Iran werden die Kulturen und ihre eigenen Gebiete respektiert. Verleugnung und Versuche, diese als etwas anderes auszuweisen, gewaltsame Assimilation und ähnliche Haltungen werden hingegen nicht sehr geschätzt. Diese respektvolle und realistische Haltung gegenüber den ethnischen und Stammesgruppen mit ihrer historischen und kulturellen Wirklichkeit hat über die Geschichte des Iran hinweg eine reiche Regierungstradition gezeitigt. Aus jedem Stamm und jeder Kultur konnten hohe Beamte und Regierungsdynastien hervorgehen. Extreme Eigentümlichkeit der Stämme oder Nationalismus werden im Allgemeinen gering geschätzt. Es besteht immer die Möglichkeit, gemäß den eigenen Fähigkeiten und der eigenen kulturellen Überlegenheit eine Rolle im Staatswesen zu spielen. Vom Persischen Reich bis zur heutigen Islamischen Republik Iran sind diese Eigenheiten mehr oder weniger bewahrt worden. Wie beim Sturz von korrumpierten Schahs wiederholt unter Beweis gestellt, wurden jene, die ihre Legitimität [ahl]12 verloren haben, durch Aufstände gestürzt, in denen die Bevölkerung eine tragende Rolle spielte. Dabei war es egal, aus welchem Herrscherhaus und von welcher Kultur sie stammten, auch wenn sie die stärksten Herrscher sein mochten. 56 Eingabe an den EGMR Mit seiner starken Verwurzelung in mazdaistischem Glauben und zarathustrischer Tradition war der Iran nicht nur das historische Zentrum der Herausbildung der Wahl zwischen Ost und West. Er spielte auch eine historische Rolle in der Aneignung und Transformation grundlegender Kulturen, Glaubensformen und ethischer Werte – ob östlichen oder westlichen Ursprungs. Mazdaismus und zarathustrische Tradition bilden eines der prägnantesten Beispiele hierfür, da sie gegenüber der sumerischen Mythologie dem menschlichen Willen bedeutend mehr Entscheidungsraum einräumten und Möglichkeit zur Entfaltung einer freien Ethik boten. Ähnlich wurden auch verschiedene Glaubensformen und Philosophien vom indischen Subkontinent transformiert. Andererseits spielte auch die schi´itische Tradition als eine der wichtigsten Transformationsbewegungen auf Grundlage der iranischen Kultur eine wichtige Rolle in der Religionsgeschichte des Islams13. So kann die Fähigkeit, die genannten und viele weitere religiöse, philosophische und stammeseigene Traditionen in ihrer eigenen Modalität nicht zu verleugnen oder auszulöschen, aber auch nicht zu belassen wie sie sind, sondern einer hoffnungsvollen Transformation zu unterziehen, als eine wichtige historische Fähigkeit des Iran und als Merkmal seiner hohen Kultur gewertet werden. Heute versucht man, einen entscheidenden Schritt in diese Richtung mit der Herausbildung eines demokratischen Islam zu machen. Der Versuch „demokratischer Islam“, auf den sich Staat und Gesellschaft des Iran eingelassen haben, verdient es, im Mittleren Osten und von allen islamischen Ländern sorgfältig ausgewertet zu werden. In der iranischen Gesell- 57 Eingabe an den EGMR schaft lassen sich häufig traditionelle demokratische Bewegungen ausmachen. Das ganze Mittelalter ist voll davon. Im Grunde genommen hat die Bevölkerung seit dem sumerischen Sklaventum14 immer eine Antwort auf repressive Systeme parat gehabt. Zarathustra, Manichäismus15, Mazdeken, Hurremiten16, Abu Muslim von Khorasan17, die Tradition der zwölf Imame18 und die Islamische Revolution als jüngster Vorstoß der Schi´a, sie alle bilden Glieder dieser Kette, die sich durch die Geschichte zieht. Aus diesem Grund kann ein Vorstoß zum „demokratischen Islam“ große Bedeutung haben. Der Islam hat sich im Allgemeinen seit dem Tod des Propheten Mohammed in einem absolutistischen Prozess fortbewegt. Das begrenzte Gespür für Demokratie der ersten vier Kalifen [rashidun, die Rechtschaffenen]19 ist mit der Herrschaft der Ummayyadischen Dynastie20 einem absolutistischen Sultanat gewichen. Die Sultane sollten vor niemand anderem verantwortlich sein als vor Gott. Diese Verantwortung vor Gott allein ist eine aufgeweichte Form des sumerischen Gottkönigtums und zieht ihre Kraft aus dessen Tradition. Aufgrund des an Autorität gewinnenden Gottesbegriffes sind die Sultane des Mittelalters sogar noch mächtiger und autoritärer als die Könige der Antike. Der Gottesbegriff der Antike ist noch schwach und vom Menschen nicht sehr weit entfernt. Die Gottheiten der Jungsteinzeit sind mit den Menschen befreundet und eng verbunden. Der Gott des Mittelalters mit seinen 99 phantastischen Prädikaten und seinem ausschließlich befehlenden Charakter aber ist im Grunde eine Widerspiegelung und Repräsentanz der entwickelteren, von intensiver Ver- 58 Eingabe an den EGMR änderung durchzogenen und Regeln und Autorität gegenüber bedürftigeren und anfälligeren feudalen Klassengesellschaft. Die Autorität des Sultans wird als irdischer Schatten Gottes gedeutet [Dhil-ullah], Absolutismus steckt im inneren Kern des Gottesbegriffes. Eine Analyse des Absolutismus kommt daher nicht ohne eine Analyse des Gottesbegriffes aus. Mithin bedeutet also eine Demokratisierung des Islam, ihn von einer Religion der feudalen Herrscherklasse in eine Religion des Volkes zu verwandeln. Dazu bedarf es einer wissenschaftlich soziologischen Analyse des Gottesbegriffes, der von seiner Besetzung als geistiges Symbol, hinter dem sich die feudale Autorität des Sultanats verschanzt, befreit werden und als ein dem Volk verständliches geistiges Symbol und philosophisches Verständnis erläutert werden muss. Eine Erörterung der historischen, gesellschaftlichen, philosophischen und politischen Bedeutung der Phänomene Religion und Gott wiederum setzt eine Revolution des Bewusstseins voraus. Doch ohne eine wissenschaftlich-philosophische Diskussion des Gottesbegriffes kann die Demokratisierung des Islams nicht weiter gedeihen als bis zu einem Lippenbekenntnis. Unter den iranischen Intellektuellen und demokratischen Islamisten finden derartige Diskussionen, wenn auch in begrenztem Umfang, statt. Doch die herrschende Mentalität, die seit den Sumerern die Religion in dogmatischer Weise als die Ordnung absoluter Götter auslegt und seither auch an der Macht ist, ist im Iran ebenso dominant und einflussreich wie auf der ganzen Welt und eben in den anderen Ländern des Mittleren Ostens. Der Unterschied des positivistischen Laizismus- 59 Eingabe an den EGMR verständnisses zur iranischen Theologie liegt einzig in seinem Atheismus, was ihn zu einer Art positivistischer Religion macht. Deshalb ist Kampf gegen die Religion auf Grundlage des bestehenden positivistischen Laizismus (Säkularismus) im Kern verkehrt und leistet der Demokratisierung der Gesellschaft keine großen Dienste. Eine theologisch begründete Staatsautorität kann nur überwunden und demokratisiert werden einerseits mit einer korrekten Analyse von Theologie und einer Entzifferung des herrschenden und ausbeuterischen Charakters dieser Autorität, andererseits durch eine Institutionalisierung jener Formen von geistiger und moralischer Autorität, die für das Volk und die Gesellschaft notwendig sind, und zwar notwendig für jede Gesellschaft seit Gründung von Gesellschaften überhaupt. Daher ist für die Diskussion über eine Demokratisierung des Islam – die auch für die Türkei an Aktualität gewonnen hat – eine umfassende theologisch-philosophische Debatte, eine neue Form von Mentalität auf wissenschaftlicher Basis, für das Volk und mit dem Volk, sowie die Institutionalisierung von Ethik erforderlich. Dies ist zweifelsohne ein äußerst tief greifendes Thema, das zu seiner Abhandlung einen politischen und moralischen Wandel voraussetzt. Sofern dieser nicht gelingt, kann man nicht über den Horizont einer religiösen Demagogie hinaus gelangen. Wenn der Iran diese bestehenden Diskussionen erweitert und entwickelt und somit zur Herausbildung einer freien und bewussten Wahl gegenüber der Religion und der Tradition einer eigenen Ethik im Volke beizutragen versteht, so kann der Vorstoß im Namen des demokratischen 60 Eingabe an den EGMR Islam einen ernsthaften, bedeutenden Wert tragen und eine wichtige Rolle in der Renaissance des Mittleren Ostens spielen. Doch es sieht so aus, als ob der traditionelle feudale Islam dem nur äußerst widerwillig stattgeben würde. Dennoch sind Versuche ernst zu nehmen, dieses Experiment genauestens auszuwerten und als ein Modell für demokratische Lösung in Betracht zu ziehen. Es steht außer Zweifel, dass die iranische Auslegung des Islam fortschrittlicher und volksnäher ist als die arabische. Zu fragen ist nur, inwieweit sie eine Antwort oder ein Beitrag zur zeitgenössischen Demokratie leisten kann. Ganz sicher ist es dazu aber nötig, sich auf einen Versuch einzulassen und damit der Bevölkerung konkrete Gewinne zu ermöglichen. Denn in diesem Rahmen kann die Lösung der Stammesund nationalen Fragen mit ihren historischen Wurzeln flexibler und einfacher ausfallen. Der Iran ist in dieser Hinsicht weder starr dogmatisch noch setzt er auf Verleugnung. Selbst die gegebene Situation stellt an sich schon eine wichtige Stufe auf dem Weg zur demokratischen Lösung dar. Nötig ist eine Synthese einer moderneren Interpretation iranischer Demokratie mit den konkreten Umständen des Landes. Die kurdische Frage kann in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle für eine zeitgenössische Interpretation und eine authentisch iranische Synthese spielen. Die kurdische Bewegung im Iran trug einschließlich der Versuche der KDP21 einen feudal-stammestümlichen Charakter, der ihr seit der Zeit der Meder aneignete. Das Siedeln an den Ausläufern des Zagrosgebirges hat die Kurden in ihrer Liebe zur Freiheit bestärkt, doch hat – wie schon in 61 Eingabe an den EGMR Bezug auf die anderen Teile Kurdistans festgestellt – auch hier die profitorientierte Politik des Imperialismus gegenüber den Kurden des Iran negative Auswirkungen gezeigt. In dieser Hinsicht sind die Bewegungen unter der Führung des Scheich Ubaidullah22 Ende des 19. und des Ismail Simko23 Anfang des 20. Jahrhunderts recht lehrreich. Das Experiment der Republik Mahabad unter Führung des Qadhi Mohammed24 ist ebenfalls diesen Machenschaften zum Opfer gefallen. Dadurch, dass die KDP (Iran) ihren primitiv-nationalistischen Charakter nicht überwinden konnte und sich die (oben beschriebene) iranische Tradition nicht zu eigen gemacht hatte, gleichzeitig die jüngsten Machenschaften des Westens nicht durchschauen konnte, verlor sie auch noch ihren letzten Führer Abdul-Rahman Ghassemlou25 durch einen gewaltsamen Tod. Primitiv-nationalistische oder gewisse linke Gruppierungen haben ihre Unfähigkeit, die kurdische Frage zu lösen, dann auch während der iranischen Islamischen Revolution zur Schau gestellt. Dabei waren doch eigentlich die Bedingungen recht günstig, weitere Terraingewinne zu erzielen. Einem Lösungsansatz, der den konkreten Umständen des Iran gerecht geworden wäre und die Realität zeitgenössischer Demokratie ernst genommen hätte, wären durchaus Erfolgschancen beschieden gewesen. Wenn auch verspätet, kann die Chance einer derartigen Lösung der kurdischen Frage noch im Vorstoß des demokratischen Islam verwirklicht werden. Genauer gesagt, kann durch eine derartige Selbsterneuerung (der Bewegung) mit einer demokratischen Lösung sowohl in der kurdischen Frage als auch in den nationalen Fragen im Iran im Allgemeinen Bahn- 62 Eingabe an den EGMR brechendes bewirkt werden. Ein Demokratischer Föderaler Islamischer Iran kann als Perspektive, als Slogan an Bedeutung gewinnen. Ein wichtiger Schritt hin zu einer Lösung wäre es, den kulturellen, rechtlichen und verwaltungspolitischen Eigenheiten des Iran Aufmerksamkeit zu schenken und den Diskurs darüber, wie die Normen zeitgenössischer Demokratie mit diesen realen Eigenheiten verquickt werden und eine Synthese hergestellt werden können, mit Sorgfalt und Mühe voranzutreiben. Kulturelle Ausdrucksfreiheit, muttersprachlicher Unterricht und Pressefreiheit [in der kurdischen Sprache] sind, wenn auch eingeschränkt, vorhanden. Auch die Landesregierung Kurdistans ist eine Tatsache. Und weitere Fortschritte können erzielt werden, indem diese Begriffe und Institutionen mit einem Inhalt gefüllt werden, der der Bevölkerung selbst eigen ist, von ihr kommt, und dadurch einen fortschrittlichen Charakter verliehen bekommen. Änderungen in Verfassung und Gesetzestexten, die solch einen Prozess reflektieren, können auf die Tagesordnung gesetzt werden. Das ganze Problem hängt davon ab, ob die kurdische Befreiungsbewegung im Iran es versteht, die Eigenheiten des Irans richtig zu lesen, die Kriterien zeitgenössischer Demokratie unumstößlich zu verinnerlichen und die bestehenden positiven Seiten zum Ausgangspunkt zu nehmen, um in bescheideneren Schritten vorwärts zu schreiten. Die Fähigkeit, sich primitiv-nationalistischen, engstirnig autonomistischen Ansätzen und internationalen Machenschaften zu verweigern, wird auch mehr Verständnis auf Seiten der iranischen Regierung hervorrufen. Den bestehenden Dialog zu verstärken, die enge kulturelle Verwandtschaft 63 Eingabe an den EGMR der Kurden [mit den anderen] spürbar zu machen und die aktuelle Bedeutung der traditionellen Geschwisterlichkeit [der Völker dort] überzeugend wiederzugeben, wird viel zu einer Lösung beitragen. An die Stelle der Zeit der primitiv-nationalistischen Autonomiebewegungen ist eine neue Zeit getreten, in der es um eine Demokratisierung des Islam und seine Synthese mit zeitgemäßer Demokratie geht, und diese hat alle Chancen, erfolgreich zu werden. Die Befreiungsbewegung des iranischen Kurdistan kann in dem Masse so einen Prozess initiieren, in dem sie sich in diesem Sinne erneuert, sich als ansprechende und einflussreiche Kraft organisiert und positioniert. Dabei kann sie Lehren aus den Erfahrungen der kurdischen Bewegungen in den anderen Teilen ziehen, insbesondere aus der Erfahrung der PKK mit ihrer derzeitigen Position der Selbstverteidigung. So kann sie zu einer ambitionierten Vertreterin der neuen Phase werden. Sie kann den Vorstoß des demokratischen Islam im Iran überhaupt durch die Antworten und Beiträge, die sie in ihrer konkreten Situation anbietet, verstärkend unterstützen. Da der vorgefundene Boden voller Hindernisse und Fallen ist, dürfen in der Arbeitsweise, der organisatorischen Linie und der Praxis äußerste Sensibilität und Realismus auf keinen Fall vernachlässigt werden. Ansonsten drohen jederzeit Schläge durch Verschwörungen, wie dies in der Geschichte nur allzu häufig geschah. Insbesondere die Jugend- und Frauenbewegung richtig anzusprechen und zu formen wird wichtige Möglichkeiten für eine erfolgreiche Arbeit mit sich bringen. Eine korrekte ideologische und praktische Formierung der Frauenbewegung und der 64 Eingabe an den EGMR Jugendbewegung ist sehr bedeutsam. Daneben ist es auch wichtig, ein ausbalanciertes Verhältnis zu den Bewegungen der anderen Teile [Kurdistans] zu finden, das gegenseitiger Weiterentwicklung Raum lässt, so dass man einerseits nicht an sich selbst erstickt, andererseits aber auch nicht zur reinen Exilbewegung wird. Im Grunde genommen steht hier eine islamische Version der demokratischen Lösung nach dem Modell der Türkei aus. Wenn daher der Vergleich zwischen beiden Lösungsansätzen sorgfältig gemacht wird, kann in der Lösung der kurdischen nationalen Frage eine überlegene Synthese der islamischen und der zeitgemäßen westlichen Auffassung [von Staatswesen und Gesellschaft] geschaffen werden. Von solch einer starken Hoffnung beseelt und von stabilen praktischen Schritten getragen, mit modernem zarathustrischem und abrahamitischem26 Glauben und Ethik kann die Befreiungsbewegung der modernen medischen Kawas27 der demokratischen Zivilisation jenes innere Eigene verleihen, nach der sie sich sehnt. So kann sie einen kraftvollen Beitrag zur Synthese von Gerechtigkeit, Moral und Freiheit für die Menschheit leisten. 65 Eingabe an den EGMR Die Kurdenfrage bei den Arabern und die irakische Lösung Weitere Nachbarn, mit denen die Kurden aufs engste zusammenleben, sind die Araber. Die Araber sind jene semitischen Stämme, die zuletzt aus der arabischen Wüste nach Norden vorgedrungen sind. Die erste Welle ereignete sich im 6. Jahrtausend vor Christus, als semitische Stämme nach Ägypten und ins untere Mesopotamien kamen, sich mit den dort entstehenden neuen Kulturen vermischten und einen Beitrag zur Entstehung der ägyptischen und sumerischen Kulturen leisteten. Die zweite semitische Einwanderungswelle entstand im 3. Jahrtausend vor Christus. Sie bestand aus billigen Arbeitskräften für die ägyptische und sumerische Zivilisation. Aus ihr gingen im 2. Jahrtausend v. Chr. auch mächtige Stammesführer hervor, die Einfluss auf Dynastiewechsel in der sumerischen Zivilisation hatten und seit jener Zeit auch Stadtregierungen stellten. Diese als Ammoriter bezeichneten Stämme errichteten zunächst das babylonische, danach das assyrische Reich. Getrieben vom Bedarf nach Erzen und Holz stießen diese semitischen Stämme und Dynastien bei ihrer Ausbreitung nach Norden auf die Hurriter, von denen die Kurden abstammen. Soweit die Geschichtsforschung weiß, bestehen spätestens seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. kontinuierliche Beziehungen und Konflikte zwischen Stämmen dieser beiden Herkünfte. Ihre Nachkommen leben bis heute eng miteinander im mittleren Mesopotamien, wie z.B. in Harran28. Aus der Vermischung dieser Stämme gingen auch die Stammesgruppen hervor, die mit dem Patriarchen Abraham als 66 Eingabe an den EGMR Hebräer bezeichnet werden, und bei denen Verbindungen sowohl zu semitischen als auch zu arischen Wurzeln29 aufzuweisen sind. Sie stellen die erste kulturelle Synthese dar. Die abrahamitische Tradition30 hat diese Synthese entwickelt und stellt den bedeutenden Aufbruch in die monotheistischen Religionen dar. Die sumerische Zivilisation befand sich insbesondere von Stämmen aus diesen beiden Wurzeln umgeben. Durch Bündnisse mit beiden Gruppen konnten die Sumerer ihre Herrschaft über 2000 Jahre fortsetzen. Nach Ende des 2. Jahrtausends v. u. Z. zerfällt Sumer angesichts des Drucks dieser Stämme und Dynastien. Ihre Konflikte verschärfen sich zur babylonischen und assyrischen Zeit. Die Hurriter, Guti und Kassiten gehen auf dieselben kulturellen Wurzeln zurück. Ihre wechselseitigen Beziehungen und Auseinandersetzungen sind auf babylonischen und assyrischen Tafeln ausgiebig dokumentiert. Diese Auseinandersetzungen erreichen mit den Mitannern, Urartern und Medern einen Höhepunkt. Durch die Zerstörung der assyrischen Hauptstadt 612 v.Chr. beenden die Meder eine Epoche, und es beginnt das Zeitalter der medisch-persischen Herrschaft31. Die dritte große Welle der Ausdehnung beginnt, als der Prophet Mohammed die letzten Wüstenstämme unter der Ideologie des Islams vereint. Mit der großen islamischen Zivilisation steigen die Araber auf, obwohl sie in vor-islamischen Zeiten die rückständigsten Stämme des Mittleren Ostens waren. In dieser Epoche vermengen sich die Araber und Kurden noch einmal verstärkt. Die aufs innigste miteinander verbundenen Bevölkerungsgruppen in dieser Hinsicht sind aber wohl die Assyrer und die Kurden, deren 67 Eingabe an den EGMR Nachbarschaft wahrscheinlich historisch am weitesten zurück reicht. Die Assyrer stammen von den prä-arabischen, ammoritischen Stämmen ab, ihre Sprache ist vom Arabischen verschieden, ihre Kultur weiter entwickelt. Die arabisch-kurdischen Beziehungen wachsen insbesondere in der ummayyadischen und abbassidischen32 Periode. Mit der Schleifung des Sassanidenreiches 640 n.Chr.33 wird die arabisch-islamische Zivilisation zum bestimmenden Einfluss. Die kurdische Oberschicht gerät in großem Maße unter den Einfluss der arabischen Sprache und Kultur. Sie geben sich sogar als Araber aus, behaupten, sie stammten vom Propheten ab, wenn sie sich dadurch Vorteile versprechen. Die Unterschicht bleibt kurdisch, die Oberschicht wird arabisch. Wenngleich eine gemeinsame ethnische Abstammung vorhanden ist, wird diese Aufteilung an Verbreitung gewinnen. Die Bewegungen der kurdischen Scheichs, Seyyids und Mollahs34, betreiben im Wesentlichen die Ausbreitung und Propaganda der arabischen Sprache und Kultur, die kurdische Sprache und Kultur werden verachtet. In der Zeit der osmanischen Herrschaft büßt der arabische Einfluss seine frühere Dynamik ein. Beziehungen mit den Türken bieten den Kurden bessere Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer eigenen Sprache und Kultur als jene mit den Arabern. Nicht nur die Dürftigkeit des Türkischen, sondern vor allem das Gleichgewicht der Beziehungen sind hierbei ausschlaggebend. Eine Wende in den kurdisch-arabischen Beziehungen tritt ein, als sich die Engländer im 19. Jahrhundert zur Kontrolle des Handelsweges nach Indien und der mittelöstlichen 68 Eingabe an den EGMR Erdölvorkommen im Irak niederlassen. Die Briten spielen beide Seiten gegeneinander aus und binden sie jeweils mit Hilfe der „divide et impera“- (teile und herrsche-)Taktik an sich. Sie versuchten, ihre eigene Vorherrschaft dadurch zu konsolidieren, dass sie mal die eine, mal die andere Seite unterstützen. Die Hegemonie der Araber über die Kurden im Irak ist ein Ergebnis der nach Ende des ersten Weltkrieges im Irak etablierten englischen Regierung. So, wie in Palästina den jüdischen Einwanderern eine hegemoniale Rolle zugemessen wird, erhalten die feudalen arabischen Scheichs und Stammesfürsten eine Vormachtstellung über die Kurden, Assyrer und Turkmenen im Irak. In diese Zeit fällt die Installierung einer Monarchie, die eine neue Phase des islamischen Sultanats einleiten soll35. Ihre Ablehnung dieser Situation drückten die Kurden seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch Aufstände aus. Die Briten konnten diese Aufstände eindämmen, indem sie teils die Osmanen, teils die iranischen Schahs benutzten. Insbesondere die weitgediehene Bewegung unter Führung des Mahmut Barzani in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts sollte in dieser Dreier-Zange zum Scheitern gebracht werden. Nach dem zweiten Weltkrieg beginnt dann die Phase der primitiv-nationalistischen Organisierung in der KDP. Da diese Organisation auf eine Fusion der feudalen Stammesfürsten mit kleinbürgerlichen städtischen Intellektuellen abzielte, konnte sie es nie über eine Rolle als Marionette der imperialistischen und regionalen Mächte hinaus bringen. Durch die Unterstützung, die der kleinbürgerliche Radikalismus durch die Sowjetunion erfährt, kann die irakische 69 Eingabe an den EGMR Monarchie gestürzt werden. Die neue Zeit ist die des Aufstiegs des arabischen Nationalismus. Da die Sowjets die arabischen Nationalisten bevorzugen, kann sich die KDP unter Führung Barzanis nicht vor einer Niederlage retten. Es kommt zur Spaltung im Lager des bürgerlichen Nationalismus, 1975 entsteht die PUK unter Talabani. Mit dem Verlust ihrer Einheit wird die kurdische Bewegung im Irak noch mehr zum Werkzeug anderer, wobei jetzt insbesondere der Einfluss Israels und der USA wächst. Die Fixiertheit auf engstirnige Interessen wird zu einer Krankheit, die die kurdische Bewegung zernagt. Die folgende Phase ist degenerierter und kollaborativer als selbst die ehemaligen Stammesfehden. So versagt die Bewegung auch noch unter den für sie günstigen Bedingungen zu Zeiten des iranischirakischen Krieges und der Golfkriege ab den 80er Jahren. Anfang der 90er Jahre wird unter der Schutzherrschaft der USA und enger Unterstützung der Türkei eine föderale Regierung eingerichtet. Die traditionelle geographische Aufteilung zwischen den Gebieten Behdinan und Soran führt zu zwei getrennten Regierungen. In dieser Zeit können sie erhebliche politische, militärische, diplomatische und materielle Gewinne insbesondere durch kluges Manövrieren und Intrigieren gegenüber der PKK verbuchen. Zur Befriedigung derartiger Interessen spielen sie die Hauptrolle bei der Bloßstellung und Isolierung der PKK. Dabei ist man allerdings von einer Lösung der kurdischen Frage meilenweit entfernt, obgleich die Bedingungen dazu äußerst günstig gewesen wären. Die kurdischen Regierungen stecken bis zum Hals in persönlichen Interessen und Dynastiekämpfen, es fehlt ihnen an innerer demokratischer 70 Eingabe an den EGMR Funktion. Nie kommt es zur Bildung einer gemeinsamen kurdischen Föderalregierung36. Wie ein Opfertier müssen sie [KDP und PUK; A.d.Ü.] in willigem Warten für die gegen Saddam gerichtete Politik der USA und Britanniens bereitstehen. Die Türkei ihrerseits ist bemüht, die Überwachung und Kontrolle mit Hilfe der Hammer Force zu straffen, um zu verhindern, dass die PKK in diesem Gebiet an Einfluss gewinnt. Dennoch hat sich die PKK in den bergigen Gebieten positioniert und fährt fort, ein Einflussfaktor zu sein. Trotz der aktiven Unterstützung seitens KDP als auch PUK seit den 90er Jahren und mit Einschränkung auch schon seit 1986 war es der Türkei bisher nicht möglich, den Einfluss der PKK zu brechen. Offensichtlich übt auch der Iran vermittels eines Dialoges mit allen Beteiligten weiterhin einen Einfluss aus, auf den er auch nicht so leicht verzichten wird. In seiner jetzigen Lage wird Südkurdistan langsam aber sicher zu einem zweiten Libanon, die Auseinandersetzungen dort erinnern an den israelisch-palästinensischen Konflikt. In vielerlei Hinsicht sind Wege blockiert. Die Verworrenheit der internationalen Kräfte mit regionalen und lokalen Interessen erzeugt eine Situation, die an Komplikation den israelisch-palästinensischen Konflikt übersteigt. Weder in Bezug auf den Irak im Allgemeinen noch in Bezug auf eine Lösung für den Status der Kurden hat sich bisher etwas konkretisiert. Während die USA und Britannien versuchen, Saddam zu stürzen, steht ein gewichtiger Teil der Welt nicht hinter ihnen. Das Embargo der Vereinten Nationen hat seine Funktion verloren. Damit bleibt die konfuse Situation weiter bestehen. 71 Eingabe an den EGMR Zweifelsohne wird sich eine Lösung für die Probleme des Irak an zwei Fronten entwickeln. Deren erste ist die Plattform der Vereinten Nationen. Die USA werden auch weiterhin unter Benutzung der UN das Regime bedrängen und im Inneren die Kurden und den so genannten Irakischen Nationalkongress dafür instrumentalisieren. Hier könnte ein zweites Yugoslavien entstehen. Die neue Bush-Administration hat sich auf diese Politik eingeschworen. Auch Israel übt seit langem Einfluss aus. Die Türkei ergeht sich in langfristigen Kalkülen für alle Eventualitäten, in die sie alle Beteiligten einzubinden versucht. Die Bewegung der Turkmenen versucht sie zu einem Interventionsinstrument aufzubauen. Der Iran kann seinen Einfluss sowohl über die irakischen Schiiten als auch über Kollaborateure in der kurdischen Bewegung unvermindert fortsetzen. Europa, Russland, China und die übrigen arabischen Länder sind jeweils in unterschiedlichem Maße in die Situation involviert. Alle sind sich darüber einig, dass eine Lösung im Rahmen der Einheit des Iraks gefunden werden muss. Doch indem die USA Saddam entfernen wollen, verhindern sie eine solche Lösung oder auch nur eine Normalisierung der Situation. Vielmehr wird jede Perspektive weit hinter den Horizont verschoben. Die zweite Front wäre die eines demokratischen Lösungsweges, welchen die Kräfte im Lande unter sich ausmachen müssten. Dadurch aber, dass alle diese Kräfte, allen voran das Regime, weit von einer demokratischen Struktur entfernt sind, steht es sehr ungünstig um einen demokratischen Irak, der eigentlich der beste Lösungsweg wäre. Ein sich demokratisierender Irak würde einen Wandel darstel- 72 Eingabe an den EGMR len, dessen historische und regionale Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Es wäre ein gewaltiger Schritt in Richtung auf die Demokratisierung des Mittleren Ostens, in Richtung einer Lösung aller nationaler, ethnischer, religiöser und kultureller Fragen mit friedlich-demokratischen Mitteln. Eigentlich müssten die Kurden bei einer solchen Lösung die Vorreiterrolle spielen. Sie könnten ihre nicht geringzuschätzenden föderalen Verwaltungen zu einer Demokratischen Föderation Kurdistans vereinigen. In einer demokratischen Föderation mit dem irakischen Regime oder, falls dies zu schwierig erscheint, mit konstitutionellen Garantien, könnten sie sich auf eine echte demokratischrepublikanische Regierungsform einigen. Eine Lösung auf Grundlage der Anerkennung aller sprachlicher und kultureller Gruppen und der Garantie von Grundrechten und Freiheiten in der Verfassung ist eine wichtige Möglichkeit. Ein demokratischer Irak, unter den Bedingungen des Irak verfassungsrechtlich abgesichert, bedeutete einen gewaltigen Schritt aus dem Knäuel der Probleme heraus. Bei einem solchen Schritt fällt den Kurden eine wichtige Rolle zu. Die halbfeudale, halbbürgerliche Führung scheut sich aufgrund ihrer Klasseninteressen vor Veränderungen. Egoistisch versteift sie sich darauf, die Frage im Rahmen ihrer eigenen Klasseninteressen zu lösen und die Interessen der Bevölkerung dabei außen vor zu lassen. Ihr fehlt der Geist für demokratische Kompromisse. Was sie will, ist ein Kompromiss zwischen traditionellem kurdischem Autonomiestreben und einer autoritären Republik Irak, ohne den Charakter des Regimes anzutasten und ohne in Kurdistan demokratische Prozesse zuzulassen. Sie sucht also 73 Eingabe an den EGMR nach einer Lösung ohne Demokratie, und darin liegt der Hauptgrund für ihr Zerwürfnis mit der PKK in ganz Kurdistan. Sie denkt, dass demokratische Erneuerungen ihr eigenes Ende einleiten würden. Daher ist sie auch bemüht, überall Anti-PKK-Fronten auf die Beine zu stellen, um eben einen solchen Prozess zu verhindern. Weder versucht sie selbst, die Frage zu lösen, noch will sie, dass Kräfte aus dem Volk die Initiative bei der Lösung übernehmen. Ihre konkrete Position beschränkt sich darauf, ihre Interessen so weit wie möglich abzusichern, auch wenn sie das nicht sehr weit bringt. Ganz zu schweigen von einer eigenen Suche nach neuen Entwicklungen und Prozessen, sieht sie es als ihre grundlegende Pflicht an, eventuelle derartige Entwicklungen zu verhindern. Seit über 50 Jahren hat sie sich darin verbohrt, die Problematik an sich zu ketten. Solange sie nur ihre eigenen Interessen schützen kann, ist diese Führung für alles offen, sogar für Verrat an der eigenen Sache. Doch das Leben wird nicht vor solchen konservativen und reaktionären Haltungen Halt machen. Die Krise, die sich ereignet [Anm.: Dieser Text wurde vor dem 11. September 2001 verfasst!], wird auch im irakischen Kurdistan ebenso wie im Irak überhaupt immer wieder neue Lösungsansätze aktualisieren. Ein internationales Problem kann nicht einfach fortbestehen, ohne eine Lösung hervorzubringen. Mögliche Lösungschancen wird es oft geben. Deshalb ist es wichtig, für mögliche Entwicklungen mehrere Alternativen bereitzuhalten und auf alles vorbereitet zu sein. 74 Eingabe an den EGMR Aus diesen Gründen wird die PKK stärker als bisher eine Katalysatorenfunktion einnehmen. Seit langem schon wird diskutiert, die PKK als Partei Südkurdistans zu konkretisieren. Mit Tausenden von aktiven Mitgliedern und Gefallenen aus Südkurdistan ist die PKK sowieso schon zu einer Partei des dortigen Volkes geworden. Sie als fremde Kraft von außen darzustellen, ist Ausdruck der Angst, mit der die Kollaborateure diese Propaganda betreiben. Die PKK muss sich selbst als authentische reale Kraft in dieser Region sehen, wie die anderen Parteien es auch sind. Sie muss sich politisch, militärisch, sozial und kulturell positionieren und eine vielseitige eigene Praxis entwickeln. Dabei muss sie auf einer Demokratischen Kurdischen Föderationsregierung bestehen. Falls KDP und PUK sich beide darauf einlassen, so ist dies die Option. Wenn eine Partei die Zusammenarbeit ablehnt, muss man mit der anderen arbeiten. Wenn auch das nicht möglich ist, muss die PKK mit eigener Anstrengung in allen ihren Einflussbereichen die Entstehung einer demokratischen Formation vorantreiben. Während sie ihre Rolle bei der Bildung einer allgemeinen demokratischen Front mit allen ethnischen, religiösen und kulturellen Gruppen im Irak überhaupt spielt, kann und darf sie die Forderung nach einer demokratischen Föderationsregierung der Kurden untereinander nicht vergessen. Für deren stetiges, wenn auch vielleicht zähes Wachstum in die Tiefe und in die Breite hat sie Sorge zu tragen. Allen Gruppen, Parteien, Stämmen und Fronten, einschließlich dem Regime selber, muss die PKK nahe legen, dass eine Neustrukturierung des Iraks zu einer Demokratischen Republik Irak und die Einbindung eines demokratischen kurdi- 75 Eingabe an den EGMR schen Föderationsgebildes darin die bestmögliche Lösung ist. Sie muss auf einer demokratischen Lösung bestehen. Sämtliche inneren und äußeren Bedingungen machen eine demokratische Transformation des Irak unausweichlich notwendig, andernfalls droht eine Entwicklung nach dem Muster Yugoslaviens. Dagegen muss man sehen, dass die gegebene Situation durch permanenten Wandel überwunden werden muss und entsprechend vielseitige Vorkehrungen für eine Lösung getroffen werden sollten. Militärische und politische Schritte müssen, den täglichen Lagebewertungen entsprechend, in alle Richtungen tief greifend und umsichtig vorgenommen werden. Alternative Maßnahmen für den schlimmsten Fall, dass nämlich entweder das aktuelle Regime oder ein darauf folgendes neues Regime sich mit den Kollaborateuren vereint und zum Angriff übergeht, müssen unbedingt getroffen werden. Gleichzeitig müssen die Arbeitsweise, Lebensweise und Kampfweise der neuen Phase so effektiv wie nur möglich auf allen Aufgabenfeldern umgesetzt werden. Das gilt besonders für die Ausbildung, die mit hohem Tempo und überlegener Disziplin durchgeführt und verbreitert werden muss. Quantitatives und qualitatives Wachstum müssen die Abwehr jedes Angriffs und effektive Gegenoffensiven ermöglichen. Unsere Verpflichtungen gegenüber dem geschundenen Volk, den Freunden in den Gefängnissen und den vielen Verwundeten und Gefallenen müssen durch verantwortliches und erfolgreiches Handeln erfüllt werden. Gerade weil es sich um den Bereich handelt, in dem wohl das meiste Blut geflossen und die tiefsten Schmerzen erlebt wurden, müssen die Hoffnungen auf eine Lösung eine 76 Eingabe an den EGMR erfolgreiche Antwort erhalten, ohne dass irgendwelche Ausflüchte ins Feld geführt werden. Wenn die Bewegung des irakischen Kurdistan, und dazu zählt auch die PKK, ihre historische Mission im gesamten Kurdistan und im Mittleren Osten erfüllt, wenn sie sowohl den primitiven Nationalismus als auch den herrschenden bürgerlichen Nationalismus überwindet und sich über die Widrigkeiten der reaktionären Familien- und Stammesstruktur hinwegsetzt, kann sie eine ähnliche Rolle in der Morgendämmerung der demokratischen Zivilisation im Mittleren Osten spielen, wie sie es schon in der Morgendämmerung der Zivilisation überhaupt getan hat. Ihr höchster Wert wäre dann die Ehre, die treibende Kraft im Aufbruch einer neuen Phase, eines neuen Zeitalters zu sein. Undenkbar, dass jene, die mit diesem Geschichtsverständnis und dieser Ehre leben, nicht in all ihren Aufgaben erfolgreich sein können. So eine bedeutsame historische Entwicklung zu begrüßen und ihren Sieg zu erwarten, ist unser einziger Lebensgrund. 77 Eingabe an den EGMR Identitätsbildung der syrischen Kurden und die demokratisch-partizipatorische Lösung Ebenso wie Teile der Araber oder Assyrer unter den Kurden leben, so leben auch Teile der Kurden unter den Arabern. Hier sind vor allem die syrischen Kurden zu nennen, die geographisch und kulturell einen solchen Teil ausmachen. In jeder Phase der Geschichte gab es solche Vermischungen, und die ganze Welt, insbesondere Asien und Europa, haben dieses Phänomen und auch daraus resultierende Probleme genügend kennen gelernt. Nationalistische Diskurse haben die Lage solcher Minderheiten zu Begründungen für Gewalthandlungen gemacht, mit denen viele Kriege entfacht wurden. Mit der Entstehung des demokratischen Systems jedoch ist die Anerkennung solcher Gruppen als Minderheiten mit kulturellen Rechten sowie der Gewährleistung ihrer demokratischen Partizipation als grundlegende Menschenrechte und konstitutionelle Garantien verbunden. Die meisten der syrischen Kurden sind im Laufe der Geschichte infolge von Aufständen, Stammesfehden und Ungerechtigkeiten aus verschiedensten Gebieten hierher gewandert. Die Geschichtswissenschaft zeigt, dass es seit dem Auszug des Patriarchen Abraham aus Urfa [Harran]37 bis zum zeitgeschichtlichen Aufbruch der PKK38 immer wieder Fluchtbewegungen in die östliche Mittelmeergegend, hier insbesondere nach Syrien, gegeben hat. Andererseits gibt es die Migration von Arabern und geschichtlich eher von Assyrern nach Kurdistan und ins innere Anatolien, die meist mit ähnlichen Ursachen, klimatischen oder wirt- 78 Eingabe an den EGMR schaftlichen Gründen verbunden ist. Es findet also im Laufe der Geschichte immer wieder Migration, Besiedlung und somit gegenseitiger Kultur- und Handelsaustausch statt. Diese Faktoren tragen wesentlich zu interkulturellen Transformationsprozessen bei. Ab einem späteren Zeitpunkt sind auch Armenier und Turkmenen in solche Prozesse eingebunden, die eine reiche Vielfalt an Sprachen, Religionen und Kulturen hervorbringen. Syrien ist im Wesentlichen ein Land, das auf diesem Reichtum aufgebaut und geformt wurde. Die genannten historischen Faktoren bildeten einen Nährboden für demokratische Kompromisse und Toleranz. Alle Gruppen in Syrien, einschließlich der Kurden, werden im Rahmen dieser historischen Wirklichkeit ihre grundlegenden Probleme durch Verwirklichung der Rechte auf Pflege und Entwicklung ihrer Kultur, muttersprachlichen Unterricht, Pressefreiheit und Partizipation am politischen Leben als gleiche und freie Bürger und Bürgerinnen lösen können. Wenngleich einige dieser Freiheiten bereits gewährleistet sind, harren doch die meisten Probleme noch einer Lösung, insbesondere solche in Bezug auf Staatsbürgerschaft, muttersprachlichen Unterricht, Pressefreiheit und politische Rechte. Auch wenn keine starken Behinderungen vorhanden sind, erfordert der garantierte Gebrauch dieser Rechte doch einen rechtlichen Status. Ein Erfolg im rechtlichen Kampf wäre sowohl an sich ein bedeutender demokratischer Gewinn, als auch ein kräftigender Beitrag zur allgemeinen Demokratisierung Syriens. Die PKK hat in diesem Bereich eine starke Basis von Sympathisanten. Deren erste Pflicht ist es, mit einem Programm im Rahmen der 79 Eingabe an den EGMR rechtlichen Möglichkeiten demokratisch-legale Organisierung und Kampf mit allgemeinen patriotischen und auf Demokratisierung zielenden Bestrebungen in Syrien zu vereinigen. Gleichzeitig muss sie ihre solidarische Verbundenheit mit dem Befreiungskampf in ihrer ursprünglichen Heimat zeigen und diesen unterstützen. Die aus verschiedenen Gründen über die gesamte Welt verteilten Kurden haben bestimmte Pflichten und Verantwortlichkeiten, die ihnen allen gemein sind. Besonders die Kurden in den Metropolen und anderen Einwanderungsgebieten der Länder, in denen sie leben, haben wie die Kurden in aller Welt das Recht und die Verpflichtung, ihre eigene kulturelle Identität zu schützen, Staatsbürgerschaft zu erlangen, muttersprachlichen Unterricht zu genießen, Pressefreiheit wahrzunehmen und sich am politischen Leben auf Grundlage menschenrechtlicher und demokratischer Kriterien aktiv zu beteiligen. Diese Rechte und Pflichten müssen sie erfolgreich erfüllen, und dazu gehört auch die eigene Weiterbildung und Entwicklung in sozialer, sportlicher, akademischer, technischer u. Ä. Hinsicht und das aktive Einbringen, die Pflege und Entwicklung der eigenen kulturellen Identität im gesellschaftlichen Leben. Es geht darum, mit Würde den Kampf und das Leben auf freier und gleicher Basis mit den anderen Völkern zu teilen. Andererseits gehören zu diesen Rechten und Pflichten auch die Unterstützung, Solidarität und Beteiligung am Freiheitskampf im eigentlichen kurdischen Heimatland. Der letzte Punkt ist das Problem der Einheit unter den Kurden. Früher wurde oft der Leitspruch von einem unabhängigen, vereinten und sozialistischen Kurdistan gebraucht. 80 Eingabe an den EGMR Dieser Leitspruch zieht seinen Gehalt aus dem Nationalismus und ist weder aus ideologischer noch aus politischpraktischer Sicht realistisch. Auch wenn er als Utopie faszinierend klingen mag, ist doch der korrektere patriotische und internationalistische Leitspruch auf dieser Ebene realistischer: Für jedes Land und jeden Staat, unter dessen Dächern Kurden leben, gilt die Losung „Demokratisches Land, freie Heimat“. Für den gesamten Mittleren Osten gilt: „Demokratischer Mittlerer Osten, vereinte Heimat“. Diese beiden grundsätzlichen Leitsprüche sind für alle Völker des Mittleren Ostens gültig. Die Araber sind auf über 20 Staaten aufgeteilt. Auch die Turkvölker sind stark zerstreut, ähnlich ist die Situation im Iran. Die Zersplitterung der Kurden ist von einer anderen Dimension und Eigenart. Wenn jeder Teil eines Volkes nur für sich einen Kampf um eine vereinte Nation und ein vereintes Vaterland führen würde, wäre der Mittlere Osten bald schon ein einziges Schlachtfeld. Man würde sich weiter in geographische, soziologische und religiöse Unterschiedlichkeiten spalten und ein unüberwindliches Chaos anrichten. Überall würden Konflikte ausbrechen wie zwischen Israel und Palästina. Die Forderung nach einer vereinten Nation bzw. Vaterland stammt ursprünglich aus dem Nationalismus und hat viel zu den Kriegen der beiden blutigsten Jahrhunderte, des 19. und 20. Jahrhunderts, beigetragen. Im Mittleren Osten Auseinandersetzungen nationalistisch anzufachen heißt, auch das 21. Jahrhundert noch zu einem Jahrhundert der Kriege, Massaker und Völkermorde zu machen, ohne Anfang und ohne Ende. Daher verträgt sich dieser 81 Eingabe an den EGMR Anspruch weder mit Patriotismus, noch mit Internationalismus, noch mit Humanismus. Worauf es ankommt, ist, die gegebenen Grenzziehungen des Mittleren Ostens als Fakten anzuerkennen und einen Kampf um Demokratie und Grundrechte innerhalb all dieser Länder und Staaten zu führen. Es geht darum, Gleichheit und Rechte sowie Einheit in Freiheit zu verwirklichen. Jedes Land, das sich demokratisiert, ist ein Schritt hin zur Verwirklichung des Demokratischen Mittleren Ostens. Ein Demokratischer Mittlerer Osten kann gleichzeitig auch mit einer Institution in der Art der Europäischen Union der Sehnsucht aller Völker nach einer Einheit in Freiheit eine Perspektive zeigen. Die Entwicklungen in den arabischen und den Turkstaaten verweisen auf eine solche Tendenz. Enver Pashas Pantürkismus und der Panarabismus von Abd el Jamal Nasser haben bewiesen, dass sie abenteuerliche und realitätsferne Ansätze waren. Die einzigartige Rolle, die die Kurden in dieser Geschichte übernehmen können, ist, in dem jeweiligen Land und Staat, in dem sie leben, durch eine demokratische Lösung zur demokratischen Zivilisation beitragen. Diese Rolle entspricht auch dem Weg hin zu einer Demokratischen Zivilisation des Mittleren Ostens [bzw. Zivilisation des Demokratischen Mittleren Ostens], der seiner historischen Tradition, seinen geographischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten am meisten angemessen, realistisch und klar ist. Als Resümee lässt sich festhalten, dass die kurdische Frage längst keine mehr ist, die mit den Ansätzen und Methoden des Nationalismus gelöst werden könnte. Der 82 Eingabe an den EGMR Nationalismus ist ein durch die Französische Revolution emporgestiegener ideologischer Ansatz der bürgerlichen Klasse, mit dem diese dem Phänomen der Nation und den damit verbundenen Problemen begegnen wollte. Er hat damit eine entscheidende ideologische Rolle sowohl in der Entstehung der bourgeoisen Nationalstaaten als auch in der Unterdrückung des Klassenkampfes und der Demokratie, im gegenseitigen Niedermachen der Nationen, in ethnischen Konflikten und auch in der Kolonialpolitik gespielt. Der chauvinistische Anteil des bürgerlichen Nationalismus trug mit dazu bei, dass das 19. und 20. Jahrhundert so blutig verlaufen sind. Seine Geburtsstätte Europa hat unter den Lektionen dieser Kriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Nationalismus in den Hintergrund gestellt und im politischen System die Kriterien der Demokratie zur Grundlage genommen. Das demokratische System hat seine Überlegenheit gegenüber allen anderen politischen Systemen, einschließlich des realsozialistischen, unter Beweis gestellt und ist mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts zum einzigen akzeptablen System der Welt geworden. In der kurdischen Frage haben sowohl der Nationalismus der herrschenden Nation als auch der lokale primitive Nationalismus (unter den Kurden, Anm.) nichts anderes erreichen können, als die Unfähigkeit zu vertiefen, eine Lösung zu finden. Die jeweiligen Länder sind in tiefe Sackgassen geritten. Auf diesem Ansatz zu beharren, heißt, Krisen, Aufstand, Repression und Massaker zu verschärfen. Beide Formen des Nationalismus stehen im Widerspruch 83 Eingabe an den EGMR zum Entwicklungsstand der zeitgenössischen demokratischen Zivilisation und sind zu reaktionären Ideologien aus dem 19. Jahrhundert geworden. Diese Tatsache zeigt, dass für die kurdische Frage die Kriterien der zeitgenössischen demokratischen Zivilisation zum Maßstab werden müssen. Die Kurden mit ihrer Brückenfunktion zwischen den drei großen Nationen des Mittleren Ostens sind aufgrund ihrer geographischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Lage in dieser neuen Phase der Geschichte die Subjekte einer grundlegenden demokratischen Kraft. Sie sind Subjekte eines Kampfes, der sowohl ihre eigene Befreiung bewirken als auch die Nachbarvölker in den Prozess einer demokratischen Lösung einbinden kann. Der Kampf um Demokratie, den sie in jedem Teil gewinnen werden, ohne sich in blutige Grenzkämpfe zu verstricken, ist die fundamentalste Absicherung für den Erfolg, eine wirkliche Einheit, Geschwisterlichkeit und Freiheit der Völker des Mittleren Ostens herzustellen. 84 85 86 Erläuternde Bemerkungen Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik Erläuternde Bemerkungen zum Buch Einige Worte zur Herangehensweise an die Eingaben des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof 87 Erläuternde Bemerkungen D ie Entwicklung der menschlichen Zivilisation durch die Geschichte folgt keiner geraden Linie und geriet aufgrund der rückständigen und engstirnig auf Profit aufgebauten Herangehensweise der jeweils herrschenden ausbeuterischen Kräfte zu bestimmten Zeiten ins Stocken. Um die Entwicklung zu stören, wurde auch erbarmungslose Gewalt angewendet. In diesen Phasen waren soziale Probleme zur Ausweglosigkeit verdammt. Reiche und vielversprechende Perioden waren dagegen Renaissance-Bewegungen, die prophetische Aufbrüche, und Revolutionen, die eine Neugeburt bedeuteten. Beginnend mit den sumerischen Priestern, die die Klassengesellschaft und die Zivilisation einleiteten, bis zu den heutigen Tagen, in denen die demokratische Zivilisation begonnen hat, trifft das auf unsere Welt zu. Unsere Welt war Schauplatz für viele gewalttätige, politische und militärische Kämpfe, für Zerstörung und Siege, für versklavende mythologische und religiöse Dogmen sowie für befreiende philosophische und wissenschaftliche Entwicklungen. Und der Strom der Zivilisation fließt weiter auf die universelle Freiheit zu. Der gegenwärtige Prozess, den wir am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchleben, ähnelt stark der Periode, in der sich die Menschheit gegen Ende der römischen Sklavenhalterära mit ihrem extremen Konservativismus und ihrer Rückständigkeit auf eine neue Zivilisationsstufe vorbereitete. Ebenso ähnelt sie dem Ende des Mittelalters, in dem der Feudalismus die Menschheit mit despotischer Rückständigkeit unterdrückte und zu tiefer Finsternis und Unwissenheit verdammte, und dem Beginn der europäischen Renaissance. Auch wenn die Zivilisation 88 Erläuternde Bemerkungen Europas in vielerlei Hinsicht Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit ausgeübt hat, so zeigt sich doch bei der Betrachtung der Kriege, der schweren sozialen Probleme und der Umweltzerstörung des 20. Jahrhunderts – oder mit anderen Worten: der Unfähigkeit, Maßnahmen gegen die negativen Erscheinungen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu treffen – dass diese Zivilisation ins Stocken geraten ist und mit Ausweglosigkeit konfrontiert ist. Als Beleg für diese Tatsache reicht allein die blutige Praxis des vor dem zweiten Weltkrieg entwickelten Faschismus. Die Zivilisation Europas ist veraltet und verbraucht. Sie erlebt eine sich kontinuierlich vertiefende Krise. Aus den praktischen Entwicklungen der letzten zehn Jahre, insbesondere aus den jüngsten Selbstmordanschlägen [11. September 2001, A..d. Ü.], lässt sich ablesen, dass die Politik des wurzellosen und maßlosen Kindes namens USA mit seinem lächerlichen Leitungsanspruch, der Welt eine Ordnung nach ihrem eigenen Bilde zu verpassen, gescheitert ist - oder, falls das als übertriebene Sichtweise erscheinen sollte, zumindest doch solch eine Ordnung die Menschheit nicht gerade zu zivilisatorischem Fortschritt zu führen vermag. Dass der Realsozialismus, der mit dem Anspruch, eine Alternative zum Kapitalismus darzustellen, die Revolution auf der Welt verbreiten wollte und in breiten Teilen der Welt an der Macht war, ebenso keine Alternative bieten konnte, zeigte sich an seinem Zusammenbruch, der letztendlich durch den Aufstand der Werktätigen verursacht wurde, die er eigentlich zu vertreten beanspruchte. Somit hat auch der Realsozialismus seine Chance verspielt. Momentan befinden wir uns in einer typischen Übergangsphase. 89 Erläuternde Bemerkungen „Es ist angemessen, diese Übergangsphase, in der sich die Krise des alten Zivilisationssystems kontinuierlich vertieft und sich kein neuer zivilisatorischer Aufbruch abzeichnet, als ‚Zeitalter der demokratischen Zivilisation‘ zu bezeichnen. Dass am Ende des 20. Jahrhunderts die demokratische Regierungsform als ‚Regime der Einigung‘ an die Herrschaft gelangt ist, ist kein willkürlicher Zufall, sondern Resultat der bestehenden Bedingungen. An der Entstehung dieser Situation haben die faschistische Alternative des Kapitalismus sowie der Totalitarismus des Realsozialismus prägenden Anteil.“ (Abdullah Öcalan) In dieser Übergangsperiode besteht in der Menschheit ein großes Bedürfnis nach einem prophetischen Aufbruch und einer neuen Renaissance. Die Eingaben von Abdullah Öcalan zeichnen einen solchen Aufbruch. Die Grundlagen dafür basieren auf einer mentalen Revolution. Die Eingaben besitzen in Inhalt und Herangehensweise die Qualität eines Manifestes, mit dem das Programm eines neuen Zeitalters hervorgebracht wird. Aus diesem Grund hat die VI. Nationale Konferenz der PKK im Herbst 2001 den Eingaben ihres Vorsitzenden den Namen „Manifest der Demokratischen Zivilisation“ gegeben. Herr Öcalan hat damit seine Suche, die er im Alter von sieben Jahren begann, in eine mentale Revolution auf der Grundlage einer umfassenden Zivilisations- und Geschichtsanalyse verwandelt, indem er die Haltung, nicht in der feudalen und kapitalistischen Zivilisation dahinsiechen zu wollen, weiterentwickelt und mit einem stärker wissenschaftlich geprägten Anspruch versehen hat. Es ist keine Übertreibung, dieses 90 Erläuternde Bemerkungen Werk als Beginn einer Renaissance des Mittleren Ostens zu definieren, als Neubelebung der Zivilisation, die in Verdummung zu ersticken droht und sich mit Dogmen belegt durch die Finsternis schleppt. Die Frage nach der Herangehensweise an die Eingaben muss unbedingt sorgfältig beantwortet werden. Die Antwort auf diese Frage ist von strategischer Bedeutung für die Zukunft. Diese Bedeutung steht in Zusammenhang mit dem inhaltlichen und historischen Wert der Eingaben. Ohne begriffen zu haben, was damit dokumentiert, analysiert und gelöst wird, und welche Perspektiven sie bietet, können auch die Verantwortung und die Aufgaben, die damit übertragen werden, nicht erfüllt werden. In diesem Sinne müssen die Eingaben vor allem als historische Mission und als Manifest der Demokratischen Zivilisation betrachtet werden, damit die Herangehensweise daran ausgerichtet werden kann. Sicherlich sind die Eingaben nicht nur ein juristisches Dokument für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR). Der juristische Aspekt wird lediglich in einem begrenzten Abschnitt behandelt. In erster Linie handelt es sich um eine Analyse der Geschichte und Zivilisationen. Abdullah Öcalan bezeichnet sie als einen Entwurf. Der aufsehenerregendste Aspekt liegt darin, dass „die Geschichte der Geschichte neu geschrieben“ wird. Der menschliche Horizont des Menschen wird durch einen historischen Blickwinkel und eine historische Methodik erweitert. Jeder Mensch der Wissenschaft und des Denkens mit guten Absichten wird nicht zögern, sie als großen Beitrag zur Geschichtswissenschaft anzuerkennen. 91 Erläuternde Bemerkungen Bis zum heutigen Tage sind die Geschichte sowie die Dialektik Hegels die Erzählung ihrer eigenen Umkehrung. Sie ist schon fast nicht mehr als Wissenschaft zu bezeichnen, sondern vielmehr zur Rechtfertigung für die enggefassten nationalen und klassenspezifischen Profite der Oligarchien und Monarchien geworden, zum Mittel der Verschleierung und Verdrehung selbst eindeutiger Tatsachen zum Zweck ihrer Heiligsprechung. Diese große Ungerechtigkeit ist für die werktätige, die Zivilisation aufbauende Menschheit eine zukunftslose Beleidigung. Die Eingaben verdeutlichen vor allem diesen Mangel an Ethik und den Egozentrismus und zeigen den Historikern den Weg zu mutigem und ethischem Handeln. Um die Kurdenpolitik und die Herangehensweise Europas an die Lösung der kurdischen Frage zu verstehen, muss zunächst die europäische Zivilisation analysiert werden. Dies erfordert auch eine Analyse aller Entwicklungen in den menschlichen Zivilisationen. Denn die Zivilisation Europas ist nicht einfach so vom Himmel gefallen. Das wirkliche Europa ist das genaue Gegenteil von Egozentrismus. Und dennoch ist bis heute versucht worden, mit Verdrehungen und Betrügereien die europäische Zivilisation als lediglich von den Europäern erschaffen darzustellen. Ohne die Berichtigung dieser falschen Auffassung und ohne die Grundsteine der Geschichte an ihrem wirklichen Ort liegen zu lassen, wird es nicht möglich sein, die europäische Zivilisation zu analysieren und eine Alternative dazu hervorzubringen. Herr Öcalan hat unter schwersten Bedingungen und im Rahmen seiner Eingabe eine schwierige und wichtige Arbeit 92 Erläuternde Bemerkungen vollendet, und dies mit einem Talent, das verwundertes Staunen auslöst. Er selbst sagt dazu: „Es war die Zivilisation Europas, die mein Schicksal festlegte. Die Rolle, die bestimmte europäische Staaten der Türkei zugemessen haben, ist hinterhältig und lässt sich mit der Redewendung „Sag zum Hasen: Lauf weg, und zum Windhund: Fass!“ beschreiben. Es ist bekannt, dass sie die Kurden schon vor langer Zeit in die Lage des Hasen gebracht haben. Die Hauptaussage meiner Eingaben betrifft die große Ungerechtigkeit und Hinterhältigkeit Europas zum Thema Kurden und Kurdinnen. Meine Haltung dazu ist nicht emotional. Um das zu beweisen, habe ich es für notwendig erachtet, eine schwierige Arbeit zu vollenden, die von einer wissenschaftlichen Definition der menschlichen Gesellschaft bis zur Analyse der Zivilisationsgeschichte reicht.“ Die Analyse der Zivilisation Europas ist von großer Bedeutung. Gleichzeitig ist sie mit Sicherheit nicht ausreichend für einen neuen Aufbruch. Wer einen neuen Aufbruch will, muss notwendigerweise auch eine historische Abrechnung mit der eigenen Zivilisation vollziehen. Die Eingaben von Herrn Öcalan enthalten deshalb auch eine fundierte Bilanz der Zivilisation des Mittleren Ostens. Er sagt: „Nicht ich bin es, der angesichts der Zivilisation Europas in einen Zustand der Würdelosigkeit geraten ist, es ist die Zivilisation des Mittleren Ostens. Ich habe versucht, mit einer Analyse der historischen und aktuellen Wirklichkeit des Mittleren Ostens, der sprichwörtlich in sei- 93 Erläuternde Bemerkungen nem Grabe liegt und umringt ist von nichts als lächerlichen Zwergen, einen neuen Aufbruch in Gang zu setzen.“ Damit legt er Grund und Ziel dieser Bilanz fest, mit der ein neuer Aufbruch angestrebt wird. In diesem Sinne ist es eine dringende Aufgabe, ein tiefgreifendes und richtiges Verständnis von Zivilisation zu erlangen, den in den Eingaben aufgezeigten Rahmen zu begreifen, mit zusätzlichen Forschungen und Untersuchungen zu bereichern und fortzuführen, sowie diese Erkenntnisse der gesamten Menschheit und insbesondere dem kurdischen Volk zukommen zu lassen. Wer sich selbst nicht analysıeren und begreifen kann, hat nicht das Recht, von anderen irgendetwas zu erwarten. Und trotzdem suchen heute die Menschen aus dem Mittleren Osten und allen anderen Gesellschaften der Welt, deren Wurzeln außerhalb Europas liegen, den Aufbruch oder die Zivilisierung, indem sie sich von ihren Wurzeln lösen und mit einer imitierten Mentalität in Europa einnisten oder auf einen blinden Dogmatismus versteifen, der schon in der sumerischen Mythologie zur Geltung kam. Während die ersten zu Knechten werden, können sich die nächsten nicht vor einer unzeitgemäßen Situation retten. Beide folgen einer Logik, die Bankrott ging. Aufbruch und Entwicklung sind weder in der Anbiederung noch in der totalen Ablehnung der europäischen Zivilisation und dem Angriff auf sie zu finden. Der Aufbruch liegt in der Antithese Europas, über die mit der Entwicklung der Zivilisation eine neue Synthese geschaffen wird; in der Entwicklung des entsprechenden Verständnisses und der Mentalität. 94 Erläuternde Bemerkungen Der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, bringt seine Haltung dazu in den Eingaben folgendermaßen zur Sprache: „Es gibt weder eine politische noch eine ethische Variante, die das akzeptieren könnte. Die Antwort, die ich selbst darauf gefunden habe, ist mein Freiheitsmarsch.“ Aufgrund der Gesetzmäßigkeit in der Zivilisationsentwicklung und aus verschiedenen weiteren Gründen kann die europäische Zivilisation nicht ihre eigene Antithese darstellen. Der Realsozialismus dagegen hat seine Chance vertan. Der Mittlere Osten ist durch verschiedene Faktoren zur Antithese geworden: Trotz der momentan bestehenden Demokratisierungsprobleme und der Tatsache, dass der Mittlere Osten die Nachhut bildet in dieser Entwicklungsphase, obwohl aus ihm einst die Zivilisation hervorgegangen ist, birgt er trotzdem eine Kampfdynamik in sich. Im Mittleren Osten hat jetzt in Form der Eingaben eine Explosion des in den letzten 25 Jahren über den Vorsitzenden der Partei und die PKK angesammelten geistigen und praktischen Potentials stattgefunden. Die Entwicklungen verlaufen in diese Richtung. Aus der Synthese, der Verbindung von These und Antithese, werden die Renaissance des Mittleren Ostens und eine demokratische Zivilisation entstehen. Viele Elemente der demokratischen Zivilisation haben die Chance, innerhalb der Zivilisation Europas geboren und entwickelt zu werden. Jedoch wird es nur mit der Renaissance des Mittleren Ostens möglich sein, dass diese Elemente die Überhand gewinnen. 95 Erläuternde Bemerkungen Die demokratische Zivilisation oder die Renaissance des Mittleren Ostens werden sich nicht von selbst oder als eine historische Notwendigkeit entwickeln. Die Existenz einer objektiven Grundlage bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine Entwicklung stattfinden wird. Dafür sind Bewegungen und Völker nötig, die die Vorhut bilden, die Entwicklungsrichtung begriffen haben, den Kampf dafür in allen Lebensbereichen führen und sich dafür verantwortlich fühlen. Wenn die Renaissance eine Wiedergeburt und Aufklärungsbewegung darstellt, dann sind für ihren Erfolg Bewusstsein und Organisiertheit unabdingbar. In der Geschichte kam es häufig vor, dass sich eine Renaissance oder ein zivilisatorischer Aufbruch nicht entwickelt haben, weil trotz günstiger objektiver Grundlagen die führenden Bewegungen und die organisierten Bemühungen nicht ausreichten oder vernichtet wurden. Mani [Der Kurde Mani war im 3. Jhdt. u. Z. Begründer des Manichäismus, einer Religion als Ergebnis einer Verbindung der Gedanken Zarathustras mit denen von Jesus und Buddha] ist dafür ein hervorstechendes Beispiel. Der Gedanke der Synthese, den Mani im Mittleren Osten entwickelt hatte, stand der europäischen Renaissance in nichts nach; sie waren gleichwertig. Wenn Mani nicht von den Kartirern gefangen genommen und vernichtet worden wäre, hätte sich die Renaissance vielleicht nicht in Europa, sondern im Mittleren Osten entwickelt. Der Tod Manis und die Ausrottung des Manichäismus waren eine Chance für Europa. Dass der Mittlere Osten heute für einen Aufbruch in die demokratische Zivilisation die vorteilhafteste Region darstellt, reicht allein nicht für ihre Umsetzung aus. Deshalb 96 Erläuternde Bemerkungen müssen sich die Völker des Mittleren Ostens und ihre politischen Führungen eine dementsprechende Rolle aneignen. Sie müssen sich ins Gedächtnis rufen, dass darin die historische Mission besteht und im aktuellen sowie im langfristigen Kampf für eine demokratische Zivilisation die Vorhut bilden. Wahrscheinlich gibt es keine schönere und wirkungsvollere Antwort auf die Frage, wie man sich den Eingaben annähern sollte. Natürlich erfordert das vor allem eine starke Konzentration auf das Thema, wie die demokratische Zivilisation im Mittleren Osten entwickelt werden kann, und damit einhergehend eine philosophische, ideologische, politische und organisatorische Vorbereitung auf hohem Niveau. Die Ausrüstung dafür liefern die Eingaben, die Herr Öcalan als seine „raffinerierten Gedanken“ bezeichnet. Die Eingaben bringen auch Klarheit darüber, warum der Mittlere Osten heute soweit zurückgeblieben ist, obwohl er insbesondere im neolithischen Zeitalter [Jungsteinzeit] die Wiege der Menschheit und Zivilisation darstellte. Bis zum 11. Jahrhundert bildete der Mittlere Osten die Vorhut in den Bereichen Wissenschaft, Philosophie, Kultur und Kunst. Warum wurde er später nicht zum Ort der Entwicklung sondern der Rückständigkeit, nicht der Aufklärung sondern der Verwilderung, nicht der Befreiung sondern der Versklavung? Diese Situation hängt damit zusammen, dass der Mittlere Osten in der geistigen Entwicklung der Menschheit nicht den Übergang schaffte von den Revolutionen des mythologischen Entwurfes und der religiösen Gedanken zur Evolution der Philosophie und des wissenschaftlichen Denkens. Das hat etwas mit Dogmatismus zu tun. 97 Erläuternde Bemerkungen Europa wurde zum Ort der neuen Zivilisation, weil dort der Übergang auf dem Weg einer Synthese erfolgreich vollzogen wurde. Auch heute ist die Mauer des Dogmatismus das Hindernis, das im Mittleren Osten vor jeder Art von Zivilisationsentwicklung und demokratischer Entwicklung steht. Es ist unbestritten, dass der Reichtum des historischen Potentials im Mittleren Osten mit keiner anderen Region vergleichbar ist. Selbst das Christentum, das Europa aus der Barbarei in die Zivilisation führte, ist eine Entwicklung des Mittleren Ostens. Die Europäer haben die Zivilisation, die Wissenschaft, die Kunst und die Philosophie aus dem Mittleren Osten geholt. Der Erfolg Europas resultiert aus der Verinnerlichung der Synthese durch die Griechen und Römer. Der Philosophie und dem Denken wurde der Weg geebnet. Ihre Überlegenheit haben die Europäer an diesem Punkt erreicht. Als in Europa die Reformierung des Christentums die Renaissance ermöglichte, wurde im Mittleren Osten durch den täglich härter werdenden Dogmatismus des Islams die Finsternis immer erdrückender. In Europa entwickelten sich Philosophie und Individuum, das Individuum gewann einen eigenen Willen, und damit einhergehend brachen die Muster des Dogmatismus auseinander. Die europäische Renaissance ist von dieser individuellen Entwicklung geprägt. Auch wenn die Individualität später einen so extremen Grad erreicht hat, dass damit die soziale Gesellschaft bedroht wird, handelt es sich um eine der größten Revolutionen der Menschheitsgeschichte, dass das Individuum damals so stark an Willen und Eigeninitiative gewinnen konnte. Im Mittleren Osten dagegen wurde den Menschen 98 Erläuternde Bemerkungen mit Gewalt und Demagogie nach dem mythologischen Gedanken die absolute Herrschaft der Religion eingeimpft, die Gott-König-Kultur und später die Macht der Tradition des Herrschers als irdischem Schatten Allahs. Die religiösen Dogmen wurden unter dem Etikett der „Hand Gottes“ oder der „göttlichen Verfügung“ mit einem Lack der Heiligkeit versehen und damit in den Gesellschaften des Mittleren Ostens das Individuum und der freie Wille vernichtet. Aufgrund dieser Rolle wird der Dogmatismus in den Eingaben gründlich analysiert: „In den östlichen Gesellschaften ist die Lebensgrundlage des Individuums seit der Ordnung der sumerischen Priester kontinuierlich verkümmert. Wie ein Individuum leben und denken soll, ist vor Tausenden von Jahren festgelegt und als Schicksal präsentiert worden. Das wiederum stützt sich auf die Auffassung, dass die feste Ordnung des Himmels im wesentlichen der Ordnung auf der Erde entspricht. Die mythologische und religiöse Denkweise hat zunehmend dieses System perfektioniert. Ausgehend von den Bedingungen der ersten Sklavenhaltergesellschaft wurde das Individuum so stark an das System gebunden, das es nicht einmal einen Anspruch auf den eigenen Schatten geltend machen konnte. Damit wurde der Individualität von Anfang an ein radikaler Schlag versetzt. Die Mission, den Menschen jegliche Persönlichkeit zu nehmen, begann in der sumerischen Mythologie und wurde in den monotheistischen Religionen an noch striktere Glaubensregeln gebunden. Jedes kreative und konstruktive Denken und Fühlen des Individuums zu irgendeinem Thema wird als 99 Erläuternde Bemerkungen Sünde abgestempelt und bedeutet gesellschaftliche Diskriminierung. Ein Individuum, das nicht die notwendige Kraft dagegen aufbringt, kapituliert sofort vor dem herrschenden Gedanken. Es breitet sich ein Despotismus aus, dessen Herrschaft erleichtert wird, indem allen östlichen Individuen eine Schicksalsergebenheit eingepflanzt wird.“ Aus diesem Grund ist der Mensch des Mittleren Ostens introvertiert. Er traut seinen eigenen Gedanken nicht. Er weiß nicht einmal, ob es eine solche Fähigkeit tatsächlich gibt. Er nimmt nur das an, was ihm vorgesetzt wird. Es ist zu einem scheinbar natürlichen Verlauf geworden, dass das System dermaßen an Stärke gewinnt und das Individuum so sehr an Kraft verliert. Das ist eben Schicksal. In den östlichen Gesellschaften hat das Individuum auf die offizielle Ideologie mit Mystizismus und Sektierertum reagiert oder geantwortet. Allerdings ist bekannt, dass diese Gruppen niemals eine Alternative zum System darstellen konnten. Nachdem einmal die Rede vom Wort Gottes war, was kann da noch die Bedeutung des unabhängigen Denkens sein? Das freie Denken zu wagen, bedeutet, sich gegen Gott zu stellen. Nichts kann wahrer sein als das Wort Gottes. Das östliche Individuum hat keine eigenen Gedanken. Alles steht in den Büchern geschrieben. Am meisten gebildet ist die Persönlichkeit, die am meisten auswendig lernt. Mystische Kommentare werden als Ketzerei beschuldigt. Mit Sicherheit stehen also die Menschen als Individuen der Gesellschaft des Mittleren Ostens in verschiedener Form und zu einem unterschiedlichen Grad unter dem Einfluss 100 Erläuternde Bemerkungen dieses tiefverwurzelten Dogmatismus. Es hat sich auch gezeigt, dass sogar der Realsozialismus, den ein Teil der Menschen für ihre Rettung hielten, keine weitere Bedeutung hatte als eine andere Version des Dogmatismus. Es ist Fakt, dass diese Menschen in dieser neuen Zeitphase ernsthafte, aus dem Dogmatismus resultierende Probleme damit haben, die veränderte Strategie und Organisationslinie der PKK zu verstehen und zu verinnerlichen. Aus diesem Grund sind die Menschen immer noch mit dem grundlegenden Problem konfrontiert, die Muster des Dogmatismus zu brechen und zu überwinden. Dieses Problem kann am ehesten gelöst werden, wenn es gelingt, als Individuen zu existieren. Solange die Menschen keine frei denkenden, forschenden, untersuchenden und erschaffenden Individuen sind, werden sie sich vor dem Dogmatismus nicht retten können. Die Eingaben zeigen den Weg, den Dogmatismus zu überwinden und zu freien Individuen zu werden. Und sie zeigen auf, dass dieser Weg eine mentale Revolution bedeutet. Kurz gesagt existiert ein mentales Problem. Der in den Eingaben häufig vorgebrachte Satz: „Es muss eine mentale Revolution stattfinden“ steht in Zusammenhang mit unserer eigenen negativen Realität. Beim Bemühen, die Eingaben zu begreifen, muss das Ziel sein, eine „individuelle Revolution“, d.h. eine „mentale Revolution“ zu verwirklichen, die als größte Revolution der Menschheit in der Geschichte gilt. Dabei ist es wichtig, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Gesellschaft und Individuum beizubehalten. Beide Faktoren müssen so entwickelt werden, dass sie sich gegenseitig vervollständigen. Eine extreme Individualisie- 101 Erläuternde Bemerkungen rung mit gleichzeitiger Schwächung der Gesellschaft und sozialen Fähigkeiten führt zum verantwortungslosen und profitgierigen Individuum des Kapitalismus. Eine Schwächung des Willens des Individuums und die extreme Erhöhung der Gesellschaft bringt dagegen den traditionellen Dogmatismus hervor, in dem das Individuum ausgelöscht wird. Wir sollten nicht vergessen, dass eine Gemeinschaft, die sich aus willenlosen und versklavten Individuen zusammensetzt, keinen Unterschied zu einer Herde aufweist. Wo das Individuum kein Individuum mehr ist, ist auch die Gemeinschaft keine Gemeinschaft. Die demokratische Zivilisation ist eine Zivilisation, in der sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft Raum besteht und das eine nicht dem anderen geopfert wird, sondern im Gegenteil eine freie Gesellschaft angestrebt wird, die sich aus freien Individuen zusammensetzt. Das Manifest der Demokratischen Zivilisation hat auch den Anspruch, das Vakuum zu füllen, das in philosophischer Hinsicht entsteht, wenn der Dogmatismus überwunden wird. Die Praxis des Realsozialismus hat gezeigt, dass der Marxismus, der als Alternative zur bourgeoisen Zivilisation gegen das System und für die Werktätigen entstanden ist, trotz seiner Wissenschaftlichkeit in vielen Themen unzureichend war und sehr begrenzt geblieben ist. Dadurch wurde er zermürbt und geschwächt. Heute muss der Marxismus an den Punkten überwunden werden, an denen er unzureichend war. Diese liegen in der Denkstruktur des Marxismus, der lediglich eine Periode der Zivilisation analysiert und bewertet hat: den Kapitalismus, und dabei am meisten den Mehrwert. Mit dem Zusammenbruch des 102 Erläuternde Bemerkungen Realsozialismus hat die Welt der ArbeiterInnen ein großes Maß an Moral verloren und ist in ein philosophisches Vakuum geraten. Die Eingaben des Vorsitzenden der PKK, Herrn A. Öcalan, bringen Klarheit in die seelische und geistige Welt der Menschheit und füllen das Vakuum, das Marx hinterlassen hat, durch eine wissenschaftliche Analyse des mythologischen Denkens, des religiösen Glaubens und auf dieser Grundlage des Gott-Begriffes. Zur türkischen Linken und dem Marxismus sagt Herr Öcalan: „Beim Marxismus und der türkischen Linken, die sich auf ihn stützt, handelt es sich um das revolutionäre Denken und Handeln eines begrenzten Zeitalters. Der Hauptgrund für ihre Erfolglosigkeit ist der Kampf gegen den Kapitalismus mit einer Persönlichkeit, die eben von diesem geformt wurde und sich in ihrem Wesen nicht vom kapitalistischen System gelöst hat. Eine gute Absicht und ein radikaler AntiKapitalismus allein reichen nicht aus, um das System zu überwinden. Die bestehende Persönlichkeit hat nicht die Fähigkeit und die Kraft, das System zu überwinden und zu transformieren, auf das sich der Kapitalismus stützt. Sie sind nicht darüber hinaus gekommen, eine etwas weiter entwickelte, mit einer bestimmten wissenschaftlichen Grundlage versehene, zeitgenössische Form der mystischen Orden des alten Zeitalters darzustellen. Sie haben sich nicht davor retten können, lediglich den äußersten linken Zipfel des Kapitalismus zu bilden. Auch der kapitalistische Revolutionär ist trotz seines Anti-Feudalismus als ein Schössling des Feudalismus herangewachsen und hat viele Men- 103 Erläuternde Bemerkungen talitäts- und Geistesmuster von dort erhalten. Die generelle Form der Klassengesellschaft hat ihnen allen gemeinsame Haupteigenschaften eingeprägt.“ Wie aus dieser Aussage hervorgeht, ist eine Zivilisation ein Gesamtsystem. Eine Bewegung kann nur in dem Ausmaß zu einer anderen sozialen Revolution gelangen, in dem sie diese Gesamtheit zu fassen bekommt. Dem Realsozialismus ist es trotz seines Anspruches nicht gelungen, eine solche Qualität zu erreichen. Zu seiner Beziehung zum Marxismus sagt Herr Öcalan weiterhin: „Aus meiner Position heraus kann ich sowohl mit der offiziellen Bourgeoisie als auch mit seiner linken Verlängerung lediglich vorübergehende Bündnisse schließen. Es kann nicht erwartet werden, dass diese beiden miteinander verschmelzen. Diese Sache ist theoretisch richtig und wird sich auch in der Praxis verwirklichen. Ich halte zum Marxismus und zum Realsozialismus einen Abstand ein und begegne auch deren türkischer Version in ähnlicher Form.“ Entsprechend seiner Beziehung zur offiziellen Bourgeoisie-Gesellschaft und zum Marxismus, nimmt Herrn Öcalan, der den Anspruch hat, diese zu überwinden, eine ähnliche Haltung auch zu deren abgenutzter Kopie im Mittleren Osten ein. Er ist auf seinem eigenen Weg marschiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass er nicht von anderen Philosophien beeinflusst worden ist. Sein eigener Weg ist eine 104 Erläuternde Bemerkungen Synthese: eine Synthese, die die gesamte Menschheitsgeschichte mit einschließt. Diese Synthese unterscheidet sich von den Elementen, aus denen sie sich zusammensetzt; sie beinhaltet zwar deren positive Seiten, stellt aber ein ganz neues System, eine ganz neue Philosophie dar. „Meine Systemsuche übersteigt die aus dem Mittleren Osten hervorgegangene Zivilisation. Dass das westliche System so, wie es ist, nicht annehmbar ist, hängt mit seiner Identität zusammen.“ Aus diesem Grund bedarf es der Erneuerung des philosophischen Blickwinkels. Um die Begrenztheit auf diesem Gebiet zu überwinden, müssen die Eingaben ins Bewusstsein gerufen werden. Mit der Verinnerlichung der Eingaben wird es möglich, die Kraft und den Genuss befreiter Gefühle und Gedanken zu schmecken. Mit der Philosophie von Herrn Öcalan ist der Knoten endlich gelöst; die Brille, die den Menschen schielen und schwarz-weiß sehen lässt, ist weggeworfen worden. Der Dogmatismus mit seiner 5000jährigen göttlichen Macht ist in eine Position versetzt worden, in der er mitsamt seiner Heiligkeit nur noch als Museumsstück taugt. Wenn der schwarze Vorhang des Dogmatismus zerrissen wird, ist es, als ob alles nach Farben-, Stimmen- und Bedeutungsreichtum und Schönheit ruft. Der Mensch, der durch die Verbote der Götter und Despoten von Land und Denken abgehalten worden ist, hat endlich begonnen, er selbst zu sein. So beginnt der neue Humanismus, die Renaissance. Zu ihrer Zeit haben so auch die europäischen Individuen bei der Entwicklung ihrer Zivilisation angefangen. Aber es han- 105 Erläuternde Bemerkungen delt sich nicht um eine Imitation, sondern um einen Marsch auf den Böden des Mittleren Ostens. Es kann keine Wiederholung Europas geben. Wie Herr Öcalan sagt: „Das Kind von gestern.“ Die Renaissance des Mittleren Ostens wird von den eigenen Wurzeln ausgehen. Auf der Grundlage einer umfassenden Analyse der verschiedenen Zeitalter werden in den Eingaben auch neue Gedanken und Feststellungen zu den Themen Ideologie, Politik, Gewalt, Staat, Demokratie, kurdische Realität, PKK, Lösung der kurdischen Frage, neue Kampfstrategie und -taktik hervorgebracht. Die Imrali-Verteidigung, die Herr Öcalan als Botschaft für eine demokratische Lösung und Frieden hervorgebracht hat, um die Atmosphäre zu entspannen und ein politisches Lynchen zu verhindern, stellt den Beginn zu diesem Thema dar. Ohnehin sind beide Verteidigungen Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig ergänzen. Das Zeitalter wird darin als das der „Demokratie und Freiheit“ bezeichnet. Sich in diesem Zeitalter den nationalen und sozialen Problemen mit den Köpfen des 19. Jahrhunderts oder von 1980 anzunähern, ist vergeblich. Die Zeit der Revolutionen im klassischen Sinne ist vorbei. Selbst die radikalste Änderung kann nur noch auf evolutionärem Wege verfolgt werden. Das Wesen des demokratischen Zeitalters, das eine Übergangsphase darstellt, besteht in der Lösung der Probleme auf demokratischem Wege und schwerpunktmäßig durch Einigung und Verständigung. Diese Zivilisation wird die Aufgabe erfüllen, die der Realsozialismus plante, aber nicht umsetzen konnte, nämlich den Weg zu ebnen zu einer generellen Befreiung der Menschheit. Selbstverständlich bedeutet dies keine Ent- 106 Erläuternde Bemerkungen fernung von der Utopie von Freiheit und Gleichheit entsprechend der Formulierung „jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen“; im Gegenteil wird diese Utopie unter Beachtung der Erfahrungen aus der Vergangenheit als Ziel in eine realistischere Form gebracht. Aus dieser ideologischen Herangehensweise als langfristigem Ziel besteht der Kern der Eingaben. Je mehr davon begriffen wird, desto eindeutiger wird dieser Kern hervortreten und sowohl eine Richtung weisen als auch Moral geben. In den Eingaben werden beginnend mit ihrem Titel („Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik“) insbesondere auch der Staat als Zwangsmittel und Gewalt als Kampfmittel ausführlich analysiert. Herr Öcalan hat wichtige Gründe dafür, seine ideologische Herangehensweise und seine tiefgreifende Analyse zum Thema Staat hervorzubringen. Der Staat ist bis heute nicht ausreichend analysiert worden und hat unter ständiger Heiligsprechung mit dem bei seiner ersten Gründung vorherrschenden Geist die Gegenwart erreicht. Die Haltung gegenüber dem Staat ist eines der Hauptkriterien für die demokratische Zivilisation. Es sind die Irrtümer über den Staat, die grundlegend dazu beigetragen haben, dass so viele SozialistInnen und RevolutionärInnen aus ihren heldenhaften Kämpfen keine ausreichenden Ergebnisse erzielen konnten und ihre Arbeit zu einem großen Teil ins Leere lief. Auch die Staatsanalyse des Marxismus, der die wissenschaftlichste Strömung darstellt, ist eng und oberflächlich. Auch für den Zusammenbruch des Realsozialismus ist einer der Hauptgründe der Irrtum beim Thema Staat. Deshalb muss das Thema Staat noch ausführlicher behandelt werden. Insbesondere die große 107 Erläuternde Bemerkungen wissenschaftlich-technische Revolution im 20. Jahrhundert, die Bereitstellung der an die mechanische Technik angehängten elektronischen und nuklearen Technik für den Dienst in der Gesellschaft hat das traditionelle Gleichgewicht umgeworfen. Diese Situation erfordert zwangsläufig große Veränderungen auf den Gebieten Staat, Politik und Militär. Zweifellos handelt es sich nicht um das „Ende der Geschichte“, wie es von bürgerlichen Professoren oder Ideologen angebracht worden ist. Aber es ist eine realistische Herangehensweise, vom Ende der Besonderheiten zu sprechen, die auf dem Klassencharakter der Zivilisation aufbauen. Wenn die Geschichte, so wie Marx sagte, aus Klassenkämpfen besteht, dann bekommt der Ausspruch vom Ende der Geschichte in diesem Sinne eine Bedeutung. Denn mit der wissenschaftlich-technischen Revolution ist die klassische Klassenstruktur überwunden worden. Zunehmend in den Vordergrund getreten sind die sozialen Strukturen auf der Basis von Arbeit und Beruf. Der Staat als konzentrierte und institutionalisierte Politik ist eine Erfindung und ein Mittel des Sklavenhalter-Zeitalters. Die marxistische Soziologie hat den Staat überwiegend auf der Basis des Kapitalismus analysiert und damit eine verhängnisvolle Unzulänglichkeit eingeleitet. Es waren die sumerischen Priester, die das erste Prinzip und die erste Form von Staat festgelegt haben. Irgendeine Grundlage gab es dabei nicht. Der Staat als Mittel für brutalste Klassenausbeutung stützte sich auf mythologisches Denken, das sogar hinter der religiösen Ideologie zurückblieb. Nach den priesterlichen Beobachtungen war der Staat Beispiel für die stabile Himmelsordnung. So wie die Götter den 108 Erläuternde Bemerkungen Himmel regierten, musste der Staat den Erdboden regieren. So wie die Führung der Götter heilig war, galt das gleiche auch für die Staatsführung. Die Idee, dass der Staat heilig sei, hat sich vom mythologischen Glauben der sumerischen Priester ausgehend bis heute gehalten und ist eine gefährliche Ansicht, die über Repression die alte Ausbeutung bewahrt. Immer ist versucht worden, den Staat zu bewahren, indem er mit einer gewissen Heiligkeit belegt worden ist. Dies wird aufgrund der Wichtigkeit getan, die er für die herrschenden und ausbeuterischen Klassen hat. Der Staat im Kapitalismus ist ein Produkt der sumerischen Priester. Viele Kräfte, die bei der Sowjet-Revolution davon überzeugt waren, es sei ein Staat der Werktätigen gegründet worden, verstanden hinterher, dass man sich nicht davor hatte retten können, sich eben diesem Priesterstaat auszuliefern. Es ist kein Zufall, dass die Staaten nach sowjetischer Weise am stärksten der Art und Weise der sumerischen und ägyptischen Priester ähnelten. Was die realsozialistischen Revolutionen umsetzten, war das Herunterreißen der überflüssigen Kleider, die dem Staat seit den Sumerern angelegt worden waren, sowie das Zerstören seiner Organe. Aber dass die Idee vom heiligen Staat, der als „Diktatur des Proletariats“ präsentiert wurde, und dessen Hauptkerne Druck und Zwangsarbeit waren, keine weitere Bedeutung als Selbstbetrug hatte, wurde erst sehr spät begriffen. In der Analyse des Staates erklärt Herr Öcalan auch deutlich seine Herangehensweise an dieses Werkzeug: 109 Erläuternde Bemerkungen „Die Diktatur des Proletariats kann in der Bedeutung des Wortes die Beziehung zu den Werktätigen sein. Alle Diktaturen haben einen Bezug zur Ausbeutung. Selbst die eintägige Dauer einer Diktatur bedeutet, Mittel der Ausbeutung zu sein. Es war der Irrtum im Bereich Staat und Diktatur, der den Sowjet-Sozialismus zerstört hat. Die unterdrückten Arbeiterklassen und damit die Gesellschaft haben niemals Bedarf nach dem Mittel Staat. Denn dieses Mittel führt die Klassenbildung fort. Sein Existenzgrund ist die Klassengesellschaft.“ Solange die Klassengesellschaft andauert, kann nicht ohne Staat gelebt werden. In dieser Situation ohne den Staat auskommen zu wollen, würde bedeuten, ins Steinzeitalter zurückzukehren oder anarchistisch zu sein. Aber es sollte auch bekannt sein, dass es die Technik war, die die Klassenbildung hervorgebracht hat, und es wiederum die Technik auf einem bestimmten Entwicklungsniveau sein wird, die diese überwindet. Es ist vorauszusehen, dass die sozialen, politischen und militärischen Resultate der zweiten großen wissenschaftlich-technischen Revolution des 20. Jahrhunderts größer und anhaltender sein werden. Diese Ergebnisse treten erst jetzt hervor. Das erste dieser Ergebnisse ist die Auflösung der Blöcke und damit der Sowjets. Das zweite ist der Verlust der früheren Bedeutung der Nationalstaaten. Ohnehin haben die Klassen ihre Bedeutung zu einem großen Teil verloren. Dabei spielt die außerordentliche Revolution der Kommunikationstechnologie eine Rolle. Allein das Internet ist ein revolutionäres Phänomen. Ohne der Rechnung die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Ergebnisse der im Bereich mecha- 110 Erläuternde Bemerkungen nischer, elektronischer und nuklearer Technik stattgefundenen Revolution hinzuzufügen, kann keine theoretische Analyse die aktuelle Zeitphase richtig bewerten. Diese Themen müssen ausführlich diskutiert werden und erfordern Kritik und Selbstkritik. Ein wichtiger Grund für die auftretenden ideologischen Krisen ist das schwache Niveau darauf ausgerichteter Untersuchungen, Forschungen und Auswertungen. Mit den Eingaben wird angestrebt, diese Schwäche zu überwinden. Zweifellos werden sie jeden, den es betrifft, dazu anregen. Der Vorsitzende der PKK, Herr Öcalan bringt seine Haltung zum Werkzeug Staat folgendermaßen zum Ausdruck: „Meine Auffassung von Menschlichkeit lässt außer dem Verständnis von und den Mitteln der gezwungenermaßen erfolgenden Selbstverteidigung kein Gewaltmittel und keinen Staat zu. Ich werde niemals etwas mit dem Mittel Staat (als klassisches Klassenherrschaftsmittel) gegen die Menschen und die Gesellschaft zu tun haben. Dem klassischen Staat und seiner Regierungsform räume ich in meinem Verständnis und meiner Praxis keinen Platz ein. Ich falle nicht auf die Verirrung Realsozialismus herein. Es ist ein Irrtum, den Staat mit einer Gegenmacht zu zerstören und an seiner Stelle einen neuen aufbauen zu wollen. Stattdessen setze ich auf eine Führung ziviler Einheiten, deren Aufgabe die allgemeine Koordination der Gesellschaft mit technischen Regelungen ist, ohne physische oder bewaffnete Gewalt anzuwenden.“ Diese Herangehensweise bedeutet die Überwindung der Auffassung von der Diktatur des Proletariats, die im Mar- 111 Erläuternde Bemerkungen xismus für die Zeit des Übergangs in die staatenlose Zeitphase vorgesehen ist. Es handelt sich dabei ebenso um ein Prinzip, das aus den historischen Erfahrungen mit Staat und Zwang hervorgeht, um eine Form, die die wissenschaftlich-technische Revolution zunehmend möglich macht. Die klassenlose Gesellschaft wird nicht mit einer Diktatur des Proletariats, sondern über die schrittweise Schwächung und Umformung des Staates in ein Koordinationsmittel und stattdessen die Stärkung der Initiative der Zivilgesellschaft erreicht werden. Dafür gibt es noch keine existierenden konkreten Formen oder Beispiele. Aber es ist eine Tatsache, dass demokratische Normen eine zunehmende Entwicklung zeigen, die wissenschaftlich-technische Revolution diese beschleunigt und in der Problemlösung damit begonnen worden ist, die Gewalt aufzugeben und zu einer Einigungskultur mit friedlichen Methoden zu kommen. Diese Entwicklungen werden eine solche Regierungsform zunehmend möglich machen. Die Vorstellung von „Koordination“ stützt sich ohnehin auf eine solche Voraussicht. Wenn immer noch in uns und in unserer Umgebung der Gedanke vorherrscht, dass die Regierungsweise der klassischen Staatsauffassung – und sogar die Widerspiegelung des Originals, angelehnt an die Logik der sumerischen Priester – die beste ist, dann sind die Eingaben eine lehrreiche Quelle, um zu einer demokratischen Regierungsauffassung zu gelangen. In der Verteidigungsschrift wird auch die Gewalttheorie komplett erneuert. Die Rolle von Gewalt bei der Lösung sozialer Probleme und zivilisatorischen Entwicklungen ist häufig übertrieben worden. Es ist immer gesagt worden, 112 Erläuternde Bemerkungen dass die Gewalt die Hebamme jeder neugeborenen Gesellschaft ist. Diese Feststellung, die schon Marx betont hat, ist im wesentlichen richtig. Die Rolle einer Hebamme ist es, der Mutter zu einer weniger schmerzhaften und leichteren Geburt zu verhelfen. Sie hat die Rolle einer Helferin. Aber in der Gesellschaft ist die Gewalt viel zu oft dieser Rolle enthoben worden und hat nicht mehr für eine Verminderung sondern für eine Vermehrung der Schmerzen und zu Toten geführt. Da die Gewalt ein Mittel ist, das jeden Moment ausarten kann, hat sie keine konstruktive Wirkung mehr auf Mensch und Gesellschaft ausgeübt, sondern eine destruktive Rolle eingenommen. Darüber hinaus ist es auch nicht möglich, eine Gesellschaft mit Zwang dahin zu bringen, ein System anzunehmen, das sie nicht verinnerlicht hat. Selbst wenn sie mit Repression und Angst gebeugt wird, so ist das nur vorübergehend und leitet in Kürze Aufstände, Krisen und Kämpfe ein. Eine positive Funktion kann Gewalt dagegen in Gesellschaften haben, die darauf ideologisch vorbereitet sind. Deshalb ist es notwendig, Gewalt nicht als ein grundlegendes Mittel und Methode zu betrachten und zu praktizieren, sondern stattdessen auf den demokratischen Kampf zu setzen und Gewalt nur als Mittel der Selbstverteidigung in absolut notwendigen Situationen anzuwenden. Dem entspricht auch die militärische Herangehensweise auf der Linie des Vorsitzenden der PKK, Herrn Öcalan. Seine Ansicht zum Thema Gewalt und Selbstverteidigung umreißt er folgendermaßen: 113 Erläuternde Bemerkungen „Aber, beginnend bei einem einzigen Menschen bis hin zu allen Menschen und Völkern, werde ich gegen die ganze Welt – wenn es notwendig ist – die Selbstverteidigung anwenden, bis ein Ergebnis erzielt worden ist. In diesem Sinne bleibe ich dem Ausspruch verbunden, dass ein Mensch die ganze Welt besiegen kann.“ Selbstverteidigung ist sowohl ein verfassungsrechtliches als auch ein universelles Recht. In den Eingaben wird aufgezeigt, dass die PKK in ihren Anfängen mit einer solchen Verteidigungsauffassung aufgebrochen ist. Grundsätzlich ist sie in ihrem Kampf innerhalb dieses Rahmens geblieben, zunehmend hat sich aber auch eine Bandenmentalität eingeschlichen. In den Eingaben wird Selbstkritik geübt an diesen Aktionen, die in der Praxis der Vergangenheit konträr zur Linie ihres Vorsitzenden verliefen und mit denen die Grenzen der Selbstverteidigung überschritten wurden. Herr Öcalan hat in seinen Eingaben sowohl die Zivilisationsgeschichte analysiert als auch das kurdische Phänomen als Teil dieser Zivilisation von neuem bearbeitet und auf seinen richtigen Platz gestellt. Ein großer Teil der Eingaben ist der Untersuchung und Definition der kurdischen Sache vorbehalten. Deutlich wird dabei, dass es sich bei der kurdischen Frage um die verwickelteste im Mittleren Osten handelt. Ohne die kurdische Realität hervorzuholen, wird es auch nicht möglich sein, die daraus resultierenden Probleme zu lösen. Von diesem Punkt ausgehend werden in den Eingaben die KurdInnen ab dem neolithischen Zeitalter chronologisch untersucht und neue Tatsa- 114 Erläuternde Bemerkungen chen zu diesem Themenfeld vor Augen geführt. Obwohl es sich nicht um ein Geschichtsbuch handelt, gibt es auf die Fragen: „Wer ist die Kurdin/der Kurde?“ und „Wo in der Geschichte?“ eine wissenschaftliche Antwort. Es ist eine gute Definition der kurdischen Sache. Die richtige Definition eines Phänomens stellt schon zur Hälfte die Beleuchtung des Lösungsweges dar. An welchem Punkt dieses Thema angegangen werden soll, erklärt der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, folgendermaßen: „Die Definition des kurdischen Phänomens hat große Bedeutung. Das größte Unverständnis besteht bei der Frage, wie dieses Phänomen definiert werden muss. Die Araber nennen die Kurden ‚jemenitische Araber‘, die Türken sagen ‚Bergtürken‘, die Perser betrachten sie als das gleiche wie sich selber oder definieren sie als ‚reine, naive Nation‘. Dass die daraus resultierenden Herangehensweisen sehr unterschiedlich sind, bleibt unausweichlich.“ Herr Öcalan hat dagegen mit der Definition der KurdInnen begonnen und die heutige Situation definiert, indem er die Geschichte verfolgt hat. In der Verteidigungsschrift wird aufgezeigt, dass die historische These falsch ist, gemäß der die KurdInnen als Angehörige der arischen Rasse aus Nordeuropa in den Mittleren Osten migriert seien. Es wird unterstrichen, dass dies die These deutscher Rassisten ist, die korrigiert werden muss. Wie aus archäologischen Ausgrabungsfunden deutlich geworden ist, stammen die KurdInnen aus dem Mittleren Osten, und ihre Wurzeln gehen zu den Horitern, Kassitern und Mitannitern zurück. Es ist 115 Erläuternde Bemerkungen bewiesen, dass die erste große Revolution der Menschheit, das Neolithikum, in Kurdistan von den Ahnen der KurdInnen verwirklicht worden ist. Erste Sesshaftwerdung, Viehzucht und Ackerbau haben hier begonnen. Auch im Fundament der mit den Sumerern begonnenen Zivilisation ruht die in Nordmesopotamien entwickelte neolithische Kultur. Die Vorfahren der KurdInnen gehörten zur arischen Gemeinschaft, was aber nicht Rasse bedeutet, sondern „Gemeinschaft von den Boden bearbeitenden Bauern“. Da die Vorfahren der KurdInnen das Neolithikum sehr intensiv erlebt haben, hat die Stammesorganisierung und -kultur bei ihnen einen großen Raum eingenommen. Vertieft wurde dieses Phänomen noch durch äußere Invasionen, gegen die sie sich und ihre Freiheit gezwungenermaßen durch einen Rückzug in die Tiefe der Berge schützen mussten. Aufgrund der politischen Stellung des Mittleren Ostens, und weil es die politischen Profite verschiedener Kräfte so erforderten, konnten die KurdInnen, die im feudalen Zeitalter zu einem Volk wurden, sich nicht zu einer modernen Nation entwickeln und wurden aus der Zivilisation ausgestoßen. Durch den Kampf und die Anstrengungen der PKK ist das kurdische Phänomen heute endlich ein bekanntes und aufgeklärtes Phänomen. Um das kurdische Volk und sich selbst kennen zu lernen und uns darüber hinaus der Mittelost-Politik bewusst zu werden, können und müssen wir von den Eingaben auf maximalem Niveau profitieren. In der Definition des kurdischen Phänomens wird auch die kurdische nationale demokratische Bewegung ausgewertet. Seit seinem ersten Auftreten hat sich das kurdische 116 Erläuternde Bemerkungen Phänomen immer entsprechend der Besonderheiten der jeweiligen Zeit im Kampf befunden. In wichtigen gesellschaftlichen Zeitaltern hat sich das kurdische Volk als ein bewegtes, produzierendes und erschaffendes Volk erwiesen. Das fruchtbarste Volk im Neolithikum waren die KurdInnen. An der Spitze der Gemeinschaften, die das erste Zeitalter hervorbrachten, das Fundament legten für einen sich auf den Himmel beziehenden göttlichen Glauben und die mythologische Gedankenform systematisierten, stehen die KurdInnen. Sie besitzen ausserdem die Ehre, das erste ethnische Volk zu sein, dass gegen die sumerische Sklaverei und den Kolonialismus mit Stammesbewusstsein und der unverzichtbaren Leidenschaft für Freiheit Widerstand leistete. Auch in den Freiheitsbestrebungen gegen den islamischen Absolutismus im Mittelalter waren die KurdInnen stark vertreten. Zarathustratum, Alevismus, Manichäismus und verschiedene mystische Orden stehen für den Widerstand und die Tendenz zu einem freien Leben des Volkes gegen die feudale Sklaverei. In den Aufständen des 19. und 20. Jahrhunderts gab es keine bürgerliche Grundlage im ideologischen Sinne; sie stützten sich auf ein gefühlsmäßiges Kurdentum und die traditionelle Gesellschaftsstruktur. Diese Bewegungen, die für Verrat und Ausnutzung geradezu prädestiniert waren, sind in die Kategorie „primitiver Nationalismus“ einzuordnen. Mit der PKKBewegung wurde das Zeitalter des primitiven Nationalismus und des traditionellen Aufrührertums der kurdischen nationalen demokratischen Bewegung beendet und die fortschrittliche Zeit der Befreiung begonnen. In den Eingaben werden die Realität der PKK mit kritischem und 117 Erläuternde Bemerkungen selbstkritischem Blick bewertet und damit Perspektiven für eine Neustrukturierung und die Zukunft dieser Bewegung gegeben. Die Eingaben präsentieren Lösungspläne für die kurdische Frage, für die bisher keine Lösung gefunden werden konnte, obwohl in ihrem Namen viel Blut geflossen ist, viele Organisationen gegründet wurden und jede Art von Anstrengung unternommen wurde. Diese Lösungspläne werden den beteiligten Seiten vorgeschlagen. Die „demokratische Republik“ ist ein Modell im Lösungsplan. Der wesentliche Geist der Lösung liegt in der Festlegung von Demokratie und Freiheit als Minimalbedingung. In den Eingaben wird die türkisch-kurdische Beziehung als Lösungsschlüssel behandelt. Außerdem werden die besonderen Seiten und Lösungsmethoden des Problems in Iran, Irak und Syrien aufgezeichnet. Hauptachse der Lösung stellt folgender Satz dar: „Die Föderation demokratischer Völker im Mittleren Osten entspricht der Einheit Demokratisches Kurdistan.“ Das Thema Lösung wird in allen Dimensionen untersucht und mit den hervorgebrachten Lösungsvorschlägen eine gereifte Entwicklung gezeigt. Für diejenigen, die die Vorhut in der Lösung darstellen, ist die Verinnerlichung der zu diesem Thema entwickelten Vorschläge Vorbedingung für die Verfolgung des richtigen Weges in der aktuellen Politik und für ein erfolgreiches Vorgehen. Die Frage der Frauenbefreiung ist ein wichtiges Thema in den Eingaben. Die Konzentration darauf und die Analyse und Lösung der Frauenfrage gehört zu den vorrangigsten intellektuellen Arbeiten von Herrn Öcalan. Er hat 118 Erläuternde Bemerkungen alles getan, was notwendig war, um einer Frauenrevolution den Weg zu ebnen. Seine Arbeiten auf diesem Gebiet bezeichnet er als „episch“ und „von großer Bedeutung“. Natürlich ist es undenkbar, dass sich diese Auffassung nicht in den Eingaben widerspiegeln könnte. In dieser Hinsicht ist das Manifest der demokratischen Zivilisation ein Manifest der Beziehungen und Lebensformen eines Systems, das zum Wohle der Menschheit auf die Frau ausgerichtet ist. In diesem Manifest wird in der Analyse des neolithischen Zeitalters beleuchtet, wie mit den Erfindungen der Frau die Grundsteine der Zivilisation gelegt wurden. Es wird aufgezeigt, wie die Frau einhergehend mit der Zivilisation aus dem Leben ausgestoßen wurde. Die Geschichte, die ohne Frauen geschrieben wurde, wird beurteilt und beinahe neu geschrieben: Die Achtung der Frau im Rang einer Göttin, ihr Status von Gleichheit, Freiheit und Führungskraft wird mit List und Gewalt zerstört. Der verlogene und grausame Mann versklavt mit der daraus gewonnenen Stärke und dem Mut auch sein eigenes Geschlecht und gründet das bestehende Herrschaftssystem. Diese Ordnung ist durch die Versklavung der Frau eingerichtet worden, und sie wird mit der Rückgabe der „ME“ [religiöse Gesetzgebung bei den Sumerern] zusammenbrechen. In diesem Sinne bedeutet die demokratische Zivilisation auch die Erneuerung der Grundsteine des neolithischen Zeitalters. Herr Öcalan hat der Frau die „ME“ schon vor langer Zeit zurück gegeben. Wichtig ist, dass sie sie annimmt und sich an die Spitze der neuen Zivilisation stellt. Beim Lesen der Eingaben wird man keine Schwierigkeiten damit haben, diese Perspektive zu erfassen. 119 Erläuternde Bemerkungen Die Eingaben bringen neben einer umfassenden Zivilisationsanalyse und der Bewertung von Geschichte, Politik, Ideologie und Philosophie Licht in die damit verbundene Wirklichkeit des „internationalen Komplotts“ [in dessen Rahmen der Vorsitzende der PKK in die Türkei entführt wurde] hinsichtlich Motiv, Durchführung und Ziele. Selbstverständlich bleibt es nicht bei der Aufklärung, gleichzeitig wird es verurteilt vor dem Gewissen des kurdischen Volkes und der gesamten Menschheit. Dem Komplott und der Zivilisation, auf der das Komplott aufbaut, wird mit einer Renaissance begegnet, mit einem alternativen Aufbruch, der eine Antithese darstellt. Nach diesem Manifest werden die Kräfte, die das Komplott ausgeführt haben, dazu gezwungen sein, eine Bilanz dieser Maßnahmen zu ziehen. Sie werden sich selbst fragen, ob ihr Tun wirklich richtig oder doch falsch gewesen ist. Mit dem Komplott haben sie bezweckt, Herrn Öcalan auszuschalten und die kurdische nationale demokratische Bewegung zu vernichten. Aber mit den Eingaben gelingt sowohl dem Vorsitzenden der PKK als auch der kurdischen Befreiungsbewegung ein Aufbruch, der mit der alten Position nicht zu vergleichen ist. Die PKK hat ihre momentane organisatorische und politische Haltung immer an der Haltung gemessen, die sie angesichts des internationalen Komplotts eingenommen hat. Aber in Zukunft wird sie ihre Haltung nicht mehr an einer einzig gegen das Komplott gerichteten Einstellung und einem oberflächlichen Folgen des Vorsitzenden messen können. Das wäre ungenügend. Ab sofort müssen die Haltungen danach bewertet werden, wie engagiert man sich im Aufbruch befindet, der als Renaissance 120 Erläuternde Bemerkungen in den Eingaben vorgesehen ist, und wie weit er vertreten wird. Mit dem internationalen Komplott und den Gerichten sind das Rechtswesen und der juristische Kampf als ein neues Thema auf die Tagesordnung getreten. Gab es vorher kein Rechtswesen? Zweifellos gab es das, aber weil wir KurdInnen im allgemeinen außerhalb des Rechtswesens standen, hatte es für uns nicht allzu viel Bedeutung. Deshalb ist das Rechtswesen ein etwas fremdes Gebiet. Sowohl aufgrund des Charakters der momentanen Phase als auch aufgrund der Öffnung des Rechtsweges wird in den Eingaben der juristische Kampf als ein wichtiges Gebiet gewertet. Um die Tür zur Lösung in der aktuellen Etappe durch eine Analyse des Rechtswesens mit einem juristischen Kampf einen Spalt weit zu öffnen, wird diesem Gebiet eine besondere Rolle zugeschrieben. Mit der Entwicklung demokratischer Rechte und Freiheiten in diesem Zeitalter ist es auch für das kurdische Volk zu einem wichtigen und beachtenswerten Bereich des Kampfes geworden, Fortschritte im Bereich des Völkerrechts zu erzielen, den Rechten der Völker im Sinne der drei Generationen von Rechten – den individuellen, politischen und ökonomischen – eine universelle Qualität zu verschaffen, neben den Kampfmethoden zur Verwirklichung dieser Rechte auch die eigenen Rechte einzufordern, und diesen Kampf auf einer Ebene zu führen, die auf die Änderung und Erneuerung bestehenden Rechtes abzielt. In diesem Sinne sind die Eingaben auch ein Dokument des ersten wichtigen Rechtskampfes der KurdInnen. Vor dem EGMR wird das Existenzrecht des kurdischen Volkes, 121 Erläuternde Bemerkungen sein Recht auf Sprache, Identität, Kultur und Freiheit, vor der ganzen Welt ausgebreitet und verteidigt. Der Kampf wird in der kommenden Phase schwerpunktmäßig als ein Rechtskampf weitergehen. Weil dafür die Ausrüstung fehlt, ist es eine dringende Aufgabe, heute damit zu beginnen und zu rüsten und sich das Verständnis und die Technik dieses Kampfes anzueignen. Der Teil der Eingaben, der speziell dem Rechtswesen und dem Rechtskampf vorbehalten ist, stellt den Beginn des Eintritts in dieses Gebiet dar. Wichtig dabei ist natürlich, den Kampf auf das Volk zu übertragen. Der Rechtskampf wird in historischen Prozessen von strategischem Wert ausgetragen und ebenso in breiter Form als tägliche Aufgabe der Völker in der Aneignung der eigenen Rechte. Die Eingaben sehen beides vor. Die Eingaben sind gleichzeitig eine Widerspiegelung der Realität von Herr Öcalan, mit der jahrelang Schwierigkeiten bestanden, sie zu begreifen und zu verstehen. Herr Öcalan sagt dazu: „Hiermit habe ich jedem – ob Freund oder Feind – gezeigt, wer und was ich bin.“ So betrachtet sind die Eingaben wie ein riesiger Spiegel. Beim Betrachten des Spiegels kann jeder auch ein bisschen sich selbst sehen. Natürlich werden darin die wirklichen Riesen von den Zwergen getrennt. Ein Weg, die Unzulänglichkeit im genossenschaftlichen Verhältnis zu überwinden, verläuft über den Blick in den Spiegel und das Maßnehmen der eigenen Größe. 122 Erläuternde Bemerkungen Letztendlich sind die Eingaben wie ein Meer, das die theoretischen Grundlagen für die „mentale Revolution“ bzw. die „demokratische Zivilisation“ liefert. Es ist nicht möglich, das Ende zu erreichen. Deshalb ist es ein grundlegendes Schulungsmaterial für die gesamte Menschheit. 123 Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt Abdullah Öcalan Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik Originaltitel: Sümer Rahip Devletinden Halk Cumhuriyetine Dogru Erste Auflage Oktober 2001, zweibändig (526 S./450 S.) Inhaltsverzeichnis ERSTER BAND Vorwort Erstes Kapitel: Sklavenhaltergesellschaft und zivilisatorische Entwicklung A- Sumerer: Zivilisation an den Ufern des Euphrat und Tigris B- Historische Rolle und Institutionalisierung der sumerischen Zivilisation C- Bleibende Resultate in der sumerischen Zivilisation D- Historische Entwicklung und methodische Probleme in der Ausbreitung E- Ausbreitungs- und Reifezeit der Sklavenhalter-Zivilisation 1- Ägyptische Zivilisation 2- Indien – Im Flussdelta des Pencap und Indus die Harapaund Mohenjadaro-Zivilisation 124 Inhalt – Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik 3- Chinesische Zivilisation F- Zeitalter der Sklavenhalter-Stadtstaaten im Mittleren Osten 1- Ackerbau und Viehzucht 2- Übergang zur Institutionalisierung und Stammesordnung 3- Von der Formierung der Zivilisation, einigen grundlegenden Klassenformen bis heute I- Hititer II- Hurri, Guti, Mitani, Urartu und Meder III- Zivilisierung im östlichen Mittelmeer: Erster gemeinsamer Einfluss der sumerischen und ägyptischen Systeme auf den östlichen Mittelmeerraum IV- Zivilisation der Girit V- Sumerische und ägyptische Zivilisation G- Widerstand gegen die Sklavenhalter-Zivilisation und Reform 1- Geburt der ersten monotheistischen Religionen und ihr Platz in der Zivilisation 2- Widerstand ethnischer Strukturen und SklavenhalterZivilisation 3- Entwicklung philosophischer Gedanken und Zivilisation (Kurze Geschichte der mentalen und geistigen Entwicklung) I- Zarathustra und Zarathustratum II- Buddhismus III- Konfuzius IV- Sokrates und das Zeitalter der gesellschaftlichen Philosophie H- Gipfel der Sklavenhalter-Zivilisation 1- Griechische Zivilisation 125 Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt a- Wurzeln im Neolitikum b- Wurzeln im Zivilisationszeitalter 2- Rom in der Sklavenhalter-Zivilisation 3- Aufbruch der Medya-Perser und Ost-West-Aufteilung I- Verfall der Sklavenhalter-Zivilisation 1- Geburt und Entwicklung 2- Reifezeit und Ausbreitung 3- Klassische Zeit der Zivilisation oder Zeitalter des Gipfels und des Zerfalls 4- Erbe der Sklavenhalter-Zivilisation Zweites Kapitel: Zeitalter der feudalistischen Zivilisation A- Ideologische Identität des feudalistischen Zeitalters B- Islamismus als revolutionäre Kraft des feudalen Zeitalters C- Institutionalisierung und Verbreitung der feudalen Zivilisation D- Gipfel und Niedergang der feudalen Zivilisation E- Statt eines Resümees Drittes Kapitel: Zeitalter der kapitalistischen Zivilisation A- Geburt und ideologische Identität der kapitalistischen Zivilisation B- Entwicklung und Institutionalisierung der kapitalistischen Zivilisation C- Zeit der Verbreitung und Gipfel der kapitalistischen Zivilisation D- Generelle Krise der Zivilisation und Zeitalter der demokratischen Zivilisation 126 Inhalt – Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik Viertes Kapitel: Ideologische Identität der neuen zivilisatorischen Entwicklung: Ort, Zeit und Bedingungen Fünftes Kapitel: Kann die kulturelle Tradition des Mittleren Ostens eine neue Zivilisationssynthese darstellen? ZWEITER BAND Sechstes Kapitel: Probleme des kurdischen Phänomens im Mittleren Osten und mögliche Lösungswege Einleitung A- Erläuterung grundlegender Begriffe 1- Gesellschaft 2- Stamm, Stammestum, Ethnizität 3- Nation und nationaler Staat 4- Militärische und politische Lösung 5- Demokratische und rechtliche Methode 6- Staatsbürgertum und Nationalität 7- Offizielle traditionelle Gesellschaft und Zivilgesellschaft 8- Liebe zum Land und Internationalismus B- Probleme der Methodik und Herangehensweise an das kurdische Phänomen C- Rahmen für die kurdische Geschichte 1- Neolithikum und Kurden 2- Sklavenhalter-Zeitalter und Kurden 127 Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt 3- Kurden im feudalen Zeitalter 4- Kurden im Zeitalter des Kapitalismus D- Die ethnische nationale demokratische Bewegung der Kurden 1- Zeit des primitiven feudalen Nationalismus 2- Zeit des bürgerlichen Nationalismus 3- Befreiungstendenz des Volkes 4- PKK: Geburt, Entwicklung, Zukunft E- Zur Lösung in der kurdischen Frage 1- Kurdische Frage in der Türkei und demokratische Lösung a- Zeit der feudalen Beys und Sultanate b- Nationalismus, Aufstand und Rückschlag c- Neustrukturierung der Republik und demokratische Lösung der kurdischen Frage 2- Nationale Frage und demokratische islamische Lösung im Iran 3- Kurdische Frage der Araber und Irak-Lösung 4- Syrien: Erlangung von Identität und Lösung durch demokratische Teilnahme Siebtes Kapitel: Als Freiheitskämpfer eines Volkes in der Umklammerung des Komplotts Einleitung 1- Geschichte der Komplotte und daraus zu ziehende Lektionen a- Komplotte im ersten Zeitalter und betrügerische Mythen b- Komplotte im Mittelalter und mit religiöser Maske 128 Inhalt – Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik c- Kapitalistischer Nationalismus und Faschismus als höchstentwickeltes Verschwörertum 1) 1800-1940 2) 1940-1975: KDP-Phase 3) 1975-2000 2- Die Realität des Komplotts in der PKK I- Von der Entstehung bis zur offiziellen Ausrufung II- 1978-88 Internes Komplott und Vernichtung III-1988-98 Bandentum und weltweite imperialistische Intervention 3- Komplotte gegen die PKK-Führung als Eingeständnis der Angst vor der freien Identität des kurdischen Volkes a- Zeit der Führungsgeburt für das Volk (1970-80) b- Soziologische Zersplitterung und Neustrukturierung der Persönlichkeit 4- Wie muss das innere Gesicht des Jahrhundert-Komplotts aufgefasst werden? a- Historische Komplotte halten die Entwicklung nicht auf, sondern beschleunigen sie b- Das Komplott vom 15.2. kann in einen dauerhaften Frieden und in Demokratie für die Völker verwandelt werden Achtes Kapitel: Kann das Rechtswesen Europas eine Lösungsmöglichkeit für die kurdische Frage hervorbringen? 1- Geburt und Entwicklung des Rechtswesens 2- Rolle des Rechtswesens bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme 129 Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt 3- Europas Rechtswesen, die Republik Türkei und die kurdische Frage 4- Imrali-Verurteilung, Europäische Menschenrechtsvereinbarung und Europäischer Menschenrechtsgerichtshof a- Meine Entführung und unrechtmässiges Vorgehen b- Todesstrafe und Nutzung als Druckmittel gegen das kurdische Volk c- Politische Lynchjustiz im Imrali-Prozess d- Freundschaftliche Einigung am EGMR, Dialog-Suche und dem Europa-Parlament zufallende Aufgaben Neuntes Kapitel: Apo-Identität – Vom Clan zum Volk 1- Natürliche Geburt, Auflösung der Clan-Kultur und der Zivilisations-Dschungel 2- Zweifel und revolutionäre Haltung zur Bekanntschaft mit der bürgerlichen Gesellschaft und der Republik 3- Durch Krieg sich selbst erschaffen, aber bis wohin? 4- Auf der Suche nach Frieden; Kritik und Selbstkritik Schlusswort I Schlusswort II Urfa-Verteidigungsrede 130 131 132 Fußnoten Fußnoten 1 Seldschuken und Oguz-Stämme: Die turksprachigen pastoral-nomadischen Oguz-Stämme von zentralasiatischer Herkunft siedelten im frühen Mittelalter um das kaspische Meer und den Aralsee, von wo aus sie sich zunächst über Khorasan im Iran verbreiteten. Mehrere dieser Stämme bekannten sich zum sunnitischen Islam, und der Clan der Seldschuken erlangte im 11. Jahrhundert militärischen und politischen Rang im Iran und konnte dort einen Staat errichten. Türkischstämmige Berufssoldaten waren schon früh in den Armeen der Abbassiden (siehe Fußnoten 32 und 17) verbreitet und konnten hohen Rang erreichen. Im Jahre 1055 wurde die Militärherrschaft der ebenfalls kaspischen, schi´itischen Buyiden über Baghdad beendet, und der abbassidische Kalif alQa´im ernannte die sunnitischen Seldschuken zu Militärbefehlshabern und Verwaltern seiner Autorität, d.h. zu Sultanen. Die seldschukischen Sultane konnten einerseits das (nominell abbassidische) Reich erheblich vergrössern und festigen, förderten andererseits die Migration türkischer Stämme nach Westen. 2 Schlacht von Malazgirt oder auch Manzikert: Die seldschukische Armee unter Alp-Arslan besiegte im Jahre 1071 das byzantinische Heer bei Manzikert, dem heutigen Distrikt Malazgirt in der kurdischen Provinz Mus, und öffnete somit ein Einfallstor für die Besiedlung Anatoliens durch türkische pastorale (Oguz-) Stämme und die darauf folgende Transformation Anatoliens von griechischsprachigem christlichem Territorium zu einem türkischsprachig-muslimischen. Hauptgrund für den Sieg gegen die militärisch überlegenen Byzantiner war die Unterstützung des seit 1055 durch die Abbassiden favorisierten Seldschuken durch die muslimischen lokalen kurdischen Stämme. 3 In den mehr als 4 Jahrhunderten zwischen Errichtung des ersten seldschukischen Staates im nordwestlichen Iran und der Einnahme Konstantinopels durch den osmanischen Sultan Mehmet den Eroberer 1453 gewannen türkischstämmige Familien stetig an militärischem und politischem Einfluss in der gesamten islamischen Welt und ersetzten so auch zunehmend lokale Herrscher und Unterverwalter. 4 Anspielung auf Pax Romana, hier also: Garant gegenüber den unterworfenen Völkern, diese im Rahmen der Verteidigung des Großreiches vor äußeren Angriffen zu schützen und ihre internen Konflikte per Intervention der Zentralmacht gütlich zu regeln. 5 Namik Kemal: Dichter, Dramaturg und Hauptvertreter der politischen Ideen der Jung- oder Neo-Osmanen, die angesichts der wachsenden Marodität des Sultanats in den 1860er und 1870er Jahren auf Grundlage der rechtlichen Gleichheit aller osmanischen Bürger (seit 1856) die Idee eines säkulären osma- 133 Fußnoten nischen Territorialstaates vertraten. Verbundenheit mit diesem Staat, i. e. Patriotismus im europäischen Sinne, sollte verschiedenen religiösen Gemeinschaften und deren Machtträgern gegenüber bestehende Loyalitäten ablösen. Dementsprechend war ihr Ziel die konstitutionelle Monarchie, die unter dem Begriff Mesrutiyet (mashrutiye, arab: Begrenzung oder Bedingtheit von Macht) 1876, wenn auch inhaltlich und zeitlich begrenzt, erstmalig eingerichtet wurde (siehe Fußnote 7). 6 Ittihat ve Terraki Firkasi (osman.): Komitee für Einheit und Fortschritt, wurde 1889 als geheime Protestgesellschaft unter Kadetten osmanischer Militärakademien und Beamten gegen die repressive Herrschaft Abdul-Hamids gegründet. Die Bewegung verlangte zunächst die Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie und am Westen orienterte Reformen, eine Forderung, die sie 1908 durch Androhung einer Revolte in der Armee durchsetzte. Vier Jahre nach Abdankung Abdul-Hamids richtete das Komitee 1913 eine de facto-Militärherrschaft unter dem Triumvirat Enver Pasha, Talat Pasha und Cemal Pasha ein. Die Bewegung verliert damit ideologisch und politisch gesehen an Heterogenität. Ideologisch gesehen setzt sich das Komitee vom inzwischen angesichts der Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker und der arabischen Provinzen kompromittierten Neo-Osmanismus (Fußnote 5) ebenso ab wie vom rückwärtsgewandten Panislamismus (Fußnote 7) und bezieht sich auf die verbindenen Elemente aller türkischsprechenden Völker von Anatolien bis China. Dieser Pantürkismus fordert in seiner Extremform die Errichtung eines Großreiches für all diese Turkvölker, in seiner pragmatischeren Variante die Überlegenheit der türkischen Kultur gegenüber den anderen Völkern des osmanischen Reiches und dementsprechend einen türkischen Nationalstaat. 7 Sultan Abdul-Hamid II. (Regentschaft 1876-1909), der letzte osmanische Sultan mit uneingeschränkter monarchischer Gewalt. Bei seiner Thronbesteigung akzeptiert er zwar die Verfassung von 1876 und deren parlamentarische Mechanismen, suspendiert diese aber bereits nach zwei Jahren. In Reaktion auf Reformund Modernisierungsbestrebungen geriert er sich als Kalif, also als Herrscher über alle Muslime der Welt, und nivelliert somit die Ansprüche anderer religiöser Gruppen auf politische Gleichheit. Unter Abdul-Hamid werden in den 1890ern erstmals (sunnitische) kurdische Freikorps gegen (christliche) armenische ZivilistInnen gehetzt, um armenische Nationalstaatsbestrebungen zu unterdrücken. Der 1909 durch das Komitee für Einheit und Fortschritt abgesetzte Abdul-Hamid vertrat dem westlichen Imperialismus gegenüber eine berüchtigt äquivoke Politik, die sich an seinen Eisenbahnprojekten illustrieren lässt: Einerseits lässt er durch Spenden von Muslimen aus aller Welt die Hijaz-Eisenbahnline von Damaskus nach Mekka bauen (Fertigstellung 1908), mit der die jährliche Pilgerfahrt erleichtert werden soll und die zum Symbol für Modernisierung in Freiheit von europäischen Kapitalinvestitionen stilisiert wird, andererseits aber lädt er 1882 den preußischen General Colmar von der Goltz ein, 134 Fußnoten um das osmanische Heer zu reformieren und billigt den Bau eines Eisenbahnnetzes in Abhängigkeit von deutschem Kapital (Berlin-Baghdad-Bahn) bei gleichzeitiger Öffnung des Reiches für britische und französische koloniale Unternehmungen. Interne Opposition jeglicher Couleur wird unter Abdul-Hamid II. brutal unterdrückt. 8 Schlacht von Malazgirt: siehe Fußnote 2 9 Schlacht von Chaldiran: Nach 15 Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen um Anatolien und Mesopotamien zwischen Shah Ismail (Regierungszeit 1494-1524), dem Begründer der persischen Safavidendynastie, und der Osmanischen Armee besiegte die letztere das Heer Ismails 1514 bei Chaldiran (in der heutigen kurdischen Provinz Van) und konnte so die osmanische Vorherrschaft in Anatolien, über Kurdistan und später auch den heutigen Irak konsolidieren. Interessant ist, dass sowohl die Safaviden sich auf kurdische und türkische Stämme stützten, als dass auch die Osmanen eine Allianz mit kurdischen Fürstentümern eingegangen waren. Shah Ismail etablierte historisch erstmalig das Schi´itentum als Staatsreligion Persiens. 10 Zarathustra/Zoroaster (pers.: Zardusht): Prophet und Moralreformer im Persien des 7. Jahrhunderts v.Chr., der eine gleichheitsorientierte Lehre auf der Grundlage eines philosophischen Dualismus formulierte (Antagonismen von Gut und Böse, Licht und Dunkelheit), in der (zeitgleich mit den alttestamentarischen Propheten) erstmals dem Individuum Entscheidungsfreiheit und moralische Verantwortung eingeräumt werden. Von einigen Forschern als Stifter der zweiten monotheistischen Religion angesehen. Quellenlage äusserst begrenzt. Öcalan betont im ersten Band seines Werkes den ideologischen Einfluss Zarathustras auf die Transformation der medischen (kurdisch-persischen) Stammeskonföderation zum Mederreich, einer weniger despotisch-grausamen Formation als das Assyrische Reich. 11 Ahura Mazda: Name der Gottheit in der durch Zarathustra begründeten Religion. Ihr gegnüber steht die Verkörperung der Finsternis, Ehriman. Ursprünglich individuell-dualistische Morallehre, wird der Mazdaismus im persischen Sassanidenreich (234-634 n. Chr.) zur Staatsreligion und zum Zeremonialkult der herrschenden Elite, von der sich Grossteile der Bevölkerung allerdings entfremden. 12 ahl (arab.): religiös begründeter Führungsanspruch im Islam 13 Schi´a: Eine der beiden Hauptkonfessionen im Islam. Das Wort bedeutet soviel wie Parteigänger, womit die Parteigänger des 4. Kalifen Ali Ibn Abi Talib (Regentschaft 656-61 n. Chr.) gemeint sind (siehe auch Fußnote 19). Ali war zwar auch aus dem Stamm des Propheten Muhammed, der Quraysh, aber verfeindet mit dem Clan des von Gegnern ermordeten 3. Kalifen Uthman [Osman] Ibn Affan (Regentschaft 644-656). Als seine Kalifenschaft durch diese ange- 135 Fußnoten fochten wurde, liess sich Ali auf Kompromiss und Vermittlung durch Dritte ein, fiel allerdings 661 einem Attentat zum Opfer. Sein Neider Mu´awiya ibn Abi Sufyan (661-680) proklamierte sich selbst zum Kalifen und gründete die Dynastie der Ummayyaden (siehe Fußnote 20). Im Jahre 680 n.Chr. führte Alis Sohn al-Hussayin Ibn Ali eine Revolte gegen die Ummayyaden an, die bei Karbala im heutigen Irak blutig niedergeschlagen wurde. Das Märtyrertum Hussayins und anderer Verwandter des Propheten Muhammed wird von den Anhängern Alis, also den Schi´iten, zum Gründungsmythos ihrer geistig und politisch oppositionellen Haltung gegenüber dem in der absolutistischen Monarchie des Kalifats unter den Ummayyaden institutionalisierten Islam (auf den sich die Sunniten berufen) verarbeitet. Die erste offizielle Institutionalisierung des schi´itischen Islams erfolgte durch die (vom sunnitischen Kurden Saladin Ayyubi abgelöste) ismailitische Fatimidendynastie in Ägypten (969-1171) und für den Iran unter Shah Ismail (1494-1524) im safavidischen Reich (siehe Fußnote 9). Auch die Aleviten beziehen sich auf Ali und Hussayin, weichen aber von der Schi´a in Katechismus und Liturgie stark ab. 14 Sumerisches Sklaventum: Öcalan sieht im sumerischen Staat – der auch den Titel seines Werkes bestimmt – die historisch erste Form von Patriarchat, Klassenwidersprüchen und Sklaventum in Form eines von Priestern regierten, vordynastischen Verwaltungsapparates. Mit seiner Analyse der sumerischen Theokratie zielt er darauf ab, bleibende Erscheinungsformen der o. g. Unterdrückungsverhältnisse in der mittelöstlichen Gesellschaft bis zum heutigen Tage aufzuzeigen und gleichzeitig die Geschichte der geistigen und materiellen Gegenbewegungen zu einem positiven Bezugspunkt aktueller Demokratisierungsbemühungen zu machen. Alle in diesem Kapitel auftauchenden historischen Begriffe werden im ersten Band seines Werkes eingehend diskutiert. 15 Manichäismus oder Maniismus: Mani von Ctesiphon (216-274 n. Chr.), geboren in Mesopotamien, ist Begründer einer religiös-philosophischen Weltanschauung, die sich als Synthese aller vorherigen religiösen Systeme begreift und dementsprechend Toleranz und Dialog predigt. Die oft als eine nachchristlich-gnostische Reform der Lehren Zarathustras bezeichnete Lehre Manis basiert auf der Annahme, dass alles Leben im Dualismus von Materie und Geist, Licht und Dunkelheit, Wahrheit und Falschem etc. begriffen werden kann. Mani selbst konnte mit seiner Lehre zwar zu seinen Lebzeiten Menschen aus verschiedensten Kulturkreisen des Ostens gewinnen, fiel aber der Feindschaft des mazdaistischen Priestertums im Sassanidenreich zum Opfer und wurde zu Tode gemartert. Sein Tod führte jedoch im Gegensatz zu dem des Jesus Christus nicht zu einer weiteren Verbreitung seiner Lehre, sondern zu einem Rückgang seiner Gefolgschaft. Da die meisten schriftlichen Dokumente seiner Lehre vernichtet worden sind, ist der Manichäismus vor allem einerseits aus hellenistischen Quellen bekannt, in denen die Lehre abwertend als grober Dualismus dargestellt wird, und andererseits aus der Überlieferung einiger christlicher 136 Fußnoten Gemeinden, die bis ins Hochmittelalter hinein Züge von Manis Denken gegen die Doktrin der römisch-katholischen Kirche vertraten. 16 Mazdeken und Hurremiten: Die Mazdeken (arabisch: Khorramiyah) gehen auf eine religiöse Gemeinschaft zurück, die bereits im späten Sassanidenreich die egalitären und monogamen Traditionen der ursprünglichen Zarathustralehre versetzt mit dem erneuernden Einfluss des Manichäismus gegenüber der offiziellen mazdaistischen Religion zu bewahren versuchten. Mit der Zerstörung des Sassanidenreiches und der Errichtung des Kalifats verwandelten sich die Mazdeken in eine breite Volksbewegung des heterodoxen Islam im gesamten Gebiet des heutigen Iran, die in Form einer religiösen Gemeinschaft die Werte von Gleichheit an Eigentum, Ablehnung der Polygamie u.ä. gegenüber der ummayyadischen Macht zu verteidigen suchten. Die Hurremiten gehen auf dieselbe Tradition zurück. Als eine religiös-soziale Protestbewegung unter der Führung einer Frau [Hurrayim, deren Mann Javidan ibn Sahl ermordet wurde] befand sich die ethnisch heterogene Bewegung als Sammelbecken aller nichtarabischen Völker (Die Khariji: PerserInnen, KurdInnen, ArmenierInnen, TürkInnen, afrikanische SklavInnen [zanj], AssyrerInnen etc.) von 816 bis 837 im Aufstand gegen die Abbassiden – also zu jener Zeit, als sich eine Konvertierung der unterworfenen Völker zum Islam anzubahnen begann. Die Hurremiten gelten als heterodoxe islamische Bewegung und werden von den Sunniten mit dem Begriff Rotköpfe belegt, wie später auch die Aleviten. 17 Abu Muslim: Abu Muslim aus Khorasan (Iran) war ein Abgesandter und später militärischer Führer jener oppositionellen Bewegung, die 749 n. Chr. die Herrschaft der Ummayyadischen Dynastie beendete. Allerdings wurde der letzte der Ummayyaden, Marwan II., nicht durch einen Nachkommen Alis abgelöst, sondern durch einen Nachkommen des Onkels des Propheten Muhammeds, Abbas. Abu´l-Abbas (749-754) begründete ein neues Herrscherhaus, die Abbassidische Dynastie mit Machtzentrum in Baghdad, und liess Abu Muslim und seine Gefolgschaft ermorden. Die Abbassiden herrschten bis 1258 (siehe Fußnote 32). 18 Die Zwölf Imame: Nach Ansicht der Mehrheit der Schi´iten sind die Nachfolger des letzten der Rashidun, des ermordeten Alis, heilige Figuren (Imame), deren zwölfte, Muhammad al-Muntazaar (nach 874 n.Chr.) von Gott der Welt enthoben wurde und am Jüngsten Tag (mahshar) zurückkehren wird. Dagegen akzeptieren die Ismailis und die Zaydis eine andere Linie der Imame. 19 Al-Rashidun (arab: die Rechtschaffenen oder Gottgeleiteten): Begriff für die ersten vier Kalifen im Islam, die von der jungen Gemeinde der Muslime als direkte Nachfolger des Propheten Mohammeds jeweils gewählt wurden. Abu Bakr [Bekir] (632-634), Umar [Ömer] ibn al-Khattab (634-644), Uthman [Osman] ibn Affan (644-656) und Ali ibn Abi Talib (656-661) stammten alle aus dem Stamm der Quraysh, aus dem auch der Prophet Muhammed hervorging, und waren von Anbeginn an sowohl geistig-religiöse als auch militärisch- 137 Fußnoten politische Führer, unter denen der Islam in Auseinandersetzung mit dem Byzantinischen und dem Sassanidischen Reich seine Herrschaft über die gesamte arabische Halbinsel, Persien, Irak, Syrien und Ägypten behaupten konnte. Auf die von der muslimischen Gemeinde gewählten und bis heute von allen Muslimen als rechtmässige Nachfolger des Propheten anerkannten Rashidun folgte die Dynastie der Ummayyaden in Form einer Erbmonarchie. 20 Ummayyadendynastie: 661 n. Chr. mit der Ermordung des vierten Kalifen, Ali, von Mu´awiya ibn Abi Sufyan I. etablierte Erbdynastie mit Machtzentrum in Damaskus. Die Ummayyaden eigneten sich im Zuge ihrer unaufhörlichen Machtexpansion die bestehenden bürokratischen Strukturen des eroberten Sassanidenreiches an und richteten ein stehendes Heer ein. Damit stiessen sie über Nordafrika bis nach Südspanien vor und etablierten Arabisch als Amtssprache in allen unterworfenen Provinzen. Unter den Ummayyaden wird der Islam zu einer verfestigten und mit politischer Herrschaft verbundenen Doktrin, es besteht jedoch zunächst kein Konversionszwang für AnhängerInnen anderer Religionen. 21 KDP: Demokratische Partei Kurdistans, ursprünglich kurdische Nationalbewegung in allen von KurdInnen besiedelten Gebieten. Gegründet im Herbst 1945 durch Qadhi Mohammed (siehe Fußnote 24) aus iranisch-Kurdistan unter Beteiligung von Mollah Mustafa al-Barzani aus irakisch Kurdistan. Noch zu Zeiten der Republik Mahabad gründete Barzani mit Hamza Abdullah eine separate irakische KDP und zerwarf sich mit dem irakischen Kurden Ibrahim Ahmed, Parteigänger Qadhi Mohammeds, der allerdings 1951 zum Generalsekretär der irakischen KDP wurde. Bereits seit 1961 wird die KDP zum Vehikel von Stammeskämpfen der Barzans gegen ihre traditionellen Feinde. 1966 kämpfen Ahmed und Jalal Talabani auf Seiten der irakischen Regierung gegen Barzani, der Unterstützung durch den iranischen Schah und ab Anfang der 1970er Jahre auch beträchtliche Finanzmittel von den USA erhält. 1975 erlebt die kurdische Nationalbewegung des Irak eine schwere Niederlage, als Teheran aufgrund eines Abkommens mit Baghdad die Unterstützung entzieht. Im März 1975 Gründung der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) durch Jalal Talabani, während die Führung der KDP durch Mollah Mustafa Barzanis Sohn, Massoud Barzani, übernommen wird. Die iranische KDP bleibt nach Zerschlagung der Republik von Mahabad über lange Zeit ohne nennenswerten Einfluss und entwickelt sich im Schatten Barzanis, bis Anfang der sechziger Jahre AbdulRahman Ghassemlou der Partei wieder Profil verleiht (siehe Fußnote 25). In der Türkei bleibt die KDP eine in sich zerstrittene Gruppierung einiger feudaler Stammesführer ohne nennenswerten Einfluss. 22 Ubaidullah: Kurdischer Adliger und religiöser Führer. Scheich Ubaidullah begann 1881 einen religiös-stammestümlich orientierten Aufstand gegen den iranischen Schah. Im Unterschied zu verschiedenen kurdischen Aufständen gegen das osmanische Reich, die durch die Briten unterstützt wurden, bemüh- 138 Fußnoten te sich Ubaidullah, dessen Stammensgebiet bei Semdinli/Hakkari lag (also im iranisch-osmanischen Grenzgebiet auf osmanischer Seite), um osmanische Unterstützung im Kampf gegen den Iran und nahm zeitweise ein Gebiet bis weit über Urmiya hinaus unter seine Kontrolle. Sein Plan, dieses Gebiet zu konsolidieren, um später mehr Autonomie für die Kurden gegenüber dem osmanischen Reich zu fordern, scheiterte allerdings. 23 I. Simko: Iranisch-kurdischer Feudalherr. Einer der Stammesführer, die in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg in der Atmosphäre der Desintegration der iranischen Zentralmacht angesichts der fortdauernden Besetzung des Südens des Landes durch die Briten und des noch frischen Abzugs der russischen Truppen aus dem Norden (die seit 1908, zu Zeiten des Zaren, im Einvernehmen mit Grossbritannien und zur Zerschlagung der konstitutionellen Bewegung die Hälfte des Landes besetzt hatten und nach der Oktoberrevolution durch die Bolschewisten zurückgezogen wurden) regionale Aufstände entfachten, dabei allerdings von Kolonialmächten gelenkt wurden. Ab 1921 führte das iranische Militär unter dem späteren Schah Reza Khan [Pahlevi] entscheidende Schläge gegen die Bewegungen Simkos und anderer aus. 24 Republik von Mahabad: Als nach Ende des zweiten Weltkrieges sowjetische Truppen in Verletzung eines sowjetisch-iranischen Vertrages von 1941 weiterhin in der iranischen Provinz Aserbeidschan stationiert blieben, folgte die Provinzregierung Iranisch-Aserbeidschans im November 1945 dem inspirierenden Beispiel der sozialistischen Sowjetrepublik Aserbeidschan und erklärte ihre Autonomie. Am 22. Januar 1946 riefen dann kurdische Patrioten im angrenzenden iranischen Kurdistan die autonome Republik von Mahabad aus. Unter starker US-amerikanischer und britischer Unterstützung konnte die iranische Zentralregierung durch eine Beschwerde beim neugegründeten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Abzug der sowjetischen Truppen im Frühjahr 1946 erwirken. Im Iran wurde die Regierung durch konservative Kräfte gestürzt. Sofort stürmten die Truppen des Schahs die Republiken Aserbeidschan und Mahabad und zerschlugen die jeweiligen Autonomiebewegungen. Die kurdische Republik von Mahabad musste sich am 16. Dezember 1946 ergeben, Barzani wurde aus dem Iran vertrieben und Qadhi Mohammed exekutiert, doch ging das kurzlebige Experiment als einziger Versuch von Eigenstaatlichkeit in die kurdische Geschichte ein. 25 Ghassemlou: Der iranische Kurde Abdul-Rahman Ghassemlou war in den 1950ern Professor für orientalische Sprachen und Literatur an der Pariser Sorbonne und vom Gedankengut der nationalen und antikolonialen Befreiungsbewegungen inspiriert. Anfang der 60er kehrte er nach Kurdistan zurück und wurde Generalsekretär der KDP Iran, die unter seiner politischen Vision und seinem diplomatischen Geschick zum wichtigen Bestandteil der Opposition gegen den Schah wurde. Im Zuge der Revolution wich das Konzept von Eigenstaatlichkeit nach dem Modell Mahabads einem flexibleren Konzept von Födera- 139 Fußnoten lismus im Rahmen einer iranischen Republik, doch wird Ghassemlou nach Umschlag der Volksrevolution in eine islamische Ende 1979 in Wien durch Agenten des Ayatollah Khomeini ermordet. 26 Abraham: Öcalan bezieht sich auf den Patriarchen Abraham einerseits als eine ökumenische Figur, die für Judentum, Christentum und Islam gleichermassen ätiologisch am Anfang der monotheistischen Religion steht, andererseits aber Kraft der (im hellenistischen Judentum und im Qur´an belegten) Erzählung von der Zerstörung der Götzenfiguren des Tyrannen Nimrod durch Abraham und dessen politisch-religiöser Verfolgung, die erst zum Auszug nach Kanaan führt, als symbolische Widerstandsfigur armer semitischer Stämme gegen antike Grossreiche und als monotheistisch-emanzipatorischer Vorstoss gegen imperialen Götzen- und Herrscherkult. Alle drei Dimensionen der Abrahamgestalt haben somit für Öcalan zeitgeschichtlichen Gehalt. 27 Kawa: mythologische Figur, auf die sich die traditionelle Newrozlegende bezieht. Der Sage nach erschlug der kurdische Schmied Kawa den Tyrannen Dehak und zündete ein Feuer auf einer Berganhöhe an. Vermutlich geht die Legende auf einen der Volksaufstände der medischen Stammeskonföderation gegen das langsam zerfallende assyrisch-babylonische Reich zurück (Beginn des 1. vorchristlichen Jahrtausends). 28 Harran: antike und mittelalterliche Kultur- und Handelsmetropole, heute Kreisstadt in der kurdischen Provinz Urfa (archäologische Ausgrabungsstätte). Harran gilt in der alttestamentarischen Tradition als Heimatstadt des Patriarchen Abraham. 29 Das Wort arisch (etymologisch abgeleitet vom sumerischen ar: der Pflug und ard: die Erde) bezeichnet in der historischen Forschung jene vorgeschichtlichen und antiken Stammesgruppen, die sich seit dem Neolithikum im oberen Zweistromland als sesshafte AckerbauerInnen entwickelten und bereits vor Herausbildung der städtischen Zivilisation ihre Kulturerrungenschaften vom östlichen Mittelmeerraum bis zum Industal verbreiteten. Die semitischen Stämme hingegen sind historisch gesehen die aus dem Bereich der arabischen Halbinsel hervorgegangenen und aufgrund klimatischer Bedingungen stärker mit Viehzucht und Handel beschäftigten Bevölkerungsgruppen. Aus beiden gehen vorgeschichtliche Sprachfamilien hervor: aus dem Arischen die indo-europäische, zu der auch das Persische und das Kurdische zählen, aus dem Semitischen die hebräische, aramäische, assyrische und arabische Sprache. Öcalan betont, dass diese Begriffe unbedingt von den rassistisch-biologistischen Konnotationen befreit werden müssen, die ihnen im Europa des 19. Jahrhunderts und später durch den Faschismus angeheftet wurden, und sieht sämtliche Völker des Mittleren Ostens als Mischvölker an. 30 Siehe Fußnote 26. 140 Fußnoten 31 Dieser historische Prozess ist im ersten Band von Öcalans Werk ausführlich geschildert und kann hier nicht erläutert werden. 32 Abbassidendynastie: (Siehe auch Fußnote 17) Die Abbassiden waren die zweite arabisch-islamische Kalifendynastie und regierten zwischen 749 und 1258 n.Chr. ein Weltreich, das sich von Zentralasien bis nach Algerien erstreckte. Gleichzeitig entstanden und vergingen allerdings viele unabhängige, teilweise lokale Muslimdynastien im spanischen Andalusien, in Marokko, Ägypten und Zentralasien/Iran, darunter auch die türkischen Seldschuken und die kurdische Ayyubische Dynastie (1169-1260), die auf den kurdischen Strategen Salah-alDin [Saladin oder Selahattin] Ayyubi (Regentschaft 1169-93) zurückgeht, der die europäischen Kreuzritter zurückschlug und daraufhin in Ägypten, Syrien und Westarabien regierte. 33 Schleifung des Sassanidenreiches durch die arabisch-islamische Bewegung in einem Prozess, der 629 n. Chr. noch zu Lebzeiten des Propheten Muhammed begann und unter den ersten beiden Kalifen fortgeführt wurde. Bedeutete das Ende der vorislamischen persischen Grossreichtradition und Kultur. Während Persien die arabische Schrift adaptiert und langsam islamisiert wird, übernehmen die ummayyadischen Kalifen Verwaltungsstrukturen und bürokratische Kader des Sassanidischen Reiches. 34 Scheich, Seyyid und Mollah: Verschiedene Grade im islamischen Klerus. Der Scheich ist gleichzeitig oftmals Grundbesitzer und im osmanischen Reich traditionell Verwaltungsbeamter, Seyyid ist jemand, der Abstammung von der Linie des Propheten behauptet, der Mollah religiöser Lehrer und Prediger im Dienst des Scheichs. 35 Monarchie im Irak: Seit der Zerstörung des abbassidischen Kalifats von Baghdad durch die Mongolen 1258 gehörte die umliegende Region verschiedenen Imperien an. Im ersten Weltkrieg sendet Grossbritannien (indischstämmige) Truppen nach Mesopotamien und kann 1917/18 Baghdad, Kirkuk und Mosul besetzen. Gleichzeitig rebellieren von den Briten ausgestattete und von T.E. Lawrence gelenkte arabische Truppen in anderen arabischen Provinzen gegen das osmanische Reich. Ihr Anführer Amir Faysal Ibn Hussayin wird nach der Aufteilung der den Osmanen entrissenen Provinzen [„Mandaten“] zwischen Frankreich und Grossbritannien im August 1921 nach Direktiven des Kolonialministers Churchill zum König des Iraks gekrönt. Da König Faysal Sohn des Amirs von Mekka [Verwalter der Heiligen Pilgerstätten], Sharif Hussayin Ibn Ali, ist, den die Briten als religiös-politische Identifikationsfigur für Muslime gegen das osmanische Sultanat aufgebaut hatten, bekommt die irakische Monarchie den Anstrich einer Fortsetzung der islamischen Theokratie. Am 3. Oktober 1932 wird der Irak als konstitutionelle Monarchie nominell in die Unabhängigkeit entlassen. Im zweiten Weltkrieg wieder britische Besatzung. Erst am 14. Juli 1958 stürzen nationalistische Offiziere die Monarchie. Die Briten schufen schon zu Beginn ihrer Herrschaft ein eigenes Rechtssystem für die Stämme, um die 141 Fußnoten Macht der Grossgrundbesitzer zu stärken, und ernannten ´geeignete´ Stammesführer zu ‚Regierungsscheichs‘. Andererseits wurden aus der assyrischchristlichen Bevölkerungsgruppe schon vor dem ersten Weltkrieg besondere britische Söldner rekrutiert, was Feindschaft gegenüber den Assyrern verstärkte. Die drei völlig heterogenen Provinzen Basra (Südirak/Golf, arabisch-schi´itisch), Baghdad (zentrales Zweistromland, arabisch-sunnitisch) und Mosul/Kurdistan (Nordirak, kurdisch-sunnitisch) werden erstmals durch die Briten zu einem Verwaltungsganzen zusammengefügt. 36 Siehe Fußnote 21. 37 Siehe Fußnoten 26 und 28. 38 Urfa ist Heimat Abdullah Öcalans und aufgrund seiner starren, rückständigen Feudalstrukturen Ort der ersten Organisierungs- und Kampfversuche der PKK gegen feudale Grossgrundbesitzer Ende der 70er Jahre. Viele Familien aus Urfa haben Verwandte jenseits der syrischen Grenze. 142