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contribution. Full citation:
Lemke, T. (2017). Einführung zu „Neue Materialismen“. In: Bauer, S., Heinemann, T. &
Lemke, T. (Hg.). Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle
Perspektiven. Berlin: Suhrkamp, 551-573.
Thomas Lemke
Neue Materialismen1
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine
bemerkenswerte Neuorientierung und Akzentverschiebung zu beobachten: Dinge, Artefakte
und Objekte werden zunehmend thematisiert und neu konzeptualisiert.2 Theoretische
Perspektiven und empirische Studien, die sich verschiedenen Aspekten und Formen von
„Materialität“ widmen, treten tendenziell an die Stelle von bzw. ergänzen Forschungsarbeiten,
die auf soziale Konstruktionen, kulturelle Praktiken oder diskursive Prozesse fokussieren.
Innerhalb dieser allgemeinen theoretischen Konjunktur haben in den vergangenen Jahren die
sogenannten Neuen Materialismen besonders große Resonanz erfahren.3 Gemeinsam ist ihnen
die Überzeugung, dass der „linguistic turn“ oder primär semiotisch verfahrende Ansätze
unzureichend
sind,
um
das
komplexe
und
dynamische
Zusammenspiel
von
Bedeutungsprozessen und materiellen Anordnungen zu erfassen.
Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Neuen Materialismen keinen homogenen Denkstil
oder eine in sich kohärente Denkschule darstellen. Es handelt sich eher um einen
Dieser Beitrag greift auf bereits veröffentlichtes Material zurück, vgl. Thomas Lemke, „‚Die Regierung der
Dinge‘. Politik, Diskurs und Materialität“, in: Zeitschrift für Diskursforschung 2 (2014), S. 250–267; Thomas
Lemke, „Varieties of Materialism“, in: BioSocieties 10 (2015), S. 490–495; Katharina Hoppe, Thomas Lemke,
„Die Macht der Materie. Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad“, in: Soziale Welt
66 (2015), S. 261–280. Für Anregungen und Kritik danke ich Katharina Hoppe und Matthias Rudolph für die
Unterstützung bei der Formatierung und Fertigstellung des Manuskripts.
2
Vgl. z.B. Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.), Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge,
Mass. 2005; Amiria Henare u.a. (Hg.), Thinking Through Things. Theorising Artefacts Ethnographically,
London, New York 2007; vgl. auch Gustav Roßler, „Kleine Galerie neuer Dingbegriffe. Hybriden, QuasiObjekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge“, in: Georg Kneer u.a. (Hg.), Bruno Latours Kollektive.
Kontroversen zu Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt am Main 2008, S. 76–107.
3
Vgl. etwa Myra Hird, „Feminist Matters. New Materialist Considerations of Sexual Difference“, in: Feminist
Theory 5 (2004), S. 223–232; Diana Coole, Samatha Frost (Hg.), New Materialisms. Ontology, Agency, and
Politics, Durham, London 2010; Rick Dolphijn, Iris van der Tuin (Hg.), New Materialism. Interviews &
Cartographies, Ann Arbor 2012.
1
1
Sammelbegriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Orientierungen und
disziplinärer Perspektiven abdeckt. Die theoretischen Bezüge sind extrem breit gestreut und
umfassen Aktualisierungen des antiken Atomismus in der Tradition von Demokrit und
Lukrez, aber auch moderne Vitalismuskonzepte, die auf die Arbeiten von Bergson und
Deleuze rekurrieren. Anschlüsse an Derridas Dekonstruktivismus sind ebenso vertreten wie
systemtheoretische Perspektiven; darüber hinaus finden sich in dem Feld auch Arbeiten, die
sich
an
quantenphysikalischen
Theoremen
oder
evolutionstheoretischen
Prinzipien
orientieren. Das disziplinäre Spektrum reicht von der feministischen Theorie4, der
Kunsttheorie5 und der politischen Theorie6 über die Philosophie7 und Medientheorie8 bis hin
zur Geographie9, Archäologie10 und den Literaturwissenschaften11.
Besonders einflussreich ist diese Forschungsperspektive in den (STS). Debatten um den
ontologischen Status von Materialität haben das Feld in den vergangenen Jahren entscheidend
geprägt und zu leidenschaftlichen Kontroversen über zukünftige Schwerpunktbildungen,
theoretische Abgrenzungslinien und methodische Präferenzen geführt.12 Im Folgenden
werden zunächst Grundzüge und zentrale Thesen der Neuen Materialismen vorgestellt und
theoriehistorische Differenzen zu älteren bzw. konkurrierenden Versionen des Materialismus
herausgearbeitet. Der zweite Teil des Beitrags geht genauer auf die Bedeutung des „material
turn“13 für die Wissenschafts- und Technikforschung ein, um einige Entwicklungslinien und
Debatten nachzuzeichnen. Im Mittelpunkt des dritten Teils steht die Vorstellung und
Diskussion der wohl wirkungsmächtigsten und wichtigsten neo-materialistischen Konzeption
4
Rosi Braidotti, Metamorphoses. Towards a Materialist Theory of Becoming, Cambridge 2002; Stacy Alaimo,
Susan Hekman (Hg.), Material Feminisms, Bloomington, Indianapolis 2008; Elizabeth Grosz, „Darwin and
Feminism. Preliminary Investigations for a Possible Alliance“, in: Alaimo/Hekman (Hg.), Material Feminisms,
S. 23–51.
5
Barbara Bolt, Estelle Barrett (Hg.), Carnal Knowledge. Towards a New Materialism Through the Arts, London
2013.
6
Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham, London 2010.
7
Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Berlin, Zürich
2008; Levi Bryant u.a. (Hg.), The Speculative Turn. Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011;
Graham Harman, „On the Undermining of Objects. Grant, Bruno, and Radical Philosophy“, in: Bryant u.a.
(Hg.), The Speculative Turn, S. 21–40.
8
Matthew Fuller, Media Ecologies. Materialist Energies in Art and Technoculture, Cambridge, Mass. 2005.
9
Stephen Wiley, „Spatial Materialism. Grossberg’s Deleuzean Cultural Studies“, in: Cultural Studies 19 (2005),
S. 63–99; Bruce Braun, Sarah Whatmore (Hg.), Political Matter. Technoscience, Democracy, and Public Life,
Minneapolis, London 2010.
10
Christopher Witmore, „Archaeology and the New Materialisms“, in: Journal of Contemporary Archaeology 1
(2014), S. 203–246.
11
Babette Bärbel Tischleder, The Literary Life of Things. Case Studies in American Fiction, Frankfurt am Main,
New York 2014.
12
Vgl. etwa die Sonderhefte Social Studies of Science 43 (3) (2013) („Turn to Ontology“) und Social Studies of
Science 45 (3) (2015).
13
Tony Bennett, Patrick Joyce (Hg.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn,
London, New York 2010.
2
innerhalb der STS: Karen Barads agentieller Realismus. Abschließend werden einige
Probleme und Entwicklungsmöglichkeiten dieser Forschungsperspektive aufgezeigt.
1. Grundzüge und zentrale Thesen der Neuen Materialismen
Was heute unter dem Stichwort „Neue Materialismen“ diskutiert wird, ist das Resultat einer
doppelten theoretischen und historischen Konjunktur. Die 1970er und 1980er Jahre waren
gekennzeichnet
vom
Niedergang
der
zeitgenössischen
materialistischen
Ansätze,
insbesondere des Marxismus, und dem Aufstieg poststrukturalistischer Theorien und
kulturtheoretischer Perspektiven. Während Letztere jeden direkten Bezug auf Materie als
einen naiven Repräsentationalismus oder Essentialismus problematisieren, zeigen sich NeoMaterialist_innen überzeugt, dass der epistemologische, ontologische und politische Status
von Materialität zu überdenken und ein neues Konzept von Materie notwendig sei. Im
Unterschied zu älteren Formen von Materialismus liegt dieser Neuakzentuierung der
materialistischen Tradition die Idee zugrunde, dass Materie selbst als aktiv, wirkmächtig und
plural statt als passiv, inert und einheitlich zu begreifen sei.14 Statt stumme Verfügungsmasse
und einfaches Objekt menschlichen Handelns zu sein, zeichne sie sich durch Eigensinn und
Handlungsmacht aus, die auf menschliche Akteure und deren Interaktionsformen und
Selbstverständnis zurückwirke.15
Die Neuen Materialismen kritisieren die Auffassung der natürlichen Welt und der technischen
Artefakte als bloße Ressourcen oder als Rohstoff für technologischen Fortschritt,
ökonomisches Wachstum oder soziale Konstruktion. Sie zielen auf ein neues Verständnis von
Ontologie, Epistemologie, Ethik und Politik, das Anthropozentrismus und Humanismus
ebenso hinter sich lässt wie die ontologische Spaltung zwischen Natur und Kultur.
Grundlegend für diese Bewegung ist die Ausdehnung der Konzepte von Handlungsfähigkeit,
Selbstorganisation
und
Wirkungsmacht
auf
nicht-menschliche
Entitäten
und
das
Bruno Latour, „Can We Get Our Materialism Back, Please?“, in: Isis. Journal of the History of Science in
Society 98 (2007), S. 138–142; Christopher Otter, „Locating Matter: The Place of Materiality in Urban History“,
in: Bennett/ Joyce (Hg.), Material Powers, S. 38–59.
15
Alaimo/Hekman (Hg.), Material Feminisms; Claire Colebrook, „On Non Becoming Man. The Materialist
Politics of Unactualized Potential“, in: Alaimo/Hekman (Hg.), Material Feminisms; Coole/Frost (Hg.), New
Materialisms.
Bereits in den 1990er Jahren forderten Rosi Braidotti und Manuel DeLanda, die materialistische Tradition in
Form eines „Neo-Materialismus“ zu überdenken (Rosi Braidotti, Patterns of Dissonance. A Study of Women and
Contemporary Philosophy, Cambridge 1991, S. 263–266; Manuel DeLanda, „The Geology of Morals. A NeoMaterialist Interpretation“, 1996, http://www.t0.or.at/delanda/geology.htm, letzter Zugriff 18. Januar 2016).
Allerdings dürfte der Ruf nach einer Revision, einer Neuausrichtung oder Reorientierung des Materialismus so
alt sein wie dieser selbst (s. James Feibleman, The New Materialism, Den Haag 1970; Raymond Williams,
„Problems of Materialism“, in: ders., Problems in Materialism and Culture, London 1980, S. 103–122; Lemke,
„Varieties of Materialism“).
14
3
Infragestellen traditioneller Vorstellungen von Leben. Dem Anspruch nach ist diese
Neufassung von Materialität so umfassend und tiefgreifend konzipiert, dass bekennende Neue
Materialist_innen von einer „Revolution des Denkens“ sprechen.16
Damit
unterscheiden
sich
die
Neuen
Materialismen
von
zwei
alternativen
Konzeptualisierungen von Materialität. Im Unterschied zu den in der Anthropologie
beheimateten material culture studies interessieren sie sich nicht für das „soziale Leben der
Dinge“17. Begreift diese Forschungsrichtung Objekte als von und durch Menschen genutzte
Dinge, die es ermöglichen, die Grenze zwischen der materiellen und der nicht-materiellen
Welt zu ziehen, machen Neue Materialist_innen eben diese (hierarchische) Unterscheidung
selbst zum Gegenstand der Analyse, um sie auf Grundlage eines umfassenden Begriffs von
Materialität als prekär und kontingent auszuweisen.18 Darüber hinaus unterscheidet sich die
neo-materialistische Literatur außerdem von einem „materialistischen Essentialismus“19, der
Dingen feste und stabile Eigenschaften zuschreibt, die ontologisch unveränderlich sind und zu
eindeutigen moralischen Positionierungen führen. Demgegenüber gehen viele Neue
Materialist_innen von „plastischen Materialitäten“20 aus; Materie zeichnet sich demnach nicht
durch Starrheit und Stabilität aus, sondern wird als flexibel und dynamisch begriffen (was
prinzipiellen und generalisierenden ethischen Werturteilen den Boden entzieht).
In ihrem Buch New Materialism: Interviews & Cartographies liefern Rick Dolphijn und Iris
van der Tuin einen instruktiven Überblick über zentrale Charakteristika der Neuen
Materialismen.21 Ihnen zufolge sind es vor allem vier Merkmale, die die neo-materialistische
Agenda bestimmen.22 Das erste besteht in der „Transversalität“ der Neuen Materialismen, die
es ermöglicht, zentrale Dualismen (post-)modernen Denkens zu rekonzeptualisieren. Dolphjin
und van der Tuin betonen, dass Unterscheidungen wie etwa die zwischen Natur und Kultur,
Mensch und Nicht-Mensch, Geist und Materie selbst in Prozessen der Materialisierung
hervorgebracht werden statt deren Ausgangspunkt oder Organisationsprinzip darzustellen.
16
Vgl. Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 85.
Arjun Appadurai, The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspectives, Cambridge 1998.
18
Ben Anderson, „Review of ‚Vibrant Matter‘“, in: Dialogues in Human Geography 1 (2011), S. 393–396, hier
S. 393; Tischleder, The Literary Life of Things, S. 28–34.
19
Noel Castree, „A Post-Environmental Ethics“, in: Ethics, Place and Environment 6 (2003), S. 3–12, hier S. 8.
20
Gay Hawkins, „Plastic Materialities“, in: Braun/Whatmore (Hg.), Political Matter, S. 119–136.
21
Anders als die Autor_innen verwende ich hier den Plural, um die theoretische Vielfalt und Heterogenität
dieser Forschungsperspektive zu betonen (s. auch Coole/Frost (Hg.), New Materialisms; Iris van der Tuin, „New
Feminist Materialisms“, in: Women’s Studies International Forum 34 (2011), S. 271–277; Diana Coole,
„Agentic Capacities and Capacious Historical Materialism. Thinking with New Materialisms in the Political
Sciences“, in: Millenium. Journal of International Studies 41 (2013), S. 451–469, hier, S. 451–453).
22
Selbstverständlich ist dies weder eine neutrale noch die einzig mögliche Kartografie. Für alternative
Klassifikationsvorschläge s. Diana Coole, Samantha Frost, „Introducing the New Materialisms“, in: Coole/Frost
(Hg.), New Materialisms, S. 1–43, hier S. 6–7; William Connolly, „The ‚New Materialism‘ and the Fragility of
Things“, in: Millenium. Journal of International Studies 41 (2013), S. 399–412.
17
4
Diese „transversale“ Qualität der Neuen Materialismen ermögliche es, traditionelle
disziplinäre Profile und etablierte akademische Grenzziehungen zu überschreiten. Es handele
sich also nicht um eine spezifische theoretische Orientierung, die in einer gegebenen Disziplin
zum Einsatz komme, sondern um die Hervorbringung neuer Problematisierungsweisen und
Denkstile. Zweitens verknüpfen Dolphjin und van der Tuin die Neuen Materialismen mit
einer „monistischen Philosophie der Differenz“23. Während traditionelle Dualismen
Beziehungen durch Negativität, Gegensatz und Hierarchie definieren, schlagen die Neuen
Materialismen ein alternatives Modell vor, dessen „affirmative Relationalität“24 Differenz als
einen Prozess begreift; als eine Bewegung, die Differenzen produziert und sie dabei
permanent überschreitet und transformiert. Drittens stellen die Neuen Materialismen eine
Perspektive dar, die die binäre Opposition von Sozialkonstruktivismus und traditionellem
Realismus hinter sich lässt. Im Mittelpunkt stehen „performative Ontologien“25, die über
Judith Butlers Konzept der Genderperformativität hinausgehen und nicht auf den Bereich des
Sozialen begrenzt sind..26 Das vierte Merkmal der Neuen Materialismen, das Dolphjin und
van der Tuin identifizieren, ist seine posthumanistische Ausrichtung und die Kritik
anthropozentrischer Denkformen. In dieser Hinsicht ist das (menschliche) Subjekt eher das
Ergebnis denn der Ausgangspunkt einer epistemischen Erfahrung.
2. STS und Materialismus
Das Interesse an praktischen und performativen Ontologien in den Neuen Materialismen trifft
sich mit einer zentralen Traditionslinie der STS. Deren empirische Orientierung ist von
Anfang an ein wichtiger analytischer Vorzug dieser Forschungsperspektive gegenüber den
theoretischen Abstraktionen der Wissenschaftsphilosophie und der eher
normativ
ausgerichteten Wissenschaftssoziologie und ihrer Kritik an unzulässigen gesellschaftlichen
Einflussnahmen auf die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion.27 Schon in den frühen
Laborstudien
und
in
der
Akteur-Netzwerk-Theorie
spielte
die
Materialität
von
„Inskriptionsgeräten“28 und die Handlungsfähigkeit nicht-menschlicher Akteure29 eine
entscheidende Rolle. In den 1990er Jahren forderte Andrew Pickering eine Neuausrichtung
23
Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 121.
Ebd., S. 127.
25
Ebd., S. 137.
26
Zur neo-materialistischen Kritik an Butler s. Vicki Kirby, Judith Butler. Live Theory, London, New York
2006; Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism.
27
S. dazu Wehling in diesem Band.
28
Bruno Latour, Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1979; s. auch
Latour/Woolgar in diesem Band, S. XXX.
29
Vgl. etwa Callon in diesem Band.
24
5
der Sozialtheorie, in der Menschen und Dinge sich in einem offenen und unvorhersehbaren
„Tanz der Handlungsfähigkeit“ („dance of agency“) befinden. 30 Durch Begegnungen und
Interaktionen von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten werden Pickering zufolge
in diesem „Tanz“ permanent Ontologien produziert und transformiert. In ähnlicher Weise
identifizierte Charis Cussins in ihrer ethnografischen Untersuchung von US-amerikanischen
Reproduktionskliniken eine „ontologische Choreografie“ („ontological choreography“), die
technische, wissenschaftliche, politische, rechtliche und emotionale Dynamiken koordiniert
und miteinander verschränkt.31
Trotz der Kontinuität, mit der ontologische Fragen adressiert werden, ist in den vergangenen
Jahren eine Akzentverschiebung auszumachen, die David Bloor, ein Pionier der
Wissenschafts- und Technikforschung, mit Blick auf seine eigene Arbeit auf den Punkt
brachte: „Während ich den materialistischen Charakter des soziologischen Ansatzes
herausgestellt habe, war dieser Materialismus tendenziell eher passiv als aktiv …“32 Es
existieren verschiedene konzeptuelle Vorschläge innerhalb der STS, wie der wachsenden
Anerkennung der Handlungsfähigkeit von Materie sowie ontologischen Fragen am besten
Rechnung
zu
tragen
sei.
Sehr
schematisch
lassen
sich
zwei
unterschiedliche
„Aktivitätsmuster“ unterscheiden, ohne dass die Grenzverläufe immer klar und eindeutig
auszumachen sind: ein „Ding-Materialismus“ auf der einen und ein „BeziehungsMaterialismus“ auf der anderen Seite.
Ein wichtiger Vertreter der ersten Linie ist Bruno Latour, der die Akteur-Netzwerk-Theorie
zu einer umfassenden Sozialtheorie unter systematischer Einbeziehung von „Dingen“
erweitern will. Die von ihm konzipierte „neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“33
versteht sich dabei als Bruch mit jener Tradition des Materialismus, die von der Figur der
Repräsentation und einem Fokus auf einfache Determinationsverhältnisse gekennzeichnet sei.
Gegen diesen „idealistischen Materialismus“34 der Objekte bringt Latour einen „materiellen
Materialismus“35 der Dinge in Anschlag. Der Dingbegriff ist für Latour von zentraler
Bedeutung, um eine „neue kritische Haltung“36 zu begründen. Seiner Einschätzung nach sind
die herkömmlichen Grundbegriffe und Konzepte der Soziologie und Gesellschaftstheorie
30
Andrew Pickering, The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science, Chicago 1995.
Charis Cussins, „Ontological Choreography. Agency through Objectification in Infertility Clinics“, in: Social
Studies of Science 26 (1996), S. 575–610.
32
David Bloor, Knowledge and Social Imagery, Chicago 1991, S. 158. Diese und die folgenden Übertragungen
vom Englischen ins Deutsche hat der Verfasser dieses Beitrags vorgenommen.
33
Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie,
Frankfurt am Main 2007.
34
Latour, „Can We Get Our Materialism Back, Please?“, S. 139.
35
Ebd., S. 141.
36
Bruno Latour, Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Berlin, Zürich 2007, S. 53.
31
6
letztlich unbrauchbar, um die Komplexität der Verknüpfungen zwischen ontologisch
heterogenen Entitäten zu erfassen. Latour begreift Natur und Gesellschaft nicht als zwei
voneinander getrennte und gegeneinander abgeschlossene Bereiche oder Sphären, sondern als
ein Kontinuum von Netzwerken und Akteurskoalitionen. In seinem begrifflichen Repertoire
bezeichnet das Adjektiv „sozial“ daher „kein Ding unter anderen Dingen […], sondern einen
Verknüpfungstyp zwischen Dingen, die selbst nicht sozial sind“37. An die Stelle des
ontologischen Dualismus tritt der Monismus von Beziehungsgefügen und Praktiken. Der
Gesellschaftsbegriff sei angesichts der vielfältigen Interaktions- und Transaktionsprozesse
zwischen sozialen, natürlichen und technischen Akteuren aufzugeben und durch die Begriffe
„Kollektiv“ oder „Assoziation“ zu ersetzen. Das normative Projekt, das er in dem suggestiven
Bild eines „Parlaments der Dinge“38 zusammenfasst, soll die institutionellen und politischen
Arrangements schaffen, welche die demokratische Einrichtung und Gestaltung der multiplen
Beziehungsgefüge zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten ermöglichen.
Das Ziel dieses politischen Projekts ist es, eine „gemeinsame Welt“39 zu formen, die auf der
gleichberechtigten Mitwirkung aller Mitglieder des Kollektivs beruht.
Von Latours programmatischer Forderung nach einer Neuausrichtung der Sozialtheorie
inspiriert ist Jane Bennetts Entwurf einer politischen Ökologie der Dinge. Bennett
unterstreicht in ihrer Arbeit, dass Materie als aktiver Teil eines politischen Prozesses zu
begreifen ist, der bislang von menschlicher Subjektivität dominiert gewesen sei. Erklärtes Ziel
ihrer Schriften ist es, die traditionellen Dualismen zwischen Materie und Leben, anorganisch
und organisch, passiven Objekten und aktiven Subjekten zu überwinden.40 Stattdessen geht
Bennett von einer grundlegenden „Vitalität der Materie“41 aus, die sie folgendermaßen
definiert: „Unter ‚Vitalität‘ verstehe ich die Fähigkeit von Dingen – Essbarem, Waren,
Stürmen, Metallen –, nicht nur den Willen und die Pläne von Menschen zu behindern oder zu
blockieren, sondern auch als Quasi-Akteure oder Kräfte mit eigenen Bewegungsbahnen,
Neigungen und Tendenzen zu handeln.“42
In diesem „vitalistischen Materialismus“43 sind Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation
keine Eigenschaften, die ausschließlich Menschen zukommen. Bennett zufolge ist es vielmehr
notwendig, die Macht nicht-menschlicher Akteure anzuerkennen. Sie benutzt und
Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 17.
Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2001.
39
Ebd., S. 82.
40
Jane Bennett, Vibrant Matter; Jane Bennett, „The Force of Things. Steps Toward an Ecology of Matter“, in:
Political Theory 32 (2004), S. 347–372, hier S. 353f.
41
Vgl. Bennett, Vibrant Matter, S. vii.
42
Ebd., S. viii.
43
Ebd., S. x.
37
38
7
synthetisiert eine heterogene Vielzahl von Konzepten und Ideen von Lukrez, Spinoza,
Adorno, Dewey, Thoreau, Bergson, Deleuze und Guattari, um ein alternatives Konzept von
Handlungsmacht zu entwickeln. Bennett argumentiert, dass Handlungsfähigkeit über ein
größeres Spektrum ontologischer Typen verteilt sei, das quer zur Trennungslinie zwischen
Menschen und Nicht-Menschen verläuft.44 In dieser Perspektive kommt auch anorganischer
Materie die Fähigkeit zur Selbstorganisation und „Vernunft“ zu. Bennett prägt den Begriff der
„Ding-Macht“ („thing power“), um die Fähigkeit von Dingen zu erfassen, im Zusammenspiel
mit anderen materiellen Körpern Effekte zu erzielen.45
Geht der „Ding-Materialismus“ sowohl in der Hybrid-Ontologie Latours als auch im
Vitalismus Bennetts davon aus, dass Handlungsfähigkeit eine Eigenschaft ist, die
menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren inhärent ist und ihnen gleichermaßen
zukommt, nimmt der „relationale Materialismus“46 das Netzwerk von Beziehungen in den
Blick, das Handlungsfähigkeiten überhaupt erst ermöglicht. Hier stehen nicht Dinge als
„Streitsachen“ im Mittelpunkt des Interesses, sondern eher Gefüge, die sich in Dingen
materialisieren und denen diese ihre Festigkeit und „ontologische Dichte“ verdanken. Statt die
Idee einer „Materialität an sich“47 zu verfolgen, wird hier ein Produktionsprozess fokussiert,
der von anderen Körpern abhängig ist und im Rahmen dessen sich die Materialität der Körper
und ihre Grenzen erst konstituieren. Dieser „Beziehungs-Materialismus“ findet sich eher in
empirisch orientierten Untersuchungen und fallbezogenen Studien als in philosophischen
Abhandlungen oder programmatischen Forderungen nach einer neuen Sozialtheorie.
Ein wichtiges Forschungsfeld des „relationalen Materialismus“ ist die Verschränkung von
politischen Prozessen und technologischen Artefakten, die zur Problematisierung der Politik
als einer ausschließlich menschlichen, durch Interessenkonflikte oder gemeinsame
Entscheidungsprozesse
gekennzeichneten
Sphäre
beiträgt.
Die
hier
beheimateten
Forschungsansätze stehen meist in deutlichem Kontrast zum klassischen Genre der
politischen Theorie, die politische Prozesse vor allem unter diskursiven, linguistischen oder
44
Vgl. ebd., S. 10.
Bennett, „The Force of Things“; Bennett, Vibrant Matter, S. 2–6; vgl. auch Hawkins, „Plastic Materialities“.
Obwohl Bennett immer wieder Merkmale und Eigenschaften herausstellt, die den „Dingen an sich“ innewohnen
sollen (s. obiges Zitat), betont sie an anderer Stelle, dass Dinge als relational begriffen werden müssen, als
integraler Bestandteil dynamischer und prozessualer Gefüge. Diese konzeptuelle Inkonsistenz ist ihr zwar
bewusst (vgl. etwa Bennett, „The Force of Things“, S. 20), wird in ihrer Arbeit aber nicht aufgelöst; vielmehr ist
festzuhalten, dass schon die Vorstellung einer „Ding-Macht“ auf einen „naiven Realismus“ verweist, der Dingen
einen „mehr als relationalen Charakter“ zuerkennt. (Steve Hinchliffe, „Review of ‚Vibrant Matter‘“, in:
Dialogues in Human Geography 1 (2011), S. 396–399, hier: S. 398).
46
Annemarie Mol, „Mind your Plate! The Ontonorms of Dutch Dieting“, in: Social Studies of Science 43 (2013),
S. 379–396, hier S. 381.
47
Bennett, „The Force of Things“, S. 351.
45
8
prozeduralen Vorzeichen begreift und deren Materialität damit weitgehend ausblendet. 48 Statt
Wasser, Plastikflaschen, Metalle oder Umwelttechnologien als passive Grundlage und
unveränderliches Fundament politischer Prozesse zu betrachten, werden ihre flexible
Ontologie und die performativen Aspekte dieser Materialisierungen in den Blick genommen,
also jene praktischen Operationen und Verfahren, durch die Dinge, Artefakte und
Infrastrukturen politische und moralische Eigenschaften erhalten.49
Dieses Forschungsinteresse konkretisiert sich etwa in Andrew Barrys Studie über die
Konstruktion einer Ölpipeline, die als eines der weltweit größten Bauvorhaben in den 2000er
Jahren realisiert wurde und seitdem das georgische Baku mit Ceyhan in der Türkei verbindet.
Sein daraus hervorgegangenes Buch Material Politics zeigt, dass die Produktion, Zirkulation
und Bewertung von Informationen über die materialen Eigenschaften der Pipeline zu neuen
und besonders intensiven Formen politischen Konflikts beigetragen haben. Im Zentrum steht
dabei die Frage, welche Materialien wo und in welcher Weise eingesetzt werden können,
welche Gefahren sich mit diesem Einsatz verbinden und wer über das relevante Wissen
verfügt, um einschätzen zu können, wie sich das Material in unterschiedlichen klimatischen
und geografischen Umwelten verhält. Im Gegensatz zu rein diskursanalytischen Studien
macht Barry durch die Untersuchung vielfältiger Materialitäten und Akteurskoalitionen, von
Erdrutschen und Dokumentenarchiven über internationale NGOs und Arbeitskämpfe bis hin
zu künstlerischen Praktiken das Netz von Beziehungen und Prozessen sichtbar, das den Bau
und die spezifische Form dieser multinationalen Energieinfrastruktur überhaupt erst
ermöglicht haben. Die Studie zeigt darüber hinaus aber auch die prinzipiellen Grenzen
traditioneller demokratietheoretischer Perspektiven auf:
Aber während radikaldemokratische Theoretiker_innen auf die Zentralität von Dissens
im politischen Leben verweisen, sagen sie nur wenig über die Existenz und die
Bedeutung
von
Materialien
und
Gegenständen,
die
häufig
öffentliche
Wissenskontroversen hervorrufen. Diese Kontroversen drehen sich nicht nur um
Meinungsverschiedenheiten über die Rechte und Interessen menschlicher Akteure und
die Identitäten sozialer Gruppen […], sondern auch um die Gründe des Klimawandels,
Kristin Asdal u.a., „Editorial. The Technologies of Politics“, in: Distinktion. Scandinavian Journal of Social
Theory 16 (2008), S. 5–10; Noortje Marres, Javier Lezaun, „Materials and Devices of the Public. An
Introduction“, in: Economy and Society 40 (2011), S. 489–509.
49
Marres/Lezaun, „Materials and Devices of the Public“, S. 493; Vgl. auch Astrida Neimanis, „Alongside the
Right to Water. A Posthumanist Feminist Imaginary“, in: Journal of Human Rights and the Environment 5
(2014), S. 5–24; Gay Hawkins, „Packaging Water. Plastic Bottles as Market and Public Devices“, in: Economy
and Society 40 (2011), S. 534–552; Noortje Marres, Material Participation. Technology, the Environment and
Everyday Publics, Basingstoke 2012; Andrew Barry, „Materialist Politics. Metallurgy“, in: Braun/Whatmore
(Hg.), Political Matter, S. 89–117.
48
9
die Sicherheit genetisch veränderter Organismen, die Ursachen von Krankheiten, die
Risiken von Überschwemmungen und die Folgen eines Atomunfalls.50
Die Frage der Politik beschäftigt auch einen zweiten Strang des relationalen Materialismus,
wobei das Problem einer „ontologischen Politik“51 in den Vordergrund rückt. Anders als in
der westlichen philosophischen Tradition üblich begreift diese Forschungsrichtung
„Ontologie“ nicht im Singular und als fundamental, sondern als vielfältig und dynamisch.
Diese „empirische Ontologie“52 oder „Ontografie“53 geht der Politik nicht voraus und
begründet sie, sondern ist selbst durch und durch politisch, indem sie die Frage aufwirft, was
sich als real materialisiert (und was nicht). Die Realität geht den Praktiken nicht voraus und
verleiht ihnen Sinn und Richtung, sondern sie wird selbst erst durch die Praktiken
hervorgebracht. In dem Maße, in dem die Praktiken variieren, verändern sich auch die
Objekte, wobei es notwendig ist, die Beziehungen der Objekte in Abhängigkeit von den
verschiedenen Praktiken in den Blick zu nehmen. Das klassische Beispiel für diese
Analyseform ist Annemarie Mols ethnografische Studie The Body Multiple. Ontology in
Medical Practice54. Mols Untersuchung zeigt, wie das Zusammenspiel von Körpern,
Diskursen und medizinischen Instrumenten in einem niederländischen Krankenhaus
„Arteriosklerose“ als multiple Realität erschafft, die nicht auf eine einzelne Krankheit oder
eine konsistente Symptomatik zu reduzieren ist, sondern in vielen heterogenen Praktiken in
Kraft gesetzt wird.55
3. Apparate, Phänomene und Intraaktionen: Karen Barads agentieller Realismus
Die wohl gegenwärtig einflussreichste Konzeption eines relationalen Materialismus innerhalb
der STS hat die Physikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad vorgelegt. 56 In ihrer
50
Andrew Barry, Material Politics. Disputes Along the Pipeline, Malden, Oxford 2013, S. 8.
Annemarie Mol, „Ontological Politics. A Word and Some Questions“, in: John Law, John Hassard (Hg.),
Actor Network Theory and After, Oxford 1999, S. 74–89; John Law, After Method. Mess in Social Science
Research, London 2004.
52
John Law, Marianne Lien, „Slippery. Field Notes in Empirical Ontology“, in: Social Studies of Science 43
(2013), S. 363–387.
53
Michael Lynch, „Ontography. Investigating the Production of Things, Deflating Ontology“, in: Social Studies
of Science 43 (2013), S. 444–462.
54
Annemarie Mol, The Body Multiple. Ontology in Medical Practice, Durham 2002.
55
Für eine genauere Darstellung und Diskussion s. Sørensen/Schank in diesem Band. Vgl. auch die Studie von
Law/Lien, „Slippery“, die anhand des Beispiels des atlantischen Lachses zeigt, wie Realitäten durch eine Reihe
von Praktiken in Kraft gesetzt werden. Der Text macht auf Grundlage einer empirischen Fallstudie deutlich, dass
das Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher und maritimer Praktiken unterschiedliche Arten von Lachs
hervorbringt.
56
Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Barads agentiellem
Realismus im Rahmen eines gemeinsam mit Katharina Hoppe verfassten Artikels (Hoppe/Lemke, „Die Macht
der Materie“).
51
10
Arbeit verbindet sie Einsichten des Physikers Niels Bohr, einem der wichtigsten Vertreter der
Quantenmechanik, mit Elementen poststrukturalistischer Theorie. Das Ergebnis dieser
theoretischen Synthese ist Barads „agentieller Realismus“, der eine umfassende kritische
Überprüfung der Grundannahmen der westlichen Epistemologie und Ontologie ermöglichen
soll.57 Der zunächst widersprüchlich anmutende Begriff verweist auf Barads Anliegen,
Materialität dynamisch und variabel anstatt als stabiles und unveränderliches Fundament zu
konzeptualisieren, ohne dabei jedoch den Anspruch wissenschaftlicher Objektivität
aufzugeben. Demnach ist Materie nicht als passive Substanz zu begreifen, die unabhängig von
epistemischen Praktiken existiert; vielmehr sei sie „agentiv“ an Erkenntnisprozessen und an
jeweils unterschiedlichen Materialisierungen beteiligt.58
Das erklärte Ziel von Barads Arbeit besteht darin, die Beziehungen zwischen Menschen und
Nicht-Menschen neu zu konzeptualisieren und die Kategorien von Subjektivität,
Handlungsfähigkeit und Kausalität zu überdenken. Zentral ist dabei der von ihr entwickelte
Begriff der „Intraaktion“, der im Gegensatz zu „Interaktion“ davon ausgeht, dass die Relata
einer Beziehung, beispielsweise „Subjekt“ und „Objekt“, erst in und durch diese konstituiert
werden – und ihr nicht vorausgehen.59 In dieser Lesart tritt die Materialisierung von
„Phänomenen“ an die Stelle primärer und fundamentaler ontologischer Einheiten mit festen
Grenzen und Eigenschaften.
Wichtige Referenzpunkte des agentiellen Realismus sind neben Bohrs Quantenphysik auch
Foucaults Macht- und Diskursbegriff, Butlers Konzept der Performanz und Lévinas’
Verständnis ethischer Weltbezüge. Die Arbeiten dieser Theoretiker_innen unterzieht Barad
einer „diffraktiven Lektüre“60, die die Bruchlinien, Verschränkungen und „Interferenzen“ der
unterschiedlichen Positionen und Perspektiven herausarbeitet.61 Barad schließt zunächst an
Foucaults Diskursbegriff an und hebt die Bedeutung von dessen Machtanalytik aufgrund ihrer
57
Vgl. Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and
Meaning, Durham, London 2007, S. 83.
58
Vgl. ebd., S. 43f.
59
Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin 2012.
60
Vgl. Karen Barad, „Intra-active Entanglements. An Interview with Karen Barad by Malou Juelskjær and Nete
Schwennesen“, in: Kvinder, Køn & Forskning/Women, Gender and Research 1–2 (2012), S. 10–24, hier S. 13;
Karen Barad, „Diffracting Diffraction. Cutting Together-Apart“, in: Parallax 20 (2014), S. 168–187; Iris van der
Tuin, „‚A Different Starting Point, a Different Metaphysics‘. Reading Bergson and Barad Diffractively“, in:
Hypatia 26 (2011), S. 22–42; Iris van der Tuin, „Diffraction as a Methodology for Feminist Onto-Epistemology.
On Encountering Chantal Chawaf and Posthuman Interpellation“, in: Parallax 20 (2014), S. 231–244.
61
Zu dem – zunächst von Donna Haraway in den STS verwendeten – Begriff der Diffraktion s. Corinna Bath
u.a. (Hg.), Geschlechter Interferenzen. Wissensformen – Subjektivierungsweisen – Materialisierungen, Berlin
2013; Birgit Mara Kaiser, Kathrin Thiele, „Diffraction. Onto-Epistemology, Quantum Physics and the Critical
Humanities“, in: Parallax 20 (2014), S. 165–167.
11
relationalen und produktiven Perspektive hervor.62 Dennoch sei Foucaults Analyse des
Verhältnisses von diskursiven Praktiken und materiellen Phänomenen unzureichend und die
von ihm herausgestellte Produktivität von Macht bleibe auf die soziale Sphäre beschränkt.63
Barad zufolge konzipiert er Materie letztlich als passives Substrat und Rohstoff für soziale
Prozesse. Diese konzeptuelle Engführung führe dazu, die Grenzen zwischen Natur und Kultur
als dauerhaft und stabil zu begreifen, sodass die komplexen Beziehungen, die diese
Dichotomien überhaupt erst hervorbringen, nicht in den Blick geraten.64
Barads kritische Revision des Konzepts diskursiver Praktiken und der Entwurf eines
intraaktiven Machtbegriffs zielen auf eine theoretische Perspektive, die humanistische
Prämissen und die Beschränkung der Analyse auf den Bereich des Sozialen hinter sich lässt.
Barad zufolge schreiben sich Diskurse nicht in eine als grundlegend und stabil konzipierte
Materialität ein, die eine prinzipiell erkennbare und nachvollziehbare kausale Struktur
aufweist; vielmehr begreift sie auch „Ursache“ und „Wirkung“ als intraaktive Prozesse.65
Diese Auffassung von Kausalität folgt aus Barads Reformulierung der Foucaultschen
Machtanalytik, die sozialontologische und anthropozentrische Beschränkungen insofern
transzendieren soll, als sie Materie als konstitutiven Bestandteil von Machtbeziehungen
konzipiert:
Das heißt, die Kräfte, die in der Materialisierung von Körpern am Werk sind, sind
nicht nur sozial, und die materialisierten Körper sind nicht nur menschliche Körper.
Mehr noch, die produktive Natur regulatorischer und anderer natürlich/kultureller
[naturalcultural] Praktiken muss im Sinne der Kausalstruktur der Intraaktivität
verstanden werden. Für eine agentiell-realistische Konzeption von Macht ist eine
Neufassung von Kausalität als Intraaktivität zentral.66
Die Orientierung an einer als intraaktiv verstandenen Ontologie spielt auch für die
Neufassung von „Performativität“ eine entscheidende Rolle. Barad knüpft hier an Butlers
Performativitätskonzept an, dessen besondere Bedeutung Bedeutsamkeit sie darin sieht, dass
es eine repräsentationalistische Weltsicht überwindet, indem es auf die produktive und
prozesshafte Dimension von Materialisierung verweist.67 Allerdings kritisiert sie, dass Butler
Vgl. Barad in diesem Band, S. XXX; Karen Barad, „Posthumanist Performativity. Toward an Understanding
of How Matter Comes to Matter“, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28 (2003), S. 801–831,
hier S. 819.
63
Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 200; Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 820.
64
Vgl. Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 819.
65
Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 236.
66
Ebd., S. 235f, Hervorh. im Orig.
67
Vgl. ebd., S. 62.
62
12
auf menschliche Körper fokussiere, ähnlich wie Foucault Materie als passiv voraussetze und
die Hervorbringung von Körpern als Effekt diskursiver Praktiken begreife. Im Unterschied zu
Butler konzipiert Barad Performativität nicht als iterative Zitation68, sondern als intraaktive
Relation69. Der analytische Vorzug einer solchen intraaktiven Wende liegt Barad zufolge
darin, dass Transformationsprozesse nicht allein von Irritationen in der Zitation von Normen
abhängen. Handlungsmacht beschränkt sich somit nicht auf Resignifikationspraktiken.70
Barad versteht Tätigsein (agency) daher nicht als attributive Eigenschaft von Subjekten oder
Objekten, sondern als „das In-Kraft-Setzen („enactment”) von iterativen Veränderungen
bestimmter Praktiken durch die Dynamik der Intraaktivität.”71
Diente die diffraktive Lektüre der Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler dazu, die
Koordinaten einer radikal relationalen und posthumanistischen Ontologie auszuweisen,
expliziert Barad die epistemologischen und ethischen Dimensionen des agentiellen Realismus
mit Bezug auf die Physik Bohrs und die Philosophie von Lévinas. Sie argumentiert, dass die
drei Komponenten ihrer theoretischen Perspektive – Ontologie, Epistemologie und Ethik –
ihrerseits in einem intraaktiven Verhältnis stehen und nicht getrennt voneinander betrachtet
werden können. Insgesamt zielt Barads Arbeit daher auf „so etwas wie eine Ethico-ontoepistemo-logie – das Ernstnehmen der Verflechtung von Ethik, Erkenntnis und Sein“72.
Barads epistemologische Position ist folglich eng verknüpft mit ihrer „relationalen
Ontologie“73. Die zentrale epistemologische Aussage des agentiellen Realismus liegt in der
Betonung der „Untrennbarkeit des Gegenstandes und der messenden Agentien“74. Wesentlich
für dieses erkenntnistheoretische Motiv ist die quantenphysikalische Einsicht, dass Position
und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig bestimmbar sind. Daraus folgt, dass Messungen
nicht als neutrale Interaktionen in (und mit) der Welt begriffen werden können. Vielmehr ist
das Gemessene in dieser Sichtweise radikal abhängig von Apparaten und Messinstrumenten,
da unterschiedliche Settings entweder Position oder Impuls bestimmen. Das physikalische
Theorem des Komplementaritätsprinzips von Niels Bohr, das dieses Phänomen interpretiert,
betont die wechselseitige Exklusivität von Apparaten. Von einer solchen Exklusivität
auszugehen hat weitreichende Folgen, denn für Bohr bedeutet dies, dass Apparate festlegen,
68
Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main 1997, S. 39.
Barad, „Posthumanist Performativity“; Barad, Agentieller Realismus, S. 98.
70
Vgl. auch Kirby, Judith Butler, S. 70; Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 108.
71
Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 807.
72
Barad, Agentieller Realismus, S. 100f., Hervorh. im Orig.
73
Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 93.
74
Barad in diesem Band, S. XXX.
69
13
was zu einem konkreten Zeitpunkt unter bestimmten Umständen sein kann – und sie damit
andere ontologische Möglichkeiten ausschließen.75
Dem Begriff des Apparats kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Wie schon bei
Foucault und Butler ist auch die Bezugnahme auf Bohr durch eine „diffraktive Lektüre“
gekennzeichnet, die dessen Einsichten zugleich zu bewahren und über sie hinauszugehen
beansprucht. In Barads Lesart begreift Bohr Apparate als mehr oder weniger abgeschlossene
Laboreinrichtungen, während sie selbst den Begriff des Apparats auszuweiten und dabei die
ontologischen Implikationen der Bohrschen Physik weiter zu explizieren sucht.76 Sie macht
deutlich, dass die Grenzen eines Apparats keineswegs eindeutig und fest umrissen sind;
vielmehr handle es sich um erweiterbare Praktiken oder Sets von Intraaktionen, die das Reale
erst hervorbringen.77 Diese spezifischen Intraaktionen bezeichnet Barad als „agentielle
Schnitte“. Sie erzeugen Bestimmtheit in prinzipiell ontisch unbestimmten „Phänomenen“, die
in ihrer Offenheit und Unabgeschlossenheit für Barad die primären ontologischen Einheiten
darstellen.78
Barad weist des Weiteren darauf hin, dass „wir“ nicht außerhalb der Welt stehen, um diese zu
erkennen, sondern betont die Verwobenheit mit dieser als Bedingung der Möglichkeit
objektiver Erkenntnis: „wir wissen, denn ‚wir‘ sind von dieser Welt“79. Objektivität lässt sich
– so Barad weiter – unter diesen Voraussetzungen nicht durch abstrakte und neutrale Kriterien
gewährleisten;
vielmehr
sei
eine
neue
„Ethik
des
Wissens“80
erforderlich,
die
wissenschaftliche Objektivität an die konkrete Verantwortung der beteiligten Agentien
binde.81 Ihre Konzeption von Verantwortung entwickelt Barad im Anschluss an Lévinasʼ
Ethik des Antwortens.82 Lévinas geht davon aus, dass das Verhältnis des Subjekts zur Welt
keine einseitige Beziehung des Intendierens ist, sondern eine wechselseitig konstitutive
Relation. Ein ethischer Weltbezug ist für Lévinas durch die Begegnung mit dem „Antlitz des
Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 294–317; Karen Barad, „Erasers and Erasures. Pinch’s
Unfortunate ‚Uncertainty Principle‘“, in: Social Studies of Science 41 (2011), S. 443–454, hier S. 444.
76
Vgl. Barad in diesem Band, S. XXX; Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 125.
77
Vgl. Barad in diesem Band, S. XXX; s. auch Joseph Rouse, „Barad’s Feminist Naturalism“, in: Hypatia 19
(2004), S. 142–161, hier S. 154f.
78
Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 333f.; Barad in diesem Band, S. XXX.
Zum Konzept des Phänomens vgl. auch Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 118–121; Barad in diesem
Band, S. XXX.
79
Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 829, Hervorh. im Orig. Barads Insistieren auf „Wir“ in
Anführungszeichen verweist auf ihren posthumanistischen Anspruch. Dieses „Wir“ ist als offenes Kollektiv
konzipiert und nicht auf menschliche Akteure oder Beobachter_innen begrenzt, da es in umfassenden
intraaktiven Prozessen immer wieder neu hervorgebracht wird (vgl. etwa ebd., S. 828).
80
Barad, Agentieller Realismus, S. 88.
81
Vgl. ebd.; Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 390f.; Rouse, „Barad’s Feminist Naturalism“, S. 154.
82
Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 391-396.
75
14
Anderen“ gekennzeichnet.83 Eine solche Begegnung stellt keine bewusste Handlung eines
individuierten Subjekts dar, sondern der Andere ist ein dem Bewusstsein vorgängiger Sinn,
der dazu aufruft zu antworten. Die ethische Begegnung mit dem Anderen ist unverfügbar und
erschüttert das Subjekt ebenso wie dieses zugleich durch diese Beziehung konstituiert wird.84
Barad argumentiert nun, dass das Lévinassche Postulat der Unhintergehbarkeit der Antwort
auf den Anderen keineswegs auf menschliche Subjekte beschränkt bleiben müsse; vielmehr
ignoriere eine anthropozentrische Begrenzung „den vollständigen Satz der Möglichkeiten von
Alterität” („the full set of possibilities of alterity“)85. Verantwortungsbeziehungen gehen in
dieser Perspektive über Beziehungen zwischen Menschen hinaus, da dasjenige, was als
menschlich bzw. nicht-menschlich gilt, selbst einem dauernden Prozess der Neubewertung
unterliege. In einer posthumanistischen Reformulierung der Lévinasschen These, dass sich
der Andere immer schon in „uns“ befinde, argumentiert sie, dass Materialität immer schon im
Kontakt zum Anderen bestehe.86
Spätestens seit der Buchveröffentlichung Meeting the Universe Halfway im Jahr 2007 kommt
Barad ein fester Platz in der Wissenschafts- und Technikforschung zu. Einige feministische
Theoretiker_innen haben herausgestellt, dass der agentielle Realismus eine fruchtbare
Erweiterung von Theorien „situierten Wissens“ im Anschluss an Donna Haraway und Sandra
Harding darstellt87, da er eine konsequente und umfassende Neufassung von Handlungsmacht
vornimmt.88 Neben den theoretischen Bezugnahmen und der intensiven Diskussion einzelner
Konzepte gibt es inzwischen eine Reihe von empirischen Fallstudien, die Einsichten des
agentiellen Realismus für ihr Forschungsdesign nutzen.89
83
Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München 1987,
S. 283f.
84
Vgl. Eva Buddeberg, „,Du wirst nicht töten!‘ Lévinas’ Ethik der Verantwortung als erste Philosophie“, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), S. 705–724; Simon Critchley, Unendlich fordernd. Ethik der
Verpflichtung, Politik des Widerstands, Zürich, Berlin 2008, S. 69–76.
85
Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 392.
86
Ebd., S. 393; vgl. auch Karen Barad, „On Touching. The Inhuman That Therefore I Am“, in: differences. A
Journal of Feminist Cultural Studies 23 (2012), S. 206–223, hier S. 214f.
87
Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main, New York
1995; Sandra Harding, Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt am Main,
New York 1994.
88
Vgl. besonders Peta Hinton, „,Situated Knowledges‘ and New Materialism(s). Rethinking a Politics of
Location“, in: Woman. A Cultural Review 25 (2014), Special Issue: Feminist Matters. The Politics of New
Materialism, S. 99–113; s. auch Myra Hird, „Feminist Engagements With Matter“, in: Feminist Studies 35
(2009), S. 329–346; Nina Lykke, „The Timeliness of Post-Constructionism“, in: NORA. Nordic Journal of
Feminist and Gender Research 18 (2010), S. 131–136; Peta Hinton, „The Quantum Dance and the World’s
‚Extraordinary Liveliness‘. Refiguring Corporeal Ethics in Karen Barad’s Agential Realism“, in: Somatechnics 3
(2013), S. 169–189.
89
Vgl. Nete Schwennesen, Lene Koch, „Visualizing and Calculating Life. Matters of Fact in the Context of
Prenatal Risk Assessment“, in: Susanne Bauer, Ayo Wahlberg (Hg.), Contested Categories. Life Science in
Society, Farnham 2009, S. 69–87; Claudia Aradau, „Security that Matters. Critical Infrastructure and Objects of
Protection“, in: Security Dialogue 41 (2010), S. 491–514; Hannah Fitsch, Lukas Engelmann, „Das Bild als
15
In der Rezeption des agentiellen Realismus ist jedoch auch auf einige theoretische Probleme
und konzeptuelle Ambivalenzen hingewiesen worden. Zwei Kritikpunkte sollen hier kurz
erörtert werden. Auf ein erstes Problem hat der Wissenschaftsforscher und Physiker Trevor
Pinch hingewiesen. Pinch kritisiert, dass Barad mit der STS-Tradition insofern bricht als ihre
Beschreibungen der quantenphysikalischen Experimente weniger auf deren Dekonstruktion
oder Kontextualisierung abzielen, sondern vielmehr als zentrale argumentative Bausteine für
ihr eigenes Theorie-Projekt fungieren. Diese Interpretation der experimentellen Settings und
Ergebnisse habe einen unvermittelten Import der quantentheoretischen Einsichten in die
Sozialtheorie zur Folge. Sie erhalten damit einen autoritativen Status und dienen als
Fundament einer neuen Ontologie für die Wissenschaftstheorie, ohne dass alternative
quantentheoretische Deutungen miteinbezogen oder die selektive Beschränkung auf Bohrs
Interpretation der Quantenmechanik reflektiert werden.90 Zweitens ist zu beobachten, dass in
Barads Programm einer „Ethik von Bedeutung“ („ethics of mattering“)91 ein angemessenes
Verständnis
des
Politischen
fehlt.
Der
Betonung
radikaler
Kontingenz
und
Kontextabhängigkeit des Seiendenim agentiellen Realismus steht erstaunlicherweise eine
systematische Aussparung des Moments der Spannung und des Streits gegenüber. Die
Berücksichtigung der Konflikthaftigkeit unterschiedlicher Möglichkeiten des „Werdens der
Welt“92 ist aber unabdingbar für die Analyse von Machtbeziehungen. Daher ist es notwendig,
den begrifflichen Apparat um einen (ontologischen) Politikbegriff zu erweitern, um
alternative und konfligierende Materialisierungen in den Blick zu bekommen.93
4. Probleme und Perspektiven
Die Bedeutung des material turn für die STS liegt darin, dass dieser ein transdisziplinäres
Forschungsprogramm formuliert, das zu einer Intensivierung des theoretischen und
konzeptuellen Austauschs mit den Natur- und Technikwissenschaften einlädt und zugleich
Brücken zur (Human-)Geographie und den Umweltwissenschaften schlägt. Dabei lassen sich
Phänomen. Visuelle Argumentationsweisen und ihre Logiken am Beispiel von Sichtbarmachungen des ‚AIDSVirus‘ und der funktionellen MRT“, in: Petra Lucht u.a. (Hg.), Visuelles Wissen und Bilder des Sozialen.
Aktuelle Entwicklungen in der Soziologie des Visuellen, Wiesbaden 2013, S. 213–230; Hannah Fitsch, … dem
Gehirn beim Denken zusehen? Sicht- und Sagbarkeiten in der funktionellen Magnetresonanztomographie,
Bielefeld 2014.
90
Trevor Pinch, „Review Essay. Karen Barad, Quantum Mechanics, and the Paradox of Mutual Exclusivity“, in:
Social Studies of Science 41 (2011), S. 431–441; vgl. auch Silvan Schweber, „Review of ‚Meeting the Universe
Halfway‘“, in: Isis. Journal of the History of Science in Society 99 (2008): S. 879–882, hier S. 881.
91
Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 3
92
Barad in diesem Band, S. XXX.
93
Hoppe/Lemke, „Die Macht der Materie“; Pia Garske, „What’s the ‚Matter‘? Der Materialitätsbegriff des ‚New
Materialism‘ und dessen Konsequenzen für feministisch-politische Handlungsfähigkeit“, in: Prokla. Zeitschrift
für kritische Sozialwissenschaft 174 (2014), S. 111–129, hier. S. 122–124.
16
schon jetzt produktive Irritationen von eingeschliffenen disziplinären Denkgewohnheiten und
etablierten Repertoires der Analyse und Kritik beobachten. Nicht nur für die Wissenschaftsund Technikforschung, sondern auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt
dürfte es eine große Herausforderung darstellen, wenn neben Marxismus, feministischer
Theorie oder postcolonial studies auch Positionierungen innerhalb der Quantenphysik94,
Evolutionstheorie95, Biologie96 oder Komplexitätsforschung97 als Bezugspunkte kritischer
Theorie in Betracht kommen98.
Es lassen sich jedoch auch eine Reihe von problematischen Tendenzen innerhalb der Neuen
Materialismen beobachten, die die analytischen Vorzüge und kritischen Potenziale
konterkarieren können. Zuallererst ist dabei ein oft euphorischer Hype zu nennen, der die
theoretischen Traditionslinien und die historischen Entstehungsbedingungen der Neuen
Materialismen unterschlägt, um deren Originalität und innovativen Gehalt auf diese Weise zu
überhöhen. Gegen die Rede von einer „Revolution des Denkens“99, stellen Steve Woolgar und
Javier Lezaun fest, dass der von vielen Neuen Materialist_innen vorgebrachte Anspruch, die
Trennung zwischen Epistemologie und Ontologie überwunden zu haben, nur plausibel wird,
indem die konstruktivistischen Ambitionen von vornherein auf epistemische Regime oder
diskursive Formen begrenzt werden.100 Die Folge ist eine Ignoranz gegenüber STS-Arbeiten,
die sich schon lange mit den „instrumentellen, performativen und materialen Dimensionen in
der Herstellung von Fakten und Artefakten beschäftigen“101.
Eine weitere Gefahr besteht in einem theoriepolitischen Konservatismus, der bewährte
Traditionslinien und zentrale Einsichten der STS zu untergraben
droht. Einige
Vertreter_innen der Neuen Materialismen gehen voranalytisch von einer universellen
„agentiven Kraft der Materie“ aus, anstatt empirisch zu untersuchen, wie Handlungsfähigkeit
lokal konkret hergestellt wird.102 Wenn Handlungsmacht in diesen Arbeiten als allgemeines
94
Barad, Meeting the Universe Halfway.
Grosz, „Darwin and Feminism“.
96
Elizabeth Wilson, Gut Feminism, Durham, London 2015.
97
Manuel DeLanda, A Thousand Years of Nonlinear History, Brooklyn, New York 1997.
98
Andreas Folkers, „Was ist neu am neuen Materialismus? Von der Praxis zum Ereignis“, in: Tobias Goll u.a.
(Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster 2013, S. 17–34, hier S. 30.
99
Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 85; kritisch dazu: Lemke, „Varieties of Materialism“.
100
Vgl. etwa Coole/Frost, „Introducing the New Materialisms“, S. 6.
101
Steve Woolgar, Javier Lezaun, „The Wrong Bin Bag. A Turn to Ontology in Science and Technology
Studies?“, in: Social Studies of Science 43 (2013), S. 321–340, hier S. 322.
102
Bruining hat darauf hingewiesen, dass die einseitige und oft verzerrte neo-materialistische Kritik an dem
vermeintlichen „Kulturalismus“ poststrukturalistischer Ansätze manchmal mit der Vorstellung verknüpft wird,
dass Materie von Interpretation, Bedeutung und Diskurs getrennt werden kann (Dennis Bruining, „A
Somatechnics of Moralism. New Materialism or Material Foundationalism?“, in: Somatechnics 3 (2013), S.
149–168; vgl. auch Sara Ahmed, „Open Forum Imaginary Prohibitions. Some Preliminary Remarks on the
Founding Gestures of the ‚New Materialism‘“, in: European Journal of Women’s Studies 15 (2008), S. 23–39).
95
17
Attribut von Materie begriffen wird, dann läuft dies den wissenschaftlichen Einsichten der
STS entgegen, die in empirischen Studien spezifische Prozesse der Materialisierung in den
Blick nehmen. Im Ergebnis wird das relationale Vokabular, das Interaktionen (oder
Intraaktionen) hervorhebt, oft zugunsten eines ontologischen Begriffs von Materie
aufgegeben, die durch agentielle Kräfte, erfinderische Vermögen und unvorhersehbare
Ereignishaftigkeit gekennzeichnet sei.103
Gegen diese Trends zur Selbstprofilierung und Separierung von der STS-Tradition liegt das
innovative Potenzial der Neuen Materialismen gerade darin, die in den vergangenen
Jahrzehnten etablierten Untersuchungsmethoden der Wissenschafts- und Technikforschung
weiterzuentwickeln und zu vertiefen. Die Neuakzentuierung der STS ermöglicht es, über die
Analyse neuer oder kontroverser Wissensbestände und technischer Artefakte hinaus auch
materiale Entitäten zu untersuchen, deren Realitätsgehalt in der Regel als vertraut,
selbstverständlich und unkontrovers gilt – wie etwa Arteriosklerose.104 Diese Erweiterung von
Untersuchungsfeldern und -gegenständen über das engere Feld der Wissenschafts- und
Technikforschung hinaus erlaubt es, Tiefenschichten von Materialisierungsprozessen
freizulegen, um aufzuzeigen, wie scheinbar grundlegende und unveränderliche Phänomene
das Ergebnis dynamischer Prozesse und performativer Produktionen sind. Eine weitere Stärke
der Neuen Materialismen ist schließlich die enge Verknüpfung epistemologischer,
ontologischer und politisch-ethischer Fragen. Sie regt dazu an, theoretische Konzepte und
normative Überlegungen systematisch miteinander zu verknüpfen. Die dabei vorgenommenen
Revisionen überkommener Formen politischer Repräsentation und die vorgeschlagenen
Neuimaginationen ethischer Praxis dürften nicht nur einen wichtigen Beitrag für die
zukünftige Forschungsarbeit und Selbstreflexion der STS darstellen, sondern auch deren
gesellschaftliche Bedeutung weiter stärken.
Zur Kritik an dieser Tendenz vgl. Mol, „Mind your Plate!“, S. 380f.; Woolgar/Lezaun, „The Wrong Bin
Bag“, S. 326; Lynch, „Ontography“; Sebastian Abrahamsson u.a., „Living with Omega-3. New Materialism and
Enduring Concerns“, in: Environment and Planning D: Society and Space 33 (2015), S. 4–19.
104
Malcolm Ashmore, „Book Review. The Life Inside/The Left-Hand Side“, in: Social Studies of Science 35
(2005), S. 827–830.
103
18