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Neue Materialismen

This is not the final manuscript – it is an Author’s Accepted Manuscript of a book contribution. Full citation: Lemke, T. (2017). Einführung zu „Neue Materialismen“. In: Bauer, S., Heinemann, T. & Lemke, T. (Hg.). Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Berlin: Suhrkamp, 551-573. Thomas Lemke Neue Materialismen1 In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine bemerkenswerte Neuorientierung und Akzentverschiebung zu beobachten: Dinge, Artefakte und Objekte werden zunehmend thematisiert und neu konzeptualisiert.2 Theoretische Perspektiven und empirische Studien, die sich verschiedenen Aspekten und Formen von „Materialität“ widmen, treten tendenziell an die Stelle von bzw. ergänzen Forschungsarbeiten, die auf soziale Konstruktionen, kulturelle Praktiken oder diskursive Prozesse fokussieren. Innerhalb dieser allgemeinen theoretischen Konjunktur haben in den vergangenen Jahren die sogenannten Neuen Materialismen besonders große Resonanz erfahren.3 Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass der „linguistic turn“ oder primär semiotisch verfahrende Ansätze unzureichend sind, um das komplexe und dynamische Zusammenspiel von Bedeutungsprozessen und materiellen Anordnungen zu erfassen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Neuen Materialismen keinen homogenen Denkstil oder eine in sich kohärente Denkschule darstellen. Es handelt sich eher um einen Dieser Beitrag greift auf bereits veröffentlichtes Material zurück, vgl. Thomas Lemke, „‚Die Regierung der Dinge‘. Politik, Diskurs und Materialität“, in: Zeitschrift für Diskursforschung 2 (2014), S. 250–267; Thomas Lemke, „Varieties of Materialism“, in: BioSocieties 10 (2015), S. 490–495; Katharina Hoppe, Thomas Lemke, „Die Macht der Materie. Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad“, in: Soziale Welt 66 (2015), S. 261–280. Für Anregungen und Kritik danke ich Katharina Hoppe und Matthias Rudolph für die Unterstützung bei der Formatierung und Fertigstellung des Manuskripts. 2 Vgl. z.B. Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.), Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge, Mass. 2005; Amiria Henare u.a. (Hg.), Thinking Through Things. Theorising Artefacts Ethnographically, London, New York 2007; vgl. auch Gustav Roßler, „Kleine Galerie neuer Dingbegriffe. Hybriden, QuasiObjekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge“, in: Georg Kneer u.a. (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zu Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt am Main 2008, S. 76–107. 3 Vgl. etwa Myra Hird, „Feminist Matters. New Materialist Considerations of Sexual Difference“, in: Feminist Theory 5 (2004), S. 223–232; Diana Coole, Samatha Frost (Hg.), New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics, Durham, London 2010; Rick Dolphijn, Iris van der Tuin (Hg.), New Materialism. Interviews & Cartographies, Ann Arbor 2012. 1 1 Sammelbegriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Orientierungen und disziplinärer Perspektiven abdeckt. Die theoretischen Bezüge sind extrem breit gestreut und umfassen Aktualisierungen des antiken Atomismus in der Tradition von Demokrit und Lukrez, aber auch moderne Vitalismuskonzepte, die auf die Arbeiten von Bergson und Deleuze rekurrieren. Anschlüsse an Derridas Dekonstruktivismus sind ebenso vertreten wie systemtheoretische Perspektiven; darüber hinaus finden sich in dem Feld auch Arbeiten, die sich an quantenphysikalischen Theoremen oder evolutionstheoretischen Prinzipien orientieren. Das disziplinäre Spektrum reicht von der feministischen Theorie4, der Kunsttheorie5 und der politischen Theorie6 über die Philosophie7 und Medientheorie8 bis hin zur Geographie9, Archäologie10 und den Literaturwissenschaften11. Besonders einflussreich ist diese Forschungsperspektive in den (STS). Debatten um den ontologischen Status von Materialität haben das Feld in den vergangenen Jahren entscheidend geprägt und zu leidenschaftlichen Kontroversen über zukünftige Schwerpunktbildungen, theoretische Abgrenzungslinien und methodische Präferenzen geführt.12 Im Folgenden werden zunächst Grundzüge und zentrale Thesen der Neuen Materialismen vorgestellt und theoriehistorische Differenzen zu älteren bzw. konkurrierenden Versionen des Materialismus herausgearbeitet. Der zweite Teil des Beitrags geht genauer auf die Bedeutung des „material turn“13 für die Wissenschafts- und Technikforschung ein, um einige Entwicklungslinien und Debatten nachzuzeichnen. Im Mittelpunkt des dritten Teils steht die Vorstellung und Diskussion der wohl wirkungsmächtigsten und wichtigsten neo-materialistischen Konzeption 4 Rosi Braidotti, Metamorphoses. Towards a Materialist Theory of Becoming, Cambridge 2002; Stacy Alaimo, Susan Hekman (Hg.), Material Feminisms, Bloomington, Indianapolis 2008; Elizabeth Grosz, „Darwin and Feminism. Preliminary Investigations for a Possible Alliance“, in: Alaimo/Hekman (Hg.), Material Feminisms, S. 23–51. 5 Barbara Bolt, Estelle Barrett (Hg.), Carnal Knowledge. Towards a New Materialism Through the Arts, London 2013. 6 Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham, London 2010. 7 Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Berlin, Zürich 2008; Levi Bryant u.a. (Hg.), The Speculative Turn. Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011; Graham Harman, „On the Undermining of Objects. Grant, Bruno, and Radical Philosophy“, in: Bryant u.a. (Hg.), The Speculative Turn, S. 21–40. 8 Matthew Fuller, Media Ecologies. Materialist Energies in Art and Technoculture, Cambridge, Mass. 2005. 9 Stephen Wiley, „Spatial Materialism. Grossberg’s Deleuzean Cultural Studies“, in: Cultural Studies 19 (2005), S. 63–99; Bruce Braun, Sarah Whatmore (Hg.), Political Matter. Technoscience, Democracy, and Public Life, Minneapolis, London 2010. 10 Christopher Witmore, „Archaeology and the New Materialisms“, in: Journal of Contemporary Archaeology 1 (2014), S. 203–246. 11 Babette Bärbel Tischleder, The Literary Life of Things. Case Studies in American Fiction, Frankfurt am Main, New York 2014. 12 Vgl. etwa die Sonderhefte Social Studies of Science 43 (3) (2013) („Turn to Ontology“) und Social Studies of Science 45 (3) (2015). 13 Tony Bennett, Patrick Joyce (Hg.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, London, New York 2010. 2 innerhalb der STS: Karen Barads agentieller Realismus. Abschließend werden einige Probleme und Entwicklungsmöglichkeiten dieser Forschungsperspektive aufgezeigt. 1. Grundzüge und zentrale Thesen der Neuen Materialismen Was heute unter dem Stichwort „Neue Materialismen“ diskutiert wird, ist das Resultat einer doppelten theoretischen und historischen Konjunktur. Die 1970er und 1980er Jahre waren gekennzeichnet vom Niedergang der zeitgenössischen materialistischen Ansätze, insbesondere des Marxismus, und dem Aufstieg poststrukturalistischer Theorien und kulturtheoretischer Perspektiven. Während Letztere jeden direkten Bezug auf Materie als einen naiven Repräsentationalismus oder Essentialismus problematisieren, zeigen sich NeoMaterialist_innen überzeugt, dass der epistemologische, ontologische und politische Status von Materialität zu überdenken und ein neues Konzept von Materie notwendig sei. Im Unterschied zu älteren Formen von Materialismus liegt dieser Neuakzentuierung der materialistischen Tradition die Idee zugrunde, dass Materie selbst als aktiv, wirkmächtig und plural statt als passiv, inert und einheitlich zu begreifen sei.14 Statt stumme Verfügungsmasse und einfaches Objekt menschlichen Handelns zu sein, zeichne sie sich durch Eigensinn und Handlungsmacht aus, die auf menschliche Akteure und deren Interaktionsformen und Selbstverständnis zurückwirke.15 Die Neuen Materialismen kritisieren die Auffassung der natürlichen Welt und der technischen Artefakte als bloße Ressourcen oder als Rohstoff für technologischen Fortschritt, ökonomisches Wachstum oder soziale Konstruktion. Sie zielen auf ein neues Verständnis von Ontologie, Epistemologie, Ethik und Politik, das Anthropozentrismus und Humanismus ebenso hinter sich lässt wie die ontologische Spaltung zwischen Natur und Kultur. Grundlegend für diese Bewegung ist die Ausdehnung der Konzepte von Handlungsfähigkeit, Selbstorganisation und Wirkungsmacht auf nicht-menschliche Entitäten und das Bruno Latour, „Can We Get Our Materialism Back, Please?“, in: Isis. Journal of the History of Science in Society 98 (2007), S. 138–142; Christopher Otter, „Locating Matter: The Place of Materiality in Urban History“, in: Bennett/ Joyce (Hg.), Material Powers, S. 38–59. 15 Alaimo/Hekman (Hg.), Material Feminisms; Claire Colebrook, „On Non Becoming Man. The Materialist Politics of Unactualized Potential“, in: Alaimo/Hekman (Hg.), Material Feminisms; Coole/Frost (Hg.), New Materialisms. Bereits in den 1990er Jahren forderten Rosi Braidotti und Manuel DeLanda, die materialistische Tradition in Form eines „Neo-Materialismus“ zu überdenken (Rosi Braidotti, Patterns of Dissonance. A Study of Women and Contemporary Philosophy, Cambridge 1991, S. 263–266; Manuel DeLanda, „The Geology of Morals. A NeoMaterialist Interpretation“, 1996, http://www.t0.or.at/delanda/geology.htm, letzter Zugriff 18. Januar 2016). Allerdings dürfte der Ruf nach einer Revision, einer Neuausrichtung oder Reorientierung des Materialismus so alt sein wie dieser selbst (s. James Feibleman, The New Materialism, Den Haag 1970; Raymond Williams, „Problems of Materialism“, in: ders., Problems in Materialism and Culture, London 1980, S. 103–122; Lemke, „Varieties of Materialism“). 14 3 Infragestellen traditioneller Vorstellungen von Leben. Dem Anspruch nach ist diese Neufassung von Materialität so umfassend und tiefgreifend konzipiert, dass bekennende Neue Materialist_innen von einer „Revolution des Denkens“ sprechen.16 Damit unterscheiden sich die Neuen Materialismen von zwei alternativen Konzeptualisierungen von Materialität. Im Unterschied zu den in der Anthropologie beheimateten material culture studies interessieren sie sich nicht für das „soziale Leben der Dinge“17. Begreift diese Forschungsrichtung Objekte als von und durch Menschen genutzte Dinge, die es ermöglichen, die Grenze zwischen der materiellen und der nicht-materiellen Welt zu ziehen, machen Neue Materialist_innen eben diese (hierarchische) Unterscheidung selbst zum Gegenstand der Analyse, um sie auf Grundlage eines umfassenden Begriffs von Materialität als prekär und kontingent auszuweisen.18 Darüber hinaus unterscheidet sich die neo-materialistische Literatur außerdem von einem „materialistischen Essentialismus“19, der Dingen feste und stabile Eigenschaften zuschreibt, die ontologisch unveränderlich sind und zu eindeutigen moralischen Positionierungen führen. Demgegenüber gehen viele Neue Materialist_innen von „plastischen Materialitäten“20 aus; Materie zeichnet sich demnach nicht durch Starrheit und Stabilität aus, sondern wird als flexibel und dynamisch begriffen (was prinzipiellen und generalisierenden ethischen Werturteilen den Boden entzieht). In ihrem Buch New Materialism: Interviews & Cartographies liefern Rick Dolphijn und Iris van der Tuin einen instruktiven Überblick über zentrale Charakteristika der Neuen Materialismen.21 Ihnen zufolge sind es vor allem vier Merkmale, die die neo-materialistische Agenda bestimmen.22 Das erste besteht in der „Transversalität“ der Neuen Materialismen, die es ermöglicht, zentrale Dualismen (post-)modernen Denkens zu rekonzeptualisieren. Dolphjin und van der Tuin betonen, dass Unterscheidungen wie etwa die zwischen Natur und Kultur, Mensch und Nicht-Mensch, Geist und Materie selbst in Prozessen der Materialisierung hervorgebracht werden statt deren Ausgangspunkt oder Organisationsprinzip darzustellen. 16 Vgl. Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 85. Arjun Appadurai, The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspectives, Cambridge 1998. 18 Ben Anderson, „Review of ‚Vibrant Matter‘“, in: Dialogues in Human Geography 1 (2011), S. 393–396, hier S. 393; Tischleder, The Literary Life of Things, S. 28–34. 19 Noel Castree, „A Post-Environmental Ethics“, in: Ethics, Place and Environment 6 (2003), S. 3–12, hier S. 8. 20 Gay Hawkins, „Plastic Materialities“, in: Braun/Whatmore (Hg.), Political Matter, S. 119–136. 21 Anders als die Autor_innen verwende ich hier den Plural, um die theoretische Vielfalt und Heterogenität dieser Forschungsperspektive zu betonen (s. auch Coole/Frost (Hg.), New Materialisms; Iris van der Tuin, „New Feminist Materialisms“, in: Women’s Studies International Forum 34 (2011), S. 271–277; Diana Coole, „Agentic Capacities and Capacious Historical Materialism. Thinking with New Materialisms in the Political Sciences“, in: Millenium. Journal of International Studies 41 (2013), S. 451–469, hier, S. 451–453). 22 Selbstverständlich ist dies weder eine neutrale noch die einzig mögliche Kartografie. Für alternative Klassifikationsvorschläge s. Diana Coole, Samantha Frost, „Introducing the New Materialisms“, in: Coole/Frost (Hg.), New Materialisms, S. 1–43, hier S. 6–7; William Connolly, „The ‚New Materialism‘ and the Fragility of Things“, in: Millenium. Journal of International Studies 41 (2013), S. 399–412. 17 4 Diese „transversale“ Qualität der Neuen Materialismen ermögliche es, traditionelle disziplinäre Profile und etablierte akademische Grenzziehungen zu überschreiten. Es handele sich also nicht um eine spezifische theoretische Orientierung, die in einer gegebenen Disziplin zum Einsatz komme, sondern um die Hervorbringung neuer Problematisierungsweisen und Denkstile. Zweitens verknüpfen Dolphjin und van der Tuin die Neuen Materialismen mit einer „monistischen Philosophie der Differenz“23. Während traditionelle Dualismen Beziehungen durch Negativität, Gegensatz und Hierarchie definieren, schlagen die Neuen Materialismen ein alternatives Modell vor, dessen „affirmative Relationalität“24 Differenz als einen Prozess begreift; als eine Bewegung, die Differenzen produziert und sie dabei permanent überschreitet und transformiert. Drittens stellen die Neuen Materialismen eine Perspektive dar, die die binäre Opposition von Sozialkonstruktivismus und traditionellem Realismus hinter sich lässt. Im Mittelpunkt stehen „performative Ontologien“25, die über Judith Butlers Konzept der Genderperformativität hinausgehen und nicht auf den Bereich des Sozialen begrenzt sind..26 Das vierte Merkmal der Neuen Materialismen, das Dolphjin und van der Tuin identifizieren, ist seine posthumanistische Ausrichtung und die Kritik anthropozentrischer Denkformen. In dieser Hinsicht ist das (menschliche) Subjekt eher das Ergebnis denn der Ausgangspunkt einer epistemischen Erfahrung. 2. STS und Materialismus Das Interesse an praktischen und performativen Ontologien in den Neuen Materialismen trifft sich mit einer zentralen Traditionslinie der STS. Deren empirische Orientierung ist von Anfang an ein wichtiger analytischer Vorzug dieser Forschungsperspektive gegenüber den theoretischen Abstraktionen der Wissenschaftsphilosophie und der eher normativ ausgerichteten Wissenschaftssoziologie und ihrer Kritik an unzulässigen gesellschaftlichen Einflussnahmen auf die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion.27 Schon in den frühen Laborstudien und in der Akteur-Netzwerk-Theorie spielte die Materialität von „Inskriptionsgeräten“28 und die Handlungsfähigkeit nicht-menschlicher Akteure29 eine entscheidende Rolle. In den 1990er Jahren forderte Andrew Pickering eine Neuausrichtung 23 Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 121. Ebd., S. 127. 25 Ebd., S. 137. 26 Zur neo-materialistischen Kritik an Butler s. Vicki Kirby, Judith Butler. Live Theory, London, New York 2006; Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism. 27 S. dazu Wehling in diesem Band. 28 Bruno Latour, Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1979; s. auch Latour/Woolgar in diesem Band, S. XXX. 29 Vgl. etwa Callon in diesem Band. 24 5 der Sozialtheorie, in der Menschen und Dinge sich in einem offenen und unvorhersehbaren „Tanz der Handlungsfähigkeit“ („dance of agency“) befinden. 30 Durch Begegnungen und Interaktionen von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten werden Pickering zufolge in diesem „Tanz“ permanent Ontologien produziert und transformiert. In ähnlicher Weise identifizierte Charis Cussins in ihrer ethnografischen Untersuchung von US-amerikanischen Reproduktionskliniken eine „ontologische Choreografie“ („ontological choreography“), die technische, wissenschaftliche, politische, rechtliche und emotionale Dynamiken koordiniert und miteinander verschränkt.31 Trotz der Kontinuität, mit der ontologische Fragen adressiert werden, ist in den vergangenen Jahren eine Akzentverschiebung auszumachen, die David Bloor, ein Pionier der Wissenschafts- und Technikforschung, mit Blick auf seine eigene Arbeit auf den Punkt brachte: „Während ich den materialistischen Charakter des soziologischen Ansatzes herausgestellt habe, war dieser Materialismus tendenziell eher passiv als aktiv …“32 Es existieren verschiedene konzeptuelle Vorschläge innerhalb der STS, wie der wachsenden Anerkennung der Handlungsfähigkeit von Materie sowie ontologischen Fragen am besten Rechnung zu tragen sei. Sehr schematisch lassen sich zwei unterschiedliche „Aktivitätsmuster“ unterscheiden, ohne dass die Grenzverläufe immer klar und eindeutig auszumachen sind: ein „Ding-Materialismus“ auf der einen und ein „BeziehungsMaterialismus“ auf der anderen Seite. Ein wichtiger Vertreter der ersten Linie ist Bruno Latour, der die Akteur-Netzwerk-Theorie zu einer umfassenden Sozialtheorie unter systematischer Einbeziehung von „Dingen“ erweitern will. Die von ihm konzipierte „neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“33 versteht sich dabei als Bruch mit jener Tradition des Materialismus, die von der Figur der Repräsentation und einem Fokus auf einfache Determinationsverhältnisse gekennzeichnet sei. Gegen diesen „idealistischen Materialismus“34 der Objekte bringt Latour einen „materiellen Materialismus“35 der Dinge in Anschlag. Der Dingbegriff ist für Latour von zentraler Bedeutung, um eine „neue kritische Haltung“36 zu begründen. Seiner Einschätzung nach sind die herkömmlichen Grundbegriffe und Konzepte der Soziologie und Gesellschaftstheorie 30 Andrew Pickering, The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science, Chicago 1995. Charis Cussins, „Ontological Choreography. Agency through Objectification in Infertility Clinics“, in: Social Studies of Science 26 (1996), S. 575–610. 32 David Bloor, Knowledge and Social Imagery, Chicago 1991, S. 158. Diese und die folgenden Übertragungen vom Englischen ins Deutsche hat der Verfasser dieses Beitrags vorgenommen. 33 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007. 34 Latour, „Can We Get Our Materialism Back, Please?“, S. 139. 35 Ebd., S. 141. 36 Bruno Latour, Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Berlin, Zürich 2007, S. 53. 31 6 letztlich unbrauchbar, um die Komplexität der Verknüpfungen zwischen ontologisch heterogenen Entitäten zu erfassen. Latour begreift Natur und Gesellschaft nicht als zwei voneinander getrennte und gegeneinander abgeschlossene Bereiche oder Sphären, sondern als ein Kontinuum von Netzwerken und Akteurskoalitionen. In seinem begrifflichen Repertoire bezeichnet das Adjektiv „sozial“ daher „kein Ding unter anderen Dingen […], sondern einen Verknüpfungstyp zwischen Dingen, die selbst nicht sozial sind“37. An die Stelle des ontologischen Dualismus tritt der Monismus von Beziehungsgefügen und Praktiken. Der Gesellschaftsbegriff sei angesichts der vielfältigen Interaktions- und Transaktionsprozesse zwischen sozialen, natürlichen und technischen Akteuren aufzugeben und durch die Begriffe „Kollektiv“ oder „Assoziation“ zu ersetzen. Das normative Projekt, das er in dem suggestiven Bild eines „Parlaments der Dinge“38 zusammenfasst, soll die institutionellen und politischen Arrangements schaffen, welche die demokratische Einrichtung und Gestaltung der multiplen Beziehungsgefüge zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten ermöglichen. Das Ziel dieses politischen Projekts ist es, eine „gemeinsame Welt“39 zu formen, die auf der gleichberechtigten Mitwirkung aller Mitglieder des Kollektivs beruht. Von Latours programmatischer Forderung nach einer Neuausrichtung der Sozialtheorie inspiriert ist Jane Bennetts Entwurf einer politischen Ökologie der Dinge. Bennett unterstreicht in ihrer Arbeit, dass Materie als aktiver Teil eines politischen Prozesses zu begreifen ist, der bislang von menschlicher Subjektivität dominiert gewesen sei. Erklärtes Ziel ihrer Schriften ist es, die traditionellen Dualismen zwischen Materie und Leben, anorganisch und organisch, passiven Objekten und aktiven Subjekten zu überwinden.40 Stattdessen geht Bennett von einer grundlegenden „Vitalität der Materie“41 aus, die sie folgendermaßen definiert: „Unter ‚Vitalität‘ verstehe ich die Fähigkeit von Dingen – Essbarem, Waren, Stürmen, Metallen –, nicht nur den Willen und die Pläne von Menschen zu behindern oder zu blockieren, sondern auch als Quasi-Akteure oder Kräfte mit eigenen Bewegungsbahnen, Neigungen und Tendenzen zu handeln.“42 In diesem „vitalistischen Materialismus“43 sind Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation keine Eigenschaften, die ausschließlich Menschen zukommen. Bennett zufolge ist es vielmehr notwendig, die Macht nicht-menschlicher Akteure anzuerkennen. Sie benutzt und Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 17. Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2001. 39 Ebd., S. 82. 40 Jane Bennett, Vibrant Matter; Jane Bennett, „The Force of Things. Steps Toward an Ecology of Matter“, in: Political Theory 32 (2004), S. 347–372, hier S. 353f. 41 Vgl. Bennett, Vibrant Matter, S. vii. 42 Ebd., S. viii. 43 Ebd., S. x. 37 38 7 synthetisiert eine heterogene Vielzahl von Konzepten und Ideen von Lukrez, Spinoza, Adorno, Dewey, Thoreau, Bergson, Deleuze und Guattari, um ein alternatives Konzept von Handlungsmacht zu entwickeln. Bennett argumentiert, dass Handlungsfähigkeit über ein größeres Spektrum ontologischer Typen verteilt sei, das quer zur Trennungslinie zwischen Menschen und Nicht-Menschen verläuft.44 In dieser Perspektive kommt auch anorganischer Materie die Fähigkeit zur Selbstorganisation und „Vernunft“ zu. Bennett prägt den Begriff der „Ding-Macht“ („thing power“), um die Fähigkeit von Dingen zu erfassen, im Zusammenspiel mit anderen materiellen Körpern Effekte zu erzielen.45 Geht der „Ding-Materialismus“ sowohl in der Hybrid-Ontologie Latours als auch im Vitalismus Bennetts davon aus, dass Handlungsfähigkeit eine Eigenschaft ist, die menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren inhärent ist und ihnen gleichermaßen zukommt, nimmt der „relationale Materialismus“46 das Netzwerk von Beziehungen in den Blick, das Handlungsfähigkeiten überhaupt erst ermöglicht. Hier stehen nicht Dinge als „Streitsachen“ im Mittelpunkt des Interesses, sondern eher Gefüge, die sich in Dingen materialisieren und denen diese ihre Festigkeit und „ontologische Dichte“ verdanken. Statt die Idee einer „Materialität an sich“47 zu verfolgen, wird hier ein Produktionsprozess fokussiert, der von anderen Körpern abhängig ist und im Rahmen dessen sich die Materialität der Körper und ihre Grenzen erst konstituieren. Dieser „Beziehungs-Materialismus“ findet sich eher in empirisch orientierten Untersuchungen und fallbezogenen Studien als in philosophischen Abhandlungen oder programmatischen Forderungen nach einer neuen Sozialtheorie. Ein wichtiges Forschungsfeld des „relationalen Materialismus“ ist die Verschränkung von politischen Prozessen und technologischen Artefakten, die zur Problematisierung der Politik als einer ausschließlich menschlichen, durch Interessenkonflikte oder gemeinsame Entscheidungsprozesse gekennzeichneten Sphäre beiträgt. Die hier beheimateten Forschungsansätze stehen meist in deutlichem Kontrast zum klassischen Genre der politischen Theorie, die politische Prozesse vor allem unter diskursiven, linguistischen oder 44 Vgl. ebd., S. 10. Bennett, „The Force of Things“; Bennett, Vibrant Matter, S. 2–6; vgl. auch Hawkins, „Plastic Materialities“. Obwohl Bennett immer wieder Merkmale und Eigenschaften herausstellt, die den „Dingen an sich“ innewohnen sollen (s. obiges Zitat), betont sie an anderer Stelle, dass Dinge als relational begriffen werden müssen, als integraler Bestandteil dynamischer und prozessualer Gefüge. Diese konzeptuelle Inkonsistenz ist ihr zwar bewusst (vgl. etwa Bennett, „The Force of Things“, S. 20), wird in ihrer Arbeit aber nicht aufgelöst; vielmehr ist festzuhalten, dass schon die Vorstellung einer „Ding-Macht“ auf einen „naiven Realismus“ verweist, der Dingen einen „mehr als relationalen Charakter“ zuerkennt. (Steve Hinchliffe, „Review of ‚Vibrant Matter‘“, in: Dialogues in Human Geography 1 (2011), S. 396–399, hier: S. 398). 46 Annemarie Mol, „Mind your Plate! The Ontonorms of Dutch Dieting“, in: Social Studies of Science 43 (2013), S. 379–396, hier S. 381. 47 Bennett, „The Force of Things“, S. 351. 45 8 prozeduralen Vorzeichen begreift und deren Materialität damit weitgehend ausblendet. 48 Statt Wasser, Plastikflaschen, Metalle oder Umwelttechnologien als passive Grundlage und unveränderliches Fundament politischer Prozesse zu betrachten, werden ihre flexible Ontologie und die performativen Aspekte dieser Materialisierungen in den Blick genommen, also jene praktischen Operationen und Verfahren, durch die Dinge, Artefakte und Infrastrukturen politische und moralische Eigenschaften erhalten.49 Dieses Forschungsinteresse konkretisiert sich etwa in Andrew Barrys Studie über die Konstruktion einer Ölpipeline, die als eines der weltweit größten Bauvorhaben in den 2000er Jahren realisiert wurde und seitdem das georgische Baku mit Ceyhan in der Türkei verbindet. Sein daraus hervorgegangenes Buch Material Politics zeigt, dass die Produktion, Zirkulation und Bewertung von Informationen über die materialen Eigenschaften der Pipeline zu neuen und besonders intensiven Formen politischen Konflikts beigetragen haben. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Materialien wo und in welcher Weise eingesetzt werden können, welche Gefahren sich mit diesem Einsatz verbinden und wer über das relevante Wissen verfügt, um einschätzen zu können, wie sich das Material in unterschiedlichen klimatischen und geografischen Umwelten verhält. Im Gegensatz zu rein diskursanalytischen Studien macht Barry durch die Untersuchung vielfältiger Materialitäten und Akteurskoalitionen, von Erdrutschen und Dokumentenarchiven über internationale NGOs und Arbeitskämpfe bis hin zu künstlerischen Praktiken das Netz von Beziehungen und Prozessen sichtbar, das den Bau und die spezifische Form dieser multinationalen Energieinfrastruktur überhaupt erst ermöglicht haben. Die Studie zeigt darüber hinaus aber auch die prinzipiellen Grenzen traditioneller demokratietheoretischer Perspektiven auf: Aber während radikaldemokratische Theoretiker_innen auf die Zentralität von Dissens im politischen Leben verweisen, sagen sie nur wenig über die Existenz und die Bedeutung von Materialien und Gegenständen, die häufig öffentliche Wissenskontroversen hervorrufen. Diese Kontroversen drehen sich nicht nur um Meinungsverschiedenheiten über die Rechte und Interessen menschlicher Akteure und die Identitäten sozialer Gruppen […], sondern auch um die Gründe des Klimawandels, Kristin Asdal u.a., „Editorial. The Technologies of Politics“, in: Distinktion. Scandinavian Journal of Social Theory 16 (2008), S. 5–10; Noortje Marres, Javier Lezaun, „Materials and Devices of the Public. An Introduction“, in: Economy and Society 40 (2011), S. 489–509. 49 Marres/Lezaun, „Materials and Devices of the Public“, S. 493; Vgl. auch Astrida Neimanis, „Alongside the Right to Water. A Posthumanist Feminist Imaginary“, in: Journal of Human Rights and the Environment 5 (2014), S. 5–24; Gay Hawkins, „Packaging Water. Plastic Bottles as Market and Public Devices“, in: Economy and Society 40 (2011), S. 534–552; Noortje Marres, Material Participation. Technology, the Environment and Everyday Publics, Basingstoke 2012; Andrew Barry, „Materialist Politics. Metallurgy“, in: Braun/Whatmore (Hg.), Political Matter, S. 89–117. 48 9 die Sicherheit genetisch veränderter Organismen, die Ursachen von Krankheiten, die Risiken von Überschwemmungen und die Folgen eines Atomunfalls.50 Die Frage der Politik beschäftigt auch einen zweiten Strang des relationalen Materialismus, wobei das Problem einer „ontologischen Politik“51 in den Vordergrund rückt. Anders als in der westlichen philosophischen Tradition üblich begreift diese Forschungsrichtung „Ontologie“ nicht im Singular und als fundamental, sondern als vielfältig und dynamisch. Diese „empirische Ontologie“52 oder „Ontografie“53 geht der Politik nicht voraus und begründet sie, sondern ist selbst durch und durch politisch, indem sie die Frage aufwirft, was sich als real materialisiert (und was nicht). Die Realität geht den Praktiken nicht voraus und verleiht ihnen Sinn und Richtung, sondern sie wird selbst erst durch die Praktiken hervorgebracht. In dem Maße, in dem die Praktiken variieren, verändern sich auch die Objekte, wobei es notwendig ist, die Beziehungen der Objekte in Abhängigkeit von den verschiedenen Praktiken in den Blick zu nehmen. Das klassische Beispiel für diese Analyseform ist Annemarie Mols ethnografische Studie The Body Multiple. Ontology in Medical Practice54. Mols Untersuchung zeigt, wie das Zusammenspiel von Körpern, Diskursen und medizinischen Instrumenten in einem niederländischen Krankenhaus „Arteriosklerose“ als multiple Realität erschafft, die nicht auf eine einzelne Krankheit oder eine konsistente Symptomatik zu reduzieren ist, sondern in vielen heterogenen Praktiken in Kraft gesetzt wird.55 3. Apparate, Phänomene und Intraaktionen: Karen Barads agentieller Realismus Die wohl gegenwärtig einflussreichste Konzeption eines relationalen Materialismus innerhalb der STS hat die Physikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad vorgelegt. 56 In ihrer 50 Andrew Barry, Material Politics. Disputes Along the Pipeline, Malden, Oxford 2013, S. 8. Annemarie Mol, „Ontological Politics. A Word and Some Questions“, in: John Law, John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After, Oxford 1999, S. 74–89; John Law, After Method. Mess in Social Science Research, London 2004. 52 John Law, Marianne Lien, „Slippery. Field Notes in Empirical Ontology“, in: Social Studies of Science 43 (2013), S. 363–387. 53 Michael Lynch, „Ontography. Investigating the Production of Things, Deflating Ontology“, in: Social Studies of Science 43 (2013), S. 444–462. 54 Annemarie Mol, The Body Multiple. Ontology in Medical Practice, Durham 2002. 55 Für eine genauere Darstellung und Diskussion s. Sørensen/Schank in diesem Band. Vgl. auch die Studie von Law/Lien, „Slippery“, die anhand des Beispiels des atlantischen Lachses zeigt, wie Realitäten durch eine Reihe von Praktiken in Kraft gesetzt werden. Der Text macht auf Grundlage einer empirischen Fallstudie deutlich, dass das Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher und maritimer Praktiken unterschiedliche Arten von Lachs hervorbringt. 56 Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Barads agentiellem Realismus im Rahmen eines gemeinsam mit Katharina Hoppe verfassten Artikels (Hoppe/Lemke, „Die Macht der Materie“). 51 10 Arbeit verbindet sie Einsichten des Physikers Niels Bohr, einem der wichtigsten Vertreter der Quantenmechanik, mit Elementen poststrukturalistischer Theorie. Das Ergebnis dieser theoretischen Synthese ist Barads „agentieller Realismus“, der eine umfassende kritische Überprüfung der Grundannahmen der westlichen Epistemologie und Ontologie ermöglichen soll.57 Der zunächst widersprüchlich anmutende Begriff verweist auf Barads Anliegen, Materialität dynamisch und variabel anstatt als stabiles und unveränderliches Fundament zu konzeptualisieren, ohne dabei jedoch den Anspruch wissenschaftlicher Objektivität aufzugeben. Demnach ist Materie nicht als passive Substanz zu begreifen, die unabhängig von epistemischen Praktiken existiert; vielmehr sei sie „agentiv“ an Erkenntnisprozessen und an jeweils unterschiedlichen Materialisierungen beteiligt.58 Das erklärte Ziel von Barads Arbeit besteht darin, die Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen neu zu konzeptualisieren und die Kategorien von Subjektivität, Handlungsfähigkeit und Kausalität zu überdenken. Zentral ist dabei der von ihr entwickelte Begriff der „Intraaktion“, der im Gegensatz zu „Interaktion“ davon ausgeht, dass die Relata einer Beziehung, beispielsweise „Subjekt“ und „Objekt“, erst in und durch diese konstituiert werden – und ihr nicht vorausgehen.59 In dieser Lesart tritt die Materialisierung von „Phänomenen“ an die Stelle primärer und fundamentaler ontologischer Einheiten mit festen Grenzen und Eigenschaften. Wichtige Referenzpunkte des agentiellen Realismus sind neben Bohrs Quantenphysik auch Foucaults Macht- und Diskursbegriff, Butlers Konzept der Performanz und Lévinas’ Verständnis ethischer Weltbezüge. Die Arbeiten dieser Theoretiker_innen unterzieht Barad einer „diffraktiven Lektüre“60, die die Bruchlinien, Verschränkungen und „Interferenzen“ der unterschiedlichen Positionen und Perspektiven herausarbeitet.61 Barad schließt zunächst an Foucaults Diskursbegriff an und hebt die Bedeutung von dessen Machtanalytik aufgrund ihrer 57 Vgl. Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham, London 2007, S. 83. 58 Vgl. ebd., S. 43f. 59 Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin 2012. 60 Vgl. Karen Barad, „Intra-active Entanglements. An Interview with Karen Barad by Malou Juelskjær and Nete Schwennesen“, in: Kvinder, Køn & Forskning/Women, Gender and Research 1–2 (2012), S. 10–24, hier S. 13; Karen Barad, „Diffracting Diffraction. Cutting Together-Apart“, in: Parallax 20 (2014), S. 168–187; Iris van der Tuin, „‚A Different Starting Point, a Different Metaphysics‘. Reading Bergson and Barad Diffractively“, in: Hypatia 26 (2011), S. 22–42; Iris van der Tuin, „Diffraction as a Methodology for Feminist Onto-Epistemology. On Encountering Chantal Chawaf and Posthuman Interpellation“, in: Parallax 20 (2014), S. 231–244. 61 Zu dem – zunächst von Donna Haraway in den STS verwendeten – Begriff der Diffraktion s. Corinna Bath u.a. (Hg.), Geschlechter Interferenzen. Wissensformen – Subjektivierungsweisen – Materialisierungen, Berlin 2013; Birgit Mara Kaiser, Kathrin Thiele, „Diffraction. Onto-Epistemology, Quantum Physics and the Critical Humanities“, in: Parallax 20 (2014), S. 165–167. 11 relationalen und produktiven Perspektive hervor.62 Dennoch sei Foucaults Analyse des Verhältnisses von diskursiven Praktiken und materiellen Phänomenen unzureichend und die von ihm herausgestellte Produktivität von Macht bleibe auf die soziale Sphäre beschränkt.63 Barad zufolge konzipiert er Materie letztlich als passives Substrat und Rohstoff für soziale Prozesse. Diese konzeptuelle Engführung führe dazu, die Grenzen zwischen Natur und Kultur als dauerhaft und stabil zu begreifen, sodass die komplexen Beziehungen, die diese Dichotomien überhaupt erst hervorbringen, nicht in den Blick geraten.64 Barads kritische Revision des Konzepts diskursiver Praktiken und der Entwurf eines intraaktiven Machtbegriffs zielen auf eine theoretische Perspektive, die humanistische Prämissen und die Beschränkung der Analyse auf den Bereich des Sozialen hinter sich lässt. Barad zufolge schreiben sich Diskurse nicht in eine als grundlegend und stabil konzipierte Materialität ein, die eine prinzipiell erkennbare und nachvollziehbare kausale Struktur aufweist; vielmehr begreift sie auch „Ursache“ und „Wirkung“ als intraaktive Prozesse.65 Diese Auffassung von Kausalität folgt aus Barads Reformulierung der Foucaultschen Machtanalytik, die sozialontologische und anthropozentrische Beschränkungen insofern transzendieren soll, als sie Materie als konstitutiven Bestandteil von Machtbeziehungen konzipiert: Das heißt, die Kräfte, die in der Materialisierung von Körpern am Werk sind, sind nicht nur sozial, und die materialisierten Körper sind nicht nur menschliche Körper. Mehr noch, die produktive Natur regulatorischer und anderer natürlich/kultureller [naturalcultural] Praktiken muss im Sinne der Kausalstruktur der Intraaktivität verstanden werden. Für eine agentiell-realistische Konzeption von Macht ist eine Neufassung von Kausalität als Intraaktivität zentral.66 Die Orientierung an einer als intraaktiv verstandenen Ontologie spielt auch für die Neufassung von „Performativität“ eine entscheidende Rolle. Barad knüpft hier an Butlers Performativitätskonzept an, dessen besondere Bedeutung Bedeutsamkeit sie darin sieht, dass es eine repräsentationalistische Weltsicht überwindet, indem es auf die produktive und prozesshafte Dimension von Materialisierung verweist.67 Allerdings kritisiert sie, dass Butler Vgl. Barad in diesem Band, S. XXX; Karen Barad, „Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter“, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28 (2003), S. 801–831, hier S. 819. 63 Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 200; Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 820. 64 Vgl. Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 819. 65 Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 236. 66 Ebd., S. 235f, Hervorh. im Orig. 67 Vgl. ebd., S. 62. 62 12 auf menschliche Körper fokussiere, ähnlich wie Foucault Materie als passiv voraussetze und die Hervorbringung von Körpern als Effekt diskursiver Praktiken begreife. Im Unterschied zu Butler konzipiert Barad Performativität nicht als iterative Zitation68, sondern als intraaktive Relation69. Der analytische Vorzug einer solchen intraaktiven Wende liegt Barad zufolge darin, dass Transformationsprozesse nicht allein von Irritationen in der Zitation von Normen abhängen. Handlungsmacht beschränkt sich somit nicht auf Resignifikationspraktiken.70 Barad versteht Tätigsein (agency) daher nicht als attributive Eigenschaft von Subjekten oder Objekten, sondern als „das In-Kraft-Setzen („enactment”) von iterativen Veränderungen bestimmter Praktiken durch die Dynamik der Intraaktivität.”71 Diente die diffraktive Lektüre der Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler dazu, die Koordinaten einer radikal relationalen und posthumanistischen Ontologie auszuweisen, expliziert Barad die epistemologischen und ethischen Dimensionen des agentiellen Realismus mit Bezug auf die Physik Bohrs und die Philosophie von Lévinas. Sie argumentiert, dass die drei Komponenten ihrer theoretischen Perspektive – Ontologie, Epistemologie und Ethik – ihrerseits in einem intraaktiven Verhältnis stehen und nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Insgesamt zielt Barads Arbeit daher auf „so etwas wie eine Ethico-ontoepistemo-logie – das Ernstnehmen der Verflechtung von Ethik, Erkenntnis und Sein“72. Barads epistemologische Position ist folglich eng verknüpft mit ihrer „relationalen Ontologie“73. Die zentrale epistemologische Aussage des agentiellen Realismus liegt in der Betonung der „Untrennbarkeit des Gegenstandes und der messenden Agentien“74. Wesentlich für dieses erkenntnistheoretische Motiv ist die quantenphysikalische Einsicht, dass Position und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig bestimmbar sind. Daraus folgt, dass Messungen nicht als neutrale Interaktionen in (und mit) der Welt begriffen werden können. Vielmehr ist das Gemessene in dieser Sichtweise radikal abhängig von Apparaten und Messinstrumenten, da unterschiedliche Settings entweder Position oder Impuls bestimmen. Das physikalische Theorem des Komplementaritätsprinzips von Niels Bohr, das dieses Phänomen interpretiert, betont die wechselseitige Exklusivität von Apparaten. Von einer solchen Exklusivität auszugehen hat weitreichende Folgen, denn für Bohr bedeutet dies, dass Apparate festlegen, 68 Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main 1997, S. 39. Barad, „Posthumanist Performativity“; Barad, Agentieller Realismus, S. 98. 70 Vgl. auch Kirby, Judith Butler, S. 70; Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 108. 71 Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 807. 72 Barad, Agentieller Realismus, S. 100f., Hervorh. im Orig. 73 Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 93. 74 Barad in diesem Band, S. XXX. 69 13 was zu einem konkreten Zeitpunkt unter bestimmten Umständen sein kann – und sie damit andere ontologische Möglichkeiten ausschließen.75 Dem Begriff des Apparats kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Wie schon bei Foucault und Butler ist auch die Bezugnahme auf Bohr durch eine „diffraktive Lektüre“ gekennzeichnet, die dessen Einsichten zugleich zu bewahren und über sie hinauszugehen beansprucht. In Barads Lesart begreift Bohr Apparate als mehr oder weniger abgeschlossene Laboreinrichtungen, während sie selbst den Begriff des Apparats auszuweiten und dabei die ontologischen Implikationen der Bohrschen Physik weiter zu explizieren sucht.76 Sie macht deutlich, dass die Grenzen eines Apparats keineswegs eindeutig und fest umrissen sind; vielmehr handle es sich um erweiterbare Praktiken oder Sets von Intraaktionen, die das Reale erst hervorbringen.77 Diese spezifischen Intraaktionen bezeichnet Barad als „agentielle Schnitte“. Sie erzeugen Bestimmtheit in prinzipiell ontisch unbestimmten „Phänomenen“, die in ihrer Offenheit und Unabgeschlossenheit für Barad die primären ontologischen Einheiten darstellen.78 Barad weist des Weiteren darauf hin, dass „wir“ nicht außerhalb der Welt stehen, um diese zu erkennen, sondern betont die Verwobenheit mit dieser als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis: „wir wissen, denn ‚wir‘ sind von dieser Welt“79. Objektivität lässt sich – so Barad weiter – unter diesen Voraussetzungen nicht durch abstrakte und neutrale Kriterien gewährleisten; vielmehr sei eine neue „Ethik des Wissens“80 erforderlich, die wissenschaftliche Objektivität an die konkrete Verantwortung der beteiligten Agentien binde.81 Ihre Konzeption von Verantwortung entwickelt Barad im Anschluss an Lévinasʼ Ethik des Antwortens.82 Lévinas geht davon aus, dass das Verhältnis des Subjekts zur Welt keine einseitige Beziehung des Intendierens ist, sondern eine wechselseitig konstitutive Relation. Ein ethischer Weltbezug ist für Lévinas durch die Begegnung mit dem „Antlitz des Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 294–317; Karen Barad, „Erasers and Erasures. Pinch’s Unfortunate ‚Uncertainty Principle‘“, in: Social Studies of Science 41 (2011), S. 443–454, hier S. 444. 76 Vgl. Barad in diesem Band, S. XXX; Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 125. 77 Vgl. Barad in diesem Band, S. XXX; s. auch Joseph Rouse, „Barad’s Feminist Naturalism“, in: Hypatia 19 (2004), S. 142–161, hier S. 154f. 78 Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 333f.; Barad in diesem Band, S. XXX. Zum Konzept des Phänomens vgl. auch Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 118–121; Barad in diesem Band, S. XXX. 79 Barad, „Posthumanist Performativity“, S. 829, Hervorh. im Orig. Barads Insistieren auf „Wir“ in Anführungszeichen verweist auf ihren posthumanistischen Anspruch. Dieses „Wir“ ist als offenes Kollektiv konzipiert und nicht auf menschliche Akteure oder Beobachter_innen begrenzt, da es in umfassenden intraaktiven Prozessen immer wieder neu hervorgebracht wird (vgl. etwa ebd., S. 828). 80 Barad, Agentieller Realismus, S. 88. 81 Vgl. ebd.; Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 390f.; Rouse, „Barad’s Feminist Naturalism“, S. 154. 82 Vgl. Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 391-396. 75 14 Anderen“ gekennzeichnet.83 Eine solche Begegnung stellt keine bewusste Handlung eines individuierten Subjekts dar, sondern der Andere ist ein dem Bewusstsein vorgängiger Sinn, der dazu aufruft zu antworten. Die ethische Begegnung mit dem Anderen ist unverfügbar und erschüttert das Subjekt ebenso wie dieses zugleich durch diese Beziehung konstituiert wird.84 Barad argumentiert nun, dass das Lévinassche Postulat der Unhintergehbarkeit der Antwort auf den Anderen keineswegs auf menschliche Subjekte beschränkt bleiben müsse; vielmehr ignoriere eine anthropozentrische Begrenzung „den vollständigen Satz der Möglichkeiten von Alterität” („the full set of possibilities of alterity“)85. Verantwortungsbeziehungen gehen in dieser Perspektive über Beziehungen zwischen Menschen hinaus, da dasjenige, was als menschlich bzw. nicht-menschlich gilt, selbst einem dauernden Prozess der Neubewertung unterliege. In einer posthumanistischen Reformulierung der Lévinasschen These, dass sich der Andere immer schon in „uns“ befinde, argumentiert sie, dass Materialität immer schon im Kontakt zum Anderen bestehe.86 Spätestens seit der Buchveröffentlichung Meeting the Universe Halfway im Jahr 2007 kommt Barad ein fester Platz in der Wissenschafts- und Technikforschung zu. Einige feministische Theoretiker_innen haben herausgestellt, dass der agentielle Realismus eine fruchtbare Erweiterung von Theorien „situierten Wissens“ im Anschluss an Donna Haraway und Sandra Harding darstellt87, da er eine konsequente und umfassende Neufassung von Handlungsmacht vornimmt.88 Neben den theoretischen Bezugnahmen und der intensiven Diskussion einzelner Konzepte gibt es inzwischen eine Reihe von empirischen Fallstudien, die Einsichten des agentiellen Realismus für ihr Forschungsdesign nutzen.89 83 Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München 1987, S. 283f. 84 Vgl. Eva Buddeberg, „,Du wirst nicht töten!‘ Lévinas’ Ethik der Verantwortung als erste Philosophie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), S. 705–724; Simon Critchley, Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands, Zürich, Berlin 2008, S. 69–76. 85 Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 392. 86 Ebd., S. 393; vgl. auch Karen Barad, „On Touching. The Inhuman That Therefore I Am“, in: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 23 (2012), S. 206–223, hier S. 214f. 87 Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main, New York 1995; Sandra Harding, Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt am Main, New York 1994. 88 Vgl. besonders Peta Hinton, „,Situated Knowledges‘ and New Materialism(s). Rethinking a Politics of Location“, in: Woman. A Cultural Review 25 (2014), Special Issue: Feminist Matters. The Politics of New Materialism, S. 99–113; s. auch Myra Hird, „Feminist Engagements With Matter“, in: Feminist Studies 35 (2009), S. 329–346; Nina Lykke, „The Timeliness of Post-Constructionism“, in: NORA. Nordic Journal of Feminist and Gender Research 18 (2010), S. 131–136; Peta Hinton, „The Quantum Dance and the World’s ‚Extraordinary Liveliness‘. Refiguring Corporeal Ethics in Karen Barad’s Agential Realism“, in: Somatechnics 3 (2013), S. 169–189. 89 Vgl. Nete Schwennesen, Lene Koch, „Visualizing and Calculating Life. Matters of Fact in the Context of Prenatal Risk Assessment“, in: Susanne Bauer, Ayo Wahlberg (Hg.), Contested Categories. Life Science in Society, Farnham 2009, S. 69–87; Claudia Aradau, „Security that Matters. Critical Infrastructure and Objects of Protection“, in: Security Dialogue 41 (2010), S. 491–514; Hannah Fitsch, Lukas Engelmann, „Das Bild als 15 In der Rezeption des agentiellen Realismus ist jedoch auch auf einige theoretische Probleme und konzeptuelle Ambivalenzen hingewiesen worden. Zwei Kritikpunkte sollen hier kurz erörtert werden. Auf ein erstes Problem hat der Wissenschaftsforscher und Physiker Trevor Pinch hingewiesen. Pinch kritisiert, dass Barad mit der STS-Tradition insofern bricht als ihre Beschreibungen der quantenphysikalischen Experimente weniger auf deren Dekonstruktion oder Kontextualisierung abzielen, sondern vielmehr als zentrale argumentative Bausteine für ihr eigenes Theorie-Projekt fungieren. Diese Interpretation der experimentellen Settings und Ergebnisse habe einen unvermittelten Import der quantentheoretischen Einsichten in die Sozialtheorie zur Folge. Sie erhalten damit einen autoritativen Status und dienen als Fundament einer neuen Ontologie für die Wissenschaftstheorie, ohne dass alternative quantentheoretische Deutungen miteinbezogen oder die selektive Beschränkung auf Bohrs Interpretation der Quantenmechanik reflektiert werden.90 Zweitens ist zu beobachten, dass in Barads Programm einer „Ethik von Bedeutung“ („ethics of mattering“)91 ein angemessenes Verständnis des Politischen fehlt. Der Betonung radikaler Kontingenz und Kontextabhängigkeit des Seiendenim agentiellen Realismus steht erstaunlicherweise eine systematische Aussparung des Moments der Spannung und des Streits gegenüber. Die Berücksichtigung der Konflikthaftigkeit unterschiedlicher Möglichkeiten des „Werdens der Welt“92 ist aber unabdingbar für die Analyse von Machtbeziehungen. Daher ist es notwendig, den begrifflichen Apparat um einen (ontologischen) Politikbegriff zu erweitern, um alternative und konfligierende Materialisierungen in den Blick zu bekommen.93 4. Probleme und Perspektiven Die Bedeutung des material turn für die STS liegt darin, dass dieser ein transdisziplinäres Forschungsprogramm formuliert, das zu einer Intensivierung des theoretischen und konzeptuellen Austauschs mit den Natur- und Technikwissenschaften einlädt und zugleich Brücken zur (Human-)Geographie und den Umweltwissenschaften schlägt. Dabei lassen sich Phänomen. Visuelle Argumentationsweisen und ihre Logiken am Beispiel von Sichtbarmachungen des ‚AIDSVirus‘ und der funktionellen MRT“, in: Petra Lucht u.a. (Hg.), Visuelles Wissen und Bilder des Sozialen. Aktuelle Entwicklungen in der Soziologie des Visuellen, Wiesbaden 2013, S. 213–230; Hannah Fitsch, … dem Gehirn beim Denken zusehen? Sicht- und Sagbarkeiten in der funktionellen Magnetresonanztomographie, Bielefeld 2014. 90 Trevor Pinch, „Review Essay. Karen Barad, Quantum Mechanics, and the Paradox of Mutual Exclusivity“, in: Social Studies of Science 41 (2011), S. 431–441; vgl. auch Silvan Schweber, „Review of ‚Meeting the Universe Halfway‘“, in: Isis. Journal of the History of Science in Society 99 (2008): S. 879–882, hier S. 881. 91 Barad, Meeting the Universe Halfway, S. 3 92 Barad in diesem Band, S. XXX. 93 Hoppe/Lemke, „Die Macht der Materie“; Pia Garske, „What’s the ‚Matter‘? Der Materialitätsbegriff des ‚New Materialism‘ und dessen Konsequenzen für feministisch-politische Handlungsfähigkeit“, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 174 (2014), S. 111–129, hier. S. 122–124. 16 schon jetzt produktive Irritationen von eingeschliffenen disziplinären Denkgewohnheiten und etablierten Repertoires der Analyse und Kritik beobachten. Nicht nur für die Wissenschaftsund Technikforschung, sondern auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt dürfte es eine große Herausforderung darstellen, wenn neben Marxismus, feministischer Theorie oder postcolonial studies auch Positionierungen innerhalb der Quantenphysik94, Evolutionstheorie95, Biologie96 oder Komplexitätsforschung97 als Bezugspunkte kritischer Theorie in Betracht kommen98. Es lassen sich jedoch auch eine Reihe von problematischen Tendenzen innerhalb der Neuen Materialismen beobachten, die die analytischen Vorzüge und kritischen Potenziale konterkarieren können. Zuallererst ist dabei ein oft euphorischer Hype zu nennen, der die theoretischen Traditionslinien und die historischen Entstehungsbedingungen der Neuen Materialismen unterschlägt, um deren Originalität und innovativen Gehalt auf diese Weise zu überhöhen. Gegen die Rede von einer „Revolution des Denkens“99, stellen Steve Woolgar und Javier Lezaun fest, dass der von vielen Neuen Materialist_innen vorgebrachte Anspruch, die Trennung zwischen Epistemologie und Ontologie überwunden zu haben, nur plausibel wird, indem die konstruktivistischen Ambitionen von vornherein auf epistemische Regime oder diskursive Formen begrenzt werden.100 Die Folge ist eine Ignoranz gegenüber STS-Arbeiten, die sich schon lange mit den „instrumentellen, performativen und materialen Dimensionen in der Herstellung von Fakten und Artefakten beschäftigen“101. Eine weitere Gefahr besteht in einem theoriepolitischen Konservatismus, der bewährte Traditionslinien und zentrale Einsichten der STS zu untergraben droht. Einige Vertreter_innen der Neuen Materialismen gehen voranalytisch von einer universellen „agentiven Kraft der Materie“ aus, anstatt empirisch zu untersuchen, wie Handlungsfähigkeit lokal konkret hergestellt wird.102 Wenn Handlungsmacht in diesen Arbeiten als allgemeines 94 Barad, Meeting the Universe Halfway. Grosz, „Darwin and Feminism“. 96 Elizabeth Wilson, Gut Feminism, Durham, London 2015. 97 Manuel DeLanda, A Thousand Years of Nonlinear History, Brooklyn, New York 1997. 98 Andreas Folkers, „Was ist neu am neuen Materialismus? Von der Praxis zum Ereignis“, in: Tobias Goll u.a. (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster 2013, S. 17–34, hier S. 30. 99 Dolphijn/van der Tuin (Hg.), New Materialism, S. 85; kritisch dazu: Lemke, „Varieties of Materialism“. 100 Vgl. etwa Coole/Frost, „Introducing the New Materialisms“, S. 6. 101 Steve Woolgar, Javier Lezaun, „The Wrong Bin Bag. A Turn to Ontology in Science and Technology Studies?“, in: Social Studies of Science 43 (2013), S. 321–340, hier S. 322. 102 Bruining hat darauf hingewiesen, dass die einseitige und oft verzerrte neo-materialistische Kritik an dem vermeintlichen „Kulturalismus“ poststrukturalistischer Ansätze manchmal mit der Vorstellung verknüpft wird, dass Materie von Interpretation, Bedeutung und Diskurs getrennt werden kann (Dennis Bruining, „A Somatechnics of Moralism. New Materialism or Material Foundationalism?“, in: Somatechnics 3 (2013), S. 149–168; vgl. auch Sara Ahmed, „Open Forum Imaginary Prohibitions. Some Preliminary Remarks on the Founding Gestures of the ‚New Materialism‘“, in: European Journal of Women’s Studies 15 (2008), S. 23–39). 95 17 Attribut von Materie begriffen wird, dann läuft dies den wissenschaftlichen Einsichten der STS entgegen, die in empirischen Studien spezifische Prozesse der Materialisierung in den Blick nehmen. Im Ergebnis wird das relationale Vokabular, das Interaktionen (oder Intraaktionen) hervorhebt, oft zugunsten eines ontologischen Begriffs von Materie aufgegeben, die durch agentielle Kräfte, erfinderische Vermögen und unvorhersehbare Ereignishaftigkeit gekennzeichnet sei.103 Gegen diese Trends zur Selbstprofilierung und Separierung von der STS-Tradition liegt das innovative Potenzial der Neuen Materialismen gerade darin, die in den vergangenen Jahrzehnten etablierten Untersuchungsmethoden der Wissenschafts- und Technikforschung weiterzuentwickeln und zu vertiefen. Die Neuakzentuierung der STS ermöglicht es, über die Analyse neuer oder kontroverser Wissensbestände und technischer Artefakte hinaus auch materiale Entitäten zu untersuchen, deren Realitätsgehalt in der Regel als vertraut, selbstverständlich und unkontrovers gilt – wie etwa Arteriosklerose.104 Diese Erweiterung von Untersuchungsfeldern und -gegenständen über das engere Feld der Wissenschafts- und Technikforschung hinaus erlaubt es, Tiefenschichten von Materialisierungsprozessen freizulegen, um aufzuzeigen, wie scheinbar grundlegende und unveränderliche Phänomene das Ergebnis dynamischer Prozesse und performativer Produktionen sind. Eine weitere Stärke der Neuen Materialismen ist schließlich die enge Verknüpfung epistemologischer, ontologischer und politisch-ethischer Fragen. Sie regt dazu an, theoretische Konzepte und normative Überlegungen systematisch miteinander zu verknüpfen. Die dabei vorgenommenen Revisionen überkommener Formen politischer Repräsentation und die vorgeschlagenen Neuimaginationen ethischer Praxis dürften nicht nur einen wichtigen Beitrag für die zukünftige Forschungsarbeit und Selbstreflexion der STS darstellen, sondern auch deren gesellschaftliche Bedeutung weiter stärken. Zur Kritik an dieser Tendenz vgl. Mol, „Mind your Plate!“, S. 380f.; Woolgar/Lezaun, „The Wrong Bin Bag“, S. 326; Lynch, „Ontography“; Sebastian Abrahamsson u.a., „Living with Omega-3. New Materialism and Enduring Concerns“, in: Environment and Planning D: Society and Space 33 (2015), S. 4–19. 104 Malcolm Ashmore, „Book Review. The Life Inside/The Left-Hand Side“, in: Social Studies of Science 35 (2005), S. 827–830. 103 18