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Daniel Pucciarelli — Materialismus und Kritik EPISTEMATA WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN Reihe Philosophie Band 599 — 2019 Daniel Pucciarelli Materialismus und Kritik Konzept, Aussichten und Grenzen des Materialismus im Ausgang von der Negativen Dialektik Theodor W. Adornos Königshausen & Neumann Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. D 19 © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2019 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Bindung: docupoint GmbH, Magdeburg Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany ISBN 978-3-8260-6758-7 www.koenigshausen-neumann.de www.libri.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... 9 Danksagung ................................................................................................. 11 Liste der verwendeten Abkürzungen ......................................................... 13 Einleitung ..................................................................................................... 15 Erstes Kapitel: Das Materialismusproblem im Horizont der zeitgenössischen Philosophie ............................................................. 19 § 1. Die idealistische Identitätskrise der (deutschen) Philosophie – gestern und heute......................... 23 § 2. Vorbegriff und Problem des Materialismus ............................ 32 § 3. Das Konzept einer Negativen Dialektik................................. 39 A. Philosophiehistorisches Selbstverständnis .......................... 39 B. Negative Dialektik: Zur Rezeptionsgeschichte ................... 51 § 4. Subjektalismus, Korrelationismus und Materialismus heute. 58 § 5. Fazit .......................................................................................... 66 Zweites Kapitel: Identität und Nichtidentität ........................................ 67 § 6. Identität und Nichtidentität: systematische Einführung ..... 71 § 7. Das Identitätsproblem in der neuzeitlichen Philosophie: ein Überblick ............................................................. 76 A. Das Identitätsproblem bei Leibniz und Hume ................... 76 B. Identität bei Kant................................................................... 81 C. Identität und Nichtidentität im nachkantischen Idealismus ........................................................ 87 § 8. Negative Dialektik und Identität .......................................... 100 A. Die identitätskritische Grundoperation negativer Dialektik: Vorrang des Objekts .............................. 104 B. Identität als Übergangskategorie ........................................ 119 C. Negative Dialektik und Identität: Zusammenfassung ...... 124 § 9. Dialektik und Antinomie: Kant, Hegel, Adorno ................. 126 § 10. Fazit ...................................................................................... 135 5 Drittes Kapitel: Ontologie und Dialektik ............................................. 137 § 11. Zum Problem der Ontologie nach Kant ............................. 141 § 12. Negative Dialektik und Ontologiekritik ............................ 146 A. Zur Theorie des ontologischen Bedürfnisses .................... 149 B. Sein, Existenz, Vermittlung ................................................ 155 C. Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle...................... 166 § 13. Ontologiekritik, Antisystem, Materialismus ..................... 176 § 14. Fazit ...................................................................................... 180 Viertes Kapitel: Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus... 181 § 15. Negative Dialektik als Fehlkorrelationismus ..................... 185 § 16. Objekt, Mimesis, Materie .................................................... 189 § 17. Natur, Geschichte, Naturgeschichte................................... 195 § 18. Selbstaufhebung des Materialismus?................................... 203 § 19. Fazit ...................................................................................... 208 Schlussbetrachtung .................................................................................... 209 Literatur ..................................................................................................... 213 6 Materialismus ist nicht das Dogma, als das seine gewitzigten Gegner ihn verklagen, sondern Auflösung eines seinerseits als dogmatisch Durchschauten; daher sein Recht in kritischer Philosophie. Adorno, Negative Dialektik Vorwort Dieses Buch ist aus meiner Dissertation hervorgegangen, die ich 2017 in der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigt habe. 9 Danksagung Die oft formell wirkenden Zeilen einer Danksagung können keineswegs ausdrücken, wie sehr eine jede wissenschaftliche Bemühung der materialen, theoretischen und im weitesten Sinne zwischenmenschlichen Unterstützung vieler Personen und Institutionen verpflichtet ist. Diese stellen nicht nur ihre Möglichkeitsbedingung dar, sondern machen ihren eigentlichen Lebensnerv aus. Nicht selten sind solche Bemühungen das Ergebnis eines langen Prozesses, der eine Lebensetappe eines – oder gar mehrerer – Menschen zusammenfasst und abschließt. Das ist sicher der Fall der vorliegenden Untersuchung. Den Personen und Institutionen, die ich hier erwähnen möchte, bin ich entsprechend dankbar: ihnen gehört diese Arbeit so wesentlich wie mir. Besonders auf eine Person und eine Institution konzentriert sich jene breite und vielschichtige Unterstützung, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre: Prof. Dr. Günter Zöller, der das Dissertationsprojekt mit Enthusiasmus und Offenheit angenommen und die Arbeit mit einer meisterhaften Ausgewogenheit von freizügiger Autonomieerteilung und sorgfältiger Leitung an der Ludwig-Maximilians-Universität München betreut hat; und die Stiftung Capes des Brasilianischen Bildungsministeriums, die im Rahmen einer Partnerschaft mit dem DAAD meinen Aufenthalt in Deutschland vier Jahre lang finanziell ermöglicht hat. Ihnen möchte ich zu allererst herzlichst danken. Noch im institutionellen Rahmen möchte ich die anderen Universitäten, an denen ich im Laufe meiner akademischen Laufbahn studiert habe, und die in ihnen tätigen Professoren erwähnen, die für diese Arbeit auf direkte oder indirekte Weise wesentlich gewesen sind. An der Universidade Federal de Minas Gerais möchte ich mich besonders bei den Professorinnen und Professoren Eduardo Soares Neves Silva, Rodrigo Duarte, Lívia Guimarães, Virgínia Figueiredo und Ester Vaisman bedanken. Sowohl ihre theoretischen Anregungen und Unterstützung als auch ihre menschliche Präsenz sind in dieser Arbeit sicherlich noch spürbar. Aus der Universität des Saarlandes, an der ich mein Bachelorstudium dank einer Partnerschaft mit der UFMG abschließen durfte, möchte ich Herrn Prof. Dr. Niko Strobach danken. Aus der Prager Karls-Universität, der Université Toulouse Jean Jaurès und der Bergischen Universität Wuppertal, an denen ich Studienaufenthalte im Rahmen des Masterprogramms Erasmus Mundus Europhilosophie gemacht habe, möchte ich die Professorin und Professoren Hans Rainer Sepp, Anne Gléonec, Jean-Christophe Goddard, Arnaud François, Tobias Klass und Laszlo Tengelyi (in memoriam) erwähnen. Besonders Herrn Prof. Dr. Laszlo Tengelyi bin ich philosophisch wie human tief verpflichtet. An der Ludwig-Maximilians-Universität München möchte ich mich noch bei den Dozenten Dr. Alexander von Pechmann, 11 Elmar Koenen, Tomas Marttila und Thomas Wyrwich für ihre freundliche Unterstützung bedanken. Noch institutionell konnte ich von vier Forschungsgruppen zutiefst profitieren, die in vieler Hinsicht als ein Laboratorium für meine philosophische Entwicklung fungieren. Es handelt sich um das Doktorandenkolloquium von Herrn Prof. Dr. Günter Zöller; das Forschungskolleg für Kritische Theorie (unter der Leitung von den Professorinnen und Professoren Sven Kramer, Anne Eusterschulte, Hans-Ernst Schiller und Christoph Türcke); das Kolloquium für Kritische Theorie des Herrn Prof. Dr. Eduardo Soares Neves Silva, und die Gruppe PET-Filosofia der UFMG. Deren Teilnehmern und für die in ihnen stattgefundenen Diskussionen und Anregungen bin ich sehr dankbar. Nicht zuletzt möchte ich den Personen, die meiner bisherigen Existenz in allen Hinsichten unentbehrlich sind, ein Zeichen von Dankbarkeit und Hoffnung übermitteln. Meinen Eltern Maria Beatriz und Marcelo Raul möchte ich diese Arbeit widmen. Meinen Geschwistern Bruna, Rodrigo und Rogério fühle ich mich seit frühester Kindheit sehr nah. Meine Großeltern Winie Bouman (in memoriam), Vicente de Paula Oliveira (in memoriam) und Luciola Moura waren und sind wichtiger für mich, als ich es selber einschätzen kann. Meine Wahlfamilie, meine engen Freunde, meine Partnerinnen und Partnern in allen Hinsichten, ohne die ich mich selbst nicht vorstellen kann, will ich auch möglichst einzeln erwähnen: Ana Martins Marques, Flavio Loque, William Mattioli, João Gabriel, Maíra Nassif, Celso Neto, Anna Luiza Coli, Gustavo Bracher, Eduardo Lima, Luiz Philippe de Caux, Thiago Simim, Romero Freitas, Solveig Betty Bostelmann, Philippe Dostert, Janne Moraes, André Brant, Anastasia Kozyreva, Zaida Olvera, Nicolás Garrera, Oriane Petteni, Kristin Gissberg, Francisco Prata Gaspar, Hugo Tiburtino, María Hotes, Plato Tse, Marco Paes, Ferdinand Schmelzer, Gabriel Valladão, Bernardo Bianchi, Elisabeth Prudant. – Obrigado. 12 Liste der verwendeten Abkürzungen Werke Theodor W. Adornos GS + Bandnummer → Adorno (1997). Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Suhrkamp. OD → Adorno (2008). „Ontologie und Dialektik“, in: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp. PT → Adorno (1995). „Philosophische Terminologie: Zur Einleitung“, in: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp. Werke anderer Autoren KW + Bandnummer → Kant (1977). Werkausgabe in 12 Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Suhrkamp. WW + Bandnummer → Hegel (1986). Werke in 20 Bänden. Suhrkamp. MEW + Bandnummer → Marx/Engels (1970). Werke. Dietz Verlag Berlin. ZfS + Bandnummer → Horkheimer (Hrg.) (1970). Zeitschrift für Sozialforschung. Fotomechanischer Nachdruck der Originalausgabe: Institut für Sozialforschung, Paris/New York 1932-1941. Mit einer Einleitung von Alfred Schmidt. DTV. KrV → Kant (1998). Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann. Felix Meiner. AF → Meillassoux (2006). Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence. Préface d’Alain Badiou. Seuil. 13 Einleitung Seitdem der Materialismus im Laufe der Neuzeit auf die Tagesordnung gesetzt wurde, ist er am Horizont der Moderne geblieben. Zwar ist auch er zweifellos jenem Rhythmus von Dauern und Vergessen gefolgt, durch den Adorno die Dynamik geistesgeschichtlicher Gebilde zu fassen sucht1. Doch kann man mit großer Sicherheit behaupten, dass die Fragen, die sich um den modernen Materialismusbegriff drehen, sich fortwährend in der geschichtlichen Aktualität erhalten haben. Von dem vorrevolutionären Frankreich über die naturalistisch und naturwissenschaftlich stark angelegten Materialismus-Streite im 19. Jahrhundert bis hin zu der Kritischen Theorie war in vielen geistigen Zusammenhängen der Materialismusbegriff zentral. Mag er zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der sogenannten sprachlichen Wende vergessen worden sein, scheint er doch im letzten Jahrzehnt wiederum eine prononcierte Renaissance in der kontinentaleuropäischen Philosophie zu erfahren. Handelt es sich dabei stets um dasselbe Denkgebilde? Gewöhnlich wird man in erster Linie zwischen einem vorrevolutionären und einem nachrevolutionären Materialismus unterscheiden müssen – eine Unterscheidung, die nicht nur politisch, sondern auch philosophisch markiert ist: denn zwischen beiden entsteht nämlich die Kritische Philosophie, die den kategorialen Rahmen des gesamten westlichen Philosophierens und mit ihm auch den des tradierten Materialismus strukturell transformiert. Doch die Materialismen, die danach formuliert werden, stehen in keinem eindeutigen, sondern oft in einem spannungsvollen Verhältnis zur Kritik. Daher die Materialismus-Streite und die verschiedenen Spielarten von Materialismus, die seitdem – und bis heute – aufeinanderfolgten. Der Materialismus wird, so will ich im Laufe der Arbeit argumentieren, zu einem Streitbegriff. Die vorliegende Untersuchung spielt sich in dieser Spannung zwischen Materialismus und Kritik ab. Sie geht von der Hypothese aus, dass diese Spannung sowohl für den Materialismusbegriff als auch für die Kritische Philosophie produktiv ist: während die Vernunftkritik den kategorialen Rahmen aller vorherigen Materialismen dezidiert in Frage stellt und sie so zu ihrer eigenen kritischen Umformulierung treibt, versuchen die darauffolgenden Materialismen die Grenzen des Transzendentalismus und des Idealismus kritisch zu prüfen, von innen her auszudehnen und tendenziell zu durchbrechen. Aus dieser Problemkonstellation kann man dann vom Problemcharakter eines kritischen Materialismus sprechen, der für beide Fronten nachkantischen Philosophierens von Relevanz sein kann. 1 GS6, S. 71 15 Diese Spannung lässt sich nun mit großer Deutlichkeit anhand der Negativen Dialektik Adornos – als „Organon Kritischer Theorie überhaupt“ 2 – nachvollziehen, die deshalb der vorliegenden Arbeit als philosophischer Ausgang dient. Ausgang bedeutet hier grundsätzlich zweierlei: zunächst wird sie als Anlass zur Analyse jener Spannung genommen, die sie zwar aufgrund des von ihr bearbeiteten kategorialen Rahmens exemplarisch erbt und zur Sprache bringt, die sie aber eben deshalb zugleich transzendiert. Darüber hinaus ist die negative Dialektik auch der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchung, sofern die Begründung ihres eigenen Materialismuskonzepts von der Bewältigung dieser Spannung wesentlich abhängt und deshalb gewissermaßen noch offen steht. So stimmen die Kommentatoren wesentlich darin überein, dass sich Adorno mit der Frage nach dem (kritischen) Materialismus im Laufe seiner ganzen intellektuellen Entwicklung auseinandersetzt und in seinem späten Meisterwerk Negative Dialektik die definitive Fassung seines eigenen Materialismus formuliert, die durchaus zentral für die Deutung seines ganzen Werkes ist. „Der Materialismus“, schreibt Alfred Schmidt, „ist ein Aspekt seines Denkens, freilich ein solcher, ohne dessen Verständnis alle anderen Aspekte nicht wirklich begriffen werden“3. Doch welche genaue Beschaffenheit sein Materialismus endlich erhält, wie er jene Spannung konkret zu bewältigen sucht und wie er innerhalb der Denktradition des philosophischen Materialismus einzuordnen ist – diese dürften hingegen noch als offene, kaum richtig aufgeworfene Fragen in der Literatur gelten. Ein Indiz dafür ist wohl die Tatsache, dass eine monographische Studie über diesen zentralen Aspekt seines Denkens, mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod, noch nicht vorliegt4. Indem sie sich dem negativ-dialektischen Materialismus widmet, will sich die vorliegende Arbeit folglich auch mit den Bedingungen und Bewältigungsmöglichkeiten jener Spannung auseinandersetzen, die den kategorialen Rahmen negativer Dialektik gleichzeitig ausmacht und transzendiert. 2 3 4 16 Schnädelbach (1983), S. 81. Der Ausdruck „negative Dialektik“ bezieht sich dementsprechend sowohl auf den Titel des Hauptwerkes Adornos als auch auf das Konzept eines Denkmodelles. Im Folgenden wird der Ausdruck nur dann kursiv geschrieben, wenn das Buch gemeint wird. Schmidt (2002), S. 89 Der wohl wichtigste Text über Adornos Materialismus wurde von seinem ehemaligen Schüler und Historiker des Materialismus Alfred Schmidt (1983) verfasst. Es handelt sich dabei leider nur um einen zwanzigseitigen Aufsatz, der in der Frankfurter Adorno-Konferenz 1983, vorgetragen wurde. Darüber hinaus haben sich meistens die Autoren, die sich mit dem „jungen Adorno“ beschäftigt haben (BuckMorss 1979, Pettazzi 1983) auch der Frage nach dem Materialismus gründlicher zugewendet, niemals aber monographisch, und niemals in ihrer definitiven Gestalt im Werk Negative Dialektik. Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel befasse ich mich mit der Frage nach der Relevanz und Aktualität des Materialismus im Horizont zeitgenössischen Philosophierens. Zu diesem Zweck versuche ich mit H. Schnädelbach und anderen Interpreten die Ursprünge aktuellen Philosophierens in der sogenannten „idealistischen Identitätskrise der Philosophie“ zu lokalisieren, in derer Rahmen sich das Problem des kritischen Materialismus konsequent stellt und auf die sich die Idee einer Kritischen Theorie und folglich auch einer negativen Dialektik geistesgeschichtlich zurückführen lassen. Abgezielt wird naturgemäß nicht darauf, eine erschöpfende Betrachtung der Philosophie der Gegenwart aus dem Standpunkt der Krise des Idealismus durchzuführen, sondern lediglich geistige Tendenzen des nachidealistischen Zeitalters anhand dieses einen Grundereignisses zu diagnostizieren. Um auf der Aktualität der Fragestellungen zu bestehen, die infolge der idealistischen Identitätskrise der Philosophie aufgeworfen und in den materialistischen Denkmodellen verkörpert werden, rekurriere ich auch auf Denkbewegungen, die in der Gegenwart allmählich Fuß fassen und Einfluss gewinnen. So möchte das Kapitel das Problem des kritischen Materialismus und die Idee einer negativen Dialektik unter Bedingungen aktuellen Philosophierens zusammenführen. Im zweiten Kapitel wende ich mich dann dem eigentlichen kategorialen Rahmen der negativen Dialektik zu. Sofern sie wie alle Kritische Theorie den Anspruch darauf erhebt, aus der kritischen Reflexion des vom Idealismus besonders Hegelscher Prägung bereitgestellten Instrumentariums die Wendung zum kritischen Materialismus zu leisten, biete ich eine überblickende Rekonstruktion dieses Instrumentariums anhand der Identitätsproblematik an. Sie ist das Hauptmittel, durch das die negative Dialektik sowohl das philosophische Erbe der Philosophie der Neuzeit denkt als auch seine identitätskritische Grundoperation – den Vorrang des Objekts – vollzieht. Einzig aus dieser Grundoperation soll ihrem Anspruch nach ein gesamtes kritisch-materialistisches Denkmodell extrahiert werden können, das aus der idealistischen Subjektphilosophie erwächst und es zugleich immanent kritisiert. Das dritte Kapitel buchstabiert dieses kritisch-materialistische Denkmodell aus, so wie es die negative Dialektik konzipiert. Es ergibt sich aus einer immanenten Kritik an den philosophischen Denkbewegungen, die die Krise des Idealismus ebenso diagnostizieren und von ihr ausgehen, die aber einen reontologisierenden Denkweg einschlagen und die Philosophie der Gegenwart so zu orientieren beanspruchen. Die Gegenüberstellung zwischen Ontologie und Dialektik ist dementsprechend im Begriff negativer Dialektik selbst enthalten. Erst aus dieser grundlegenden Ontologiekritik installiert sich die Denkfigur des Antisystems, das der Form nach mit dem kritischen Materialismus gleichzusetzen ist. 17 Ausgehend von dem Ergebnis dieser drei Kapitel versuche ich im vierten die Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus zur Sprache zu bringen. Sie werden größtenteils aus den internen Spannungen abgeleitet, die die negative Dialektik aufgrund ihres eigenen kategorialen Rahmens erbt und anzubequemen sucht. Intendiert wird auch hier die Durchführung eines immanenten Verfahrens, das die negative Dialektik von innen heraus hinterfragt. Aus diesen Grenzen kann man sowohl das Problem des kritischen Materialismus als auch die Weiterentwicklung Kritischer Theorie unter neuem Licht betrachten. 18 Erstes Kapitel: Das Materialismusproblem im Horizont der zeitgenössischen Philosophie In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, die Begriffe des Materialismus und der negativen Dialektik vorzustellen und zusammenzuführen. Dadurch soll die These plausibel gemacht werden, dass sich beide Begriffe anhand der idealistischen Identitätskrise der (deutschen) Philosophie explizieren lassen (§ 1). Diese Krise hat sowohl eine prononcierte Wiedergeburt von Materialismen verschiedener Prägung als auch die Entstehung der Denktradition kritischer Gesellschaftstheorie veranlasst, deren Erbschaft die negative Dialektik beansprucht. Sie führt immanent sowohl zum Vorbegriff des Materialismus als auch zu dem einer negativen Dialektik. Bei dem Vorbegriff des Materialismus wird die allgemeine Begriffsbestimmung sowohl historisch als auch anhand systematischer Tendenzen vorgenommen (§ 2). In den Begriff negativer Dialektik wiederum wird sowohl anhand seines philosophiehistorischen Selbstverständnisses im Zusammenhang der frühen kritischen Theorie (§ 3 A) als auch mit Blick auf deren spätere Rezeptionsgeschichte bis heute eingeführt (§ 3 B). Zuletzt wird die Problematik des Materialismus im Rahmen aktueller Denkmodelle erwogen, um den Horizont der Betrachtung zu erweitern (§ 4). Insgesamt erhebt das Kapitel den allgemeinen Anspruc, konsistent von einem Materialismusproblem konsistent zu sprechen, von dem ausgehend sich die Philosophie der Gegenwart deuten lässt, zu der wiederum das Denkmodell einer negativen Dialektik gehört. 21 § 1. Die idealistische Identitätskrise der (deutschen) Philosophie – gestern und heute In welchem philosophischen Zeitalter leben wir? Wie ist eine Denkweise zu konzipieren, die sich auf der Höhe der Zeit befindet? So relevant diese Fragen als praktischer und theoretischer Orientierungsmaßstab sein mögen, so sehr scheinen sie sich wie alle Fragen nach der unmittelbaren Gegenwart einer Beantwortung zu entziehen. Immerhin fehlt es an der zeitlichen Distanzierung, die aber eine unumgängliche Voraussetzung jeglicher Bestimmung der Jetztzeit sein dürfte. In diesem Sinne impliziert die Beantwortung dieser Frage wohl das Erfordernis, über den eigenen Schatten zu springen und so das geschichtlich Unabgeschlossene unter geschichtlichem Standpunkt zu untersuchen. Umstritten ist auch die Unterstellung, die damit gegeben ist, dass das Wort „wir“ ein einziges geschichtliches Subjekt bezeichnet und ein philosophisches Zeitalter als einheitlich angesehen wird. Vielmehr scheint plausibel, dass sowohl das historische Subjekt als auch das Zeitalter von der jeweiligen Position des Betrachters abhängen, die ihrerseits historische Tendenzen und Denktraditionen unterschiedlich und diffus in sich birgt. Aus diesem Grunde dürfte es angemessener sein, von „Tendenzen“ oder „Motiven“ 5 unseres Zeitalters im Allgemeinen zu sprechen. Denn „Tendenzen“ und „Motive“ sind an sich noch relativ offen und tragen der jeweiligen Subjektpositionierung Rechnung, zugleich sind sie aber möglichst bestimmt und zusammengenommen ausschlaggebend, wenn es darum geht, zumindest eine Richtung zu weisen, in der sich die Jetztzeit mit besseren Aussichten begreifen lässt. Zieht man die deutsche Philosophie in Betracht – die Philosophie, die in deutscher Sprache betrieben wird –, dann wird diese Aufgabe etwas erleichtert. Denn im deutschsprachigen Raum lässt sich ein epochemachendes Ereignis identifizieren, das für die Bestimmung des von ihm eröffneten Zeitalters unentbehrlich ist. Es bildet in diesem Sinne eine zentrale Tendenz, die starke und anhaltende Wirkung hat. Gemeint ist die Krise des Idealismus. „Daß der ‚Zusammenbruch des Idealismus‘ die Philosophie in eine tiefe Identitätskrise gestürzt hat“, schreibt Herbert Schnädelbach, „die bis heute andauert, mag man daran erkennen, daß ‚Wozu noch Philosophie?‘ seitdem zum Dauerthema philosophischer Antrittsvorlesungen wurde“ 6 . So vieldeutig und vielschichtig aber der Idealismus sein kann, so unterschiedlich haben sich auch das Bewusstsein und das eigene Konzept von dessen Krise und den jeweiligen Bewältigungsmöglichkeiten ausgedrückt. Mehr als bloß eine philosophische Schule oder Denkbewegung, hat der Idealismus in Deutschland tiefe au5 6 Vgl. Habermas (1992), S. 14ff. Schnädelbach (1983), S. 17. 23 ßerphilosophische Dimensionen, die sich über das politische, institutionelle und nationale Leben des Landes erstrecken, sodass sein Zusammenbruch ganze Bereiche der Gesellschaft betrifft. Sein Niedergang lässt sich trotzdem recht eindeutig lokalisieren: Die Krise des Idealismus folgte in Deutschland quasi unmittelbar der französischen Julirevolution, die in etwa mit dem Tod des zum Staatsphilosophen erhobenen Hegel zusammenfiel: „Will man einen bestimmten Zeitpunkt angeben, der sich als das Ende der idealistischen Periode in Deutschland bezeichnen läßt, so bietet sich kein so entscheidendes Ereignis dar, als die französische Julirevolution des Jahres 1830“7. Auch wenn die Krise des Idealismus nun vor allem im deutschsprachigen Raum auf drastische Weise zu spüren war (und ist), bleibt sie ein prägendes Phänomen für das gesamte westliche Philosophieren. Der Einfluss des Idealismus auf andere Kulturräume und auf das westliche Denken im Allgemeinen lässt sich vorläufig an der philosophischen und geistigen Anerkennung messen, die dem Deutschen Idealismus entgegengebracht wird. In einem engeren philosophischen Sinne entspricht die Krise des Idealismus der gründlichen Infragestellung bzw. dem unwiderruflichen Verfall seiner philosophischen Kernthesen, die im Geiste der Philosophie Hegels folgendermaßen zusammengefasst werden könnten: „(1) die Einheit von Sein und Denken im Absoluten, (2) die Einheit des Wahren, Guten und Schönen im Absoluten und (3) die Wissenschaft vom Absoluten als das philosophische System“8. Vor allem aber seine Grundthese, der zufolge Sein und Denken – wie auch immer vermittelt – sich letztlich als identisch erweisen, ist durchaus zentral für die westliche Philosophie gewesen. Weit mehr als die spekulative Grundthese einer isolierten Denktradition begleitet sie wohl die ganze Geschichte des westlichen Denkens; trotz immer neu formulierter Kritizismen, Irrationalismen und Skeptizismen ist sie seit dem das westliche Denken mitstiftenden Eleatismus als eine der wesentlichen Voraussetzungen des eigentlichen Philosophierens grundsätzlich erhalten geblieben, die der Idealismus erbt und am konsequentesten zu vertreten beansprucht. Diese Kernthese besagt nichts anderes als die Koinzidenz von Sein und Denken (modern gesprochen: von Subjekt und Objekt), die für die überlieferte Idee von Erkenntnis überhaupt unhintergehbar ist. „Die Aufgabe der Philosophie bestimmt sich dahin“, schreibt Hegel, „die Einheit des Denkens und Seins, welche ihre Grundidee ist, selbst zum Gegenstande zu machen und sie zu begreifen“9. Ist, mit anderen Worten, eine wie auch immer zu konzipierende Einheit der Kategorien des Denkens und jener des Seins nicht zu erreichen oder gar vorauszusetzen, dann ist die traditionelle Idee von Erkenntnis selbst 7 8 9 24 Lange (1974), S. 520. Schnädelbach (1983), S. 18. WW20, S. 314. widersinnig und mit ihr wohl der sie verkörpernde emphatische Begriff von Philosophie hinfällig. Damit zusammenhängend konnte Hegel sogar behaupten, alle konsistente Philosophie sei Idealismus, drastischer noch: außer Kant, Fichte und Schelling seien „keine Philosophien“10. In diesem Sinne kann man mit Habermas den Deutschen Idealismus als Endpunkt der Denktradition der westlichen Metaphysik ansehen, die sich unter anderem an dieser zentralen Grundthese abgearbeitet hat: „Unter Vernachlässigung von der aristotelischen Linie nenne ich in grober Vereinfachung ‚metaphysisch‘ das auf Plato zurückgehende Denken eines philosophischen Idealismus, der über Plotin und den Neuplatonismus, Augustin und Thomas, den Cusaner und Pico de Mirandola, Descartes, Spinoza, Leibniz bis zu Kant, Fichte, Schelling und Hegel reicht“11. Auch deshalb kann man behaupten, mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden „Krise des Idealismus“ trete zugleich eine Krise des westlichen Denkens oder gar der eigentlichen Idee von Philosophie überhaupt zutage, wie sie im Westen stets betrieben wurde. Neben Hegel waren Fichte und Schelling bekanntlich die prononciertesten Repräsentanten der idealistischen Denkbewegung in Deutschland. Die Stellung Kants im Rahmen der Krise des Idealismus ist hingegen ambivalent. Zum einen steht er ohne alle Frage sowohl historisch als auch sachlich am Beginn jener philosophischen Denktradition, die in den absoluten Idealismus mündete und dann in Krise geraten ist. Wie im zweiten Kapitel noch ausführlich zu behandeln sein wird, haben die nachkantischen Idealisten die unmittelbare Erbschaft der kantischen Philosophie beanspruchen können und ihre eigenen Philosophien nicht selten als konsistenten, zu Ende gedachten Kantianismus begriffen, auch wenn Kant selbst keine schlechthin idealistische Position vertritt. Zum anderen aber entwickelt die kantische Philosophie zugleich ein Ensemble an kritischen Ressourcen, das die Kritik an genau jener Denktradition ermöglichte und deshalb als Mittel gegen die Krise des Idealismus interpretiert wurde. Diese Ambivalenz Kants in der Denktradition des Idealismus ist für ihr Nachgeschichte durchaus zentral; sie ist Zeugnis einer sachlichen Ambivalenz im Wesen des Idealismus selbst, die in Bezug auf den aus der Idealismuskrise resultierenden kritischen Materialismusbegriff im Weiteren expliziert wird. Um die Gründe nun, welche die idealistische Identitätskrise der Philosophie im 19. Jahrhundert ausgelöst haben, kann man sich streiten. Handelte es sich bloß um eine innertheoretische Erschöpfung eines bestimmten kategorialen Rahmens, der sich zu lange erhalten hatte und nun aufgrund stetiger Kritik ersetzt werden musste? Drückt der Verfall dieser kardinalen Grundthesen westlichen Philosophierens nicht vielmehr kul10 11 WW20, S. 387. Habermas (1992), S. 36, meine Hervorhebungen. 25 turgeschichtliche und gesellschaftliche Umwälzungen wie bürgerliche Revolutionen oder kriegerische Erfahrungen aus, die sich vom späten 18. Jahrhundert an über das ganze 19. Jahrhundert erstreckten? Wird der angeblich ideologische, das Bestehende legitimierende Charakter des Idealismus mit der Junirevolution endlich durchschaut? Diese Erklärungsgründe könnten alle als brauchbare Hypothesen fungieren. Doch abgesehen von ihren möglichen Ursachen bleibt die Tatsache unberührt, dass mit dem Zusammenbruch des Idealismus eine tiefe philosophische Krise empfunden wurde, die eine neue, wohl bis heute andauernde Epoche des Denkens eröffnete. Mit ihr trat nicht bloß eine erneute Behandlung der philosophischen Kardinalthemen in veränderter Weise auf den Plan, sogar die Frage nach der eigentlichen Existenzberechtigung von Philosophie überhaupt dominierte die wichtigsten Versuche, das Philosophieren unter nachidealistischen Bedingungen weiter zu betreiben und zu legitimieren. Auf jenen kategorialen Rahmen, den der Idealismus am klarsten zur Sprache gebracht hatte, konnte dabei nicht mehr – zumindest nicht ohne gründliche Modifikationen – zurückgegriffen werden. So ist die Krise des Idealismus zumindest seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch historiographisch reichlich dokumentiert worden. Friedrich Engels beispielsweise hat 1886 ein kleines, doch einflussreiches Buch namens Ludwig Feuerbach und der Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie veröffentlicht, in dem er den anthropologischen Materialismus Feuerbachs bereits als Überwindung des klassischen Idealismus deutet. Seitdem hat sich die wohl bis heute herrschende Auffassung allmählich konsolidiert, der zufolge die maßgeblichen Reaktionen auf die Krise des Idealismus im deutschsprachigen Raum grundsätzlich außerhalb des universitären Bereichs stattgefunden haben12. Repräsentanten dieser außeruniversitären Tendenzen wie Feuerbach, Marx und Nietzsche haben eine große, geradezu epochale Rolle gespielt, die sie zu Klassikern des modernen Denkens überhaupt gemacht hat. Trotz der wohl unübertrefflichen philosophiehistorischen Relevanz des außeruniversitären deutschsprachigen Philosophierens im 19. Jahrhundert ist diese Auffassung aber auch progressiv verfeinert worden. So versuchen andere Autoren wie etwa Köhnke und Schnädelbach, stets mit einer reichhaltigen institutionellen und gesellschaftlichen Kontextualisierung, die inneruniversitären Reaktionen auf die Krise des Idealismus zu rekonstruieren, die vorwiegend von der philosophischen Bewegung des Neukantianismus bestimmt wurden13. Damit zusammenhängend erfuhr die europäische Universität große institutionelle Umwälzungen, die nicht zuletzt in die Entstehung autonomer natur-, staats- und geisteswissenschaftlicher Fakultäten aus den früher einheitlichen Philosophischen Fakultäten mündeten und so die Zersplitte12 13 26 Vgl. dazu paradigmatisch Löwith (1995). Vgl. diesbezüglich Köhnke (1986) und Schnädelbach (1983). rung der einheitlich-systematisch geordneten Wissenskonzeption ausdrückten. Heute verfügen wir über ein ausreichend solides historiographisches Fundament, um behaupten zu können, dass die Krise des Idealismus sowohl an der Universität als auch bei den außeruniversitären Denkern und Autoren starken Widerhall fand und so das Gesicht des Jahrhunderts mitgeformt hat.14 In Zusammenhang mit der tief empfundenen Erschöpfung des kategorialen Rahmens des Idealismus prägte dessen Krise auch die Dimension eines theoretischen Desiderats. Denn mit dem philosophischen Instrumentarium des Idealismus waren stets Polemiken verbunden, die ihn als konsistenten theoretischen Diskurs zu diskreditieren suchten. Es handelt sich paradigmatisch um die bekannten Polemiken gegen die sogenannte idealistische „Spekulation“ – Spekulation jedoch nicht im technischen Sinne einer umfassenden Identität von Subjekt und Objekt, die ja Grundlage des absoluten Idealismus ist, sondern vielmehr im Sinne eines bloßen theoretischen Unsinnes. Diesen Polemiken zufolge stellt der Diskurs des Idealismus eine Art theoretischen Geschwätzes dar, weil er zugunsten des Geschlossenheits- und Totalitätsanspruchs des Systems entweder vollends gegenstandslos und phantasierend geprägt ist oder zumindest jeglichem materialen Gehalt grundsätzlich distanziert gegenübersteht. Heinrich Heine hat diesen polemischen Einwand im Buch der Lieder in den Rang einer poetischen Ironie erhoben: „Zu fragmentarisch ist Welt und Leben! Ich will mich zum deutschen Professor begeben. Der weiß das Leben zusammenzusetzen Und er macht ein verständlich System daraus. Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen Stopft er die Lücken des Weltenbaus“.15 In diesem Sinne begleitet den Idealismus – besonders jenen Hegel’scher Prägung – ein Ensemble von Anekdoten, die auf seine angebliche Distanzierung vom Praktischen, Prosaischen, Lebendigen und gar Realen hinweisen. So entsteht das philosophische Bedürfnis, diese als minderwertig aufgefasste „Spekulation“ derart zu überwinden, dass das Philosophieren – abhängig von der jeweiligen Blickrichtung – endlich eine ausreichende Nähe zum Naturwissenschaftlichen, zum erkenntnismäßig Verifizierbaren, zum Leben, zum Konkreten, zum Materialen oder zur Existenz gewinnt. Wie jede Krisensituation hat sich die Krise des Idealismus so zwar als eine zutiefst schmerzvolle Erfahrung erwiesen, die aber zugleich die euphorische Möglichkeit einer Wiedergeburt mit sich brachte. „Überwindung des 14 15 Lange (1974), S. 512. Heine (1972), S. 133–134. 27 Idealismus“ wurde so zum philosophischen Desiderat. Die von Edmund Husserl geprägte Formel „Zu den Sachen selbst!“ resümiert in vielerlei Hinsicht dieses philosophische Streben, das das nachhegelsche Zeitalter so tief prägt. Die Erschöpfung eines über lange Zeit tradierten kategorialen Rahmens, der die Philosophiegeschichte mittelbar oder unmittelbar stets begleitet hat und auf dessen Höhepunkt der Idealismus steht; der daraus resultierende Selbstverständlichkeitsverlust und die institutionelle Umordnung der eigentlichen Idee des Wissens, die mit diesem kategorialen Rahmen zusammenhängt; das sich stets affirmierende Desiderat einer Neubegründung der Philosophie, des Denkens, der Menschheit selbst, die sich der akuten Krisensituation verdankt, aber eben auch aus ihr herausführen könnte – das sind zusammenfassend die geistesgeschichtlichen „Tendenzen“ und „Motive“, die sich unter den Oberbegriff „idealistische Identitätskrise der Philosophie“ bringen lassen und aus denen sich – von einem deutschen Standpunkt aus – der Ursprung des gegenwärtigen Zeitalters begreifen lässt. Die Doppelbewegung einer Ablehnung des idealistischen Instrumentariums einerseits und einer Wendung zum „Konkreten“ andererseits, die die Entwicklung neuer Denkweisen verlangt, bestimmt sie alle. Das jeweilige Verständnis dessen aber, was hier „das Konkrete“ heißen möge, war alles andere als homogen: Dies ist wohl selbst ein Symptom der Krise. Tendenziell einheitlich war die Ablehnung des „Idealismus“ – nicht aber das, was daraus entstehen sollte. Das erklärt wohl die Vielheit der konkurrierenden Denkschulen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts paradigmatisch im deutschsprachigen Raum entstehen: Neukantianismus, Lebensphilosophie, Historismus, Existenzialismus, Unbewusstheitsphilosophien, Phänomenologie, Kritische Gesellschaftstheorie, um nur die prominentesten – und heute noch relevanten – zu nennen. Auch wenn sie alle auf ihre je eigene Art und Weise die Grundthesen des Idealismus abzulehnen meinen und in diesem Sinne eine ursprüngliche Verwandtschaft gemein haben, ist das Verständnis davon, wie sich eine nachidealistische Denkweise zu gestalten hat, ganz unterschiedlich. Ein alter Begriff jedoch, der bereits im 18. Jahrhundert wieder auftaucht, im Laufe des 19. Jahrhunderts dann aber zu einem geflügelten Wort wird und als solches viele verschiedene Denkmodelle diffus vereint, ist der Begriff des Materialismus. Dabei drückt er bereits etymologisch deutlich eine Gegensätzlichkeit zum Idealismus aus, auf deren Grundlage die nachidealistischen Denkmodelle seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihr eigenes Selbstverständnis ausgebildet haben – eine Gegensätzlichkeit übrigens, die die materialistischen Autoren derart zuspitzen, dass sie oftmals zur grundlegenden philosophischen Gegensätzlichkeit überhaupt erklärt wird. So ist für viele Autoren unterschiedlicher Provenienz der Materia- 28 lismus der Inbegriff einer sich auf der Höhe der Zeit befindlichen Denkweise und scheint so intuitiv eine Richtung zu eröffnen, in der sich die Krise des Idealismus produktiv bewältigen ließe. Doch wohl infolge seiner eigenen Geschichte und der rasch erlangten Zentralität in vielen intellektuellen Debatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts haften dem Materialismusbegriff erhebliche Unklarheiten, gar Widersprüchlichkeiten an. In der Tat haben wenige Begriffe im Laufe der Geistesgeschichte ein solch breites, wenngleich oft inkonsistentes Bedeutungsspektrum erhalten. Denn unter „Materialismus“ werden beispielsweise sowohl ökonomische Weltanschauungen als auch moralische Neigungen, sowohl metaphysische, gar dogmatische Standpunkte als auch naturwissenschaftliche bzw. streng antimetaphysische und gar antiphilosophische Denkmuster, mit einem Wort: oft Grundverschiedenes verstanden. „Der Materialismus gewährt vielleicht mehr als alle die Begriffe, die wir bisher behandelt haben, höchst Ungleichartigem Raum, so daß man es noch schwerer hat, auf seinen wirklichen Kern zu stoßen“16. Richtiger müsste es heißen, dass „Materialismus“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts und wohl bis heute ein Streitbegriff ist, der die Hauptrolle in verschiedenen Ausprägungen eines Materialismusstreits spielt17. Es handelt sich seitdem, so könnte man formulieren, um einen grundsätzlich offenen Begriff, der wesentliche Unterschiede gegenüber den älteren Materialismen aufweist und zulässt. So sind manche Probleme des alten und neuzeitlichen Materialismus nicht mehr relevant; andere jedoch stehen infolge des neuen politischen und philosophischen Zusammenhanges prominent zur Debatte; vor allem „der klassenpolitische Stellenwert materialistischer Fragestellungen und Thesen“ hat sich stark gewandelt, wie Alfred Schmidt schreibt18. Bei diesen Auseinandersetzungen und neuen Problematiken spielt vor allem die Frage eine wichtige Rolle, wie der Materialismus, ein grundsätzlich voridealistisches Denkgebilde, neu zu formulieren sei, wenn zumindest der nicht zu übersehende erkenntniskritische Beitrag des Idealismus auch in einem nachidealistischen Zeitalter gerettet werden soll. Denn zum Wesen des Idealismus gehört eine erkenntnistheoretische Operation, die in der Miteinbeziehung des Subjekts in den Erkenntnisprozess besteht und deshalb allen Materialismus auszuschließen scheint. Klar ist den nachidealistischen Autoren zumindest, dass das idealistische Erdbeben in Deutschland so tief greifende Folgen mit sich gebracht hat, dass es nicht möglich ist, ein voridealistisches Reflexionsniveau unkritisch wiederherzustellen; unter kritischem Standpunkt hat der Idealismus dementspre16 17 18 PT, S. 169. Vgl. zum Materialismusstreit des 19. Jahrhunderts Bayertz et al. (2012); Beiser (2014); Gjesdal (2015). Zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen vgl. unten § 4. Lange (1974), S. XI. 29 chend große Verdienste und ist allem vorkritischen Philosophieren wesentlich überlegen. So gehört zum Materialismusstreit seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend die Auseinandersetzung um die kritische Kompatibilität des Materialismus, ohne dass dabei aber seine nunmehr hochgelobte Substanz verloren geht. Mit besonderer Emphase hat die nach dem Tode Hegels entstehende kritische Gesellschaftstheorie diese Frage untersucht. Im nächsten Abschnitt wird im Ausgang der möglichen Differenz zwischen einem klassischen und einem kritischen Materialismusbegriff eine ausführliche Begriffsbestimmung des Materialismus vorgenommen. Leben wir noch heute unter dem Einfluss der Krise des Idealismus? Zum einen scheint sie ohne alle Frage uns auch heute noch zu betreffen, insofern die aus ihr entstandenen Denkbewegungen das Gesicht der zweiten Hälfte des 19. und des ganzen 20. Jahrhunderts tief und kontinuierlich geprägt haben. Aufgrund ihrer ursprünglichen anti-idealistischen Tendenz blieb das nachidealistische Zeitalter, wie Badiou schreibt, ein antimetaphysisches und auch antiphilosophisches Zeitalter, in dem die philosophischen Kardinalfragen so zergliedert wurden, dass ihr philosophischer Gehalt verschwand19. Wenn wir aber noch heute von ihrem kategorialen Rahmen ausgehen, messen wir ihnen weiterhin Relevanz und folglich auch der Krise des Idealismus Aktualität zu. Zum anderen scheinen die letzten Jahrzehnten auf eine Wiederbelebung streng philosophischer und gar metaphysischer Denkweisen hinzuweisen, die freilich keine bloße Wiederholung der voridealistischen darstellen. „Auch die Situation des gegenwärtigen Philosophierens ist unübersichtlich geworden“, schreibt Habermas. „Ich meine nicht den Streit der philosophischen Schulen; der war immer schon das Medium, durch das sich das Philosophieren fortbewegt hat. Ich meine den Streit um eine Prämisse, auf die sich nach Hegel zunächst alle Parteien gestützt hatten. Unklar geworden ist heute die Stellung zur Metaphysik“ 20 . Wird überhaupt eine Wiederbelebung der Metaphysik in Gestalt von spekulativen Philosophien möglich, so muss sie sich heute den ganzen metaphysik- und idealismuskritischen Denkmodellen gewachsen zeigen, die aus der Krise des Idealismus entstanden sind und die gemeinsam verschiedene Spielarten modernen Philosophierens darstellen. Der Materialismus bleibt in beiden Fällen relevant. Er hat den gewichtigen Vorzug, dass er aufgrund seiner immanenten Vieldeutigkeit in beiden Situationen als zeitgenössisch gelten kann. Als offener Streitbegriff deutet er einerseits seit Mitte des 19. Jahrhundert auf den Inbegriff der Kritik hin, die die verschiedenen nachidealistischen Denkmodelle 19 20 30 Badiou (2007), S. 98ff. Habermas (1992), S. 35. zusammenfassen. Andererseits kann er aber auch für neu-metaphysische Denkweisen attraktiv sein, solange er auf seine Art und Weise die Position der emphatischen Idee des Wissens (und der Philosophie) vertritt, der zufolge das Wirkliche erkennbar ist, wie es ist. 31 § 2. Vorbegriff und Problem des Materialismus Als unser zentraler Forschungsgegenstand kann der Materialismusbegriff nichts anderes als einen philosophischen Problemtitel angesehen werden. Auf die immanente, oft inkonsistent wirkende Vielschichtigkeit seiner Bedeutung wurde bereits hingewiesen; betrachtet man dieses komplexe Bedeutungsspektrum, stellt sich die Frage, ob der Begriff überhaupt einen einheitlichen Bedeutungskern besitzt oder ob er nicht eher lediglich innerhalb einer nicht problemlosen Denkkonstellation zu thematisieren wäre, die seine verschiedenartigen Bedeutungsebenen – wohl nicht reibungslos – integrieren könnte. Aus diesem Grund wird im Folgenden eine problematisierende Begriffsbestimmung des Materialismus vorgeschlagen, die eine derartige Denkkonstellation näherungsweise umreißt. Sie geht von einer systematischen Differenzierung zwischen einem klassischen und einem kritischen Materialismus aus – eine Differenzierung, die mit der Krise des Idealismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar thematisch wird, die aber dem Materialismusbegriff sachlich innewohnt. So unternimmt diese etwas typologische Begriffsbestimmung gleichzeitig den Versuch, den Bedeutungskern des Materialismus trotz aller historischen Verschiedenheit zu verfolgen. Die Hauptsache dieser Darstellung bleibt allerdings die Beibehaltung des Problemcharakters des Materialismus, dem auch die negative Dialektik eine Antwort zu geben sucht. Das Wort Materialist stammt höchstwahrscheinlich aus dem Mittelfranzösischen im 16. Jahrhundert und gehört zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich in die alltäglichen Zusammenhänge des Handels. In Frankreich des 16. Jahrhunderts heißt matérialiste so viel wie „Spezerei- und Gewürzhändler, Kolonialwarenhändler“21; hier dürfte das Wort wohl moralisch neutral gebraucht worden sein. Vom Französischen abgeleitet wird es auch bereits im 16. Jahrhundert mit derselben Bedeutung im englischund deutschsprachigen Raum eingebürgert. Diese Bedeutung begleitet die Verwendungsweisen des Wortes wohl bis zum 19. Jahrhundert, auch wenn andere, jetzt moralisch aufgeladene Bedeutungen wie etwa „auf Lebensgenuß bedachte“ oder „auf materielle Werte (unter Verzicht auf ethische Ideale) orientierte Person“ hinzukommen22. 21 22 32 In der ersten Ausgabe des Dictionaire de l’Académie Française von 1694 taucht das Wort noch nicht auf; erst in der vierten Ausgabe von 1762 heißt es – bereits philosophisch – unter dem Eintrag matérialiste: „Celui ou celle qui n’admet que la matière“. Die oben genannte alltägliche Verwendung des Wortes im Frankreich des 16. Jahrhunderts liefert etymologisch Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (online unter https://www.dwds.de). Eintrag „Materialist“ in: Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (online unter https://www.dwds.de). Im gelehrten Bereich wird das Wort materialist erst im Jahr 1674 von Robert Boyle in seinem Werk About the Excellency and Grounds of the Mechanical Philosophy eingeführt; es gehört so in den Zusammenhang der Naturwissenschaften, genauer in die Debatten über den Korpuskularismus. Leibniz verwendet 1702 das Wort matérialiste in seiner Replique aux Réflections de Bayle bereits in retrospektiven philosophiehistorischen Zusammenhängen: „Les Cartésiens ont fort mal réussi, à peu près comme Epicure avec sa déclinaison des atomes, dont Cicéron se moque si bien, lorsqu’ils ont voulu, que l’ame ne pouvant point donner de mouvement au corps, en change pourtant la direction; mais ni l’un ni l’autre ne se peut et ne se doit, et les matérialistes n’ont point besoin d’y recourir (…)“ 23 . Doch weder Boyle noch Leibniz kennen die nominalisierte Variante Materialism bzw. Matérialisme, die nach aller Wahrscheinlichkeit erst 1734 von Christian Wolff als Materialismum in streng philosophischem Sinne geprägt wird: „Materialistae dicuntur philosophi, qui tantummodo entia materialia sive corpora existere affirmant (…) Qui adeo demonstrat animam esse ens immateriale, Materialismum evertit. Et quos ante commemoravimus autores Materialismo addictios“ 24 . So kann Denesle bereits 1754 ein Werk Examen du Matérialisme, relativement à la Metaphysique betiteln. Nur aus dieser kurzen Begriffsgeschichte des Terminus lässt sich ersehen, dass sich die philosophischen Verwendungsweisen von einer methodologisch-naturwissenschaftlichen Hypothese bis zu einem metaphysischen Monismus erstrecken. Auch wenn man beide Dimensionen des Materialismus differenzieren kann, sind in ihm beide Bedeutungen von Beginn an grundsätzlich miteinander verschmolzen. Als philosophische Grundposition vertritt der Materialismus somit traditionsgemäß die These, das wahrhaft und einzig Seiende sei Materie. Gewiss sind die hier thematisierten Begriffe des Seienden und der Materie selbst wiederum erklärungsbedürftig und unterschiedlich auslegbar, doch philosophisch weisen sie ursprünglich auf eine ontologische und holistische Einstellung hin. Der Sache nach gehen die ersten materialistischen Denkentwürfe in der westlichen Tradition bekanntlich auf den antiken Atomismus bei Leukipp und Demokrit zurück, der von den späteren Materialisten immer wieder als Vorbild referiert wird und der von der ursprungsphilosophischen Frage nach dem Wesen des Seienden bzw. nach dem ersten Prinzip geprägt war. Der bekannte Lehrsatz Demokrits, durch Galen überliefert, lautet: „Der Bestimmung zufolge [gibt es] Farbe, der Bestimmung zufolge Süßes, der Bestimmung zufolge Bitteres, in Wirklichkeit aber nur Atome und Leeres“25. Er enthält das Grundprinzip eines streng monistischen und atomistisch verfassten Weltentwurfes, der Aus23 24 25 Leibniz (1840), S. 185. Wolff (1972), § 33–35. Vgl. diesbezüglich Deprun (1992), S. 11ff. Mansfeld et al. (2011), S. 733. 33 sagen über die ultimative Wirklichkeitsverfassung zu treffen beansprucht und so der Form nach vollständig im Horizont der antiken Metaphysik steht. Doch vom Inhalt seiner Grundsätze her ist er zugleich dadurch gekennzeichnet, dass er streng immanenztheoretisch und antispiritualistisch verfasst ist und so zugleich eine antimetaphysische Intention in sich trägt; er gehört, wie beispielsweise Habermas hervorhebt, zu den antimetaphysischen Gegenbewegungen der Metaphysik: „Der antike Materialismus und die Skepsis, der spätmittelalterliche Nominalismus und der neuzeitliche Empirismus sind antimetaphysische Gegenbewegungen, die aber innerhalb des Horizonts der Denkmöglichkeiten der Metaphysik bleiben“26. Aus dieser kurzen Darstellung der Begriffsgeschichte und der Grundthese des Materialismus könnte man leicht schließen, dass er lediglich der metaphysischen Epoche des Denkens angehöre und so in der grundsätzlich metaphysikkritischen Moderne veraltet sei. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn der Materialismus erfährt eben in einem metaphysikkritischen und nachidealistischen Zeitalter eine prononcierte Blütezeit. Es ist eben der Metaphysikkritiker Kant, der in Deutschland zum Status eines möglichen Garanten des Materialismus im nachidealistischen Zeitalter erhoben wird. Wir sahen, wie ein nicht geringer Teil der intellektuellen Debatten zu jener Zeit in Deutschland von der Frage nach der Kompatibilität des Kritizismus mit dem Materialismus geprägt war, der sich die verschiedenen Materialismusauseinandersetzungen bis heute widmen. Nicht zuletzt entstehen nach Kant verschiedene materialisierte Kritizismen: Versuche, das kantische Denkgebäude materialistisch und so auch umgekehrt den Materialismus selbst als eine radikalisierte Spielart von Kritik umzudeuten 27 . Doch dieses Unternehmen bleibt insofern grundsätzlich – und wohl bis heute – paradox, als man „Kants ganzes System als einen großartigen Versuch betrachten [kann], den Materialismus für immer aufzuheben, ohne am Skeptizismus zu verfallen“28, wie Lange schreibt. Denn zur Hauptthese des Materialismus gehört wie gesagt der Anspruch, Aussagen über das bewusstseinsunabhängige Wesen des Wirklichen zu treffen, das traditionsgemäß eben dem Hauptkonzept des Materialismus – der Materie – entspricht. Wird aber mit Kant vorausgesetzt, dass alle menschliche Erkenntnis durch das Zusammensetzen von Bewusstsein und Sinnlichkeit vermittelt ist, wie kann dann der Materialismus Zugang zu dem unvermittelten Wesen des Wirklichen erhalten und erkenntnistheoretisch gültige Aussagen diesbezüglich treffen? Erhält 26 27 28 34 Habermas (1992), S. 36. Der Ausdruck „materialisierter Kritizismus“ stammt wohl von Gunzelin und Schmid Noerr. Vgl. dazu Schmid Noerr et al. (1991). Lange (1974), S. 513. seine Grundthese so etwa den Status eines kategorial unbelegbaren und deshalb grundsätzlich dogmatischen Axioms? Im Gefolge der Vernunftkritik und in Auseinandersetzung mit dem Dogmatismusproblem wird dann überhaupt erst die Frage nach der Möglichkeit und dem Begriff eines kritischen Materialismus aufgeworfen, der im Gegensatz zu den vorkritischen oder klassischen Materialismen der erkenntniskritischen Ausweisbarkeit seiner Aussagen, vor allem seiner Grundthese über die Verfasstheit des Wirklichen als Materie, gewachsen ist. Diese Frage wird aber erst dann virulent, wenn die Vernunftkritik durchgeführt worden ist und ihre Folgen geistesgeschichtlich eingebürgert sind. So wird sowohl sachlich als auch philosophiehistorisch die Rede eines kritischen Materialismus erst nach Kant tatsächlich möglich. Parolen wie „Erneuerung des Materialismus“, „neuerer Materialismus“ und „kritischer Materialismus“ im Gegensatz zu „naivem“, „dogmatischem“, „vulgärem“ und „altem“ Materialismus sind zu dieser Zeit – und wohl bis heute – allgegenwärtig29; in demselben Zusammenhang wird das Bewusstsein des Materialismusproblems seitens der materialistischen Denktradition immer akuter und offen reflektiert, sodass es sogar im Titel einer wichtigen Studie von Ernst Bloch auftritt30. Mit den alten, klassischen Materialismen sind so gut wie alle vorkritischen Materialismen von der Antike bis zur französischen Aufklärung gemeint. Bei den neueren oder kritischen Materialismen wird dagegen die Möglichkeit eines Denkentwurfs indiziert, die aber, so möchte ich formulieren, eben nur als ein Problem aufgefasst werden kann. Das Problem eines kritischen Materialismus könnte rein sachlich als Frage formuliert werden: Wird mit Kant vorausgesetzt, dass sich die Setzung eines absolut Ersten gleichgültig welcher Provenienz, also etwa der Materie, notwendig in unüberwindbare Widersprüche verwickelt, muss der Materialismus dann nicht auf seine Grundthese verzichten, um sich als konsistentes Denkmodell zu gestalten? Wird so aber seine Substanz – wie Ernst Bloch schreibt – nicht notwendigerweise verlorengehen? Denn im Lichte der Vernunftkritik ist der Materialismus nichts anderes als eine weitere Spielart von Metaphysik und Ursprungsphilosophie, die als solche keinen objektiven Erkenntnisanspruch erheben darf. Trotz seiner antimetaphysischen Intention und seiner immanenzphilosophischen Grundeinstellung bleibt er aus dieser Sicht daher im Horizont der alten Metaphysik befangen und ist theoretisch antinomisch. Es ist vermutlich seine „Substanz“, die den Materialismus auch in einem nachidealistischen und nachmetaphysischen Zeitalter theoretisch attraktiv macht. Um sie nun annäherungsweise zur Sprache zu bringen, empfiehlt 29 30 Lange (1974), S. 502–503, 521, 552. Bloch (1972). 35 es sich, den Materialismus in zwei Grundtendenzen zu untergliedern, die sich in ihm durchkreuzen. Es handelt sich wie gesagt um eine szientifischmethodologische und eine kritisch-aufklärerische Tendenz. Beide werden von manchen Historikern des Materialismus in Anspruch genommen, um seine Grundlinien zum Ausdruck zu bringen. Das ist beispielsweise bei Lange und Adorno selbst der Fall31. Die szientifisch-methodologische Tendenz des Materialismus drückt sich zunächst durch bestimmte epistemische Werte aus, die aber nicht nur der Materialismus als Denkbewegung vertritt. Es handelt sich hauptsächlich um methodologische Werte wie die Einfachheit und Ökonomie der theoretischen Grundprinzipien; die prinzipielle Offenheit gegenüber der Methodik der Experimentalwissenschaften; die radikale Ablehnung von „transzendenten“ Erklärungspostulaten und -entitäten wie Geist, Seele und Gott; die Angewiesenheit auf die sinnliche Erfahrung als einzige Erkenntnisquelle; die Neigung zum Begriffsnominalismus; das methodische, doch nicht spekulativ-orientierte Denken. Auch wenn diese Werte eine Art starken Naturalismus nicht unbedingt voraussetzen oder implizieren, dem zufolge die Natur als einheitlicher, autarker und für sich geschlossener Zusammenhang zu konzipieren ist32, scheinen sie sich im Allgemeinen doch auf den so verstandenen Naturalismus hin zu orientieren. Aufgrund seiner Angewiesenheit auf die Sinnlichkeit ist der Materialismus zuletzt einem erkenntnistheoretischen Sensualismus tief verpflichtet. Die kritisch-aufklärerische Tendenz scheint in erster Linie durch moralische Werte gekennzeichnet zu sein. Diese Werte entsprechen einer Ausrichtung auf die untergründigen, unbewussten, oft auch verdrängten und abgestoßenen Prozesse und Vorgänge, die den Menschen, das Leben, die Gesellschaft, die Erkenntnis, die Kultur innerlich konstituieren. Topographisch formuliert geht es hier so um eine nachholende Reflexion auf das „Untere“, das von „ideellen“ bzw. „oberen“ Erklärungsversuchen gar nicht, ungenügend oder nur verklärt berücksichtigt wird. Diese nachholende Reflexion drückt sich aus als ein prononcierter Vorrang des Negativen gegenüber dem Positiven; des Körperlichen gegenüber dem Seelischen; des Unbewussten gegenüber dem Bewussten; des Praktischen gegenüber dem Kontemplativen; des Ökonomischen gegenüber dem Ideellen; kurz: des Materiellen gegenüber dem Geistigen. So fließen in den Materialismus traditionsgemäß Denkmotive und Erfahrungsgehalte ein, die zum einen der Konstellation von Vitalismus, Hedonismus, von Lust und Schmerz, zum anderen der von Tod, Lebensnot, „von der Leiche, von der Verwesung, von dem Tierähnlichen“33 angehören. Zusammenfassend ist diese 31 32 33 36 Vgl. PT, S. 181ff.; Lange (1974), S. 512ff. Dieser Begriff des Naturalismus, demzufolge „nature is closed to mind“, stammt von Alfred North Whitehead. Vgl. Whitehead (2013). PT, S. 181. Tendenz deshalb kritisch, weil sie sich grundsätzlich durch den Impuls auszeichnet, „idealisierende“ und in diesem Sinne „ideologische“ Erklärungs- und Legitimationsversuche zu demaskieren und abzulehnen und zugleich das zu retten, was mit diesen idealisierenden Versuchen verloren geht. Abhängig davon, wie sie sich gegenüber diesem „Unteren“ verhält, kann diese Tendenz entweder utopische oder zynische Züge aufweisen. Aus der bisherigen Darstellung des Materialismus lassen sich schließlich auch die Hauptprobleme ableiten, die sich ihm von Beginn an stellen. Es handelt sich grundsätzlich um Übergangs- und Umschlagprobleme, die die monistischen Erklärungsmöglichkeiten von verschiedenen Emergenzphänomenen in Frage stellen – etwa der Emergenz des Kontingenten aus dem Notwendigen, des Bewegten aus dem Unbewegten, des Organischen aus dem Anorganischen, des Bewusstseins aus dem Sein, kurz: des qualitativ Neuen aus dem Immergleichen. Ernst Bloch fasst diese von ihm als Aporien aufgefassten Probleme so zusammen: „Aporien der Eigenschaftsveränderung, des ‚Übergangs‘ Leib-Seele, Unterbau-Überbau, SeinBewußtsein, Quantität-Qualität, des qualitativen Sprungs überhaupt und vorzüglich des materiellen Substrats von all dem“ 34 . Die Vorwürfe des Mechanizismus und des Determinismus nun, die oft gegen den – sowohl antiken als auch neuzeitlichen – Materialismus erhoben werden, fassen diese Übergangs- und Umschlagprobleme größtenteils zusammen. Die Geschichte des westlichen Materialismus hat sich, so Bloch, an diesen internen Problemen kontinuierlich abgearbeitet; die verschiedenen materialistischen Spielarten könnten dementsprechend als unterschiedliche Antworten auf diese immerwährende Fragestellung durch die Geschichte hindurch gedeutet werden. Auch aus ihnen lässt sich die Geschichte des Materialismus, wie Bloch meint, als eine zusammenhängende Tradition trotz aller Verschiedenheit rekonstruieren. Zusammenfassend ist die Konstellation des Materialismus sehr breit angelegt, und es kann sogar zu gewissen Widersprüchen kommen, wenn seine Tendenzen zugespitzt werden. Diese Konstellation umfasst sowohl naturalistische, nominalistische, und positivistische Gedankenströme als auch vitalistische, hedonistische, zynische und utopische Elemente. Eben deshalb bilden sie eine breite, aber keineswegs zusammenhangslose Denktradition. Doch auch wenn seine Tendenzen sehr dynamisch verfasst und entsprechend unterschiedlich konfigurierbar sind, zeichnet sich der Materialismus in erster Linie durch seine Grundthese über die Verfasstheit des Ganzen als Materie aus, die zwar relativ auslegungsfähig, doch zugleich stringent ist. Die Frage nach der erkenntniskritischen Umformulierbarkeit dieser Grundthese bestimmt die kritischen Materialismen. 34 Bloch (1972), S. 17. 37 So weit zu einem Vorbegriff des Materialismus. Zusammen mit der oben thematisierten Krise des Idealismus bildet er die Grundkonstellation, innerhalb derer es möglich wird, zu dem Begriff der Kritischen Theorie und so dem einer negativen Dialektik zu gelangen. 38 § 3. Das Konzept einer Negativen Dialektik A. Philosophiehistorisches Selbstverständnis Wir sahen, dass die idealistische Identitätskrise der Philosophie einen großen Einfluss auf die Entstehung der meisten Denktraditionen des 19. Jahrhunderts in Deutschland ausübte – auch wenn diese ganz unterschiedlich auf den Verfall des Idealismus reagierten. Das trifft auch auf die kritische Gesellschaftstheorie zu, die aus dem sogenannten Linkshegelianismus entsteht: Von Karl Marx bis zumindest Adornos negativer Dialektik kreist sie größtenteils um die Fragen, die sich aus dem Verfall des Idealismus ergeben. Insofern kann man alle kritische Theorie als ein wesentlich zeitbezogenes Gebilde bestimmen: Anders als eine selbstgenügsame Denkfigur, die sich als Statthalter und Sprecher ewiger und unveränderbarer Wahrheiten ansieht, versteht sie sich als Reaktion auf bestimmte zeitbezogene Ereignisse, die sie grundlegend konstituieren. Sie geht, mit anderen Worten, von einer bestimmten theoretischen Zeitdiagnose aus, die ihrem eigenen Begriff als Voraussetzung gilt. Ist diese immanente Zeitbezogenheit ein wesentliches Merkmal aller kritischen Theorie, dann kann man tatsächlich von zueinander parallel verlaufenden kontextgebundenen, jedoch gleichberechtigten Modellen kritischer Theorie sprechen. Diese Modelle kritischer Theorie stehen so innerhalb einer sich kontinuierlich abarbeitenden Dialektik zwischen innertheoretischer Konstruktion und geschichtlicher Zeitdiagnose35. Es ist eben im Bewusstsein dieser Zeitbezogenheit kritischen Denkens, dass Max Horkheimer im Jahr 1931 die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernimmt, das etwa ein Jahrzehnt früher gegründet worden war, um den kategorialen Rahmen des Marxismus unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Zu diesen Bedingungen zählen hauptsächlich die Formierung einer Massengesellschaft, die die klassische Klassentheorie des Marxismus in Frage stellte; die Entstehung einer ideologisch stark geprägten Kulturindustrie; die Erscheinung bzw. Bekräftigung bestimmter sozialer Pathologien wie des Antisemitismus, der zwar ein uraltes europäisches Phänomen ist, der sich aber im Laufe der Moderne neu gestaltet und erneut virulent wird. Auch gerade angesichts der dramatischen Entwicklungen im Rahmen der zuvor doch hoffnungsvollen „Sowjetischen Union“ hatten die Intellektuellen des Instituts letztlich sehr früh keine Zweifel mehr daran, dass der kategoriale Rahmen des klassischen Marxismus neu gedacht werden müsse36. 35 36 Diese These hat zunächst Gerhard Bolte entwickelt. Vgl. Bolte (1995). Vgl. Wiggershaus (1986). 39 Mit Übernahme der Institutsleitung begreift Horkheimer diese Aufgabe zunächst in Gestalt eines interdisziplinären Materialismus, der im Rahmen des Instituts etwa ein Jahrzehnt lang, von 1931 bis 1941, durchgeführt wird. Dies ist in den Arbeiten der klassischen Zeitschrift für Sozialforschung dokumentiert, die bis 1941 – bereits im nordamerikanischen Exil – erschienen ist. In ihr sollen kritische Beiträge verschiedener fachwissenschaftlicher Disziplinen erscheinen, deren fachspezifische Begrenztheit es aber mittels einer vereinheitlichenden „dialektischen“ Darstellungsweise aufzuheben gilt. „Die ‚Darstellung‘ knüpft zwar an deren methodische und forschungstechnische Vorgaben an, synthetisiert diese dann aber in einem Verfahren dergestalt, daß in der ausgeführten Theorie ein integriertes Bild der ‚konkreten‘ Wirklichkeit zustande kommt. Für diese Form der fachübergreifenden sozialwissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft benutzt Horkheimer den Begriff der ‚Sozialforschung‘“37. Die wirkungsmächtigsten Arbeiten aus diesem Projekt sind ohne alle Frage die 1937 erschienenen, einander ergänzenden Aufsätze Traditionelle und kritische Theorie und Philosophie und kritische Theorie von Max Horkheimer (letzterer mit Herbert Marcuse). Zusammengenommen haben diese beiden Aufsätze den Begriff kritische Theorie erstmals eingeführt und so auch eine programmatische Rolle für das gesamte Projekt einer kritischen Theorie gespielt. Dabei besteht Horkheimer zwar auf „de[m] philosphische[n] Charakter der kritischen Theorie“38, die „über das Erbe des deutschen Idealismus hinaus das der Philosophie schlechthin [bewahrt]“39. Doch dieses Erbe ist auch „wesentlich mit dem Materialismus verbunden“40, was dann nicht meint, „dass sie sich damit als ein philosophisches System gegen andere philosophische Systeme stellt“, sondern vielmehr „kein philosophisches System“41 ist: Die kritische Theorie der Gesellschaft war seit ihren Anfängen stets auch mit philosophischen Auseinandersetzungen beschäftigt. Zur Zeit ihrer Entstehung: in den dreissiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, war die Philosophie die fortgeschrittenste Gestalt des Bewusstseins; die wirklichen Zustände waren in Deutschland noch hinter dieser Gestalt der Vernunft zurückgeblieben. Die Kritik des Bestehenden begann hier als eine Kritik jenes Bewusstseins, weil sie sonst ihren Gegenstand noch unter dem Niveau der Geschichte ergriffen hätte, das die ausserdeutschen Länder schon in der Realität erreicht haben. Nachdem die kritische Theorie die ökonomischen Verhältnisse als für das Ganze der bestehenden Welt verantwortlich erkannt und den ge37 38 39 40 41 40 Dubiel (1988), S. 19. ZfS6, S. 627. ZfS6, S. 626. ZfS6, S. 631. ZfS6, S. 631f. sellschaftlichen ‚Gesamtzusammenhang‘ der Wirklichkeit erfasst hatte, wurde nicht nur die Philosophie als eigenständige Wissenschaft dieses Gesamtzusammenhangs überflüssig, sondern es konnten nun auch diejenigen Probleme, welche die Möglichkeiten des Menschen und der Vernunft betrafen, von der Ökonomie aus in Angriff genommen werden.42 Bei dieser Auflösung der „Philosophie als eigenständiger Wissenschaft“ wird hier auf die bekannte Hegel-Kritik Marxens verwiesen, die als das Gründungsmodell aller kritischen Theorie gelten kann. Denn Marx hatte bereits in den ersten Jahren nach dem Tod Hegels die philosophische Erschöpfung und den mit ihr verbundenen ideologischen Inhalt der Hegel’schen Philosophie diagnostiziert, der für ihn den damaligen Zustand des politisch zurückgebliebenen Deutschland auch letztinstanzlich legitimierte. So hat der noch junge Denker der beginnenden idealistischen Identitätskrise der Philosophie bereits im Zeichen ihrer Entstehung Substanz verliehen: Die Krise des Hegel’schen Idealismus bedeutete eine Krise des gesamten westlichen Philosophierens als einer gedanklichen Legitimierung der unversöhnten menschlichen Wirklichkeit und implizierte die Notwendigkeit, das Hegel’sche Denkgebäude auf dessen rationalen Kern zu reduzieren und diesen praktisch zu verwirklichen. Dieser rationale Kern – Marx zufolge eben die Kritik der politischen Ökonomie – entsprach der Forderung, die menschliche Welt durch praktische Tätigkeit nach dem Maßstab der Vernunft umzugestalten, also „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“43. Philosophie sollte durch den Übergang zur Praxis verwirklicht und so aufgehoben werden, wie die allbekannte elfte Feuerbachthese Marxens behauptet. Zwar wird hier die Zentralität der Kritik der politischen Ökonomie bei Marx für die Auflösung der Philosophie als einer eigenständigen Disziplin hervorgehoben, die dann in der kritischen Theorie ab Horkheimer eine keineswegs mehr so eindeutig zentrale Rolle spielen, sondern einen Platz neben anderen Wissenschaften einnehmen wird. Doch Horkheimer weist auf die Tatsache hin, dass der Materialismus in beiden Fällen kein den anderen philosophischen Systemen bloß entgegengesetztes System ist. Vielmehr indiziert er den philosophischen Ort, in dem diese Auflösung der Philosophie – bei Marx als Kritik der politischen Ökonomie, bei Horkheimer wiederum interdisziplinär – geleistet wird. Zu dem Projekt eines interdisziplinären Materialismus hat Adorno grundsätzlich mit musikphilosophischen und -soziologischen Aufsätzen beigetragen, die als Vorarbeiten für die einige Jahre später in der Dialektik der Aufklärung entwickelte Theorie der Kulturindustrie angesehen werden 42 43 ZfS6, S. 631. MEW1, S. 385. 41 können. Abgesehen von seiner 1933 publizierten Habilitationsschrift über Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen hat er bis zur 1947 erschienenen Dialektik der Aufklärung nur musiktheoretische Arbeiten veröffentlicht. Doch seit seiner Rückkehr von Wien nach Frankfurt in der Mitte der 20er Jahren hat er sich auch wesentlich mit den Fragestellungen auseinandergesetzt, die sich aus der Krise des Idealismus ergeben und so den Begriff einer kritischen Theorie innerlich bestimmen44. Das beste Dokument dieser Auseinandersetzung ist seine Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie als Privatdozent in der Universität Frankfurt. Die vielzitierten ersten Sätze dieser zu Lebzeiten unveröffentlichten Antrittsvorlesung bringen die idealistische Identitätskrise der Philosophie mit einer Deutlichkeit zur Sprache, die sie als Zitat unentbehrlich macht: Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen (…). Davon legt die Geschichte der Philosophie selbst Zeugnis ab. Die Krise des Idealismus kommt einer Krise des philosophischen Totalitätsanspruches gleich. Die autonome ratio – das war die Thesis aller idealistischen Systeme – sollte fähig sein, den Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit selber aus sich heraus zu entwickeln. Diese Thesis hat sich aufgelöst.45 Hier wird die Krise des Idealismus mit der „Krise des philosophischen Totalitätsanspruches“ gleichgesetzt. Der philosophische Totalitätsanspruch entspricht seinerseits der spekulativen Kernthese des Idealismus über die vermittelte Identität von Sein und Denken am Ort des Absoluten; im Grunde ist er nur eine spezifische, extensiv angelegte Variante derselben. Gewiss hat Adorno hier die Denksysteme des Deutschen Idealismus im Sinn, auch wenn kein partikuläres System als Beispiel genannt wird. Es scheint hier für ihn zunächst gleichgültig zu sein, ob „der Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit“ etwa von einem formallogischen Grundsatz ausgehend deduzierbar, wie etwa bei Fichte, oder eher erst am Ort des Absoluten, am Ende des philosophischen Prozesses – wie bei Hegel – explizierbar sein soll. Wesentlich ist wohl nur, dass die Gesamtheit des Wirklichen vom Denken, von der ratio durchdrungen bzw. entwickelt werden kann. Wie ist nun weiter zu philosophieren, nachdem dieser philosophische Totalitätsanspruch, den Adorno im Einklang mit der Tradition ja als eine Grundvoraussetzung emphatischen Philosophierens bezeichnet, allem Anschein nach unwiderruflich nicht mehr einzulösen ist? 44 45 42 Für die beste Rekonstruktion des Denkweges des jungen Adornos, vgl. Pettazzi (1983). GS1, S. 326. Diese Fragestellung wurde von dem Philosophen stets in aller Radikalität wahrgenommen. Es geht dabei um nichts weniger als die eigentliche „Aktualität der Philosophie“ selbst, also darum, ob überhaupt „eine Angemessenheit zwischen den philosophischen Fragen und der Möglichkeit ihrer Beantwortung besteht: ob nicht vielmehr das eigentliche Ergebnis der jüngsten Problemgeschichte die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der philosophischen Kardinalfragen sei“46. Die Aktualitätsfrage der Philosophie ist somit als das Problem der „Liquidation der Philosophie“47 selbst aufzufassen, also als die Frage nach der Existenzberechtigung der Philosophie unter nachidealistischen Bedingungen, die von jeder ernst zu nehmenden Philosophie heute zwangsläufig zu stellen sei. Hier ist unverkennbar, wie der noch junge Adorno von der Problematik der oben erwähnten Auflösung der „Philosophie als eigenständige Wissenschaft“ in Anspruch genommen ist, die ihrerseits dem neuen Materialismus gleichgesetzt wird, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt oft nur angedeutet bleibt: „Über das Verhältnis dieser Dinge zum historischen Materialismus wollte ich noch sprechen, kann aber hier nur soviel sagen: es ist nicht das der Ergänzung einer Theorie durch eine andere, sondern das der immanenten Auslegung einer Theorie. Ich stelle mich sozusagen als der richterlichen Instanz der materialistischen Dialektik“ 48 . Weiter unten wird zu zeigen, wie diese gesamte Problemkonstellation etwa dreißig Jahre später noch radikaler in der Negativen Dialektik erneut aufgegriffen wird. Bereits zu Beginn der 40er Jahren wurde das Projekt eines interdisziplinären Materialismus zugunsten eines geschichtsphilosophisch und anthropologisch breiter angelegten Projekts einer „Kritik der instrumentellen Vernunft“ aufgegeben, von der ihrerseits die Dialektik der Aufklärung, 1947 veröffentlicht, das maßgebliche Ergebnis bildet. Die „Vorrede“ der Dialektik der Aufklärung spezifiziert die Gründe, warum der frühere interdisziplinäre Materialismus aus Sicht der Autoren aufgegeben werden musste: Hatten wir auch seit vielen Jahren bemerkt, daß im modernen Wissenschaftsbetrieb die großen Erfindungen mit wachsendem Zerfall theoretischer Bildung bezahlt werden, so glaubten wir immerhin dem Betrieb so weit folgen zu dürfen, daß sich unsere Leistung vornehmlich auf Kritik oder Fortführung fachlicher Lehren beschränkte. Sie sollte sich wenigstens thematisch an die traditionellen Disziplinen halten, an Soziologie, Psychologie und Erkenntnistheorie. Die Fragmente, die wir hier vereinigt haben, zeigen jedoch, daß wir jenes Vertrauen aufgeben mußten. Bildet die aufmerksame Pflege und Prüfung der wissenschaftlichen Überlieferung, beson46 47 48 GS1, S. 331. GS1, S. 331. GS1, S. 365. 43 ders dort, wo sie von positivistischen Reinigern als nutzloser Ballast dem Vergessen überantwortet wird, ein Moment der Erkenntnis, so ist dafür im gegenwärtigen Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation nicht bloß der Betrieb sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden.49 Zwar gehört auch die Dialektik der Aufklärung in den Zusammenhang der Diskussionen um den Begriff des Materialismus und der dialektischen Logik, die Horkheimer bereits in der frühen Phase mit Adorno und anderen Kollegen des Instituts geführt hat. Wie man aber den zitierten Sätzen der „Vorrede“ entnehmen kann, erfolgt bei Adorno und Horkheimer zu diesem Zeitpunkt einer Änderung der Zeitdiagnose, die dazu motiviert, das Projekt des interdisziplinären Materialismus aufzugeben. Im Gegensatz zu diesem taucht in der Dialektik der Aufklärung nun der Verdacht auf, dass „nicht bloß der Betrieb sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden“ ist. Dies betrifft naturgemäß die eigene wissenschaftliche Grundlage jenes interdisziplinären Projekts des Instituts. Unter anderem ist diese neue Zeitdiagnose von der im Laufe der 30er Jahren entwickelten Theorie des Staatskapitalismus von Friedrich Pollock wesentlich beeinflusst, dem die Dialektik der Aufklärung gewidmet ist. Dabei handelt es sich hauptsächlich um den Aufstieg einer neuen, das Modell der freien Konkurrenz ablösenden Phase des westlichen Kapitalismus, in der der Staat zwecks Krisenvermeidung stark regulierend eingreift. Nicht zuletzt bedeutet dies, dass der Bezug zur Transformation der menschlichen Welt durch praktische Tätigkeit, den die vorangehenden Modelle kritischer Theorie mehr oder weniger direkt aufgewiesen haben, verloren gegangen zu sein scheint.50 Die Dialektik der Aufklärung ist das Ergebnis der dramatischen Verarbeitung dieser neuen Zeitdiagnose. Es handelt sich um das Misstrauen gegen die eigentlichen rationalen Mitteln, die aus der Aufklärung stammen und denen jenes Projekt noch grundlegend verpflichtet war. Mit der Dialektik der Aufklärung erfolgt so, in einem Wort, der Übergang von dem interdisziplinären Materialismus Horkheimer’scher Prägung zu einem anthropologisch und geschichtsphilosophisch angelegten Modell einer totalisierten Vernunftkritik, das die Konstitution von Zwang und Herrschaft im Wesen der Subjektivität selbst sucht. Sie setzt sich so programmatisch und selbstbewusst dem aporetischen Verfahren aus, mit rationalen Mitteln die ratio selber zu kritisieren: Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen 49 50 44 GS3, S. 11–12. Pollock (1975), S. 72ff. Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.51 Der Wirkungserfolg und die gewonnene Zentralität der Dialektik der Aufklärung in der Denktradition der kritischen Theorie macht sie zum Gegenstand massiver Auseinandersetzungen. Ihre Folgen bestimmen die gesamte Weiterentwicklung der Tradition und so auch wesentlich die negative Dialektik. Im nächsten Unterabschnitt werde ich diese Diskussion mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte der negativen Dialektik wieder aufgreifen. Zunächst aber soll nur das philosophiehistorische Selbstverständnis der negativen Dialektik betrachtet werden, das unabhängig von ihrer späteren Rezeptionsgeschichte gefasst werden kann. Insgesamt lässt sich sagen, dass sie die gesamte Problemkonstellation, die oben dargestellt worden ist, zusammenfassend reflektiert. Wie alle kritische Theorie bestimmt sich auch die negative Dialektik bereits in ihrer Ausgangslage als ein wesentlich zeitbezogenes Denkgebilde. Ihr viel kommentierter Anfangssatz drückt dies formelhaft aus: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“52. Bereits anhand der Wortwahl und der Begriffskonstellation, die das Wort „Philosophie“ hier umkreist, lässt sich diese Zeitbezogenheit in aller Deutlichkeit konstatieren: „Überholung“, „sich am Leben erhalten“, „Augenblick“, „Versäumnis“. Die so konzipierte „Philosophie“, auf die sich die negative Dialektik als ihren Ausgangslage bezieht, ist demzufolge ein zeitlich begrenztes Gebilde, das infolge des Versäumnisses ihrer möglichen (und notwendigen) Realisierbarkeit nicht mehr zeitgemäß ist und nur im Rahmen dieser Unzeitgemäßheit, gewissermaßen als Nachleben von sich selbst, fortbesteht. Ein bestimmter Zeitpunkt hätte also erreicht werden müssen, in dem die theoretische Summe dessen, was die so aufgefasste „Philosophie“ innerlich konstituiert, in die Wirklichkeit überführt worden wäre. Dieser Zeitpunkt ist aber versäumt worden, sodass das ganze Gebilde innerhalb dieser großen Ambivalenz, besser: dieser akuten Krisensituation, die seine eigene Existenzberechtigung betrifft, noch existiert. Dass es sich nun bei einem so umrissenen Begriff von Philosophie unmissverständlich um den idealistischen, genauer: Hegel’schen handelt, kommt in den nächsten Sätzen zum Ausdruck: 51 52 GS3, S. 13. GS6, S. 15. 45 An ihr [der Philosophie – D. P.] wäre zu fragen, ob und wie sie nach dem Sturz der Hegelschen überhaupt noch möglich sei, so wie Kant der Möglichkeit von Metaphysik nach der Kritik am Rationalismus nachfragte. Stellt die Hegelsche Lehre von der Dialektik den unerreichten Versuch dar, mit philosophischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen, so ist Rechenschaft vom fälligen Verhältnis zur Dialektik zu geben, wofern sein Versuch scheiterte.53 Es besteht kein Zweifel, dass auch die negative Dialektik hier wiederholt auf die oben zusammengefasste Hegel-Kritik Marxens verweist, auf die sich bereits der interdisziplinäre Materialismus Horkheimer’scher Prägung beziehen konnte. Allerdings geht sie von dem Versäumnis der möglichen Realisierbarkeit der Philosophie durch praktische Tätigkeit aus, was ihre akute, sogar etwas paradoxe Krisensituation weiter vertieft: „Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß. Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren“54. Was bleibt dann dem Philosophieren in dieser Krisensituation übrig? Auf diese Frage antwortet die negative Dialektik kategorisch: „Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren“55. Die Hegel’sche Philosophie wird dann durch den zunächst etwas rätselhaften Versuch charakterisiert, „mit philosophischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen“56, ein Versuch, der aber seinerseits als „unerreicht“ gilt. Wenn im Falle der Antrittsvorlesung Adornos mit dem Titel Die Aktualität der Philosophie von dem eher „extensiv“ angelegten Totalitätsanspruch der Philosophie die Rede war, scheint hier nun die Aufmerksamkeit auf ein dazu komplementäres, aber „intensiv“ konzipiertes Anliegen gerichtet zu werden: das dem Begriff Ungleichartige ins begriffliche Medium reibungslos zu übersetzen. Was „das dem Begriff Heterogene“ überhaupt sein könnte, werde ich im zweiten Kapitel thematisieren: Dort wird gezeigt, wie Adorno diese Formulierung mit der Schelling-Hegel’schen Formel des Absoluten als „Identität von Identität und Nichtidentität“57 im Grunde synonym verwendet. Emphatisches Philosophieren, dem der negativen Dialektik zufolge das Hegel’sche Denkgebäude als Vorbild dient, bedeutet demgemäß, das Wirkliche in dessen Totalität – also einschließlich das dem Begriff Heterogene – begrifflich zu fassen. Auch wenn die negative Dialektik die unzweideutige 53 54 55 56 57 46 GS6, S. 16. GS6, S. 15. GS6, S. 15. GS6, S. 15. WW5, S. 73. Krisensituation dieses Begriffs von Philosophie unter nachidealistischen Bedingungen anerkennt, bleibt sie ihm mittelbar treu: Sie geht von ihm aus, um die – sowohl innerphilosophischen als auch geistesgeschichtlichen – Gründe für seinen unwiderruflichen Verfall kritisch zu hinterfragen. Auch deshalb steht im Zentrum der negativen Dialektik eine philosophische Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie in Gestalt der Identitätsproblematik, die eben zu jener Auffassung führte. So gesehen ist die negative Dialektik schließlich eine von denjenigen zeitgenössischen Denkmodellen, die die Frage nach der Möglichkeit von Dialektik im Zeichen seiner angeblichen Obsoleszenz stellen. Gewissermaßen wiederholt sie Marxens Herangehensweise an Hegels Philosophie, die – wie gesagt – als Gründungskonstellation aller kritischen Theorie gelten kann: den Anspruch, ihren rationalen Kern herauszupräparieren. Damit soll sie zugleich kritische Selbstreflexion der (klassischen deutschen) Philosophie sein und den Übergang zum kritischen Materialismus vollziehen. Klar ist nun, dass sich diese Grundoperation allein deshalb so gestaltet, weil sie dem emphatischen Philosophiebegriff treu bleibt; wären der negativen Dialektik andere Denkwege offengestanden, als auf diesem Begriff emphatischen Philosophierens zu beharren, dann wären sowohl die Aktualitätsfrage der Philosophie, ob sie unter nachidealistischen Bedingungen überhaupt weiterzubetreiben sei, als auch ihre Aufgabe, rücksichtslose Selbstkritik zu üben, nicht in dieser Radikalität gestellt worden. Gerade diese Radikalität aber indiziert das heutige philosophische Interesse an der negativen Dialektik, erlaubt sie es uns doch unter anderem, die philosophischen Folgen und Aporien jener Denkmodelle zu beurteilen, die auf dem emphatischen Begriff von Philosophie auch unter nachhegelschen Bedingungen insistieren. Auch aufgrund dieser Ausgangslage ist die negative Dialektik für die spekulativen Fragestellungen über die Denkfähigkeiten zur Erfassung des Absoluten noch aktuell – Fragestellungen, wie sie im Laufe der klassischen deutschen Philosophie und auch, wie ich im nächsten Abschnitt darstellen werde, in den heute erneut auftretenden spekulativen Denkbewegungen wieder auftauchen. Nach diesen Ausführungen sind wir in der Lage, den philosophiegeschichtlichen Ort der negativen Dialektik thesenhaft zusammenzufassen. Daraus ergibt sich das Konzept einer negativen Dialektik als Spielart des kritischen Materialismus. Dieser philosophiegeschichtliche Ort lässt sich im Wesentlichen durch einen dreistufigen Gedankengang rekonstruieren: 1. Negative Dialektik beansprucht die Erbschaft der westlichen Aufklärung, deren innere Logik die Denkentwicklung der klassischen deutschen Philosophie zwischen Kant und Hegel freilegt. 47 2. Doch zugleich erkennt sie die Krise des Idealismus als die Erschöpfung von deren spekulativem Gehalt, also als eine Krise ihres Anspruches, „mit philosophischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen“58. Das bestimmt diese Erbschaft als kritisch-materialistisch. 3. So deutet die negative Dialektik den Imperativ einer rationalen Transformation der menschlichen Welt durch praktische Tätigkeit, zu dem die Marx’sche Kritik am Idealismus immanent führte, als „auf unabsehbare Zeit vertagt“59. Das macht es erforderlich, die Bedingungen des Abschiedes von philosophischer Spekulation und des „Überganges zur Praxis“ noch einmal kritisch zu erwägen. In Bezug auf den Materialismusbegriff lässt es sich wie folgt zusammenfassen: Während der Deutsche Idealismus den kumulativen Höhepunkt des westlichen Rationalismus bzw. der europäischen Aufklärung mit all ihren Widersprüchen und Zweideutigkeiten bilde (1), sei der Materialismus seit Marx „keine durch Entschluß zu beziehende Gegenposition mehr, sondern der Inbegriff der Kritik am Idealismus und an der Realität, für welche der Idealismus optiert, indem er sie verzerrt“60 (2). Es stehe aber noch grundsätzlich offen, wie ein derartiger Materialismus tatsächlich zu konzipieren sei, „da die traditionellen Antworten nicht nur der seit 1917 zur Staatsdoktrin erstarrten Marxschen Lehre, sondern auch der älteren Kritischen Theorie sich als problematisch erwiesen haben“, sodass „Adorno es als seine Aufgabe [betrachtet], den Übergang von Hegel zu Feuerbach und Marx zu reformulieren“ 61 (3). Indem sie, hauptsächlich ausgehend von der Identitätsproblematik in der Philosophie der Neuzeit, auf diesen Denkweg noch einmal reflektiert, unternimmt die negative Dialektik den Versuch, den noch gründlich zu durchdenkenden kritischen Materialismus endlich zum Begriff zu bringen, der seinerseits als Inbegriff der Idealismuskritik und folglich des kritischen Denkens überhaupt gilt. Der kritische Materialismus ist also nicht identisch mit dieser Selbstreflexion: Er ist vielmehr deren philosophisches Produkt – das, was aus ihr philosophisch entsteht. So seien Idealismus und Materialismus seit Marx keine äquivalenten, einander wesentlich gleichgültigen Gegenpositionen, die einem dogmatisch-weltanschaulich zur Verfügung stünden und ganz nach den moralischen oder ästhetischen Neigungen und Präferenzen des jeweiligen Individuums auszuwählen seien. Eine solch geistlose Gegenüberstellung, wie 58 59 60 61 48 GS6, S. 16. GS6, S. 15. GS6, S. 197. Schmidt (2002), S. 90. sie sich etwa in gewissen marxistischen Historiographien findet, gehört laut Adorno zum Vorphilosophischen62. Der noch gründlich zu durchdenkende kritische Materialismus sei vielmehr dem Idealismus wesentlich überlegen und qualitativ verschiedenartig, weil er aus diesem durch ein kritisch-immanentes Verfahren entsteht und an sich die nun entmystifizierte Summe von dessen rationalem, grundsätzlich negativem Gehalt zu enthalten beansprucht. Die Denktradition der Kritischen Theorie hat sich seit Marx an der Gestaltung eines solchen Materialismus gründlich abgearbeitet, ihn aber noch nicht zum Begriff gebracht, wie erstens die Erstarrung des dialektischen Materialismus Marx’scher Prägung zum Status einer Staatsreligion und zweitens das Scheitern des interdisziplinären Materialismus Horkheimers zeigten. Es liege also auch an mangelhafter theoretischer Selbstreflexion, so die negativ-dialektische Argumentation schließlich, dass die materialistische Theorie derart verwendet und herabgesetzt werden konnte, und es sei an der Zeit, sie erneut – anhand dieses nun gewonnenen Selbstverständnisses – zu durchdenken. Dass es dem Materialismus an Selbstreflexion mangelt, bedeutet dies grundsätzlich, dass er bisher das Reflexionsniveau des Idealismus noch nicht gänzlich überschritten hat. Entweder bleibt er im Dogmatismus gefangen, solange er voridealistisch die Folgen der Miteinbeziehung des erkennenden Subjekts in den Erkenntnisprozess nicht voll berücksichtigt, oder er verharrt auf dem Reflexionsniveau des Idealismus, indem er systematisch verfasst wird. Der kritische Materialismus muss folglich eine radikale Idealismuskritik erst noch durchführen: Wohl sind äußere Gestalten des Idealismus in der Moderne bereits einer Kritik unterzogen worden, die Durchführung einer radikalen Identitätskritik aber, die das Wesen des Idealismus trifft, ist noch zu leisten. „Ehe das gelingt, wird der Idealismus beliebig auferstehen“63, wie er tatsächlich und wider Willen, so die negative Dialektik, in Gestalt der wohl erfolgreichsten philosophischen Schulen der kontinentaleuropäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts auferstanden ist: der Husserl’schen Phänomenologie und des Bergsonismus, „Träger philosophischer Moderne“ 64 . „Beide Ausbruchsversuche gelangten nicht aus dem Idealismus heraus: Bergson orientierte sich, wie seine positivistischen Erzfeinde, an den données immédiates de la conscience, Husserl ähnlich an den Phänomenen des Bewußtseinsstroms. Dieser wie jener verharrt im Umkreis subjektiver Immanenz“65. Auch Denkmodelle, die im Geiste von Karl Marx konzipiert wurden, sind diesem Schicksal nicht entgangen: Erwähnt sei das wirkungsmächtige Werk Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács, das das Prole62 63 64 65 PT, S. 19ff. GS6, S. 33. GS6, S. 20. GS6, S. 21. 49 tariat als identisches Subjekt-Objekt der Geschichte postuliert und dem so eine offensichtlich idealistische Denkstruktur zugrunde liegt. Bekanntlich hat Lukács selbst sein Werk später als idealistisch abgelehnt66. Dies zeigt, wie auch in der Denktradition des Marxismus der Idealismus auferstanden ist und der kritische Materialismus noch ein offener Begriff ist. 66 50 Lukács (1968). B. Negative Dialektik: Zur Rezeptionsgeschichte Der erste wirkungsmächtige Versuch einer systematischen Interpretation in der bisher ziemlich spärlichen Rezeptionsgeschichte der negativen Dialektik ist von Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns wenn nicht erstmals formuliert, so doch zumindest popularisiert worden. Habermas platziert das Werk nicht nur in der Denkentwicklung Adornos, sondern auch innerhalb der Denktradition der kritischen Theorie seit Marx im Allgemeinen. Die negative Dialektik sei als Denkmodell in einem engen Zusammenhang mit den Aporien zu lesen, die aus der Dialektik der Aufklärung stammen. Diese Aporien, die deshalb in der negativen Dialektik wieder auftauchen, würden aus einer total gewordenen Vernunft- und Gesellschaftskritik abgeleitet, die auf der Grundlage einer Zusammenführung von Identität und Instrumentalität, Subjektivität und Macht operiert. Als total könne sie ihre normative Grundlage nicht mehr rational ausweisen, denn mit einer totalisierenden Kritik, so der Gedankengang, fielen die kritisierende und die kritisierte Instanz letztendlich zusammen. Totalisierend sei die Kritik als einzig mögliche Durchführung des Grundgedankens kritischer Theorie unter Bedingungen des Spätkapitalismus geworden, in dem die Möglichkeiten einer praktischen Umwälzung der Gesellschaft tendenziell blockiert erschienen. Als Versuch schließlich, eine Selbstreflexion dieser Aporien zu leisten, die aber ihren kategorialen Rahmen mit sich bringe, sei die negative Dialektik in diesem Sinne nichts weiter als eine Übung – ein Exertitium – bestimmter Negation, die aber zwecklos und aporetisch – weil totalisierend – geworden sei. Die Erkenntniskompetenzen der Philosophie innerhalb einer total gewordenen Vernunftkritik würden in diesem Sinne an die Ästhetik hoffnungslos weitergegeben. Habermas formuliert seine einflussreiche Kritik wie folgt: Auf diese tastenden Versuche, dem Schatten des identifizierenden Denkens, der Reifikation zu entkommen, greift Adorno später, als er sich der Dialektik der Aufklärung zu entringen versucht, zurück, um sie zu radikalisieren. Die ‚Negative Dialektik‘ ist nurmehr als ein Exerzitium, eine Übung, zu verstehen. Indem sie dialektisches Denken noch einmal reflektiert, führt sie vor, was man nur so zu Gesicht bekommt: die Aporetik des Begriffs des Nicht-Identischen. Es verhält sich keineswegs so, daß die ‚Ästhetik einen Schritt weiter von dem Wahrheitsgehalt ihrer Gegenstände entfernt (ist) als die Negative Dialektik, die es immer schon mit Begriffen zu tun hat‘. Vielmehr kann Kritik, weil sie es mit Begriffen zu tun hat, lediglich demonstrieren, warum die Wahrheit, die sich der Theorie entzieht, in den avanciertesten Werken der modernen Kunst einen Unterschlupf findet, aus dem sie freilich ohne ‚Ästhetische Theorie‘ auch wiederum nicht hervorzulocken wäre. (…) Absichtlich 51 regrediert das philosophische Denken, im Schatten einer Philosophie, die sich überlebt hat, zur Gebärde.67 Wesentlich für diese Habermas’sche Lesart ist die Auffassung, dass die Kritische Theorie zu diesen Aporien nicht aufgrund irgendwelcher, einfach zu berichtigender Kontingenzen gelangt ist, sondern infolge einer generalisierten Erschöpfung des gesamten Denkparadigmas der Bewusstseinsphilosophie, die sie noch weiterzubetreiben versuchte. Habermas deutet den so konzipierten aporetischen Denkweg der „frühen“ Kritischen Theorie als Symptom des tiefer liegenden Problems der Ausweisbarkeit normativer Grundlagen der Vernunft in der Spätmoderne, das, wie er im späteren Werk Der philosophische Diskurs der Moderne darlegt, seit Nietzsche zu Tage getreten sei und den Eintritt in die sogenannte „Postmoderne“ philosophisch motiviert habe 68 . Diese Symptome begründen nun die Notwendigkeit eines grundlegenden philosophischen Paradigmenwechsels von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie, die eine gründliche Rehabilitierung kritischen Denkens angesichts seiner Aporien ermöglichen soll: Demgegenüber möchte ich darauf beharren, daß das Programm der frühen Kritischen Theorie nicht an diesem oder jenem Zufall, sondern an der Erschöpfung des Paradigmas zur Bewusstseinsphilosophie gescheitert ist. Ich werde zeigen, daß ein Paradigmenwechsel zur Kommunikationstheorie die Rückkehr zu einem Unternehmen gestattet, das seinerzeit mit der Kritik der instrumentellen Vernunft abgebrochen ist; dieser erlaubt ein Wiederaufnehmen der liegengebliebenen Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie.69 Diese Auffassung ist prägend für die Weiterentwicklung der Kritischen Theorie gewesen, die nunmehr – zumindest „offiziell“ und mit Umwegen – diesem Denkweg hauptsächlich folgte. Axel Honneth beispielsweise, der wohl wichtigste Vertreter der nachhabermasschen Generation der Kritischen Theorie, setzt sich in seinem Werk Kritik der Macht sowohl mit der kommunikationstheoretischen Wende bei Habermas als auch mit Foucaults Machtanalyse auseinander, um beide in seine anerkennungstheoretische Rekonstruktion der Kritischen Theorie zu integrieren. Von der Diagnose eines soziologischen Defizits der „klassischen“ Kritischen Theorie der Gesellschaft ausgehend, deutet Honneth die agonistische Grundstruktur der Analytik der Machtbeziehungen Foucaults als ein in eine reflektierte kritische Gesellschaftstheorie notwendig aufzunehmendes Paradigma des Sozialen, das von dem Habermas’schen Begriff der Verständi- 67 68 69 52 Habermas (1981), S. 515f. Habermas (1988), S. 104ff. Habermas (1981), S. 517f. gung als zweites Paradigma kritisch komplementiert werden soll 70 . Die Auseinandersetzung und kritische Reflexion der beiden konkurrierenden Ansätze sollen also den Grundstein für eine umfassende, an den jungen Hegel anknüpfende Theorie des Kampfes um Anerkennung71 aus heutiger Sicht liefern. Auch wenn Honneth dabei die Aporien der Dialektik der Aufklärung selbst noch einmal reflektiert, geht er doch grundsätzlich von der Habermas’schen Diagnose aus. Die Notwendigkeit, das erschöpfte Denkparadigma der Bewusstseinsphilosophie durch das der Kommunikationstheorie zu ersetzen, hat auch für das Materialismusproblem erhebliche Folgen. Denn dem Materialismus liegt hauptsächlich – zumindest im Ansatz – die duale Denkstruktur zugrunde, die Denken als identitätsstiftend und verobjektivierend, Sein hingegen als dem Denken polar entgegengesetzt konzipiert. Ohne diese zumindest anfängliche Polarität verliert der Materialismus einen Großteil seines kritischen Potentials, wie sich im Laufe dieser Arbeit noch klarer herausstellen wird. Aus der Sicht von Habermas bildet der kritische Materialismus, dem die negative Dialektik Konsistenz verleihen möchte, so keine Antwort auf die Krise des Idealismus, die auf der Höhe der jetzigen Zeit stünde; dies könne nur die Wende zur Kommunikationstheorie leisten, die eben diese duale, verobjektivierende Denkstruktur zugunsten einer Logik der Interaktion verlässt. Es ist daher kein Zufall, dass die Materialismusproblematik, die in der neuzeitlichen Philosophie zumindest seit der europäischen Aufklärung von großer Wichtigkeit war, in den Weiterentwicklungen der Kritischen Theorie nach Adorno zwar nicht gerade verschwand, aber doch seine Zentralität verlor. Hier lässt die Hypothese Adornos anführen, der zufolge die Probleme eines gewissen kategorialen Rahmens dann, wenn er verlassen wird, nicht zwangsläufig gelöst, sondern eher nur beiseitegelassen werden.72 70 71 72 „Aus einer kritischen Analyse der Schwierigkeiten, in die diese beiden Ansätze [diejenigen von Habermas und Foucault – D. P] auf unterschiedlichem Reflexionsniveau jeweils führen, sollen sich implizit die Richtlinien ergeben, denen eine ‚Kritik der Macht‘ heute zu folgen hätte. Insofern vollzieht der, der die Denkbewegung von Adorno über Foucault zu Habermas führt, die Stufen einer Reflexion nach, in der sich die kategorialen Prämissen einer kritischen Gesellschaftstheorie schrittweise klären“. Honneth (1986), S. 8. „Wer die gesellschaftstheoretischen Errungenschaften der historischen Schriften Michel Foucaults in einem kommunikationstheoretischen Rahmen zu integrieren versucht, ist auf einen Begriff des moralisch motivierten Kampfes angewiesen, für den die Jenaer Schriften Hegels mit ihrer Idee eines übergreifenden ‚Kampfes um Anerkennung‘ noch immer das größte Anregungspotential liefern“. Honneth (1992), S. 7. GS6, S. 71. 53 Eine zweite systematische Lesart hat sich größtenteils als kritische Antwort auf die erste entwickelt. Zwar erkennt sie im Geiste der Kritik Habermas’ die Aporien einer totalisierenden kritischen Gesellschaftstheorie. Doch sie reduziert die negative Dialektik nicht darauf, sondern unternimmt den Versuch, sie als Denkmodell unter Berücksichtigung der Kritik von Habermas zu rehabilitieren. Dafür zergliedert sie die negative Dialektik in zwei Gedankenströme, die sich zwar gegenseitig bedingen, aber doch ihre Autonomie wahren: die kritische Selbstreflexion des Subjekts und die Gesellschaftstheorie. Ihrem vollen Begriff nach erhebe die negative Dialektik den Anspruch, beide Gedankenströme zu integrieren, sofern ein Isomorphieverhältnis zwischen ihnen anhand der Identitätskategorie hergestellt werden könne. Zwar bestreitet die zweite Lesart – mit Habermas – die Effektivität dieses Isomorphieverhältnisses, die Validität aber der Selbstreflexion des Subjekts, die die negative Dialektik reflektiert und radikalisiert, bleibt bestehen und kann ein weiterführendes philosophisches Potential entfalten. Denn für sich genommen sei die kritische Selbstreflexion des Subjekts grundsätzlich autonom im Rahmen der negativen Dialektik und weise auf ein mögliches Modell von Rationalität unter nachidealistischen Bedingungen hin, das es noch zu entwickeln gelte. Gerade das ist die argumentative Strategie der zweiten Lesart, die die negative Dialektik als Konstruktion des Rationalen deutet: Sie bestreitet die reibungslose Isomorphie zwischen Tauschprinzip und Identitätsprinzip – die sie in der Denkfigur der Ontologie des falschen Zustandes zusammengefasst sieht und die dem vollen Begriff der negativen Dialektik entspricht –, und rettet modifizierend die negativ-dialektische Logik der kritischen Selbstreflexion des Subjekts als Konstruktion eines Modells von Rationalität, das breiter ist als jenes, welches das theoretische Gefüge des Idealismus bereitstellte. Die Idee der negativen Dialektik als Konstruktion des Rationalen wurde zuerst von Herbert Schnädelbach in der Adorno-Konferenz 1983 entwickelt; seine Schülerin Anke Thyen hat sie dann ausgearbeitet. So formuliert sie Schnädelbach: Negative Dialektik als ‚Ontologie des falschen Zustandes‘ ist ein Konzept, das man nicht retten kann. Es beruht auf einer ontologischen Interpretation von nur scheinbar widersprüchlichen Aussagenstrukturen inhaltlicher Rede, die dadurch zustande kommt, daß Adorno sie in ein ganz unmittelbares Abbildungs- oder zumindest Isomorphieverhältnis zur Realität setzt (…). Adorno gelangt zu dieser Überzeugung, weil er Idealismuskritik und Gesellschaftstheorie philosophisch mit einander identifizierte; Hegels absolute Idee, die ihm als das Paradigma von ‚Identität‘ überhaupt erschien, 54 und die gesellschaftliche Totalität waren für ihn zwei Gestalten desselben Ganzen, das das Unwahre ist.73 So sei zwar der kategoriale Rahmen einer „Ontologie des falschen Zustandes“, der Inbegriff der Dialektik der Aufklärung, in der negativen Dialektik präsent; er sei aber vom Anliegen der negativen Dialektik, eine „Konstruktion des Rationalen“ unter nachidealistischen Bedingungen zu leisten, grundsätzlich trennbar. So gesehen verfüge die negative Dialektik über ein breiteres Reflexionsniveau als die Dialektik der Aufklärung, und sie falle nicht zwangsläufig unter deren Aporien, die sich auf die theoretische Figur einer Ontologie des falschen Bestehenden konzentrieren. Im Gegenteil: Als eine „Konstruktion des Rationalen“ unter Bedingungen der Spätmoderne sei die negative Dialektik, so die zweite Lesart weiter, als „normativ gehaltvolle Logik des philosophischen Diskurses“74 überhaupt zu deuten; sie vollziehe somit die Reflexion der Aporien der Dialektik der Aufklärung implizit und sei diesen immanent überlegen. Zwar erkennt diese Lesart die Wichtigkeit der kommunikationstheoretischen Wende an, unterscheidet aber zugleich von der kommunikativen eine mit dieser größtenteils unvereinbare dialektische Rationalität, die einen anderen Geltungsbereich habe und nicht reibungslos mit dem bewusstseinsphilosophischen Denkparadigma zu identifizieren sei. So sei die Wendung zur Kommunikationstheorie innerhalb der Denktradition der kritischen Gesellschaftstheorie tatsächlich begründet durchgeführt worden, mit dem Paradigmenwechsel seien aber wichtige Theoriepotentiale für eine kritische Theorie als Philosophie der Moderne verloren gegangen, die die negative Dialektik bereitstellt und die es kritisch wiederaufzugreifen gilt. Mit Blick auf ihr konkretes theoretisches Gefüge ließen sich diese beiden verschiedenen Lesarten so rekonstruieren, dass die erste mit einer Reduktion von Identität auf Instrumentalität operiert, während die zweite Identität und Instrumentalität qualitativ zu unterscheiden sucht. Die erste vertritt insofern eine Reduktionismusthese, die zweite eine Differenzierungsthese von Identität und Instrumentalität. Damit ist der zweiten Lesart zufolge die erkenntnistheoretisch angelegte Dialektik von Identität und Nichtidentität, die die negative Dialektik im Geiste eines negativen Hegelianismus entfaltet, von der geschichtsphilosophisch angelegten Dialektik von Mythos und Aufklärung, die der Dialektik der Aufklärung zugrunde liegt, wesentlich zu unterscheiden. Jene sei mit dieser keineswegs deckungsgleich, sondern vielmehr breiter angelegt und qualitativ verschiedenartig. So ergibt sich die Möglichkeit, Rationalität als diskursive, begriffsgeleitete Konstruktion innerhalb jener Dialektik von Identität und Nichtidentität zu fassen und von einer Rationalität des Nichtidentischen 73 74 Schnädelbach (1985). S. 89. Thyen (1989), S. 14. 55 bei Adorno zu sprechen, anstatt die negative Dialektik – wie die Dialektik der Aufklärung – als zwangsläufig aporetisch deuten zu müssen. Anstelle der zwangsläufigen und alles andere ausschließenden Wendung zur Kommunikationstheorie sind nun verschiedene Denkmodelle für eine kritische Gesellschaftstheorie unter den Bedingungen der Spätmoderne möglich. So schreibt Thyen am Schluss ihres Buches, das die zweite Lesart entfaltet: Nach dem Gesagten möchte ich in bezug auf die Perspektiven der kritischen Theorie vorschlagen, die Rationalität des Nichtidentischen (Adorno) und die Rationalität der Kommunikation (Habermas) – weitere Positionen sind denkbar – für zwei unterschiedliche Geltungs- bzw. Aufgabenbereiche kritischen Denkens in Anspruch zu nehmen. Und zwar so, daß die Erwartungen und die Forderungen an eine ‚Universaltheorie der Vernunft‘ unter Bedingungen der Moderne einerseits nicht zu hoch angesetzt werden, andererseits aber theoriefähig bleiben. Das Projekt der Moderne ist ein Theorieprojekt mit unterschiedlichen Aspekten – wie die Moderne selbst. Die Einheit der Theorie in einem Prinzip zu suchen, wäre dem inadäquat. Aspekte aber brauchen sich nicht notwendig auszuschließen. (…) Man braucht die Idee der Versöhnung nicht aufzugeben und kann trotzdem von Verständigung reden. Man kann bewußtseinsphilosophisch argumentieren, ohne Intersubjektivität als leitendes Theoriemodell aufgeben zu müssen. Man kann über Sinn als bewußtseinsfähigen Sinn sprechen und ihn doch idealtypisierend objektivieren. Man kann die klassische Vorstellung einer Subjekt-Objekt-Beziehung in Begriffen der Subjekt-Objekt-Dialektik kritisieren, ohne sich methodologisch zu diskreditieren. – Und man braucht dazu kein ‚prima paradigma‘.75 Diese Lesart weist manche Vorteile gegenüber der ersten auf. Sie fasst die negative Dialektik insofern differenzierter auf, als sie sie nicht auf die Denkfigur einer Ontologie des falschen Zustandes reduziert und die negativ-dialektische Identitätskritik als nicht deckungsgleich mit der Kritik der instrumentellen Vernunft ansieht, sondern einen qualitativen Unterschied zwischen beiden erkennt. So gewinnt die negativ-dialektische Logik der Selbstreflexion eine gewisse Autonomie gegenüber der Konstruktion einer Ontologie des falschen Bestehenden. Das macht sie auch für philosophische Themenbereiche relevant, die diese Ontologie transzendieren – was unter anderem beim Materialimusproblems der Fall ist. Darüber hinaus hinterfragt sie die eigentliche Grundlage der Ontologie des falschen Zustandes – nämlich das Isomorphieverhältnis zwischen Identität und Tausch – und stellt deren Unzulänglichkeiten fest, die von der ersten Lesart nicht weiter beachtet werden. All dies erlaubt es der zweiten Lesart, eine differenziertere, weil pluralistischere Konzeption von kritischer Theorie zu entwickeln, die das Zusammenbestehen von verschiede75 56 Thyen (1989), S. 280. nen Denkparadigmen und Denkmodellen je nach Themen- und Aufgabenbereichen zulässt. Auf der anderen Seite ist die Dekonstruktion der Denkfigur einer Ontologie des falschen Bestehenden, die die zweite Lesart durchführt, mit dafür verantwortlich, dass die negative Dialektik zwar rehabilitiert, aber nicht mehr in ihrem vollen Begriff erfasst werden kann. Als Konstruktion von Rationalität unter Bedingungen der Spätmoderne bemüht sie sich um die Entwicklung einer material gefassten Rationalitätskonzeption, die den oft kritisierten Formalismus anderer Modelle der Kritischen Theorie wie der Kommunikationstheorie zwar komplementiert, sich aber auf gewisse Themenbereiche beschränken soll. Denn als Konstruktion von Rationalität bzw. als „normativ gehaltvolle Logik des philosophischen Diskurses“ ähnelt die negative Dialektik grundsätzlich einem kritischen sprachphilosophischen Verfahren, das von einer wie auch immer verfassten Texteinheit ausgeht und deren Begrifflichkeit mit dem zu konfrontieren sucht, was man eine „vollere“ Erfahrung des Objekts nennen könnte. Der sozialphilosophische Ruf kritischer Theorie einschließlich ihrer praktischen Tendenz erhält hier aber eine mittelbare, sogar sekundäre Rolle. Beide Lesarten stimmen jedoch grundsätzlich darin überein, dass die Zusammenführung von Identität und Instrumentalität, die ihrerseits die Konstitution einer total gewordenen Vernunft- und Gesellschaftskritik in Gestalt der negativen Dialektik ermöglicht, nicht konsistent bzw. erst zum Preis von unüberwindbaren Aporien durchgeführt werden kann. Auch die vorliegende Arbeit geht von dieser Diagnose aus; sie rekonstruiert die kritische Selbstreflexion des Subjekts anhand der Identitätsproblematik und reflektiert auf die Möglichkeiten, sie kritisch-materialistisch umzudeuten. Zwar wird auch das gesellschaftskritische Denken für bestimmte argumentative Übergänge von Relevanz sein und entsprechend thematisiert werden76. Doch im Grunde gehe ich im Folgenden von den Resultaten der zweiten Lesart aus, die die negative Dialektik als eine Konstruktion des Rationalen expliziert. 76 § 8 B. 57 § 4. Subjektalismus, Korrelationismus und Materialismus heute Wir sahen, dass sich der Materialismus seit Ende der idealistischen Epoche vor allem im deutschsprachigen Raum als zentraler Streitbegriff behaupten konnte, der viele disparate Motivationen diffus zusammenbringt und so das Gesicht des nachidealistischen Zeitalters tief prägt. Er steht seitdem gewissermaßen im Zentrum ganz unterschiedlicher Debatten, die nicht immer eine klare programmatische und konzeptionelle Einheit aufweisen, doch zumindest einen gemeinsamen Gegner haben – den oft ebenso diffus wie polemisch aufgefassten „Idealismus“. Angesichts der letzten Entwicklungen der sogenannten „kontinentaleuropäischen Philosophie“ ließe sich nun die Hypothese aufstellen, dass die Ausbildung einer vergleichbaren Tendenz auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu konstatieren sei. Von object-oriented ontologies und ontological turns über naturalistisch angelegte Interpretationen der klassischen deutschen Philosophie und der Phänomenologie bis hin zu neuen Realismen und dem spekulativen Materialismus scheint das Panorama der zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Philosophie durch Tendenzen gekennzeichnet zu sein, die der Materialismusbegriff exemplarisch verkörpert77. Trotz manchmal eklatanter Diskrepanzen zwischen den theoretischen Beiträgen, die an dieser Tendenz direkt oder indirekt beteiligt sind, hat man sie immer wieder unter den gemeinsamen Begriff eines erneuten Materialismus und Realismus zu bringen versucht. Dabei nehmen sie selbstbewusst Bezug auf ganz unterschiedliche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unternommene Versuche, den Materialismus unter nachidealistischen Bedingungen neu zu fassen, und reflektieren auf deren Grenzen. Entsprechend ist auch Adornos negative Dialektik Gegenstand der Auseinandersetzung geworden78. Unter diesen Beiträgen sind die sogenannten spekulativen Materialismen und Realismen rasch in den Mittelpunkt gerückt. Es handelt sich um Autoren verschiedener Provenienz und unterschiedlicher Traditionen – zu nennen wären hier etwa Ray Brassiers radikaler Nihilismus, Graham Harmans object-oriented ontology, Ian H. Grants spekulativer Naturalismus und Quentin Meillassoux spekulativer Materialismus –, die sich zunächst 2007 in London, dann 2009 in Bristol versammelt haben, um die Richtlinien eines zeitgenössischen Materialismus und Realismus zu the- 77 78 58 Unter den Arbeiten, die diese noch laufende Wende dokumentieren, sind die folgenden zu nennen:Bryant/Srnicek/Harman (2011); Harman (2011); Johnston (2012); Gabriel (2014). Vgl. Brassier (2007), S. 32ff.; Morgan (2017). matisieren79. Dabei dürfte ohne Zweifel das Werk Après la finitude von Meillassoux als das wirkungsmächtigste anzusehen sein, das wiederholt – und bereits sehr früh – im Rahmen der zeitgenössischen Philosophie als epochemachend bezeichnet worden ist. Es versucht die Grundlinien und die allgemeine Problemlage zu skizzieren, um den Rahmen abzustecken, in dem sich der heutige Materialismus zu bewegen hat. Auch wenn die anderen Autoren und Beiträge, die dieser neumaterialistischen Tendenz zuzuschreiben sind, der Konzeption und der diagnostizierten Problematik von Après la finitude nicht unmittelbar zustimmen, hat das Werk einen so tiefgreifenden Einfluss ausgeübt, dass die Auseinandersetzung mit ihm unabdingbar geworden ist. Im Folgenden rekonstruiere ich seine Position in Bezug auf die Materialismusfrage. Die gewaltige philosophische Geste von Après la finitude besteht hauptsächlich darin, dass es die Frage nach den Denkfähigkeiten zur Erfassung eines Absoluten – bekanntlich das Hauptthema der klassischen deutschen Philosophie – in aller Radikalität wieder ins Zentrum der philosophischen Reflexion stellt. Meillassoux deutet die Miteinbeziehung des Subjekts in den Erkenntnisprozess – die ihm zufolge zwar von Berkeley begonnen, aber erst mit der kopernikanischen Wende Kants stringent durchgeführt worden sei – als progressive Entabsolutierung der Denkfähigkeiten. So sei Denken zu einem denk- bzw. subjektunabhängigen Absoluten grundsätzlich nicht mehr fähig, sondern lediglich zu einer denk- bzw. subjektkorrelativen Realität. Berkeley und – konsequenter – Kant hätten demgemäß den Korrelationismus oder das Zeitalter der Korrelation als philosophische Grundposition etabliert, der bis heute vorherrschend sei. Da der Korrelationismus das Denken letztlich entabsolutiere, unterminiere er tendenziell die Grundlagen aller klassischen Materialismen, die das Denken traditionsgemäß als etwas ansähen, das zu einem subjekt-unabhängigen Absoluten – der Materie – grundsätzlich fähig war. Mit anderen Worten: Der Korrelationismus, der in vielen Hinsichten mit einer dem Kritizismus und der Transzendentalphilosophie verpflichteten Denkweise zusammenfällt, ist eine philosophische Grundposition der unhintergehbaren Relationalität von Denken und Sein. Dieser philosophischen Grundposition zufolge seien beide lediglich in ihrem gegenseitigem Verhältnis zueinander erkennbar, erreichbar oder gar thematisierbar – gleichgültig letztlich, wie die Termini konkret konzipiert werden. Meillassoux schreibt: Ainsi, on pourrait dire que jusqu’à Kant un des principaux problèmes de la philosophie consistait à penser la substance, tandis qu’à partir de Kant il s’est bien plutôt s’agit de penser la corrélation. 79 Die Beiträge wurden in der Zeitschrift Collapse veröffentlicht. 2010 wurde die Zeitschrift Speculations für die weitere Entwicklung der so entstehenden Denkbewegung gegründet. 59 Avant le transcendantal, l’une des questions qui pouvait départager de façon décisive les philosophes rivaux était: quel est celui qui pense la véritable substance: est-ce le philosophe qui pense l’Idée, l’individu, l’atome, Dieu – quel Dieu? Après Kant, et depuis Kant, départager deux philosophes rivaux ne revient plus tant à se demander lequel pense la véritable substantialité, qu’à se demander lequel pense la corrélation la plus originaire. Est-ce le penseur de la corrélation sujet-objet, du corrélat noético-noématique, de la corrélation langage-référence? La question n’est plus: quel est le juste substrat?, mais: quel est le juste corrélat?80 Wie die Idealismen sind auch nicht alle Korrelationismen gleich. In Après la finitude schlägt Meillassoux vor, zwischen einem schwachen und einem starken Korrelationismus zu unterscheiden. Zwar schränken beide die Fähigkeit des Denkens ein, ein denkunabhängiges Absolutes zu erreichen; sie unterscheiden sich aber zunächst hinsichtlich der Notwendigkeit und der widerspruchsfreien Denkbarkeit eines derartigen Absoluten. Während der schwache Korrelationismus – für den die kantische Philosophie paradigmatisch ist – ein subjektunabhängiges Absolutes für grundsätzlich unerkennbar, doch zumindest für widerspruchsfrei denkbar und auch für transzendentalphilosophisch notwendig hält, hält der starke Korrelationismus diese Unterstellung letztlich für sinnlos. Für ihn stellt die wie auch immer verstandene Korrelation zwischen Sein und Denken die unhintergehbare Realität dar. Der absolute Idealismus ist nun in vieler Hinsicht eine Variante des starken Korrelationismus, der zwar die Fähigkeiten des Denkens abspricht, ein denkunabhängiges Absolutes zu erreichen, doch die Subjekt-Objekt-Korrelation selbst nicht nur für unhintergehbar, sondern zudem für absolut erklärt. So fällt für ihn das Absolute mit der Korrelation von Sein und Denken zusammen. Entsprechend sieht sich Meillassoux mit der traditionellen Lesart der Entwicklungslogik des nachkantischen Idealismus darin einig, dass der schwache Korrelationismus, der die widerspruchsfreie Denkbarkeit eines denkunabhängigen Absoluten anerkennt, konsistent und zwangsläufig zu dem starken Korrelationismus führen muss, der diese Möglichkeit bestreitet. So werde das korrelationistische Prinzip aufgrund seiner eigenen Konsequenz zum starken Korrelationismus getrieben, der die bruchlose Sein-Denken-Korrelation als letztliche und unüberwindbare Realität anerkennt. Doch es gibt noch radikalere Varianten des starken Korrelationismus hinsichtlich der Entabsolutierung, die sie vollziehen. Sie halten sogar die (idealistische, oder wie Meillassoux es später nennen wird: subjektalistische 81 ) Behauptung der Absolutheit der Sein-Denken-Korrelation für unbegründet und unmöglich, wenngleich sie auf der Unhintergehbarkeit 80 81 60 AF, S. 20. Diese neue Terminologie hat Meillassoux später eingeführt. Vgl. Meillassoux (2012). der Korrelation bestehen. Damit behaupten sie, dass die aktuelle SeinDenken-Korrelation ein unerklärbares, unbegründbares und somit kontingentes Faktum darstellt. Das ist für Meillassoux paradigmatisch bei dem frühen Wittgenstein und dem späten Heidegger der Fall. Gewiss stellt der Korrelationismus in all seinen Varianten einen philosophischen Gewinn gegenüber dem vorkorrelationistischen Denken dar: Darin stimmt Meillassoux mit dem Kritizismus überein. Denn tatsächlich ist das vorkorrelationistische Denken in seiner eigenen Konsequenz zu der verhängnisvollen Alternative Dogmatismus oder Skeptizismus gelangen, wie Kant bekanntlich diagnostizierte. Es stellt sich aber laut Meillassoux die Frage, ob die kantische Lösung – nämlich: „der kritische Weg ist allein noch offen“82 – der zwangsläufig einzige Weg sei, um dieser Alternative zu entkommen. Denn während der Korrelationismus von den meisten Denkern praktisch für die einzige Möglichkeit des nachkantischen Philosophierens gehalten wird, der entsprechend das philosophische Panorama des 19. und 20. Jahrhunderts beherrscht hat und auch – wie gesagt – einen nicht zu übersehenden philosophischen Gewinn gegenüber dem vorkorrelationistischen Denken darstellt, werden seine Grenzen im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte immer sichtbarer. Um diese Grenzen zur Sprache zu bringen und zusammenzufassen, bezieht sich Meillassoux auf das Problem der Anzestralität. Dieses Problem wird angesichts bestimmter Aussagen aufgeworfen, die die modernen Naturwissenschaften heutzutage mit großer Zuverlässigkeit aufstellen können und die Zustände betreffen, die vor der Emergenz des Lebens, der menschlichen Gattung und folglich des Bewusstseins stattgefunden haben. Bei diesen anzestralen, naturwissenschaftlich verifizierbaren Aussagen handelt es sich paradigmatisch um quantitativ formulierte Behauptungen über den Ursprung des Weltalls, die Formierung der Erde, den Ursprung des Lebens, der menschlichen Gattung (homo habilis) und dergleichen. So sind die modernen Naturwissenschaften heute in der Lage, mit großer Zuverlässigkeit realistisch angelegte Aussagen zu produzieren, die beispielsweise lauten: Die Erde entstand vor etwa 4,6 Milliarden Jahren. Nun stellt Meillassoux angesichts derartiger anzestraler Aussagen die Frage: „quelle interprétation le corrélationisme est susceptible de donner aux ennoncés ancestraux?“83. Gewiss ist sich der Philosoph dessen bewusst, dass sich der Korrelationismus nicht um eine Infragestellung, sondern vielmehr um eine transzendentalphilosophische Begründung der modernen mathematischen Naturwissenschaften bemüht. Ein Korrelationist könnte folglich solchen Aussagen inhaltlich zustimmen, ohne die Validität der Vernunftkritik in Frage zu stellen – denn die Vernunftkritik untersucht gerade die Möglichkeitsbedingungen jener Aussagen. Die Frage bleibt dennoch in 82 83 KrV, B 2888. AF, S. 26. 61 folgendem Sinne bestehen: Könnte der Korrelationismus eine buchstäbliche, derart realistisch angelegte Interpretation dieser Sätze konsistent formulieren oder müsste er ihnen einen gewissen „transzendentalphilosophischen Zusatz“ hinzufügen? Meillassoux schreibt dazu: Soit l’énoncé ancestral suivant : ‚L’événement x s’est produit tant d’années avant l’émergence de l’homme‘. Le philosophe corrélationiste n’interviendra en rien sur le contenu de l’énoncé : il ne contestera pas que c’est bien l’événement x qui s’est produit, ni contestera la date de cet événement. Non : il se contentera d’ajouter – mentalement peut-être, mais il l’ajoutera – quelque chose comme un simple codicille, toujours le même, discrètement placé au bout de phrase. A savoir : l’événement x s’est produit tant d’années avant l’émergence de l’homme – pour l’homme (et même pour l’homme de science). Ce codicille, c’est le codicille de la modernité : le codicille par lequel le philosophe moderne se garde (ou du moins le croit-il) d’intervenir en rien dans le contenu de la science, tout en préservant un régime du sens extérieur à celui de la science, et plus originaire que lui. Donc, le postulat du corrélationisme, face à un énoncé ancestral, c’est qu’il y a au moins deux niveau de sens dans un tel énoncé : le sens immédiat, réaliste ; et un sens plus originel, corrélationnel, amorcé par le codicille.84 Denn tatsächlich implizierte eine buchstäbliche und realistische Interpretation der anzestralen Aussagen der Naturwissenschaften nichts weniger als die Akzeptanz gewisser Konsequenzen, die den Kern der transzendentalphilosophischen Denkweise betreffen und dem Kritizismus sogar als Absurditäten erscheinen müssten. Es handelt sich beispielsweise um folgende Konsequenzen: - que l’être n’est pas coextensif à la manifestation puisqu’il s’est produit dans le passé des événements ne se manifestant pour personne; - que ce qui est a précédé dans le temps la manifestation de ce qui est; - que la manifestation est elle-même apparue, dans le temps et dans l’espace – et qu’à ce titre la manifestation n’est pas la donation d’un monde, mais plutôt elle-même un événement intramondain; - que cet événement, en plus, peut être daté; - que la pensée est donc en mesure et de penser l’émergence de la manifestation dans l’être, et de penser un être, un temps, antérieur à la manifestation; - que la matière-fossile est la donation présente d’un être antérieur à la donation, c’est-à-dire qu’un archifossile manifeste l’antériorité d’un étant sur la manifestation.85 84 85 62 AF, S. 30–31. AF, S. 31. Angesichts des Problems der Anzestralität sieht sich der Korrelationist also vor eine schwierige Alternative gestellt: Entweder fügt er den stark realistischen Aussagen der Naturwissenschaften den transzendentalphilosophischen (korrelationistischen) Zusatz hinzu, dem zufolge sie nicht buchstäblich, nicht realistisch, sondern lediglich vom Standpunkt des jetzt erkennenden Menschen aus zu interpretieren seien, was letztlich die eigentliche Substanz dieser Aussagen relativiert; oder er interpretiert sie in ihrer deutlich realistischen Dimension, was aber wiederum die Infragestellung der korrelationistischen Sichtweise impliziert. Daher kann Meillassoux so weit gehen zu behaupten, dass die Frage „à quelle condition un énoncé ancestral conserve-t-il un sens?“ – nämlich: buchstäblich oder transzendentalphilosophisch – eigentlich eine andere, tiefere Fragestellung beinhaltet, nämlich: „comment penser la capacité des sciences expérimentales à produire une connaissance de l’ancestral? Car c’est bien, par le biais de l’ancestralité, le discours de la science qui est ici en jeu, et plus spécialement ce qui caractérise un tel discours : sa forme mathématique“86. Anders gesagt, hebt die Frage nach der Anzestralität ein seitens des Korrelationismus und folglich aller der Transzendentalphilosophie verpflichteten Sichtweisen schwer fassbares Rätsel hervor, nämlich: „la capacité des mathématiques à discourir du Grand Dehours, à discourir d’un passé déserté par l’homme comme par la vie“87. Dieses Rätsel zeigt für Meillassoux unter anderem die Grenzen des Korrelationismus auf und zugleich die Notwendigkeit, nachkorrelationistische Denkmuster zu erschließen, die aber dem Reflexionsniveau des Korrelationismus (und folglich auch des vorkritischen Materialismus) überlegen sind. Gewiss bringt auch die Konstruktion des Problems der Anzestralität seine ganz eigenen Schwierigkeiten mit sich. Man hat oft darauf hingewiesen, dass die Figur der Anzestralität unter anderem Geltung und Genese vermenge und so den eigentlichen Charakter der Transzendentalphilosophie missverstehe. Zwar sucht Meillassoux auf diese Einwände zu reagieren und die Figur der Anzestralität konsistenter zu formulieren88. Er besteht aber immer wieder auf dem instrumentellen Charakter des Anzestralitätsproblems in seinem Denken: Es handle sich dabei bloß um eine philosophische Konstruktion, die die metaphysischen Probleme des Korrelationismus zusammenfassend zur Sprache bringen solle. Diese Probleme wurden ihrerseits im Laufe der Denktraditionen von denen gesammelt und bearbeitet, die Kant folgten und ihn zugleich kritisierten. 86 87 88 AF, S. 37. AF, S. 37. Vgl. Byant/Srnicek/Harman (2011), S. 84ff., 92ff. Meillassoux hat auf diese Kritik in der englischen Ausgabe von Après la finitude Bezug genommen. 63 Der spezifische Lösungsvorschlag Meillassoux’ besteht darin, das kantische Diktum „Der kritische Weg ist allein noch offen“ in Frage zu stellen und die Möglichkeit einer anderen Alternative als Skeptizismus, Dogmatismus oder Kritik zu entwickeln. Es handelt sich um den spekulativen Weg. Im Einklang mit der klassischen deutschen Philosophie soll „spekulativ“ hier so viel bedeuten wie die Erstellung eines Absoluten im Allgemeinen. Doch dieses Absolute im Allgemeinen soll – im Gegensatz zur metaphysischen Tradition – nicht ein absolut notwendiges Wesen und auch nicht ein korrelatives Absolutes sein: „[N]ommons spéculative toute pensée prétendant accéder à un absolu en général; nommons métaphysique toute pensée prétendant accéder à un étant absolu – ou encore prétendant accéder à l’absolu via le principe de raison. Si toute métaphysique est par définition spéculative, notre problème revient à établir qu’à l’inverse toute spéculation n’est pas métaphysique : que tout absolu n’est pas dogmatique“89. Die Radikalität des Meillassoux’schen Projekts wird tatsächlich erst dann ersichtlich, wenn man die Möglichkeit eines nicht metaphysischen Absoluten erfasst, das erstens vom Absoluten der Metaphysik grundverschieden und folglich nicht dogmatisch ist und das sich zweitens auch nicht mit dem Absoluten des nachkantischen Idealismus gleichsetzen lässt und folglich materialistisch – weil radikal denkunabhängig und nicht denkkorrelativ – sein muss. Zu der Möglichkeit dieses nicht metaphysischen und materialistischen Absoluten ist der starke Korrelationismus, so Meillassoux, eigentlich bereits vorgedrungen, ohne sich ihr aber wirklich bewusst zu werden: Es handelt sich um die Absolutheit der Kontingenz, die von dem starken Korrelationismus bereits als (absolutes doch unbewusstes, so Meillassoux) Prinzip zur Erfassung der eigenen Sein-DenkenKorrelation gesetzt wird: [N]ous devons montrer que le cercle corrélationel – et ce qui en constitue le nerf, à savoir la distinction de l’en-soi et du pour-nous – présuppose lui-même, pour être pensable, qu’on ait admis implicitement l’absoluité de la contingence. Il nous faut plus précisément démontrer que la facticité de la corrélation – sur laquelle repose l’argument du cercle pour disqualifier aussi bien l’idéalisme que le réalisme dogmatique – n’est pensable qu’à la condition d’admettre l’absoluité de la contingence du donné en général. Car si nous arrivons à montrer que ce pouvoir-être-autre de toute chose est l’absolu présupposé par le cercle lui-même, il sera avéré que la contingence ne peut pas être désabsolutisée sans que ce cercle s’autodétruise – ce qui est une façon de dire que la contingence se trouvera immunisée de l’opération de relativisation de l’en-soi au pour-nous, propre au corrélationisme.90 89 90 64 AF, S. 47. AF, S. 74f. Auf die einzelnen Schritte, mit denen Meillassoux eine strenge Demonstration der Absolutheit der Kontingenz durchzuführen gedenkt, braucht hier nicht näher eingegangen werden. Wichtiger ist es, sich abermals dem Begriff des Materialismus zuzuwenden, der sich aus dem hier vorgestellten kategorialen Rahmen ergibt. Denn allein schon der konsistente Anspruch darauf, ein nicht metaphysisches und zugleich spekulatives, ein nicht dogmatisches und zugleich materialistisches Denkprinzip zur Begründung eines erneuten Materialismus vorzuweisen, erlaubt es, die Geschichte und den Begriff des Materialismus differenzierter zu interpretieren. Zwar erkennt Meillassoux die oben vorgeschlagene Unterscheidung zwischen klassischem und kritischem Materialismus an: Auch er ordnet den klassischen Materialismus der Metaphysik grundsätzlich unter – sofern beide auf der Setzung eines absolut notwendigen Wesens basieren – und deutet den kritischen Materialismus als den Versuch, die Grundlinien des Materialismus unter der Vernunftkritik und folglich dem Korrelationismus zu aktualisieren. Doch zugleich erlaubt es die Denkfigur eines spekulativen Materialismus, alle Materialismen, die noch im Horizont der Vernunftkritik stehen, unter dem Standpunkt der radikalen Schwächung von deren Grundprinzipien und folglich als ein Problem zu betrachten. So kann er in diesem Zusammenhang zwar das radikal subjektunabhängige Wesen des klassischen Materialismus als Kriterium für jeglichen Materialismus wieder aufgreifen: Der Materialismus soll – mit Epikur – in der Lage sein zu behaupten, „et que la pensée n’est pas nécessaire (quelque chose peut être sans la pensée) et que la pensée peut penser ce qu’il doit y avoir lorsqu’il n’y a pas de pensée“91. Doch zugleich kann Meillassoux Anspruch darauf erheben, den dogmatischen Charakter des klassischen Materialismus aufgrund der Absolutheit der Kontingenz zu umgehen und so einen spekulativen Materialismus unter Bedingungen des nachmetaphysischen Denkens zu reformulieren. 91 AF, S. 50. 65 § 5. Fazit Die idealistische Identitätskrise der Philosophie, die vor allem in Deutschland infolge der radikalen Infragestellung der Hauptthesen des philosophischen Idealismus und mit diesem auch der westlichen Metaphysik einsetzt, steht im Zusammenhang einer tiefen gesellschaftlichen, politischen und akademischen Umwälzung. Der Materialismus als Streitbegriff erfährt dabei eine Art Wiedergeburt, wobei er verschiedenartige Interessen und Motivationen des nachidealistischen Zeitalters diffus zusammenbringt (§ 1). Mit dieser Wiedergeburt wird die Frage virulent, wie der Materialismus, ein grundsätzlich voridealistisches und der Metaphysik verpflichtetes Denkgebilde, unter nachidealistischen Bedingungen verfasst sein soll. Das wirft das Problem eines kritischen Materialismus auf, das sich aus der Frage nach seiner eventuellen Kompatibilität mit dem erkenntniskritischen Gewinn der idealistischen Philosophie ergibt (§ 2). Die kritische Gesellschaftstheorie, die unter den Bedingungen der Krise des Idealismus mit Marx anhebt, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Von Marx über Horkheimer bis zu Adornos negativer Dialektik lässt sie sich als Versuch interpretieren, den kritischen Materialismus endlich zum Begriff zu bringen. Die negative Dialektik tut dies auf der Grundlage einer kritischen Selbstreflexion des Subjekts, wie sie sich anhand der Identitätskategorie in der neuzeitlichen Philosophie rekonstruieren lässt (§ 3). Der Materialismus ist so bis heute Gegenstand von Auseinandersetzungen, die ihn hauptsächlich vom Standpunkt seiner spekulativen Dimension aus begreifen (§ 4). 66 Zweites Kapitel: Identität und Nichtidentität Das vorliegende Kapitel widmet sich dem zentralen Begriff der negativen Dialektik: dem Identitätsbegriff. Auf eine systematische Einführung in die Fragestellung des Kapitels (§ 6) folgt ein Überblick über die weit verzweigte, aber keineswegs unzusammenhängende Identitätsdebatte in der Philosophie der Neuzeit. Er beginnt zunächst mit Leibnizens bekanntem „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ und Humes Kritik an der Identitätskategorie und geht dann über zu Kants transzendentalphilosophischer Transformation der Identitätsfrage, um schließlich die Debatte auch im nachkantischen Idealismus zu thematisieren, als dessen Höhepunkt Schellings und Hegels Identitätsformel angesehen wird (§ 7). Damit sind im Grunde die Voraussetzungen erfüllt, um die negativdialektische Identitätsfrage behandeln zu können. Nachdem sie anhand der Denkfigur des Vorrangs des Objekts und ihrer gesellschaftstheoretischen Implikationen ausführlich präsentiert worden sind (§ 8), werden die verschiedenen Behandlungen der Antinomienlehre seit der Kritik der reinen Vernunft als Vergleichsmaßstab herangezogen, der eine Gegenüberstellung von Kant, Hegel und Adorno erlaubt (§ 9). Damit erhebt das Kapitel den Anspruch, die Grundoperation der negativen Dialektik an die Denktradition der Philosophie der Neuzeit – vor allem Kant und Hegel – anzuknüpfen und mittels des von dieser bereitgestellten Instrumentariums näher darzulegen. 69 § 6. Identität und Nichtidentität: systematische Einführung Bestimmte Aspekte des Identitätsproblems können zunächst aus alltäglichen Verwendungsweisen des Identitätsprädikats abgeleitet werden. Betrachten wir beispielsweise folgende sprachliche Konstruktionen aus dem Alltag: 1. „Robert und Kristin haben eine identische Schale.“ 2. „Der Spaziergänger fand am Tatort einen identischen Ring wie den, den Karl bei seinem Tod getragen hat.“ 3. „Beide Autos haben identische Leistungen aufgewiesen.“ 4. „Die Bücher sind identisch, es handelt sich bloß um eine digitale und eine analogische Auflage.“ Auch wenn derartige Konstruktionen im Alltag problemlos verwendet werden, ist der Sinn, der mit ihnen normalerweise gemeint ist, bei näherer Betrachtung erklärungsbedürftig. Bedeutet das Identischsein in Satz (1) nichts anderes als bloße Ähnlichkeit? Denn um eine numerische Identität kann es hier sicherlich nicht gehen, da es sich offensichtlich um zwei Objekte handelt; die Annahme, sie seien in all ihren physikalischen Eigenschaften miteinander tatsächlich identisch, erscheint sogar dem gesunden Menschenverstand schlicht widersinnig. Ist dieses Identischsein dann lediglich eine sprachliche Äquivokation? Das Identischsein in Satz (2) deutet hingegen auf eine numerische Identität hin: Es wird vermutet, dass der Spaziergänger den einen Ring gefunden hat, der Karl bei seinem Tod gehörte. Was bedeutet nun, dass ein Gegenstand identisch mit sich selbst ist? Ist hier der Erkenntnisgewinn nur den verschiedenen Kontexten zuzurechnen? Das Identischsein in Satz (3) scheint seinerseits einer Eigenschaft zu entsprechen, die beide numerisch unterschiedlichen Objekte besitzen. Kommt dann das Identischsein einer quantitativen Kommensurabilität gleich? Welche Identitätskriterien werden hier angewendet? Braucht Identität überhaupt Kriterien? Wie sind sie zu formulieren? Das Identischsein in Satz (4) schließlich dürfte Inhaltliches, gar Substantielles betreffen, das die Äußerlichkeiten, wie den materiellen Träger des Gegenstandes, gegenüber seinem Wesen irrelevant macht, das ja in beiden Fällen dasselbe bleibt. Aber kann das Wesentliche eines Gegenstandes von seiner materialen Erscheinungsform unabhängig sein? Das sind nur einige Fragestellungen, die aus der durchaus alltäglichen Verwendung des Identitätsprädikats erwachsen und zugleich philosophische Probleme aufwerfen. Diese vermehren sich noch, wenn eine andere wesentliche Dimension des Identitätsbegriffs betrachtet wird, die sich 71 auch in alltäglichen Zusammenhängen lokalisieren ließe. Gemeint ist die Identität einer Person im Gegensatz zu der eines Objekts. Hier sind Fragestellungen zur formalen Individuation relevant, etwa wenn man in moralischen Zusammenhängen untersucht, was eine Person von einem Ding unterscheidet und warum ihr als solcher eine Würde zukommen soll. Dabei sind ihre einzigartige Körperlichkeit und ihre geistigen Eigenschaften, ihr personales Selbstverständnis, ihre kontinuierlichen Erinnerungen durch die Zeit hindurch mögliche Kandidaten für eine derartige Individuation von Personen im Gegensatz zu der von Objekten. Doch sie alle haben problematische Seiten: Zum Beispiel kann sich die körperliche Verfasstheit einer Person drastisch ändern, ohne dass dies ihre persönliche (Selbst-)Identität berühren muss; oder ihr Selbstverständnis kann gründlich umformuliert werden, sodass man sogar von der Suche, der Gewinnung und der Behauptung der eigenen Identität sprechen kann. Hier verlässt man den Bereich der formalen Individuation und berührt ichtheoretische und psychologische, möglicherweise auch soziale und anthropologische Dimensionen der Identität. Klar wird auch, dass die Identitätsproblematik tief im Alltagsleben verwurzelt ist und in transdisziplinären Wissenschaftsbereichen ganz unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Bei all dem stellt sich die Frage, ob es sich bei diesen zum Teil sehr verschiedenen Identitätsattributen um ein und dieselbe Identität handelt und wie sie überhaupt zusammenhängen. Bei ihren begriffsexplikativen Bemühungen sind den Philosophen diese großen Ambivalenzen im Identitätsbegriff nicht entgangen. „It is certain there is no question in philosophy more abstruse than that concerning identity, and the nature of the uniting principle, which constitutes a person“, schreibt Hume, der sich mit der Identitätsfrage intensiv auseinandergesetzt hat. „So far from being able by our senses merely to determine this question“, fährt er fort, „we must have recourse to the most profound metaphysics to give a satisfactory answer to it“92. Dementsprechend unterscheiden die meisten Überblicke mindestens zwischen zwei oder drei verschiedenartigen Identitätsbegriffen, ohne eine explizite Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Beispielsweise schlagen einflussreiche Lexika und Wörterbücher vor, zwischen formallogischer, ontologischer, ichtheoretischer und erkenntnistheoretischer Identität zu unterscheiden; viele führen einen weiteren, rein logischen Identitätsbegriff ein, der meist mit dem identifizierenden Urteilen zusammenfällt. Auch ist eine Klassifikation von differenten, oft nicht ohne Weiteres miteinander zu versöhnenden Identitätsbegriffen anhand philosophischer Disziplinen wie Logik, Ontologie, Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie, Meta- 92 72 Hume (2007), S. 123 physik und Sozialphilosophie zu finden93. Es scheint also ein impliziter, unthematisierter Konsens zu herrschen, dem zufolge „Identität“ ein umfassender Oberbegriff ist, in Bezug auf den keine streng einheitliche Behandlung stattfinden kann. Die oben gestellte Frage sollte daher vielleicht anders gestellt werden: Wie lässt sich Identität theoretisch begreifen? Ist eine Theorie der Identität überhaupt möglich, die ihre verschiedenen Auffassungen konsistent und einheitlich zu entfalten vermag? Oder drastischer: Lässt sich Identität als theoretischer Gegenstand systematisch behandeln? Angesichts des bisherigen Fehlens einer konsistenten philosophischen Theorie der Identität und der Wichtigkeit dieses Konzepts für verschiedene wissenschaftliche Bemühungen werden diese Fragen immer wieder aufgeworfen. Dieter Henrich beispielsweise ist davon ausgegangen, dass eine noch zu formulierende Theorie der Identität einen wenn nicht systematischen, so doch zumindest vereinheitlichenden Ansatz des Identitätsproblems liefern sollte. Henrich ist sich dabei von Anfang an darüber im Klaren, dass es derzeit – er schrieb dies 1979 – „keine Publikation [gibt], nicht einmal in den Lexika, mit deren Hilfe es möglich ist, Übersicht über die verzweigte Problematik zu gewinnen, welche eine Theorie der Identität zu lösen hat“94. Er selbst bietet keine derartige Theorie im strengen Sinne an, sondern liefert eine Übersicht über die Identitätsproblematik in ihren grundlegenden Dimensionen. Manfred Frank teilt Henrichs Diagnose über die Komplexität der Identitätsproblematik, scheint jedoch die kontroverse Frage zu verneinen, ob die verschiedenen Identitätsbegriffe einen zumindest vereinheitlichenden Ansatz überhaupt zulassen. So unterstellt auch Frank, dass der Identitätsbegriff „zu den dunkelsten des philosophischen Vokabulars gezählt werden muss“ 95 . Auch bei denjenigen Autoren, die sich dem kategorialen Rahmen der sogenannten „analytischen Philosophie“ verpflichtet fühlen, findet die Identitätsproblematik große Aufmerksamkeit. Die Arbeiten zu dieser Thematik im Feld der analytischen Philosophie sind jedoch bereits unüberschaubar96. Als „eine gigantische Polemik gegen die gesamten Wirkungen des Identitätsprinzips sowie eine Analyse der Funktion des Identitätsprinzips im westlichen Rationalismus“ 97 greift auch die negative Dialektik in diese 93 94 95 96 97 Hierzu konsultierte Lexika und Wörterbücher sind: Edwards (1972); Foulquié (1986); Audi (1995); Sandkühler (2010). Henrich (1979), S. 133. Frank (2013), S. 234. Vgl. beispielsweise die Sammelbände Munitz (1971) und Lorenz (1982). „On peut dire que Dialectique négative est une gigantesque polémique contre les effets d’ensemble du principe d’identité, en même temps qu’une analyse de la fonction du principe d’identité dans le rationalisme occidental“. Badiou (2005). 73 Debatten ein. In ihr nimmt „Identität“ – ebenso wie ihr Gegenpart: die Nichtidentität – in ihrer konstitutiven Vieldeutigkeit eine zentrale Stellung ein. Denn „Identität“ und „Nichtidentität“ stellen in erster Linie das Hauptmittel dar, mittels dessen Adorno die Konstitution, die Vermittlung und das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt philosophisch reflektiert. Der Begriff erhält bei ihm hauptsächlich formallogische (A = A), ontologische (Identität eines Dinges), ichtheoretische (Ich-Identität) und vermittlungstheoretische (Identität von Subjekt und Objekt) Dimensionen98. Doch darüber hinaus ist Identität auch die Grundkategorie, anhand derer Adorno verschiedenartige Dimensionen einer kritischen Theorie miteinander zu verbinden und so deren vollen Anspruch als vermittelnde Erkenntniskritik und zugleich Gesellschaftskritik einzulösen sucht. Aus diesem Grund geht der Identitätsbegriff bei Adorno weit über die rein philosophischen Bedeutungsebenen der Identität hinaus und gewinnt gesellschaftstheoretische, anthropologische und geschichtsphilosophische Bestimmungen hinzu. Es ist in diesem Sinne wohl aufgrund seiner konstitutiven Vieldeutigkeit, dass der Identitätsbegriff bei Adorno so verschiedene Theoriestränge tendenziell zu integrieren vermag, was aber, wie zu zeigen sein wird, nicht immer unproblematisch ist99. Zu diesem Zweck möchte ich als These formulieren, dass die verschiedenen Dimensionen der Identität in der negativen Dialektik sich erst ausgehend von der streng philosophischen Problematik erschließen lassen, da die außerphilosophischen Bedeutungen der Identität bei Adorno im Grunde in einem isomorphen Verhältnis zu den philosophischen stehen und nur aus diesen explizierbar sind. Adorno selbst gibt explizit Anlass zu dieser These, wenn er behauptet, dass die Grundoperation der negativen Dialektik von Hegel beinahe erreicht worden sei: „Das Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches, wie Hegel beinahe es erreichte, ist der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie“100. So liefert das spezifische Instrumentarium der neuzeitlichen Philosophie, das sich weitgehend an den Bestimmungen der Identität abgearbeitet hat, aufgrund seiner eigenen Konsequenz selbst die Denkmittel für die Operation, die die negative Dialektik methodisch entfalten will. Entsprechend gibt der nächste Abschnitt einen historiographisch breit angelegten Überblick über den Identitätsbegriff in der Neuzeit, um dann zur Problematik bei Adorno überzugehen. Dabei werde ich den Identitätsbegriff in seiner konstitutiven Problemhaftigkeit und Vieldeutigkeit behandeln, so wie ihn auch die negative Dialektik fasst. Von Leibniz bis Hume sind hauptsächlich drei Aspekte des Identitätsbegriffs zentral: der formallogische, der ontologische und 98 99 100 74 GS6, S. 145, Fußnote 2. Diese Probleme betreffen hauptsächlich den Versuch der negativen Dialektik, Identität als Übergangskategorie zu fassen. Vgl. unten § 6 B. GS6, S. 126–127. der ichtheoretische. Ab Kant und vor allem in den Denksystemen des Deutschen Idealismus gewinnt seine vermittlungstheoretische Dimension die Oberhand, die ihrerseits auch für den Materialismus von zentraler Bedeutung sein wird. Diese historiographisch angelegte Darstellung des Identitätsbegriffs soll eine solide Basis zur Auseinandersetzung mit der immer wieder verwirrenden Identitätsfrage in der negativen Dialektik schaffen. 75 § 7. Das Identitätsproblem in der neuzeitlichen Philosophie: ein Überblick A. Das Identitätsproblem bei Leibniz und Hume Wohl ohne Ausnahme sind sich die Philosophen und Philosophiehistoriker, die sich mit dem philosophischen Identitätsproblem befassen, darin einig, dass Leibniz den ersten wirkungsmächtigen Versuch unternommen hat, eine gewisse Systematik und Klarheit in die Verwendung des obskuren Identitätszeichens zu bringen. Gewiss war beispielsweise der Satz der Identität (principium identitatis), demzufolge jedes Einzelne mit sich selbst identisch sei, seit der Antike bekannt. Er wird meistens als A = A wiedergegeben und fungiert traditionsgemäß neben dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten als eines der drei klassischen Denkgesetze, die allem Denken, allem Diskurs und wohl allem Sinn zugrunde liegen. Wie aber der Satz methodisch zu verwenden und analytisch auszudifferenzieren sei, wie das Identitätszeichen und das Identitätsprädikat selbst zu deuten seien, dürfte bis Leibniz größtenteils in systematischem Dunkel verharrt haben. Leibniz präsentiert in seinem 1686 publizierten Discours de métaphysique das Prinzip, das dann als das „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ (principium identitatis indiscernibilium) große – und kontroverse – philosophische Karriere gemacht hat. In seiner ursprünglichen Formulierung besagt das Prinzip nämlich, „qu’il n’est pas vray que deux substances se ressemblent entierement [c’est-à-dire selon toutes leurs dénominations intrinsèques], et soyent differentes solo numero“101. Das Prinzip unterstellt mit anderen Worten, dass dann, wenn alle Eigenschaften von zwei natürlichen Substanzen identisch sind, sie auch numerisch identisch sind. Einfacher gesagt: Qualitative Identität (Gleichheit aller Eigenschaften von zwei Substanzen) impliziert notwendigerweise numerische Identität. Mit vergleichbaren Formulierungen ist das Prinzip auch einige Jahre später in der Monadologie (§ 9) und in den Nouveaux Essais vorgestellt worden. Bereits aus der angeführten Definition lässt sich ersehen, dass das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren zum Begriff der (numerischen) Identität aufgrund des Begriffes der Eigenschaft gelangt, mit dem es immanent verbunden ist: Wenn a und b dieselben Eigenschaften besitzen, dann sind a und b numerisch identisch. Wesentlich für die Interpretation und Kritik des Prinzips wird folglich sein, wie der Begriff von Eigen101 76 Leibniz (2002), § 9. Frank (2013) versucht, das Prinzip anhand von Begriffen der Prädikatenlogik zu formalisieren: (a)(b)[ F(Fa ↔ Fb) ↔ (a = b)], wo a und b für Individuen und F für Eigenschaften stehen. schaft zu definieren ist. Anders als normalerweise unterstellt wird, geht Leibniz selbst von diesem (metaphysisch gewendeten) Prinzip aus, um die prinzipielle Einmaligkeit aller natürlichen Substanzen, die er später als einzigartige Monaden deuten wird, zu behaupten. Leibniz hat es also im Grunde als Individuationsprinzip verwendet: Das Individuum ist demgemäß die einmalige, wohl mathematisch beherrschbare Kombination der Instantiierung von Prädikaten. Dies dürfte auch erklären, warum das Prinzip so oft missverstanden und umformuliert worden ist. Eine bekannte Ableitung des Prinzips wurde das „Prinzip der Ununterscheidbarkeit von Identischem“ benannt, im Grunde eine Umkehrung des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren. Es besagt, dass zwei Dinge dann identisch sind, wenn sie dieselben Eigenschaften besitzen102. Beide Wendungen des Prinzips werden oft mit einander verwechselt und undifferenziert „Leibniz-Gesetz“ bzw. „LeibnizLaw“ genannt, obwohl sie streng voneinander unterschieden werden müssen. Das erste Prinzip gilt schon immer als äußerst kontrovers, während das zweite meist problemlos akzeptiert wird. Nach den angeführten Definitionen beider Prinzipien besteht kein Zweifel, dass sie natürliche Substanzen („deux substances“; „zwei Dinge“) betreffen und folglich einen ontologischen Inhalt besitzen. Leibniz hat jedoch auch logische, genauer: semantische Wendungen des Prinzips formuliert, die im Grunde keine Substanzen, sondern die Satz- bzw. die Urteilsform betreffen. So konzipiert besagt es, dass zwei sprachliche Ausdrücke miteinander identisch sind, wenn sie in Sätzen ohne Verlust des Wahrheitswertes (salva veritate) sich wechselseitig ersetzen können103. Die Ambivalenzen zwischen Semantik und Ontologie finden sich damit auch in Leibnizens Behandlung der Identität, wie sie überhaupt das philosophische Identitätsproblem seit seinen Ursprüngen stets begleitet haben. Bis Schelling und Hegel bleibt Identität derart ambivalent, auch wenn die Begriffe von Ontologie und Semantik bei Kant, wie noch zu rekonstruieren sein wird, eine grundlegende Transformation erfahren. Frank schreibt: „Schelling und Hegel jedenfalls übernehmen Leibnizens Schwanken zwischen Semantik und Ontologie, indem sie bald Subjekt und Prädikat, bald Subjekt und Objekt durch das ‚ist‘ identifiziert glauben“ 104 . Man kann wohl vermuten, dass dieses Schwanken innerhalb der rationalistischen und idealistischen Denkmodelle nicht zu vermeiden ist, sofern sie das wie auch immer vermittelte Zusammenfallen von Denken und Sein als unhinter- 102 103 104 Formal ließe sich dies auch in der Umkehrung der obigen Formalisierung angeben: (a)(b)[(a = b) ↔ F(Fa ↔ Fb)]. In natürlicher Sprache: Für alle a, für alle b, wenn a und b identisch sind, dann für alle F ist Fa identisch mit Fb. Vgl. Frank (2013), S. 235. Frank (2013), S. 234. 77 gehbare Bedingung des Philosophierens vertreten. Darauf wird im Folgenden zurückzukommen sein. Die englischsprachige Philosophie zur Zeit von Leibniz war exemplarisch darum bemüht, den damaligen kategorialen Rahmen der neueren Philosophie, der noch Reste der Scholastik enthalten durfte, durch ein wissenschaftlich-empiristisch, nominalistisch und weitgehend skeptisch informiertes Instrumentarium zu ersetzen. Ohne Zweifel war dabei die metaphysisch konzipierte Kategorie der Substanz ein gemeinsamer Kritikpunkt der philosophischen Bemühungen, die von Hobbes über Locke bis Hume reichten. Im Allgemeinen trugen sie weitreichend dazu bei, die „Reduktion der Rolle des Substanzbegriffes in unserer Weltvorstellungen“105 zu verstärken. Sie trafen somit auch den Kern der Leibniz’schen Identitätslehre, die in vieler Hinsicht weiterhin der Kategorie der Substanz verpflichtet war. Die faszinierende Identitätsdebatte, die die englischsprachige Philosophie in dieser Epoche beherrschte, drehte sich im Grunde um die folgenden Fragestellungen: Verzichtet man konsequent auf metaphysische und substanztheoretische Erklärungsmodelle, die keine Rechtfertigung und Legitimation in der empiristisch konzipierten Erfahrung finden, dann erscheint die Frage nach der Identität, die ja auf eine Relation zwischen zwei im Grunde verschiedenen, doch gleichzusetzenden Relata hinzuweisen scheint, als höchst rätselhaft; woher stammt also die menschliche Vorstellung von Identität (sowohl eines Gegenstandes als auch einer Person)? Lässt sich diese Frage ohne substanztheoretische Erklärungsversuche sinnvoll beantworten? Ist Identität nicht vielmehr eine bloße Fiktion? Es war wohl David Hume, der die radikalsten und wirkungsmächtigsten Konsequenzen aus diesen Fragestellungen zog. Seine Argumentation ließe sich mit Blick auf die Identitätsproblematik so zusammenfassen: Da Identität eine zweiseitige Beziehung von etwas zu etwas meinen muss, wovon Leibniz in seinem Prinzip noch ausging, kann einem Einzelnen zwar Einheit durch verschiedene Zeitpunkte hindurch, wohl aber nicht Identität im strengen Sinne zugesprochen werden. Die Aussage, dass ein Ding „mit sich selbst“ identisch sei, ist für Hume tautologisch und nichtssagend, sofern der mit dem Reflexivpronomen bezeichnete Gegenstand nicht in mindestens einer Hinsicht „von sich selbst“ verschieden ist. Mehreren Gegenständen kann per definitionem ebenso keine Identität miteinander zugesprochen werden, da die Erfahrung grundsätzlich von ihrer Zahl und raumzeitlichen Positionierung abhängt. Hume schreibt: As to the principle of individuation; we may observe, that the view of any one object is not sufficient to convey the idea of identity. 105 78 Henrich (1979), S. 139. For in that proposition, an object is the same with itself, if the idea expressed by the word, object, were no ways distinguished from that meant by itself; we really should mean nothing, nor would the proposition contain a predicate and a subject, which however are implyed in this affirmation. One single object conveys the idea of unity, not that of identity. On the other hand, a multiplicity of objects can never convey this idea, however resembling they may be supposed. The mind always pronounces the one not to be the other, and considers them as forming two, three, or any determinate number of objects, whose existences are entirely distinct and independent. Since then both number and unity are incompatible with the relation of identity, it must lie in something that is neither of them. But to tell the truth, at first sight this seems utterly impossible. Betwixt unity and number there can be no medium; no more than betwixt existence and nonexistence. After one object is supposed to exist, we must either suppose another also to exist; in which case we have the idea of number: Or we must suppose it not to exist; in which case the first object remains at unity.106 Bekanntlich löst Hume sein Problem mithilfe des (teilweise umformulierten) Begriffes der Dauer (duration): Unsere Vorstellung von Identität charakterisiert er grundsätzlich als eine Fiktion, die von der Unveränderlichkeit (invariableness) und der Beständigkeit (uninterruptedness) eines betrachteten Dinges durch das Zeitkontinuum hindurch stammt. Genauer gesagt gibt uns die Unveränderlichkeit eines Gegenstandes nichts anderes als die allgemeine Vorstellung einer numerischen Selbigkeit (number) und die Beständigkeit bloß diejenige der Einheit. Unsere (fiktive, doch starke) Vorstellung von Identität selbst wird aus diesen beiden anderen Vorstellungen abgeleitet und zusammengesetzt, sie ist aber mit ihnen nicht gleichzusetzen: „Here then is an idea, which is a medium betwixt unity and number; or more properly speaking, is either of them, according to the view, in which we take it: And this idea we call that of identity“107. Es ist bereits philosophiegeschichtlich dokumentiert worden108, dass Hume somit als Erster das identitätskritische Argument formuliert hat, das später von Clarke, Kant, Pierce, Wittgenstein und anderen Philosophen mit Variationen übernommen wurde. Am bündigsten formuliert hat es wohl Wittgenstein, der „Identität“ ebenfalls für eine nutzlose Fiktion hält: „Beiläufig gesprochen: von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts“109. 106 107 108 109 Hume (2007), S. 133. Hume (2007), S. 134. Vgl. Frank (2013), S. 234, Fußnote 4. Wittgenstein (2003), Satz 5.53ff. 79 Eine ebenso geschickte und einflussreiche Argumentationslinie entwickelt Hume hinsichtlich der ichtheoretischen bzw. personalen Identität. Sie besagt: Die Vorstellungen einer Person bilden zwar einen komplexen Assoziationszusammenhang, der aufgrund bestimmter Regeln strukturiert zu sein scheint und sich deshalb empiristisch untersuchen lässt; über diesen rein bewusstseinsimmanenten Assoziationszusammenhang hinaus kann aber nichts herausgefunden werden, das die Rede von einer Identität der Person im strengen Sinne erlauben würde. Keine Substanz, kein die Vorstellungsassoziation „transzendierendes“ Gebilde, kein wie auch immer konzipierter Träger der eigentlichen Vorstellungen befindet sich „jenseits“ dieses Assoziationszusammenhangs. So ist für Hume auch die Vorstellung unseres geistigen Lebens als eine Identität eine Fiktion; der Philosoph kann aber nicht präzise angeben, woher sie in diesem Fall stammt und warum wir unserem Vorstellungsleben diese vermutlich starke Einheitlichkeit nicht abzusprechen vermögen. Damit sieht Hume ein wesentliches Problem für die Philosophie aufgeworfen. War das Leibniz’sche „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ noch als Individuationsprinzip – wenn auch ambivalent – aufzufassen und so für eine Ontologie natürlicher Gegenstände prinzipiell tauglich, so weist die empiristische Kritik der ontologisch konzipierten Identitätskategorie als Fiktion bei Hume dies nun zurück. Was die Ontologie angeht, kann die so entlarvte Identität höchstens eine Rolle im Bereich der relation of ideas spielen. Ebenso wenig ist sie für Hume eine ausgezeichnete Kategorie, von der aus wir die anscheinend einzigartige Einheitlichkeit unseres Vorstellungslebens verstehen könnten. Es ist daher nicht übertrieben, wenn Adorno behauptet, dass Humes kritische Revision der Identitätskategorie wesentlich zu einer tendenziellen Abschaffung sowohl des ontologisch konzipierten Dinges als auch der Ichsubstanz beigetragen hat 110 . Dies führt nämlich zu der radikalen Infragestellung des ursprünglichen kategorialen Rahmens der neuzeitlichen Philosophie, der mit Descartes errichtet wurde, hier aber nun an seine Grenzen zu stoßen scheint. 110 80 GS6, S. 188; GS3, S. 40. B. Identität bei Kant Sowohl mit Blick auf die ontologische als auch auf die ichtheoretische Identität war Kant von der Hume’schen Problemlage bestimmt. Was die ontologische Identität betrifft, so wendet sich auch Kant explizit gegen Leibnizens „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“, indem er diesem die aus der transzendentalen Reflexion stammende Unterscheidung zwischen numerischer und begrifflicher Differenz entgegensetzt. Im Geiste Humes argumentiert Kant, dass Dinge bereits durch ihre verschiedenen Stellungen im Raum voneinander numerisch verschieden seien, auch wenn man von allen ihren „prädikativen“ („begrifflichen“) Eigenschaften absehe. Es ist in diesem Sinne keine wie auch immer konzipierte Prädikationstheorie, die für die Individuationsfrage entscheidend ist, wie Leibniz’ Prinzip impliziert. Vielmehr ist für Kant die phänomenale Positionierung des Dinges im Anschauungsfeld wesentlich für dessen Individuierung. Diese Unterscheidung wird durch die transzendentale Reflexion geleistet, sofern sie die Erkenntnis der Dinge im Raum – abermals anders als Leibniz – nicht als noumena, sondern als phaenomena betrachtet. Kant erläutert: So kann man bei zwei Tropfen Wasser von aller innern Verschiedenheit (der Qualität und Quantität) völlig abstrahieren, und es ist genug, daß sie in verschiedenen Örtern zugleich angeschaut werden, um sie für numerisch verschieden zu halten. Leibniz nahm die Erscheinungen als Dinge des reinen Verstandes (ob er gleich, wegen der Verworrenheit ihrer Vorstellungen, dieselben mit dem Namen der Phänomene belegte,) und da konnte sein Satz des Nichtzuunterscheidenden (principium identitatis indiscernibilium) allerdings nicht bestritten werden; da sie aber Gegenstände der Sinnlichkeit sind, und der Verstand in Ansehung ihrer nicht von reinem, sondern bloß empirischem Gebrauch ist, so wird die Vielheit und numerische Verschiedenheit schon durch den Raum selbst als die Bedingung der äußeren Erscheinungen angegeben.111 Im Gefolge Humes erfolgt bei Kant dementsprechend eine konsistente Verlagerung der Identitätskategorie von der Ontologie auf die Logik. Dabei trifft Kant nicht nur Leibnizens, sondern auch Wolffs Projekt, dessen Ontologie bekanntlich mit Denkprinzipien wie dem Widerspruchsprinzip und dem Prinzip des zureichenden Grundes beginnt, um erst dann zur Erläuterung des formell und sehr weiten aufgefassten Seienden („ens“) vermittels der Analyse von Begriffspaaren wie „possibilis et impossibilis“, „determinatus und indeterminatus“, „idem und diversum“ zu gelangen112. Bei Wolff handelt es sich um die Verwendung eines Grundsatzes der Er111 112 KrV, A263–264 | B319–320. Ficara (2006), S. 98. 81 kenntnis als ontologisches Prinzip, dem alles Seiende gehorchen muss: Es sei ein Irrtum zu glauben, dieser Grundsatz „gehöre [laut Wolff] schlicht zur subjektiven Logik“113, wie Pichler schreibt. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, der so eine ontologische Auffassung von Identität impliziert, soll ein Grundgesetz aller Dinge sein – dass sie nicht zugleich sein und nicht sein können, sofern sie Dinge sind – und nicht bloß eine Norm des (korrekten) Denkens darstellen. Gegen diese stark ontologische Auffassung von Identität behauptet Kant nun unzweideutig, dass „im Grunde betrachtet (…) diese Begriffe in die Logik gehören“114. Diese Aussage erfolgt im Rahmen einer strukturellen architektonischen Transformation der Ontologie in der Analytik des Verstandes: Die transzendentale Analytik hat demnach dieses wichtige Resultat: daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren, und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne. Seine Grundsätze sind bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen, und der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Kausalität) muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen.115 Hier wird die Ontologie als eine „stolze“ Disziplin insofern betrachtet, als sie sich eben für fähig hält, ausgehend von einem Grundsatz der Erkenntnis wie dem der Kausalität systematisch strukturierte Erkenntnisse a priori über Dinge überhaupt zu liefern. Auch wenn dieses Ontologiekonzept keinem konkreten ontologischen Entwurf etwa Wolffs oder Baumgartens direkt entspricht, scheint Kant deren klassischen Ontologiebegriff im Sinn gehabt zu haben. Anstelle der so konzipierten Ontologie führt er nun eine neue Wissenschaft ein, die nicht das Seiende als Seiendes (syn113 Apud Ficara (2006), S. 99. Zitiert nach Henrich (1988), S. 53. Vgl. auch Hosenfelder (2012), S. 25f., Fußnote 50: „Bezüglich der eigentlichen Rolle nun, die Identität in der Logik spielen soll, war Kant freilich unterschiedlicher Meinung gewesen. 1755 stellt er den Satz der Identität als oberstes Prinzip über den Satz des Widerspruchs (N. Diluc., Prop III). In den sechziger Jahren betrachtet er den Satz der Identität als oberste Formel aller bejahenden, den Satz des Widerspruchs als oberste Formel aller verneinenden Urteile. In der Kritik der reinen Vernunft nennt er den Satz des Widerspruchs allein den obersten Grundsatz aller analytischen Urteile (B 189ff). 1790 sagt er, daß die analytischen Urteile ‚ganz auf dem Satze der Identität oder des Widerspruchs beruhen‘“. 115 KrV, A 247/B 874. 114 82 thetisch), sondern bloß die Begriffe des Verstandes (analytisch) erforschen kann, anhand deren ein jeder prädizierender Bezug zum Seienden möglich ist. Anders als die Ontologie kann die Analytik des Verstandes ihre Begriffe nicht auf Dinge überhaupt, sondern bloß auf Gegenstände der möglichen Erfahrung beziehen. Zwar bezeichnet Kant die Grundbegriffe dieser neuen Wissenschaft – wie jene der alten Ontologie – als Kategorien, die im Laufe seiner vorkritischen Periode in die dann entstehende Transzendentalphilosophie eingeführt werden116. Doch ihre Leistung besteht darin, die „Prinzipien der Exposition der Erscheinungen“ zu leiten, nicht aber, die Grundgesetze des Seienden als solche vorzutragen. Auch im Unterschied zu der als Erste Philosophie aufgefassten Ontologie bei Wolff setzt die Analytik des Verstandes eine Transzendentale Ästhetik voraus, die dem Verstand das Material der Erscheinungen liefern kann; nur beide zusammen können einen Erkenntnisanspruch erheben. In einem Wort: Bei der Analytik des Verstandes handelt es sich um eine durchaus neu gestaltete Wissenschaft, die die Ontologie ersetzt, deren systematische Rolle übernimmt und vor allem einen von dieser unterschiedenen Erkenntnisanspruch erhebt. In ihr verliert der Identitätsbegriff seine zentrale Stellung für die Erfassung des Seienden als solchen und wird grundsätzlich an die Logik verwiesen und auf diese begrenzt. Wohl aus diesem Grund tritt nicht die Identität, sondern die Einheit als eine Quantitätskategorie in der Kategorientafel auf, die in gewisser Weise die Rolle der alten Ontologie in der Kritik der reinen Vernunft ersetzt. Geht man nun von der ontologischen zur ichtheoretischen Auffassung der Identität über, so sieht man, wie Kant auch hier die Hume’sche Problematik zwar erbt, sie aber mit den bereitgestellten Mitteln der Transzendentalphilosophie umstrukturiert. Kant nimmt die von Hume freigelegten Schwierigkeiten wahr, die sich aus der Erfassung des Ich als Substanz ergeben und immanent zu Aporien – Paralogismen – führen. Doch anders als Hume besteht Kant darauf, die unmittelbar von uns zu konstatierende Einheitlichkeit unseres Vorstellungslebens als eine Identität im strengen Sinne zu bezeichnen, die aber jenen Schwierigkeiten nicht zwangsläufig unterliegen muss. Große Kontroversen in der Kant-Forschung ergaben sich aus der Frage, wie man einen derart konzipierten Ich-Begriff zu verstehen habe. Diese Debatten waren so zentral, dass man sogar behaupten könnte, sie hätten für die Ausbildung der darauffolgenden Denktraditionen richtungweisend gewirkt. Denn abhängig von diesem Ich-Begriff hat man sowohl eine strenge Subjektphilosophie als auch deren Kritik darzulegen versucht. Ich werde auf diese Kontroversen nicht näher eingehen, da dies 116 Aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahr 1772. Vgl. Rivero (2014), S. 36. 83 für die kantische Transformation des ichtheoretischen Identitätsbegriffs, wie ihn die negative Dialektik fasst, nicht erforderlich ist. Vielmehr werde ich mich auf eine Art Standardinterpretation beschränken, die das kantische Bewusstseinskonzept mit seinem höchsten Potential zu plausibilisieren sucht und so noch heute theoriebildende Wirkung haben dürfte. Gemeint ist Dieter Henrichs Interpretation der Identität des Subjekts in der Kritik der reinen Vernunft117. Henrich versucht, das „Ich denke“ Kants analytisch zu zergliedern und handlungstheoretisch zu explizieren. Da jeder von seinen Bewusstseinsinhalten als den seinen denken können muss, ist dieses „Ich denke“ zunächst selbstbezüglich, sodass es durch eine Beziehung von etwas zu etwas charakterisiert ist. So gesehen ist Selbstbewusstsein im Grunde nichts anderes als dieser Selbstbezug. Außerdem muss es sich selbst durch seine zeitlich sich ändernden Zustände hindurch erhalten, die ihrerseits den Zusammenhang konstituieren, der es selbst ist. Es ist, anders gesagt, eine bilaterale Selbstbeziehung, die eine Andersheit in der Identität notwendigerweise einzubeziehen scheint. „Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntnis jemals gehören können, bewußt als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen (weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem anderen zu einem Bewusstsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können)“118, wie Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt. So will Kant die identitätskritischen Einwände Humes grundsätzlich berücksichtigt haben, zugleich aber die starke Einheitlichkeit unseres Bewusstseinslebens als eine Identität mit sich selbst deuten, die sogar a priori gegeben sein muss und somit als Grundlegung einer transzendentalen Deduktion dienen kann. In beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft hat Kant die Zentralität hervorgehoben, die die Identität des „Ich denke“ für die Lehre der subjektiven Objektkonstitution und folglich für die Hauptaufgabe der Kritik besitzt. In der ersten Auflage schreibt er: „Denn das Gemüt konnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlungen vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (…) einer transzendentalen Einheit unterwirft“119. Und in der zweiten Auflage heißt es: „Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimm- 117 118 119 84 Henrich (1988). KrV, A 116. KrV, A 108. ten Denken vorhergeht“120. Bei dieser zugrunde liegenden Identität handelt es sich aber nicht um eine – metaphysisch aufgeladene – intelligente Substanz, nicht um einen die Bewusstseinsimmanenz transzendierenden Träger der Vorstellungen, wäre Kant doch sonst einem vorhumeschen und folglich vor den „Paralogismen der reinen Vernunft“ ungeschützten Argumentationsmuster verpflichtet. Vielmehr versucht Kant eine Konzeption der Identität des Selbstbewusstseins zu entwickeln, die ihn von den metaphysischen Traditionen des Subjekts als „Substanz“, die den Fehler des „Paralogismus der reinen Vernunft“ begangen haben, trennt. Selbstbewusstsein wird im Grunde zu einer Art potentieller Handlung, die sich selbst jedes Mal muss aktualisieren können und eben anhand dieser Aktualisierung Identität aufweist. So Henrich zusammenfassend: Es ist als wirklicher Vollzug des Bewusstseins zu denken, das die Form des Bewusstseins eines intelligenten Subjektes von sich selbst in Beziehung auf einen bestimmten Gedanken oder eine bestimmte Menge von Gedanken hat. Der Satz, mit dem Kant die These der transzendentalen Deduktion einleitet, lautet: ‚Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können‘ (B 131). Er könnte dann von einer nur logischen Form im Sinne des Neokantianismus reden, wenn die eine Form des Subjektdenkens schlechtweg allen Gedanken zugeordnet würde. Aber obwohl von einem einzigen ‚Ich denke‘ die Rede ist, wird von ihm auch gesagt, daß es einzelne Gedanken (actualiter) sowohl begleiten als auch nicht begleiten kann. Das kann nichts anderes heißen, als daß in Beziehung auf diese Gedanken und jeweils in Beziehung auf jeden von ihnen ein Bewusstsein ‚Ich denke diesen Gedanken‘ möglich sein muß. Das Ich, somit das Subjekt dieser Gedanken, ist in allen diesen Gedanken dasselbe. Und weiterhin ist auch der Gedanke von der Möglichkeit des Begleitenkönnens einundderselbe, wenn immer ein Gedanke von dem Bewusstsein, daß Ich ihn denke, begleitet wird. Insofern ist in jedem Ich-Gedanken auch der Gedanke von der Identität des Subjekts und von seinem Verhältnis zu möglichen Gedanken eingeschlossen. Aber dennoch ist das Bewusstsein ‚Ich denke‘ in einer unbestimmten Anzahl von Fällen zu aktualisieren. (…) Zum Begriff des Selbstbewusstseins selbst gehört also auch der Begriff einer unbestimmten Menge der Fälle seines Eintretens.121 An dieser Stelle kann man bereits die Grundlinien der Kantischen Behandlung der ontologischen und der ichtheoretischen Identität zusammenfassen: hinsichtlich der Identität des Dinges folgt Kant Humes identitätskritischer Argumentation gegen Leibniz und die Wolffschule, indem er Identität von der Ontologie in die Logik verlagert und jene architekto120 121 KrV, B 134. Henrich (1988), S. 58–59. 85 nisch transformiert. Mithilfe eines erneuten kategorialen Rahmens versucht er nun den Gedanken der Ich-Identität derart neu zu formulieren, dass er zum Grundbestandteil einer transzendentalen Deduktion gemacht und gleichzeitig Bewusstsein vor den „Paralogismen der reinen Vernunft“ geschützt wird. Mit dieser transzentalphilosophischen Transformation der ontologischen und der ich-theoretischen Identität werden, mit anderen Worten, die subjektive und die objektive Pole der erkenntnistheoretischen Reflexion maßgeblich neu bestimmt. Erst jetzt wird auch die Vermittlung beider so gefasst, wie sie sowohl der nachkantische Idealismus als auch die negative Dialektik erben werden. Zwar wird die Bestimmung einer vermittlungstheoretischen Identität von Subjekt und Objekt grundsätzlich im Laufe des nachkantischen Idealismus eingeführt, doch sie verweist retrospektiv auch auf die transzendentalphilosophische Transformation neuzeitlicher Kategorien. Es handelt sich um das Instrumentarium, anhand dessen der Idealismus und die ihm verpflichteten Denkmodelle auch das Subjekt-ObjektVerhältnis denken werden. Im Laufe des nachkantischen Idealismus gewinnt so diese vermittlungstheoretische Bestimmung der Identität progressiv die Oberhand, sofern sowohl die oben erwähnte Unterscheidung von noumena und phaenomena und der mit ihr zusammenhängende Phänomenalismus als auch die so auf eine neue Basis gestellte subjektive Konstitutionslehre die Koinzindenz von Subjekt und Objekt strukturell ändern. Ich werde mich im nächsten Unterabschnitt mit dieser vermittlungstheoretischen Bestimmung der Identität im nachkantischen Idealismus ausführlich befassen. Es sei hier nur abermalig wiederholt, dass die oben dargestellte transzendentalphilosophische Transformation neuzeitlicher Kategorien den kategorialen Rahmen wesentlich umstrukturiert, in dem sich nicht nur die vorkantischen Denkmodelle, sondern auch die klassischen Materialismen eingebettet waren. Das lässt sich paradigmatisch anhand der Umformulierung exemplifizieren, die den Begriff der Materie mit der Vernunftkritik erfährt. Bei Kant wird Materie so umgedeutet, dass sie als „Inbegriff von lauter Relationen“122 fungiert, die nur durch die sich im Raume abspielenden Kräfte erkennbar sind. Sie wird, in einem Wort, innerhalb des bereits Konstituierten aufgefasst, was ihre Rolle als unvermitteltes Absolutes – und mit ihr den Rahmen der klassischen Materialismen – tendenziell unterminiert. 122 86 KrV A265/B321. Natürlich ist der Kantische Materiebegriff viel komplexer als diese kurze Definition und unterliegt wesentlichen Veränderungen im Sinne der Denkentwicklung des Philosophen. Vor allem wird man zwischen einem vorkritischen und einem kritischen Materiebegriff untescheiden müssen, doch dieser letzte bleibt nicht immer univok, vor allem wenn man die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft berücksichtigt. Vgl. Walker (1971) C. Identität und Nichtidentität im nachkantischen Idealismus Fichte hat vielleicht den ersten wirkungsmächtigen Versuch unternommen, die kritische Philosophie in den Stand eines wahren philosophischen Systems zu erheben. Er hat die komplexe theoretische Konstellation, die sich mit den frühen Rezipienten und den ersten Kritikern Kants ergab123, philosophisch bearbeitet und davon ausgehend die Denkfigur der Wissenschaftslehre entwickelt, die sich gewissermaßen als eine zu sich selbst gekommene kritische Philosophie zu präsentieren suchte. Zwar folgt die Wissenschaftslehre der im Kontext der ersten Kant-Rezeption erhobenen Forderung Reinholds, das kritische System der Philosophie müsse auf einem absoluten ersten, an ihm selbst evident gewissen und unmittelbar einsichtigen „Grundsatz“ basiert sein. Doch reagiert Fichte gleichzeitig auf die skeptischen Kritiker Kants (und Reinholds), die unter anderem auf das Problem der Nichtausweisbarkeit des ersten Grundsatzes Reinholds hinweisen; auch für Fichte kann der absolut erste, schlechthin unbedingte Grundsatz alles Wissens „nicht bewiesen, noch abgeleitet werden“124. Das Resultat dieser Auseinandersetzung nun, wie es sich in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/5 darstellt, ist ein Aufbau des philosophischen Systems, das bekanntlich nicht auf nur einem, sondern auf drei einleitenden, miteinander immanent verbundenen Grundsätzen ruht, aus denen das Ganze des Systems hergeleitet werden muss. Hier beginnt die langwierige Debatte, die die eigentliche Geschichte und Entwicklung des nachkantischen Idealismus in vielem begleitet: die Debatte um die korrekte Struktur und Darstellung des Absoluten. Schematisch kann man davon ausgehen, dass vor Kant zwei Begriffe des Absoluten grundsätzlich miteinander konkurrieren: Der eine fasst das Absolute als das schlechthin Erste und Unbedingte auf, das alles Weitere innerlich bedingt und konstituiert; der zweite konzipiert das Absolute als Ganzheit, als „absolute Größe“. Den ersten Begriff des Absoluten vertreten bei123 124 Vgl. Zöller (2013), S. 13ff. Zöller rekonstruiert dieses geistige Ambiente in Bezug auf die ersten Kritiker und Rezipienten Kants. Es handelt sich zunächst um Friedrich Heinrich Jacobi, der für eine alternative Art von Vernunftkritik plädierte, die ihrerseits nicht auf der (selbstbezüglichen) transzendentalen Reflexion beruhen, sondern mittels des durch ein nicht vernünftiges Gefühl zugänglichen bens“ gewonnen werden sollte; zweitens um Karl Leonhard Reinhold, der auf der Notwendigkeit einer auf einem unmittelbar einsichtigen und evident gewissen Grundsatz basierenden Elementar- bzw. Grundsatzphilosophie zur Systematisierung der kantischen Philosophie bestand; und zuletzt um Salomon Maimon und Gottlob Ernst Schulze, die ihrerseits Kritik an der Nichtausweisbarkeit des „Satzes des Bewusstseins“ von Reinhold übten und eine grundsätzliche skeptische Position gegenüber der Systematisierung der kantischen Philosophie aus einem Prinzip vertraten. Fichte (1965), §2, S. 264. 87 spielsweise Plotin und Leibniz, während der zweite etwa von Giordano Bruno, Nicolaus Cusanus und Baruch de Spinoza entwickelt worden ist125. Kant selbst verwendet, wie es scheint, nicht einmal das Wort „das Absolute“ (nominalisiert) in seinen gesammelten veröffentlichten Schriften, auch wenn er in eben demselben Sinne zum Beispiel vom „Unbedingten“ spricht. So wird der wie auch immer aufgefasste Begriff des Absoluten erst ab 1785 im Rahmen des Pantheismusstreites – also der Rezeption des Werkes Spinozas im deutschsprachigen Raum – in der deutschsprachigen Philosophie zentral126. Fichte selbst spricht in der Grundlage von 1794/95 regelmäßig vom „absoluten Ich“, „absoluten Setzen“, „absoluten Subjekt“ und dergleichen, doch „das Absolute“ (nominalisiert) taucht auch hier nicht auf. Zumindest in den veröffentlichten Schriften verwendet Fichte den Begriff erst um die Jahrhundertwende (wahrscheinlich bereits unter dem Eindruck der Lektüre Schellings), sodass er beispielsweise in der Wissenschaftslehre von 1804 sogar plakativ schreiben kann, dass „die Aufgabe der Philosophie sich auch ausdrücken [lässt]: Darstellung des Absoluten“127. Es geht aber auch um die Bestimmung des Absoluten, wenn Fichte sich bereits in der Grundlage von 1794/95 die Aufgabe stellt, „den absolut ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen“128. Dem obigen Klassifikationsvorschlag zufolge vertritt Fichte den ersten, Schelling und Hegel hingegen den zweiten Begriff des Absoluten. Darauf wird im Folgenden zurückzukommen sein. Nun fällt im nachkantischen Idealismus die Debatte um den Begriff des Absoluten zu einem nicht geringen Teil mit der Diskussion über die Identitätsproblematik zusammen, wie sie sich den Idealisten im Gefolge Kants stellt. Denn bereits rein terminologisch bedeutet das Absolute (vom Lateinischen ab-solutus) nichts anderes als das von jeder Bestimmtheit und Abhängigkeit Losgelöste, das in und durch sich selbst allein Bestehende, das schlechthin Beziehungs- und Bedingungslose, eben das Gegenteil des Relativen. Das Absolute ist also das, was aller Bestimmtheit und aller Differenz vorhergeht (und folglich diese gewissermaßen enthalten und begründen muss), somit die ursprüngliche Identität – das ursprüngliche Einssein – vor aller möglichen Teilung und Entgegensetzung. Als der „schlechthin unbedingte“ und „absolut erste“ deutet der erste Grundsatz der Wissenschaftslehre auf ein so konzipiertes Absolutes hin; es soll, wie Fichte schreibt, „diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bestimmungen unsers Bewusstseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtsein zum Grunde liegt, 125 126 127 128 88 Vgl. Jäschke (2010), S. 110f. Für eine gute Rekonstruktion der Rezeption Spinozas im idealistischen Deutschland, vgl. Pätzold (1995). Fichte (1985), S. 11. Auch in der Darstellung der WL von 1801, z. B. § 5 und § 6. Fichte (1965), S. 255. und allein es möglich ist“129. Durch diese Tathandlung nun „setzt [das Ich] ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein“130. Es ist also, wie Fichte sich gelegentlich auch ausdrückt, ein Selbstsetzen des absoluten, rein selbstbezüglichen und rein selbstkonstituierenden Ich, das „allem ichlich verfassten Bewusstsein [vorausliegt]“ und „als solche[s] nicht Gegenstand eines bestimmten Bewusstseins sein kann“131. Es ist schwer zu übersehen, wie sehr der Begriff des absoluten Ich Fichtes dem oben thematisierten „Ich denke“ Kants in vielem systematisch verwandt ist. Sie unterscheiden sich im Grunde aber darin, wie Fichte selbst zugibt, dass Kant ihn „nie als Grundsatz bestimmt aufgestellt [hat]“132. So weist das absolute Ich Fichtes im Grunde dieselbe Struktur auf wie das kantische „Ich denke“: Es ist reine Selbstbezüglichkeit, die jedem Objektbezug und jeder Objektkonstitution logisch vorausgeht, und schließt somit in dieser puren Selbstbezüglichkeit die Andersheit ein. Dies lässt sich auch insofern einsehen, als Fichte in der Wissenschaftslehre von 1794/5 zum Begriff der Tathandlung gelangt, indem er den Satz der Identität (A = A) heranzieht, der ihm zufolge unter den Tatsachen des empirischen Bewusstseins mit aller Evidenz und Gewissheit vorkommt. Dieser Satz drückt bereits in aller Einsichtigkeit die Selbstbezüglichkeit anhand des duplizierten A aus. Dass das A nun dupliziert und aufgrund des Identitätszeichens auf sich selbst bezogen wird, macht deutlich, dass es in dieser selbstbezüglichen Duplizität die Andersheit bereits in sich schließen muss, sonst wäre der Satz – wie oben bereits thematisiert – ganz und gar nichtssagend. (Später wird Schelling schreiben, die Differenz sei im Satz A = A bereits präsent, aber nicht „aktuiert“133). Philosophisch drückt Fichte diesen Sachverhalt so aus, dass er aus dem ersten Grundsatz den zweiten ableitet: „Es wird dem Ich schlechthin ein Nicht-Ich entgegengesetzt“134. Dieser zweite Grundsatz wird wiederum durch den Satz ~A nicht = A gewonnen, anhand dessen die Differenz zwischen beiden Polen deutlicher zutage tritt (Schelling und Hegel werden sie später in den Satz A = B umwandeln). Die kurze Einführung in die ersten zwei Grundsätze der Wissenschaftslehre von 1794/95 soll genügen, um die Entwicklung der Identitätsproblematik bis Fichte innerhalb des nachkantischen Idealismus bis um 1800 im Überblick zu betrachten. Kant hatte zwar behauptet, dass „die synthetische Einheit der Apperception der höchste Punkt [ist], an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die 129 130 131 132 133 134 Fichte (1965), S. 255 Fichte (1965). S. 261 Zöller (2013), S. 22. Fichte (1965), S. 262. Vgl. Frank (2013), S. 236. Fichte (1965), S. 266 89 Transscendental-Philosophie heften muß“ 135 ; doch erst Fichte hat dies zum Status eines schlechthin unbedingten Grundsatzes erhoben, der für die transzendentalphilosophische Systembildung – und, wie wir sehen werden, für die Bestimmung eines absoluten Identitätsbegriffs – tauglich ist. Auch war bei Kant die einheitliche Verfassung des puren Selbstbewusstseins als Identität – eine bilaterale Selbstbeziehung, die die Andersheit in sich einschließt – bereits präsent, aber erst Fichte hat sie formal durch die theoretische Figur des Setzens und Entgegensetzens anhand der Grundsätze der Wissenschaftslehre zum Ausdruck gebracht. In ihrer Einheit aufgefasst, so Schelling und Hegel später, bilden die zwei ersten Grundsätze der Wissenschaftslehre eine Antinomie. Sofern er diese Antinomie zur Sprache kommen ließ, hat Fichte hier bereits, wie wenig später Hegel behaupten wird, einen wesentlichem Schritt zum „kühn ausgesprochene[n] echte[n] Prinzip der Spekulation“136 bzw. zum Begriff der absoluten Identität getan. Um die Jahrhundertwende kommt es zu dem bekannten Atheismusstreit, der letztlich zum (erzwungenen) Rücktritt Fichtes von seiner Professur an der Universität Jena führte. Bereits zu dieser Zeit werden die theoretischen Differenzen zwischen Fichte und dem jungen Schelling, der ebenfalls in Jena lehrte, immer deutlicher. Offenkundig werden sie aber erst um 1800 mit der Veröffentlichung von Schellings System des transzendentalen Idealismus und Fichtes darauffolgenden Bemerkungen bei der Lektüre von Schellings transzendentalem Idealismus. Ihre Differenzen kreisen auch gerade um den eigentlichen Aufbau der Philosophie selbst: Während für Fichte die als Wissenschaftslehre konzipierte Transzendentalphilosophie das ganze vollendete System der Philosophie umfasst, vertritt Schelling eine duale Verfassung des philosophischen Systems, der gemäß die Transzendentalphilosophie lediglich einen Teilbereich des Systems der Philosophie neben der ihr gleichberechtigten Naturphilosophie einnimmt. So kann Hegel bereits 1801 seine erste veröffentlichte Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie nennen. Auch um die Jahrhundertwende entwickelt sich die Identitätsproblematik innerhalb des nachkantischen Idealismus in einer Weise, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt beinahe ihre definitive Gestaltung erhält. Sie koinzidiert mit der reich dokumentierten Polemik zwischen Schelling und Hegel, die zwar bis und um 1800 grundlegende Einsichten teilten, sich im Laufe des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts dann aber immer deutlicher voneinander distanzierten. Ausgangslage der Identitätsproblematik ist wie gesagt die Entwicklung einer Theorie der für die Differenz sensiblen Identität. Das Bedürfnis einer derartigen Theorie gründet sich nicht nur auf das philosophische Interesse am Identitätsbegriff im Allgemeinen, 135 136 90 KrV, B 134. WW2, S. 11. der in vielen Teildisziplinen der Philosophie von großer Wichtigkeit ist. Es geht auch auf die partikulären philosophischen Ziele des nachkantischen Idealismus zurück, genauer die Entwicklung eines holistischen Systems der Philosophie nach den (und in Bezugnahme auf die) metaphysikzerschmetternden Wirkungen der im Grunde dualistisch verfassten kantischen Philosophie. Im Gegensatz zu Fichte bestand Schelling auf der Gleichberechtigung von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie als philosophischen Teildisziplinen innerhalb des Systems der Philosophie. Dieser Umstand ändert nicht nur die eigentliche Architektonik des Systems selbst, das jetzt ein „subjektives Subjektobjekt“ (Intelligenz) und ein „objektives Subjektobjekt“ (Natur) birgt, sondern auch den Begriff des Absoluten und mit ihm den der Identität, die beide Teildisziplinen innerhalb einer Ganzheit umfassen soll. Würde Natur – wie laut Schelling bei Fichte – als ein vom Subjekt bloß Beherrschtes gedacht und nicht als ein tatsächliches (objektives) Subjektobjekt, dann könnte weder wahre Identität noch wahre Entgegensetzung beider bestehen. Mit anderen Worten: Sowohl die Identität als auch die Entgegensetzung von Intelligenz und Natur, von Subjekt und Objekt sind nur dann möglich, so Schellings Konzeption, wenn beide zugleich als Subjektobjekt gedacht werden; die Identität beider als Subjektobjekt muss vorausgesetzt werden, damit sie überhaupt als miteinander identisch oder als verschieden begriffen werden können. Das erfordert nun ein Konzept von Identität, das ein Verhältnis zwischen zwei Verschiedenen (A und B, Natur und Intelligenz) zu erstellen vermag, die ihrerseits vollständig auf eine und dieselbe Sache – nämlich das als „Indifferenzpunkt“ beider konzipierte Absolute – zutreffen. Dieses Konzept von Identität nennt Schelling absolute Identität. Ein so aufgefasstes System der Philosophie, dem ein derartiger Begriff von absoluter Identität zugrunde liegt, bezeichnet Schelling – in aller Deutlichkeit zunächst in der 1801 verfassten Darstellung meines Systems der Philosophie, die durch das Personalpronomen die Distanzierung von Fichte bereits im Titel anzeigt – als absolutes Identitätssystem. Hegel prägte dazu, eher in polemischer Absicht, den Begriff „Identitätsphilosophie“, die sich auch rasch eingebürgert hat. Hierüber schreibt rückblickend der späte Schelling: Bekanntlich war dies [der Begriff Identitätsphilosophie – D. P.] die Ausdrucksweise des absoluten Identitätssystems, ein Name, den übrigens der Urheber selbst nur einmal gebraucht hat, nur, um es überhaupt und insbesondere von dem Fichteschen zu unterscheiden, welches der Natur gar kein selbsteigenes Sein gelassen, sondern sie zum bloßen Accidens des menschlichen Ich gemacht hat. Dagegen sollte der Name ausdrücken, daß in jenem Ganzen Subjekt und Objekt mit gleicher Selbständigkeit einander gegenüber- 91 stehen, das eine nur das ins Objekt hinübergetretene (…), das andere nur das als solches gesetzte Subjekt sei.137 Wenn Identität bereits selbstbezüglich ist, indem sie als ein Verhältnis eines Einzelnen zu sich selbst und folglich als eine Art Selbstverhältnis gedeutet werden kann, dann zeichnet sich der Schelling’sche Begriff der absoluten Identität dadurch aus, dass sie noch einmal selbstbezüglich gemacht wird. „[I]nwiefern kann gesagt werden“, fragt sich Henrich, „die Identität als solche sei selbst Eines, in dem alle Differenz ihren Ursprung findet? Die Identität, die man wohl als eine Relation zu sich verstehen kann, wird damit doch selbst noch einmal selbstreferentiell gemacht“138. Schelling selbst spricht entweder von der Identität der Identität oder von duplicirter Identität, um diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen. Um seinen doch noch ziemlich unklaren Kerngedanken zu verdeutlichen, schlägt Hegel seinem Jugendfreund Schelling in ihrem Briefwechsel vor, ihn mit der Formel Identität von Identität und Nichtidentität zu fassen, die Schelling mit Begeisterung übernimmt und die Hegel zunächst in der Differenzschrift und dann wiederholt bis zur Wissenschaft der Logik als (abstrakte, doch im Wesentlichen korrekte) Bezeichnung des Absoluten verwendet. Die bekannte Textstelle der Differenzschrift, in der Hegel die Konzeption seines Freundes vorstellt, rekapituliert das philosophische Identitätsproblem und erörtert die Lösung Schellings wie folgt: So gut die Identität geltend gemacht wird, so gut muß die Trennung geltend gemacht werden. Insofern die Identität und die Trennung einander entgegengesetzt werden, sind beide absolut; und wenn die Identität dadurch festgehalten werden soll, daß die Entzweiung vernichtet wird, bleiben sie einander entgegengesetzt. Die Philosophie muß dem Trennen sein Recht widerfahren lassen; aber indem sie es gleich absolut setzt mit der der Trennung entgegengesetzten Identität, hat sie es nur bedingt gesetzt, so wie eine solche Identität – die durch Vernichtung der Entgegengesetzten bedingt ist – auch nur relativ ist. Das Absolute selber aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm.139 Frank erläutert, wie die Schelling’sche absolute Identität verstanden werden soll: Als Urteil aufgefasst, impliziert absolute Identität im Grunde die „Gleichmöglichkeit zweier (Unter-)Urteile. Wer sagt ‚A = B‘, sagt nicht, dass A, als A, zugleich B wäre – das wäre völlig absurd. Er sagt vielmehr, dass das, was A ist, dasselbe ist wie das, was B ist. Oder auch: Dasjenige, für das der Subjekt-Terminus steht, ist dasselbe wie das, für das der Prädi137 138 139 92 Zitiert nach Franz (1992), S. 206, Fußnote. Henrich (1989), S. 138. WW2, S. 96. katausdruck zutrifft“140. Hogrebe hat vorgeschlagen, den Sachverhalt so zu formalisieren: Fa → (∃x) (x = a ∧ Fx), oder auch: (x) [(Fx → (∃y) (Gy ∧ x = y)]141, was mit folgenden Worten wiedergegeben werden könnte: Wenn Fa, dann existiert ein x, das gleich ist wie a und Fx, oder: Für alle x, wenn Fx, existiert ein y, sodass Gy und x gleich y sind. Hier wird klar, dass dieses „dasselbe“, für das sowohl der Subjekt-Terminus als auch der Prädikatausdruck stehen, eben auf einen „Indifferenzpunkt“ von zwei Verschiedenen hinweist. Einfacher formuliert: Subjekt und Objekt, Geist und Natur können demgemäß erst in dem Sinne als identisch mit einander aufgefasst werden, wenn sie Teilbereiche eines und desselben Ganzen sind, das beide umfasst und das es erst erlaubt, sie voneinander zu unterscheiden. Das, was Geist ist, ist auch das (bzw. ist identisch mit dem), was Natur ist; dasselbe Absolute kann sowohl als Natur als auch als Geist aufgefasst werden. Erst mit einem duplizierten Identitätsbegriff kann diese logische Struktur begriffen werden, so Schelling, denn nur er erlaubt, die Identität und die Differenz von zwei Verschiedenen anhand einer sie umfassenderen Identität zu verstehen. Zwar hat Hegel diese Identitätsformel nicht als seine eigene Konzeption vorgestellt und die Identitätsphilosophie auch wenige Jahre später, mit aller Emphase in der 1807 publizierten Phänomenologie des Geistes, stark kritisiert. Die dort formulierte Interpretation des Absoluten als Nacht, „worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind“142, betrifft eben Schellings identitätsphilosophische Konzeption des Absoluten als Indifferenzpunkt, in dem, so Hegel, „alles gleich ist“143. Doch hat er, wie gesagt, die Formel auch mehrmalig verwendet, um das Absolute formell – und dementsprechend abstrakt – aufzufassen. „Die Analyse des Anfangs“, schreibt er beispielsweise in der bekannten Eingangsbetrachtung der 1812 erschienenen Wissenschaft der Logik, auf die Adorno in der Negativen Dialektik explizit Bezug nimmt, „gäbe somit den Begriff der Einheit des Seins und des Nichtseins – oder, in reflektierterer Form, der Einheit des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins – oder der Identität der Identität und Nichtidentität. Dieser Begriff könnte als die erste, reinste, d.i. abstrakteste Definition des Absoluten angesehen werden“144. Hegel verwendet diese Formel also bis in sein Spätwerk, denn sie bringt nicht nur das philosophische Interesse am Begriff des Absoluten im Allgemeinen zur Sprache, indem sie Identität und Nichtidentität immanent miteinander korreliert, um Identität überhaupt verständlich zu machen. Darüber hinaus ist sie auch, wie bereits erwähnt, eine Antwortmöglichkeit auf das 140 141 142 143 144 Frank (2013), S. 246. Hogrebe (1989), S. 81. HW3, S. 22. HW3, S. 22. WW5, S. 73. 93 Anliegen des nachkantischen Idealismus, eine alle Entzweiung umfassende Identität zu konzipieren. Als Reflexionsbestimmungen behandelt Hegel die Begriffe von Identität, Unterschied und Widerspruch bekanntlich auch in der Wesenslogik. Auch dort begreift der Philosoph Identität und Unterschied als immanent miteinander verknüpft, die sich in ihrer Einheit und Gegensätzlichkeit in der Denkfigur des Widerspruchs integrativ aufheben. Zwar folgt Hegel hier Fichte und Schelling, die den Satz der Identität (A = A) ja aufgrund einer darin impliziten, nicht „aktuierten“ Differenz (A = B) thematisierten. Erst Hegel145 bringt aber mit aller Deutlichkeit den Satz der Identität und den Satz des Widerspruches immanent miteinander in Verbindung und erhebt so nicht bloß die Identität, sondern auch (und grundsätzlich) den Widerspruch zum Grundprinzip der Logik. So schreibt er in einer bemerkenswerten Textstelle aus der Wesenslogik: Der andere Ausdruck des Satzes der Identität, A kann nicht zugleich A und Nicht-A sein, hat negative Form; er heißt der Satz des Widerspruchs. Es pflegt darüber, wie die Form der Negation, wodurch sich dieser Satz vom vorigen unterscheidet, an die Identität komme, keine Rechtfertigung gegeben zu werden. (…) Es ist A ausgesprochen und ein Nicht-A, das Rein-Andere des A; aber es zeigt sich nur, um zu verschwinden. Die Identität ist also in diesem Satze ausgedrückt – als Negation der Negation. A und Nicht-A sind unterschieden, diese Unterschiedenen sind auf ein und dasselbe A bezogen. Die Identität ist also als diese Unterschiedenheit in einer Beziehung oder als der einfache Unterschied an ihnen selbst hier dargestellt. Es erhellt hieraus, daß der Satz der Identität selbst und noch mehr der Satz des Widerspruchs nicht bloß analytischer, sondern synthetischer Natur ist. Denn der letztere enthält in seinem Ausdrucke nicht nur die leere, einfache Gleichheit mit sich, sondern nicht allein das Andere derselben überhaupt, sondern sogar die absolute Ungleichheit, den Widerspruch an sich. (…) Was sich also aus dieser Betrachtung ergibt, ist, daß erstens der Satz der Identität oder des Widerspruchs, wie er nur die abstrakte Identität, im Gegensatz gegen den Unterschied, als Wahres ausdrücken soll, kein Denkgesetz, sondern vielmehr das Gegenteil davon ist; zweitens, daß diese Sätze mehr, als mit ihnen gemeint wird, nämlich dieses Gegenteil, den absoluten Unterschied selbst enthalten.146 So kann Hegel die Reflexionsbestimmungen von Identität und Unterschied anhand eines beeindruckenden Satzes zusammenfassen, der ja für seinen Begriff von Dialektik wesentlich ist: „‚Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend‘, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen 145 146 94 Vgl. dazu GS5, S. 87. WW5, S. 45. vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke“147. Für Hegel ließe sich das so interpretieren: Wenn der Identitätssatz und der Satz des Widerspruches immanent miteinander verbunden sind, dann sind Identität und Widerspruch des Wirklichen und im Wirklichen auch miteinander wesentlich verknüpft. Dieser Sachverhalt wird wesentlich nicht nur für die Hegel’sche, sondern auch für die negative Dialektik sein. Dass Identität und Nichtidentität, Einzelnes und Allgemeines sich gegenseitig bedingen und immanent miteinander verknüpft sind, kann man laut Hegel sogar aus dem Sinn des einfachsten prädikativen Urteils ableiten. Behauptet man etwa, dass die Substanz a illegal ist, dann wird zunächst vorausgesetzt, dass ein bestimmtes, voll individuiertes Einzelnes (in dem Fall die Substanz a) von anderen Einzelnen unterschieden werden könne. Auch wird dabei präsupponiert, dass ein Prädikat, das ihm zugesprochen wird (in dem Fall das Illegalsein), als Allgemeinheit im Unterschied zu Einzelnem konzipiert und folglich sowohl diesem als auch jenem Einzelnen ohne Bedeutungsverlust zugesprochen werden könne. Einzelnes und Prädikate können demgemäß voll bestimmte Sätze bilden, die ihrerseits Behauptungen über Objekte vollziehen – ganz gleichgültig zunächst von der (ontologischen) Art des bezogenen Objekts, ob es dieses tatsächlich „gibt“ oder nicht –, denn, wie Henrich (mit Tugendhat und Strawson) schreibt, die Identitätsbehauptung impliziert als solche keine Existenzaussage148. Das scheint eben eine Voraussetzung eines jeglichen Objektbezuges zu sein. Ist es nun der Fall, was der Satz behauptet, dann ist er wahr. Sofern dieser bestimmte Einzelne von anderen Einzelnen unterschieden werden muss, um Objektbezug und folglich Prädikation überhaupt zu ermöglichen, dann müssen zugleich gewisse Regeln der Identität gegeben werden, aufgrund derer es voll individuiert wird und im Unterschied zu anderen Einzelnen dasselbe als sich selbst bleibt. Identität ist folglich eine Implikation eines jeglichen Satzes mit Subjekt-PrädikatForm; ganz in diesem Sinne behauptet Adorno unzweideutig, dass „Denken identifizieren [heißt]“149. Mit anderen Worten: ohne Identität lässt sich weder ein bestimmter Einzelner von anderen Einzelnen unterscheiden, denn er muss voll individuiert werden; noch lässt sich ein Prädikat als Allgemeinheit (als Begriff) konzipieren, denn es muss diesem und jenem voll individuierten Einzelnen ohne Bedeutungsverlust zugesprochen werden können, damit es überhaupt etwas bedeuten kann. Ohne Identität ist somit, in einem Wort, kein Objektbezug und folglich auch kein Denken möglich, sofern jedes Denken als begrifflich aufgefasst wird. Deshalb kann Kant (und mit ihm wohl der gesamte Idealismus) behaupten, dass Selbstbewusstsein nichts anderes als Identität ist. 147 148 149 WW5, S. 74, meine Hervorhebung. Henrich (1989), S. 162. GS6, S. 17. 95 Doch trifft der identitätsphilosophische Grundgedanke Schellings und Hegels zu, dann muss in diesem einfachen prädikativen Satz selbst – will er nicht nichtssagend oder letztlich gar ein Unsatz sein – Nichtidentisches wiederum enthalten sein, an dem die Prädikation überhaupt vollzogen wird. Anders gewendet kann der Sachverhalt auch so erörtert werden: Das Objekt muss als Nichtidentisches, dem Denken Kontrastiertes fungieren, damit etwas von ihm überhaupt prädiziert und so letztlich Identität mit einem allgemeinen Prädikat erstellt werden kann. Sogar im analytischen Urteil muss dieses Nichtidentische, so Hegel, bereits enthalten sein150. Prädikation ist folglich ein Akt, den das identische Subjekt am nichtidentischen Objekt identifizierend, also bestimmend vollzieht: „Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der That in nichts Anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt, und ihn in seine eigene Form, d.i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt“151. Folgt man nun Spinozas (und Jacobis) Prinzip, dem zufolge alle Bestimmung eine Negation ist (omnis determinatio est negatio)152, sofern bei jeder Bestimmung die entgegengesetzte Bestimmung notwendigerweise ausgeschlossen wird, dann ist dieser bestimmende Akt ein negativer Vollzug und das reflexive Verhältnis von Subjekt und Objekt ebenfalls ein negatives. Dies bedeutet für Hegel bereits nichts anderes, als dass die einfachste Prädikation dialektisch zur immanenten Ausführung des gesamten Systems der Philosophie führt. Henrich schreibt: Wenn auf Einzelnes sich zu beziehen heißt, ihm Identität zuzusprechen, und wenn dies wiederum bedeutet, es von allen anderen Einzelnen, die durch dasselbe sortale Prädikat bezeichnet werden, zu unterscheiden, so gehen ganz umfassende Bedingungen der Identifizierung schon in die Bedeutung des einfachen SubjektPrädikatsatzes ein. Es scheint, daß wir uns dann, wenn wir Eines als solches ansprechen, auch schon dazu verpflichtet haben, es im Prinzip in jeder Situation gegen jedes andere Einzelne identifizieren zu können. Wäre es so, so müßte angenommen werden, daß wir auch über ein Verfahren verfügen, das es erlaubt, die Identität eines Einzelnen unter allen Bedingungen seines Gegebenseins und in allen Zweifelsfällen zu erkennen und wiederzuerkennen. Das kann, wie man sich gleichfalls leicht deutlich machen kann, nur in Bezie- 150 151 152 96 „Jedes Urteil, nach Hegels Aufweis sogar das analytische, trägt, ob es will oder nicht, den Anspruch in sich, etwas zu prädizieren, was nicht einfach mit dem bloßen Subjektbegriff identisch ist“. GS6, S. 78. WW6, S. 254. Spinoza hat zuerst dieses Prinzip bekanntlich in einem Brief zur Erklärung mathematischer Begriffe formuliert. Jacobi hat es später als ein ontologisches Prinzip interpretiert. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hat Hegel dieses Prinzip als das wesentliche Lehrstück Spinozas erwähnt. hung auf ein umfassendes System von individualisierenden Bedingungen möglicher Gegebenheit geschehen.153 Die Ausführung des gesamten Systems der Philosophie also, das auf absoluter Identität basiert, wird aus der einfachsten Prädikation immanent nötig, weil erst das ausgeführte System „die Identität eines Einzelnen unter allen Bedingungen seines Gegebenseins und in allen Zweifelsfällen“ artikulieren kann, die wiederum ein jeglicher Objektbezug voraussetzt. Anders gesagt: Das mit dem Selbstbewusstsein nichtidentische und folglich ihm kontrastierte Objekt kann erst mithilfe des ausgeführten Systems in dem Begriff vollends aufgehen, der es subsumiert. Die Uneinigkeiten zuletzt, die zwischen Schelling und Hegel im Laufe der Zeit immer gründlicher werden, entsprechen nicht dem Verständnis von Identität und Nichtidentität als Teilen ein und desselben Ganzen. Darüber sind die beiden Jugendfreunde wohl immer einig gewesen. Ihre Diskrepanzen betreffen vielmehr das Verständnis vom Ganzen selbst, wie also die allumfassende Totalität verständlich zu machen ist. „Während Schelling glaubt“, schreibt Frank, „dass die umgreifende Identität aus der ihr untergeordneten Relation von Identität und Differenz nicht verständlich gemacht werden kann, glaubt Hegel eben dies. Diese Relation nennen Hegel und Schelling (…) ‚Reflexion‘. Und Hegels von Schelling abweichende Position kann dann so wiedergegebenen werden: Die Reflexion muss als autark gedacht werden“154. Identität und Nichtidentität, Subjekt und Objekt, Intelligenz und Natur werden von Schelling, mit anderen Worten, als bloße Relata (Potenzen) aufgefasst, die eines Relationsübergreifenden notwendigerweise bedürfen, um verständlich zu werden. Dieses Relationsübergreifende nennt Schelling – zumindest ab 1809 – Seyn, das wesentlich transreflexiv sein soll155. Für Hegel dagegen bedürfen Identität und Nichtidentität nichts weiter als ihre wechselseitige, als Prozess konzipierte Relation, weil das Objekt am Ende des Prozesses zugleich als immer schon gewesenes Subjekt begriffen wird. Bündig formuliert: Das Absolute, das sich als Identität der Identität und Nichtidentität fassen lässt, ist für Hegel diese sich entwickelnde, ausdifferenzierende und prozessualisierte Relation selbst, die als widersprüchliche Ganzheit aufgefasst wird. „Sein“ bezeichnet für ihn nun bloß den abstraktesten Nullpunkt dieser selbstbezüglichen Entwicklung: „Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts“156. Auch hier wird ersichtlich, wie das identische Subjektobjekt, die absolute Identität am Anfang des dialektischen Prozesses vorausgesetzt werden 153 154 155 156 Henrich (1989), S. 138. Frank (2013), S. 233. Frank (2013), S. 237ff. WW6, S. 82. 97 muss, damit sie überhaupt am Ende erreicht werden kann. Manche Interpreten – wie etwa Frank selbst, nicht zuletzt aber auch der späte Schelling und Adorno – werden an Hegel wegen einer Art Introjektion des Subjektiven ins Nichtsubjektive Kritik üben: „Indem Hegels Philosophie ihren Anfang beim Allerunbestimmtesten, beim unmittelbaren Sein oder ‚bloßen Objektiven‘ zu nehmen vorgibt“, schreibt Frank, „verwickelt sie sich in einen Zirkel, da aus Objekt Subjekt nur werden kann, wenn es Subjekt schon war, freilich ein ‚nicht als solches schon gesetztes Subjekt‘, sondern ein Subjekt als indifferente ‚Gleichmöglichkeit‘ von Wesen (Subjekt) und Sein (Objekt): ‚Subjekt-Objekt‘“ 157 . Schelling sprach bekanntlich von einem „unendlichen Mangel an Sein“158, der das Hegel’sche System durchziehe. Indem Schelling diesen Mangel mit einer Deutung der Identitätsformel zu berichtigen sucht, der ein transreflexives Seyn zugrunde liegt, konnte Schellings Formel „attraktiv werden für materialistische Versuche, Hegels Philosophie ‚vom Kopf auf die Füße zu stellen‘“159. Diese Operation wird im Rahmen aller kritischen Theorie reflektiert – und dies ist auch der Fall bei der negativen Dialektik. Hier kann man bereits in aller Deutlichkeit sehen, wie der absolute Identitätsbegriff Schellings und Hegels auf dem Höhepunkt einer langen Entwicklung steht, die die Geschichte der neueren Philosophie im Wesentlichen begleitet. Besteht man auf ihrem philosophischen Instrumentarium, das von der bipolaren, „faktischen“ Entzweiung von Subjekt und Objekt, Intelligenz und Natur ausgeht und an ihrer Versöhnung laboriert, dann ergibt sich die Frage nach einer Grundlogik, die sowohl ihre Entzweiung als auch ihr Einssein verständlich zu machen vermag. Die absolute Identitätsformel, die Schelling um die Jahrhundertwende formuliert, ist ein Versuch, unter nachkantischen Bedingungen eine solche Grundlogik zu entwickeln. Erst sie hat es auch erlaubt, die folgerichtige Kritik am kantischen (und fichteschen) „Formalismus“ zu entwickeln und somit zum vielbeachteten „inhaltlichen Philosophieren“ zu gelangen, wie es Schelling und Hegel um 1800 vorschwebt. „Inhaltliches Philosophieren seit Schelling war begründet in der Identitätsthese“, schreibt Adorno und stimmt darin mit Frank überein. „Nur wenn der Inbegriff des Seienden, schließlich Seiendes selbst, Moment des Geistes, auf Subjektivität reduzierbar; nur wenn Sache und Begriff im Höheren des Geistes identisch sind, ließ nach dem Fichteschen Axiom, das Apriori sei zugleich das Aposteriori, sich prozedieren“160. Aus der absoluten Identitätsformel lassen sich aber zugleich die zentralen Artikulationsschwierigkeiten ableiten, in die der späte Idealismus 157 158 159 160 98 Frank (1992), S. 77. Zitiert nach Frank (2013), S. 247. Frank (2013), S. 246. GS6, S. 85. gerät. Sie betreffen im Grunde das Verhältnis des Ganzen und der Teile. Wird auf der einen Seite die umgreifende Identität, wie bei Hegel, als der Relation von Subjekt und Objekt immanent aufgefasst und folglich die Reflexion beider als autark gedacht, dann kann jedes Relat sein Sein bloß aus dem Verweis auf sein anderes beziehen und folglich sich nur in diesem wechselseitigen Verwiesensein selbst begründen. Daraus ergibt sich ein unendlicher Begründungszirkel, der das Sein nur unendlich voraussetzt, wie eben der späte Schelling Hegel vorwerfen wird. Wird dagegen die allumfassende Identität, wie bei Schelling, als Seyn begriffen und folglich als der Relation von Subjekt und Objekt transzendent aufgefasst, dann riskiert man, auf ein Reflexionsniveau zurückzufallen, das dogmatische, gar theologisierende Ressourcen wieder mobilisieren muss. Zusammengefasst ist das der zentrale Kritikpunkt der Hegelianer an Schelling. Diese Artikulationsschwierigkeiten haben die Nachgeschichte des absoluten Idealismus im Wesentlichen bestimmt. Sie bilden weitgehend die philosophische Konstellation, aus der sich auch die Idee einer negativen Dialektik erschließen lässt. 99 § 8. Negative Dialektik und Identität Aus der oben behandelten Identitätsproblematik in der neueren Philosophie konnten bereits die wichtigsten Bedeutungsebenen der Identität zur Sprache gebracht werden, die unmittelbaren philosophischen Gehalt aufweisen. Dort ging es um verschiedene, doch im Grunde nicht zusammenhangslose Identitätssinne: von der Identität anhand des Identitätssatzes (A = A) über Leibnizens Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren und die empiristische und transzendentalphilosophische Kritik am Identitätsbegriff bis zu der idealistischen Transformation logischer Prinzipien in systembildende Grundsätze und zuletzt dem Schelling’schen (und Hegel’schen) Begriff absoluter Identität. In vielen Hinsichten versucht der Idealismus diese verschiedenartigen Bedeutungsebenen von Identität integrativ aufzugreifen. Das gilt besonders für Fichte, der in der Grundlage von 1794/95 vom Identitätssatz A = A ausgehend zum systemstiftenden Begriff der Tathandlung gelangt. Der absolute Identitätsbegriff Schellings nun, an den Hegel kritisch anknüpft, versteht sich in vielem auch als konsequente Auslegung des Identitätssatzes in seiner „nicht aktuierten“ Nichtidentität und lässt sich, wie wir sahen, als eine Art Höhepunkt der Identitätsproblematik in der Neuzeit betrachten. Als einem Denkmodell nun, das dem kategorialen Rahmen der klassischen deutschen Philosophie in wesentlichen Zügen verpflichtet ist, ist auch der negativen Dialektik die Identitätsproblematik zentral. Dies bindet die negative Dialektik an eine umfassende philosophische Fragestellung, die heute immer mehr an Relevanz gewinnt. Auch in ihr geht der Identitätsbegriff weit über diese im Grunde streng philosophische, wohl originäre Bedeutungsebene der Identität hinaus. Er erhält dabei zusätzlich geschichtsphilosophische (Identität als Naturbeherrschung) und gesellschaftstheoretische (Identität als Tausch) Bestimmungen, die mehr oder minder einheitlich behandelt und aus der philosophischen Identitätsproblematik mittelbar abgeleitet werden. So wird Identität, genauer: das ihr zugrunde liegende Identitätsdenken in der negativen Dialektik, wie bereits erwähnt, zu einer „historisch gewordene[n], universale[n] Weise des Inder-Welt-Seins“161. Sie bildet folglich ein Konzept, anhand dessen Adorno verschiedene theoretische Konstellationen miteinander zu verbinden sucht und das ihm grundsätzlich als interdisziplinäres Deutungsmittel dient; eben infolge seiner Vielschichtigkeit scheint der Begriff der Identität dafür angemessen zu sein. Identität ist in diesem Sinne für Adorno die Grundkategorie, mit der sich eine kritische Theorie – deren eigentliche Idee eben die immanente Verbindung von Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik enthält – unter nachhegelschen Bedingungen artikulieren 161 Thyen (1989), S. 113. 100 lässt; Identitätskritik oder Kritik am Identitätsdenken ist ihre Grundoperation. Was lässt sich nun einleitend unter Identitätskritik verstehen? Schwerwiegende Missverständnisse sind in der Sekundärliteratur diesbezüglich entstanden, die die negative Dialektik in die Nähe eines „Irrationalismus“ und „Ästhetizismus“ rücken, was von ihrem Geist weit entfernt ist. Zwar geht Adorno wie der gesamte Idealismus davon aus, dass „Denken identifizieren [heißt]“ 162 und folglich dass jeder kognitive Vollzug Identität immanent impliziert und sogar voraussetzt. Doch es ist natürlich nicht die reine identifizierende – synthetisierende – Dimension des Denkens, was unter Adornos Kritik am „Identitätsdenken“ fällt. Mit diesem Terminus ist hier vielmehr ein bestimmter Typus von Theorie und Diskursivität gemeint, der die bloße Herstellung von erkenntnistheoretischer Identität mit der Gewinnung gehaltvoller Erkenntnis vermengt. Unter „bloßer Herstellung von Identität“ versteht sich im Grunde ein diskursives Verfahren, das „die für eine wahre Erkenntnis konstitutive Differenz zwischen Allgemeinem und Besonderem einebne, negiere oder aufhebe zugunsten einer Identität von beiden am Orte des Denkens oder des Bewußtseins selbst“163. Daher der oft wiederholte Kritikpunkt Adornos am Identitätsdenken, es „nivelliere“ das Besondere, „verdränge“ es, „behandle es gewaltsam“. Unter „wahrer“ oder „gehaltvoller Erkenntnis“ wird dagegen ein Erkenntnismodell verstanden, in dem das zu untersuchende Objekt in all seinen konstitutiven, das heißt hier: inhaltlichen und nichtbegrifflichen Dimensionen den Vorrang im Erkenntnisprozess erhält, ohne dabei an Diskursivität und Bestimmtheit einzubüßen. Gemeint ist eine „Rettung“ des Besonderen mit und über seine allgemeinbegrifflichen Dimensionen hinaus. Zur Veranschaulichung dieser für die negative Dialektik wesentlichen Differenz könnte die Frage nach den Erkenntnismethoden hilfreich sein. Zwar dürften maßgebend „quantitative“ Verfahren wie Klassifikation, Formalisierung, Subsumption und dergleichen exemplarisch an den Denkmodellen beteiligt sein, die am deutlichsten unter Adornos Kritik fallen. Denn solche quantitativ angelegte Methoden legen traditionsgemäß das Schwergewicht im Erkenntnisprozess eher auf das Formelle und Allgemeine als auf das Begreifen des Besonderen in seiner Einzigartigkeit. Jedoch ist die bloße Verwendung solcher Erkenntnismethoden für Adorno keineswegs an sich problematisch; er selbst hat für bestimmte soziologische Untersuchungen auf quantitative Methoden zurückgegriffen164. Das Problematische besteht eher darin, dass die Verwendung sol162 163 164 GS6, S. 17. Thyen (1989), S. 114. Beispielsweise das in der Emigration verfasste Werk The Authoritarian Personality, das soziologische Surveys verwendet und sogar eine Skala zu entwickeln sucht – die 101 cher „identifizierenden“ Erkenntnismethoden ohne Weiteres für die eigentliche Erkenntnis gehalten wird, dass also die bloße Verwendung verifizierbarer, für „wissenschaftlich“ gehaltener Erkenntnismethoden im Erkenntnisprozess den Vorrang gegenüber dem zu untersuchenden Objekt erhält. Solche Methoden können im Sinne Adornos zwar höchst hilfreich für eine gehaltvolle Erkenntnis sein, jedoch nur, wenn sie als Vorstufe für deren Entwicklung verstanden werden. Negativ-dialektische Identitätskritik wendet sich entsprechend im Grunde gegen die Reifizierung der Methode als etwas dem jeweiligen konkreten Objekt Unabhängiges, das bei allen Erkenntnisgegenständen undifferenziert angewandt werden könnte. Gegen formell angelegte Denkmodelle plädiert die negative Dialektik für inhaltliches Philosophieren, das in der Lage ist, die zu begreifende „Sache“ möglichst in ihrer Einzigartigkeit zur Darstellung zu bringen. Grundsätzlich dieselben Argumente dürften mit Blick auf die formale Logik mobilisiert werden. Zwar fassen Sätze der Logik und der Mathematik in engerem Sinne das zusammen, was Adorno „Identitätsdenken“ nennt. Doch plädiert negative Dialektik keineswegs für eine Art „Verzicht auf die Logik“ und ist dementsprechend auch nicht einer anderen Erkenntnisweise verpflichtet, die sich von dem logisch artikulierten Diskurs dispensierte und intuitionistisch, ästhetisch, magisch oder wie auch immer angelegt wäre. Kritisiert an der Logik wird lediglich deren verdinglichender Absolutismus, genauer: der naive Realismus der Logik, wie Adornos Behandlung von Husserls Logischen Untersuchungen ausführlich zeigt. Naiv realistisch wird demgemäß die Logik mit der Unterstellung, dass die Sätze der Logik Wahrheit an sich für Gegenstände überhaupt besitzen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass Sätze notwendigerweise Inhaltliches implizieren, und zwar „sowohl mit Hinblick auf die Faktizität ihres eigentlichen Vollzugs, auf tatsächliches subjektives Urteilen, wie mit Hinblick auf die stofflichen Elemente, die auch dem abstraktesten Satz, sei es noch so vermittelt, zugrunde liegen, wenn er überhaupt etwas bedeuten, ein Satz sein soll“165. Kurz gesagt, die formale Logik „ist nicht zu reinigen von ihrem metalogischen Rudiment“166, das die negative Dialektik als das unauflösliche Etwas bezeichnet. Zwar gewinnt nun das Konzept einer „wahren“, „gehaltvollen“ oder „inhaltlichen“ Erkenntnis in manchen Kontexten den Aspekt utopischer Erkenntnis: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“ 167 ; „Erkenntnis, die den 165 166 167 sogenannte F-Skala –, die die Tendenzen einer bestimmten Persönlichkeit zu faschistischen Verhaltensmustern messen soll. GS5, S. 73–74. GS6, S. 139. GS6, S. 21. 102 Inhalt will, will die Utopie“ 168 . Doch die Möglichkeit eines derartigen Erkenntnismodells, das sich nicht auf die rein identifizierende Dimension des Denkens beschränkt und letztlich auf das Inhaltliche abzielt, beruht für Adorno auf der dialektischen Auffassung des Denkens selbst. Ihr zufolge nimmt alle Identität notwendigerweise Nichtidentisches in den Blick, ebenso wie alle Begrifflichkeit erst mithilfe nichtbegrifflicher, deiktischer Momente ihre Bedeutungsfunktion tatsächlich erfüllen kann. „Der Begriff ist ein Moment wie ein jegliches in dialektischer Logik. In ihm überlebt sein Vermitteltsein durchs Nichtbegriffliche vermöge seiner Bedeutung, die ihrerseits sein Begriffsein begründet. Ihn charakterisiert ebenso, auf Nichtbegriffliches sich zu beziehen – so wie schließlich nach traditioneller Erkenntnistheorie jede Definition von Begriffen nichtbegrifflicher, deiktischer Momente bedarf“169. Laut Adorno ist, wie wir sahen, die Philosophie der Neuzeit von Leibniz über Hume und Kant bis zum nachkantischen Idealismus beinahe zu dieser dialektischen Auffassung des Denkens gelangt: „Das Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches, wie Hegel beinahe es erreichte, ist der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie“ 170 . Hier treffen wir erneut, jetzt aber anhand der Identitätsproblematik, auf das im ersten Kapitel thematisierte Selbstverständnis negativer Dialektik als immanente Kritik am Idealismus – und in diesem Sinne auch auf das eigentliche bereitgestellte Instrumentarium der neuzeitlichen Philosophie. 168 169 170 GS6, S. 66. GS6, S. 24. GS6, S. 126–127, meine Hervorhebung. 103 A. Die identitätskritische Grundoperation negativer Dialektik: Vorrang des Objekts Die identitätskritische Grundoperation negativer Dialektik könnte durch zwei simple Thesen wiedergegeben werden: 1. Identität und Nichtidentisches sind durcheinander vermittelt. 2. Nichtidentisches ist vorrangig gegenüber Identität. Die erste These ist idealistisch, die zweite materialistisch. Diese Sätze könnten im Sinne Adornos ohne Bedeutungsverlust mit variierter Terminologie auch so formuliert werden: 1. Subjekt und Objekt sind zwar gegenseitig vermittelt, wie der Idealismus behauptet. 2. Doch gegen den Idealismus enthält dieses Vermitteltsein eine interne Ungleichheit zugunsten des Letzteren, die sich aus dem eigentlichen Sinn der Vermittlung konsequent ergibt und diese wesentlich transformiert. Versuchen wir nun, diese Grundoperation konkreter zu fassen. 1. Die erste These entspricht grundsätzlich der gegenseitigen Vermittlung von Identität und Nichtidentität, wie sie der absolute Idealismus aufgrund seiner eigenen Konsequenz bereits erreicht hat. Es handelt sich nicht bloß um den kritisch-idealistischen Grundgedanken, dem zufolge jegliche Objektivität durch Subjektivität immanent vermittelt sei. Außerdem impliziert diese These auch den umgekehrten Gedanken, dass Identität lediglich im Verwiesensein auf Nichtidentisches expliziert werden könne: „Wie im Sinne Kants keine Welt, kein Konstitutum ohne die subjektiven Bedingungen der Vernunft, des Konstituens möglich ist, so, fügt Hegels Selbstreflexion des Idealismus hinzu, ist auch kein Konstituens, so sind keine erzeugenden Bedingungen des Geistes möglich, die nicht von tatsächlichen Subjekten und damit schließlich selber von einem nicht bloß Subjektiven, von ‚Welt‘ abstrahiert wären“171. Das beste Dokument einer solchen „Selbstreflexion des Idealismus“ ist wohl die Debatte zwischen Schelling und Hegel, die oben zusammenfassend rekonstruiert worden ist. Erst eine solche Selbstreflexion erlaubt es, auch das Bedingende ebenfalls als Bedingtes und folglich dialektisch aufzufassen. Diese Leistung ist eine interne Forderung des absoluten Idealismus selbst, sofern er als organisches System der Philosophie ohne das mechanische Setzen von Grundsätzen – wie Schelling und Hegel Reinhold und Fichte stets vorgeworfen haben – gestaltet werden soll. 171 GS5, S. 258. 104 Aus dem Sinn dieser ersten These ergibt sich dementsprechend auch umgekehrt, dass Nichtidentisches nur durch Identität, also mit Begriffen erreichbar werden kann. Bei dem Nichtidentischen geht es folglich sowohl für den Idealismus als auch für die negative Dialektik um keine Positivität, die etwa den Sinnen unmittelbar gegeben sei und zugleich dem Begriff irgendwie widerspenstig wäre. „Trivial, daß das Nichtidentische keine Unmittelbarkeit, daß es vermittelt ist“172. Auch wenn Adorno dies hier explizit hervorhebt, bleibt der Begriff des Nichtidentischen immer eine Quelle von großen Missverständnissen in der Sekundärliteratur, die ihn nicht als Reflexionsbegriff, der in einer dialektischen Relation zur Identität steht, sondern vielmehr als ontologische Kategorie begreift173. Das Nichtidentische ist folglich keine Gegebenheit, sondern eine Reflexionsbestimmung; keine Sache, sondern ein umfassenderer Blick auf die Sache; kein Ansichseiendes, sondern immanent vermittelt; keine vorkritische, sondern eine kritische Kategorie. Wäre dem nicht so, dann würde das Nichtidentische direkt zum „Mythos des Gegebenen“ führen, dem zufolge ein unmittelbar Gegebenes vor jedem Begriff etwa erfahrbar wäre, an dem sich die Begriffe „extern“ abarbeiteten174. Dagegen wendet sich die negative Dialektik explizit: „Nichts in der Welt ist aus Faktizität und Begriff zusammengesetzt, gleichsam addiert“175. Sie ist folglich der kritischidealistischen Einsicht zutiefst verpflichtet, die das durchgängige Vermitteltsein von Identität und Nichtidentität als gegenseitig deutet: Nichtidentisches ist in diesem Sinne, wie Thyen vorschlägt, eher als Grenzbegriff des Begrifflichen176 zu fassen, der dessen Begriffsein wie seine eigentlich allgemeinbegriffliche Bedeutungsfunktion konstituiert und immanent zu kritisieren erlaubt. Auch wenn sie dafür eine umfassendere Identität voraussetzen muss, ist die absolute Identitätsthese wohl der wirkungsmächtigste und konsequenteste Versuch gewesen, Identität und Nichtidentität miteinander zu artikulieren. 2. Anders als der Idealismus behauptet die negative Dialektik nun aber, dass eine sowohl logische als auch genetische Ungleichheit zugunsten der Objektivität in der Subjekt-Objekt-Vermittlung selbst enthalten ist, die vom Idealismus vernachlässigt worden sei: „Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber 172 173 174 175 176 GS6, S. 126. Vgl. diesbezüglich zum Beispiel Guzzoni (1981). Die Kritik am Myth of the Given wurde bekanntlich zunächst von Sellars formuliert und fungierte danach als klassisches Argumentationsmuster gegen nicht durchdachte realistische und fundationalistische Denkmodelle. Vgl. Brandom (1997). GS6, S. 189. Thyen (1989), S. 204ff. 105 vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein“177. Wie sich hier deutlich zeigt, ist dieser Gedankengang dem einer „konstitutiven Subjektivität“ im Grunde entgegengesetzt und betrifft strukturell sowohl die Konstitution von Subjekt und Objekt als auch die Artikulation beider. Es handelt sich zudem um die materialistische Grundthese der negativen Dialektik: den Vorrang des Objekts. Von der Begründung dieser These hängt nun die Konsistenz der negativen Dialektik als eines materialistischen Denkmodells ab: „Durch den Übergang zum Vorrang des Objekts wird Dialektik materialistisch“178 . Adorno formuliert grundsätzlich vier Argumente, um die These vom Vorrang des Objekts zu plausibilisieren: (a) ein kritisch-immanentes, (b) ein philosophiehistorisches, (c) ein historisch-gesellschaftliches und (d) ein anthropologisches Argument. Sie wollen wir im Folgenden näher betrachten. (a) Vorrang des Objekts: kritisch-immanentes Argument Der größte Anspruch der negativen Dialektik besteht darin, ihre Grundoperation rein immanent aus dem Geist des Idealismus selbst zu begründen. Das kritisch-immanente Argument für den Vorrang des Objekts soll folglich das stärkste und zugleich das weniger begründungsbedürftige Argument sein, das Adorno zu mobilisieren hat. Es besagt, dass die Ungleichheit zugunsten des Objekts, die dieses sowohl logisch als auch genetisch gegenüber der Subjektivität primär macht, aus dem Sinn der SubjektObjekt-Vermittlung selbst soll extrahiert werden können. Es soll somit den Kern des Idealismus in dessen eigenem Element treffen können. Adorno schreibt: Die Universalität von Vermittlung ist aber kein Rechtstitel dafür, alles zwischen Himmel und Erde auf sie zu nivellieren, wie wenn Vermittlung des Unmittelbaren und Vermittlung des Begriffs dasselbe wären. Dem Begriff ist die Vermittlung essentiell, er selber ist seiner Beschaffenheit nach unmittelbar die Vermittlung; die Vermittlung der Unmittelbarkeit jedoch Reflexionsbestimmung, sinnvoll nur in bezug auf das ihr Entgegengesetzte, Unmittelbare. Ist schon nichts, was nicht vermittelt wäre, so geht, wie Hegel hervorhob, solche Vermittlung notwendig stets auf ein Vermitteltes, ohne das sie auch ihrerseits nicht wäre. Daß dagegen Vermitteltes nicht ohne Vermittlung sei, hat lediglich privativen und epistemologischen Charakter: Ausdruck der Unmöglichkeit, ohne Vermittlung das Etwas zu bestimmen, kaum mehr als die Tautologie, Denken von Etwas sei eben Denken. Umgekehrt bliebe keine Vermittlung ohne das Etwas. In Unmittelbarkeit liegt nicht ebenso deren Vermitteltsein wie in der Vermittlung ein Unmittelbares, welches ver177 178 GS6, S. 184. GS6, S. 193. 106 mittelt würde. Den Unterschied hat Hegel vernachlässigt. Vermittlung des Unmittelbaren betrifft seinen Modus: das Wissen von ihm und die Grenze solchen Wissens. Unmittelbarkeit ist keine Modalität, keine bloße Bestimmung des Wie für ein Bewußtsein, sondern objektiv: ihr Begriff deutet auf das nicht durch seinen Begriff Wegzuräumende. Vermittlung sagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, sondern postuliert, was durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes; Unmittelbarkeit selbst aber steht für ein Moment, das der Erkenntnis, der Vermittlung, nicht ebenso bedarf wie diese des Unmittelbaren179. Dass die Subjekt-Objekt-Vermittlung universell sein soll, markiert den Unterschied zwischen dem voll ausgeführten absoluten Idealismus und der Transzendentalphilosophie, die aufgrund der Ding-an-sichProblematik einen „Bruch“ in der Subjekt-Objekt-Vermittlung – einen Erkenntnisblock, wie sich Adorno auch ausdrückt – noch zuließ. Denn wie bereits erwähnt, deuten die Idealisten den Begriff des Dinges an sich generell als immanent widersprüchlich und die kritische Philosophie deshalb als korrekturbedürftig, was dann zur Denkbewegung des nachkantischen Idealismus führte. Zu etablieren ist in ihren Augen dagegen eine radikalisierte, selbstkonstituierende und bruchlose Vermittlungsstruktur, die alle Objektivität auf Subjektivität zurückzuführen erlaubt. Damit aber muss der absolute Idealismus – und Adorno zufolge jeder Versuch, Subjektivität zu verabsolutieren – eine interne Differenz in der Vermittlung selbst vernachlässigen, die ihren eigentlichen Modus betrifft. Erst so lässt sich das philosophisch begründen, was Adorno „den Trug konstitutiver Subjektivität“180 nennt, gegen den sich die negative Dialektik grundlegend wendet. Zwar sind Subjekt und Objekt notwendigerweise durch einander vermittelt, wie der Idealismus in Gestalt der absoluten Identitätsformel behaupten konnte; doch während das Erstere aus seiner eigenen Beschaffenheit ohne das Letztere nicht einmal konzipiert werden kann, muss sich das Letztere gegenüber dem Ersteren mindestens in einer Hinsicht als autonom erhalten. Diese Hinsicht mag zwar nicht erkenntnistheoretisch sein, denn das Begreifen eines Objekts setzt Vermittlung tatsächlich bereits voraus. Doch das impliziert nicht nur, kantisch formuliert, dass das Objekt als solches ohne Vermittlung widerspruchsfrei gedacht werden könne, sondern vielmehr, dass es als subjektunabhängig widerspruchsfrei konzipiert werden müsse, sofern Vermittlung selbst – subjektives Verwiesensein auf etwas, das nicht sich selbst ist – möglich sein soll. Mit anderen Worten: Dieses Etwas muss dementsprechend als unauflöslich konzipiert werden, sofern Vermittlung selbst möglich sein soll: „Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, 179 180 GS6, S. 173. GS6, S. 10. 107 doch durch keinen weiteren Denkprozess abzuschaffende Abstraktion des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht gedacht werden“181. Brian O’Connor hat den Versuch unternommen, diesen Gedankengang der negativen Dialektik durch eine transzendentale Argumentation zu rekonstruieren. „Transzendental“ soll hier so viel bedeuten, dass sich der vermittlungstheoretische Vorrang des Objekts eben aus dem immanenten Sinn der Subjekt-Objekt-Vermittlung ergeben soll. O’Connor schreibt: (i) It is agreed that there is experience. (ii) There must be something to which the subject relates. If this something were the subject itself, its own concepts, it would not be explained how it is that experience has an apparent externally directed relation, unless an extravagant intrasubjective explanation of this structure were to be proposed (…). (iii) The notion of an external relation entails that experience is the relation of the subject to something that is not purely subjective. Thus experience is a relation of subjects to nonconceptual objects. (To understand objects as being purely conceptual would be to reduce the nonconceptual dimension of their otherness). (iv) The commitment to the notion of experience therefore entails a belief that there are objects to which the subject must necessarily relate in order to experience: these obejcts are not reducible to concepts. This conclusion is what Adorno means by the mediated priority of the object.182 Wäre das unauflösliches Etwas – „something that is not purely subjective“, wie sich O’Connor ausdrückt – in jeglicher Subjekt-Objekt-Vermittlung nicht vorauszusetzen, dann würde sich das Subjekt im Erkenntnisprozess letztlich nur auf sich selbst beziehen und Erkenntnis selbst nur ein Selbstverhältnis sein, das überhaupt keine Beziehung zu irgendeiner Andersheit besäße. Es reduzierte sich letztendlich auf eine Art von gigantischem analytischem Urteil, wie Adorno mehrfach wiederholt: „Das πρῶτον ψεῦδος des Idealismus seit Fichte war, in der Bewegung der Abstraktion werde man dessen ledig, wovon abstrahiert ist. (…) Denken widerspräche schon seinem eigenen Begriff ohne Gedachtes und dies Gedachte deutet vorweg auf Seiendes, wie es vom absoluten Denken doch erst gesetzt werden soll: ein einfaches ὕστερον προτερον“183. Die Idee der Erkenntnis 181 182 183 GS6, S. 139. O’Connor (2004), S. 56–57. GS6, S. 139. 108 als ein Verhältnis zu Verschiedenem erfordert, dass das Etwas, die Objektivität – wenn nicht in erkenntnistheoretischer, dann zumindest in einer noch zu bestimmenden Hinsicht – als subjektunabhängig konzipiert wird. Von hier ausgehend kann man, so die negative Dialektik, ein gesamtes materialistisches Denkmodell ausbuchstabieren. Es bleibt aber zu bestimmen, in welcher Hinsicht dieses unauflösliche Etwas widerspruchsfrei konzipiert werden kann, ohne in die Ding-an-sich-Problematik oder den Mythos des Gegebenen zu geraten: „Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung“184. (b) Vorrang des Objekts: philosophiehistorisches Argument Das philosophiehistorische, das historisch-gesellschaftliche und das anthropologische Argument sind im Grunde Hilfsargumente zur Begründung des Vorrangs des Objekts. Bei dem philosophiehistorischen handelt es sich um eine retrospektive Interpretation der Geschichte des nachkantischen Idealismus im Lichte der Identitätsproblematik, die gewissermaßen vom Verfall des absoluten Idealismus ausgeht, um seine Vermittlungsstruktur zu widerlegen. Das Argumentationsmuster lässt sich wie folgt verstehen: Zur Grundoperation der negativen Dialektik ist der absolute Idealismus zwar zumindest partiell gelangt, sofern er das gegenseitige Verwiesensein von Identität und Nichtidentisches, von Subjektivität und Objektivität bereits konzipiert hat. Doch sollte die Dialektik von Identität und Nichtidentität konsequent ausgetragen werden, wie sie bereits bei Schelling und Hegel angelegt ist, dann bedeutet dies in letzter Konsequenz die eigentliche Überwindung des Idealismus selbst und die Erstellung des Vorrangs des Objekts. Denn zu Ende gedacht muss das immanente Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches den absoluten Charakter von Geist und so die eigentliche Grundlage des absoluten Idealismus selbst aufheben. So gesehen deutet der absolute Idealismus bereits über sich hinaus. Um sich als idealistisch zu erhalten, muss er dagegen eine umfassendere Identität präsupponieren, wie anhand der absoluten Identitätsformel dargelegt worden ist. Es erfolgt nun, so der entscheidende Argumentationsgang Adornos (und, wie wir sahen, auch Franks und anderer Interpreten), eine Vorentscheidung für den absoluten Idealismus: „Hegels inhaltliches Philosophieren hatte zum Fundament und Resultat den Primat des Subjekts oder, nach der berühmten Formulierung aus der Eingangsbetrachtung der Logik, die Identität von Identität und Nichtidentität“, schreibt Adorno. „Das bestimmte Einzelne war ihm vom Geist 184 GS 10.2, S. 748 109 bestimmbar, weil seine immanente Bestimmung nichts anderes als Geist sein sollte. Ohne diese Supposition wäre Hegel zufolge Philosophie nicht fähig, Inhaltliches und Wesentliches zu erkennen“185. Die Artikulationsschwierigkeiten des späten Idealismus zeigen aber, dass er in virulente Schwierigkeiten gerät, wenn er Identität zu verabsolutieren sucht: Entweder muss er das Sein unendlich voraussetzen (Hegel) oder ein transreflexives Seyn setzen (Schelling). Diese Vorentscheidung für den Idealismus bei Hegel versucht Adorno nun auch mikrologisch zu demonstrieren. Er bezieht sich unter anderem auf folgende Textstelle aus dem Anfang der Seinslogik Hegels: [Raum und Zeit sind] ausdrücklich als unbestimmte bestimmt, was – um zu seiner einfachsten Form zurückzugehen – das Seyn ist. Eben diese Unbestimmtheit ist aber das, was die Bestimmtheit desselben ausmacht; denn die Unbestimmtheit ist der Bestimmtheit entgegengesetzt; sie ist somit als Entgegengesetztes selbst das Bestimmte, oder Negative, und zwar das reine, ganz abstrakt Negative. Diese Unbestimmtheit oder abstrakte Negation, welche so das Seyn an ihm selbst hat, ist es, was die äußere wie die innere Reflexion ausspricht, indem sie es dem Nichts gleich setzt, es für ein leeres Gedankending, für Nichts erklärt. – Oder kann man sich ausdrücken, weil das Seyn das Bestimmungslose ist, ist es nicht die (affirmative) Bestimmtheit, die es ist, nicht Seyn, sondern Nichts.186 In dieser Passage lässt sich deutlich erkennen, dass Hegel zwar von Seyn als Unbestimmtem ausgeht, um gleich im nächsten Satz – „stillschweigend“, wie Adorno schreibt – von Unbestimmtheit zu reden. Anders als das Unbestimmte, das hauptsächlich eine bloße indexikalische Funktion besitzt und so auf ein Diesda hindeuten will, ist die Unbestimmtheit ja bereits ein allgemeinbegriffliches Konstrukt. Im Begriff der Unbestimmtheit „verschwindet das“, so Adorno, „dessen Begriff sie ist; er wird dem Unbestimmten als dessen Bestimmung gleichgesetzt und das erlaubt die Identifikation des Unbestimmten mit dem Nichts. Damit ist in Wahrheit bereits der absolute Idealismus supponiert, den die Logik erst zu beweisen hätte“187. Anders gewendet: Auch hier handelt es sich um widerstreitende Tendenzen, die im absoluten Idealismus am Werke sind. Die eine Tendenz ist mikrologisch und betrifft die Dialektik des Besonderen. Sie nimmt den nichtidentischen Charakter des Besonderen – des unauflöslichen Etwas – als notwendigen Bewegungsgrund des Denkens wahr, der seinerseits aufgrund seiner eigenen Unauflöslichkeit zur Aufhebung des Primats des Geistes und folglich zum Vorrang des Objekts tendenziell führen kann. 185 186 187 GS6, S. 19. Zitiert nach GS6, S. 125–126. GS6, S. 126. 110 Vom Standpunkt des Materialismus aus ist diese Tendenz des Idealismus äußerst progressiv und erlaubt die konsistente Formulierung seiner immanenten Kritik. Doch gleichzeitig operiert im absoluten Idealismus eine andere Tendenz, die makrologisch ist und den Systemcharakter des Denkens betrifft. Hier muss die Konsistenz und Geschlossenheit des Systems stets präsupponiert und affirmiert werden, was schließlich zu einer Unterbrechung der Dialektik des Besonderen führt. Für den Materialismus ist dies die konservative Tendenz des Idealismus, die es zu überwunden gilt. Paradoxerweise ermöglicht die absolute Identitätsthese beide widerstreitenden Tendenzen zugleich. So kann die negative Dialektik an verschiedenen Stellen behaupten, dass Hegel das immanente Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches, das „der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie [ist]“188, nur beinahe erreicht hat. „Weil Hegel vor der Dialektik des Besonderen zurückschreckt, die er konzipierte – sie vernichtete den Primat des Identischen und folgerecht den Idealismus –, wird er unablässig zur Spiegelfechterei getrieben. (…) Eben damit wird die Dialektik von Nichtidentität und Identität scheinhaft: Sieg der Identität über Identisches“189. „[Hegel] trägt die Dialektik des Nichtidentischen nicht aus (…). Sein eigener Begriff des Nichtidentischen, bei ihm Vehikel, es zum Identischen, zur Sichselbstgleichheit zu machen, hat unabdingbar deren Gegenteil zum Inhalt; darüber eilt er hinweg. (…) Hegels absolutes System, das auf dem perennierenden Widerstand des Nichtidentischen beruht, negiert, gegen sein Selbstverständnis, sich selbst“190. Ersichtlich muss die negative Dialektik den absoluten Idealismus gewissermaßen hinter sich haben, um solche Diagnosen formulieren zu können; darum handelt es sich hier grundsätzlich um ein retrospektiv angelegtes Hilfsargument zur Plausibilisierung des Vorrangs des Objekts. Denn damit der absolute Idealismus als „Spiegelfechterei“, „scheinhaft“, „selbst negierend“ betrachtet werden kann, muss seine idealistische Hauptthese in mancher Hinsicht bereits überwunden sein. Dies trifft auf die negative Dialektik aufgrund ihrer philosophiegeschichtlichen Distanzierung, die das Obsoletwerden der absoluten Identitätsthese einsehen lässt, teilweise zu. In mancher Hinsicht wiederholt sie jene philosophische Geste von Voltaire gegenüber Leibnizens Theodizee, die auf einem außerphilosophischen Ereignis basiert, um einen innerphilosophischen Sachverhalt „extern“ zu widerlegen: „Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich ent188 189 190 GS6, S. 127. GS6, S. 175. GS6, S. 126. 111 zieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete“191. Auch für die negative Dialektik dementiert das nachhegelsche Zeitalter in weitem Maße die Identitätsthese, sofern die katastrophalen Ereignisse des 20. Jahrhunderts dem aufklärerischen Projekt einer vernünftigen Gestaltung der Wirklichkeit, das unter anderem ein konkreter Ausdruck jener Identitätsthese war, eindeutig (und definitiv?) widersprechen. Hier wird bereits das dritte Argument zur Begründung des Vorrangs des Objekts berührt: das historisch-gesellschaftliche. (c) Vorrang des Objekts: historisch-gesellschaftliches Argument Das historisch-gesellschaftliche Hilfsargument zur Plausibilisierung des Vorrangs des Objekts ist zugegeben indirekter als das philosophiehistorische und muss daher mit einer höheren Begründungslast rechnen. Das Argument lautet: „Index für den Vorrang des Objekts ist die Ohnmacht des Geistes in all seinen Urteilen wie bis heute in der Einrichtung der Realität“192. Es ist vor allem aufgrund der umfassenden Dialektisierung des Vorrangs des Objekts, die es ausdrückt, äußerst interessant: Hier wird dieser Vorrang – und mit ihm der Materialismus selbst – als etwas zu Überwindendes aufgefasst, welche Überwindung aber immer noch konkret verhindert wird. Das Argument geht zunächst von der streng aufklärerischen Prämisse aus, dass die gesellschaftliche Realität nach Maßstäben der Vernunft durchgängig eingerichtet werden könne, dass etwas in ihr aber immer noch großen, im Grunde undurchschaubaren Widerstand dagegen leiste. Gemeint sind hier nicht allein die katastrophalen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die für die negative Dialektik hauptsächlich unter dem Namen Auschwitz zusammenzufassen sind und das schlechthinnige Scheitern des Projekts der Aufklärung und der Vernunft selbst symbolisieren. Es handelt sich darüber hinaus und wohl in erster Linie um „die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft“, nämlich: „daß keiner mehr hungern soll“193. Der Vorrang des Objekts ist in diesem Sinne ein Ausdruck dafür, dass sich die Realität den Subjekten als opak zeigt, dass die Gestaltung der menschlichen Welt durch Vernunftprinzipien in weitem Maße widerspenstig bleibt. Das Wort „Objekt“ fungiert hier damit als Ausdruck aller Hindernisse, die eine vernünftige – in diesem Sinne „subjektive“ – Gesellschaftsgestaltung hemmen: Die gesellschaftliche Realität könnte zwar durchaus nach Maßstäben der Vernunft eingerichtet werden, doch etwas in ihr leistet großen Widerstand dagegen. Was ist dieses Etwas, das sich in diesem Sinne den Menschen als eine rätselhafte, undurchsichtige und fremde Dinglichkeit präsentiert? Der so konzipierte Vorrang des Objekts 191 192 193 GS6, S. 354. GS6, S. 187. GS4, S. 178. 112 ist in gewissem Sinne eine Antwort auf die intuitive und größtenteils „naive“ Frage, die seitens des gesunden Menschenverstandes angesichts flagranter Ungerechtigkeit oft gestellt wird: „Warum machen die Menschen nichts dagegen?“ Man könnte die „Ohnmacht des Geistes“ in der Einrichtung der Realität, von der hier die Rede ist, auch anhand des bekannten Tagebucheintrags Kafkas illustrieren: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“ 194 . Was könnte man in seiner Winzigkeit gegen den Weltlauf machen? Doch warum fühlt man sich so ohnmächtig, wenn letztlich die gesellschaftliche Welt aus nichts anderem als aus Verhältnissen von Menschen besteht, die grundsätzlich durchschaubar und vernünftig veränderbar sein müssen? Noch wichtiger an diesem Argument ist seine indirekte Schlussfolgerung: „An den Stellen, wo die subjektive Vernunft subjektive Zufälligkeit wittert, schimmert der Vorrang des Objekts durch; das an diesem, was nicht subjektive Zutat ist. Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens von Objekt; das hat auch fürs Verhältnis von Theorie und Praxis seine Konsequenz“ 195 . Der historisch-gesellschaftliche Vorrang des Objekts impliziert nichts anderes, als dass eine durchaus vernunftgemäße Einrichtung der gesellschaftlichen Realität möglich ist und folglich deren Opazität durchbrochen werden kann, die es verhindert, dass die Subjekte sie als durchlässig betrachten und nach Maßstäben der Vernunft gestalten. Diese Opazität hat in der Denktradition der kritischen Theorie seit Marx in dem Begriff des Fetischcharakters der Ware philosophischen Ausdruck erhalten, der für die undurchsichtige Dinglichkeit der Welt verantwortlich sein soll. Diesem Gedankengang zufolge wäre die entfremdete Dinglichkeit der Welt – in kritischer Terminologie: die Verdinglichung – dann überwunden, wenn eine vernunftgemäße Einrichtung der menschlichen Welt erreicht wäre, in der die Subjekte die menschliche Welt als Produkt ihrer Arbeit – und folglich ihrer Bestimmung – wiedererkennen könnten: „Trotz des Vorrangs des Objekts ist die Dinghaftigkeit der Welt auch Schein. Sie verleitet die Subjekte dazu, das gesellschaftliche Verhältnis ihrer Produktion den Dingen an sich zuzuschreiben. Das wird im Marxschen Fetischkapitel entfaltet, wahrhaft einem Stück Erbe der klassischen deutschen Philosophie“196. So redet Adorno konsequenterweise von einer „Aufhebung [des Materialismus], [der] Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung“197. Indirekt ist dieses Argument insofern, als es vom jetzigen Stand der gesellschaftlichen Welt ausgeht, um den vom Idealismus vertretenen Pri194 195 196 197 Tagebucheintrag Kafkas vom 2. August 1914. Kafka (1983), S. 305. GS10.2, S. 752. GS6, S. 190. GS6, S. 207. Ich werde im vierten Kapitel auf diesen Sachverhalt ausführlich zurückkommen. 113 mat des Subjekts zu widerlegen. Es lautet dementsprechend: Wäre das Subjekt sowohl logisch als auch genetisch gegenüber dem Objekt tatsächlich primär und konstituierend, dann wäre die objektive Welt ihm vernünftig und durchsichtig gestaltbar, was (offensichtlich und bisher) falsch ist. Ergo: Das Primat des Subjekts und mit ihm der Idealismus sind korrekturbedürftig. (d) Vorrang des Objekts: anthropologisches Argument Das anthropologische Hilfsargument zur Plausibilisierung des Vorrangs des Objekts ist in weitem Maße naturalistisch inspiriert und betrifft die Phylogenese der menschlichen Gattung. Es lautet: „Genetisch ist das verselbständigte Bewußtsein, Inbegriff des Tätigen in den Erkenntnisleistungen, abgezweigt von der libidinösen Energie des Gattungswesens Mensch. Dagegen ist sein Wesen nicht indifferent; keineswegs definiert es, wie bei Husserl, die ‚Sphäre absoluter Ursprünge‘. Bewußtsein ist Funktion des lebendigen Subjekts, sein Begriff nach dessen Bild geformt. Das ist aus seinem eigenen Sinn nicht zu exorzieren“198. Nach aller Evidenz geht Adorno hier von einem naturwissenschaftlichen Argumentationsmuster aus: Bewusstsein ist das letzte Produkt der Naturgeschichte, das die gesamte vorherige Entwicklung sowohl des Anorganischen als auch des Organischen voraussetzt. Adorno ist sich im Klaren darüber, dass dieses phylogenetische Argument an sich nicht hinreichend ist, um den Vorrang des Objekts zu begründen. Denn der Idealismus kann dagegen argumentieren, dass der genetische Ursprung des Geistigen aus der Natur ja nicht den logischen Vorrang des Objekts gegenüber der Subjektivität notwendigerweise implizieren müsse. In einem Wort: Genese ist nicht Geltung. So wird für die Begründung des Vorrangs des Objekts noch die Behauptung nötig, dass das Bewusstsein als „modifiziert leibhafter Impuls“199 von dem Körperlichen, Leibhaften und Materiellen nicht abzulösen und noch innerlich durch es bestimmt sei, sodass das Geistige auch logisch nur mit Rekurs auf die Natur erklärbar sei. Hier vertritt Adorno eine Art dialektischer Emergenztheorie des Geistes: Dass die epistemischen Vermögen des Menschen aus vorepistemischen stammen und sich von diesen nicht ablösen lassen, muss nicht – so die größte Herausforderung der negativen Dialektik – einen Rückfall in den nackten Physikalismus implizieren. Diese vorepistemischen Verhaltensweisen des Menschen nun, die im Ursprung des Rationalen zu lokalisieren sind, fasst Adorno unter der Kategorie des Mimetischen zusammen200. Zwar bedeutet Mimesis im Einklang mit der Tradition die imitatio, wie Benjamin sie definiert: die Fähig198 199 200 GS6, S. 186. GS6, S. 204. Vgl. Morgan (2017). 114 keit, „ähnlich zu werden und sich zu verhalten“201. Doch sie entspricht bei Adorno auch dem philosophischen Problemtitel, der über die imitatio hinaus rezeptive, emotionale, projektive und ästhetische Verhaltensweisen umfasst, die ihrerseits nicht rein begrifflich vermittelt und im Wesentlichen leiblich gebunden sind. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wird das mimetische Verhalten tendenziell zu einem Tabu, was dazu führt, dass die Mimesis (immer neutralisierter) Zuflucht in der Kunst findet. Sie bleibt aber der Erkenntnis konstitutiv. So schreibt Adorno in der Metakritik: Ist Rationalität insgesamt die Entmythologisierung mimetischer Verhaltensweisen, so kann es nicht wundernehmen, daß das mimetische Motiv in der Reflexion auf die Erkenntnis sich am Leben erhält; vielleicht nicht bloß als archaisches Rudiment, sondern weil Erkenntnis selber ohne den wie immer auch sublimierten Zusatz von Mimesis nicht konzipiert werden kann: ohne sie wäre der Bruch von Subjekt und Objekt absolut und Erkenntnis unmöglich.202 Zwar wurde diese Hypothese bereits in der Dialektik der Aufklärung ausgearbeitet203, sie bleibt aber darüber hinaus nicht nur für die Metakritik, sondern auch für die negative Dialektik zentral. Auch Letztere lokalisiert in dem Mimetischen den Ursprung des Rationalen, das seinerseits nicht als von jenem gänzlich autonom gedacht werden könne – was wiederum Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt sei: In ihrem Postulat, dem des Vermögens zur Erfahrung des Objekts – und Differenziertheit ist dessen zur subjektiven Reaktionsform gewordene Erfahrung – findet das mimetische Moment der Erkenntnis Zuflucht, das der Wahlverwandtschaft von Erkennendem und Erkanntem. Im Gesamtprozeß der Aufklärung bröckelt dies Moment allmählich ab. Aber er beseitigt es nicht ganz, wofern er nicht sich selbst annullieren will. Noch in der Konzeption rationaler Erkenntnis, bar aller Affinität, lebt das Tasten nach jener Konkordanz fort, die einmal der magischen Täuschung fraglos war. Wäre dies Moment gänzlich getilgt, so würde die Möglichkeit, daß Subjekt Objekt erkennt, unverständlich schlechthin, die losgelassene Rationalität irrational. Das mimetische Moment seinerseits jedoch verschmilzt auf der Bahn seiner Säkularisierung mit dem rationalen“204. Auch hier wird der Vorrang des Objekts nur indirekt indiziert: Das Argument vermag lediglich, den genetischen Vorrang der Natur gegenüber 201 202 203 204 Benjamin (1977), S. 210. GS5, S. 147, Fußnote 2. GS3, S. 42ff. GS6, S. 55 115 dem Geist zu begründen und den Geist emergenztheoretisch zu spezifizieren. Es ist aber insofern wichtig, als die vorherigen Argumente nur die logische Dimension des Vorrangs des Objekts berücksichtigt haben. Nun erst wird sein voller Anspruch eingelöst. *** An dieser Stelle lässt sich bereits die Grundoperation der negativen Dialektik mit wenigen Worten zusammenfassen. Zwar stellt der Vorrang des Objekts den Inbegriff des negativ-dialektischen Materialismus dar, doch er wird nur infolge der voll ausgeführten Identitätsproblematik gewonnen, wie sie der Idealismus aufgrund seiner eigenen Konsequenz erreicht hat. Erst der absolute Idealismus hat den dialektischen Charakter des Denkens zur Sprache gebracht, dem zufolge es unabdingbar mit Nichtidentischem verbunden ist. Wie Adorno schreibt: „Denken ist an Seiendes gekettet“205. So wird der negativ-dialektische Materialismus, der mit dem Vorrang des Objekts im Grunde zusammenfällt, nicht dem Idealismus bloß entgegengestellt, sondern aus ihm kritisch-immanent gewonnen. Die beiden Thesen nun, durch die die Grundoperation der negativen Dialektik wiedergegeben wurde – 1. Identität und Nichtidentisches sind gegenseitig vermittelt, und 2. Nichtidentisches ist vorrangig gegenüber Identität –, dürfen in diesem Sinne zwar eine gewisse Kontrarietät ausdrücken, doch die zweite, die materialistische These steht vielmehr in einem Komplementaritätsverhältnis zur ersten, der kritisch-idealistischen. „Der Vorrang des Objekts wird aus dem defizienten Modus des idealistischen Vermittlungsbegriffs gewonnen und nicht durch die Negation des Vorrangs des Subjekts“, schreibt Thyen. „Erst aus jenem defizienten Modus läßt sich das Ungleichgewicht von Subjekt und Objekt ableiten“206. Reduziert man logisch den Inbegriff der negativen Dialektik auf diese Thesen, dann wird – wie gesagt – die Konsistenz des negativ-dialektischen Materialismus grundsätzlich von dem Übergang von der ersten zur zweiten These abhängen. Denn der Idealismus hat sich bereits um die Konsistenz der ersten These bemüht. Indem er alle möglichen Implikationen und Bedingungen von der durchgängigen Vermittlung von Subjekt und Objekt ausbuchstabiert hat, hat er so die Artikulationsschwierigkeiten freigelegt, zu denen die Selbstreflexion des Subjekts immanent führt. So hat der späte Idealismus das Problem des Begründungszirkels der Reflexion offenbart, die das Sein entweder nur unendlich voraussetzen kann (Hegel) oder transreflexiv setzen muss (Schelling). Die negative Dialektik reflektiert sowohl die Artikulationsschwierigkeiten selbst als auch beide Antwortvorschläge; sie ist aber der Hegel’schen Variante grundsätzlich ver205 206 GS6, S. 109, Fußnote. Thyen (1989), S. 208. 116 pflichtet, der zufolge die Subjekt-Objekt-Relation als autark aufzufassen ist: „Nichts ist möglich als die bestimmte Negation der Einzelmomente, durch welche Subjekt und Objekt absolut entgegengesetzt und eben dadurch miteinander identifiziert werden. Subjekt ist in Wahrheit nie ganz Subjekt, Objekt nie ganz Objekt; dennoch beide nicht aus einem Dritten herausgestückt, das sie transzendierte. Das Dritte tröge nicht minder“207. Als eine interne Berichtigung der Hegel’schen Variante könnte der Vorrang des Objekts so als der Versuch interpretiert werden, den Artikulationsschwierigkeiten des späten Idealismus – und mit ihm der gesamten Subjektphilosophie – identitätskritisch zu entgehen, ohne aber – wie bei dem späten Schelling und der neueren Ontologie – ein transreflexives Sein setzen zu müssen. Wir sahen, wie Hegel Identität und Unterschied derart miteinander in Verbindung bringt, dass er eine jegliche feste Objektbestimmung in ihr Entgegengesetztes überführen und jedes Ding als immanent widersprüchlich auffassen kann: „‚Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend‘, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke“208. Doch Hegel konnte das Wirkliche nur deshalb so auffassen, weil er über einen Begriff absoluter Identität verfügte, der das Objekt als immer schon da gewesenes Subjekt expliziert. So ist auch für ihn das Objekt notwendigerweise qualitativ reicher und bestimmungsvoller als ein jeglicher Einzelbegriff, unter der es subsumierbar ist, weil es sich als aufgrund absoluter Identität Widersprüchliches auch als lebendige Ganzheit begreifen lässt. Alle Dinge sind in diesem Sinne zwar an sich widersprechend, doch am Orte des Absoluten als Ganzheit spekulativ auflöslich. So fungiert laut der negativdialektischen Interpretation der Geschichte des Idealismus das Subjekt bei Hegel letztendlich – und wohl wider Willen – doch als Erstes. Mit dem Vorrang des Objekts besteht die negative Dialektik umgekehrt darauf, dass das Objekt unauflöslich sei. Während sie die Unterstellung beibehält, dass „jeder einzelne unter eine Klasse subsumierte Gegenstand Bestimmungen hat, die in der Definition seiner Klasse nicht enthalten sind“209, verfügt sie nicht mehr über den Begriff absoluter Identität, der jene Unterstellung bei Hegel erst konsistent machte. So ist auch für die negative Dialektik das Objekt zwar notwendigerweise qualitativ reicher als eine jegliche einzelne Bestimmung, doch eben als solche unauflöslich. Mit dem Idealismus fasst die negative Dialektik das Objekt so als unendlich, doch gegen den Idealismus als eine prinzipiell unauflösliche Unendlichkeit: „Die traditionelle Philosophie glaubt, ihren Gegenstand als unendlichen zu besitzen, und wird darüber als Philosophie endlich, abschlußhaft. Eine veränderte müßte jenen Anspruch kassieren, nicht 207 208 209 GS6, S. 177. WW5, S. 74. GS6, S. 153. 117 länger sich und anderen einreden, sie verfüge übers Unendliche. Sie würde aber statt dessen selber, zart verstanden, unendlich insofern, als sie verschmäht, in einem Corpus zählbarer Theoreme sich zu fixieren“210. „Ein jegliches Seiendes ist mehr, als es ist“.211 „Was ist, ist mehr, als es ist“212. Die These des Vorranges des Objekts greift aber nicht nur in die strukturelle Rolle der Objektivität, sondern auch in die der Subjektivität im Erkenntnisprozess ein. Dies zeigt sich auch anhand der konstitutionstheoretischen Schlussfolgerung Adornos, derzufolge „Subjekt in Wahrheit nie ganz Subjekt [ist], Objekt nie ganz Objekt“213, weil sie „sich durch einander [konstituieren], wie sie vermöge solcher Konstitution auseinandertreten“214. Dass das Subjekt nie ganz Subjekt sei, ist zunächst eine interne Konsequenz des Vorranges des Objekts selber. Denn wir sahen, dass er eine phylogenetische Dimension enthält, derzufolge „das verselbständigte Bewußtsein, Inbegriff des Tätigen in den Erkenntnisleistungen, [genetisch] abgezweigt [ist] von der libidinösen Energie des Gattungswesens Mensch (…) Bewusstsein ist Funktion des lebendigen Subjekts, sein Begriff nach dessen Bild geformt. Das ist aus seinem eigenen Sinn nicht zu exorzieren“215. Ist Bewusstsein in diesem Sinne notwendigerweise leiblich gebunden, dann bedeutet dies zugleich, dass das Subjekt eben nur auch als Objekt konzipiert werden könne und folglich tatsächlich nie ganz Subjekt sei. Rationalität, das Subjektsein selbst bleibt in diesem Sinne immer dem Objektsein angehaftet. Sind Subjekt und Objekt nie ganz sich selbst, weil sie sich durch das jeweils Andere konstituieren und so auch aus einander auseinandertreten, dann bestünde die intuitive Schlussfolgerung darin, dass beide aus einem Dritten wie Sein, Natur oder Gesellschaft entstehen, das seinerseits das wahrlich Konstitutive wäre und aus dem man eine Ontologie oder eine Art object-oriented ontology ausbuchstabieren könnte. Doch eben diese Schlussfolgerung wird von der negativen Dialektik anhand einer ausführlichen Ontologiekritik kritisch verhindert: „[d]ennoch beide nicht aus einem Dritten herausgestückt, das sie transzendierte. Das Dritte tröge nicht minder“ 216 . Diese Ontologiekritik, die das Wesen des negativdialektischen Materialismus vervollständigt, ist der Gegenstand des nächsten Kapitels. 210 GS6, S. 25. GS6, S. 109. 212 GS6, S. 164. 213 GS6, S. 177. 214 GS6, S. 176 215 GS6, S. 186. 216 GS6, S. 177 211 118 B. Identität als Übergangskategorie Wir sind von der Feststellung ausgegangen, dass „Identität“ bereits von einem rein philosophischen Standpunkt aus eine vieldeutige und problematische Kategorie ist. Das westliche Denken ist seit Beginn der Neuzeit nicht nur der Problemhaftigkeit des Identitätsbegriffs theoretisch innegeworden, sondern hat ihn dann – folgt man beispielsweise Hume – für einen der dunkelsten Begriffe des philosophischen Vokabulars gehalten. Die Denksysteme des Deutschen Idealismus haben vielleicht den wirkungsmächtigsten Versuch unternommen, die verschiedenen philosophischen Bedeutungsebenen von Identität anhand eines Begriffs absoluter Identität zu integrieren. Dabei werden formallogische, ontologische, ichtheoretische und vermittlungstheoretische Dimensionen des Identitätsbegriffs philosophisch artikuliert. Die negative Dialektik geht von diesem idealistischen Integrierungsversuch aus und sucht, wie wir sahen, ihn kritisch-materialistisch zu wenden. Dabei besteht sie auf der eigentlichen Prämisse des absoluten Idealismus über das immanente Vermitteltsein von Identität und Nichtidentität, um ihre identitätskritische Grundoperation aus ihr zu entfalten. Als solche vollzieht sie sich im Rahmen der Selbstreflexion des Subjekts innerhalb seiner eigenen Erkenntnisvermögen, die sie zwar immanent kritisiert, doch nicht verlässt. Wie ich bei der Diskussion über die Rezeptionsgeschichte der negativen Dialektik thematisiert habe, entspricht die Selbstreflexion des Subjekts dem einen Gedankenstrom negativer Dialektik, der zwar ihr grundlegender ist, jedoch von dem gesellschaftstheoretischem komplementiert wird. So hat die Rezeptionsgeschichte des Werkes das Problem massiv beschäftigt, ob Adorno es gelungen ist, beide Gedankenströme miteinander zu verbinden und so den vollen Anspruch negativer Dialektik, Gesellschaftskritik und Erkenntniskritik in einem zu sein, tatsächlich einzuhalten: „Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt“217. Wohl aufgrund ihrer eigenen Vieldeutigkeit soll die Identitätskategorie als Bindeglied zwischen beiden Gedankenströmen dienen. Deshalb verlässt die Identitätsproblematik in der negativen Dialektik die Logik der Selbstreflexion und erreicht auch andere, oft metaphorisch wirkende Dimensionen, die aber immer noch der innerhalb der Logik der Selbstreflexion ausgearbeiteten Dialektik von Identität und Nichtidentität zu folgen scheint. Wie soll nun – ihrem Anspruch nach – die Identitätskategorie Kritik an der Gesellschaft und Erkenntniskritik miteinander verbinden? An einer zentralen Stelle der Negativen Dialektik schreibt Adorno: 217 GS10.2, S. 748. 119 Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität (…). Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch. Hat ihn die kritische Theorie als den von Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes toleriert. Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.218 Es handelt sich um ein Isomorphieverhältnis – eine „Urverwandtschaft“ – zwischen dem kategorialen Gefüge des durchgearbeiteten Identitätsdenkens in Gestalt der Hegel’schen Philosophie einerseits und der spätkapitalistischen Gesellschaft andererseits. Diese Isomorphie soll grundsätzlich darin bestehen, dass beide umfassend auf Identität basiert sind: das Identitätsdenken auf dem Identitätsprinzip, das das Denken immanent konstituiert und zum System ebenso immanent führt; die spätkapitalistische Gesellschaft auf dem aus der Warenform abgeleiteten Tauschprinzip, das seinerseits „urverwandt“ mit dem Identifikationsprinzip ist. Das dialektisch konzipierte Identitätsprinzip formiert so den zu Ende gedachten Systemgedanken innerlich, während das ebenfalls identitätsstiftende Tauschprinzip vom Gebrauchswert der jeweiligen Waren abstrahiert und sie miteinander vom Standpunkt der durchschnittlichen Arbeitszeit aus identisch, kommensurabel macht. Mit dem tendenziellen Ausschluss nichtkapitalistischer Räume im Spätkapitalismus wird das Tauschprinzip nun so ausgeweitet, dass die ganze Welt „zum Identischen, zur Totalität“219 gemacht wird. Die negative Dialektik geht von diesem Isomorphieverhältnis aus und will so eine vermittelte Rekonstruktion des Grundprinzips der kapitalistischen Gesellschaft selbst sein. Besteht tatsächlich dieses Isomorphieverhältnis zwischen Identitätsprinzip und Tauschprinzip, dann entspricht die Identitätskritik, die die negative Dialektik zu leisten versucht, der Grundlogik einer spätkapitalistischen Gesellschaftskritik. Das macht, wie gesagt, den vollen Begriff der negativen Dialektik als Zusammenführung erkenntnis- 218 219 GS6, S. 149f. GS6, S. 149. 120 theoretischer Identitätskritik und spätkapitalistischer Gesellschaftskritik aus. Die kritische Theorie der Gesellschaft hat sich von Anfang an darum bemüht, die Logik und die Voraussetzungen dieser Zusammenführung stringent freizulegen. Denn ihr eigener Begriff enthält eben die Prämisse, dass Gesellschaftskritik erst auf der Grundlage einer umfassenden Erkenntniskritik konsistent durchgeführt werden kann. Die Kritische Theorie hat sich daher schon immer dadurch ausgezeichnet, beide Ebenen in ihren Analysen in Verbindung zu bringen, auch wenn dies oft im Bereich des Essayistischen und gar Metaphorischen verblieben ist. Das gilt auch für Adorno: Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass er sich lebenslang um das theoretische Bindeglied bemüht hat, das diese Zusammenführung erlaubt. Wenn er in der Negativen Dialektik diese Zusammenführung als isomorphisch unter der Kategorie der Identität zu fassen sucht, ist dies das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung Adornos, die sich zumindest bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen lässt220. Seitdem stand er in Austausch mit seinem Kollegen im Institut für Sozialforschung Alfred SohnRethel, der, wie es in der Negativen Dialektik heißt, „zuerst darauf aufmerksam gemacht [hat], daß in ihm [im Transzendentalen – D. P.], der allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geistes, unabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt“221. Bereits in den 30er Jahren hat Sohn-Rethel den Versuch unternommen, eine marxistische Erkenntnistheorie zu entwickeln, die grundsätzlich in der Ableitung eines, wie er es nannte, „abstrakten“ oder „rationalen Denkens“ aus der Marx’schen Wertform bestehen sollte. Es handelt sich tatsächlich um nichts Geringeres als den Nachweis, „daß die logische Formbestimmtheit des rationalen Denkens in direkter Weise von der Formbestimmtheit des Waren-Geld-Austausches bedingt ist“ 222 . Dabei glaubt Sohn-Rethel plausibilisieren zu können, dass die Abstraktionsleistungen, die die Ware als „Quantität schlechthin“223 unter Ausschluss aller qualitativen Bestimmtheiten zu fassen erlauben und folglich Voraussetzung des Tauschvorganges sind, im Grunde dieselben kognitiven Abstraktionsleistungen sind, die der Formbestimmtheit des „abstrakten Denkens“ entsprechen: „Diese Quantität an sich oder in abstracto ist wie die Tauschgleichung, aus der sie entspringt, relationaler Natur und haftet wiederum wie die Tauschgleichung am Akt des Tauschvollzuges (…). Es ist diese absolute, von Qualität überhaupt ‚abgelöste‘ Quantität relationa- 220 221 222 223 Vgl. Pettazzi (1983). GS6, S. 178. Sohn-Rethel (1978), S. 40. Sohn-Rethel (1973), S. 75. 121 ler Natur, welche dem reinen mathematischen Denken als Formbestimmtheit zugrundeliegt“224. Aus dieser Beschreibung des Programms Sohn-Rethels lässt sich bereits ersehen, welche Schwierigkeiten sein direktes Ableitungsverhältnis von Real- und Denkabstraktion bereitet. Wird dieses Verhältnis radikalisiert, wie Sohn-Rethel selbst in Gestalt einer „Liquidierung des Apriorismus“ programmatisch intendiert, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass alles „abstrakte“ bzw. „rationale Denken“ auf die abstrahierende Rationalität des Tausches zurückgeführt werden müsste. Aus dieser Rückführung würde sich dann ergeben, dass „Denken“ wahrlich zu einem bloßen Epiphänomen der Tauschrationalität herabgesetzt werden müsste225. Dies impliziert erstens, dass eine so konzipierte marxistische Erkenntnistheorie paradoxerweise die offensichtlichen Intentionen der Gesellschaftsanalyse von Marx nicht mehr rational begründen könnte, die ja von der prinzipiellen Transformierbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse aufgrund kollektiver Aktion ausgeht. Zweitens könnte man nicht mehr die normativen Prinzipien des Ideologieverdachts in Bezug auf theoretische Gebilde explizieren, da alle „abstrakte“ Erkenntnis und wohl alles Denken an der Tauschlogik teilhätte und so prinzipiell als ideologisch bestimmt werden könnte. Seine Forderung an die materialistische Theoriebildung, „daß in ihr keine Kategorien verwandt werden, von denen man nicht weiß, von welchen Produktionsverhältnissen sie bedingt sind“226, wäre folglich schwerlich haltbar – denn abgesehen von der konkreten kategorialen Auswahl wäre „rationales Denken“ bereits rein formell an der Tauschlogik gebunden. Sohn-Rethels aporetischem Versuch fehlt daher, in einem Wort, Vermittlung. Indem er behauptet, dass das Tauschprinzip „urverwandt mit dem Identifikationsprinzip [ist]“, dass dieses „sein gesellschaftliches Modell“ am Tausch hat, scheint Adorno mit Sohn-Rethel prinzipiell übereinzustimmen. Es ist aber leicht zu erkennen, wie Adorno Sohn-Rethels Argumentation nur auf Kosten großer Inkonsistenzen in der Konstruktion der negativen Dialektik folgen kann: Will der eine Gedankenstrom der negativen Dialektik eben die Dialektik des Nichtidentischen in Auseinandersetzung mit dem Identitätsdenken reflektieren und Nichtidentität so als kritische Kategorie par excellence freilegen, würde das direkte Ableitungsverhältnis Sohn-Rethels von Real- und Denkabstraktion, das den gesellschaftstheoretischen Gedankenstrom negativer Dialektik gründen soll, gerade dies unmöglich machen. Thyen schreibt treffend, dass, „folgt man Sohn-Rethel, der Topos ‚Nichtidentität‘, insofern er an die Erfahrungsgehalte empirischer Subjekte gebunden ist, obsolet würde (…). Die 224 225 226 Sohn-Rethel (1973), S. 75. Thyen (1989), S. 188. Sohn-Rethel (1978), S. 29. 122 Erklärungsversuche der materialistischen Erkenntnistheorie fallen, weil sie das Verhältnis von Warenform und Denkform reduktionistisch behandelt, selbst unter die Kritik des Identitätsdenkens“227. Wohl aus diesem Grund sind die Ausführungen in der negativen Dialektik, die sich der Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel widmen, ziemlich begrenzt. Sohn-Rethel scheint Adornos allgemeine Intuition zwar zu bekräftigen, der zufolge ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Identitätsdenken und der Tauschlogik besteht, doch weder er noch Adorno selbst vermögen diese Zusammenhangslogik konsistent zu explizieren, ohne die Grundlage der Dialektik des Nichtidentischen fatal zu treffen. So beschränkt sich Adorno auf den Hinweis, es besteht eine „Urverwandtschaft“ zwischen Tauschprinzip und Identitätsprinzip, doch anders als Sohn-Rethel deutet er diese Urverwandtschaft nicht als direktes, wohl unvermitteltes Ableitungsverhältnis, sondern vorsichtiger als Isomorphieverhältnis. Adornos Argument gewinnt somit eher den Status einer exemplifizierenden und plausibilisierenden Analogie. Doch als Analogie leuchtet Adornos Versuch, Identität als Übergangskategorie zwischen Erkenntniskritik und Gesellschaftstheorie zu deuten, eben die identitätskritische Grundoperation der negativen Dialektik ein. Besteht man auf die Dialektik des Nichtidentischen, wie sie der eine Gedankenstrom der negativen Dialektik freilegt, dann führt die Rede von einem Isomorphieverhältnis zwischen Identifikationsprinzip und Tauschprinzip zu der Analogie, dass Identität dem Tauschwert, Nichtidentität dem Gebrauchswert entspricht und beide korrelieren, während der Gebrauchswert aber wiederum als materiale Grundlage für allen Tausch fungieren soll. Adorno weist explizit auf diesen Umstand hin, wenn er schreibt, dass „es aber gleichwohl des nicht unter die Identität zu Subsumierenden – nach der Marxischen Terminologie des Gebrauchswerts – bedarf, damit Leben überhaupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhältnissen, fortdauere, ist das Ineffabile der Utopie“228. Man sieht ein, wie hier der Vorrang des Objekts analog enthalten ist: Bei aller Ausbreitung des Tauschprinzips im Spätkapitalismus muss ein „nicht unter es zu Subsumierendes“ – ein unauflösliches Etwas, der Gebrauchswert – vorausgesetzt werden, damit Tausch überhaupt zustande kommt. Mit der Totalisierung des Tausches – des Identischen – wird dieser Gebrauchswert aber nur als das Negative zugänglich. So erlaubt es der Vorrang des Objekts, anders gesagt, alle Objektivität auch hier unter dem Standpunkt des Antinomischen zu fassen. 227 228 Thyen (1989), S. 191. GS6, S. 22. 123 C. Negative Dialektik und Identität: Zusammenfassung In diesem Abschnitt habe ich versucht, die Grundoperation der negativen Dialektik anhand zweier einfacher Thesen zur Sprache zu bringen: 1. Identität und Nichtidentisches sind gegenseitig vermittelt, und 2. Nichtidentität ist primär gegenüber der Identität. Es wurde dabei erörtert, dass beide Sätze nicht bloß in einem Kontrarietäts-, sondern vielmehr in einem dialektischen Komplementaritätsverhältnis zueinander stehen. Denn der im zweiten Satz enthaltene Vorrang des Objekts wird erst aus der defizienten Vermittlungsstruktur gewonnen, die der erste Satz ausdrückt und die auch der voll ausgeführte absolute Idealismus aufgrund der absoluten Identitätsthese vertritt. Auch habe ich den Versuch unternommen, die andere, dieser Grundoperation untergeordnete Übergangsdimension der Identität zu problematisieren. Indem sie von der absolut-idealistischen These der durchgängigen Vermittlung von Subjekt und Objekt ausgeht, setzt die negative Dialektik so die gesamte Entwicklung des Idealismus voraus. Doch mit ihrer identitätskritischen Grundoperation, die der Konstruktion des Vorrangs des Objekts entspricht, will sie zugleich in diese Entwicklung eingreifen und den Idealismus kritisch-materialistisch an seine immanenten Grenzen führen. Der Vorrang des Objekts wird aber immerhin, wie wir sahen, als eine interne Berichtigung der Hegel’schen Vermittlungskonstruktion konzipiert, die ja aus den Artikulationsschwierigkeiten des späten Idealismus immanent erwächst. Die Konstruktion des Vorrangs des Objekts ist ihrem eigenen Anspruch nach Teil der Logik der Selbstreflexion. Doch aufgrund ihrer Grundoperation nimmt die negative Dialektik eine Position sui generis zwischen den Denkmodellen ein, die das Instrumentarium der neuzeitlichen Philosophie reflektieren. Diese Position der negativen Dialektik könnte auch graphisch dargestellt werden: 124 Figurativ kann man die Position der negativen Dialektik zwischen den anderen Denkmodellen deutlicher ersehen. Indem der klassische Materialismus Sein und Geist als grundsätzlich materiell fasst, behauptet er den konstituierenden Charakter des Seins und die Erkennbarkeit beider, die ja letztendlich gleicher Natur sind. Die kopernikanische Wende Kants zeichnet sich nun durch die doppelte Operation aus, dass das mit dem Geist unkorrelierte Ansich entabsolutiert wird und jenem allein konstituierender Charakter zugesprochen wird. Doch sofern die transzendentale Erkenntnisweise keine starke ontologische These unterstellen muss, lässt sie die Denkbarkeit eines mit Geist unkorrelierten Ansich zu. Weil der darauffolgende absolute Idealismus die Denkbarkeit eines Ansich für eine interne Inkonsistenz des kantischen Projekts hält, negiert er sogar eine bloße Denkbarkeit und affirmiert die Einheit von Sein und Denken am Ort des Absoluten. Daraus ergibt sich notwendig der konstituierende Charakter von Geist. Die negative Dialektik nimmt nun eine Zwischenposition ein: Mit Kant und dem Idealismus, doch gegen den klassischen Materialismus fasst auch sie Subjektivität wenn nicht als konstituierend, so doch als aktive Instanz auf, die sich der Objektivität gegenüber nicht bloß hinnehmend verhält. Hier ist ihre kritische Dimension enthalten. Mit Kant, doch gegen den Idealismus behauptet sie, dass Erkenntnis die Denkbarkeit eines unkorrelierten Seins notwendigerweise voraussetzt, das sie nun aber – gegen Kant und den Idealismus, doch mit dem klassischen Materialismus – aufgrund des Vorranges des Objekts zudem als konstituierend deutet. Hier ist nicht nur ihre materialistische Dimension, sondern auch ihre eigentliche Herausforderung inbegriffen. 125 § 9. Dialektik und Antinomie: Kant, Hegel, Adorno Dass die Antinomie der reinen Vernunft einen fruchtbaren explikativen Weg in die internen Entfaltungen und Verwicklungen der klassischen deutschen Philosophie darstellt, bedarf nur einer kurzen historischen Betrachtung. Nachdem sie Kant wohl als Kernstück der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft zum Begriff brachte, wurde sie immer wieder im nachkantischen Idealismus als Vorbild dessen referiert, wie sich die menschliche Vernunft das Absolute – nämlich: durch Antinomien – denken kann. Es wäre dann nicht übertrieben zu behaupten, dass sie im Laufe des nachkantischen Idealismus immer mehr an Wichtigkeit gewinnt, bis Hegel sie – wie wir unten im Detail sehen werden – wohl als das wichtigste, die darauffolgenden Denkbewegungen unabdingbar bestimmende Lehrstück der kantischen Philosophie fasste. Wohl aus diesem Grund hat Brian O’Connor vorgeschlagen, die Antinomienlehre als Vergleichungsmaßstab nicht nur für die interne Entwicklungslogik der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch für nachidealistische Denkmodelle wie die negative Dialektik zu nehmen229. Auch Jürgen Ritsert hat jüngst das Wesen moderner Dialektik aus der Antinomienlehre darzulegen versucht230. Diese wird von Kant über Hegel bis Adorno so bearbeitet und uminterpretiert, dass sie einen solchen Vergleichungsmaßstab zu bieten vermag. Ich folge O’Connors Vorschlag und versuche im Weiteren, die Entfaltung der Antinomienlehre etwas ausführlicher darzustellen, als er dies getan hat – auch wenn ich den Grundlinien seiner Argumentation durchaus zustimme. Allgemeines Ziel dieses Abschnitts ist es daher, Adornos Interpretation – und Weiterführung – der Denkentwicklung der klassischen deutschen Philosophie und so seine eigene Auffassung der negativen Dialektik als kritischer Materialismus weiter zu vertiefen. Ich rekonstruiere die Antinomienlehre bei Kant, Hegel und Adorno jeweils anhand (a) des Grundes für die Entstehung der Antinomie der Vernunft, (b) der Methode ihrer Entfaltung und Darstellung und letztlich (c) des Schlüssels zu ihrer Auflösung. Kant (a) Entstehung: Eigentümlich für die kantische Behandlung der Antinomie der reinen Vernunft mit Blick auf deren Entstehung ist ihr natürlicher und unvermeidlicher Charakter: Die Vernunft ist laut Kant von Natur aus so gestaltet, dass sie sich schon aus ihrem elementaren logischen Gebrauch notwendigerweise in Antinomien verwickelt. Es handelt sich dabei um keine willkürliche Operation des Dialektikers, sondern um eine Verwurze229 230 O’Connor (2004), S. 25–28. Ritsert (2017), S. 37ff. 126 lung der Antinomie in der menschlichen Vernunft. Die Antinomie entsteht nach Kant immer dann, wenn die Vernunft die absolute Reihe der Bedingungen eines gegebenen Bedingten sucht – wenn sie regressiv, aus einer gegebenen bedingten Erscheinung die komplette Reihe ihrer Bedingungen zu vervollständigen versucht, ohne die diese Erscheinung nicht möglich wäre. So lautet der unvermeidliche Grundsatz, den sich Kant zufolge die Vernunft ständig stellt: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war“231. Fordert die Vernunft also die absolute Totalität der Bedingungen, eine komplette „regressive Reihe in der Synthesis des Mannigfaltigen“, so macht sie die Kategorie des Verstandes zur kosmologischen Idee – zu einer Idee, deren Inhalt der Inbegriff aller Erscheinungen ist und somit auf keiner sinnlichen Erfahrung beruhen kann. Sobald wir die Vernunft „über die Grenze der Erfahrung hinaus“ auszudehnen wagen, sobald sie also das Unbedingte anzutreffen versucht, „entspringen vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen, und deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Widerspruch ist, sondern sogar in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Nothwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicher Weise der Gegensatz eben so gültige und nothwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat“232. (b) Methode: Die Antinomie ergibt sich demgemäß aus zwei widersprüchlichen und somit inkompatiblen, aber an sich vollständig konsistenten Lehrsätzen, auf denen die kosmologischen Ideen beruhen. Jeder Lehrsatz, sofern er „erstlich als Synthesis nach Regeln dem Verstande und doch zugleich als absolute Einheit derselben der Vernunft congruiren soll“, ist „für den Verstand zu groß, wenn sie der Vernunfteinheit adäquat ist“, und „für die Vernunft zu klein“233; woraus unvermeidlich ein Widerstreit entspringt. Kants Antithetik könnte in diesem Sinne, wie O’Connor vorschlägt, eine externe Interpretation der Antinomie benannt werden, sofern jeder Lehrsatz (z.B. Determinismus) an sich absolut gültig und widerspruchslos ist und die Antinomie folglich erst durch eine externe Gegenüberstellung beider Lehrsätze (z.B. Determinismus und Indeterminismus) entspringt. Deshalb meint Kant, dass die Methode der Antithetik eine skeptische Methode ist – wobei er sicherlich das skeptische Verfahren der Äquipollenz meint –, die aber nicht mit dem Skeptizismus im Allgemeinen zu verwechseln sei. Die Antithetik soll also diesen Widerstreit veranlassen und von einem ebenfalls externen Standpunkt aus untersuchen, ob er eher aus einer bloßen Phantasmagorie besteht, die sich aber notwendig aus der Natur der Vernunft ergibt. 231 232 233 KrV, A 409 | B 436. KrV, A 421 | B 449. KrV, A 422 | B 450. 127 (c) Schlüssel: Den Schlüssel zur Auflösung der Antinomie gibt bekanntlich der eigene transzendentale Idealismus234. Durch die allgemeine Annahme, die Gegenstände in Raum und Zeit als Objekte möglicher Erfahrung seien nicht als Dinge an sich, sondern als bloße Erscheinungen anzusehen, werde ein Ausweg aus den Antinomien möglich. Denn die absolute Totalität der Reihe der Bedingungen, die die Vernunft beim Erkennen eines gegebenen Bedingten sucht, gilt nur als Bedingung der Dinge an sich und kann daher nicht auf Erscheinungen angewandt werden. Der transzendentale Idealismus zeigt so, dass die Antinomie der reinen Vernunft der Widerstreit eines bloßen Scheins ist, die aus einer Art Homogenisierung der transzendentalen Bedeutung einer reinen Kategorie und der empirischen Bedeutung eines Verstandesbegriffs besteht. Bei der Behebung der Antinomie der reinen Vernunft wird diese Verwechselung geklärt, sodass der transzendentale Idealismus gleichzeitig den korrekten Gebrauch und den adäquaten Gültigkeitsbereich der Begriffe zu liefern vermag. Zusammenfassend interpretiert die kantische Auffassung die Antinomie mit Blick auf (a) ihre Entstehung als unvermeidlich und der Natur der Vernunft gemäß; (b) als extern bzw. antithetisch hinsichtlich der Methode und (c) als limitativ bzw. korrektiv in Bezug auf den Schlüssel zur Auflösung der Antinomie. Hegel Die Art und Weise, wie Hegel die kantische Antinomienlehre analysiert, begleitet die Entwicklung seines Denkens auf eine überraschend einheitliche Weise. Bereits in der Differenzschrift (1801) betrachtet Hegel die kantische Lehre der Antinomie als einen fruchtbaren und reichen Ausgangspunkt für die Entfaltung seiner eigenen Philosophie. Auch wenn später gerade seine philosophische Motivation für die Auseinandersetzung mit der Problematik der Antinomie Unterschiede aufweist, lässt sich seine kritische Analyse der kantischen Philosophie im Grunde einheitlich rekonstruieren und verweist auf eine neue Antinomienlehre. (a) Entstehung: Dass er die ganze transzendentale Dialektik Kants und besonders seine Lehre der Antinomie sehr hoch geschätzt habe, behauptet Hegel selbst wiederholt an unterschiedlichen Stellen seines Werkes. In der Antinomienlehre habe Kant dem widersprüchlichen Charakter der Vernunft seinen Schein von Willkür und Sophisterei genommen und das Denken als wesentlich und notwendig antinomisch gedeutet, was, so Hegel, „für einer der wichtigsten und tiefsten Fortschritte der Philosophie neuerer Zeit zu achten“235 sei. Hegel teilt also mit Kant die Auffassung, dass 234 235 KrV, A 491 | B 519. HW8, § 48. 128 die Antinomie natürlich, also im menschlichen Erkennen verwurzelt und daher unvermeidlich ist. Anders als bei Kant beruht die Antinomie aber nach Hegel nicht bloß auf der menschlichen Vernunftverfassung, sondern auf jedem Gegenstand des Erkennens. Die Realität richtig zu betrachten heißt nach Hegel, ihre immanente Widersprüchlichkeit zu begreifen und die Tatsache reflexiv nachzuvollziehen, dass die Antinomie nicht als eine einfache Bestimmung der Vernunft zu verstehen, sondern als die eigentliche Gestaltung der Wirklichkeit sei: Die Hauptsache, die zu bemerken ist, ist dass nicht nur in den vier besonderen, aus der Kosmologie genommenen Gegenständen die Antinomie sich befindet, sondern vielmehr in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Dies zu wissen und die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen, gehört zum Wesentlichen der philosophischen Betrachtung; diese Eigenschaft macht das aus, was weiterhin sich als das dialektische Moment des Logischen bestimmt236. (b) Methode: Bestreitet Hegel die Auffassung der Antinomie als ein vom jeweiligen Objekt isolierter Mechanismus der menschlichen Vernunft und platziert sie in die Wirklichkeit selbst, so verzichtet er auf eine externe Antithetik, die eine dem Objekt ebenfalls externe Gegenüberstellung von äquipollenten Lehrsätzen mit sich bringt und beide aus einem externen Standpunkt betrachtet. Vielmehr werden Antinomien als interne Bestimmungen des Objekts aufgefasst. In diesem Sinne könnte die Hegel’sche Lehre der Antinomie als eine „interne oder immanente Interpretation“ derselben betrachtet werden. Keine äußerliche Antithetik soll die Antinomie entfalten und untersuchen, sondern das dialektische Moment des Logisch-Reellen selbst. Dieses Moment begreift Hegel bekanntlich als das dynamische und immanente Übergehen einer jeglichen festen Bestimmung in ihre entgegengesetzte Bestimmung, die Feststellung also, dass immanente Antinomien jedem Gegenstand konstitutiv sind, ohne die dieser als solcher gar nicht bestünde. Dies entspricht ebenfalls dem Hegel’schen Anspruch, das Objekt in seinem Reichtum und in seiner Vielseitigkeit zu begreifen, jenseits der Einseitigkeit und der „subjektiven“ Dimension des Verstandes. Das dialektische Moment des Logisch-Reellen besteht folglich aus einer Art von modifiziertem Skeptizismus – einem skeptischen Moment, wie Hegel ihn nennt –, der alle festen Bestimmungen aufhebt und in ihr Entgegengesetztes überführt. (c) Schlüssel: Für Hegel unterscheidet sich die Dialektik vom bloßen Skeptizismus grundsätzlich darin, dass ein spekulatives Moment des Logischen dem negativ-dialektischen Moment folgt, das es seinerseits erlaubt, die Antinomien als Teil eines organischen Ganzen zu betrachten. Dieses 236 HW8, § 48. 129 spekulative Moment aber, das wohl in die philosophische „Darstellung des Absoluten“ münden soll, findet durchaus diversifizierte Behandlungen im Denken Hegels. Es könnte sogar behauptet werden, dass seine ganze philosophische Laufbahn in dem Versuch besteht, die korrekte Art und Weise dieser Darstellung zu suchen und zu erproben. Sieht man aber von diesen jeweils besonderen – und zum Teil wesentlichen – Differenzen ab und beschränkt sich auf das rein Logische, wie es beispielsweise in der Kleinen Logik als das Spekulative oder das Positiv-Vernünftige zu finden ist, so bemerkt man, dass Hegel das spekulative Moment als die konkrete Einheit des Entgegengesetzten in dem eigenen Gegenstand begreift, was wiederum die konkrete und lebendige Totalität des Objekts fasst. Wir sahen, wie Hegel von einem Begriff absoluter Identität ausgeht, um den Begriff dieser Ganzheit zu konzipieren. Anders nun als die Widersprüche zu schlichten oder sie horizontal zu nivellieren, soll das Spekulative sie in einem lebendigen Ganzen – als Ganzes – betrachten. Das entspricht weitgehend der logischen Dimension des alten Hegel’schen Projekts, wie er es zumindest seit der Differenzschrift skizziert hat: dem Versuch nämlich, ein einheitliches, durch die Versöhnung des einander Entgegengesetzten produziertes Weltbild zu konstruieren – oder, um es mit Jacobi zu sprechen, „den Verstand zur Vernunft zu bringen“237. Das Spekulative aber, sofern sein Inhalt immer aus vielseitigen, scheinbar widersprüchlichen Aussagen besteht, kann niemals in einem einzigen Satz formuliert werden. Daraus lässt sich wohl die ganze Philosophie Hegels in ihren Grundprinzipien ableiten. Die Hegel’sche Antinomienlehre kann daher wie folgt zusammengefasst werden: (a) Die ebenso unvermieldich Entstehung der Antinomien wird als der Natur des Gegenstandes gemäß interpretiert, (b) dargestellt und entfaltet werden sie mit Blick auf die Methode intern bzw. dialektisch, und (c) der Schlüssel für ihre Auflösung ist hier integrativ bzw. spekulativ. Adorno Kant und Hegel sind sich darüber einig, dass Antinomien im Laufe des Erkenntnisprozesses unvermeidlich entstehen. Daraus leitet Kant aber einen „Erkenntnisblock“ zum Unbedingten ab, während Hegel die Antinomie als die wesentliche Wirklichkeitsverfassung und folglich als Movens der nun anders aufgefassten Dialektik betrachtet. Dass das Unbedingte erkenntnisgemäß zugänglich sei, falls Erkenntnis im strengen Sinne überhaupt möglich sein sollte, erlaubt es Hegel, den spekulativen Moment des Logisch-Reellen als integrativ zu deuten. Dagegen insistiert Kant auf der Kritik der Vernunft als Phänomenalismus und fasst Dialektik als eine Logik des transzendentalen Scheins. Freilich deutet Hegel jeden „Er237 Vgl. Horstmann (2003). 130 kenntnisblock“ wie den zwischen noumena und phaenomena als an sich widersprüchlich und folglich grundsätzlich überwindbar, aber die Auffassung des Spekulativen als synthetisch setzt die philosophische Möglichkeit zur Totalität voraus, die für Kant höchstens regulative Funktion erhalten kann. In vielen Hinsichten nimmt die negative Dialektik eine Art Position zwischen den beiden Modellen ein. (a) Entstehung: Im Gefolge der Tradition der klassischen deutschen Philosophie geht auch die negative Dialektik davon aus, dass Antinomien im Laufe des Erkenntnisprozesses unvermeidlich entstehen. Doch anders als Kant deutet sie diese nicht bloß als Ausdruck der defizienten Verfassung der menschlichen Vernunft, die von Natur aus nicht dazu ausgestattet sei, das Absolute zu erkennen. Sie stimmt aber auch nicht ohne Weiteres mit Hegel darin überein, dass das Wirkliche an sich widersprüchlich sei: „Der Widerspruch ist nicht, wozu Hegels absoluter Idealismus unvermeidlich ihn verklären mußte: kein herakliteisch Wesenhaftes“ 238 . Vielmehr sind Widersprüche, die ihrerseits negativ-dialektisch zu Antinomien werden können, „Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff“239. Widersprüche ergeben sich demnach aus der akribischen Konfrontation von Begriff und Gegenstand, sofern der immanente Anspruch des Begriffes darauf, den Gegenstand in seiner Einzigartigkeit und Vollständigkeit zu subsumieren, aufgrund des Vorrangs des Objekts nicht eingelöst werden kann. Da die Widersprüche so aber keine Schlichtung erfahren, fasst die negative Dialektik sie als Antinomien auf. Nicht weil die menschliche Vernunft defizitär sei, entstehen Antinomien, sondern weil das Denken noch der Dialektik der Identität gehorche: Das Differenzierte erscheint so lange divergent, dissonant, negativ, wie das Bewußtsein der eigenen Formation nach auf Einheit drängen muß: solange es, was nicht mit ihm identisch ist, an seinem Totalitätsanspruch mißt. Das hält Dialektik dem Bewußtsein als Widerspruch vor. Widersprüchlichkeit hat vermöge des immanenten Wesens von Bewußtsein selber den Charakter unausweichlicher und verhängnisvoller Gesetzmäßigkeit. Identität und Widerspruch des Denkens sind aneinandergeschweißt. Die Totalität des Widerspruchs ist nichts als die Unwahrheit der totalen Identifikation, so wie sie in dieser sich manifestiert. Widerspruch ist Nichtidentität im Bann des Gesetzes, das auch das Nichtidentische affiziert240. (2) Methode: Guido Kreis hat jüngst die Methode der negativen Dialektik anhand einer Negativen Dialektik des Unendlichen zu operationalisieren versucht. Im Fall des Unendlichen führt Kreis diese Methode so an, dass sie bestreitet „(a) gegen Hegel, daß wir das absolut Unendliche wider238 239 240 GS6, S. 17. GS6, S. 17. GS6, S. 17–18. 131 spruchsfrei denken und erkennen können; sie stellt dabei aber (b) nicht lediglich eine Restitution der limitativen Dialektik dar, sondern nimmt eine metatheoretische Position ein, von der aus sie argumentiert, daß es keine Lösung der Paradoxien des Unendlichen gibt, die nicht selbst schwerwiegende Probleme aufwerfen würde“241. Es handelt sich so um ein doppeltes philosophisches Verfahren, das zunächst von der Aufstellung der wesentlichen Widersprüche im kategorialen Rahmen einer Disziplin oder eines philosophischen Begriffes ausgeht, um diese dann metatheoretisch als Antinomien aufzufassen. Adorno hat selbst einige Beispiele gegeben, die das negativdialektische Verfahren konkret illustrieren: „Ein Widerspruch etwa wie der zwischen der Bestimmung, die der Einzelne als seine eigene weiß, und der, welche die Gesellschaft ihm aufdrängt, wenn er sein Leben erwerben will, der ‚Rolle‘, ist (…) unter keine Einheit zu bringen; ebensowenig der, daß das Tauschprinzip, das in der bestehenden Gesellschaft die Produktivkräfte steigert, diese zugleich in wachsendem Grad mit Vernichtung bedroht“ 242 . Zwar handelt es sich hier im Grunde um gesellschaftliche Kategorien, aus denen sich eine negative Dialektik paradigmatisch entwickeln lässt. Doch als „konsequente[s] Bewußtsein von Nichtidentität“243, von der grundlegenden Differenz zwischen Begriff und dem von ihm Gemeinten soll sich eine negative Dialektik aus jeglicher Begrifflichkeit entfalten können, was sie dann auch einem internen Verständnis der Antinomie verpflichtet. So können auch durchaus alltägliche Begriffe immanente und unüberwindbare Widersprüche enthalten, soweit das Diesda eines jeglichen von ihnen visierten Dinges mit der allgemeinen Begrifflichkeit reflexionslogisch konfrontiert wird. Denn die allgemeine Begriffsbildung erfordert notwendigerweise, dass auf die Einzigartigkeit des Dinges – die eine konkrete Geschichtlichkeit, eine besondere ästhetische Dimension und vor allem eine unikale Materialität umfasst und in dessen Begriff als Nichtidentität enthalten ist – zugunsten der Allgemeinheit verzichtet wird, die ihrerseits für diese Einzigartigkeit vollends blind ist. Implizit in diesem semantischen Argument sind im Wesentlichen zwei Unterstellungen. Die erste Unterstellung ist nominalistisch und betrifft die Theorie der Begriffsbildung. Sie besagt, dass ein Begriff notwendigerweise Anspruch auf eine „Ordnung schaffende Invarianz gegenüber dem Wechsel des unter ihm Befassten“244 erhebt, die ihrerseits ihn zu einem Begriff macht. Die zweite Unterstellung ist ontologisch und besagt, dass das zu befassende Objekt in Wirklichkeit einem (wohl konstanten) Wechsel unterliegt, der dem es subsumierenden Begriff wesentlich entgeht. 241 242 243 244 Kreis (2015), S. 24. GS6, S. 155. GS6, S. 17. GS6, S. 156. 132 Das erzeugt nun eine „Differenz von Denken und Gedachtem“, die „jeglicher Begriff, noch der des Seins, reproduziert“245. Dieser gesamte Gedankengang entstammt offensichtlich Nietzsches Frühschrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, deren Stelle hier zitiert sei: Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, daß heißt streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muß. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das „Blatt“ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen „ehrlich“; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heißt wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die „die Ehrlichkeit“ hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: „die Ehrlichkeit“. Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, daß er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil.246 Bekanntlich beschreibt Nietzsche hier den Erkenntnisprozess als anthropomorphisierende und falsifizierende Fiktionalisierung des Wirklichen, die sich die epistemische Verfassung des Gattungswesens Mensch vor allem zu Zwecken der Naturbeherrschung und Selbsterhaltung naturalistisch konstituiert habe. Das „Gleichsetzen von Nichtgleichen“, das Nietzsche in jeder Begriffsbildung unabdingbar am Werke sieht, entspricht im 245 246 GS6, S. 175. Nietzsche (1973), S. 373f. 133 Grunde dem „Identischmachen des Nichtidentischen“, das Adorno am Identitätsdenken als einem „nivellierenden“, dem Besonderen „Gewalt antuenden“ Prozess kritisiert. Während Nietzsche aber konsequenterweise auf die eigentlichen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffe verzichtet, besteht Adorno auf ihrer klassischen, emphatischen Auffassung, der zufolge alles Wahre objektiv ist. Die negative Dialektik versucht folglich, das Nichtidentische zur Sprache zu bringen, indem sie den immanenten Widersprüche des Objekts zum Ausdruck verhilft. Anstatt davon auszugehen, dass das Objekt und sein Begriff deckungsgleich sind oder sein sollen, wird der Begriff bloß zum Anfang eines Prozesses mit offenem Ausgang, in dem das Objekt, wie bereits erwähnt, gewissermaßen als Rätsel erscheint. (c) Schlüssel: Eine jegliche Dialektik, die sich nicht als integrativ bezeichnet, die also auf den Totalitätsanspruch des spekulativen Moments des Logisch-Reellen selbstbewusst verzichtet und sich als ein sprachphilosophisches Verfahren kritischer Modellanalysen gestaltet, enthält zwangsläufig eine restriktive Dimension der Antinomie. Im strengen Sinne wird die Antinomie nicht aufgelöst: Das Ziel der negativen Dialektik besteht in ihrer kritischen Formulierung, nicht in ihrer Auflösung. Es handelt sich um eine – im Grunde metatheoretische – Dialektik im Stillstand, wie Walter Benjamin sie bekanntlich auffasste. Doch aus der Unmöglichkeit, die Antinomie aufzulösen, muss kein Skeptizismus, muss keine Gegenaufklärung folgen, die das Projekt der Vernunft aufgibt. Das negativ-dialektische Verfahren will vielmehr erinnern: erinnern an Nichtidentisches. Zusammenfassend interpretiert die negative Dialektik die Antinomie als (a) unvermeidlich bzw. materialistisch, was ihre Entstehung betrifft, (b) die Methode der Darlegung lässt sich als intern und (c) der Schlüssel zur Auflösung der Antinomie als restriktiv bezeichnen. Die drei verschiedenen Zugangsweisen lassen sich im Überblick wie folgt darstellen: Antinomie der Vernunft Entstehung Methode Schlüssel Kant unvermeidlich, dem Wesen der Vernunft gemäß extern und antithetisch restriktiv und korrektiv Hegel Adorno 134 unvermeidlich, intern und dialektisch dem Wesen des Gegenstandes gemäß unvermeidlich, der Konfrontation von Begriff und Gegenstand gemäß intern und negativdialektisch integrativ und spekulativ restriktiv § 10. Fazit Die weit verzweigte Identitätsproblematik in der Philosophie der Neuzeit ist die ausgezeichnete Herangehensweise, anhand der die negative Dialektik die Konstitution, Artikulation und Trennung von Subjekt und Objekt denkt (§ 6). Sie lässt sich hauptsächlich durch formallogische, ontologische, ichtheoretische und vermittlungstheoretische Dimensionen erschließen, die seit Leibniz und Hume über Kant bis zum nachkantischen Idealismus behandelt werden (§ 7). Die negative Dialektik knüpft an den integrativen Versuch der absoluten Identitätsformel Schellings und Hegels an, um aus ihr den Vorrang des Objekts identitätskritisch zu extrahieren. Der aus der absoluten Identitätsformel abgeleitete Vorrang des Objekts, der mit dem kritisch-materialistischen Gehalt der negativen Dialektik praktisch zusammenfällt, ist auch das Muster, durch das sich die anderen Bedeutungsebenen der Identität in der negativen Dialektik denken lassen (§ 8). So lässt sich die negative Dialektik in jene Denktradition komparatistisch einfügen, die die moderne Dialektik aufgrund der Antinomie der Vernunft entwickelt (§ 9). 135 Drittes Kapitel: Ontologie und Dialektik Das vorliegende Kapitel widmet sich dem Ontologieproblem, wie es sich aus der negativ-dialektischen Identitätsproblematik immanent ergibt. Es handelt sich grundsätzlich um die Fragestellung nach der Begründung des Vorrangs des Objekts, der den Übergang zum kritischen Materialismus rein reflexionslogisch leisten soll und folglich gerade nicht auf die Setzung eines transreflexiven Seins rekurriert. Ich gehe von einer einführenden Erörterung des nachkantischen Ontologieproblems aus (§ 11), wie es sich mit Blick auf die Deutung der neueren Ontologien stellt (§ 12). Die negativ-dialektische Ontologiekritik, deren Ursprünge bereits bei Kant zu finden sind, wird anhand ihrer bedürfnistheoretischen, vermittlungstheoretischen und sprachphilosophischen Dimensionen rekonstruiert (§ 13). Stets werden die Konsequenzen der Ontologiekritik für die Materialismusfrage gezogen, die im letzten Abschnitt des Kapitels nochmals dargelegt werden (§ 14). 139 § 11. Zum Problem der Ontologie nach Kant Wie alle Hauptbegriffe, die in der vorliegenden Arbeit behandelt werden, verdient auch der Begriff der Ontologie den Status eines philosophischen Problemtitels, insofern nicht nur seine eigentliche Bedeutung, sondern bereits die Möglichkeitsbedingung der Ontologie nach Kant höchst umstritten ist. Wie im Fall der Hauptbegriffe, die in den vorherigen Kapiteln aufgetaucht sind, wird auch hier nicht versucht, eine einseitige und endgültige Definition des Ontologiebegriffs zu formulieren – wäre dies doch ohnehin eine Aufgabe, die nach aller Wahrscheinlichkeit aufgrund der Problemhaftigkeit und der Breite des Begriffs scheitern würde. Vielmehr wird hier der Anspruch erhoben, die interne Problemhaftigkeit des Ontologiebegriffs zu entfalten. Zu einem konkreten Ontologiebegriff werden wir erst im Laufe des Kapitels gelangen können. Eine kurze historische Einführung vermag bereits die in dem Ontologiebegriff involvierten Probleme deutlich zu machen. Zwar wird der Begriff Ontologie erst am Anfang des 17. Jahrhunderts terminologisch fixiert, doch die Idee eines ausgezeichneten, weil allgemeinsten und grundlegendsten Themenbereiches der Philosophie, der der Erforschung des Seins entspricht, ist wohl so alt wie die Geschichte des abendländischen Denkens. Im Anschluss an das ihm vorherige Denken hat bekanntlich Aristoteles eine derartige Seinswissenschaft konzipiert, die ihrerseits Teil der von ihm einheitlich behandelten Ersten Wissenschaft ist. Neben der Ontologie als Seinswissenschaft gehört zur aristotelischen Metaphysik auch die Gotteswissenschaft, die ihrerseits nicht das Sein schlechthin, sondern das höchste Seiende zum Thema hat. Die Natur dieser einheitlichen Behandlung bei Aristoteles ist bis heute Gegenstand spezialisierter Diskussion darüber, ob beispielsweise die so konzipierte Einheit der metaphysischen Wissenschaft streng sachlich ist oder zumindest teilweise doch eher den materiellen Umständen der Komposition des Textes und der Überlieferung zugerechnet werden muss. Auf alle Fälle gehören zur Geschichte der westlichen Denktradition nicht nur sachliche Notwendigkeiten, sondern auch durchaus kontingente, außertheoretische Ereignisse, die Einfluss auf die innertheoretische Auseinandersetzung genommen haben und nehmen. Das ist sicher der Fall bei der Ontologie. Am Anfang des 17. Jahrhunderts – wohl von Rudolf Göckel – fixiert, ist der Terminus zunächst gleichbedeutend mit der metaphysica generalis, die im Grunde jener Seinswissenschaft der aristotelischen Metaphysik entspricht; die Gotteswissenschaft als Wissenschaft des höchsten Seienden erhält ihrerseits, auch durchaus im Geiste der Tradition, eine ausgezeichnete Position innerhalb der metaphysica specialis. Wie sich nun diese zweiseitige, „architektonische“ Bestimmung der metaphysischen Wissenschaft gestalten 141 wird, ist bereits ein wesentliches Problem, das die Geschichte der Ontologie stets begleiten wird: Hatte Aristoteles, bei dem sich zwar noch nicht der Name, wohl aber die Sache der Ontologie im Sinne einer Seinswissenschaft findet, diese in der notwendigen polaren Spannung von Seins- und Gotteswissenschaft, von allgemeiner und spezieller Metaphysik entworfen und daher deren innere Einheit in einer einzigen Wissenschaft aufgehoben, so beginnen die beiden Pole von Seins- und Gotteswissenschaft bereits bei Pererius (gestorben 1610) sich zu verselbständigen und als zwei verschiedene Wissenschaften sich nebeneinander zu ordnen: Erste Philosophie und allgemeine Wissenschaft auf der einen, Metaphysik im Sinne von Theologie, Weisheit und göttlicher Wissenschaft auf der anderen Seite.247 Man kann sagen, dass es sich bei den meisten Autoren ausgehend von der Prägung des Terminus „Ontologie“ im 17. Jahrhundert über die Schulphilosophie bis zu Kants Metaphysikkritik darum handeln wird, diese sich trennenden Wissenschaften nach ihrer jeweiligen Auffassung immer wieder umzuordnen. In wohl allen Fällen sind diese zwei Pole ausschlaggebend: auf der einen Seite die Disziplin, die sich der Erforschung des Seins schlechthin widmet, auf der anderen Seite die Disziplin(en), die bestimmte Gegenstände der Metaphysik (Seele, Welt, Gott) zum Thema haben. Mit ihrer progressiven Verselbstständigung erfahren beide Grundwissenschaften im Laufe der Moderne auch ein unterschiedliches Schicksal: Die Art und Weise beispielsweise, wie die Vernunftkritik beide Disziplinen jeweils treffen und strukturell zu einer Umformulierung drängen wird, ist wesentlich verschieden. Während die verschiedenen Subdisziplinen der metaphysica specialis Gegenstand einer transzendentalen Dialektik sein werden, erhält die metaphysica generalis eine nicht unzweideutige Position in der Vernunftkritik zwischen der Analytik des Verstandes, der Transzendentalphilosophie und der Kritik selbst. Dieser kurze historische Überblick über die terminologische Fixierung des Ontologiebegriffs dürfte bereits ausreichen, um ein operationelles Bild der Ontologie zu gewinnen. Sofern sie die Erforschung des Seins zum Gegenstand hat, ist sie die allgemeinste und grundlegendste Disziplin des menschlichen Wissens, die allen anderen Wissenschaften logisch vorgeordnet ist. Sie erhebt dementsprechend den Anspruch, das Sein schlechthin bzw. das Sein qua Sein (oder das Sein, sofern es Sein ist) zu erforschen – im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften, die bestimmte Bereiche des Seins bzw. das Sein von einem bestimmten Standpunkt aus zum Thema haben. So hat man die Erforschung des Seins traditionsgemäß auf zwei Arten durchzuführen versucht: entweder als Theorie der Exis247 Ritter (1980), S. 1889. 142 tenz oder als Theorie der Seienden. „Einerseits kann der Schwerpunkt bei grundsätzlichen Fragen liegen, was etwa den Begriff des Seins ausmacht oder was es bedeutet, dass etwas existiert. Andererseits kann spezifischer nach dem Seienden gefragt werden, und zwar danach, was existiert bzw. genauer: welche allgemeinsten Arten von Seiendem (Dinge, Eigenschaften, Sachverhalte, Ereignisse, Prozesse etc.) es gibt, was also zum ‚Inventar‘ unserer Welt gehört“248. Diese beiden Ströme der ontologischen Forschung haben sich nicht willkürlich ausgebildet; vielmehr kann man davon ausgehen, dass sie der Doppelbedeutung des Seinsbegriffs selbst bzw. des „Ist“ zwischen Kopula und Existenz folgen, die ihm traditionsgemäß zugesprochen werden 249 . Für beide Varianten gibt es prominente, eine Tradition begründende Vertreter bereits in der Antike: Parmenides für die erste und Aristoteles selbst für die zweite. Trotz schulischer Diskrepanzen kann man aber sagen, dass beide Traditionen stets Aussagen über das Sein selbst zu treffen beanspruchen – und nicht etwa (erkenntnistheoretisch bzw. modern formuliert) Aussagen über unseren Zugang zum Sein. In einem Wort: Die (klassische, vorkantische) Ontologie ist grundsätzlich nichtkorrelationistisch angelegt. Ihre Aussagen sollen das Sein betreffen, und zwar nicht nur, sofern es mit einem denkenden Subjekt korreliert, sondern vielmehr in seiner grundsätzlich subjektunabhängigen Quidität. Mit dem Rückbezug des Subjekts auf seine Erkenntnisvermögen, der im Laufe der Neuzeit, wird dieser Erkenntnisanspruch der Ontologie progressiv in Frage gestellt. Nach einem immer weiter verbreiteten Bild wird mit der Vernunftkritik die Ontologie durch ein wie auch immer konzipiertes Modell von Erkenntnistheorie ersetzt, das seinerseits keine Aussagen über das Sein selbst, sondern lediglich über unseren Zugang zum Sein zu treffen beansprucht. Mit der scholastischen Terminologie könnte man bedeutungsgleich behaupten, dass die intentio recta der klassischen Ontologie durch de intentio obliqua der neuzeitlichen Erkenntnistheorien progressiv ersetzt wird. Kant selbst hat in einer bekannten, oben bereits zitierten Passage behauptet, dass „der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z.E. den Grundsatz der Kausalität) dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen [muß]“ 250 . Zusammen mit der neuzeitlichen Metaphysikkritik tritt somit auch eine wirkungsmächtige Ontologiekritik in der Neuzeit zutage – zu der die Kritische Theorie, wie wir sehen werden, als ein Spätprodukt gehört –, die Anspruch und Umfang der menschlichen Erkenntnis gründlich verändern sollte. Dieser Beschreibung zufolge ist jede On248 249 250 Sandkühler (2010), S. 1857. Vgl. diesbezüglich Tugendhat (1992), S. 21ff. KrV, A 247/B 874. 143 tologie, sofern sie Aussagen über das Sein selbst vor der selbstreflexiven Erforschung unseres Zuganges zum Sein zu treffen beansprucht, notwendigerweise dogmatisch und philosophisch zu überwinden. Auch wenn die Denker nach Kant mit dieser kantischen Diagnose im Grunde einverstanden waren, bestanden sie immer wieder auf der Möglichkeit einer veränderten Ontologie auch nach Kant. Eine rein historische Betrachtung kann diesen Umstand illustrieren: Nach Kant und vor allem im Geiste Kants sind verschiedene Denkmodelle formuliert worden, die sich als ontologisch charakterisieren. Das ist beispielsweise der Fall bei den neukantianischen (Südwestdeutsche Schule), phänomenologischen (Husserl, Heidegger, Scheler), real-ontologischen (Hartmann), sprachanalytischen (Quine und Strawson) und sogar marxistisch-materialistischen (Lukács) Denkentwürfen, um nur einige zu nennen. Auch heute noch werden immer neuere mengentheoretische, politische, soziale, ästhetische, kurz: neuere Ontologien entwickelt, was die Rede von einer zeitgenössischen Wiedergeburt der Ontologie legitimiert hat251. Sie behaupten zusammenfassend, dass die von Kant inaugurierte Selbstreflexion des Subjekts auf seine eigenen Erkenntnisvermögen wenn nicht eine eigene umfassendere, in diesem Sinne korrelationistische Ontologie zwangsläufig mit sich führen muss – wie im Übrigen die Entwicklung des späten Idealismus vor allem bei Schelling (aber auch beim späten Fichte252) zeigt –, dann doch zumindest mit der Formulierung von neueren Ontologien nicht inkompatibel ist. Vorausgesetzt nun, dass ihre Selbstcharakterisierung als ontologisch nicht willkürlich ist, müsste man dann im Lichte jener weit verbreiteten Beschreibung der letzteren Philosophiegeschichte behaupten, dass sie alle – trotz aller möglichen Kant-Inspiration – dogmatisch geblieben sind? Oder handelt es sich um eine bloße terminologische Äquivokation? Herbert Schnädelbach scheint darauf hinzuweisen: Ist damit nicht jede Ontologie, die Kants Diktum ‚Der kritische Weg ist allein noch offen‘ respektiert – und die neuere Ontologie gibt vor, dies zu tun –, zum Scheitern verurteilt? Jede Antwort auf die Frage, ob es nach Kant überhaupt Ontologie gegeben habe, die mehr war als eine dogmatische Konservierung überholter Positionen, wird davon abhängen, was man unter ‚Ontologie‘ versteht253. Nun könnte man bei dieser Frage davon ausgehen, dass die terminologische Auswahl in der Philosophiegeschichte in der Regel streng gehandhabt wird – sodass hier möglicherweise etwas am Werke ist, das nicht bloß als eine terminologische Ungenauigkeit weggelassen werden kann. 251 252 253 Vgl. Bryant/Srnicek/Harman (2011); Marchardt (2010). „Tun schlägt zurück in ein Sein zweiter Ordnung; ausdrücklich, wie allbekannt, in der Wendung des späten Fichte gegenüber der Wissenschaftslehre von 1794“; GS10.2, S. 754. Vgl. dazu auch Zöller (2013), S. 47ff. Schnädelbach (1983), S. 235. 144 Eben davon geht auch die negative Dialektik in ihrem im Folgenden zu untersuchenden Verhältnis zur Ontologie aus: Ihr zufolge antwortet die massive Entstehung von neueren Ontologien unter nachkantischen Bedingungen auf bestimmte inner- und außertheoretische Bedürfnisse, für die auch das dialektische Denken eine Alternativantwort sein will. Die Entstehung von neueren Ontologien – die Setzung eines transreflexiven Seins zweiter Ordnung im Gefolge der Grenzen der Selbstreflexion des Subjekts – ist dementsprechend kein der Formulierung der negativen Dialektik äußerlicher Umstand. Vielmehr ist sie in deren Begriff immanent enthalten: „Man könnte das auch so ausdrücken“, trägt Adorno in der Vorlesung Ontologie und Dialektik vor, „daß in unserer gegenwärtigen Situation die Dialektik durch die Ontologie vermittelt ist; und die Analysen, die zu dialektischen Aussagen führen, sind in gewisser Weise gar nicht unverwandt den phänomenologischen Analysen, wie sie zunächst zur Ontologie geführt haben (…). Dialektik ist also, daß der Übergang zur Dialektik eigentlich in der kritischen Selbstreflexion der Ontologie bestehen soll“254. Der Übergang zur Dialektik ist dementsprechend auch auf die Kritik an den neueren Ontologien selbst verwiesen. Die ontologische Problematik ist auch dem Materialismus in vielerlei Hinsicht zentral. Im ersten Kapitel habe ich bereits auf den ontologischen Inhalt der Grundthese des klassischen Materialismus über die ultimative Verfasstheit des Wirklichen als Materie hingewiesen. Doch auch dem kritischen Materialismus – um dessen Begriff sich die negative Dialektik bemüht – scheint die Ontologie prima facie unentbehrlich zu sein, sofern er zwar von der subjektiven Reflexion ausgeht, doch über sie hinausgelangen muss. Dass dieses Hinausgelangen in Gestalt einer Ontologie verfasst sein muss, ist zwar eine intuitive Schlussfolgerung, die negative Dialektik verhindert sie aber – aus Gründen, die im nächsten Abschnitt dargestellt und problematisiert werden. 254 OD, S. 12–13. 145 § 12. Negative Dialektik und Ontologiekritik Wie es in seiner „Notiz“ zu lesen ist, entstand das Werk Negative Dialektik aus drei Vorträgen – den sogenannten „Pariser Vorträgen“ –, die Adorno 1961 am Collège de France in französischer Sprache hielt. Der Inhalt dieser Vorträge entsprach dabei nicht der „Einleitung“ in das fünf Jahre später publizierte Werk, sondern vor allem dem ersten Teil des Buches über das „Verhältnis zur Ontologie“ (erster und zweiter Vortrag); nur der dritte Vortrag befasste sich mit dem zentralen Teil über „Negative Dialektik: Begriffe und Kategorien“ 255 . Die „Einleitung“ ihrerseits, der Adorno – wohl in Reminiszenz an Hegels „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ – den Titel Zur Theorie der geistigen Erfahrung zu geben erwogen hatte, wurde erst später verfasst. Nur scheinbar ist das kritische Ziel des „Verhältnisses zur Ontologie“ das Denken Martins Heideggers als solches. Gezielt wird vielmehr auf eine immanente Kritik der neueren Ontologie im Allgemeinen – derjenigen ontologischen Denkweise also, die in einem nachidealistischen Ambiente entstanden ist und sich folglich von der vorkantischen Ontologie selbstbewusst unterscheidet. Heidegger nimmt in der Analyse Adornos nur insofern eine Sonderstellung ein, als er für den konsequentesten und prominentesten Vertreter dieser neuontologischen Denkweise gehalten wird. Heideggers Werk ist dementsprechend nur Anlass zur Kritik der neueren Ontologie im Allgemeinen – nicht Ziel. 255 Vgl. GS6, S. 409. Diese Vorträge hielt Adorno auf Einladung von Robert Minder vor großen philosophischen Persönlichkeiten des damaligen Frankreichs, wie beispielsweise Maurice Merleau-Ponty (wohl sein „idealer Adressat“, um den Ausdruck des Herausgebers der Nachgelassenen Schriften Adornos zu verwenden) und Jean Wahl. Zum ersten Vortrag notierte Adorno später am 15. März 1961 in sein Tagebuch: „Vortrag gehalten, zu schwer, Merleau-Ponty chokiert. Gott und die Welt waren da“; zum zweiten, am 18. März: „Vorlesung überfüllt, ging viel besser“, und zum letzten, am 21. März: „Letzte Vorlesung ging sehr gut, brüllte wie ein Ochs. Merleau-Ponty und Jean Wahl zugegen aber nicht gesprochen“ (OD, S. 427f.). Wenige Wochen später, am 3. Mai 1961, starb Merleau-Ponty in Paris. Adorno äußerte sich – mit Worten tiefer Humanität – über seinen Tod in einem Brief an Minder: „Lassen Sie mich hinzufügen, wie sehr mich der Tod von MerleauPonty erschüttert hat. Nichts hätte mich, als Sie so gütig waren, uns einander vorzustellen, auf die Idee gebracht, einem Todkranken gegenüberzustehen. Er war ohne alle Frage eine ganz außerordentliche Denkkraft – gerade angesichts der tiefen theoretischen Differenzen, glaube ich wohl qualifiziert und auch verpflichtet zu sein, das zu sagen. Und angesichts des Unwiderruflichen habe ich dann doch ihm gegenüber, nachdem ich so kurz vor seinem Tod Positionen bis ins Innerste angriff, die ihm wesentlich waren, etwas wie ein Gefühl von Schuld. Wie ist man doch im Leben verstrickt; wenn man die Wahrheit sagen will, schlägt auch das zum Bösen aus; Ibsen hat das schon ganz richtig gesehen“; OD, S. 427f. 146 Die negative Dialektik liefert grundsätzlich drei verschiedene Argumentationsmuster zur Analyse und Kritik der neueren Ontologie. Erstens entwickelt sie eine Theorie des philosophischen Bedürfnisses, derer Vorläufer grundsätzlich die Marx’sche Ideologiekritik ist. Als solche unternimmt sie den Versuch, philosophische Grundentscheidungen als vermittelten Ausdruck außerphilosophischer, hauptsächlich gesellschaftlicher Konstellationen zu deuten, wobei diese Grundentscheidungen ihrerseits wiederum eine (meist indirekte) Rolle für die Legitimierung, Rechtfertigung und Bewusstseinsentwicklung dieser Konstellationen spielen. Zwar will die negative Dialektik im Grunde eine immanente Analyse des philosophischen Konstruktes als solches leisten, doch als Ideologiekritik orientiert sie zugleich die Problematik in Richtung der folgenden Fragestellungen: Auf welches inner- und außerphilosophische Bedürfnis reagiert die Wiedergeburt der Ontologie in der Spätmoderne? Auf welches Problem antwortet sie? Stellen ihre Antworten wahre oder nur kompensatorische Lösungen für das ins Auge gefasste Problem dar? Außer der Theorie des philosophischen Bedürfnisses entwickelt die negative Dialektik noch ein sprachphilosophisches und ein vermittlungstheoretisches Argumentationsmuster für die Kritik an der neueren Ontologie. Hier führt sie die Metaphysik- und Ontologiekritik radikal weiter, die nach Kant ganz unterschiedliche Autoren vereinen. In vieler Hinsicht ähnelt das sprachkritische Modell Adornos zur Kritik der Ontologie der Sprachanalyse, die im 20. Jahrhundert von der angelsächsischen Philosophie paradigmatisch vertreten wurde; die negative Dialektik zieht jedoch radikal andere Konsequenzen aus dieser Kritik. Die sprachanalytische Kritik an der Ontologie wird zuletzt von einer philosophischen Theorie der Begriffsbildung illustriert, deren Hauptthese Adorno bereits sehr früh aufgestellt hat: „Die sachliche Struktur eines philosophischen Gebildes mag mit seiner Sprachstruktur, wo nicht zusammenfallen, zumindest doch in einem gestalteten Spannungsverhältnis stehen“256. Mit Blick auf die Ontologie hat der Philosoph diese These vor allem im Werk Jargon der Eigentlichkeit ausgeführt, das als Exkurs zur Negativen Dialektik, vor allem zu deren ontologiekritischem Teil, veröffentlicht worden ist. Ihr zufolge müssen Ontologie und Dialektik auch als Sprachmodelle verstanden werden, die unterschiedlichen Sinnregimes gehorchen. Ich werde in den nächsten drei Unterabschnitten diese drei Aspekte der Ontologiekritik Adornos rekonstruieren. Zuvor ist es aber angebracht, jenen zwischenzeitig beinahe vergessenen Namen zu erwähnen, der die Gedankengänge des „Verhältnisses zur Ontologie“ sehr früh antizipiert hat: Karl Heinz Haag. Die Wichtigkeit Haags für die theoretischen Arbei256 GS1, S. 370. 147 ten Adornos gilt es noch ausführlich zu dokumentieren. Nicht nur hat Adorno Haag eines seiner Hauptwerke gewidmet – die Drei Studien zu Hegel –, Haag hat darüber hinaus sehr gelungene Arbeiten publiziert, die durchaus im Geiste der kritischen Theorie entstanden sind und wichtige, hauptsächlich philosophiehistorische und auch seinstheoretische Lücken der Tradition erfüllen. Im „Verhältnis zur Ontologie“ wird sein Hauptwerk Kritik der neueren Ontologie zitiert, die noch 1956 als Habilitation bei Adorno und Horkheimer verfasst wurde – also vor den „Pariser Vorträgen“ Adornos. So war Haags Zusammenarbeit mit Adorno und Horkheimer seit den frühen 1950er Jahren ohne alle Zweifel wesentlich für die Entstehung des ontologiekritischen Teils der Negativen Dialektik – man könnte sogar von einem Einfluss des dreißigjährigen Haag auf den bereits reifen Philosophen Adorno sprechen. Es seien hier nur die ersten Sätze des philosophischen Hauptwerks Haags zitiert, der auch den Geist des „Verhältnisses zur Ontologie“ – vor allem seines zweiten Teils über „Sein und Existenz“ – der Negativen Dialektik beherrscht: „Die ontologische Diskussion unserer Tage verschweigt die eine Frage, der sich doch niemand entziehen kann, es sei denn, er bekennt sich offen zum Dogmatismus. Es ist die Frage, ob die ontologischen Strukturen etwas an sich seiendes, φυσει, ober ob sie bloße Produkte von Denken, θεσει, sind. Solange sie dieser Frage ausweicht, verzichtet Ontologie auf die Erörterung ihrer eigenen Gültigkeit“257. 257 Haag (1960), S. 7. 148 A. Zur Theorie des ontologischen Bedürfnisses Der Bedürfnisbegriff taucht nicht nur in der Negativen Dialektik, sondern im Werk Adornos im Allgemeinen 258 im Zusammenhang mit der Marx’schen Bedürfnistheorie auf. Dieser zufolge sind Bedürfnisse grundsätzlich gesellschaftlicher Natur, die in einem wechselseitigen Verhältnis zur Produktion und Konsumption stehen. So entspricht ein Bedürfnis zwar einem Mangel im Subjekt, das danach verlangt, durch Konsumption eines bestimmten Objekts gestillt zu werden; dieser Mangel aber wird wiederum aus der Produktion gesellschaftlich bestimmt. Mit einem Bedürfnis wird also ein Objekt immanent vorausgesetzt, durch das es selbst vermittelt ist und dessen Konsumption es stillen und wiederum neue Bedürfnisse produzieren kann. Zwar gibt es für Marx elementare, sogenannte „natürliche“ Bedürfnisse „wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw.“259. Doch auch sie, ihr Umfang und ihre Befriedigungsart sind geschichtlich mitbestimmt, sofern sie beispielsweise „je nach den klimatischen und anderen natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes [verschieden sind]“260. Kurzum, Bedürfnissubjekt und Bedürfnismaterial sind beide gesellschaftlich bedingt und gehorchen der Dialektik von Produktion und Konsumption einer gegebenen Gesellschaft. Das betrifft, wie Marx schreibt, jedes Produkt menschlicher Tätigkeit: Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis. Wenn die Konsumption aus ihrer ersten Naturrohheit und Unmittelbarkeit heraustritt – und das Verweilen in derselben wäre selbst noch das Resultat einer in der Naturrohheit steckenden Produktion – so ist sie selbst als Trieb vermittelt durch den Gegenstand. Das Bedürfnis, das sie nach ihm fühlt, ist durch die Wahrnehmung desselben geschaffen. Der Kunstgegenstand – ebenso jedes andre Produkt – schafft ein kunstsinniges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.261 So lassen sich nach Marx nicht nur Reichtum, sondern auch Grenzen und Widersprüche einer bestimmten Gesellschaftsformation anhand der Bedürfnisse ihrer Individuen indirekt herauslesen. Sofern sie von der Produktion erzeugt und mitbestimmt werden, sind die Bedürfnisse Zeuge im Individuum vom Entwicklungsgrad einer bestimmten Gesellschaft. Je mehr gesellschaftlich erzeugte Bedürfnisse als notwendig gesetzt werden, so Marx, umso höher ist der Reichtum einer Gesellschaft. Denn „der 258 259 260 261 Vgl. paradigmatisch Adornos Thesen über Bedürfnis: GS8, S. 392ff. MEW23, S. 185. Ebd. MEW13, S. 634. 149 Reichtum besteht stofflich betrachtet nur in der Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse“ 262 . Doch eine bestimmte Gesellschaftsformation wie die kapitalistische kann die Bedürfnisse durch Produktion erzeugen und zugleich einem Teil der Individuen die Konsumption des Bedürfnisgegenstandes verwehren, die erst das Bedürfnis stillen würde. So gibt es ein Übermaß an Produzenten, die nicht oder nur zum Teil Konsumenten sind. Während Adorno die Marx’sche Bedürfnistheorie übernimmt, erkennt er zugleich an, dass sie sich im Spätkapitalismus „erheblichen Schwierigkeiten [gegenübersieht]“. Denn [a]uf der einen Seite vertritt sie den gesellschaftlichen Charakter des Bedürfnisses und darum die Befriedigung der Bedürfnisse in ihrer unmittelbarsten, konkretesten Form. Sie kann sich keine Unterscheidung von gutem und schlechtem, echtem und gemachtem, richtigem und falschem Bedürfnis a priori vorgeben. Auf der anderen Seite muß sie erkennen, daß die bestehenden Bedürfnisse selber in ihrer gegenwärtigen Gestalt das Produkt der Klassengesellschaft sind. Menschlichkeit und Repressionsfolge wäre an keinem Bedürfnis säuberlich zu trennen. Die Gefahr einer Einwanderung der Herrschaft in die Menschen durch deren monopolisierte Bedürfnisse ist nicht ein Ketzerglaube, der durch Bannsprüche zu exorzieren wäre, sondern eine reale Tendenz des späten Kapitalismus. (…) Dieser Gefahr und allen Widersprüchen im Bedürfnis muß die dialektische Theorie standhalten. Sie vermag das nur, indem sie jede Frage des Bedürfnisses in ihrem konkreten Zusammenhang mit dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses erkennt, anstatt das Bedürfnis im allgemeinen sei’s zu sanktionieren, sei’s zu reglementieren oder gar als Erbe des Schlechten zu unterdrücken.263 Der hier noch 1943 formulierte Einwand gegen die klassische Bedürfnistheorie von Marx wird wesentlich für die negative Dialektik sein. Er will zusammenfassend eine (normative) Insuffizienz innerhalb der Bedürfnistheorie aufdecken: Während sie einerseits alle Bedürfnisse als gesellschaftlich bedingt und folglich als mittelbares Produkt der antagonistischen Klassengesellschaft betrachtet, kann sie nicht a priori angeben, welche Bedürfnisse zum Fortbestand und welche zu der Aufhebung dieser Klassengesellschaft mittelbar oder unmittelbar beitragen. Beide Tendenzen finden sich – wohl nicht proportioniert – in dieser einen Gesellschaft selbst inbegriffen. Eine Theorie des Bedürfnisses im Spätkapitalismus muss dementsprechend mit einem holistisch angelegten Instrumentarium ausgestattet sein, das es erlaubt, falsche von richtigen Bedürfnissen zu differenzieren. Falsch sind jene Bedürfnisse, deren innere Logik dem Fortbestand der Klassengesellschaft und der mit ihr zusammenhängenden Pro262 263 MEW42, S. 426. GS8, S. 393. 150 duktion von gesellschaftlich überwindbarem Leiden zugrunde liegt. Sie sind in diesem Sinne deshalb falsch, weil sie von einer Gesellschaftsverfassung abhängig sind, die innerlich widersprüchlich – antagonistisch – ist und als solche nicht fortbestehen kann, ohne in regelmäßige und immer destruktivere Krisen zu geraten. Dieses Instrumentarium gilt es nun, so Adorno noch 1943, weiterzuentwickeln. In welchem Sinne kann man nun angesichts dieser Bedürfnistheorie von einem ontologischen Bedürfnis im Spätkapitalismus sprechen – und in welchem Sinne kann man behaupten, dass es falsch ist? Dass es sich zunächst bei der Wiederbelebung der Ontologie im 20. Jahrhundert um ein gesellschaftliches Bedürfnis handelt, lässt sich nicht bloß an der innerphilosophischen Struktur der neuontologischen Denkgebilde, sondern vor allem an ihrer – bis heute – herausragenden Wirkung herauslesen: „Ihre Wirkung wäre aber nicht zu verstehen, käme ihr kein nachdrückliches Bedürfnis entgegen. Index eines Versäumten, die Sehnsucht, beim Kantischen Verdikt übers Wissen des Absoluten solle es nicht sein Bewenden haben“264. Dieses Verlangen, „beim Kantischen Verdikt übers Wissen des Absoluten solle es nicht sein Bewenden haben“, entspricht im Grunde dem zunächst durchaus nachvollziehbaren Bedürfnis nach einem Festen, einer verbindlichen Seinsordnung, deren innerphilosophische Grundlagen die kantische Metaphysik- und Ontologiekritik tendenziell unterminiert hat. Diese Diagnose der negativen – wenn wir wollen: kulturgeschichtlichen – Effekte der Vernunftkritik ist nicht neu; bereits die ersten Kritiker Kants, hauptsächlich Jacobi, haben auf den aus der Vernunftkritik resultierenden Nihilismus bekanntlich hingewiesen. Ob nun die kantische Vernunftkritik ihrerseits nur ein (gelungener) philosophischer Ausdruck dessen ist, was Jürgen Habermas das permanente Legitimationsbedürfnis der Moderne aufgrund ihres immanenten Entzauberungsprozesses genannt hat, darf hier offenbleiben265. Auf alle Fälle entsteht mit der Moderne und der kapitalistischen Gesellschaft eine radikale gesellschaftliche Weltfremdheit, die eben ein reintegratives Bedürfnis verschiedener Art mit sich bringt. An sich ist dieses gesellschaftliche Bedürfnis – so Adorno – nicht falsch: „Bedürfnisse sind ein Konglomerat des Wahren und Falschen; wahr wäre der Gedanke, der Richtiges wünscht“266. Es ist in gewissem Sinne eine natürliche Antwort auf eine akute Krisensituation. Falsch wird es erst dann, wenn es sich eben als Restauration eines vermutlich Vergangenen gestaltet, die letztlich mit dem aktuellen Fortbestand desjenigen gesellschaftlichen Systems kompromittiert ist, das das Bedürfnis als solches erst erzeugt hat. So würde die gelieferte Antwort eines Denkmodells auf dieses Bedürfnis lediglich eine illusionäre Ersatzwirkung haben. 264 265 266 GS6, S. 67. Vgl. diesbezüglich Schnädelbach (1996), S. 11. GS6, S. 98. 151 Adorno tendiert dazu, recht unterschiedliche Phänomene des Spätkapitalismus als restaurative Antworten auf dieses Bedürfnis nach wahrer Integration zu identifizieren, wie etwa die soziologisch konstatierbare Verstärkung des Aberglaubens und der New-Age-Religionen, die Entstehung (und verborgene Ausdauer) des Faschismus und der Totalitarismen verschiedener Art – und nicht zuletzt die Wiederbelebung der Ontologie. „Universal sind Ahnung und Angst, Naturbeherrschung webe durch ihren Fortschritt immer mehr mit an dem Unheil, vor dem sie behüten wollte; an jener zweiten Natur, zu der die Gesellschaft gewuchert ist. Ontologie und Seinsphilosophie sind – neben anderen gröberen – Reaktionsweisen, in denen das Bewußtsein jener Verstrickung sich zu entwinden hofft“267. Nicht umsonst, so Adorno, verbinden sich auf eigentümliche (und gefährliche) Weise all diese Phänomene bei dem wohl konsequentesten und radikalsten neueren Ontologen: bei Heidegger. Es ist dementsprechend etwas unpräzise, zu behaupten, dass der Spätkapitalismus das Bedürfnis nach ontologischen Denkmodellen an sich erzeugt, wie man dem Ausdruck ontologisches Bedürfnis voreilig entnehmen könnte. Vielmehr antworten die neueren Ontologien in ihrem eigentlichen, vermittelten Medium – dem begrifflich-philosophischen – auf das gesellschaftliche Bedürfnis nach wahrer Integration, das der schwindelerregende, sozial atomisierende und die Umwelt zerstörende Spätkapitalismus notwendigerweise erweckt. Sie sind insofern restaurativ, als sie in ihrer philosophischen Operation einen Moment der Geistesgeschichte wiederherzustellen beanspruchen, in dem das reine Denken noch in der Lage war, ontologische Inhalten autonom zu produzieren und von ihnen ausgehend eine stabile Ordnungsstruktur zur Erschließung des Wirklichen zu erstellen. „Heidegger freilich durchschaute die Illusion, von welcher der populäre Erfolg der Ontologie zehrt: daß aus einem Bewußtsein, in dem Nominalismus und Subjektivismus sedimentiert sind, einem, das überhaupt nur durch Selbstreflexion zu dem wurde, was es ist, der Stand der intentio recta einfach gewählt werden könne“268. Paradigmatisch für diese autonom produzierten gedanklichen Inhalte sind selbstverständlich die ontologischen Gottesbeweise, die bis Kant eine grundlegende Funktion in den Systementwürfen der Neuzeit spielten und mit der Vernunftkritik – so glaubt Adorno jedenfalls – definitiv widerlegt sind. „Sagt nicht, wer vom Absoluten handelt, notwendig, es sei das denkende Organ, das dessen mächtig sei, eben dadurch selbst das Absolute[?]“269. Zwar lässt sich dieser restaurative Impuls auch bei Heidegger besonders deutlich anerkennen, bei dem das Pathos des Ursprungs, des ZurückZu, der Volte sogar eine wichtige innertheoretische Funktion erhält. Doch 267 268 269 GS6, S. 75. GS6, S. 76. GS6, S. 397. 152 auch bei als „progressiv“ auftretenden Ontologien, die anstatt Existenz etwa „Arbeit“, „Freiheit“ oder „Gesellschaft“ als ontologische bzw. allen Sinn erschließende Grundkategorie dekretieren, ist für Adorno diese restaurative Tendenz am Werk. Sie zeichnet sich nicht nur durch inhaltliche Bestimmtheiten, sondern eben durch die formelle – und für Adorno antinomische – Grundoperation aus, Ontisches als Ontologisches zu hypostasieren und daraus eine Invariantenlehre zu verordnen, die Veränderbares zu Unveränderbarem, Geschichtliches zu Ungeschichtlichem konvertiert und so das Sekuritätsbedürfnis zu stillen scheint, das die in ständige Krise geratene Spätmoderne erweckt. Diese gesamte philosophische Prozedur wäre aber nicht möglich ohne einen bestimmten Umgang mit der Sprache, in dem gewisse atomisierte Termini als Index von unmittelbarem Sinn behandelt werden, der so zur Bildung eines ontologisierenden Jargons dezidiert beiträgt270. Diese Grundoperation bleibt, so Adorno, bei allen neueren Ontologien grundsätzlich identisch, auch wenn sie zu verschiedenen inhaltlichen Resultaten gelangen können. Es handelt sich um den einzig möglichen Weg, ontologisches Denken wiederherzustellen, nachdem die Vernunftkritik durchgeführt worden ist. Im nächsten Unterabschnitt werde ich die Vorbedingungen dieser Grundoperation aufgrund der Kategorien „Sein“ und „Existenz“ ausführlich analysieren. Es sei hier nur ein letztes Wort zur Bedürfnistheorie Adornos gesagt: Während die bekannte Ontologie- und Metaphysikkritik, die im Laufe des 20. Jahrhunderts paradigmatisch vom logischen Positivismus durchgeführt worden ist, im Grunde darin besteht, infolge der angeblichen Sinnlosigkeit der Aussagen der neueren Ontologien diese abzulehnen, folgt die bedürfnistheoretische Ontologiekritik einem radikal anderen Denkmuster. Als eine Variante von Ideologiekritik geht die Bedürfnistheorie nicht davon aus, dass die Aussagen der Ontologiekritik bloß sinnlos sind, sondern sie versucht, sie auch als Symptome einer außertheoretischen Konstellation zu lesen. So ist sie stärker „immanent“ angelegt, auch wenn sie die zu kritisierenden Denkmodelle holistisch auf die gesellschaftliche Praxis bezieht und diese ihrerseits aufgrund der Tendenzen zergliedert, die sich durch gesellschaftliche Bedürfnisse übersetzen lassen. Gerade deshalb muss ihr Ansatz streng vermittelt sein, andernfalls kann sie leicht als ein Organon von undialektischen und unmittelbaren Analogien angewandt werden, was ihrer Intention und ihrem Anwendbarkeitspotential zuwiderlaufen würde. Das bedeutet: Zwischen der notwendig produzierten Desintegration der spätkapitalistischen Klassengesellschaft, der reaktiven Entstehung von Faschismen und der Formulierung von neuontologisch angelegten Denkmodellen, zwischen all 270 Vgl. unten § 12 C. 153 diesen Phänomenen mag sehr wohl ein Zusammenhang bestehen, der bedürfnistheoretisch gedeutet werden könnte. Dieser Zusammenhang darf sich aber nicht mit dem bloß Analogischen begnügen, das allenfalls einen niedrigen Erkenntnisanspruch erheben darf. Indem sie Gesellschaft, Ökonomie und kulturelle Denkgebilde in einen immanenten Zusammenhang bringen möchte, läuft die Kritische Theorie stets Gefahr, analogisch zu prozedieren. Wie aller dialektischen Theorie ist auch ihr Vermittlung wesentlich; Vermittlung ist dementsprechend der Schlüssel, der eine gelungene Gesellschaftstheorie im Geiste der Kritischen Theorie zu beurteilen erlaubt. Das bedeutet, dass allein die Bedürfnistheorie nicht über den Wahrheitsgehalt eines Denkgebildes direkt entscheiden darf: Sie ist nur ein Übergangsmittel zu dessen immanenter Analyse. Im Fall der neueren Ontologie wird erst virulent, wie sie die Frage nach deren Möglichkeitsbedingungen qua Ontologie in einem nachkantischen Ambiente beantwortet. 154 B. Sein, Existenz, Vermittlung Die Bedürfnistheorie kann, wie eben gesehen, lediglich einen gesellschaftskritischen hermeneutischen Beitrag zur Auslegung von Denkgebilden leisten. Allein vermag sie über ihren Wahrheitsgehalt und ihre philosophische Konsequenz nicht zu urteilen. Eine immanente Kritik an der Ontologie muss hinzugefügt werden, die zwar aus ihr erwächst, doch eine andere kritische Prozedur verfolgt: „Kritik am ontologischen Bedürfnis treibt zur immanenten der Ontologie“271. Dafür entwickelt Adorno ein reflexionskritisch und sprachtheoretisch angelegtes Argumentationsmuster, das in vielen Hinsichten dem kantischen verpflichtet ist. Im Folgenden soll es rekonstruiert werden. Innerphilosophisch behaupten die neueren Ontologien, dass die Erstellung von ontologischen Aussagen nicht bloß einer Art philosophischer Grundentscheidung entspricht. Vielmehr bewegt sich ihnen zufolge jedes Denkmodell innerhalb eines gewissen „ontologischen Vorverständnisses“, das jedem theoretischen und praktischen Bezug zum Seienden vorausgeht, das aber bei dem ordinären theoretischen Diskurs größtenteils unthematisiert bleibt. Dementsprechend wollen auch die neueren Ontologien ein rein immanentes Argumentationsmuster liefern – hierin besteht ihre philosophische Kraft. Sie argumentieren, dass eine zumindest unthematisierte Ontologie auch dort vorausgesetzt werden muss, wo streng „faktenorientiert“ (bzw. ontisch) prozediert wird. Bei der Ontologie handelt es sich zunächst um einen gewissermaßen unumgänglichen kategorialen Rahmen, der nicht nur für alle kognitiven Leistungen konstitutiv ist, sondern überhaupt für die Art und Weise, wie sich Menschen auf Seiendes gegenständlich beziehen. Aus philosophiehistorischen und kulturgeschichtlichen Gründen hat sich nun die menschliche Reflexion immer weniger mit diesem vorgängigen Seinsverständnis befasst; darin liegen, unter anderem, die Gründe ihrer Krise. Es komme nun darauf an, den Blick der Philosophie auf die Ontologie zu orientieren und erneut die Seinsfrage zu stellen, die allen anderen thematischen Fragestellungen vorausgeht. Zwar entspricht das dem bekannten Argumentationsgang, den Heidegger zumindest seit dem epochalen Werk Sein und Zeit entwickelt hat, um die Wendung zu einer neuontologischen Denkweise zu begründen. Doch wie sich im Folgenden zeigen wird, transzendiert diese das Denken Heideggers und wird, so Adorno, von den meisten neuontologischen Denkgebilden auch der Sache nach vertreten. Auch wenn Heidegger seine eigene ontologische Grundlegung stets neu gedacht hat, hat sich dieser Gedankengang infolge der unumgänglichen Notwendigkeit ontologischen 271 GS6, S. 104. 155 Besinnens in der Tradition stark kristallisiert. So schreibt Heidegger noch auf den ersten Seiten seines Hauptwerks von 1927 über die Notwendigkeit, die Seinsfrage erneut zu stellen: Ontologisches Fragen ist zwar gegenüber dem ontischen Fragen der positiven Wissenschaften ursprünglicher. Es bleibt aber selbst naiv und undurchsichtig, wenn seine Nachforschungen nach dem Sein des Seienden den Sinn von Sein überhaupt unerörtert lassen. Und gerade die ontologische Aufgabe einer nicht deduktiv konstruierenden Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein bedarf einer Vorverständigung über das, „was wir denn eigentlich mit diesem Ausdruck ‚Sein‘ meinen“. Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst. Alle Ontologie, mag sie über ein noch so reiches und festverklammertes Kategoriensystem verfügen, bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat.272 Diese Textstelle enthält nicht nur die Begründung einer Rückkehr zu den ontologischen Fragestellungen, sondern implizit auch den zentrale Begriff der „ontologischen Differenz“. Zunächst über die Unumgänglichkeit der Ontologie: Heidegger plädiert für ein Verständnis des theoretischen Unternehmens, das dreistufig angelegt ist. Es gibt erstens die faktenorientierten, ontischen Untersuchungen der positiven Wissenschaften, die sich damit beschäftigen, was der Fall ist. Aus diesen Untersuchungen ergibt sich immanent das, was Heidegger hier ontologisches Fragen im „naiven“ Sinne nennt, das einer theoretischen Konstruktion der Hauptkategorien entspricht, die in den Einzelwissenschaften jeweils am Werke sind. Nach aller Wahrscheinlichkeit hat hier Heidegger den Begriff der materialen Ontologien als Wesenswissenschaft im Sinne, den Husserl seit etwa 1913 rehabilitiert hat. Die materialen Ontologien, so Husserl, beschäftigen sich abstrahierend mit den unterschiedlichen „Seinsregionen“, die ihrerseits von den Einzelwissenschaften ontisch untersucht werden. „Jede dieser Regionen (z.B. Natur, Mensch, Geschichte) ist das Objekt einer eigenen auf sie bezogenen Wesenswissenschaft oder materialen Ontologie“. Bei diesen materialen Ontologien handelt es sich um „streng apriorische Wissenschaften“, die „das Fundament der auf denselben Gegenstandsbezirk ausgerichteten empirischen Wissenschaften [bilden]“ 273 . Ontologisches 272 273 Heidegger (2006), S. 11. Husserl (1992), S. 28. 156 Fragen, so der Gedankengang, ist folglich ein theoretischer Diskurs zweiter Stufe, der aus der Reflexion auf die wissenschaftliche Tätigkeit immanent erwächst und die Hauptbegriffe dieser Tätigkeit zum Gegenstand hat. Doch sofern diesem theoretischen Diskurs zweiter Stufe der Seinsbegriff absolut zentral ist, bleibt auch er naiv, wenn die Frage nach dem Sein zuvor unerörtert geblieben ist. Die Untersuchung, die sich mit der Frage nach dem Sein befasst, ist dann ein Diskurs dritter Stufe, der grundlegender als alle anderen ist und deshalb von Heidegger „fundamental“ genannt wird. Im Rahmen von Sein und Zeit wird diese fundamentale Grundwissenschaft erst als eine Analytik desjenigen Seienden zugänglich, aufgrund dessen Existenz sich das Sein erst manifestiert: das Dasein. Denn „[d]ie ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist“274. In diesem Gedankengang ist nun auch die Idee der ontologischen Differenz – auch ontisch-ontologische Differenz genannt – anwesend, auf der Heideggers Denken in vieler Hinsicht philosophisch gründet. Diese Idee dürfte sich der Sache nach in allen Denkgebilden finden, die Ontologie als unumgänglich interpretieren. „Die Überordnung der Seinsfrage über die Erkenntnisfrage, durch die man die neuere Ontologie allgemein charakterisieren kann“, schreibt Schnädelbach, „soll selbst das Resultat erkenntnistheoretischer Reflexionen sein: seit Lotze spielt dabei das Argument, daß das Subjekt selbst ein Seiendes und die Erkenntnisrelation eine Seinsrelation ist, eine zentrale Rolle“275. Der Idee der ontisch-ontologischen Differenz zufolge besteht ein qualitativer Unterschied zwischen Sein und Seiendem, aufgrund dessen sowohl die Differenz als auch die mögliche Verbindung zwischen Ontik und Ontologie hergestellt werden kann. Gemäß dieser Idee ist ein jeglicher gegenständlicher Bezug zu Seiendem durch das Sein (ungegenständlich) bestimmt, das aber wiederum nur durch das Seiende selbst erschließbar sei. Bereits vor Sein und Zeit, in der Vorlesung über Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927, hat sich Heidegger mit diesem Begriff ausführlich befasst. Dort steht sogar, dass „[d]as Problem des Unterschieds von Sein überhaupt und Seiendem nicht ohne Grund an erster Stelle [steht]. Denn die Erörterung dieses Unterschieds soll erst ermöglichen, eindeutig und methodisch sicher dergleichen wie Sein im Unterschied von Seiendem thematisch zu sehen und zur Untersuchung zu stellen“276. Etwa dasselbe hat Heidegger im Sinn, wenn er in der oben angeführten Passage zwischen den ontischen Wissenschaften und den sie fundierenden Ontologien unterscheidet, die wiederum ein bestimmtes Seinsverständnis – oder einen Verständnishorizont, um einen immer wieder verwendeten Begriff zu verwenden – und folglich die Seinsfrage stets voraussetzen. Der vergegenständlichende Bezug zum 274 275 276 Heidegger (2006), S. 12. Schnädelbach (1983), S. 235. Heidegger (1997), S. 322. 157 Seienden setzt dementsprechend nicht nur ein Seinsverständnis voraus, wobei Sein sich fundamental vom Seienden unterscheidet; er ist auch in einem sinnhaften Totalitätszusammenhang (Horizont) eingebettet, der das Seiende stets transzendiert und immanent bestimmt. Doch das so verstandene Sein – zu dem das ganze Denken Heideggers führt – ist wie gesagt nur durch das Seiende erschließbar, „in“ das es gesetzt ist – sodass sich hier ein evidenter Zirkel ergibt, der aber für Heidegger unvermeidlich und sogar index veri ist. Der schwer zu überschätzende Erfolg dieser Idee Heideggers in der zeitgenössischen Philosophie könnte unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass sie es ermöglicht, die zwei Hauptvarianten der ontologischen Forschung organisch zusammenzudenken, die traditionsgemäß getrennt durchgeführt worden sind: die Theorie der Existenz einerseits und die Theorie der Seinsarten andererseits. Sogar Adorno nannte diese Idee eine „glückliche terminologische Innovation“ 277 Heideggers, auch wenn er sich bemüht, sie zu kritisieren. Denn zum einen begründet sie die Ontologie als unumgängliche theoretische Disziplin, die in der ordinären wissenschaftlichen Tätigkeit impliziert ist, diese aber gleichzeitig übersteigt; zum anderen affirmiert sie die Vorgängigkeit der radikaler verstandenen Seinsfrage im Hinblick auf alle ontologischen Fragestellungen und betrachtet die sich mit ihr befassende Disziplin als „Fundamentalontologie“. Mit der Rehabilitierung der so verstandenen Ontologie in Gestalt der Seinsfrage liefert sie auch eine emphatische Antwort auf die idealistische Identitätskrise der Philosophie, unter deren Wirkung die phänomenologische Denktradition, der Heidegger wesentlich angehört, entstanden ist. So rehabilitiert Heidegger das Verständnis von der Philosophie als der auf die Totalität gerichteten Grundwissenschaft, das nach dem Tod Hegels in die Krise geraten war, ohne aber gegen den Geist der Vernunftkritik zu verstoßen. Auch wenn sie nicht direkt an Heidegger oder an die Phänomenologie anknüpfen, sind für Adorno alle Denkgebilde, die sich nach Kant als ontologisch verstehen, mit dieser Grundoperation mehr oder minder kompromittiert. Denn bereits die Erstellung von ontologischen Aussagen gleich welcher Inhalte setzt ihm zufolge voraus, dass sie ihrem Anspruch nach von den ontisch ausgerichteten Aussagen grundverschieden sind. „Nur dann nämlich ist Ontologie in nachdrücklichem Sinn, eine Lehre von Sein überhaupt, möglich, wenn Sein – was immer wir uns darunter vorstellen mögen – als ein von allem Seienden Unabhängiges oder, wie es in der Sprache von ‚Sein und Zeit‘ heißt, ‚Vorgängiges‘ kann erwiesen werden“ 278 . „Ontologie muß also ex definitione die Vorgängigkeit von 277 278 OD, S. 24. OD, S. 95. 158 Sein über Seiendes lehren“ 279 . Bei der ontisch-ontologischen Differenz handelt es sich so um die minimale Voraussetzung aller Ontologie als Disziplin. Aus diesem Grunde behauptet Heidegger, dass die Frage nach dem Unterschied von Sein und Seiendem die allererste ist, mit der man sich auseinanderzusetzen hat. Auch deshalb erläutert Adorno die ontischontologische Differenz als eine Konzeption der Ontologie schlechthin, wie er in seiner Vorlesung über Ontologie und Dialektik schreibt: Unter ontologischer Differenz versteht man also die Differenz zwischen Sein und Seiendem, – wobei diese Differenz ebensowohl einen Unterschied bezeichnet wie, der Konzeption der Ontologie zufolge, doch auch wieder eine Verbindung zwischen den beiden Momenten: denn das Seiende soll für die Ontologie einen ausgezeichneten Schlüsselcharakter für das Sein besitzen. Und umgekehrt ist ohne das Verständnis des Seins, Heidegger zufolge, ein Verständnis des Seienden und damit der sogenannten einzelnen regionalen Ontologien überhaupt nicht zu gewinnen. Also von dieser Differenz von Sein und Seiendem im Begriff des Seins selber, in der ontologischen Fragestellung selber reden wir, wann immer ich den Ausdruck ontologische Differenz gebrauchen werde.280 Nun ist es genau diese Idee, gegen die sich die negative Dialektik wendet. Ihre Kritik hat grundsätzlich zwei Momente. Zunächst macht Heidegger mit dem Begriff der ontisch-ontologischen Differenz eine petitio principii, die die Vorgängigkeit des Ontologischen gegenüber dem Ontischen eigentlich vorentscheidet. Zwar gibt er dies teilweise selbst zu, indem er sein philosophisches Verfahren anhand der theoretischen Figur des Zirkelschlusses expliziert. Doch die Tatsache, dass die Philosophie aufgrund ihres eigenen Wesens gewissermaßen einer Art Zirkelschluss immer unterliegen muss, dispensiert den Philosophen nicht, seine Voraussetzungen argumentativ nachzuholen. So Adorno: Er hat zwar mit dem Paradoxon, daß die Philosophie nicht den Zirkel zu vermeiden, sondern an der richtigen Stelle in ihn einzusteigen habe, ganz recht, aber er bleibt hinter dieser seiner eigenen These insofern zurück, als es bei ihm wirklich nur bei einem bloßen Zirkelschluß bleibt; das heißt, daß eigentlich immer wieder nur diese Prämisse von der Vorgängigkeit des Seins über das Seiende nachgebetet, wiederholt, variiert wird, ohne daß nun in einem eigentlich argumentativen Zusammenhang ihr nachgegangen wäre. Und das wird methodologisch mit jener Verachtung für das Argument gestützt, im Grunde mit jener Verachtung für das Denken überhaupt, 279 280 OD, S. 97. OD, S. 25. 159 die ja dieses besondere Denken in einem so hohen Maß charakterisiert.281 So wird die Vorgängigkeit des Seinsverständnisses gegenüber jeglichem Bezug zu Seiendem von der neueren Ontologie gewissermaßen präsupponiert, obwohl sie doch gerade erst argumentativ zu demonstrieren wäre. In vielem vollzieht sie, so Adorno, einen philosophischen Gestus des „Als ob“: Stellt man sich darauf ein, als ob die Ontologie und so die Seinsfrage allen anderen ontischen Fragestellungen logisch vorgängig wäre, dann ergibt sich ein bestimmtes Denkbild, dessen Ausführung die Fundamentalontologie ist. Zwar gesteht Adorno zu, dass die ontischen Untersuchungen der Einzelwissenschaften anhand von Grundprinzipien operieren, deren Formalisierung „ontologisch“ – im Rahmen eines Diskurses zweiter Stufe also – benannt werden könnte. Doch sofern es nicht anders bewiesen wird, sollte man davon ausgehen, dass diese ontologisierende Formalisierung nichts anderes als eine Abstraktion der je konkret experimentierenden Vollzüge der Einzelwissenschaften darstellt. Kurz gesagt sind die ontischen Untersuchungen sowohl genetisch als auch logisch gegenüber den „ontologischen“ vorgängig. Außer diesem einen Argument enthält die negativ-dialektische Kritik an der Ontologie auch ein zweites Moment. Ihm zufolge basiert der Begriff der ontisch-ontologischen Differenz auf einem Kunststück, dem seine Faszination größtenteils zuzurechnen ist. Dieses Kunststück besteht im Grunde in der Verwandlung der konstitutiven Leerheit des Seinsbegriffs in Positivität. Bereits Kant hatte bekanntlich in der BeweisgrundSchrift und dann auch in der Kritik der reinen Vernunft den Seinsbegriff anhand der Setzung oder Position logisch zergliedert und so seine unumgängliche Leerheit als einheitlicher, nominalisierter Begriff freilegt 282 . Vorausgesetzt nun, dass das Sein der Summe dessen entspricht, was der Fall ist und sich folglich inhaltlich bestimmen lässt, dann kann eine ontisch-ontologische Differenz notwendigerweise auf diese Leerheit hinweisen – doch sie wird im Zusammenhang der neueren Ontologie als „höhere“ Unbestimmtheit, Unumgänglichkeit, Unverfügbarkeit und Unthematisierbarkeit verklärt. In diesem Sinne macht die Ontologie gewissermaßen aus der Not eine Tugend – aus der immanenten Leerheit des Seinsbegriffs heraus wird seine vermutlich höhere Dignität affirmiert. Diesen Gedankengang hat Karl Heinz Haag am klarsten formuliert, und Adorno sekundiert ihm in der Negativen Dialektik. So schreibt Haag: Was allerdings unter einem solchen, von der Sphäre des Ontischen angeblich völlig unabhängigen ‚Sein‘ zu verstehen ist, muß unausgemacht bleiben. Seine Bestimmung würde es in die Dialektik von 281 282 OD, S. 39. KW2, S. 632f. 160 Subjekt und Objekt hineinziehen, von der es gerade ausgenommen sein soll. An dieser Unbestimmtheit, an der wohl zentralsten Stelle der Heideggerschen Ontologie, liegt es, daß die Extreme Sein und Seiendes auch gegeneinander notwendig unbestimmt bleiben müssen, so daß nicht einmal angebbar ist, worin deren Differenz besteht. Die Rede von der ‚ontologischen Differenz‘ reduziert sich auf die Tautologie, das Sein sei nicht das Seiende, weil es das Sein sei. Heidegger macht also den Fehler, den er der abendländischen Metaphysik vorwirft, daß nämlich stets ungesagt geblieben sei, was Sein im Unterschied zum Seienden meine.283 Die negative Dialektik ordnet sich dementsprechend in die Denktradition der vermittlungstheoretischen und sprachphilosophischen Kritik am Seinsbegriff ein, die in der Moderne wohl auf Kant zurückgeht und mit Variationen bis zur Sprachanalyse des 20. Jahrhunderts reicht. Diese Kritik könnte so zusammengefasst werden: Der Seinsbegriff hat stets eine ausgezeichnete Rolle in der Philosophiegeschichte insofern gespielt, als er die totalisierende Intention der klassischen Metaphysik und so auch des überlieferten Philosophiebegriffs synthetisiert hat. Grund dürfte sein, dass er seinem Wesen nach mehrdeutig ist und an sich vor allem die Bedeutungen der Existenz und der Prädikation enthält, die zusammengenommen die Hauptfragen der Ontologie ergeben. Doch eben infolge dieser Undifferenziertheit erwachsen aus dem für die Theoriebildung größtenteils unverzichtbaren Seinsbegriff kategoriale Probleme, die entweder unausweisbare Aussagen oder schlicht sinnlose Fragen zur Folgen haben können. Der Seinsbegriff bedarf daher einer innerbegrifflichen Zergliederung und so einer möglichen Übersetzung in andere Begriffe, um die aus ihm entstehenden kategorialen Probleme zu lösen. Wie gesagt hat bereits Kant dies erkannt, indem er die Prädikation in eine Kategorienlehre übersetzt und die Existenz als Position expliziert hat. Auch wenn sie ganz unterschiedliche Konsequenzen daraus ableitet, erbt die moderne sprachanalytische Kritik am Seinsbegriff größtenteils diese von Kant inaugurierte kritische Operation. So schreibt zum Beispiel Ernst Tugendhat: Im logischen Positivismus, etwa in Carnaps Aufsatz ‚Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache‘ (1932), galt Ontologie für schlechthin sinnlos. Allerdings nicht das Wort ‚Sein‘. Man braucht es ja ständig, auch in logisch formalisierten Aussagen. Es hat jedoch verschiedene disparate Bedeutungen, insbesondere die der Existenz, der Prädikation und der Identität. In logistisch formalisierten Aussagen ist diese Mehrdeutigkeit behoben, indem die verschiedenen Bedeutungen verschieden symbolisiert werden. Hingegen scheint es für die Metaphysik charakteristisch, daß sie an 283 Haag, Kritik der neueren Ontologie, zitiert nach ND, S. 121f. 161 dem mehrdeutigen Wort festhalten möchte, und daraus, erklärt Carnap, entstehen sinnlose Fragen. Wäre das alles, so ließe sich jedoch eine Ontologie denken, die sich ausschließlich an eine der Bedeutungen des Wortes ‚Seins‘ hält, etwa an die der Existenz. Carnap muß daher erklären: das Wort ‚Sein‘ fungiert zwar sinnvoll, wenn man es in Aussagen lediglich gebraucht; hingegen wären alle Fragen, die es irgendwie thematisch machen, sinnlos.284 Trotz aller Positivismuskritik distanziert sich die negative Dialektik nicht strikt von diesem Argumentationsmuster. Auch sie führt den Seinsbegriff sprachtheoretisch auf seine Grundlagen zurück, um seine immanenten Vermittlungen aufzuzeigen. Auch sie ist damit einverstanden, dass der Seinsbegriff aufgrund seiner Mehrdeutigkeit einer innerbegrifflichen Zergliederung bedarf und immanent zu kategorialen Problemen führt. Auch sie interpretiert den Seinsbegriff der Metaphysik und der neueren Ontologien als eine begriffliche Autonomisierung, die aus der problematischen Verwendungsweise des sprachlichen Seinsbegriffs erwächst und für seine philosophische Faszination auch in einem nachkantischen Ambiente größtenteils verantwortlich ist. Anders als die Hauptvertreter der Sprachanalyse erklärt die negative Dialektik die Aussagen der Ontologie jedoch nicht für schlicht sinnlos, sondern deutet sie innerhalb einer Bedürfnistheorie, wie sie oben rekonstruiert worden ist und die im Grunde die Rolle einer Art Symptomatologie – „Wovon ist die Wiedergeburt der Ontologie ein Symptom?“ – übernimmt. „Der Seinskult lebt von uralter Ideologie, den idola fori: dem, was im Dunkel des Wortes Sein und der daraus abgeleiteten Formen gedeiht“285. Mit anderen Worten: Das Sein der neueren Ontologien ist im Grunde, so die negative Dialektik, nichts anderes als eine unerlaubte begriffliche Hypostasierung, die sich aus den undifferenzierten Verwendungsweisen des Seinsbegriffs ergibt. Das wie auch immer zu verstehende Sein ist dem Ontologen lediglich durch den Seinsbegriff zugänglich, wie dieser in den menschlichen Sprachen ordinär verwendet wird. Gewiss kann – und soll – der alltägliche Seinsbegriff aufgrund logischer und philosophischer Analyse geklärt und differenziert werden, doch der Bezug zur ordinären Sprache bleibt wesentlich. Abgesehen von besonderen Variationen dieser oder jener menschlichen Sprache fungiert der Seinsbegriff nun aber als Position (Existenz) und als Kopula. Als Position setzt Sein ohne alle Frage Vermittlung voraus, sofern ein besonderes X eben durch einen kognitiven Vollzug gesetzt wird. Der Anschein von Unvermitteltsein und Unbedingtheit, der dem Seinsbegriff anhaftet und seiner unterstellten radikalen Differenz zum Ontischen zugrunde liegt, wird dann von der Kopula abge- 284 285 Tugendhat (1992), S. 23. GS6, S. 107. 162 leitet, sofern diese die Funktion sowohl eines Existentialurteils als auch einer Synthesis erfüllt: ‚Ist‘ stellt zwischen dem grammatischen Subjekt und dem Prädikat den Zusammenhang des Existentialurteils her und suggeriert damit Ontisches. Zugleich bedeutet aber es, rein für sich genommen, als Copula, den allgemeinen kategorialen Sachverhalt einer Synthesis, ohne selber ein Ontisches zu repräsentieren. Darum läßt es ohne viel Umstände auf der ontologischen Seite sich verbuchen. Von der Logizität der Copula bezieht Heidegger die ontologische Reinheit, die seiner Allergie gegen Faktisches gefällt; vom Existentialurteil aber die Erinnerung an Ontisches, die es dann erlaubt, die kategoriale Leistung der Synthesis als Gegebenheit zu hypostasieren286. Die Tendenz zur Verselbstständigung der Kopula jenseits ihrer synthetischen Funktion, wie sie der Ontologie im strengen Sinne wesentlich ist, ist folglich dem Seinsbegriff immanent. „Im Wort Sein, dem Inbegriff dessen, was ist, hat die Copula sich vergegenständlicht“287. Es handelt sich eben um eine logisch und bedeutungstheoretisch unerlaubte Hypostasierung, die das Sein als Kopula aus seiner notwendigen Relation zwischen Subjekt und Prädikat herausnimmt und es autonomisiert. Diese Operation erklärt sich nicht bloß aus der immer defizitären Dimension der menschlichen Sprache, die, wie Kant sagt, „von den Zufälligkeiten ihres Ursprungs, einige nicht zu ändernde Unrichtigkeiten [hat]“288. Sie registriert auch den dialektischen Charakter des Denkens, das sowohl Matrix von Vermittlung als auch selbst vermittelt ist: Denken ist demzufolge eine Potenz, deren Leistung Verflüchtigung von objektivem Sinn ist – und nicht dessen Erstellung. Anders gewendet: Denken ist Negativität. „In ihr [der Sinnlosigkeit des Wortes Sein – D. P.] schlägt die Unmöglichkeit sich nieder, positiven Sinn durch den Gedanken zu ergreifen oder zu erzeugen, der das Medium der objektiven Verflüchtigung von Sinn war“289. „Denken dagegen, das nicht als Ursprung sich behauptet, sollte nicht verbergen, daß es nicht erzeugt sondern wiedergibt, was es, als Erfahrung, bereits hat“290. Die Hypostasierung des Seins beruht in diesem Sinne bloß auf einem verfälschten Vermittlungskonzept, das aber in den logischen Verwendungsweisen des Seinsbegriffs verwurzelt ist. Die durchgeführte Kritik an ihm führt zugleich zu dem dialektischen Vermittlungsbegriff, den die negative Dialektik vertritt: „Jeder Versuch, das ‚Ist‘, und wäre es in der 286 287 288 289 290 GS6, S. GS6, S. KW2, § GS6, S. GS6, S. 105. 109. 1. 105. 71. 163 blassesten Allgemeinheit, überhaupt nur zu denken, führt auf Seiendes hier und dort auf Begriffe“291. So lässt sich Sein nur insofern denken, als es durch Seiendes vermittelt gedacht wird; diese Vermittlung ist aber ihrerseits nicht mit einer Variante von ontisch-ontologischer Differenz zu vermengen. Letztere denkt Sein zwar im Ausgang von Seienden, um aber anschließend die Grundverschiedenheit beider und die Vorgängigkeit des Seins zu behaupten. Die dialektische Vermittlung des Seins durch das Seiende besteht hingegen in der Auflösung des Seins selbst, das als eine philosophische Abstraktion entlarvt wird: „Kein Sein ohne Seiendes“292, wie die Konklusion der negativ-dialektischen Ontologiekritik lauten müsste. Daraus folgt unmittelbar, dass der ontologische Rahmen, den die neueren Ontologien formulieren, nur aufgrund einer Ontologisierung des Ontischen zustande gebracht werden kann. Denn wenn Sein nur einen aus der Ontik abgeleiteten und aus der Kopula hypostasierten Begriff darzustellen vermag, kann der ontologische Rahmen eines Denkgebildes auch nur einem anders gewendeten Verhältnis zur Ontik entsprechen. Das ist die Grundoperation, die für Adorno alle nachkantische Ontologie vollzieht: Ontisches wird aus dessen geschichtlich-gesellschaftlicher Konstellation herausgenommen und zum Status des alles bestimmenden Ontologischen erhoben. Die unmittelbare Konsequenz dieser Grundoperation ist die Konversion von Geschichtlichem zu Übergeschichtlichem und die Herausbildung einer angeblich stabilen Invariantenlehre, die aber nur aus einer Verklärung ihres eigentlich geschichtlichen Charakters besteht. Indem aber Geschichtliches zu Ontologischem erhoben wird, wird zugleich ein geschichtlich-gesellschaftlicher Zustand – und somit auch ein bestimmtes Menschenbild – verewigt, der aber grundsätzlich überwindbar ist. Bei Heidegger wird dieser Umstand besonders klar anhand von Kategorien wie Angst, die aus einer bestimmten menschlichen Formation stammen und deshalb prinzipiell überwindbar sind, die aber bei ihm ontologisiert werden: „Kategorien wie die Angst, von denen zumindest nicht zu stipulieren ist, sie müßten für immer währen, werden durch ihre Transfiguration Konstituentien von Sein als solchem, ein jener Existenz Vorgeordnetes, ihr Apriori“293. Das ist aber auch der Fall bei Kategorien, die in der marxistischen Tradition so zentral sind wie der Arbeitsbegriff, entsprechend transreflexiv gesetzt werden und so auch neuontologisch erfasst werden können294. Auch aus diesem Grund sind die neueren Onto291 GS6, S. 111. GS6, S. 139. 293 GS6, S. 125. 294 In der marxistischen Tradition hat paradigmatisch der späte Lukács diesen Denkweg eingeschlagen. Hieraus ließe sich die Kontroverse zwischen ihm und Adorno rekonstruieren. Vgl. diesbezüglich Tertulian (2009). 292 164 logien für Adorno konservativ, auch wenn sie sich als progressiv präsentieren: Ein Gesellschafts- und Menschenbild wird verewigt, das dem jetzigen Zeitalter mittelbar oder unmittelbar entstammt und grundsätzlich überwindbar ist (und auch sein soll, wenn man an der Idee der Versöhnung festhält). Im nächsten Abschnitt werde ich die Konsequenzen dieser Seinskritik für die Materialismusfrage und das Vermittlungsmodell der negativen Dialektik zusammenfassen. Zuvor möchte ich aber diese negativdialektische Ontologiekritik anhand ihres sprachanalytischen Pendants etwas konkreter vervollständigen und plausibler machen. 165 C. Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die These Adornos zu plausibilisieren, der zufolge die philosophische Grundpolarisierung von Ontologie und Dialektik erst im Zusammenhang mit und hauptsächlich im Ausgang von ihrer sprachlichen Dimension vollends entfaltet werden kann. Denn mit seinem hier rekonstruierten Beitrag zur Ontologiekritik vertritt er die Auffassung, dass die Sprachproblematik keineswegs nur einen Aspekt neben den anderen in dieser Polarität bildet, sondern vielmehr die wesentliche Komponente der Grundpolarisierung selbst ist, sodass sich die Gegenüberstellung von Ontologie und Dialektik gerade in der Form des philosophischen Schreibens ausdrückt bzw. in der jeweils zugrunde liegenden Sprachtheorie sedimentiert. Das heißt, ontologisches und dialektisches Denken sind zwei grundverschiedene Denkarten, deren Grundverschiedenheit ihrerseits sprachlich, als unterschiedliche Sprachmodelle konkretisiert wird. Ausgegangen wird von einer konzeptuellen Grundrekonstruktion des Jargon-Begriffs bei Adorno, der mindestens seit 1956 vom Autor terminologisch verwendet wird. Der Jargon ist Adorno zufolge das Produkt einer sprachlichen Operation, zu der grundsätzlich alle ontologischen Denkweisen nach Kant tendieren. Zwar bringt das Denken Martin Heideggers diese sprachliche Operation in Gestalt eines Jargons der Eigentlichkeit am klarsten zum Ausdruck, doch sie ist für Adorno die innerliche Konsequenz aller Ontologie in der Moderne. Dem Jargon-Begriff ist nun diejenige philosophische Verfahrensweise entgegenzusetzen, die Adorno im Anschluss an Walter Benjamin wohl als das ausschlaggebende Merkmal des dialektischen Denkens überhaupt entwickelt: das Modell des Denkens in Konstellationen. „Jargon“ und „Denken in Konstellationen“ bilden zwei grundlegend gegensätzliche Denk- und Schreibmodelle, die Ausdruck und Teil der entsprechenden Grundpolarisierung Ontologie und Dialektik selbst sind. Allein anhand dieser Sprachmodelle lässt sich diese Grundpolarisierung, wie sie sich bei Adorno gestaltet, durchsichtig machen. Was das konkrete Verhältnis Heideggers zum Jargon betrifft, zeigt sich, dass er, so wie ihn Adorno konzipiert, keineswegs direkt bei Heidegger zu finden ist. Vielmehr ist er eine rein theoretische Konstruktion, die lediglich gesellschaftliche und philosophische Tendenzen der Spätmoderne herauszukristallisieren versucht und nicht direkt einem konkreten Textkorpus entspricht. Heideggers Texte sind wohl der meist- und höchstreflektierte Ausdruck und die am meisten beachtete Verkörperung dieser Tendenzen, folglich spricht und hallt in ihnen der Jargon mittelbar nach. Es wäre ein Missverständnis, Textstellen aus dem Heidegger’schen Korpus dem oben thematisierten Jargon-Begriff bei Adorno direkt gegenüberzustellen, um einzuwenden, Heidegger schreibe doch nicht so. Sicherlich 166 finden sich bei Heidegger Textstellen, die dem Jargon-Begriff durchaus entsprechen – Adorno zeigt ja einige auf –, aber es lassen sich auch Textpassagen finden, die ihm widersprechen. Ausschlaggebend für meine Intentionen ist hingegen, theoretisch plausibel zu machen, dass die genannten Tendenzen mit der ontologischen Denkweise koinzidieren (und in extremis koinzidieren müssen). (a) Zum Jargon-Begriff Adorno verwendet die Worte „Jargon“ bzw. „Jargon der Eigentlichkeit“ in terminologischer Prägung spätestens seit 1956, wo sie in der Metakritik der Erkenntnistheorie auftaucht. Dort erscheint der Jargon als direkte sprachliche Konsequenz einer bestimmten innerphilosophischen Operation, die die damaligen Entwicklungen der Phänomenologie vollzogen haben: Wenn der kritische Vollzug der zur Phänomenologie geronnenen Motive deren Löcher aufdeckt, die sie durch den Übergang von einem Begriff zum anderen vergebens stopft, so will in gewissem Sinn die Phänomenologie in ihrer ontologischen Endphase jene Löcher selbst: von ihren unfreiwilligen Irrationalitäten profitiert ihre zuinnerst irrationalistische Absicht. Daher redet sie den Jargon der Eigentlichkeit, der mittlerweile die gesamte deutsche Bildungssprache zum geweihten Kauderwelsch verderbte, theologischer Ton bar des theologischen Inhalts wie eines jeglichen außer der Selbstvergötzung.295 Diese Beschreibung erlaubt aber kaum eine begriffliche Rekonstruktion dessen, was unter einem Jargon der Eigentlichkeit zu verstehen sei. Auch im Werk, das den Begriff als Titel trägt, findet man – wie üblich bei Adorno – keine eindeutige Definition des Jargon-Begriffs, weil er selbst nur in Konstellationen behandelt wird. Man müsste folglich den Begriff – oder zumindest dessen philosophischen Gehalt – aus diesen Konstellationen herauskristallisieren: Der Jargon verfüge über „eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter“, der „Sprachfunktion im Jargon“ von bestimmten wiederholten Worten wie „existenziell, ‚in der Entscheidung‘, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung“ sei nachzugehen; der Jargon sei „objektiv ein System“ und benutze „als Organisationsprinzip die Desorganisation, den Zerfall der Sprache in Worte an sich“; Worte werden zu solchen des Jargons „erst durch die Konstellation, die sie verleugnen, durch die Gebärde der Einzigkeit jedes einzelne davon“; manche Worte des Jargons „mögen in anderer Konstellation ohne Blinzeln nach dem Jargon verwendet werden“; der Jargon operiere „Eigentlichkeit, oder ihr Gegenteil, aus jedem solchen einsichtigen Zusammenhang heraus“; im Jargon [sind] die Worte „aus295 GS5, S. 41f., meine Hervorhebung. 167 tauschbare Spielmarken, unberührt von Geschichte“; „was Jargon sei und was nicht, darüber entscheidet, ob das Wort im Tonfall geschrieben ist, in dem es sich als transzendent gegenüber der eigenen Bedeutung setzt; ob die einzelnen Worte aufgeladen werden auf Kosten von Satz, Urteil, Gedachtem“; der Jargon „sorgt dafür, daß, was er möchte, in weitem Maß ohne Rücksicht auf den Inhalt der Worte gespürt und akzeptiert wird durch ihren Vortrag“; „das vorbegriffliche, mimetische Element der Sprache nimmt er zugunsten ihm erwünschter Wirkungszusammenhänge in Regie“; der Jargon verschandelt „das Oberste, das zu denken wäre und das dem Gedanken widerstrebt (…) indem er sich aufführt, als ob er es – ‚je schon‘, würde er sagen – hätte“; den Worten wird vom Jargon „die Transzendenz der Wahrheit über die Bedeutung der einzelnen Worte und Urteile als ihr unwandelbarer Besitz“ zugesprochen, „während jenes Mehr [das dem philosophischen Sprachverfahren eigentümlich ist – D. P.] allein in der Konstellation, vermittelt sich bildet“; die Dialektik „von Wort und Sache ebenso wie die innersprachliche zwischen den Einzelworten und ihrer Relation“ werden vom Jargon abgebrochen etc.296 Den angeführten Zitaten ist zunächst zu entnehmen, dass der Jargon „objektiv ein System“ 297 – oder zumindest systemähnlich – sei. Adorno verwendet den System-Begriff stets streng terminologisch im Sinne der theoretischen Figur eines in sich geschlossenen Referenzrahmens, der hierarchisch anhand eines meist selbst gesetzten ersten Prinzips strukturiert ist, das den ganzen Referenzrahmen bestimmt. Es handelt sich also um eine in sich geschlossene Totalität bzw. einen autarken Immanenzzusammenhang, dessen Teile lediglich mit Blick auf das selbstbezügliche Ganze Sinn erhalten. Adorno kennt lediglich idealistische Denksysteme, in denen also nur Identität herrschen kann, auch wenn sie durch Nichtidentität konstituiert wird; ein System der Differenz beispielsweise, wie es manche zeitgenössischen Autoren 298 zu konstruieren versuchen, ist Adorno zufolge ein Selbstwiderspruch. Die theoretische Figur eines Referenzrahmens, der beispielsweise auf Differenz oder Nichtidentität – und nicht auf Identität – aufbauen würde, wäre für Adorno wohl diejenige eines Antisystems, so wie die eigene negative Dialektik es zu sein beansprucht299. 296 297 298 299 Alle Zitate GS6, S. 417–421. GS6, S. 417. Das ist wohl das theoretische Ziel der Abhandlung Différence et repétition von Gilles Deleuze, die nicht auf das emphatische Systemdenken verzichten will, aber naturgemäß von einer gründlichen Kritik am Hegelianismus bzw. Idealismus ausgeht. „Spricht man in der jüngsten ästhetischen Debatte vom Antidrama und vom Antihelden, so könnte die Negative Dialektik, die von allen ästhetischen Themen sich fernhält, Antisystem heißen.“ GS6, S. 10. Zum Begriff des Antisystems ausführlich § 13 unten. 168 Das Prinzip nun, das den Jargon als System durchstrukturiere und hierarchisiere, sei „die Desorganisation, de[r] Verfall der Sprache in Worte an sich“300 . In der Denktradition der Kritischen Theorie gibt es einige sprachtheoretische Erklärungsmodelle für das angebliche Phänomen eines (zeitgenössischen) Verfalls der Sprache in ihre Namens-, Signifikations-, Ausdrucks- und auch Kommunikationsdimensionen: Walter Benjamin verwendet beispielsweise ein theologisch und messianisch angelegtes Erklärungsmodell einer gründlichen Distinktion zwischen namengebender Sprache überhaupt und be-deutender Sprache des Menschen, um ein erst wirklich in der Moderne konstatierbares Phänomen zu deuten301; die Dialektik der Aufklärung spricht soziologisierend noch von einem Übergreifen – im Laufe des sogenannten westlichen Aufklärungsprozesses und infolge der Scheidung zwischen Dichtung und Wissenschaft – von „der Arbeitsteilung auf die Sprache“, die die Gesamtkonstitution des Wortes in Bild, Ton und Signifikant zergliedert und fragmentarisch macht 302 ; Adorno und Horkheimer sprechen mehrmals von einer Art moderner Entfremdung der Sprache und ihrer Funktionen, die durch die Effekte und Methoden der Kulturindustrie entstehe. Der „Verfall der Sprache in Worte an sich“ ist wohl ein zutiefst damit zusammenhängendes Phänomen, das historisch-gesellschaftlich lokalisiert ist: In extremis tendiere Sprache im Laufe des Kapitalismus, so die beiden Autoren, von einem zuvor organisierten Gesamtzusammenhang, der überaus vermittelt und selbstbezüglich gewesen sei, zu einem bedeutungsautonomen, in seinen Funktionen zersplitterten und zusammenhangslosen Wortaggregat. Dieses Phänomen ist eine Voraussetzung nicht nur für die Entstehung eines Jargons wie desjenigen der Eigentlichkeit, sondern auch für bestimmte avantgardistische Sprach- und Kunstprozeduren wie die Montage und die Collage, die eben vom „Verfall der Sprache in Worte an sich“ Gebrauch machen, um aus dem Fragmentarischen ansatzweise eine neue ästhetische Ganzheit zu bilden. Der Jargon aber operiert Adorno zufolge grundsätzlich anders. Der Jargon hat den „Verfall der Sprache in Worte an sich“ zur Voraussetzung und erhebt im Zuge einer autonomisierenden Desaggregation die einzelnen, mit ontologischer Dignität aufgeladenen Worte zum systemstiftenden Prinzip; er ist nur dann möglich, wenn die Sprache außerhalb strenger diskursiver Sinnzusammenhänge verwendet wird, sodass ein anderes, grundverschiedenes Sinnregime entsteht. Dieses basiert seinerseits nicht mehr auf Vermittlung, sondern hauptsächlich auf Zerstreuung. Bestimmte Worte lassen sich aus soziologischen, psycholinguistischen und geschichtlichen Gründen einfacher in den Jargon einbeziehen, doch 300 301 302 GS6, S. 417–418. Vgl. den Abschnitt „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ in Benjamin (1977). GS3, S. 34. 169 jedes Wort und jeder Wortkomplex kann zum Teil eines Jargons werden, solange sie als Index von unmittelbarer Bedeutung behandelt werden. Schlicht gesagt: Das Problem besteht naturgemäß nicht darin, dass man Worte wie „Eigentlichkeit“, „Begegnung“ oder „echtes Gespräch“ verwendet, sondern wie man sie verwendet. Dementsprechend können auch Worte und Wortkomplexe wie „Aufklärung“, „Gesellschaft“ und „Dialektik“ einen neuen Jargon bilden, sofern sie nicht mehr als das, was sie sind – also fehlbare Teile einer Art Versuchsanordnung zur tentativen Deutung historisch-gesellschaftlich vermittelter Phänomene innerhalb konkreter Sinnzusammenhänge –, verwendet werden und somit eine Art von autarker „Substanz“ an sich erhalten. In seinem rein philosophischen Gehalt ist das Jargon-Problem letztlich eines der philosophischen Begriffsbildung im Allgemeinen: Jeder philosophische und theoretische Diskurs in der Moderne muss sich dem Risiko eines tendenziellen Jargonwerdens aktiv stellen und sich möglichst dagegen immunisieren, was allein durch eine strenge sprachliche Reflexion möglich ist. (b) Denken in Konstellationen Das Wort „Konstellation“ – oder auch „Konfiguration“ – wird als Terminus technicus der kritischen Sprachtheorie wohl zuerst von Walter Benjamin in seiner bekannten Abhandlung über den Ursprung des deutschen Trauerspiels verwendet. Dort handelt es sich um ein komplexes Verhältnis zwischen Ideen, Begriffen, Konstellationen von Begriffen und den Phänomenen, die durch sie „aufgeteilt“ und „gerettet“ werden müssen: Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen. Während die Phänomene durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeit, ihre Differenzen Umfang und Inhalt der sie umfassenden Begriffe bestimmen, ist zu den Ideen insofern ihr Verhältnis das umgekehrte, als die Idee als objektive Interpretation der Phänomene – vielmehr ihrer Elemente – erst deren Zusammengehörigkeit zueinander bestimmt. Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich. Und zwar liegen jene Elemente, deren Auslösung aus den Phänomenen Aufgabe des Begriffes ist, in den Extremen am genauesten zutage. Als Gestaltung des Zusammenhanges, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben. Daher ist es falsch, die allgemeinsten Verweisungen der Sprache als Begriffe zu verstehen, anstatt sie als Ideen zu erkennen. Das Allgemeine als ein Durchschnittliches darlegen zu wollen, ist verkehrt. Das Allgemeine ist 170 die Idee. Das Empirische dagegen wird um so tiefer durchdrungen, je genauer es als ein Extremes eingesehen werden kann. Vom Extremen geht der Begriff aus.303 Trotz Benjamins teils esoterischen, teils mystischen Neigungen hat Adorno die hier knapp entworfene und in dieser Abhandlung ausgeführte Sprachtheorie sehr früh als eine mögliche dialektische Theorie der Begriffsbildung interpretiert. Inwiefern Benjamin diese Sprachtheorie ursprünglich als explizites Gegenmodell zur Heidegger’schen konzipiert und Adorno sie anfangs auch als solche aufgenommen hat, muss offenbleiben, auch wenn es relativ gute Hinweise dafür gibt304. Wichtig ist vielmehr, dass sie zum wesentlichen Bestandteil der erneuten dialektischen Theorie wurde, um die sich Benjamin und Adorno als immanente (Sprach-)Kritik der (fundamentalen) Ontologie stets bemühten und deren definitive Fassung – mit dem frühen und tragischen Tod Walter Benjamins 1940 und dem abrupten Abbruch ihrer Zusammenarbeit – wohl die Negative Dialektik ist. Im oben angeführten Zitat ist bereits das Wesentliche dieser kritischen Sprachtheorie genannt: Ideen (der Terminus taucht bei Adorno selbst kaum auf) bestehen aus einem komplexen Ensemble von Begriffen, die sich ihrerseits um ein gegebenes zu interpretierendes Phänomen tentativ sammeln und hauptsächlich dessen einmalige und extreme Elemente zur Sprache zu bringen versuchen. Dieses Ensemble von Begriffen ist nun eine Konstellation, die lediglich in ihrer eher anarchischen und so keineswegs hierarchisierenden Zusammengehörigkeit besteht. Lediglich die die Konstellation formenden Begriffe haben ein verallgemeinerndes Verhältnis zu dem zu deutenden Phänomen; die durchkomponierte Konstellation selbst – ein Stück Text, das sich also nur konkret sprachlich materialisiert – ist bereits ein konkretes Bild – eine Idee – des Phänomens. Dialektisch ist dieses Bild nun insofern, als sich die darin enthaltenen Begriffe auf gegensätzliche und gar kontradiktorische Aspekte des zu interpretierenden Phänomens bzw. Objekts beziehen können und es deshalb in seinem immanenten Werden zu erfassen suchen. Wohl seit 1928 hat Adorno durch Konstellationen geschrieben; die ersten repräsentativen Beispiele der konkreten Verwendung der konstellativen „Methode“ sind wohl die Texte über Schubert und das KierkegaardBuch. Die konkret schriftlichen Konsequenzen dieser Sprachtheorie sind leicht anhand von Adornos Texten selbst zu erkennen, während die Sprachtheorie ihrerseits seine durchaus einzigartige Schreibweise zu erläutern vermag: Zugunsten eines freien Essayismus verzichtet der Text struk303 304 Benjamin (1977), S. 15. Die erste – und im ersten Kapitel bearbeitete – Darstellung des philosophischen Programms Adornos, der 1931 gehaltene Vortrag Die Aktualität der Philosophie, fällt mit einer grundlegenden Kritik an der Ontologie zusammen; diese war auch Thema anderer Arbeiten zu jener Zeit. Vgl. GS1, S. 325ff. 171 turell auf „hierarchisierende“ Textgattungen wie den Traktat, die in der Regel einen Vollständigkeitsanspruch beim Behandeln des thematisierten Objekts erheben und im Extremfall more geometrico verfasst sind; stattdessen soll die Oberstruktur des Textes vom zu deutenden Objekt und dessen Einzigartigkeit abgeleitet werden. Die wichtigste Texteinheit ist dann die jeweils individuell durchkomponierte Konstellation von Begriffen, die ihrerseits alle gleich nah zum Konstellationsmittelpunkt stehen und von denen keiner den Vorrang über die anderen erhält, sodass sie sich nicht als übergeordnet autonomisieren und polarisieren können. Ziel der Konstellationen ist es, „das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber“ 305 reden zu lassen und es vor allem nicht unter einem einzigen übergeordneten Begriff einseitig zu subsumieren. Weil die Konstellationen nun immanent in Bewegung sein müssen, werden statische Definitionen einzelner Begriffe grundsätzlich abgelehnt, sodass die Begriffe einzig im Laufe des Textes und durch die Konstellationen hindurch Sinn erhalten. Definitionen können lediglich dann zugelassen werden, wenn sie selbstbewusst als vorläufig auftreten und dem In-Bewegung-Setzen des Gedankens dienen. Die einzelnen Begriffe werden in der Regel so übernommen, wie sie hic et nunc in den konkreten gesellschaftlichen und historischen Verhältnissen spontan vorzufinden sind: Sie werden, mit anderen Worten, in ihrer konkreten Geschichtlichkeit selbstbewusst behandelt, sodass die aus ihnen komponierten Konstellationen in gewissem Sinne „vorübergehend“ sind. Wahrheit als „werdende Konstellation“ 306 impliziert, wie Adorno schreibt, dass sie zeitlich vermittelt ist und stets aktualisiert werden muss. Obwohl die konstellative Methode der theoretischen Begriffsbildung zunächst als etwas Esoterisches erscheinen kann, erkennt Adorno ihre Verwendung bei anderen modernen Autoren und Wissenschaftlern. Paradigmatisch ist hier Max Webers Notion eines idealtypischen Sinnverstehens, das, so Adorno, geistig mit dem Modell des Denkens in Konstellationen urverwandt sei. Dabei orientiere sich Weber an einem bestimmten Komponieren von Begriffen, das Adorno als Vorbild seiner eigenen gesuchten Denk- und Schreibweise als besonders bedeutend anerkennt: Er [Max Weber – D. P.] lehnt ausdrücklich das abgrenzende Definitionsverfahren nach dem Schema ‚genus proximum, differentia specifica‘ ab und verlangt statt dessen, soziologische Begriffe müßten aus ihren ‚einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. Die endgültige begriffliche Erfassung kann daher nicht am Anfang, sondern muß am Schluß der Untersuchung stehen‘. Ob es einer solchen Definition am Schluß allemal bedarf, oder ob, was Weber das 305 306 GS6, S. 38. GS10.2, S. 604. 172 ‚Komponieren‘ nennt, ohne formal definitorisches Resultat das zu sein vermag, wohin schließlich auch Webers erkenntnistheoretische Absicht möchte, steht dahin. So wenig Definitionen jenes Ein und Alles der Erkenntnis sind, als welches der Vulgärszientivismus sie betrachtet, so wenig sind sie zu verbannen. Denken, das in seinem Fortgang nicht der Definition mächtig wäre, nicht für Augenblicke es vermöchte, die Sache durch sprachliche Prägnanz einstehen zu lassen, wäre wohl so steril wie eines, das an Verbaldefinitionen sich sättigt. Wesentlicher jedoch, wofür Weber den Namen des Komponierens gebraucht, der dem orthodoxen Szientivismus inakzeptabel wäre. Er hat dabei freilich bloß die subjektive Seite, das Verfahren der Erkenntnis im Auge. Aber es dürfte um die in Rede stehenden Kompositionen ähnlich bestellt sein wie um ihr Analogon, die musikalischen. Subjektiv hervorgebracht, sind diese gelungen allein, wo die subjektive Produktion in ihnen untergeht. Der Zusammenhang, den sie stiftet – eben die ‚Konstellation‘ –, wird lesbar als Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts. Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache. Sogar ein Verfahren, das so sehr dem traditionellen Wissenschaftsideal und seiner Theorie sich verpflichtet wie das Max Webers, enträt keineswegs dieses bei ihm nicht thematischen Moments.307 Das Weber’sche idealtypische Sinnverstehen operiert durch Denkkonstellationen insofern, als es durch eine bestimmte veränderte Schreibmethode – selbstbewusstes Komponieren von nicht hierarchisierenden Begriffsnetzen anstelle des traditionellen Verfahrens vom übergeordneten Begriff – das zu deutende Objekt ins Zentrum der Erkenntnismethode stellt; es distanziert sich grundsätzlich von einer möglichen Autonomisierung eines einzigen Oberbegriffs und nimmt das zu deutende Objekt als eine Art Rätsel auf, das es durch eine Mehrzahl von Begriffen zu lösen gilt. Das singuläre Objekt besitzt somit im Wesentlichen den Vorrang gegenüber dem klassifikatorischen Verfahren – dies alles genügt Adorno im Grunde bereits, die Methode des Denkens in Konstellationen mit der dialektischmaterialistischen gleichzusetzen. (c) Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle Aus dem oben Dargestellten lassen sich zwei Sprachmodelle extrahieren, deren Haupteigenschaften im Folgenden zur besseren Sichtbarkeit tabellarisch dargestellt werden 308 . Beide Sprachmodelle sind unter fast allen Gesichtspunkten einander diametral entgegengesetzt: Ausgehend von einem grundverschiedenen Verständnis über das Wesen der Sprache leiten 307 308 GS6, S. 167. OD, S. 72–77; GS6, S. 492ff. 173 sich ebenso grundverschiedene Eigenschaften dessen ab, wie sich Sprache in beiden Modellen jeweils konstituiert und was sie überhaupt leistet. Man könnte diese Unterschiede darauf zurückführen, dass Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle in ihrem jeweiligen Verständnis von Philosophie als Produktion gründlich voneinander abweichen: Während die negative Dialektik auf der philosophischen Unmöglichkeit der Produktion von positiven gedanklichen Inhalten besteht, muss das ontologische Denken diese Unmöglichkeit bestreiten. Für die negative Dialektik ist Philosophie nach der Vernunftkritik auch in dem Sinne nur negativ möglich, dass sie auf das Material anderer Disziplinen und Wissenschaften angewiesen ist. Ihr bleibt – mit ihrem konstellativen Sinnregime – lediglich die Funktion, dieses Material zu konfigurieren, und die multidisziplinäre, wenn auch holistische Tendenz übrig. Ontologie dagegen erhebt grundsätzlich den Anspruch, gedankliche Inhalte immanent produzieren oder zum ontologischen Status erheben zu können, sofern sie einen kategorialen Rahmen etabliert, der die Diskurse der Wissenschaften erst ontologisch gründet. „Denken dagegen, das nicht als Ursprung sich behauptet, sollte nicht verbergen, daß es nicht erzeugt sondern wiedergibt, was es, als Erfahrung, bereits hat“309. Jargon Denken in Konstellationen Typologie Sprache ist archetypisch/originär; gründlich seinsbezogen Sprache ist ectypisch / nominalistische Reproduktion von Seiendem Verhältnis zum Sein ontologisch / besitzt selbst ontologische Dignität nur im intentionalen Spannungsverhältnis zu Seiendem Leistung/ Potential Enthüllung / Lichtung des Seins selbst Ausdruck von Seiendem durch Konstellationen Sinn mögliche Autonomisierung von ontologisch aufgeladenen Worten / tendenzielle Unmittelbarkeit des Sinnes / realistisch Sinn nur in weiten Sinnzusammenhängen möglich / Vermittlung von jeglichem Sinn durch das Ganze / nominalistisch Aufbau systematisch/ systemähnlich antisystematisch/ essayistisch Verhältnis zur Wahrheit Sprache als grundsätzlich wahrheitsfähig / Wahrheit von Sprache abhängig / Wahrheit selbst sprachlich Sprache als grundsätzlich wahrheitsfähig / Wahrheit von Sprache abhängig / Wahrheit selbst sprachlich 309 GS6, S. 71. 174 In der Tabelle fällt aber auf, dass Sprache in beiden Sprachmodellen in einem positiven Verhältnis zur Wahrheit steht bzw. Wahrheit erst ermöglicht. Zwar ändert sich die Art und Weise, wie und aufgrund welcher philosophischen Operation Sprache in beiden Sprachmodellen wahrheitsfähig sein soll, aber das Wesentliche ist, dass Sprache in ihnen überhaupt als wahrheitsfähig angesehen wird – anders als beispielsweise im Skeptizismus und in der Mystik. Noch wesentlicher ist die Auffassung, dass Wahrheit in ihnen selbst irgendwie sprachlich sei. Grund dafür mag sein, dass beide die Kritik an einem Wahrheitsverständnis teilen, dem zufolge das Wahre rein ideell und deshalb von Sprache überhaupt unabhängig sei. Anders formuliert bedeutet dieser Sachverhalt zugleich, dass Philosophie selbst eines bestimmten Sprachmodells bzw. eines bestimmten (und nicht gleichgültig welchen) sprachlichen Sinnregimes bedarf, um sich zu aktualisieren. Dies erhellt erneut, wie dialektisches Denken für Adorno untrennbar mit dem Denken in Konstellationen verbunden ist bzw. dass beide praktisch eins sind. Denn nur das konstellative Sprachregime erlaubt laut Adorno die Aufhebung von übergeordneten, einseitig identifizierenden und subsumierenden Oberbegriffen; nur es verhindert das systematische Jargonwerden des Diskurses dadurch, dass sich einzelne Worte und Begriffe innerhalb der Konstellationen nicht autonomisieren können; nur es lässt das Widersprüchliche in den philosophischen Diskurs organisch und konstitutiv eingehen; nur es kann das zu deutende Objekt in seinem geschichtlich-gesellschaftlichen Werden thematisieren; nur es erlaubt, kurz gesagt, die Gestaltung eines durchaus vermittelten philosophischen Diskurses. Deutlich wird, wie alle bisher bearbeiteten Grundmotive des negativ-dialektischen Materialismus hier enthalten sind. 175 § 13. Ontologiekritik, Antisystem, Materialismus Ich habe den Kern der Ontologiekritik der negativen Dialektik anhand von drei Mustern zu explizieren und sie so in verschiedene nachidealistische Traditionen der Metaphysik- und Ontologiekritik einzuordnen versucht. Es handelt sich um ein bedürfnistheoretisches Argumentationsmuster, das Marx verpflichtet ist, ein vermittlungstheoretisches, das auf Kant zurückgeht und auch in der modernen Sprachanalyse weitergeführt wird, und ein sprachphilosophisches, das nach dem Wesen von Ontologie und Dialektik als sprachlichen Gebilden fragt und von Adorno mit Benjamin entwickelt wird. In allen Fällen geht die negative Dialektik von der zwangsläufigen Problemhaftigkeit ontologischer Denkweisen unter nachkantischen Bedingungen aus, die somit das Wesen der neueren Ontologien verschiedener Provenienz innerlich bestimmt. Das bedürfnistheoretische Argumentationsmuster versteht sich als eine Variante der Ideologiekritik, die geistige Gebilde aufgrund einer breit angelegten gesellschaftlichen Symptomatologie erfasst. Hier versucht Adorno die Wiedergeburt der Ontologie in der Spätmoderne als eine – grundsätzlich konservative – Antwort auf ein theoretisches und gesellschaftliches Bedürfnis zu interpretieren, das aus der nachidealistischen Identitätskrise der Philosophie erwächst. Das vermittlungstheoretische Argumentationsmuster besteht grundsätzlich darin, Sein als eine unerlaubte Hypostasierung zu deuten, die sich aus den undifferenzierten Verwendungsweisen des Seins als Position und Kopula ergibt. Aus der vermittlungstheoretischen Kritik der Ontologie ergibt sich dann die Möglichkeit, Ontologie und Dialektik als zwei grundverschiedene Sprachmodelle zu deuten, die verschiedenen Sinnregimes gehorchen und so die philosophische Theoriebildung auch unterschiedlich verkörpern. Die auf diese Weise rekonstruierte Ontologiekritik der negativen Dialektik in all ihren Dimensionen hat nun große Konsequenzen nicht nur für die philosophische Theoriebildung im Allgemeinen, sondern auch für die eigentliche Konzeption des (kritischen) Materialismus selbst. Im Rahmen der negativen Dialektik spielt sie eine doppelte Rolle: Zunächst verhindert sie die aus der philosophischen Reflexion immanent erwachsende Setzung eines transreflexiven Seins, das als erstes Prinzip fungiert und so Subjekt und Objekt in Gestalt von „Sein“, „Gesellschaft“, „Natur“, „Horizont“, „Ereignis“ oder eines wie auch immer verfassten ersten Prinzips einbettet. Subjekt und Objekt werden so – in deutlich Hegel’scher Tradition gegen Schelling – zwangsläufig zu einer autarken, in diesem Sinne rein „immanenten“ Struktur, in der sie „absolut entgegengesetzt und eben dadurch miteinander identifiziert werden“310. Ist das als Erstes 310 GS6, S. 177. 176 konzipierte Sein selbst vermittelt, dann kann es nicht kategorial Erstes sein. Ein nicht geringer Beitrag der negativen Dialektik zur Geschichte des Materialismus ist ihrem Anspruch nach der Nachweis, dass auch fortgeschrittene materialistische Denkmodelle dieser ontologischen Grundstruktur der Form nach gehorchen und so an der totalitätsbezogenen Grundoperation der klassischen Metaphysik noch – und wohl wider Willen – teilhaben: „Weil ihr Begriff [der Materie] unbestimmt sei, ihm als Begriff eben das fehlt, was mit ihm gemeint ist, fällt alles Licht auf seine Form. Das gliedert Hegel in die abendländische Metaphysik an deren äußerster Grenze ein. Engels hat das gesehen, aber die umgekehrte, ebenfalls undialektische Konsequenz gezogen, Materie sei das erste Sein. Dialektische Kritik gebührt dem Begriff des ersten Seins selber“311. Zweitens verhindert diese Seinskritik ebenso, dass eine ontologische Ungleichheit in diese autarke Vermittlungsstruktur eingebaut wird, die sonst einen ontologisch vorgeordneten Pol innerhalb der Vermittlungsstruktur etablierte. Erst jetzt lässt sich der Anspruch des Vorrangs des Objekts tatsächlich erfassen: In der autarken Subjekt-Objekt-Vermittlung wird eine interne Ungleichheit offenbar, die aber nicht ontologisch, sondern rein reflexionstheoretisch auszubuchstabieren ist. Ohne diese doppelte Leistung ist eine Dialektik nicht möglich, wie sie die negative Dialektik zum Begriff bringen will: Ist Dialektik aber einmal unabweisbar geworden, so kann sie nicht wie Ontologie und Transzendentalphilosophie bei ihrem Prinzip beharren, nicht als eine wie immer auch modifizierte, doch tragende Struktur festgehalten werden. Kritik an der Ontologie will auf keine andere Ontologie hinaus, auch auf keine des Nichtontologischen. Sie setzte sonst bloß ein Anderes als das schlechthin Erste; diesmal nicht die absolute Identität, Sein, den Begriff, sondern das Nichtidentische, Seiende, die Faktizität. Damit hypostasierte sie den Begriff des Nichtbegrifflichen und handelte dem zuwider, was er meint. Grundphilosophie, πρωτη φιλοσοφια führt notwendig den Primat des Begriffs mit sich; was ihm sich verweigert, verläßt auch die Form eines vorgeblich aus dem Grunde Philosophierens.312 Erst mit dieser doppelten Leistung wird die Denkfigur eines Antisystems installiert, der die negative Dialektik Konsistenz verleihen möchte. Sie zeichnet sich eben nicht durch die ontologische Umkehrung von wie auch immer formulierten Systemprinzipien aus, sondern durch die Auflösung eines jeden Systemprinzips und so durch das interne Zerlegen von Denksystemen gleichgültig welcher Provenienz. Denn mit einer derartigen Umkehrung fiele die negative Dialektik auf das Reflexionsniveau des Sys311 312 GS6, S. 127. GS6, S. 140. 177 temdenkens zurück, das sie durch immanente Kritik doch überwinden will. Zwar geht Adorno davon aus, dass das paradigmatische – und konsequenteste – Systemdenken auf einem ausdrücklichen ichtheoretischen Prinzip basiert ist, wie dies die Denksysteme des nachkantischen Idealismus tun. Doch der Form nach bleiben auch die neueren Ontologien dem Systemdenken verhaftet, indem sie durch die Hypostasierung vermittelter Einzelkategorien operieren, die aus der ihnen eigentümlichen Vermittlung herausgenommen und in diesem Prozess ontologisiert werden. Aus diesem Grunde kann Adorno – radikaler noch – behaupten, dass auch ontologisch aufgebaute Denkmodelle dem Idealismus grundsätzlich immer noch verpflichtet sind: Idealismus herrscht, auch wenn das ὑποκειμενον Sein oder Materie oder wie immer genannt wird, vermöge der Idee des ὑποκειμενον. Totales Begreifen aus einem Prinzip etabliert das totale Recht von Denken. Die theoretische Grenze gegen den Idealismus liegt nicht im Inhalt der Bestimmung ontologischer Substrate oder Urworte, sondern zunächst im Bewußtsein der Irreduktibilität dessen was ist auf einen wie immer auch gearteten Pol der unaufhebbaren Differenz (…). Gerade die Husserlsche Wendung zu einem ‚korrelativen‘ Seinsbegriff, die dessen spätere Theologisierung vorbereitete, war extrem idealistischen Sinnes, und ihn hat jener Begriff niemals verloren. (…) Husserls ontologischer Zug ist, wie der Hegels, der wahrhaft idealistische. Indem die allerallgemeinsten Bewußtseinsstrukturen ihrer Beziehung auf jeglichen Stoff entäußert werden und diese Beziehung selber einzig noch als formale Charakteristik der Bewußtseinsstruktur wiederkehrt, wird das rein Geistige als An sich installiert und schließlich zum Sein.313 Die Denkfigur nun, die dieses Gebilde immanent zerlegt und so die „Irreduktibilität dessen was ist auf einen wie immer auch gearteten Pol der unaufhebbaren Differenz“ philosophisch ermöglicht, heißt Antisystem. Das Antisystem entspricht wiederum, so Adorno, der Formstruktur eines konsistenten Materialismus: „Es erhellt ohne weiteres schon daraus, daß der Materialismus, der ja gerade die Vormachtstellung des Geistes als eines constituens schlechthin bestreitet, seinem eigenen Wesen nach System gar nicht sein kann“314. „Im Grunde könnte es materialistische Systeme nicht geben“315. Materialismus und System scheinen sich für Adorno philosophisch auszuschließen: Das spezifisch Materialistische soll eben dem entsprechen, was sich dem Systemprinzip entzieht. So konzipiert ist der kritische Materialismus keine starke inhaltliche These über das Wesen des Wirklichen, sondern die Entlarvung ihrer prinzipiellen Inkonsistenz. 313 314 315 GS5, S. 186f. PT, S. 264. PT, S. 242. 178 Mit dieser umfassenden Operation werden nun die materialistischen Kategorien ontologisch entleert. Sie beanspruchen keinen direkten Bezug zum Ansichseienden zu erstellen und so keine unveränderbaren Gebilde zu sein, die unmittelbaren und durchsichtigen Sinn erhielten. Vielmehr werden sie stets innerhalb einer gegebenen geschichtlichen Konstellation vorgefunden und so in dieser durchaus kontingenten Geschichtlichkeit bearbeitet. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass dies nur als essayistische Sinnbildung konkret zu entfalten ist. So besitzt die negative Dialektik im Grunde kein stabiles Kategorienkorpus und ist auch keine feste Methode, sondern eine Matrix für das Antisystemdenken, deren Logik „eine des Zerfalls ist: der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar sich gegenüber hat“316. Aus dieser Konstellation lassen sich zuletzt auch die Hauptprobleme und Herausforderungen ableiten, die sich der negativen Dialektik als einem materialistischen Denkmodell stellen. Auf sie wird im nächsten Kapitel kritisch eingegangen. 316 GS6, S. 148. 179 § 14. Fazit Obwohl die kantische Vernunftkritik den kategorialen Rahmen der klassischen Ontologie strukturell unterminiert und sie durch eine transzendentalphilosophisch angelegte Analytik des Verstandes ersetzt, die die eigentliche Existenzberechtigung der Ontologie in Frage stellt, entstehen nach Kant verschiedene neue Ontologien, die dem Kritizismus gewachsen zu sein beanspruchen. Wie die negative Dialektik gestalten sie sich auch als eine Alternativantwort auf die Krise des Idealismus und sind deshalb im Konzept negativer Dialektik kritisch inbegriffen (§ 11). Die negativdialektische Ontologiekritik folgt einem dreiteiligen Argumentationsmuster: einem bedürfnis-, einem vermittlungs- und einem sprachtheoretischen. Sie geht von einer der Ideologiekritik verwandten philosophischen Symptomatologie aus, um dann zur immanenten Kritik der Seinskategorie als unerlaubte begriffliche Hypostasierung zu gelangen. So können Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle rekonstruiert werden, die zwei grundverschiedenen Sinnregimes gehorchen (§ 12). Erst diese umfassende Denkoperation installiert die Denkfigur des Antisystems, um die sich die negative Dialektik bemüht und die der Formstruktur des für sie konsistenten Materialismus entspricht (§ 13). 180 Viertes Kapitel: Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus Nachdem die Grundbestimmungen des negativ-dialektischen Materialismus ausgearbeitet worden sind, wird abschließend der Versuch unternommen, seine Grenzen darzulegen. Ich werde zunächst seine Grundlinien möglichst sachlich und einheitlich rekapitulieren und so ihn als eine Variante des Fehlkorrelationismus begreifen, der sich als ein selbstbewusst spannungsvolles Denkgebilde deuten lässt (§ 15). Aus dieser Bestimmung des negativ-dialektischen Materialismus als Fehlkorrelationismus lassen sich seine internen Grenzen ableiten, die ich abermals anhand des Begriffs des Objekts und der Materie (§ 16), der Naturgeschichte (§ 17) und der Idee seiner eigenen Selbstüberwindung (§ 18) entfalte. 183 § 15. Negative Dialektik als Fehlkorrelationismus Seinem eigenen Anspruch nach steht die Konstruktion des Vorrangs des Objekts auf dem Höhepunkt einer langen philosophischen Entwicklung, die nach der korrekten Artikulation von Subjekt und Objekt sucht. Die Identitätsproblematik war die Neuzeit hindurch die ausgezeichnete Herangehensweise, anhand der sich diese Artikulation denken ließ. Erst sie hat es – ihrem Anspruch nach – konsequent erlaubt, Einssein und Trennung, Identität und Differenz von Subjekt und Objekt, Geist und Welt zur Sprache zu bringen. So ist der philosophische Idealismus bei Schelling und Hegel aufgrund seiner eigenen Konsequenz zum gegenseitigen Vermitteltsein von Subjekt und Objekt gelangt, wie dies die absolute Identitätsformel zeigt: Subjekt und Objekt sind erst mit Rekurs auf ihre Vermittlung durch das jeweils andere explizierbar – eine Vermittlung, die zugleich eine umgreifendere Identität beider erstellt. So hat der philosophische Idealismus eine Grundlogik entwickeln können, die diese Artikulation begreifbar gemacht hat – jedoch nicht ohne immanente Schwierigkeiten. Als „Organon Kritischer Theorie überhaupt“317 rekonstruiert die negative Dialektik diese philosophische Entwicklung und greift zugleich in sie kritisch ein: Der philosophische Idealismus habe, so die negative Dialektik, die durchgängige Vermittlung von Subjekt und Objekt aufgrund der absoluten Identität nur deshalb begründen können, weil er eine nicht aufzuhebende Ungleichheit innerhalb der Vermittlung selbst vernachlässigt habe. Die philosophische Einholung dieser Ungleichheit ist die Konstruktion des Vorrangs des Objekts. Er besagt in erster Linie, dass sich das Objekt aufgrund seiner eigenen Beschaffenheit mindestens in einer Hinsicht gegenüber dem Subjekt als autonom erhalten müsse. Soll Erkenntnis tatsächlich ein Verhältnis zwischen zwei Verschiedenen bedeuten, wie es in ihrem Begriff enthalten zu sein scheint; soll sich Denken im Erkenntnisprozess auf ein Etwas beziehen, das nicht selbst denkerischer Natur ist, dann muss das Objekt als unauflöslich konzipiert werden und gegenüber der Subjektivität unabhängig sein. Die so immanent gewonnene Unauflöslichkeit des Objekts stellt nun die wesentliche Grundlage dar, auf der der negativ-dialektische Materialismus aufgebaut wird. So gesehen führt die Artikulationsproblematik von Subjekt und Objekt – das ist der Anspruch der negativen Dialektik – immanent zum Vorrang des Objekts und folglich zum kritischen Materialismus, der – anders als vom Idealismus behauptet – die wahre Kulmination des neuzeitlichen Denkens darstellt. Weil er aus der immanenten Kritik an dem absolut-idealistischen Vermittlungsmodell und so auch an der eigentlichen Konzeption einer 317 Schnädelbach (1983), S. 81. 185 konstituierenden Subjektivität gewonnen wird, ist der Vorrang des Objekts nur reflexionslogisch angelegt und folglich in einer Hegel’schen Tradition inbegriffen, die die Subjekt-Objekt-Vermittlung als eine autarke Struktur auffasst. So mobilisiert die negative Dialektik eine umgreifende Ontologiekritik, die die Setzung eines transreflexiven Seins aus der Selbstreflexion des Subjekts und die damit korrelierte Reontologisierung der Objektdimension verhindert. Erst mit dieser umfassenden Prozedur wird die Denkfigur des Antisystemischen konstruiert, die der Formstruktur des negativ-dialektischen Materialismus entspricht. Diese gesamte Konstruktion stellt in diesem Sinne den bemerkenswerten Versuch dar, lediglich mit Mitteln des Idealismus den kritischen Materialismus zu begründen und diesen folglich mit den Grundlagen der Vernunftkritik kompatibel zu machen. Sie ist in diesem Sinne eine kritische Antwort auf die Einwände von Dogmatismus und Autoritarismus, die traditionsgemäß gegen die Materialismen klassischer und moderner Provenienz mobilisiert wurden. Dieser Versuch ist aber insofern zutiefst spannungsvoll, als die negative Dialektik eben nur mit dem bereitgestellten Instrumentarium der Selbstreflexion des Subjekts auf das Jenseits der Selbstreflexion hinweisen will. Anders gesagt: Mit der Konstruktion des Vorrangs des Objekts verfügt die negative Dialektik zwar über eine erkenntniskritische These, die die logische Unabhängigkeit des Objekts gegenüber der Subjektivität zur Sprache bringt. Es handelt sich wohl um eine erkenntnistheoretische Übersetzung der ontologisch fundierten These des klassischen Materialismus über das Primat der Materie vor dem Bewusstsein, die ihrerseits samt allen anderen materialistischen Grundkategorien selbst ontologisch entleert wird. Sie hat so eine doppelte Funktion: den dogmatischen Charakter des klassischen Materialismus kritisch aufzulösen und zugleich seinen philosophischen Gehalt beizubehalten. Hier ist eine Operation von Kritik und Rettung in einem im Gang. Quentin Meillassoux hat diejenige Denktradition, die diese philosophische Operation im Allgemeinen vollzieht, sickened oder misfired correlationisms genannt. Es handelt sich um jene Tradition nachkantischen Philosophierens, die einen radikalen Anti-Idealismus entwickeln will, dem zufolge letztendlich keine reibungslose Koinzidenz zwischen Sein und Denken bestehen könnte, jedoch ohne die Grundlage der Vernunftkritik als Transzendentalismus zu revidieren oder in manchen Fällen gar zu berühren. Irrationalismus, Existenzialismus, Lebensphilosophie, Unbewusstheitsphilosophien und andere nachkantische vergleichbare Denkschulen dürften im Großen und Ganzen dieser Tradition angehören. So begreift sie Meillassoux: [I]t refuses both the return to a naive pre-critical stage of thought and any investigation of what prevents the ‘circle of the subject’ 186 from harmoniously closing in on itself. Whether it be the Freudian unconscious, Marxist ideology, Derridean dissemination, the undecidability of the event, the Lacanian Real considered as the impossible, etc., these are all supposed to detect the trace of an impossible coincidence of the subject within itself, and thus of an extracorrelationational residue in which one could localize a ‘materialist moment’ of thought. But in fact, such misfires are only further correlations among others: it is always for a subject that there is an undecidable event or a failure of signification. Unless we fall back on naive realism, we cannot treat these misfires as ‘effects’ of a cause that could definitely be established as external to the subject or even to consciousness. In any case, a correlationist would have no difficulty in retorting that this genre of materialism is either a disingenuous idealism or a dogmatic realism of the ‘old style’.318 Diese Fehlkorrelationismen scheinen nun stets dieselbe Operation zu vollziehen, die zugleich ihr Wesen ausmacht: Indem sie die SubjektObjekt-Korrelation aus ihrer Achse lösen wollen, ohne sie aber durch den Rekurs auf Transzendentes abzubrechen, deuten sie notwendig auf eine nicht korrelationistische, nicht subjektbezogene Sinninstanz hin, die aber innerhalb ihres kategorialen Rahmens nicht begründbar ist. Diese Sinninstanz muss dann eine zweideutige Position gegenüber der SubjektObjekt-Korrelation einnehmen: Sie muss teilweise immanent und folglich dem Subjekt zugänglich sein und gleichzeitig auf eine Externalität hinweisen können, die nicht auf Subjektivität reduzierbar ist. Das ist wohl auch der Fall des Vorrangs des Objekts, Inbegriff des negativ-dialektischen Materialismus, denn auch er impliziert die Einholung einer unauflöslichen Dimension des Objekts, die der Reflexion Widerstand leistet und deshalb eine interne Ungleichheit in der Subjekt-Objekt-Vermittlung zugunsten der Objektivität impliziert, die sich in der Vermittlung selbst offenbart. So gesehen lässt sich der negativ-dialektische Materialismus als eine Variante von Fehlkorrelationismus begreifen. Die sich als Fehlkorrelationismen gestaltenden kritischen Materialismen sind in diesem Sinne durchaus spannungsreiche Konstruktionen, müssen sie doch jene Grenzmomente der Subjekt-Objekt-Korrelation erkenntniskritisch anspannen, um sie aus ihrer Achse zu lösen und somit ihre materialistische Grundintention zu aktualisieren; damit aber wächst zugleich das Risiko, dass sie in schwerwiegende Inkonsistenzen geraten. Dieselbe Operation folglich, aus der sie ihren Wahrheitsgehalt als materialistisches Denkmodell extrahieren, kann auch ihre Konsistenz gefährden; je mehr sie die Subjekt-Objekt-Korrelation destabilisieren und folglich selbst spannungsvoller werden – denn die Korrelation bildet eben ihren eigenen Boden –, desto näher kommen sie ihrem Wahrheitsgehalt. Dieser 318 Gespräch mit Meillassoux, in: Harman (2011), S. 166. 187 ist seinerseits von dieser Destabilisierung untrennbar, sofern sie die subjektive Selbstreflexion – und die damit korrelierte gesamte Subjektphilosophie – von ihrem Inneren ausgehend zu ihrer Selbstüberwindung drängt319. Diese Operation lässt sich nun auch als eine Kompromisslösung für das Problem des Materialismus ansehen, das ich im ersten Kapitel thematisiert habe. Zusammenfassend habe ich dieses Problem anhand eines Selbstwiderspruchs zur Sprache gebracht, der stets entsteht, wenn Materie – das, was nicht subjektiver Natur ist – zum Status eines allumfassenden Denkprinzips erhoben wird. Adorno nennt dies den Grundwiderspruch, der „den Aufbau eines sogenannten konsequenten Materialismus immer verhindert“320. Insofern alle klassischen Materialismen diesen Vollzug leisten, verfallen sie laut Adorno in denselben Grundwiderspruch. Die Möglichkeit, diesem Grundwiderspruch zu entgehen, ohne dabei den eigentlichen Gehalt des Materialismus zu verlieren, wirft das Problem eines kritischen Materialismus auf. Die sich als Fehlkorrelationismus gestaltenden kritischen Materialismen stellen insofern eine Kompromisslösung dieses Problems dar, als sie die Grundthese des Materialismus über das wahrhaft Wirkliche als Materie mithilfe der Destabilisierung der Korrelation erkenntniskritisch transformieren und so den Grundwiderspruch zwar umgehen, jedoch auf Kosten von Spannungen, die aus ihrem kategorialen Rahmen schwerlich auszumerzen sind. Im Fall der negativen Dialektik fasst die Denkfigur eines Antisystems, das auf der Antinomie aufbaut, dieses systemtheoretische Quidproquo größtenteils zusammen: „Man kann das [den Grundwiderspruch – D. P.] durch ein eleganteres Denken beseitigen; er verweist aber auf den antinomischen Charakter des Denkens als eine Anstrengung zur Erfassung der Wirklichkeit überhaupt“321. Das eigentlich Materialistische wird dann zum Antinomischen konvertiert und wiederum in die Subjekt-ObjektVermittlung selbst hineinprojiziert. In den nächsten Abschnitten werde ich diese Spannungen konkret für die negative Dialektik darlegen. Sie ergeben sich immanent aus dem philosophischen Ort, den das Objekt in ihr einnimmt. 319 320 321 Adorno hat übrigens seine philosophische Lebensaufgabe so begriffen: „Seitdem der Autor den eigenen geistigen Impulsen vertraute, empfand er es als seine Aufgabe, mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen“; GS6, S. 10. PT, S. 241. ND, S. 48. 188 § 16. Objekt, Mimesis, Materie Trifft die oben formulierte These über den spannungsvollen Charakter der negativen Dialektik als Fehlkorrelationismus tatsächlich zu, muss sich diese Spannung auf ihre materialistischen Grundkategorien zurückverfolgen lassen. Ausgehend vom Objektbegriff selbst werde ich versuchen, diese innerkategoriale Spannung zur Sprache zu bringen. Wie bereits erwähnt, ist diese Spannung aber nicht als eine schlechthinnige Inkonsistenz aufzufassen, sondern als index veri: Auch in den Einzelkategorien herrscht jenes fragile Gleichgewicht von Korrelationsdestabilisierung und materialistischem Grenzmoment, aus dem allein ihr Wahrheitsgehalt zur Sprache gebracht wird. Die Konstruktion des Vorrangs des Objekts ist der Versuch, die Subjekt-Objekt-Vermittlung kritisch-materialistisch zu artikulieren und so die Vermittlung selbst sui generis aufzufassen. In ihr wird dem Objekt ein unauflöslicher Charakter zugesprochen, ohne jedoch die Subjekt-ObjektKorrelation abzubrechen. Wir sahen, wie dies hauptsächlich mit der Denkfigur des Antinomischen erfasst wird: Sofern Denken identifizierend operiert und das Objekt immer qualitativ reicher als jeglicher Einzelbegriff ist, meldet sich die Unauflöslichkeit des Objekts im Bereich des bereits Konstituierten als ein nicht zu schlichtender Widerspruch – eine Antinomie eben – an. So wird das Objekt zwar nicht zu etwas, das unmittelbar vorhanden wäre, wie Adorno wiederholt deutlich macht; doch sein „Mehr“ gegenüber der Subjektivität wird indiziert. Die ganze Herausforderung der negativen Dialektik als eines kritisch-materialistischen Denkmodells besteht nun darin, diese Operation konsistent zu plausibilisieren, ohne aber ein transreflexives Sein setzen oder die Objektseite reontologisieren zu müssen. Adorno will eine derartige Reontologisierung hauptsächlich aus kritischen Gründen vermeiden: Sollte das Objekt in strengem Sinne als Konstituens konzipiert werden, würde dies für ihn jene entfremdete, undurchschaubare Dinglichkeit – nämlich: Verdinglichung – bloß naturalisieren, der gegenüber das Subjekt letztlich ohnmächtig bleiben müsste. Es handelte sich mit anderen Worten um die bloße Wiederherstellung der alten intentio recta, der gemäß das Subjekt sich unkritisch nach den „naiv realistisch“ aufgefassten Objekten richten soll. Dagegen will die negative Dialektik zwar die Stellung des Subjekts als kritisches Agens, dem das Wirkliche prinzipiell transformierbar und deshalb grundsätzlich offen ist, retten und bekräftigen. Doch dies darf wiederum nicht implizieren, dass das Wirkliche von diesem subjektiven Agens konstituiert wird. Aus dieser Konstellation ergibt sich die konstitutionstheoretische Schlussfolgerung, dass weder Subjekt noch Objekt konstituierend oder konstitutiv sind: „[D]er kritische Gedanke möchte nicht dem Objekt den verwaisten Königsthron des Subjekts verschaffen, 189 auf dem das Objekt nichts wäre als ein Götze, sondern die Hierarchie beseitigen“322. Radikaler noch folgt, dass weder Subjekt noch Objekt eigentlich als solche sind: „Subjekt ist in Wahrheit nie ganz Subjekt, Objekt nie ganz Objekt, dennoch beide nicht aus einem Dritten herausgestückt, das sie transzendierte“323. „Sie konstituieren ebenso sich durch einander, wie sie vermöge solcher Konstitution auseinandertreten“324 Adorno ist der scheinbar widersprüchliche, sicherlich spannungsvolle Charakter dieses Sachverhalts natürlich nicht entgangen. In unterschiedlichen Passagen und Zusammenhängen der negativen Dialektik hat er auf ihn hingewiesen: „Derlei Überlegungen zeitigen den Anschein von Paradoxie. Subjektivität, Denken selber, sei nicht aus sich zu erklären sondern aus Faktischem, zumal der Gesellschaft; aber die Objektivität der Erkenntnis wieder sei nicht ohne Denken, Subjektivität“ 325 . „Heidegger entging nicht, daß es sowohl Prinzip der Vermittlung wie unvermittelt ist, als Konstituens das Konstitutum Faktizität voraussetzt. Der Sachverhalt ist dialektisch: ihn übersetzt Heidegger auf Biegen der Brechen in die Logik der Widersprüchlichkeit“326. Doch anstatt die Paradoxie schlichten zu wollen, besteht Adorno auf ihr: Sie erscheint als solche nur dem, der der „Cartesischen Norm, Erklärung müsse das Spätere, wenigstens logisch Spätere aus dem Früheren begründen“327, folgt. Dagegen gehe es darum, der „Hypostasis des Verhältnisses von Grund und Folge, des subjektiven Prinzips, dem die Erfahrung nicht sich fügt“, zu entgehen und so dialektisch, also „mit dem ältesten Medium der Aufklärung, der List, den Knoten der Paradoxie zu entwirren“ 328 . Für Adorno scheint die Paradoxie Indiz des Wahren zu sein, sofern man an der Erfahrung des Sachverhalts radikal festhält. Offensichtlich oszilliert Adorno hier zwischen zwei unterschiedlichen Argumentationsebenen, die von ihm jedoch als kategorial untrennbar behandelt werden und so die Paradoxie kreieren. Zum einen hält Adorno an einer vermittlungstheoretischen Argumentationsebene fest, der zufolge Objektivität erst in Korrelation mit einem Subjekt aktuell gedacht werden kann: „Von Objektivität kann Subjekt potentiell, wenngleich nicht aktuell weggedacht werden“329. Zum anderen erfordert aber der Vorrang des Objekts bereits rein logisch, dass das Objekt als unauflöslich und so als grundsätzlich subjektunabhängig konzipiert wird – und zwar in einem 322 323 324 325 326 327 328 329 GS6, S. 182. GS6, S. 177. GS6, S. 176. GS6, S. 144. GS6, S. 114, Fußnote. GS6, S. 144. GS6, S. 144f. GS10.2, S. 747. 190 nicht nur rein negativ bestimmbaren Sinne: „Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung“330. Zu Ende gedacht schließen sich beide Argumentationsebenen aus: Muss das Objekt tatsächlich als unauflöslich und subjektunabhängig in einer nicht rein negativ bestimmbaren Weise konzipiert werden, setzt dies bereits voraus, dass das Subjekt von der Objektivität aktuell weggedacht wird. Beide Argumentationsebenen sind nun in der Konstruktion des Vorrangs des Objekts spannungsvoll inbegriffen. Fügt man, wie Adorno im Grunde intendiert, die Bestimmung hinzu, dass das subjektunabhängige Objekt nicht subjektiver Natur ist, folglich zumindest auch als materiell zu fassen ist, dann muss aus dieser Prämisse ein umfassender materialistischer Denkentwurf entwickelt werden können, in dem aber das Objekt prinzipiell als streng nicht korrelationistisch gedacht wird und somit konstituierend ist. Dies kann die negative Dialektik jedoch nicht zulassen. Die Paradoxie entsteht so aus dem spannungsvollen Rahmen selbst, in dem negative Dialektik operiert. Alfred Schmidt hat auf seine Art und Weise diesen Sachverhalt registriert, ohne ihn aber in der Konstruktion der negativen Dialektik selbst explizieren zu können. Schmidt ist bekanntlich für die wohl wirkungsmächtigste nichtontologische Interpretation von allem Materialismus kritischer Provenienz verantwortlich. Er schreibt: Freilich hat Adorno, allem abhold, was auch nur entfernt nach ‚Ontologie‘ aussieht, darauf verzichtet, seine Lehre vom ‚Vorrang des Objekts‘ so abzustützen, wie dies durchaus möglich ist. Ihm entgeht, daß jener Vorrang des Objekts vor dem Subjekt innerhalb der Vermittlung, auf kognitiver Ebene also, nur dann verbindlich geltend zu machen ist, wenn herausgearbeitet wird, daß ihm, auf ontologischer Ebene also, ein Vorrang der Materie vor dem Bewußtsein entspricht331. Noch evidenter wird die aus dieser kategorialen Spannung entstehende Paradoxie mit dem systematischen Ort des durchaus zentralen Begriffs der Materie in jedem Materialismus, folglich auch in der negativen Dialektik. Adorno schreibt: „Von außen betrachtet wird, was in der Reflexion auf Geist spezifisch als nicht Geistiges, als Objekt sich darstellt, Materie. Die Kategorie Nichtidentität gehorcht noch dem Maß von Identität. Emanzipiert von solchem Maß, zeigen die nichtidentischen Momente sich als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem“332. Materie wird dann nur reflexionstheoretisch durch die „terminologische Mas330 331 332 GS10.2, S. 748. Schmidt (1977), S. 59f., Fußnote. GS6, S. 193. 191 ke“ des Objekts, also eben durch die Reflexionsbestimmung der Nichtidentität erreicht, die ja noch dem ebenfalls reflexionstheoretisch angelegten Identitätsbegriff gehorcht. Sollte nun die Nichtidentität von dem Maß der Identität emanzipiert sein, würden „die nichtidentischen Momente sich als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem [zeigen]“, was dann nur „von außen“ zugänglich wäre. Doch diese „externe“ Betrachtung ist der negativen Dialektik wiederum nicht möglich; jenseits der Identitätsproblematik befände man sich auch jenseits des Bereichs der Selbstreflexion und folglich der negativen Dialektik selbst. Deshalb muss sich negative Dialektik dieser „nichtidentischen Momente“ lediglich erkenntniskritisch versichern: durch die Bekräftigung der Empfindung und somit der nicht zu tilgenden somatischen Dimension der Erkenntnis; durch den „hinzutretenden“ körperlichen Impuls im moralischen Räsonieren, das „Rudiment einer Phase [ist], in der der Dualismus des Extra- und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war“333; durch die Umwendung zur leibhaften und deshalb immer vermittelten materiellen Erfahrung; in einem Wort: durch die möglichste Rehabilitierung des Mimetischen innerhalb des Erkenntnisprozesses. Es hat sich gezeigt, dass Adorno in der Mimesis jene vorepistemischen Verhaltensweisen zusammengefasst sieht, die im Ursprung der epistemischen sind334. Im Laufe der Aufklärung findet die Mimesis Zuflucht hauptsächlich in der Kunst, doch sie ist nicht gänzlich im Bereich der Erkenntnis auszumerzen, indiziert sie doch einen Ort, in dem Subjekt und Objekt zu einem Indifferenzpunkt tendieren, der aber nicht auf Identität, sondern auf möglicher Affinität basiert. Mimesis ist für Adorno so die Voraussetzung aller Erkenntnis: Der griechische Streit, ob Ähnliches oder Unähnliches das Ähnliche erkenne, wäre allein dialektisch zu schlichten. Gelangt in der These, nur Ähnliches sei dazu fähig, das untilgbare Moment von Mimesis in aller Erkenntnis und aller menschlichen Praxis zum Bewußtsein, so wird solches Bewußtsein zur Unwahrheit, wenn die Affinität, in ihrer Untilgbarkeit zugleich unendlich weit weg, positiv sich selbst setzt. In Erkenntnistheorie resultiert daraus unausweichlich die falsche Konsequenz, Objekt sei Subjekt. Traditionelle Philosophie wähnt, das Unähnliche zu erkennen, indem sie es sich ähnlich macht, während sie damit eigentlich nur sich selbst erkennt. Idee einer veränderten wäre es, des Ähnlichen innezuwerden, indem sie es als das ihr Unähnliche bestimmt.335 Indem die negative Dialektik das nicht zu tilgende Mimetische innerhalb des Erkenntnisprozesses zum Bewusstsein zu bringen und so zu rehabili333 334 335 ND, S. 227–228. § 8 A. GS6, S. 153. 192 tieren sucht, will sie auf eine mögliche mimetisch angeeignete Materie hinweisen, die zwar nicht gänzlich subjekteigen, doch auch nicht vollends subjektabhängig ist336. Es handelt sich gewissermaßen um ein Anderes des Subjekts im Subjekt – wahrscheinlich das Maximum an Materiellem, das negative Dialektik als Fehlkorrelationismus zulässt. Doch bereits ein vermittelter Materiebegriff setzt wiederum einen nicht korrelationistischen Materiebegriff notwendig voraus, der ja als Grundlage von jenem gelten kann. Denn damit Materie reflexionstheoretisch durch die „terminologische Maske“ des Objekts überhaupt auftreten kann; damit sich die vom Maß der Identität eventuell emanzipierten „nichtidentischen Momente“ als materiell oder „fusioniert mit Materiellem“ zeigen können; damit Materie überhaupt mimetisch angeeignet werden kann, muss als minimale Voraussetzung der systematische Ort der Materie als ontologisch unabhängig vorhanden sein. Es handelt sich dabei nicht um jene Materie, die von einer Subjektivität bereits präformiert und deshalb korrelationistisch ist, sondern um eine völlig präsubjektive, leblose, eben nicht korrelationistische und somit tote Materie, wie sie vom Materialismus stets mitgedacht wurde337. Nur eine derartige Materie könnte als das Etwas fungieren, das sich mimetisch aneignen ließe. Diese nicht korrelationistische Materie ist aber in der negativen Dialektik abwesend, auch wenn ihr systematischer Ort unabdingbar ist, um ihre gesamte Konstruktion zu fundieren. Dass Adorno einmal diese „externe Betrachtung“ formuliert, von der ausgehend allein es möglich ist, die nichtidentischen Momente „als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem“ einzusehen, scheint darauf hinzuweisen, dass die negative Dialektik doch einen uneingestandenen spekulativen Ort einnimmt, der es ihr erst erlaubt, Aussagen über ein radikal subjektunabhängiges Absolutes – Materie in strengem Sinne – zu erstellen. Paradigmatisch lässt sich dieser spekulative Ort begreifen, wenn sich Adorno auf die Leistungen der Naturwissenschaften in einem positiven Sinne beruft – was bekanntlich eher ausnahmsweise erfolgt: „Für den Vorrang des Objekts spricht wohl ein mit Kants Konstitutionslehre Unvereinbares: daß die ratio in den modernen Naturwissenschaften über die Mauer blickt, die sie selbst errichtet; ein Zipfelchen dessen erhascht, was mit ihren eingeschliffenen Kategorien nicht übereinkommt. Solche 336 337 Interessanterweise hat Adorno eben dieses Oszillieren an Kierkegaards Denken kritisiert: „Weder ist er Identitätsphilosoph noch erkennt er positives, bewusstseintranszendentes Sein an. Weder ist ihm die Dingwelt subjekt-eigen noch subjektunabhängig. Vielmehr: sie fällt fort“; GS2, S. 45. Es wäre zu fragen, inwiefern man auch an der negativen Dialektik eine solche Kritik üben sollte. Das ist die Definition der Materie, die Meillassoux – im Anschluss an eine lange epikureische Tradition – verwendet. Vgl. § 4 oben. 193 Erweiterung der ratio erschüttert den Subjektivismus“338. So hätten die modernen Naturwissenschaften „seit Einstein (…) mit theoretischer Stringenz das Gefängnis der Anschauung sowohl wie der subjektiven Apriorität von Raum, Zeit und Kausalität gesprengt. Die – dem Newtonschen Prinzip der Beobachtung nach – subjektive Erfahrung spricht, mit der Möglichkeit solchen Ausbruchs, für den Vorrang des Objekts und gegen ihre eigene Allmacht. Sie wendet, ungewollt dialektischen Geistes, die subjektive Beobachtung wider die Lehre von den subjektiven Konstituentien“339. Hier fasst Adorno mit aller Deutlichkeit den radikal nicht korrelationistischen Charakter der Erkenntnisse an, die die modernen Naturwissenschaften in der Lage zu produzieren sind. So erkennt er ausdrücklich an, dass die moderne ratio über die Mittel verfügt, über „die Mauer [zu blicken], die sie selbst errichtet“, und so hoch vertrauenswürdige Aussagen zu machen, die gegen „die Lehre der subjektiven Konstituentien“ antreten. Er erkennt also explizit die spekulative Fähigkeit des Denkens an, mit seinen eigenen Mittel ein subjektunabhängiges Absolutes zu erreichen. Doch es ist nicht diese Dimension, die am Ende für den Vorrang des Objekts maßgeblich bleibt. Am deutlichsten kann man diesen Sachverhalt anhand der Problematik der Naturgeschichte nachvollziehen. 338 339 GS10.2, S. 748. GS6, S. 188f. 194 § 17. Natur, Geschichte, Naturgeschichte Neben der Idee einer „Logik des Zerfalls“ gehört die „Idee der Naturgeschichte“ zu den ältesten philosophischen Motiven Adornos. Zwar geht sie von einer in der philosophischen Tradition fest eingebetteten Idee zweiter Natur aus, doch sie erhält in der Tradition der modernen Dialektik, vor allem bei Adorno und Benjamin ab den zwanziger Jahren, eine durchaus neue Fassung. Adorno hat sich in einem wichtigen, allerdings zu Lebzeiten unveröffentlichten Jugendtext von 1932 mit dem Titel Die Idee der Naturgeschichte ausführlich mit ihr befasst. Das Motiv der Naturgeschichte geht aber über seine Jugendphase weit hinaus und reicht bis hin zur Negativen Dialektik, in deren eigentlichem Konzept es inbegriffen ist. Ich werde zunächst mit Philip Hogh340 eine kurze Rekonstruktion der Idee der zweiten Natur bei Aristoteles und Hegel vorschlagen, um dann zu der Problematik der Naturgeschichte in der negativen Dialektik überzugehen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gleich zu Beginn auf eine von Adorno selbst verwendete Vordefinition des Begriffs Naturgeschichte verwiesen. Bei diesem Begriff handelt es sich nicht etwa um „die Geschichte der Natur, so wie die Natur Gegenstand der Naturwissenschaften ist“, sondern vielmehr um den Versuch, „die übliche Antithesis von Natur und Geschichte aufzuheben; daß also überall da, wo ich mit den Begriffen Natur und Geschichte operiere, nun nicht letztgültige Wesensbestimmungen gemeint sind, sondern daß ich die Intention verfolge, diese beiden Begriffe zu einem Punkt zu treiben, an dem sie in ihrem puren Auseinanderfallen aufgehoben sind“341. Der Begriff ist zugleich dem einer negativen Dialektik nicht äußerlich, sondern kann als eine immanente Auslegung derselben gedeutet werden: „Über das Verhältnis dieser Dinge zum historischen Materialismus wollte ich noch sprechen, kann aber hier nur soviel sagen: es ist nicht das der Ergänzung einer Theorie durch eine andere, sondern das der immanenten Auslegung einer Theorie. Ich stelle mich sozusagen als der richterlichen Instanz der materialistischen Dialektik. Es wäre zu zeigen, daß das Vorgetragene nur eine Auslegung von gewissen Grundelementen der materialistischen Dialektik ist“342. Es gilt zu zeigen, wie der antisystematische Vorrang des Objekts immanent in die Idee der Naturgeschichte mündet – und deshalb auch seine gesamte Problemkonstellation mit sich bringt. In seinen Ausführungen über die Idee der Naturgeschichte knüpft Adorno explizit an Lukács’ Begriff der zweiten Natur an, den dieser in seinem Jugendwerk Theorie des Romans entwickelt hat. Lukács war 340 341 342 Hogh (2011). GS1, S. 345. GS1, S. 365. 195 Adorno zufolge der Erste, der den Begriff philosophisch wieder aufgegriffen hat343. „Wieder aufgegriffen“ insofern, als der Begriff der zweiten Natur eine lange philosophische Vorgeschichte hat. Er führt nämlich auf Aristoteles zurück, der in der Nikomachischen Ethik die Gewohnheit ausdrücklich als zweite Natur definiert. Aristoteles schreibt: „Die Gewohnheit ist nämlich leichter zu ändern als die Natur. Denn nur darum wird auch die Gewohnheit so schwer geändert, weil sie der Natur gleicht, wie Euenus spricht: ‚Lange, glaube mir, Freund, muß dauern die Übung; sie wird dann sich als die zweite Natur der Menschen am Ende erweisen‘“344. Aristoteles’ Verwendung des Gewohnheitsbegriffs ist hier bekanntlich in seiner Tugendlehre inbegriffen: Zu tugendhaften Charakteren werden wir Menschen erst durch die kontinuierliche Ausübung und Internalisierung tugendhafter Praktikern, die dann im Handeln wiederum externalisiert werden. Zu diesem Erlernen sind wir von unserer Naturanlage her befähigt: Darum werden uns die Tugenden weder von Natur gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung. Ferner bringen wir zu dem, was wir von Natur besitzen, zuerst das Vermögen mit, und dann erst äußern wir die entsprechenden Tätigkeiten, wie man an den Sinnen sehen kann. (…) Die Tugenden dagegen erlangen wir nach vorausgegangener Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist. Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun345. Aristoteles unterscheidet hier zwischen einer ersten Natur, die unserer ursprünglichen Naturanlage entspricht, und einer zweiten Natur, die sich als Produkt von Gewöhnung sedimentiert. Diese zweite Natur ist nur aufgrund unserer Naturanlage – der ersten Natur – möglich, die uns wiederum das Erlernen von tugendhaften Praktikern gestattet. Doch da sie so zum menschlichen Wesen wird, ist sie auch als Natur, wenngleich als zweite, zu definieren. Die aristotelische Theorie ist allem Anschein nach eine Grundlage der Hegel’schen Behandlung der zweiten Natur, die ihrerseits für Lukács und Adorno zentral ist. In der Philosophie des Geistes der Enzyklopädie schreibt Hegel: „Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- und Willensbestimmungen als verleib- 343 344 345 GS6, S. 351. Aristoteles (1995), 1152a, S. 172. Aristoteles (1995), 1103a, S. 26f. 196 lichten zukommt“ 346 . In erkennbar aristotelischer Tradition deutet also auch Hegel die Gewohnheit als eine gewordene, in diesem Sinne zweite Natur, die als solche erst durch kontinuierliches und prozesshaftes Erlernen – „Ein- und Durchbildung“ – sedimentiert wird. Wie die erste Natur wird die so verstandene Gewohnheit dann zu einem unmittelbaren Sein der Seele bzw. einer Unmittelbarkeit, die als solche leiblich gebunden und so unhintergehbar ist. Doch anders als die erste Natur ist diese zweite gesetzt, was aber ihren unhintergehbaren Charakter nicht aufhebt. Sowohl bei Aristoteles als auch bei Hegel setzt dieser Gewöhnungsprozess die Fähigkeit zum Erlernen voraus, das im Grunde in der subjektiven Aneignung von bereits vorgefundenen Praktikern und Mustern besteht. Besonders Aristoteles hebt immer wieder die Funktion hervor, die die Beobachtung des Musterhaften für das Erlernen der Tugenden hat347. Hogh schlägt nun vor, diese Bestimmungen der zweiten Natur bei Aristoteles und Hegel als subjektive zweite Natur zusammenzufassen, die eine objektive zweite Natur in Gestalt eines Systems der Sittlichkeit miteinbezieht: Gemeint ist damit, wie sich die erste Natur eines menschlichen Subjekts durch die Gewöhnung an bestimmte Praktiken und durch ihre gewohnte Ausübung zu einer dann nicht mehr hintergehbaren zweiten Natur umformt. Des Weiteren wird in der oben zitierten Hegelschen Bestimmung der zweiten Natur sichtbar, dass die subjektive zweite Natur sich nur herausbilden kann, dass die erste Natur also nur zu einer zweiten transformiert werden kann, wenn das werdende Subjekt sich bestimmte schon bestehende Praktiken unter Anleitung durch andere Subjekte selbst aneignet, sie – wie Hegel sagt – sich einbildet. Das heißt, dass die Transformation der ersten zur zweiten Natur nur in einem sozialen Raum stattfinden kann, der bereits nach bestimmten Regeln und Normen strukturiert ist und es von seinen Mitgliedern verlangt, ihr Handeln gemäß diesen Regeln und Normen auszurichten. Diese Regeln und Normen existieren (…) in der gesellschaftlichen Praxis und ihren Institutionen, in dem also, was Hegel das System der Sittlichkeit nennt.348 Das System der Sittlichkeit fasst den Rahmen zusammen, der die menschlichen Praktiken normativ strukturiert und in dem sich die sittlichen Subjekte als solche wiederfinden. Es entstammt laut Hegel dem freien Willen der Subjekte und fungiert so als „Objektivierung des Geistes“349. Doch auch wenn es geistigen Wesens ist und deshalb den Subjekten gegenüber prinzipiell durchsichtig sein soll, hatte ihm Hegel selbst bekanntlich naturhaften Charakter zugewiesen, indem es den Subjekten zunächst als 346 347 348 349 WW10, S. 184. Aristoteles (1995), 1103a–b. Hogh (2011), S. 4. Ebd. 197 Absolutheit gegenübersteht. Es hat „eine absolute, unendliche festere Autorität und Macht als das Sein der Natur“350, was dann die Rede von einer objektiven zweiten Natur begründet. Zusammengefasst ist das der philosophische Rahmen, aus dem sich die Idee der Naturgeschichte erschließen lässt. Zunächst geht sie von der kritischen Wendung des kategorialen Rahmens der so konzipierten (objektiven) zweiten Natur aus, wie sie ihrerseits bereits bei Marx angelegt und bei Lukács zuerst voll ausgeführt wird. Kritisch gewendet wird dieser kategoriale Rahmen erst dann, wenn die zweite Natur – Lukács nennt sie die Welt der Konvention – nicht mehr als das den Menschen gegenüber normativ durchsichtige System der Sittlichkeit, sondern als der zu erschließende und so zu überwindende Bereich der Verdinglichung gedeutet wird. Lukács ist – so Adorno – dieser Problematik in der folgenden Textstelle am nächsten gekommen: Die zweite Natur der Menschengebilde hat keine lyrische Substantialität: ihre Formen sind zu starr, um sich dem symbolschaffenden Augenblick anzuschmiegen; der inhaltliche Niederschlag ihrer Gesetze ist zu bestimmt, um die Elemente, die in der Lyrik zu essayistischen Veranlassungen werden müssen, je verlassen zu können; diese Elemente aber leben so ausschließlich von der Gnade der Gesetzlichkeiten, haben so gar keine von ihnen unabhängige sinnliche Valenz des Daseins, daß sie ohne sie in Nichts zerfallen müssen. Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die erste: sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten und wäre deshalb – wenn dies möglich wäre – nur durch den metaphysischen Akt einer Wiedererweckung des Seelischen, das sie in ihrem früheren oder sollenden Dasein erschuf oder erhielt, erweckbar, nie aber von einer anderen Innerlichkeit erlebbar.351 Die Idee der Naturgeschichte erwächst nun aus der dialektischen Radikalisierung dieser kritischen Wendung bei Lukács. Mit ihr zeigt sich das Gewesene und in diesem Sinne Geschichtliche als Natur, während sich Natur auch als Gewordenes offenbart, als Produkt des menschlichen Agens. Natur und Geschichte werden so anhand der Denkfigur der Vergänglichkeit tendenziell ununterscheidbar: „Der tiefste Punkt, in dem Geschichte und Natur konvergieren, ist eben in jenem Moment der Vergänglichkeit gelegen. Wenn Lukács das Historische als Gewesenes in Natur sich zurückverwandeln läßt, so gibt sich hier die andere Seite des Phä- 350 351 WW7, S. 294f. Lukács zitiert nach GS1, S. 356f. 198 nomens: Natur selber stellt als vergängliche Natur, als Geschichte sich dar“352. Als Behauptung einer unhintergehbaren Verschlingung von Natur und Geschichte spielt die Idee der Naturgeschichte eine doppelte Rolle. Indem sie Geschichte als Natur offenbart, will sie erstens darauf hinweisen, dass Geschichte heute noch naturwüchsig bleibt, sodass Geschichte im emphatischen Sinne – als Bereich eines durchsichtigen menschlichen Agens – noch nicht ist: „Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, setzt die bewußtlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort“ 353. Indem sie umgekehrt Natur als Geschichte offenbart, will sie zweitens darauf bestehen, dass Natur, wie sie sich vor allem im Spätkapitalismus zeigt, immer nur zweite Natur ist; reine, von menschlicher Vorbestimmung unabhängige Naturräume gibt es tendenziell nicht mehr: „Je unerbittlicher Vergesellschaftung aller Momente menschlicher und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit sich bemächtigt, desto unmöglicher, ans Gewordensein des Gespinsts sich zu erinnern“ 354 . „Was wahrhaft thesei ein wenn schon nicht von Individuen so doch von ihrem Funktionszusammenhang erst Hervorgebrachtes ist, reißt die Insignien dessen an sich, was dem bürgerlichen Bewußtsein als Natur und natürlich gilt. Nichts, was draußen wäre, erscheint mehr jenem Bewußtsein; in gewissem Sinn ist auch tatsächlich nichts mehr draußen, nichts unbetroffen von der totalen Vermittlung“355. So erhebt die Idee der Naturgeschichte den Anspruch, sowohl Geschichte in ihrer angeblichen menschlichen Durchsichtigkeit als auch Natur in ihrer vermeintlichen radikalen Andersheit zur Menschheitsgeschichte kritisch aufzuheben, ohne jedoch beide in eine Art umfassender, idealistisch angelegter „Geschichte des Geistes“ zu konvertieren. Geschichte in emphatischem Sinne hat für sie vielmehr noch nicht angefangen: „Was anders wäre, hat noch nicht begonnen“356. So will sie Natur und Geschichte als zwei autonome Instanzen radikal entabsolutieren und zusammenführen, was das nun naturgeschichtliche Wirkliche als prinzipiell transformierbar bestimmt. Es handelt sich somit um das stärkste aufklärerische und korrelationistische Motiv der Kritischen Theorie. Ihm zufolge gibt es grundsätzlich nichts, was durch das menschliche Agens nicht transformierbar wäre – dies betrifft selbst den Tod: „Aber der Tod ist in keinem Verstande rein; auch nichts Apodiktisches (…). Wie manche niedere Organismen nicht im selben Sinne sterben wie die höheren, individuierten, so ist angesichts des Potentials der Verfügung über organische 352 353 354 355 356 GS1, S. GS6, S. GS6, S. GS6, S. GS6, S. 357f. 348f. 351. 351. 148. 199 Prozesse, das Umriß gewinnt, der Gedanke einer Abschaffung des Todes nicht a fortiori abzutun“357. Der Tod taucht gewissermaßen als die letzte vorgegebene und in diesem Sinne „mythische“ Tatsache auf, die der „Natur“ als einer selbstgenügsamen und autonomen Instanz anhaftet, die aber prinzipiell überwindbar ist und die es aufklärerisch zu überwinden gilt. So können Adorno und Horkheimer – noch radikaler – die Abschaffung des Todes als „die innerste Zelle jeglichen antimythologischen Gedankens“ 358 definieren. Natur und Geschichte werden beide zu einer einzigen Instanz, die zwar weder ganz menschenfremd noch ganz menscheneigen ist, die aber sinnerweckt und so menschlich angeeignet werden kann: die Naturgeschichte. Schmid-Noerr hat hier von der Unnatürlichkeit der Natur in Gestalt ihrer Sozialität und umgekehrt auch von der Natürlichkeit des Sozialen gesprochen359. Bei Marx noch ist die Naturgeschichte Vorgeschichte: „Was einmal bei Marx, mit schwermütiger Hoffnung, Vorgeschichte heißt, ist nicht weniger als der Inbegriff aller bisher bekannten Geschichte, das Reich der Unfreiheit“360. Man sieht hier ein, wie Adorno behaupten konnte, dass die Idee der Naturgeschichte nicht als ein Einzelelement unter anderen, sondern als eine immanente Auslegung materialistischer Dialektik – oder: kritischer Theorie – zu betrachten ist. Zwar taucht sie in der negativen Dialektik explizit erst im zweiten Modell über Hegel auf, doch sie könnte auch als eine naturgeschichtliche Erschließung des Vorrangs des Objekts und folglich der materialistischen Grundoperation der negativen Dialektik betrachtet werden. Wir sahen, wie der Vorrang des Objekts immanent in die konstitutionstheoretische Schlussfolgerung mündet, der zufolge „Subjekt in Wahrheit 357 358 359 360 GS6, S. 517, meine Hervorhebung. GS3, S. 96, meine Hervorhebung. Der durchaus faszinierende Gedanke einer Abschaffung des Todes ist der materialistischen Denktradition nicht neu. Laut Schmid-Noerr (1990) findet er sich in den klassischen Materialismen von Lukrez und La Mettrie, taucht auch bei Meillassoux in der radikaleren – und befremdlichen – Gestalt einer Resurrektion der Toten im Zusammenhang mit der absoluten Kontingenz der Naturgesetze auf. Es scheint so einen sachlichen Bezug zwischen dem Materialismus (verschiedener Provenienzen) und dem Gedanken einer Abschaffung des Todes zu geben: Wird auf die Denkfigur einer immateriellen Seele radikal verzichtet, dann verliert der Tod des physischen Leibes seinen vermeintlich notwendigen Charakter. Er wird so bloß zu einer überwindbaren Kontingenz im Gesamtzusammenhang des immerwährenden Materiellen. In diesem Gedanken berührt der Materialismus die Weltreligionen, die die Abschaffung des Todes auf ihre eigene Art und Weise verheißen. Abgesehen von dem Beitrag Schmid-Noerrs, der diesen Bezug auch – wenngleich nur en passant – konstatiert, gibt es m. E. keine Arbeiten, die sich ihm ausführlich widmen. Schmid-Noerr (1992), S. 44ff. GS8, S. 234. 200 nie ganz Subjekt [ist], Objekt nie ganz Objekt“361. Wie er Subjekt und Objekt zu einem nicht rein begrifflichen, sondern mimetisch vermittelten Indifferenzpunkt zusammenführt, so treibt auch die Idee der Naturgeschichte Natur und Geschichte zu einem solchen Punkt. Beide Gedanken sind insofern miteinander wesentlich kommensurabel, und dieser gilt so als Auslegung von jenem. Doch als eine naturgeschichtliche Erschließung des Vorrangs des Objekts prolongiert die Idee der Naturgeschichte seine oben dargestellte Problemkonstellation. Wie dort scheint Adorno auch hier zwei Argumentationsebenen kategorial zu vermengen, was zu immanenten Spannungen in der Konstruktion der Naturgeschichte führt. Hier lässt sich diese Vermengung anhand einer Art non sequitur explizieren: Dass sich Natur nur in ihrer Verschlingung mit der Menschheitsgeschichte und der menschlichen Gattung überhaupt zeigt; dass die „Vergesellschaftung aller Momente menschlicher und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit sich bemächtigt“ habe, sodass es heute tatsächlich unmöglich sei, „ans Gewordensein des Gespinsts sich zu erinnern“362; dass sich Natur so nur auch als Menschengemachtes überhaupt explizieren lässt; dass tatsächlich „nichts unbetroffen von der totalen Vermittlung“ sei – aus alledem folgt nicht, dass die Natur außerhalb und vor allem vor dieser Verschlingung autonom nicht bestanden habe. Dort scheint Adorno einer vermittlungstheoretischen Argumentationsebene zu folgen, die nach der Art der Artikulation von Natur und Geschichte fragt, während es hier um eine realontologische Argumentationsebene geht. Indes muss aber auch hier eine autonome, in diesem Sinne nicht korrelationistische Natur mindestens spekulativ vorausgesetzt sein, damit das Verhältnis von Natur und Geschichte als das einer Verschlingung überhaupt gefasst werden kann. Denn dass die Verschlingung von zwei verschiedenen Instanzen beide voneinander ununterscheidbar gemacht hat, impliziert nicht zwangsläufig, dass sie zunächst nicht autonom gewesen sein können. Im Gegenteil setzt jede Verschlingung von Verschiedenem die zumindest anfängliche Beständigkeit des Verschiedenen als solches voraus. Sonst müsste man annehmen, dass eine Verschlingung von Gleichem stattfindet, was die Rede von der Naturgeschichte als der ununterscheidbar gewordenen Einheit von etwas angeblich Grundverschiedenem widersinnig machte. Mehr noch: Allein die Behauptung, dass sich blinde Natur in der aktuellen Geschichte perpetuiert, setzt den Zugang zu einer von der Menschengattung unbetroffenen ersten Natur voraus, was ihre Auffassung als ein Bereich des „Fressens und Gefressenwerdens“ erst ermöglicht. 361 362 GS6, S. 177. GS6, S. 364. 201 Diese kategoriale Spannung lässt sich am deutlichsten anhand der Fragestellung über die sogenannte „Realdialektik“ nachvollziehen. Zwar behauptet Adorno explizit, die Dialektik stamme aus der Reflexion zwischen Begriff und Gegenstand und dürfe deshalb nicht auf den Naturbereich übertragen werden. Doch die Konstruktion der Naturgeschichte impliziert, dass Natur und Geschichte in einer einzigen Instanz tendenziell fusionieren und so „nichts unbetroffen von der totalen Vermittlung“ mehr ist. Streng genommen ist der negativ-dialektische Materialismus somit nicht historisch, sondern naturhistorisch: „So wenig Dialektik auf Natur als universales Erklärungsprinzip auszudehnen ist, so wenig doch sind zweierlei Wahrheiten nebeneinander aufzurichten, die dialektische innergesellschaftlich und eine gegen sie indifferente. Die an der Einteilung der Wissenschaften orientierte Trennung von gesellschaftlichem und außergesellschaftlichem Sein täuscht darüber, daß in der heteronomen Geschichte blinde Naturwüchsigkeit sich perpetuiert“363. Bedeutet dies nun aber, dass der Dialektik keine Naturgrenzen mehr gesetzt sind? Die Diskussion um die Abschaffbarkeit des Todes scheint diese Frage paradigmatisch zu bejahen: Sogar der Tod als letztes Naturfaktum soll prinzipiell menschlich angeeignet und überwunden werden können. Doch gäbe es tatsächlich keine Naturgrenzen für die materialistische Dialektik, dann müsste man in extremis auch annehmen können, dass nicht nur Natur und mit ihr der Tod, sondern sogar die Naturgesetze vom Gattungswesen Mensch prinzipiell angeeignet und so gewissermaßen „überwunden“ werden könnten. Das aber würde den Materialismus zu einer Karikatur des subjektiven Idealismus machen. Nichts ist vom Geist der negativen Dialektik weiter entfernt. Dieser Sachverhalt weist aber darauf hin, dass der Materialismus insofern zumindest ein Absolutes – sei es bloß die reine Kontingenz der Naturgesetze als ein unüberwindbares Naturfaktum, das als solches radikal menschenunabhängig ist – spekulativ postulieren muss, will er nicht tendenziell in einen Immaterialismus umschlagen364. 363 364 GS6, S. 145. Man könnte die Idee der Naturgeschichte im Anschluss an ihre Problemkonstellation mit einer Hypothese illustrieren, die im 21. Jahrhundert immer heftiger diskutiert wird. Gemeint ist die Theorie des Anthropozäns, die von Paul Crutzen und Eugene Stoermer entwickelt worden ist (Davies 2016). Dieser Hypothese zufolge ist die Menschheit als Gattungswesen aufgrund seiner wachsenden technischen Naturbeherrschung zu einem geologischen Faktor geworden, der als solcher wesentlichen Einfluss auf die biologischen, geologischen, klimatischen und atmosphärischen Naturvorgänge der Erde gewinnt. So sei die Erde mit diesem Umstand in ein neues Zeitalter eingetreten: das Anthropozän. Die genaue Datierung, wann dieses neue Erdzeitalter begonnen habe, ist umstritten; mögliche Kandidaten sind die Entstehung der Landwirtschaft, der Beginn der Industrialisierung (etwa um 1800) oder der Anfang des sogenannten Atomzeitalters in der Mitte des 20. Jahrhunderts. 202 § 18. Selbstaufhebung des Materialismus? Indem sie Natur und Geschichte als zwei autonome und grundverschiedene Instanzen aufzuheben beansprucht, fusioniert die Idee der Naturgeschichte beide in einer einzigen, die weder rein geschichtlich – als Bereich eines durchsichtigen menschlichen Agens – noch rein naturhaft – als Bereich rein vorgegebenen Seins – ist: Naturgeschichte. Mit dieser Operation beabsichtigt sie grundsätzlich zweierlei: 1. tendenziell alle Natur als zweite Natur und 2. aktuell menschliche Geschichte als naturwüchsig zu entlarven. Das unmittelbare Ergebnis dieser Operation ist die Konvertierung aller bisherigen Geschichte in Vorgeschichte. Wahre Geschichte, die Hervorbringung des qualitativ Anderen durch menschliches Agens im Gegensatz zum „Fressen und Gefressenwerden“ der blinden Natur, wird ins Noch-Nicht verschoben: „Was anders wäre, hat noch nicht begonnen“365. Es liegt so in der eigentlichen Bestimmung wahrer Geschichte, dass sie erst dann anfinge, wenn sie sich von ihrer immanenten Naturwüchsigkeit befreite. Trotz des oft wiederholten Bilderverbots der negativen Dialektik, dem zufolge der „versöhnte Zustand“ nicht bildlich zu porträtieren sei, ist diese eine Bestimmung seinem Begriff unabdingbar und auch als solche in der negativen Dialektik stets referiert: In einem versöhnten Zustand wären die materiellen Bedürfnisse, die jenes naturhafte „Fressen und Gefressenwerden“ auch innerhalb des gesellschaftlichen Bereiches 365 Abgesehen von der genauen Datierung will die Hypothese des Anthropozäns darauf hinweisen, dass mit dem wachsenden menschlichen Einfluss auf die Erde gravierende Folgen wie die Erschöpfung von Naturressourcen und das Aussterben von Tierarten, ein Klimawandel, der Rückgang von Permafrostböden und eine generalisierte Umweltzerstörung einhergehen, womit die Erde eine qualitativ neue, menschenbedingte und vor allem unhintergehbare Gestalt erhalten hat. Denn nicht zuletzt ist die Menschheit so zu einer möglichen Vernichtungsmacht der irdischen Natur als Ganzheit geworden. – Diese Hypothese des Anthropozäns weist Ähnlichkeiten mit der Idee der Naturgeschichte auf. Beide gehen von einer Verschlingung von Natur und Geschichte aus, indem sie die unter dem menschlichen Agens bewirkte aktuelle Naturgestaltung geschichtlich als unhintergehbar deuten. Beide bestehen darauf, dass im Anthropozän bzw. im Spätkapitalismus keine von menschlichem Einfluss freien Naturräume mehr aufzufinden sind. Während der Hypothese des Anthropozäns aber die gesellschaftskritische Dimension der Idee der Naturgeschichte fehlt, die es dieser erlaubt, menschliche Geschichte als Perpetuierung des Naturzwangs („Fressen und Gefressenwerden“) und so zugleich als eine Art blinder Natur zu fassen, scheint die Theorie des Anthropozäns der Natur trotz aller menschlichen Vermitteltheit wesentliche Autonomie zuzuweisen. Die technische Verfügung über sie kann naturgemäß nicht unbegrenzt erfolgen, ohne eine tendenzielle Verunmöglichung der Lebensbedingungen auf der Erde und so mögliche Reaktionen der Erde zu verursachen (vgl. Danowski e De Castro 2016; Latour 2015). GS6, S. 148. 203 perpetuiert, womit alle bisherige menschliche Geschichte als Vorgeschichte bestimmt ist, grundsätzlich befriedigt. Gemeint ist die Einrichtung einer Gesellschaftsverfassung, in der „keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten [würde]“366 und so die Produktion gesellschaftlich bedingten Leidens überwunden wäre. Für Adorno impliziert dies nichts anderes als die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse und so die Selbstaufhebung des (historischen) Materialismus: „Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verweigert“367. Hier bezieht sich Adorno zwar auf den „historischen Materialismus“ und meint somit alle materialistischen Denkgebilde, die im Gefolge von Marx entstanden sind – einschließlich seines eigenen. Wesentlicher Aspekt seiner Marx-Interpretation besteht dementsprechend in dieser dialektischen Zielsetzung, die der Selbstüberwindung des Materialismus entspricht. Die Konstruktion der Denkfigur des Materialismus bei Marx sei, so Adorno, von Beginn an zielgerichtet und so als prinzipiell überwindbar bestimmt: Der Materialismus gründet demgemäß in der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens, die durch materielle Bedürfnisse bestimmt ist; dessen immanentes Ziel ist so ihre Befriedigung: Der Marxsche Materialismus hat ein Telos, das ihn grundsätzlich unterscheidet von den anderen materialistischen Philosophien, die wir bislang besprochen haben: Wenn die materiellen Bedingungen der Menschheit zu sich selbst kommen, das heißt, wenn die Reproduktion der Gattung Mensch und die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen von dem Tauschwert, von dem Profitmotiv endlich einmal befreit werden, dann wird die Menschheit aufhören, unter dem materiellen Zwang zu existieren; die Erfüllung des Materialismus wird zugleich das Ende des Materialismus sein.368 Das hier besprochene Ende des Materialismus entspräche dem Aufkommen jenes „Reichs der Freiheit“, das Marx im dritten Band des Kapitals paradigmatisch zur Sprache bringt. Seine Möglichkeitsbedingung ist die Abschaffung des „durch Not und äußere Zweckmäßigkeit“ bestimmten Arbeitens, die erst aufgrund einer vollends rationalisierten Produktion zutage treten kann. So würden die Vorgeschichte als Reich der Notwendigkeit, das dem Zweck der Selbsterhaltung der Gattung noch dient, durch ein als Selbstzweck konzipiertes Reich der Freiheit und mit diesem 366 367 368 GS6, S. 150. GS6, S. 207. PT, S. 276f. 204 der Vorrang der materiellen Bedürfnisse der Menschheit aufgehoben. Marx schreibt: Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann.369 Auch wenn sich Adorno hier explizit auf den historischen Materialismus bezieht und diese Entwicklung als ihm spezifisch darlegt, scheint er darauf zu bestehen, dass tendenziell jeglicher Materialismus zu seiner Selbstaufhebung führt. Marx ist dafür zwar tatsächlich paradigmatisch, doch diese Tendenz ist auch bei anderen materialistischen Denkmodellen zu finden und gehört ihnen sachlich zu. Wenn Adorno die These der Abschaffung des Materialismus bei Marx kommentiert, spricht er davon, dass „diese Situation bis zu einem gewissen Grade die eigentümliche Struktur der meisten materialistischen Theoreme erklären [dürfte], die auf der einen Seite Determinismus, und zwar Naturdeterminismus lehren, und auf der anderen Seite Ideen eines richtigen Lebens entwerfen“370. Hier handelt es sich um Interpretationsbestände Adornos über die materialistische Denktradition, die als solche grundsätzlich bestreitbar sind. Ich möchte sie nicht einzeln prüfen, sondern bloß die systematischen Spannungen hervorheben, die sie gegenüber seinem eigenen Materialismusbegriff aufweisen. Wir sahen, dass die Idee der Naturgeschichte eine unhintergehbare Verschlingung von Natur und Geschichte postuliert, die die Naturgrenze des Materialismus tendenziell aufhebt: Ist keine Natur „von der totalen Vermittlung“ mehr unbetroffen, bleiben keine vom 369 370 MEW25, p.828 PT, S. 198. 205 menschlichem Agens unberührten Naturräume mehr übrig, dann fallen auch die Grenzen weg, die den Materialismus aus dem Naturbereich verwiesen haben. Lässt sich dementsprechend inner- und außergesellschaftliches Sein nicht mehr strikt voneinander unterscheiden, dann wird der eigentliche Unterschied zwischen einem historischen und einem außerhistorischen Materialismus hinfällig. Aus diesem Grund bemüht sich die negative Dialektik um den Begriff eines naturhistorischen bzw. naturgeschichtlichen Materialismus. Was hat in diesem Zusammenhang „die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung“ zu bedeuten, die wiederum in die Selbstaufhebung des (historischen) Materialismus münden soll? Indem der Materialismus infolge dieser Befreiung als selbstaufhebbar bestimmt wird, wird er exklusiv auf den menschlich-gesellschaftlichen Bereich festgelegt – denn erfüllt und so vom Primat der Materie befreit werden nur die menschlichen Bedürfnisse. Das ist kein zufälliger Widerspruch, vielmehr ist er ein weiteres Indiz dafür, dass der negativdialektische Materialismus die Idee der Naturgeschichte nicht zu Ende führen kann, ohne in offensichtliche Spannungen zu geraten. So scheint auch die eigentliche Idee einer Selbstaufhebung des Materialismus eine erste Natur uneingestanden voraussetzen zu müssen, auf die er aber keinen Einfluss hat. Andernfalls müsste man annehmen, dass auch die produktive und reproduktive Dynamik anderer Lebewesen, die dem „Fressen und Gefressenwerden“ der Natur gehorcht, mit der Etablierung einer vernünftigen Gesellschaftsverfassung in die Versöhnung mit einbezogen wäre. So eigentümlich diese Idee auch wirken mag, darf doch nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass sie der Problemkonstellation angehört, die das Motiv einer Selbstaufhebung des Materialismus aufgrund der Erfüllung seiner Zielsetzung mit sich bringt. Das ist bekanntlich der zentrale Kritikpunkt Habermas’ am späten Marcuse, der, wohl unter dem Einfluss Adornos, dieser Idee ebenfalls verpflichtet ist: Marcuse hat eine alternative Einstellung zur Natur im Sinne, aber aus ihr läßt sich nicht die Idee einer Neuen Technik gewinnen. Statt Natur als Gegenstand möglicher technischer Verfügung zu behandeln, können wir ihr als Gegenspieler einer möglichen Interaktion begegnen. Statt der ausgebeuteten Natur können wir die brüderliche suchen. Auf der Ebene einer noch unvollständigen Intersubjektivität können wir Tieren und Pflanzen, selbst den Steinen, Subjektivität zumuten und mit Natur kommunizieren, statt sie, unter Abbruch der Kommunikation, bloß zu bearbeiten. Und eine eigentümliche Anziehungskraft, um das mindeste zu sagen, hat jene Idee behalten, daß eine noch gefesselte Subjektivität der Natur nicht wird entbunden werden können, bevor nicht die Kommunikation der Menschen untereinander von Herrschaft frei ist. Erst wenn die Menschen zwanglos kommunizierten und jeder sich im anderen 206 erkennen könnte, könnte womöglich die Menschengattung Natur als ein anderes Subjekt – nicht, wie der Idealismus wollte, sie als ihr Anderes, sondern sich als das Andere dieses Subjektes– erkennen371. Diese Problemkonstellation fasst die Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus zusammen, die hier dargestellt worden sind. Als solche erwachsen sie aus seinem eigenen kategorialen Rahmen und scheinen auch über sie hinauszuweisen, ohne dies aber explizit ausbuchstabieren zu können. 371 Habermas (1969), S. 57. Ray Brassier hat neulich einen ähnlichen Kritikpunkt erhoben: die Idee der Naturgeschichte und mit ihr die Selbstaufhebung des Materialismus implizierten in „the rehabilitation of a fully anthropomorphic ,living‘ nature, a desire to revoke spirit’s estrangement from matter, to reforge the ken ,chain of being‘, and ultimately to repudiate the labour of disenchantement initiated by Galileo in the physical realm, continued by Darwin in the biological sphere, and currently being extended by cognitive science to the domain of mind“, Brassier (2007), S. 40 207 § 19. Fazit Aus ihrem eigenen kategorialen Rahmen heraus lässt sich die negative Dialektik als eine Spielart des Fehlkorrelationismus begreifen, der die Subjekt-Objekt-Korrelation zwar destabilisiert, um daraus ihren Wahrheitsgehalt als materialistisches Denkmodell zu extrahieren, sie aber nicht abbricht. Das jedoch kann nur unter Inkaufnahme innertheoretischer Spannungen gehen, die sich auf ihre materialistischen Hauptkategorien übertragen lassen (§ 15). Am Begriff des Objekts lassen sich diese Spannungen anhand von dessen materieller Dimension einsehen, die zwar immer mimetisch angeeignet und deshalb vermittelt ist, die aber zugleich einen unvermittelten Materiebegriff voraussetzt (§ 16). Dieselbe Spannung zeigt sich in der Konstruktion der Naturgeschichte als unhintergehbare Verschlingung von Natur und Geschichte (§ 17) wie auch an der Idee einer möglichen Selbstüberwindung des Materialismus (§ 18), die beide einen Begriff erster Natur als ihre eigene Möglichkeitsbedingung voraussetzen bzw. indizieren. 208 Schlussbetrachtung Die vorliegende Untersuchung hat sich der Spannung zwischen Materialismus und Kritik gewidmet, die seit der idealistischen Identitätskrise der deutschen Philosophie im Horizont zeitgenössischen Denkens steht. Aus dieser Spannung ergibt sich der Problemcharakter des kritischen Materialismus, mit dem sich die im 19. Jahrhundert entstehende Kritische Gesellschaftstheorie exemplarisch befasst. Sofern das Problem des kritischen Materialismus den kategorialen Rahmen sowohl der aus der Vernunftkritik entwickelten Subjektphilosophie als auch der darauffolgenden Materialismen kritisch hinterfragt, ist es für beide Fronten zeitgenössischen Philosophierens von Bedeutung. Indiz dieses noch währenden Problemcharakters – und seiner Relevanz – sind sowohl die verschiedenen Materialismus-Streite seit Mitte des 19. Jahrhunderts als auch die vielen Spielarten von Materialismus, die seitdem und bis heute aufeinanderfolgten. Als „Organon Kritischer Theorie überhaupt“372 bringt die Negative Dialektik Theodor W. Adornos diese Spannung nun besonders deutlich zur Sprache, weshalb sie dieser Arbeit als philosophischer Ausgang dient. Wie alle kritische Theorie lehnt sie die Hauptoperation der klassischen Materialismen als dogmatisch und selbstwidersprüchlich ab und erhebt somit den Anspruch, den kritischen Materialismus aus der immanenten Kritik an dem philosophischen Idealismus zu begründen. Das Ergebnis dieser immanenten Kritik ist der Vorrang des Objekts, der in der philosophischen Einholung einer immanenten Ungleichheit zugunsten der Objektivität in der Subjekt-Objekt-Korrelation besteht. Indem er aus dem identitätsphilosophischen Instrumentarium des Idealismus immanent erwächst und so seinem Anspruch nach die wahre Vollendung neuzeitlichen Denkens darstellt, liefert er die Grundlage, auf welcher sich der kritische Materialismus konsistent aufgebaut wird. Da er aber weder die Subjekt-Objekt-Korrelation abbrechen noch Objektivität ontologisieren soll, führt die negative Dialektik eine umfassende Ontologiekritik durch, die in der Denkfigur des Antisystems mündet. Sie verhindert sowohl die Etablierung von ontologischen Grundprinzipien wie Sein, Materie und Gesellschaft als auch die Ontologisierung von innerkorrelationellen Gehalten wie Nichtidentität. In diesem Sinne versucht sie die Diskontinuität von Sein und Denken innerkorrelativ und rein reflexionstheoretisch zu entfalten und entspricht der Grundstruktur des negativ-dialektischen Materialismus. So gesehen lässt sich der negativ-dialektische Materialismus als eine Variante von Fehlkorrelationismus begreifen, der als solcher eine Kompromisslösung des Problems des Materialismus darstellt. Wie jeder Fehlkorrelationismus weist auch der negativ-dialektische Materia372 Schnädelbach, (1983), S. 81. 209 lismus indirekt auf eine außerkorrelationelle Instanz hin, die aber innerhalb seines kategorialen Rahmens nicht explizierbar ist. Aus dieser Nichtexplizierbarkeit einer Sinninstanz, die ihrer Konsistenz als Materialismus wiederum unentbehrlich ist, lassen sich ihre Grenzen immanent ableiten. Sie sind nicht als bloße Inkonsistenzen, sondern als notwendige Spannungen zu betrachten, die sich aus dem Konzept des negativ-dialektischen Materialismus selbst ergeben. Infolge des so zusammengefassten Ergebnisses der vorliegenden Untersuchung kann man nun die Nachgeschichte der Kritischen Theorie seit der Negativen Dialektik erneut fassen. Wie ich bezüglich der Rezeptionsgeschichte des Werkes thematisiert habe373, stellt auch Habermas – wenn auch von einem anderen Standpunkt aus – die oben dargestellten Grenzen negativer Dialektik heraus. Indem er sie aber als Symptome der Erschöpfung der gesamten Bewusstseinsphilosophie deutet, sieht er sich gezwungen, die bekannte Wende von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie zu vollziehen. Diese Wende hat sehr wirkungsreiche Konsequenzen für die Weiterentwicklung kritischer Gesellschaftstheorie gehabt, die noch heute deutlich spürbar sind; denn Habermas folgten, wie allbekannt, die Hauptvertreter der nächsten Generationen der Denktradition. Unter anderem gehört zu diesen Konsequenzen die Aufgabe des gesamten kategorialen Rahmens und mit ihm auch der Problemkonstellation, inerhalb derer sich das Problem des Materialismus stellte. Nicht umsonst verliert der Materialismus mindestens seit der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) die Zentralität, die er in der Geschichte kritischer Gesellschaftstheorie von Marx bis Adorno noch erhielt. Wenn nun die vorliegende Arbeit – mit Habermas, aber durch andere Mittel – zur Herausstellung der Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus gelangt, deutet ihr Ergebnis jedoch auf eine völlig andere Richtung hin. Anstatt die internen Grenzen negativer Dialektik als Symptome einer Erschöpfung zu interpretieren, die zum Paradigmenwechsel und so zur Aufgabe der hier reflektierten Problemkonstellation zwangsläufig führt, lädt das Ergebnis der vorliegenden Arbeit gewissermaßen dazu ein, auf ihnen zu beharren. Indem sie offenbart, dass die negative Dialektik letztinstanzlich einen uneingestandenen spekulativen Ort einnimmt, von dem ausgehend sie ihren kategorialen Rahmen allein begründen kann, stellt sich die Frage nach der spekulativen Dimension der Kritischen Theorie. Weil sie im Zusammenhang der idealistischen Identitätskrise der deutschen Philosophie als Kritik an der Spekulation entstanden ist, hat sie stets diese Dimension immanent aufzuheben und so den kritischen Materialismus auch als Auflösung der (spekulativen) Philosophie zu begründen beansprucht. Trifft das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zu, dann 373 § 3 B. 210 offenbart die negative Dialektik, dass dieser Anspruch nicht konsequent gehalten werden kann. Es spannt sich so ein Bogen innerhalb der Denktradition der Kritischen Theorie von der Kritik an der Spekulation über die Unmöglichkeit, sie reibungslos durchzuführen, bis hin zu der Offenbarung der Unumgänglichkeit des Spekulativen. Vollzieht man hier mit Habermas einen Paradigmenwechsel, dann wird diese gesamte Problemkonstellation gleichzeitig vergessen, wenn man mit Adorno die Dynamik philosophischer Probleme innerhalb jener Logik von „Dauer und Vergessen“ 374 begreift. Wird aber die Unumgänglichkeit des Spekulativen eingesehen, dann besteht man auf ihrer Dauer: zwar wird die Gültigkeit der Habermas’schen Wende nicht in Frage gestellt, doch andere Denkwege öffnen sich. Sie ließen sich anhand eines Forschungsprogramms skizzierend formulieren. Es bezieht sich auf das Verhältnis der Kritischen Theorie zur philosophischen Spekulation. Naturgemäß wird mit dem Einsehen in die Unumgänglichkeit des Spekulativen keine bloße Rückkehr zur idealistischen Spekulation angestrebt. Vielmehr wirft auch die negative Dialektik anhand ihrer hier dargestellten Grenzen das Problem eines Begriffes von nicht idealistischer und zugleich nicht dogmatischer Spekulation auf, die die Kritische Theorie als materialistische Denkweise strukturell transformieren und zugleich begründen könne. Das ist auch das Hauptproblem, das einen beträchtlichen Teil der aktuellen kontinentaleuropäischen Philosophie einigt. 374 GS6, S. 71 211 Literaturverzeichnis Adorno, T. (1997). Gesammelte Schriften. Herausgegeben von von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Suhrkamp. Adorno, T. (1974). „Philosophische Terminologie“, Band 2, in: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp. Adorno, T. (1995), Kants Kritik der reinen Vernunft. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Suhrkamp. Adorno, T. (1995). „Philosophische Terminologie: Zur Einleitung“, in: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp. Adorno, T. 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