Daniel Pucciarelli
—
Materialismus und Kritik
EPISTEMATA
WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN
Reihe Philosophie
Band 599 — 2019
Daniel Pucciarelli
Materialismus und Kritik
Konzept, Aussichten und Grenzen
des Materialismus im Ausgang
von der Negativen Dialektik
Theodor W. Adornos
Königshausen & Neumann
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D 19
© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2019
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier
Umschlag: skh-softics / coverart
Bindung: docupoint GmbH, Magdeburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany
ISBN 978-3-8260-6758-7
www.koenigshausen-neumann.de
www.libri.de
www.buchhandel.de
www.buchkatalog.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .......................................................................................................... 9
Danksagung ................................................................................................. 11
Liste der verwendeten Abkürzungen ......................................................... 13
Einleitung ..................................................................................................... 15
Erstes Kapitel: Das Materialismusproblem im Horizont
der zeitgenössischen Philosophie ............................................................. 19
§ 1. Die idealistische Identitätskrise
der (deutschen) Philosophie – gestern und heute......................... 23
§ 2. Vorbegriff und Problem des Materialismus ............................ 32
§ 3. Das Konzept einer Negativen Dialektik................................. 39
A. Philosophiehistorisches Selbstverständnis .......................... 39
B. Negative Dialektik: Zur Rezeptionsgeschichte ................... 51
§ 4. Subjektalismus, Korrelationismus und Materialismus heute. 58
§ 5. Fazit .......................................................................................... 66
Zweites Kapitel: Identität und Nichtidentität ........................................ 67
§ 6. Identität und Nichtidentität: systematische Einführung ..... 71
§ 7. Das Identitätsproblem in der neuzeitlichen
Philosophie: ein Überblick ............................................................. 76
A. Das Identitätsproblem bei Leibniz und Hume ................... 76
B. Identität bei Kant................................................................... 81
C. Identität und Nichtidentität im
nachkantischen Idealismus ........................................................ 87
§ 8. Negative Dialektik und Identität .......................................... 100
A. Die identitätskritische Grundoperation
negativer Dialektik: Vorrang des Objekts .............................. 104
B. Identität als Übergangskategorie ........................................ 119
C. Negative Dialektik und Identität: Zusammenfassung ...... 124
§ 9. Dialektik und Antinomie: Kant, Hegel, Adorno ................. 126
§ 10. Fazit ...................................................................................... 135
5
Drittes Kapitel: Ontologie und Dialektik ............................................. 137
§ 11. Zum Problem der Ontologie nach Kant ............................. 141
§ 12. Negative Dialektik und Ontologiekritik ............................ 146
A. Zur Theorie des ontologischen Bedürfnisses .................... 149
B. Sein, Existenz, Vermittlung ................................................ 155
C. Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle...................... 166
§ 13. Ontologiekritik, Antisystem, Materialismus ..................... 176
§ 14. Fazit ...................................................................................... 180
Viertes Kapitel: Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus... 181
§ 15. Negative Dialektik als Fehlkorrelationismus ..................... 185
§ 16. Objekt, Mimesis, Materie .................................................... 189
§ 17. Natur, Geschichte, Naturgeschichte................................... 195
§ 18. Selbstaufhebung des Materialismus?................................... 203
§ 19. Fazit ...................................................................................... 208
Schlussbetrachtung .................................................................................... 209
Literatur ..................................................................................................... 213
6
Materialismus ist nicht das Dogma,
als das seine gewitzigten Gegner ihn verklagen,
sondern Auflösung eines seinerseits als dogmatisch Durchschauten;
daher sein Recht in kritischer Philosophie.
Adorno, Negative Dialektik
Vorwort
Dieses Buch ist aus meiner Dissertation hervorgegangen, die ich 2017 in
der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigt habe.
9
Danksagung
Die oft formell wirkenden Zeilen einer Danksagung können keineswegs
ausdrücken, wie sehr eine jede wissenschaftliche Bemühung der materialen, theoretischen und im weitesten Sinne zwischenmenschlichen Unterstützung vieler Personen und Institutionen verpflichtet ist. Diese stellen
nicht nur ihre Möglichkeitsbedingung dar, sondern machen ihren eigentlichen Lebensnerv aus. Nicht selten sind solche Bemühungen das Ergebnis
eines langen Prozesses, der eine Lebensetappe eines – oder gar mehrerer –
Menschen zusammenfasst und abschließt. Das ist sicher der Fall der vorliegenden Untersuchung. Den Personen und Institutionen, die ich hier
erwähnen möchte, bin ich entsprechend dankbar: ihnen gehört diese Arbeit so wesentlich wie mir.
Besonders auf eine Person und eine Institution konzentriert sich jene
breite und vielschichtige Unterstützung, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre: Prof. Dr. Günter Zöller, der das Dissertationsprojekt
mit Enthusiasmus und Offenheit angenommen und die Arbeit mit einer
meisterhaften Ausgewogenheit von freizügiger Autonomieerteilung und
sorgfältiger Leitung an der Ludwig-Maximilians-Universität München
betreut hat; und die Stiftung Capes des Brasilianischen Bildungsministeriums, die im Rahmen einer Partnerschaft mit dem DAAD meinen Aufenthalt in Deutschland vier Jahre lang finanziell ermöglicht hat. Ihnen möchte
ich zu allererst herzlichst danken.
Noch im institutionellen Rahmen möchte ich die anderen Universitäten, an denen ich im Laufe meiner akademischen Laufbahn studiert habe,
und die in ihnen tätigen Professoren erwähnen, die für diese Arbeit auf
direkte oder indirekte Weise wesentlich gewesen sind. An der Universidade
Federal de Minas Gerais möchte ich mich besonders bei den Professorinnen
und Professoren Eduardo Soares Neves Silva, Rodrigo Duarte, Lívia
Guimarães, Virgínia Figueiredo und Ester Vaisman bedanken. Sowohl ihre
theoretischen Anregungen und Unterstützung als auch ihre menschliche
Präsenz sind in dieser Arbeit sicherlich noch spürbar. Aus der Universität
des Saarlandes, an der ich mein Bachelorstudium dank einer Partnerschaft
mit der UFMG abschließen durfte, möchte ich Herrn Prof. Dr. Niko
Strobach danken. Aus der Prager Karls-Universität, der Université
Toulouse Jean Jaurès und der Bergischen Universität Wuppertal, an denen
ich Studienaufenthalte im Rahmen des Masterprogramms Erasmus Mundus
Europhilosophie gemacht habe, möchte ich die Professorin und Professoren Hans Rainer Sepp, Anne Gléonec, Jean-Christophe Goddard, Arnaud
François, Tobias Klass und Laszlo Tengelyi (in memoriam) erwähnen.
Besonders Herrn Prof. Dr. Laszlo Tengelyi bin ich philosophisch wie
human tief verpflichtet. An der Ludwig-Maximilians-Universität München
möchte ich mich noch bei den Dozenten Dr. Alexander von Pechmann,
11
Elmar Koenen, Tomas Marttila und Thomas Wyrwich für ihre freundliche
Unterstützung bedanken.
Noch institutionell konnte ich von vier Forschungsgruppen zutiefst
profitieren, die in vieler Hinsicht als ein Laboratorium für meine philosophische Entwicklung fungieren. Es handelt sich um das Doktorandenkolloquium von Herrn Prof. Dr. Günter Zöller; das Forschungskolleg für
Kritische Theorie (unter der Leitung von den Professorinnen und Professoren Sven Kramer, Anne Eusterschulte, Hans-Ernst Schiller und Christoph
Türcke); das Kolloquium für Kritische Theorie des Herrn Prof. Dr. Eduardo Soares Neves Silva, und die Gruppe PET-Filosofia der UFMG. Deren
Teilnehmern und für die in ihnen stattgefundenen Diskussionen und Anregungen bin ich sehr dankbar.
Nicht zuletzt möchte ich den Personen, die meiner bisherigen Existenz in allen Hinsichten unentbehrlich sind, ein Zeichen von Dankbarkeit
und Hoffnung übermitteln. Meinen Eltern Maria Beatriz und Marcelo
Raul möchte ich diese Arbeit widmen. Meinen Geschwistern Bruna,
Rodrigo und Rogério fühle ich mich seit frühester Kindheit sehr nah.
Meine Großeltern Winie Bouman (in memoriam), Vicente de Paula Oliveira (in memoriam) und Luciola Moura waren und sind wichtiger für
mich, als ich es selber einschätzen kann. Meine Wahlfamilie, meine engen
Freunde, meine Partnerinnen und Partnern in allen Hinsichten, ohne die
ich mich selbst nicht vorstellen kann, will ich auch möglichst einzeln erwähnen: Ana Martins Marques, Flavio Loque, William Mattioli, João
Gabriel, Maíra Nassif, Celso Neto, Anna Luiza Coli, Gustavo Bracher,
Eduardo Lima, Luiz Philippe de Caux, Thiago Simim, Romero Freitas,
Solveig Betty Bostelmann, Philippe Dostert, Janne Moraes, André Brant,
Anastasia Kozyreva, Zaida Olvera, Nicolás Garrera, Oriane Petteni, Kristin
Gissberg, Francisco Prata Gaspar, Hugo Tiburtino, María Hotes, Plato Tse,
Marco Paes, Ferdinand Schmelzer, Gabriel Valladão, Bernardo Bianchi,
Elisabeth Prudant. – Obrigado.
12
Liste der verwendeten Abkürzungen
Werke Theodor W. Adornos
GS + Bandnummer → Adorno (1997). Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung von Gretel Adorno,
Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Suhrkamp.
OD → Adorno (2008). „Ontologie und Dialektik“, in: Nachgelassene
Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp.
PT → Adorno (1995). „Philosophische Terminologie: Zur Einleitung“, in:
Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp.
Werke anderer Autoren
KW + Bandnummer → Kant (1977). Werkausgabe in 12 Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Suhrkamp.
WW + Bandnummer → Hegel (1986). Werke in 20 Bänden. Suhrkamp.
MEW + Bandnummer → Marx/Engels (1970). Werke. Dietz Verlag Berlin.
ZfS + Bandnummer → Horkheimer (Hrg.) (1970). Zeitschrift für Sozialforschung. Fotomechanischer Nachdruck der Originalausgabe: Institut für Sozialforschung, Paris/New York 1932-1941. Mit einer Einleitung von Alfred Schmidt. DTV.
KrV → Kant (1998). Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und
zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann. Felix
Meiner.
AF → Meillassoux (2006). Après la finitude. Essai sur la nécessité de la
contingence. Préface d’Alain Badiou. Seuil.
13
Einleitung
Seitdem der Materialismus im Laufe der Neuzeit auf die Tagesordnung
gesetzt wurde, ist er am Horizont der Moderne geblieben. Zwar ist auch
er zweifellos jenem Rhythmus von Dauern und Vergessen gefolgt, durch
den Adorno die Dynamik geistesgeschichtlicher Gebilde zu fassen sucht1.
Doch kann man mit großer Sicherheit behaupten, dass die Fragen, die sich
um den modernen Materialismusbegriff drehen, sich fortwährend in der
geschichtlichen Aktualität erhalten haben. Von dem vorrevolutionären
Frankreich über die naturalistisch und naturwissenschaftlich stark angelegten Materialismus-Streite im 19. Jahrhundert bis hin zu der Kritischen
Theorie war in vielen geistigen Zusammenhängen der Materialismusbegriff zentral. Mag er zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit
der sogenannten sprachlichen Wende vergessen worden sein, scheint er
doch im letzten Jahrzehnt wiederum eine prononcierte Renaissance in der
kontinentaleuropäischen Philosophie zu erfahren.
Handelt es sich dabei stets um dasselbe Denkgebilde? Gewöhnlich
wird man in erster Linie zwischen einem vorrevolutionären und einem
nachrevolutionären Materialismus unterscheiden müssen – eine Unterscheidung, die nicht nur politisch, sondern auch philosophisch markiert
ist: denn zwischen beiden entsteht nämlich die Kritische Philosophie, die
den kategorialen Rahmen des gesamten westlichen Philosophierens und
mit ihm auch den des tradierten Materialismus strukturell transformiert.
Doch die Materialismen, die danach formuliert werden, stehen in keinem
eindeutigen, sondern oft in einem spannungsvollen Verhältnis zur Kritik.
Daher die Materialismus-Streite und die verschiedenen Spielarten von
Materialismus, die seitdem – und bis heute – aufeinanderfolgten. Der
Materialismus wird, so will ich im Laufe der Arbeit argumentieren, zu
einem Streitbegriff.
Die vorliegende Untersuchung spielt sich in dieser Spannung zwischen Materialismus und Kritik ab. Sie geht von der Hypothese aus, dass
diese Spannung sowohl für den Materialismusbegriff als auch für die Kritische Philosophie produktiv ist: während die Vernunftkritik den kategorialen Rahmen aller vorherigen Materialismen dezidiert in Frage stellt und
sie so zu ihrer eigenen kritischen Umformulierung treibt, versuchen die
darauffolgenden Materialismen die Grenzen des Transzendentalismus und
des Idealismus kritisch zu prüfen, von innen her auszudehnen und tendenziell zu durchbrechen. Aus dieser Problemkonstellation kann man
dann vom Problemcharakter eines kritischen Materialismus sprechen, der
für beide Fronten nachkantischen Philosophierens von Relevanz sein
kann.
1
GS6, S. 71
15
Diese Spannung lässt sich nun mit großer Deutlichkeit anhand der
Negativen Dialektik Adornos – als „Organon Kritischer Theorie überhaupt“ 2 – nachvollziehen, die deshalb der vorliegenden Arbeit als philosophischer Ausgang dient. Ausgang bedeutet hier grundsätzlich zweierlei:
zunächst wird sie als Anlass zur Analyse jener Spannung genommen, die
sie zwar aufgrund des von ihr bearbeiteten kategorialen Rahmens exemplarisch erbt und zur Sprache bringt, die sie aber eben deshalb zugleich
transzendiert. Darüber hinaus ist die negative Dialektik auch der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchung, sofern die Begründung ihres eigenen Materialismuskonzepts von der Bewältigung dieser Spannung wesentlich abhängt und deshalb gewissermaßen noch offen steht. So stimmen die
Kommentatoren wesentlich darin überein, dass sich Adorno mit der Frage
nach dem (kritischen) Materialismus im Laufe seiner ganzen intellektuellen Entwicklung auseinandersetzt und in seinem späten Meisterwerk Negative Dialektik die definitive Fassung seines eigenen Materialismus formuliert, die durchaus zentral für die Deutung seines ganzen Werkes ist.
„Der Materialismus“, schreibt Alfred Schmidt, „ist ein Aspekt seines
Denkens, freilich ein solcher, ohne dessen Verständnis alle anderen Aspekte nicht wirklich begriffen werden“3. Doch welche genaue Beschaffenheit sein Materialismus endlich erhält, wie er jene Spannung konkret zu
bewältigen sucht und wie er innerhalb der Denktradition des philosophischen Materialismus einzuordnen ist – diese dürften hingegen noch als
offene, kaum richtig aufgeworfene Fragen in der Literatur gelten. Ein
Indiz dafür ist wohl die Tatsache, dass eine monographische Studie über
diesen zentralen Aspekt seines Denkens, mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod, noch nicht vorliegt4. Indem sie sich dem negativ-dialektischen
Materialismus widmet, will sich die vorliegende Arbeit folglich auch mit
den Bedingungen und Bewältigungsmöglichkeiten jener Spannung auseinandersetzen, die den kategorialen Rahmen negativer Dialektik gleichzeitig
ausmacht und transzendiert.
2
3
4
16
Schnädelbach (1983), S. 81. Der Ausdruck „negative Dialektik“ bezieht sich dementsprechend sowohl auf den Titel des Hauptwerkes Adornos als auch auf das
Konzept eines Denkmodelles. Im Folgenden wird der Ausdruck nur dann kursiv
geschrieben, wenn das Buch gemeint wird.
Schmidt (2002), S. 89
Der wohl wichtigste Text über Adornos Materialismus wurde von seinem ehemaligen Schüler und Historiker des Materialismus Alfred Schmidt (1983) verfasst. Es
handelt sich dabei leider nur um einen zwanzigseitigen Aufsatz, der in der Frankfurter Adorno-Konferenz 1983, vorgetragen wurde. Darüber hinaus haben sich
meistens die Autoren, die sich mit dem „jungen Adorno“ beschäftigt haben (BuckMorss 1979, Pettazzi 1983) auch der Frage nach dem Materialismus gründlicher
zugewendet, niemals aber monographisch, und niemals in ihrer definitiven Gestalt
im Werk Negative Dialektik.
Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel befasse ich mich mit der Frage nach der Relevanz und Aktualität des Materialismus im Horizont zeitgenössischen Philosophierens. Zu diesem Zweck
versuche ich mit H. Schnädelbach und anderen Interpreten die Ursprünge
aktuellen Philosophierens in der sogenannten „idealistischen Identitätskrise der Philosophie“ zu lokalisieren, in derer Rahmen sich das Problem
des kritischen Materialismus konsequent stellt und auf die sich die Idee
einer Kritischen Theorie und folglich auch einer negativen Dialektik geistesgeschichtlich zurückführen lassen. Abgezielt wird naturgemäß nicht
darauf, eine erschöpfende Betrachtung der Philosophie der Gegenwart aus
dem Standpunkt der Krise des Idealismus durchzuführen, sondern lediglich geistige Tendenzen des nachidealistischen Zeitalters anhand dieses
einen Grundereignisses zu diagnostizieren. Um auf der Aktualität der
Fragestellungen zu bestehen, die infolge der idealistischen Identitätskrise
der Philosophie aufgeworfen und in den materialistischen Denkmodellen
verkörpert werden, rekurriere ich auch auf Denkbewegungen, die in der
Gegenwart allmählich Fuß fassen und Einfluss gewinnen. So möchte das
Kapitel das Problem des kritischen Materialismus und die Idee einer negativen Dialektik unter Bedingungen aktuellen Philosophierens zusammenführen.
Im zweiten Kapitel wende ich mich dann dem eigentlichen kategorialen Rahmen der negativen Dialektik zu. Sofern sie wie alle Kritische Theorie den Anspruch darauf erhebt, aus der kritischen Reflexion des vom
Idealismus besonders Hegelscher Prägung bereitgestellten Instrumentariums die Wendung zum kritischen Materialismus zu leisten, biete ich eine
überblickende Rekonstruktion dieses Instrumentariums anhand der Identitätsproblematik an. Sie ist das Hauptmittel, durch das die negative Dialektik sowohl das philosophische Erbe der Philosophie der Neuzeit denkt
als auch seine identitätskritische Grundoperation – den Vorrang des Objekts – vollzieht. Einzig aus dieser Grundoperation soll ihrem Anspruch
nach ein gesamtes kritisch-materialistisches Denkmodell extrahiert werden können, das aus der idealistischen Subjektphilosophie erwächst und es
zugleich immanent kritisiert.
Das dritte Kapitel buchstabiert dieses kritisch-materialistische
Denkmodell aus, so wie es die negative Dialektik konzipiert. Es ergibt
sich aus einer immanenten Kritik an den philosophischen Denkbewegungen, die die Krise des Idealismus ebenso diagnostizieren und von ihr ausgehen, die aber einen reontologisierenden Denkweg einschlagen und die
Philosophie der Gegenwart so zu orientieren beanspruchen. Die Gegenüberstellung zwischen Ontologie und Dialektik ist dementsprechend im
Begriff negativer Dialektik selbst enthalten. Erst aus dieser grundlegenden
Ontologiekritik installiert sich die Denkfigur des Antisystems, das der
Form nach mit dem kritischen Materialismus gleichzusetzen ist.
17
Ausgehend von dem Ergebnis dieser drei Kapitel versuche ich im
vierten die Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus zur Sprache
zu bringen. Sie werden größtenteils aus den internen Spannungen abgeleitet,
die die negative Dialektik aufgrund ihres eigenen kategorialen Rahmens
erbt und anzubequemen sucht. Intendiert wird auch hier die Durchführung
eines immanenten Verfahrens, das die negative Dialektik von innen heraus
hinterfragt. Aus diesen Grenzen kann man sowohl das Problem des kritischen Materialismus als auch die Weiterentwicklung Kritischer Theorie
unter neuem Licht betrachten.
18
Erstes Kapitel:
Das Materialismusproblem
im Horizont der zeitgenössischen Philosophie
In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, die Begriffe des Materialismus und der negativen Dialektik vorzustellen und zusammenzuführen. Dadurch soll die These plausibel gemacht werden, dass sich beide
Begriffe anhand der idealistischen Identitätskrise der (deutschen) Philosophie explizieren lassen (§ 1). Diese Krise hat sowohl eine prononcierte
Wiedergeburt von Materialismen verschiedener Prägung als auch die Entstehung der Denktradition kritischer Gesellschaftstheorie veranlasst,
deren Erbschaft die negative Dialektik beansprucht. Sie führt immanent
sowohl zum Vorbegriff des Materialismus als auch zu dem einer negativen
Dialektik. Bei dem Vorbegriff des Materialismus wird die allgemeine Begriffsbestimmung sowohl historisch als auch anhand systematischer Tendenzen vorgenommen (§ 2). In den Begriff negativer Dialektik wiederum
wird sowohl anhand seines philosophiehistorischen Selbstverständnisses
im Zusammenhang der frühen kritischen Theorie (§ 3 A) als auch mit
Blick auf deren spätere Rezeptionsgeschichte bis heute eingeführt (§ 3 B).
Zuletzt wird die Problematik des Materialismus im Rahmen aktueller
Denkmodelle erwogen, um den Horizont der Betrachtung zu erweitern
(§ 4). Insgesamt erhebt das Kapitel den allgemeinen Anspruc, konsistent
von einem Materialismusproblem konsistent zu sprechen, von dem ausgehend sich die Philosophie der Gegenwart deuten lässt, zu der wiederum
das Denkmodell einer negativen Dialektik gehört.
21
§ 1. Die idealistische Identitätskrise
der (deutschen) Philosophie – gestern und heute
In welchem philosophischen Zeitalter leben wir? Wie ist eine Denkweise
zu konzipieren, die sich auf der Höhe der Zeit befindet? So relevant diese
Fragen als praktischer und theoretischer Orientierungsmaßstab sein mögen, so sehr scheinen sie sich wie alle Fragen nach der unmittelbaren Gegenwart einer Beantwortung zu entziehen. Immerhin fehlt es an der zeitlichen Distanzierung, die aber eine unumgängliche Voraussetzung jeglicher Bestimmung der Jetztzeit sein dürfte. In diesem Sinne impliziert die
Beantwortung dieser Frage wohl das Erfordernis, über den eigenen Schatten zu springen und so das geschichtlich Unabgeschlossene unter geschichtlichem Standpunkt zu untersuchen. Umstritten ist auch die Unterstellung, die damit gegeben ist, dass das Wort „wir“ ein einziges geschichtliches Subjekt bezeichnet und ein philosophisches Zeitalter als einheitlich
angesehen wird. Vielmehr scheint plausibel, dass sowohl das historische
Subjekt als auch das Zeitalter von der jeweiligen Position des Betrachters
abhängen, die ihrerseits historische Tendenzen und Denktraditionen unterschiedlich und diffus in sich birgt. Aus diesem Grunde dürfte es angemessener sein, von „Tendenzen“ oder „Motiven“ 5 unseres Zeitalters im
Allgemeinen zu sprechen. Denn „Tendenzen“ und „Motive“ sind an sich
noch relativ offen und tragen der jeweiligen Subjektpositionierung Rechnung, zugleich sind sie aber möglichst bestimmt und zusammengenommen ausschlaggebend, wenn es darum geht, zumindest eine Richtung zu
weisen, in der sich die Jetztzeit mit besseren Aussichten begreifen lässt.
Zieht man die deutsche Philosophie in Betracht – die Philosophie, die
in deutscher Sprache betrieben wird –, dann wird diese Aufgabe etwas
erleichtert. Denn im deutschsprachigen Raum lässt sich ein epochemachendes Ereignis identifizieren, das für die Bestimmung des von ihm eröffneten Zeitalters unentbehrlich ist. Es bildet in diesem Sinne eine zentrale Tendenz, die starke und anhaltende Wirkung hat. Gemeint ist die
Krise des Idealismus. „Daß der ‚Zusammenbruch des Idealismus‘ die Philosophie in eine tiefe Identitätskrise gestürzt hat“, schreibt Herbert
Schnädelbach, „die bis heute andauert, mag man daran erkennen, daß
‚Wozu noch Philosophie?‘ seitdem zum Dauerthema philosophischer
Antrittsvorlesungen wurde“ 6 . So vieldeutig und vielschichtig aber der
Idealismus sein kann, so unterschiedlich haben sich auch das Bewusstsein
und das eigene Konzept von dessen Krise und den jeweiligen Bewältigungsmöglichkeiten ausgedrückt. Mehr als bloß eine philosophische
Schule oder Denkbewegung, hat der Idealismus in Deutschland tiefe au5
6
Vgl. Habermas (1992), S. 14ff.
Schnädelbach (1983), S. 17.
23
ßerphilosophische Dimensionen, die sich über das politische, institutionelle und nationale Leben des Landes erstrecken, sodass sein Zusammenbruch ganze Bereiche der Gesellschaft betrifft. Sein Niedergang lässt sich
trotzdem recht eindeutig lokalisieren: Die Krise des Idealismus folgte in
Deutschland quasi unmittelbar der französischen Julirevolution, die in
etwa mit dem Tod des zum Staatsphilosophen erhobenen Hegel zusammenfiel: „Will man einen bestimmten Zeitpunkt angeben, der sich als das
Ende der idealistischen Periode in Deutschland bezeichnen läßt, so bietet
sich kein so entscheidendes Ereignis dar, als die französische Julirevolution des Jahres 1830“7. Auch wenn die Krise des Idealismus nun vor allem
im deutschsprachigen Raum auf drastische Weise zu spüren war (und ist),
bleibt sie ein prägendes Phänomen für das gesamte westliche Philosophieren. Der Einfluss des Idealismus auf andere Kulturräume und auf das
westliche Denken im Allgemeinen lässt sich vorläufig an der philosophischen und geistigen Anerkennung messen, die dem Deutschen Idealismus
entgegengebracht wird.
In einem engeren philosophischen Sinne entspricht die Krise des Idealismus der gründlichen Infragestellung bzw. dem unwiderruflichen Verfall seiner philosophischen Kernthesen, die im Geiste der Philosophie
Hegels folgendermaßen zusammengefasst werden könnten: „(1) die Einheit von Sein und Denken im Absoluten, (2) die Einheit des Wahren,
Guten und Schönen im Absoluten und (3) die Wissenschaft vom Absoluten als das philosophische System“8. Vor allem aber seine Grundthese, der
zufolge Sein und Denken – wie auch immer vermittelt – sich letztlich als
identisch erweisen, ist durchaus zentral für die westliche Philosophie
gewesen. Weit mehr als die spekulative Grundthese einer isolierten Denktradition begleitet sie wohl die ganze Geschichte des westlichen Denkens;
trotz immer neu formulierter Kritizismen, Irrationalismen und Skeptizismen ist sie seit dem das westliche Denken mitstiftenden Eleatismus als
eine der wesentlichen Voraussetzungen des eigentlichen Philosophierens
grundsätzlich erhalten geblieben, die der Idealismus erbt und am konsequentesten zu vertreten beansprucht. Diese Kernthese besagt nichts anderes als die Koinzidenz von Sein und Denken (modern gesprochen: von
Subjekt und Objekt), die für die überlieferte Idee von Erkenntnis überhaupt unhintergehbar ist. „Die Aufgabe der Philosophie bestimmt sich
dahin“, schreibt Hegel, „die Einheit des Denkens und Seins, welche ihre
Grundidee ist, selbst zum Gegenstande zu machen und sie zu begreifen“9.
Ist, mit anderen Worten, eine wie auch immer zu konzipierende Einheit
der Kategorien des Denkens und jener des Seins nicht zu erreichen oder
gar vorauszusetzen, dann ist die traditionelle Idee von Erkenntnis selbst
7
8
9
24
Lange (1974), S. 520.
Schnädelbach (1983), S. 18.
WW20, S. 314.
widersinnig und mit ihr wohl der sie verkörpernde emphatische Begriff
von Philosophie hinfällig. Damit zusammenhängend konnte Hegel sogar
behaupten, alle konsistente Philosophie sei Idealismus, drastischer noch:
außer Kant, Fichte und Schelling seien „keine Philosophien“10. In diesem
Sinne kann man mit Habermas den Deutschen Idealismus als Endpunkt
der Denktradition der westlichen Metaphysik ansehen, die sich unter
anderem an dieser zentralen Grundthese abgearbeitet hat: „Unter Vernachlässigung von der aristotelischen Linie nenne ich in grober Vereinfachung ‚metaphysisch‘ das auf Plato zurückgehende Denken eines philosophischen Idealismus, der über Plotin und den Neuplatonismus, Augustin
und Thomas, den Cusaner und Pico de Mirandola, Descartes, Spinoza,
Leibniz bis zu Kant, Fichte, Schelling und Hegel reicht“11. Auch deshalb
kann man behaupten, mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden „Krise des
Idealismus“ trete zugleich eine Krise des westlichen Denkens oder gar der
eigentlichen Idee von Philosophie überhaupt zutage, wie sie im Westen
stets betrieben wurde.
Neben Hegel waren Fichte und Schelling bekanntlich die prononciertesten Repräsentanten der idealistischen Denkbewegung in Deutschland.
Die Stellung Kants im Rahmen der Krise des Idealismus ist hingegen ambivalent. Zum einen steht er ohne alle Frage sowohl historisch als auch
sachlich am Beginn jener philosophischen Denktradition, die in den absoluten Idealismus mündete und dann in Krise geraten ist. Wie im zweiten
Kapitel noch ausführlich zu behandeln sein wird, haben die nachkantischen Idealisten die unmittelbare Erbschaft der kantischen Philosophie
beanspruchen können und ihre eigenen Philosophien nicht selten als konsistenten, zu Ende gedachten Kantianismus begriffen, auch wenn Kant
selbst keine schlechthin idealistische Position vertritt. Zum anderen aber
entwickelt die kantische Philosophie zugleich ein Ensemble an kritischen
Ressourcen, das die Kritik an genau jener Denktradition ermöglichte und
deshalb als Mittel gegen die Krise des Idealismus interpretiert wurde.
Diese Ambivalenz Kants in der Denktradition des Idealismus ist für ihr
Nachgeschichte durchaus zentral; sie ist Zeugnis einer sachlichen Ambivalenz im Wesen des Idealismus selbst, die in Bezug auf den aus der Idealismuskrise resultierenden kritischen Materialismusbegriff im Weiteren
expliziert wird.
Um die Gründe nun, welche die idealistische Identitätskrise der Philosophie im 19. Jahrhundert ausgelöst haben, kann man sich streiten.
Handelte es sich bloß um eine innertheoretische Erschöpfung eines bestimmten kategorialen Rahmens, der sich zu lange erhalten hatte und nun
aufgrund stetiger Kritik ersetzt werden musste? Drückt der Verfall dieser
kardinalen Grundthesen westlichen Philosophierens nicht vielmehr kul10
11
WW20, S. 387.
Habermas (1992), S. 36, meine Hervorhebungen.
25
turgeschichtliche und gesellschaftliche Umwälzungen wie bürgerliche
Revolutionen oder kriegerische Erfahrungen aus, die sich vom späten
18. Jahrhundert an über das ganze 19. Jahrhundert erstreckten? Wird der
angeblich ideologische, das Bestehende legitimierende Charakter des Idealismus mit der Junirevolution endlich durchschaut? Diese Erklärungsgründe könnten alle als brauchbare Hypothesen fungieren. Doch abgesehen von ihren möglichen Ursachen bleibt die Tatsache unberührt, dass mit
dem Zusammenbruch des Idealismus eine tiefe philosophische Krise empfunden wurde, die eine neue, wohl bis heute andauernde Epoche des Denkens eröffnete. Mit ihr trat nicht bloß eine erneute Behandlung der philosophischen Kardinalthemen in veränderter Weise auf den Plan, sogar die
Frage nach der eigentlichen Existenzberechtigung von Philosophie überhaupt dominierte die wichtigsten Versuche, das Philosophieren unter
nachidealistischen Bedingungen weiter zu betreiben und zu legitimieren.
Auf jenen kategorialen Rahmen, den der Idealismus am klarsten zur Sprache gebracht hatte, konnte dabei nicht mehr – zumindest nicht ohne
gründliche Modifikationen – zurückgegriffen werden.
So ist die Krise des Idealismus zumindest seit dem Ende des
19. Jahrhunderts auch historiographisch reichlich dokumentiert worden.
Friedrich Engels beispielsweise hat 1886 ein kleines, doch einflussreiches
Buch namens Ludwig Feuerbach und der Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie veröffentlicht, in dem er den anthropologischen Materialismus Feuerbachs bereits als Überwindung des klassischen Idealismus
deutet. Seitdem hat sich die wohl bis heute herrschende Auffassung allmählich konsolidiert, der zufolge die maßgeblichen Reaktionen auf die
Krise des Idealismus im deutschsprachigen Raum grundsätzlich außerhalb
des universitären Bereichs stattgefunden haben12. Repräsentanten dieser
außeruniversitären Tendenzen wie Feuerbach, Marx und Nietzsche haben
eine große, geradezu epochale Rolle gespielt, die sie zu Klassikern des
modernen Denkens überhaupt gemacht hat. Trotz der wohl unübertrefflichen philosophiehistorischen Relevanz des außeruniversitären deutschsprachigen Philosophierens im 19. Jahrhundert ist diese Auffassung aber
auch progressiv verfeinert worden. So versuchen andere Autoren wie etwa
Köhnke und Schnädelbach, stets mit einer reichhaltigen institutionellen
und gesellschaftlichen Kontextualisierung, die inneruniversitären Reaktionen auf die Krise des Idealismus zu rekonstruieren, die vorwiegend von
der philosophischen Bewegung des Neukantianismus bestimmt wurden13.
Damit zusammenhängend erfuhr die europäische Universität große institutionelle Umwälzungen, die nicht zuletzt in die Entstehung autonomer
natur-, staats- und geisteswissenschaftlicher Fakultäten aus den früher
einheitlichen Philosophischen Fakultäten mündeten und so die Zersplitte12
13
26
Vgl. dazu paradigmatisch Löwith (1995).
Vgl. diesbezüglich Köhnke (1986) und Schnädelbach (1983).
rung der einheitlich-systematisch geordneten Wissenskonzeption ausdrückten. Heute verfügen wir über ein ausreichend solides historiographisches Fundament, um behaupten zu können, dass die Krise des Idealismus
sowohl an der Universität als auch bei den außeruniversitären Denkern
und Autoren starken Widerhall fand und so das Gesicht des Jahrhunderts
mitgeformt hat.14
In Zusammenhang mit der tief empfundenen Erschöpfung des kategorialen Rahmens des Idealismus prägte dessen Krise auch die Dimension
eines theoretischen Desiderats. Denn mit dem philosophischen Instrumentarium des Idealismus waren stets Polemiken verbunden, die ihn als
konsistenten theoretischen Diskurs zu diskreditieren suchten. Es handelt
sich paradigmatisch um die bekannten Polemiken gegen die sogenannte
idealistische „Spekulation“ – Spekulation jedoch nicht im technischen
Sinne einer umfassenden Identität von Subjekt und Objekt, die ja Grundlage des absoluten Idealismus ist, sondern vielmehr im Sinne eines bloßen
theoretischen Unsinnes. Diesen Polemiken zufolge stellt der Diskurs des
Idealismus eine Art theoretischen Geschwätzes dar, weil er zugunsten des
Geschlossenheits- und Totalitätsanspruchs des Systems entweder vollends
gegenstandslos und phantasierend geprägt ist oder zumindest jeglichem
materialen Gehalt grundsätzlich distanziert gegenübersteht. Heinrich
Heine hat diesen polemischen Einwand im Buch der Lieder in den Rang
einer poetischen Ironie erhoben:
„Zu fragmentarisch ist Welt und Leben!
Ich will mich zum deutschen Professor begeben.
Der weiß das Leben zusammenzusetzen
Und er macht ein verständlich System daraus.
Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen
Stopft er die Lücken des Weltenbaus“.15
In diesem Sinne begleitet den Idealismus – besonders jenen Hegel’scher
Prägung – ein Ensemble von Anekdoten, die auf seine angebliche Distanzierung vom Praktischen, Prosaischen, Lebendigen und gar Realen hinweisen. So entsteht das philosophische Bedürfnis, diese als minderwertig
aufgefasste „Spekulation“ derart zu überwinden, dass das Philosophieren
– abhängig von der jeweiligen Blickrichtung – endlich eine ausreichende
Nähe zum Naturwissenschaftlichen, zum erkenntnismäßig Verifizierbaren,
zum Leben, zum Konkreten, zum Materialen oder zur Existenz gewinnt.
Wie jede Krisensituation hat sich die Krise des Idealismus so zwar als eine
zutiefst schmerzvolle Erfahrung erwiesen, die aber zugleich die euphorische Möglichkeit einer Wiedergeburt mit sich brachte. „Überwindung des
14
15
Lange (1974), S. 512.
Heine (1972), S. 133–134.
27
Idealismus“ wurde so zum philosophischen Desiderat. Die von Edmund
Husserl geprägte Formel „Zu den Sachen selbst!“ resümiert in vielerlei
Hinsicht dieses philosophische Streben, das das nachhegelsche Zeitalter
so tief prägt.
Die Erschöpfung eines über lange Zeit tradierten kategorialen Rahmens, der die Philosophiegeschichte mittelbar oder unmittelbar stets
begleitet hat und auf dessen Höhepunkt der Idealismus steht; der daraus
resultierende Selbstverständlichkeitsverlust und die institutionelle Umordnung der eigentlichen Idee des Wissens, die mit diesem kategorialen
Rahmen zusammenhängt; das sich stets affirmierende Desiderat einer
Neubegründung der Philosophie, des Denkens, der Menschheit selbst, die
sich der akuten Krisensituation verdankt, aber eben auch aus ihr herausführen könnte – das sind zusammenfassend die geistesgeschichtlichen
„Tendenzen“ und „Motive“, die sich unter den Oberbegriff „idealistische
Identitätskrise der Philosophie“ bringen lassen und aus denen sich – von
einem deutschen Standpunkt aus – der Ursprung des gegenwärtigen Zeitalters begreifen lässt. Die Doppelbewegung einer Ablehnung des idealistischen Instrumentariums einerseits und einer Wendung zum „Konkreten“ andererseits, die die Entwicklung neuer Denkweisen verlangt, bestimmt sie alle. Das jeweilige Verständnis dessen aber, was hier „das Konkrete“ heißen möge, war alles andere als homogen: Dies ist wohl selbst ein
Symptom der Krise. Tendenziell einheitlich war die Ablehnung des „Idealismus“ – nicht aber das, was daraus entstehen sollte. Das erklärt wohl die
Vielheit der konkurrierenden Denkschulen, die seit Mitte des
19. Jahrhunderts paradigmatisch im deutschsprachigen Raum entstehen:
Neukantianismus, Lebensphilosophie, Historismus, Existenzialismus,
Unbewusstheitsphilosophien, Phänomenologie, Kritische Gesellschaftstheorie, um nur die prominentesten – und heute noch relevanten – zu
nennen. Auch wenn sie alle auf ihre je eigene Art und Weise die Grundthesen des Idealismus abzulehnen meinen und in diesem Sinne eine ursprüngliche Verwandtschaft gemein haben, ist das Verständnis davon, wie
sich eine nachidealistische Denkweise zu gestalten hat, ganz unterschiedlich.
Ein alter Begriff jedoch, der bereits im 18. Jahrhundert wieder auftaucht, im Laufe des 19. Jahrhunderts dann aber zu einem geflügelten
Wort wird und als solches viele verschiedene Denkmodelle diffus vereint,
ist der Begriff des Materialismus. Dabei drückt er bereits etymologisch
deutlich eine Gegensätzlichkeit zum Idealismus aus, auf deren Grundlage
die nachidealistischen Denkmodelle seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihr
eigenes Selbstverständnis ausgebildet haben – eine Gegensätzlichkeit übrigens, die die materialistischen Autoren derart zuspitzen, dass sie oftmals
zur grundlegenden philosophischen Gegensätzlichkeit überhaupt erklärt
wird. So ist für viele Autoren unterschiedlicher Provenienz der Materia-
28
lismus der Inbegriff einer sich auf der Höhe der Zeit befindlichen Denkweise und scheint so intuitiv eine Richtung zu eröffnen, in der sich die
Krise des Idealismus produktiv bewältigen ließe. Doch wohl infolge seiner
eigenen Geschichte und der rasch erlangten Zentralität in vielen intellektuellen Debatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts haften dem Materialismusbegriff erhebliche Unklarheiten, gar Widersprüchlichkeiten an. In der
Tat haben wenige Begriffe im Laufe der Geistesgeschichte ein solch breites, wenngleich oft inkonsistentes Bedeutungsspektrum erhalten. Denn
unter „Materialismus“ werden beispielsweise sowohl ökonomische Weltanschauungen als auch moralische Neigungen, sowohl metaphysische, gar
dogmatische Standpunkte als auch naturwissenschaftliche bzw. streng
antimetaphysische und gar antiphilosophische Denkmuster, mit einem
Wort: oft Grundverschiedenes verstanden. „Der Materialismus gewährt
vielleicht mehr als alle die Begriffe, die wir bisher behandelt haben, höchst
Ungleichartigem Raum, so daß man es noch schwerer hat, auf seinen
wirklichen Kern zu stoßen“16. Richtiger müsste es heißen, dass „Materialismus“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts und wohl bis heute ein Streitbegriff ist, der die Hauptrolle in verschiedenen Ausprägungen eines Materialismusstreits spielt17. Es handelt sich seitdem, so könnte man formulieren,
um einen grundsätzlich offenen Begriff, der wesentliche Unterschiede
gegenüber den älteren Materialismen aufweist und zulässt. So sind manche Probleme des alten und neuzeitlichen Materialismus nicht mehr relevant; andere jedoch stehen infolge des neuen politischen und philosophischen Zusammenhanges prominent zur Debatte; vor allem „der klassenpolitische Stellenwert materialistischer Fragestellungen und Thesen“ hat
sich stark gewandelt, wie Alfred Schmidt schreibt18.
Bei diesen Auseinandersetzungen und neuen Problematiken spielt
vor allem die Frage eine wichtige Rolle, wie der Materialismus, ein grundsätzlich voridealistisches Denkgebilde, neu zu formulieren sei, wenn zumindest der nicht zu übersehende erkenntniskritische Beitrag des Idealismus auch in einem nachidealistischen Zeitalter gerettet werden soll. Denn
zum Wesen des Idealismus gehört eine erkenntnistheoretische Operation,
die in der Miteinbeziehung des Subjekts in den Erkenntnisprozess besteht
und deshalb allen Materialismus auszuschließen scheint. Klar ist den nachidealistischen Autoren zumindest, dass das idealistische Erdbeben in
Deutschland so tief greifende Folgen mit sich gebracht hat, dass es nicht
möglich ist, ein voridealistisches Reflexionsniveau unkritisch wiederherzustellen; unter kritischem Standpunkt hat der Idealismus dementspre16
17
18
PT, S. 169.
Vgl. zum Materialismusstreit des 19. Jahrhunderts Bayertz et al. (2012); Beiser
(2014); Gjesdal (2015). Zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen vgl. unten
§ 4.
Lange (1974), S. XI.
29
chend große Verdienste und ist allem vorkritischen Philosophieren wesentlich überlegen. So gehört zum Materialismusstreit seit Mitte des
19. Jahrhunderts vorwiegend die Auseinandersetzung um die kritische
Kompatibilität des Materialismus, ohne dass dabei aber seine nunmehr
hochgelobte Substanz verloren geht. Mit besonderer Emphase hat die
nach dem Tode Hegels entstehende kritische Gesellschaftstheorie diese
Frage untersucht. Im nächsten Abschnitt wird im Ausgang der möglichen
Differenz zwischen einem klassischen und einem kritischen Materialismusbegriff eine ausführliche Begriffsbestimmung des Materialismus vorgenommen.
Leben wir noch heute unter dem Einfluss der Krise des Idealismus? Zum
einen scheint sie ohne alle Frage uns auch heute noch zu betreffen, insofern die aus ihr entstandenen Denkbewegungen das Gesicht der zweiten
Hälfte des 19. und des ganzen 20. Jahrhunderts tief und kontinuierlich
geprägt haben. Aufgrund ihrer ursprünglichen anti-idealistischen Tendenz
blieb das nachidealistische Zeitalter, wie Badiou schreibt, ein antimetaphysisches und auch antiphilosophisches Zeitalter, in dem die philosophischen Kardinalfragen so zergliedert wurden, dass ihr philosophischer
Gehalt verschwand19. Wenn wir aber noch heute von ihrem kategorialen
Rahmen ausgehen, messen wir ihnen weiterhin Relevanz und folglich auch
der Krise des Idealismus Aktualität zu. Zum anderen scheinen die letzten
Jahrzehnten auf eine Wiederbelebung streng philosophischer und gar
metaphysischer Denkweisen hinzuweisen, die freilich keine bloße Wiederholung der voridealistischen darstellen. „Auch die Situation des gegenwärtigen Philosophierens ist unübersichtlich geworden“, schreibt
Habermas. „Ich meine nicht den Streit der philosophischen Schulen; der
war immer schon das Medium, durch das sich das Philosophieren fortbewegt hat. Ich meine den Streit um eine Prämisse, auf die sich nach Hegel
zunächst alle Parteien gestützt hatten. Unklar geworden ist heute die
Stellung zur Metaphysik“ 20 . Wird überhaupt eine Wiederbelebung der
Metaphysik in Gestalt von spekulativen Philosophien möglich, so muss
sie sich heute den ganzen metaphysik- und idealismuskritischen Denkmodellen gewachsen zeigen, die aus der Krise des Idealismus entstanden
sind und die gemeinsam verschiedene Spielarten modernen Philosophierens darstellen.
Der Materialismus bleibt in beiden Fällen relevant. Er hat den gewichtigen Vorzug, dass er aufgrund seiner immanenten Vieldeutigkeit in
beiden Situationen als zeitgenössisch gelten kann. Als offener Streitbegriff deutet er einerseits seit Mitte des 19. Jahrhundert auf den Inbegriff
der Kritik hin, die die verschiedenen nachidealistischen Denkmodelle
19
20
30
Badiou (2007), S. 98ff.
Habermas (1992), S. 35.
zusammenfassen. Andererseits kann er aber auch für neu-metaphysische
Denkweisen attraktiv sein, solange er auf seine Art und Weise die Position
der emphatischen Idee des Wissens (und der Philosophie) vertritt, der
zufolge das Wirkliche erkennbar ist, wie es ist.
31
§ 2. Vorbegriff und Problem des Materialismus
Als unser zentraler Forschungsgegenstand kann der Materialismusbegriff
nichts anderes als einen philosophischen Problemtitel angesehen werden.
Auf die immanente, oft inkonsistent wirkende Vielschichtigkeit seiner
Bedeutung wurde bereits hingewiesen; betrachtet man dieses komplexe
Bedeutungsspektrum, stellt sich die Frage, ob der Begriff überhaupt einen
einheitlichen Bedeutungskern besitzt oder ob er nicht eher lediglich innerhalb einer nicht problemlosen Denkkonstellation zu thematisieren
wäre, die seine verschiedenartigen Bedeutungsebenen – wohl nicht reibungslos – integrieren könnte. Aus diesem Grund wird im Folgenden eine
problematisierende Begriffsbestimmung des Materialismus vorgeschlagen,
die eine derartige Denkkonstellation näherungsweise umreißt. Sie geht
von einer systematischen Differenzierung zwischen einem klassischen und
einem kritischen Materialismus aus – eine Differenzierung, die mit der
Krise des Idealismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar thematisch
wird, die aber dem Materialismusbegriff sachlich innewohnt. So unternimmt diese etwas typologische Begriffsbestimmung gleichzeitig den
Versuch, den Bedeutungskern des Materialismus trotz aller historischen
Verschiedenheit zu verfolgen. Die Hauptsache dieser Darstellung bleibt
allerdings die Beibehaltung des Problemcharakters des Materialismus, dem
auch die negative Dialektik eine Antwort zu geben sucht.
Das Wort Materialist stammt höchstwahrscheinlich aus dem Mittelfranzösischen im 16. Jahrhundert und gehört zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich in die alltäglichen Zusammenhänge des Handels. In Frankreich
des 16. Jahrhunderts heißt matérialiste so viel wie „Spezerei- und Gewürzhändler, Kolonialwarenhändler“21; hier dürfte das Wort wohl moralisch neutral gebraucht worden sein. Vom Französischen abgeleitet wird es
auch bereits im 16. Jahrhundert mit derselben Bedeutung im englischund deutschsprachigen Raum eingebürgert. Diese Bedeutung begleitet die
Verwendungsweisen des Wortes wohl bis zum 19. Jahrhundert, auch
wenn andere, jetzt moralisch aufgeladene Bedeutungen wie etwa „auf
Lebensgenuß bedachte“ oder „auf materielle Werte (unter Verzicht auf
ethische Ideale) orientierte Person“ hinzukommen22.
21
22
32
In der ersten Ausgabe des Dictionaire de l’Académie Française von 1694 taucht das
Wort noch nicht auf; erst in der vierten Ausgabe von 1762 heißt es – bereits philosophisch – unter dem Eintrag matérialiste: „Celui ou celle qui n’admet que la matière“. Die oben genannte alltägliche Verwendung des Wortes im Frankreich des
16. Jahrhunderts liefert etymologisch Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (online unter https://www.dwds.de).
Eintrag „Materialist“ in: Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (online unter https://www.dwds.de).
Im gelehrten Bereich wird das Wort materialist erst im Jahr 1674 von
Robert Boyle in seinem Werk About the Excellency and Grounds of the
Mechanical Philosophy eingeführt; es gehört so in den Zusammenhang der
Naturwissenschaften, genauer in die Debatten über den Korpuskularismus.
Leibniz verwendet 1702 das Wort matérialiste in seiner Replique aux Réflections de Bayle bereits in retrospektiven philosophiehistorischen
Zusammenhängen: „Les Cartésiens ont fort mal réussi, à peu près comme
Epicure avec sa déclinaison des atomes, dont Cicéron se moque si bien,
lorsqu’ils ont voulu, que l’ame ne pouvant point donner de mouvement au
corps, en change pourtant la direction; mais ni l’un ni l’autre ne se peut et
ne se doit, et les matérialistes n’ont point besoin d’y recourir (…)“ 23 .
Doch weder Boyle noch Leibniz kennen die nominalisierte Variante Materialism bzw. Matérialisme, die nach aller Wahrscheinlichkeit erst 1734 von
Christian Wolff als Materialismum in streng philosophischem Sinne geprägt wird: „Materialistae dicuntur philosophi, qui tantummodo entia
materialia sive corpora existere affirmant (…) Qui adeo demonstrat animam esse ens immateriale, Materialismum evertit. Et quos ante commemoravimus autores Materialismo addictios“ 24 . So kann Denesle bereits
1754 ein Werk Examen du Matérialisme, relativement à la Metaphysique
betiteln. Nur aus dieser kurzen Begriffsgeschichte des Terminus lässt sich
ersehen, dass sich die philosophischen Verwendungsweisen von einer
methodologisch-naturwissenschaftlichen Hypothese bis zu einem metaphysischen Monismus erstrecken. Auch wenn man beide Dimensionen
des Materialismus differenzieren kann, sind in ihm beide Bedeutungen
von Beginn an grundsätzlich miteinander verschmolzen.
Als philosophische Grundposition vertritt der Materialismus somit
traditionsgemäß die These, das wahrhaft und einzig Seiende sei Materie.
Gewiss sind die hier thematisierten Begriffe des Seienden und der Materie
selbst wiederum erklärungsbedürftig und unterschiedlich auslegbar, doch
philosophisch weisen sie ursprünglich auf eine ontologische und holistische Einstellung hin. Der Sache nach gehen die ersten materialistischen
Denkentwürfe in der westlichen Tradition bekanntlich auf den antiken
Atomismus bei Leukipp und Demokrit zurück, der von den späteren
Materialisten immer wieder als Vorbild referiert wird und der von der
ursprungsphilosophischen Frage nach dem Wesen des Seienden bzw. nach
dem ersten Prinzip geprägt war. Der bekannte Lehrsatz Demokrits, durch
Galen überliefert, lautet: „Der Bestimmung zufolge [gibt es] Farbe, der
Bestimmung zufolge Süßes, der Bestimmung zufolge Bitteres, in Wirklichkeit aber nur Atome und Leeres“25. Er enthält das Grundprinzip eines
streng monistischen und atomistisch verfassten Weltentwurfes, der Aus23
24
25
Leibniz (1840), S. 185.
Wolff (1972), § 33–35. Vgl. diesbezüglich Deprun (1992), S. 11ff.
Mansfeld et al. (2011), S. 733.
33
sagen über die ultimative Wirklichkeitsverfassung zu treffen beansprucht
und so der Form nach vollständig im Horizont der antiken Metaphysik
steht. Doch vom Inhalt seiner Grundsätze her ist er zugleich dadurch
gekennzeichnet, dass er streng immanenztheoretisch und antispiritualistisch verfasst ist und so zugleich eine antimetaphysische Intention in sich
trägt; er gehört, wie beispielsweise Habermas hervorhebt, zu den antimetaphysischen Gegenbewegungen der Metaphysik: „Der antike Materialismus und die Skepsis, der spätmittelalterliche Nominalismus und der neuzeitliche Empirismus sind antimetaphysische Gegenbewegungen, die aber
innerhalb des Horizonts der Denkmöglichkeiten der Metaphysik bleiben“26.
Aus dieser kurzen Darstellung der Begriffsgeschichte und der
Grundthese des Materialismus könnte man leicht schließen, dass er lediglich der metaphysischen Epoche des Denkens angehöre und so in der
grundsätzlich metaphysikkritischen Moderne veraltet sei. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn der Materialismus erfährt eben in einem metaphysikkritischen und nachidealistischen Zeitalter eine prononcierte Blütezeit. Es ist eben der Metaphysikkritiker Kant, der in Deutschland zum
Status eines möglichen Garanten des Materialismus im nachidealistischen
Zeitalter erhoben wird. Wir sahen, wie ein nicht geringer Teil der intellektuellen Debatten zu jener Zeit in Deutschland von der Frage nach der
Kompatibilität des Kritizismus mit dem Materialismus geprägt war, der
sich die verschiedenen Materialismusauseinandersetzungen bis heute
widmen. Nicht zuletzt entstehen nach Kant verschiedene materialisierte
Kritizismen: Versuche, das kantische Denkgebäude materialistisch und so
auch umgekehrt den Materialismus selbst als eine radikalisierte Spielart
von Kritik umzudeuten 27 . Doch dieses Unternehmen bleibt insofern
grundsätzlich – und wohl bis heute – paradox, als man „Kants ganzes
System als einen großartigen Versuch betrachten [kann], den Materialismus für immer aufzuheben, ohne am Skeptizismus zu verfallen“28, wie
Lange schreibt. Denn zur Hauptthese des Materialismus gehört wie gesagt
der Anspruch, Aussagen über das bewusstseinsunabhängige Wesen des
Wirklichen zu treffen, das traditionsgemäß eben dem Hauptkonzept des
Materialismus – der Materie – entspricht. Wird aber mit Kant vorausgesetzt, dass alle menschliche Erkenntnis durch das Zusammensetzen von
Bewusstsein und Sinnlichkeit vermittelt ist, wie kann dann der Materialismus Zugang zu dem unvermittelten Wesen des Wirklichen erhalten und
erkenntnistheoretisch gültige Aussagen diesbezüglich treffen? Erhält
26
27
28
34
Habermas (1992), S. 36.
Der Ausdruck „materialisierter Kritizismus“ stammt wohl von Gunzelin und
Schmid Noerr. Vgl. dazu Schmid Noerr et al. (1991).
Lange (1974), S. 513.
seine Grundthese so etwa den Status eines kategorial unbelegbaren und
deshalb grundsätzlich dogmatischen Axioms?
Im Gefolge der Vernunftkritik und in Auseinandersetzung mit dem
Dogmatismusproblem wird dann überhaupt erst die Frage nach der Möglichkeit und dem Begriff eines kritischen Materialismus aufgeworfen, der
im Gegensatz zu den vorkritischen oder klassischen Materialismen der
erkenntniskritischen Ausweisbarkeit seiner Aussagen, vor allem seiner
Grundthese über die Verfasstheit des Wirklichen als Materie, gewachsen
ist. Diese Frage wird aber erst dann virulent, wenn die Vernunftkritik
durchgeführt worden ist und ihre Folgen geistesgeschichtlich eingebürgert sind. So wird sowohl sachlich als auch philosophiehistorisch die Rede
eines kritischen Materialismus erst nach Kant tatsächlich möglich. Parolen
wie „Erneuerung des Materialismus“, „neuerer Materialismus“ und „kritischer Materialismus“ im Gegensatz zu „naivem“, „dogmatischem“, „vulgärem“ und „altem“ Materialismus sind zu dieser Zeit – und wohl bis
heute – allgegenwärtig29; in demselben Zusammenhang wird das Bewusstsein des Materialismusproblems seitens der materialistischen Denktradition
immer akuter und offen reflektiert, sodass es sogar im Titel einer wichtigen Studie von Ernst Bloch auftritt30. Mit den alten, klassischen Materialismen sind so gut wie alle vorkritischen Materialismen von der Antike bis
zur französischen Aufklärung gemeint. Bei den neueren oder kritischen
Materialismen wird dagegen die Möglichkeit eines Denkentwurfs indiziert,
die aber, so möchte ich formulieren, eben nur als ein Problem aufgefasst
werden kann.
Das Problem eines kritischen Materialismus könnte rein sachlich als
Frage formuliert werden: Wird mit Kant vorausgesetzt, dass sich die Setzung eines absolut Ersten gleichgültig welcher Provenienz, also etwa der
Materie, notwendig in unüberwindbare Widersprüche verwickelt, muss
der Materialismus dann nicht auf seine Grundthese verzichten, um sich als
konsistentes Denkmodell zu gestalten? Wird so aber seine Substanz – wie
Ernst Bloch schreibt – nicht notwendigerweise verlorengehen? Denn im
Lichte der Vernunftkritik ist der Materialismus nichts anderes als eine
weitere Spielart von Metaphysik und Ursprungsphilosophie, die als solche
keinen objektiven Erkenntnisanspruch erheben darf. Trotz seiner antimetaphysischen Intention und seiner immanenzphilosophischen Grundeinstellung bleibt er aus dieser Sicht daher im Horizont der alten Metaphysik
befangen und ist theoretisch antinomisch.
Es ist vermutlich seine „Substanz“, die den Materialismus auch in einem
nachidealistischen und nachmetaphysischen Zeitalter theoretisch attraktiv
macht. Um sie nun annäherungsweise zur Sprache zu bringen, empfiehlt
29
30
Lange (1974), S. 502–503, 521, 552.
Bloch (1972).
35
es sich, den Materialismus in zwei Grundtendenzen zu untergliedern, die
sich in ihm durchkreuzen. Es handelt sich wie gesagt um eine szientifischmethodologische und eine kritisch-aufklärerische Tendenz. Beide werden
von manchen Historikern des Materialismus in Anspruch genommen, um
seine Grundlinien zum Ausdruck zu bringen. Das ist beispielsweise bei
Lange und Adorno selbst der Fall31.
Die szientifisch-methodologische Tendenz des Materialismus drückt
sich zunächst durch bestimmte epistemische Werte aus, die aber nicht nur
der Materialismus als Denkbewegung vertritt. Es handelt sich hauptsächlich um methodologische Werte wie die Einfachheit und Ökonomie der
theoretischen Grundprinzipien; die prinzipielle Offenheit gegenüber der
Methodik der Experimentalwissenschaften; die radikale Ablehnung von
„transzendenten“ Erklärungspostulaten und -entitäten wie Geist, Seele
und Gott; die Angewiesenheit auf die sinnliche Erfahrung als einzige Erkenntnisquelle; die Neigung zum Begriffsnominalismus; das methodische,
doch nicht spekulativ-orientierte Denken. Auch wenn diese Werte eine
Art starken Naturalismus nicht unbedingt voraussetzen oder implizieren,
dem zufolge die Natur als einheitlicher, autarker und für sich geschlossener Zusammenhang zu konzipieren ist32, scheinen sie sich im Allgemeinen
doch auf den so verstandenen Naturalismus hin zu orientieren. Aufgrund
seiner Angewiesenheit auf die Sinnlichkeit ist der Materialismus zuletzt
einem erkenntnistheoretischen Sensualismus tief verpflichtet.
Die kritisch-aufklärerische Tendenz scheint in erster Linie durch moralische Werte gekennzeichnet zu sein. Diese Werte entsprechen einer
Ausrichtung auf die untergründigen, unbewussten, oft auch verdrängten
und abgestoßenen Prozesse und Vorgänge, die den Menschen, das Leben,
die Gesellschaft, die Erkenntnis, die Kultur innerlich konstituieren. Topographisch formuliert geht es hier so um eine nachholende Reflexion auf
das „Untere“, das von „ideellen“ bzw. „oberen“ Erklärungsversuchen gar
nicht, ungenügend oder nur verklärt berücksichtigt wird. Diese nachholende Reflexion drückt sich aus als ein prononcierter Vorrang des Negativen gegenüber dem Positiven; des Körperlichen gegenüber dem Seelischen;
des Unbewussten gegenüber dem Bewussten; des Praktischen gegenüber
dem Kontemplativen; des Ökonomischen gegenüber dem Ideellen; kurz:
des Materiellen gegenüber dem Geistigen. So fließen in den Materialismus
traditionsgemäß Denkmotive und Erfahrungsgehalte ein, die zum einen
der Konstellation von Vitalismus, Hedonismus, von Lust und Schmerz,
zum anderen der von Tod, Lebensnot, „von der Leiche, von der Verwesung, von dem Tierähnlichen“33 angehören. Zusammenfassend ist diese
31
32
33
36
Vgl. PT, S. 181ff.; Lange (1974), S. 512ff.
Dieser Begriff des Naturalismus, demzufolge „nature is closed to mind“, stammt
von Alfred North Whitehead. Vgl. Whitehead (2013).
PT, S. 181.
Tendenz deshalb kritisch, weil sie sich grundsätzlich durch den Impuls
auszeichnet, „idealisierende“ und in diesem Sinne „ideologische“ Erklärungs- und Legitimationsversuche zu demaskieren und abzulehnen und
zugleich das zu retten, was mit diesen idealisierenden Versuchen verloren
geht. Abhängig davon, wie sie sich gegenüber diesem „Unteren“ verhält,
kann diese Tendenz entweder utopische oder zynische Züge aufweisen.
Aus der bisherigen Darstellung des Materialismus lassen sich schließlich auch die Hauptprobleme ableiten, die sich ihm von Beginn an stellen.
Es handelt sich grundsätzlich um Übergangs- und Umschlagprobleme, die
die monistischen Erklärungsmöglichkeiten von verschiedenen Emergenzphänomenen in Frage stellen – etwa der Emergenz des Kontingenten aus
dem Notwendigen, des Bewegten aus dem Unbewegten, des Organischen
aus dem Anorganischen, des Bewusstseins aus dem Sein, kurz: des qualitativ Neuen aus dem Immergleichen. Ernst Bloch fasst diese von ihm als
Aporien aufgefassten Probleme so zusammen: „Aporien der Eigenschaftsveränderung, des ‚Übergangs‘ Leib-Seele, Unterbau-Überbau, SeinBewußtsein, Quantität-Qualität, des qualitativen Sprungs überhaupt und
vorzüglich des materiellen Substrats von all dem“ 34 . Die Vorwürfe des
Mechanizismus und des Determinismus nun, die oft gegen den – sowohl
antiken als auch neuzeitlichen – Materialismus erhoben werden, fassen
diese Übergangs- und Umschlagprobleme größtenteils zusammen. Die
Geschichte des westlichen Materialismus hat sich, so Bloch, an diesen
internen Problemen kontinuierlich abgearbeitet; die verschiedenen materialistischen Spielarten könnten dementsprechend als unterschiedliche
Antworten auf diese immerwährende Fragestellung durch die Geschichte
hindurch gedeutet werden. Auch aus ihnen lässt sich die Geschichte des
Materialismus, wie Bloch meint, als eine zusammenhängende Tradition
trotz aller Verschiedenheit rekonstruieren.
Zusammenfassend ist die Konstellation des Materialismus sehr breit
angelegt, und es kann sogar zu gewissen Widersprüchen kommen, wenn
seine Tendenzen zugespitzt werden. Diese Konstellation umfasst sowohl
naturalistische, nominalistische, und positivistische Gedankenströme als
auch vitalistische, hedonistische, zynische und utopische Elemente. Eben
deshalb bilden sie eine breite, aber keineswegs zusammenhangslose Denktradition. Doch auch wenn seine Tendenzen sehr dynamisch verfasst und
entsprechend unterschiedlich konfigurierbar sind, zeichnet sich der Materialismus in erster Linie durch seine Grundthese über die Verfasstheit des
Ganzen als Materie aus, die zwar relativ auslegungsfähig, doch zugleich
stringent ist. Die Frage nach der erkenntniskritischen Umformulierbarkeit dieser Grundthese bestimmt die kritischen Materialismen.
34
Bloch (1972), S. 17.
37
So weit zu einem Vorbegriff des Materialismus. Zusammen mit der
oben thematisierten Krise des Idealismus bildet er die Grundkonstellation,
innerhalb derer es möglich wird, zu dem Begriff der Kritischen Theorie
und so dem einer negativen Dialektik zu gelangen.
38
§ 3. Das Konzept einer Negativen Dialektik
A. Philosophiehistorisches Selbstverständnis
Wir sahen, dass die idealistische Identitätskrise der Philosophie einen
großen Einfluss auf die Entstehung der meisten Denktraditionen des
19. Jahrhunderts in Deutschland ausübte – auch wenn diese ganz unterschiedlich auf den Verfall des Idealismus reagierten. Das trifft auch auf die
kritische Gesellschaftstheorie zu, die aus dem sogenannten Linkshegelianismus entsteht: Von Karl Marx bis zumindest Adornos negativer Dialektik kreist sie größtenteils um die Fragen, die sich aus dem Verfall des Idealismus ergeben. Insofern kann man alle kritische Theorie als ein wesentlich zeitbezogenes Gebilde bestimmen: Anders als eine selbstgenügsame
Denkfigur, die sich als Statthalter und Sprecher ewiger und unveränderbarer Wahrheiten ansieht, versteht sie sich als Reaktion auf bestimmte zeitbezogene Ereignisse, die sie grundlegend konstituieren. Sie geht, mit anderen Worten, von einer bestimmten theoretischen Zeitdiagnose aus, die
ihrem eigenen Begriff als Voraussetzung gilt. Ist diese immanente Zeitbezogenheit ein wesentliches Merkmal aller kritischen Theorie, dann kann
man tatsächlich von zueinander parallel verlaufenden kontextgebundenen,
jedoch gleichberechtigten Modellen kritischer Theorie sprechen. Diese
Modelle kritischer Theorie stehen so innerhalb einer sich kontinuierlich
abarbeitenden Dialektik zwischen innertheoretischer Konstruktion und
geschichtlicher Zeitdiagnose35.
Es ist eben im Bewusstsein dieser Zeitbezogenheit kritischen Denkens, dass Max Horkheimer im Jahr 1931 die Leitung des Instituts für
Sozialforschung übernimmt, das etwa ein Jahrzehnt früher gegründet worden war, um den kategorialen Rahmen des Marxismus unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Zu diesen Bedingungen
zählen hauptsächlich die Formierung einer Massengesellschaft, die die
klassische Klassentheorie des Marxismus in Frage stellte; die Entstehung
einer ideologisch stark geprägten Kulturindustrie; die Erscheinung bzw.
Bekräftigung bestimmter sozialer Pathologien wie des Antisemitismus,
der zwar ein uraltes europäisches Phänomen ist, der sich aber im Laufe der
Moderne neu gestaltet und erneut virulent wird. Auch gerade angesichts
der dramatischen Entwicklungen im Rahmen der zuvor doch hoffnungsvollen „Sowjetischen Union“ hatten die Intellektuellen des Instituts letztlich sehr früh keine Zweifel mehr daran, dass der kategoriale Rahmen des
klassischen Marxismus neu gedacht werden müsse36.
35
36
Diese These hat zunächst Gerhard Bolte entwickelt. Vgl. Bolte (1995).
Vgl. Wiggershaus (1986).
39
Mit Übernahme der Institutsleitung begreift Horkheimer diese Aufgabe zunächst in Gestalt eines interdisziplinären Materialismus, der im
Rahmen des Instituts etwa ein Jahrzehnt lang, von 1931 bis 1941, durchgeführt wird. Dies ist in den Arbeiten der klassischen Zeitschrift für Sozialforschung dokumentiert, die bis 1941 – bereits im nordamerikanischen
Exil – erschienen ist. In ihr sollen kritische Beiträge verschiedener fachwissenschaftlicher Disziplinen erscheinen, deren fachspezifische Begrenztheit es aber mittels einer vereinheitlichenden „dialektischen“ Darstellungsweise aufzuheben gilt. „Die ‚Darstellung‘ knüpft zwar an deren
methodische und forschungstechnische Vorgaben an, synthetisiert diese
dann aber in einem Verfahren dergestalt, daß in der ausgeführten Theorie
ein integriertes Bild der ‚konkreten‘ Wirklichkeit zustande kommt. Für
diese Form der fachübergreifenden sozialwissenschaftlichen Analyse der
Gesellschaft benutzt Horkheimer den Begriff der ‚Sozialforschung‘“37.
Die wirkungsmächtigsten Arbeiten aus diesem Projekt sind ohne alle
Frage die 1937 erschienenen, einander ergänzenden Aufsätze Traditionelle
und kritische Theorie und Philosophie und kritische Theorie von Max
Horkheimer (letzterer mit Herbert Marcuse). Zusammengenommen
haben diese beiden Aufsätze den Begriff kritische Theorie erstmals eingeführt und so auch eine programmatische Rolle für das gesamte Projekt
einer kritischen Theorie gespielt. Dabei besteht Horkheimer zwar auf
„de[m] philosphische[n] Charakter der kritischen Theorie“38, die „über
das Erbe des deutschen Idealismus hinaus das der Philosophie schlechthin
[bewahrt]“39. Doch dieses Erbe ist auch „wesentlich mit dem Materialismus verbunden“40, was dann nicht meint, „dass sie sich damit als ein philosophisches System gegen andere philosophische Systeme stellt“, sondern vielmehr „kein philosophisches System“41 ist:
Die kritische Theorie der Gesellschaft war seit ihren Anfängen
stets auch mit philosophischen Auseinandersetzungen beschäftigt.
Zur Zeit ihrer Entstehung: in den dreissiger und vierziger Jahren
des neunzehnten Jahrhunderts, war die Philosophie die fortgeschrittenste Gestalt des Bewusstseins; die wirklichen Zustände waren in Deutschland noch hinter dieser Gestalt der Vernunft zurückgeblieben. Die Kritik des Bestehenden begann hier als eine
Kritik jenes Bewusstseins, weil sie sonst ihren Gegenstand noch
unter dem Niveau der Geschichte ergriffen hätte, das die ausserdeutschen Länder schon in der Realität erreicht haben. Nachdem
die kritische Theorie die ökonomischen Verhältnisse als für das
Ganze der bestehenden Welt verantwortlich erkannt und den ge37
38
39
40
41
40
Dubiel (1988), S. 19.
ZfS6, S. 627.
ZfS6, S. 626.
ZfS6, S. 631.
ZfS6, S. 631f.
sellschaftlichen ‚Gesamtzusammenhang‘ der Wirklichkeit erfasst
hatte, wurde nicht nur die Philosophie als eigenständige Wissenschaft dieses Gesamtzusammenhangs überflüssig, sondern es konnten nun auch diejenigen Probleme, welche die Möglichkeiten des
Menschen und der Vernunft betrafen, von der Ökonomie aus in
Angriff genommen werden.42
Bei dieser Auflösung der „Philosophie als eigenständiger Wissenschaft“ wird hier auf die bekannte Hegel-Kritik Marxens verwiesen, die als
das Gründungsmodell aller kritischen Theorie gelten kann. Denn Marx
hatte bereits in den ersten Jahren nach dem Tod Hegels die philosophische Erschöpfung und den mit ihr verbundenen ideologischen Inhalt der
Hegel’schen Philosophie diagnostiziert, der für ihn den damaligen Zustand des politisch zurückgebliebenen Deutschland auch letztinstanzlich
legitimierte. So hat der noch junge Denker der beginnenden idealistischen
Identitätskrise der Philosophie bereits im Zeichen ihrer Entstehung Substanz verliehen: Die Krise des Hegel’schen Idealismus bedeutete eine
Krise des gesamten westlichen Philosophierens als einer gedanklichen
Legitimierung der unversöhnten menschlichen Wirklichkeit und implizierte die Notwendigkeit, das Hegel’sche Denkgebäude auf dessen rationalen Kern zu reduzieren und diesen praktisch zu verwirklichen. Dieser
rationale Kern – Marx zufolge eben die Kritik der politischen Ökonomie
– entsprach der Forderung, die menschliche Welt durch praktische Tätigkeit nach dem Maßstab der Vernunft umzugestalten, also „alle Verhältnisse
umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“43. Philosophie sollte durch den
Übergang zur Praxis verwirklicht und so aufgehoben werden, wie die
allbekannte elfte Feuerbachthese Marxens behauptet.
Zwar wird hier die Zentralität der Kritik der politischen Ökonomie
bei Marx für die Auflösung der Philosophie als einer eigenständigen Disziplin hervorgehoben, die dann in der kritischen Theorie ab Horkheimer
eine keineswegs mehr so eindeutig zentrale Rolle spielen, sondern einen
Platz neben anderen Wissenschaften einnehmen wird. Doch Horkheimer
weist auf die Tatsache hin, dass der Materialismus in beiden Fällen kein
den anderen philosophischen Systemen bloß entgegengesetztes System ist.
Vielmehr indiziert er den philosophischen Ort, in dem diese Auflösung
der Philosophie – bei Marx als Kritik der politischen Ökonomie, bei
Horkheimer wiederum interdisziplinär – geleistet wird.
Zu dem Projekt eines interdisziplinären Materialismus hat Adorno
grundsätzlich mit musikphilosophischen und -soziologischen Aufsätzen
beigetragen, die als Vorarbeiten für die einige Jahre später in der Dialektik
der Aufklärung entwickelte Theorie der Kulturindustrie angesehen werden
42
43
ZfS6, S. 631.
MEW1, S. 385.
41
können. Abgesehen von seiner 1933 publizierten Habilitationsschrift über
Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen hat er bis zur 1947 erschienenen Dialektik der Aufklärung nur musiktheoretische Arbeiten veröffentlicht. Doch seit seiner Rückkehr von Wien nach Frankfurt in der Mitte
der 20er Jahren hat er sich auch wesentlich mit den Fragestellungen auseinandergesetzt, die sich aus der Krise des Idealismus ergeben und so den
Begriff einer kritischen Theorie innerlich bestimmen44. Das beste Dokument dieser Auseinandersetzung ist seine Antrittsvorlesung Die Aktualität
der Philosophie als Privatdozent in der Universität Frankfurt. Die vielzitierten ersten Sätze dieser zu Lebzeiten unveröffentlichten Antrittsvorlesung bringen die idealistische Identitätskrise der Philosophie mit einer
Deutlichkeit zur Sprache, die sie als Zitat unentbehrlich macht:
Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen
Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die
Totalität des Wirklichen zu ergreifen (…). Davon legt die Geschichte der Philosophie selbst Zeugnis ab. Die Krise des Idealismus kommt einer Krise des philosophischen Totalitätsanspruches
gleich. Die autonome ratio – das war die Thesis aller idealistischen
Systeme – sollte fähig sein, den Begriff der Wirklichkeit und alle
Wirklichkeit selber aus sich heraus zu entwickeln. Diese Thesis hat
sich aufgelöst.45
Hier wird die Krise des Idealismus mit der „Krise des philosophischen
Totalitätsanspruches“ gleichgesetzt. Der philosophische Totalitätsanspruch entspricht seinerseits der spekulativen Kernthese des Idealismus
über die vermittelte Identität von Sein und Denken am Ort des Absoluten;
im Grunde ist er nur eine spezifische, extensiv angelegte Variante derselben. Gewiss hat Adorno hier die Denksysteme des Deutschen Idealismus
im Sinn, auch wenn kein partikuläres System als Beispiel genannt wird. Es
scheint hier für ihn zunächst gleichgültig zu sein, ob „der Begriff der
Wirklichkeit und alle Wirklichkeit“ etwa von einem formallogischen
Grundsatz ausgehend deduzierbar, wie etwa bei Fichte, oder eher erst am
Ort des Absoluten, am Ende des philosophischen Prozesses – wie bei
Hegel – explizierbar sein soll. Wesentlich ist wohl nur, dass die Gesamtheit des Wirklichen vom Denken, von der ratio durchdrungen bzw. entwickelt werden kann. Wie ist nun weiter zu philosophieren, nachdem dieser
philosophische Totalitätsanspruch, den Adorno im Einklang mit der Tradition ja als eine Grundvoraussetzung emphatischen Philosophierens
bezeichnet, allem Anschein nach unwiderruflich nicht mehr einzulösen ist?
44
45
42
Für die beste Rekonstruktion des Denkweges des jungen Adornos, vgl. Pettazzi
(1983).
GS1, S. 326.
Diese Fragestellung wurde von dem Philosophen stets in aller Radikalität wahrgenommen. Es geht dabei um nichts weniger als die eigentliche „Aktualität der Philosophie“ selbst, also darum, ob überhaupt „eine
Angemessenheit zwischen den philosophischen Fragen und der Möglichkeit ihrer Beantwortung besteht: ob nicht vielmehr das eigentliche Ergebnis der jüngsten Problemgeschichte die prinzipielle Unbeantwortbarkeit
der philosophischen Kardinalfragen sei“46. Die Aktualitätsfrage der Philosophie ist somit als das Problem der „Liquidation der Philosophie“47 selbst
aufzufassen, also als die Frage nach der Existenzberechtigung der Philosophie unter nachidealistischen Bedingungen, die von jeder ernst zu nehmenden Philosophie heute zwangsläufig zu stellen sei. Hier ist unverkennbar, wie der noch junge Adorno von der Problematik der oben erwähnten Auflösung der „Philosophie als eigenständige Wissenschaft“ in
Anspruch genommen ist, die ihrerseits dem neuen Materialismus gleichgesetzt wird, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt oft nur angedeutet
bleibt: „Über das Verhältnis dieser Dinge zum historischen Materialismus
wollte ich noch sprechen, kann aber hier nur soviel sagen: es ist nicht das
der Ergänzung einer Theorie durch eine andere, sondern das der immanenten Auslegung einer Theorie. Ich stelle mich sozusagen als der richterlichen Instanz der materialistischen Dialektik“ 48 . Weiter unten wird zu
zeigen, wie diese gesamte Problemkonstellation etwa dreißig Jahre später
noch radikaler in der Negativen Dialektik erneut aufgegriffen wird.
Bereits zu Beginn der 40er Jahren wurde das Projekt eines interdisziplinären Materialismus zugunsten eines geschichtsphilosophisch und
anthropologisch breiter angelegten Projekts einer „Kritik der instrumentellen Vernunft“ aufgegeben, von der ihrerseits die Dialektik der Aufklärung, 1947 veröffentlicht, das maßgebliche Ergebnis bildet. Die „Vorrede“ der Dialektik der Aufklärung spezifiziert die Gründe, warum der
frühere interdisziplinäre Materialismus aus Sicht der Autoren aufgegeben
werden musste:
Hatten wir auch seit vielen Jahren bemerkt, daß im modernen Wissenschaftsbetrieb die großen Erfindungen mit wachsendem Zerfall
theoretischer Bildung bezahlt werden, so glaubten wir immerhin
dem Betrieb so weit folgen zu dürfen, daß sich unsere Leistung
vornehmlich auf Kritik oder Fortführung fachlicher Lehren beschränkte. Sie sollte sich wenigstens thematisch an die traditionellen Disziplinen halten, an Soziologie, Psychologie und Erkenntnistheorie. Die Fragmente, die wir hier vereinigt haben, zeigen jedoch,
daß wir jenes Vertrauen aufgeben mußten. Bildet die aufmerksame
Pflege und Prüfung der wissenschaftlichen Überlieferung, beson46
47
48
GS1, S. 331.
GS1, S. 331.
GS1, S. 365.
43
ders dort, wo sie von positivistischen Reinigern als nutzloser Ballast dem Vergessen überantwortet wird, ein Moment der Erkenntnis, so ist dafür im gegenwärtigen Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation nicht bloß der Betrieb sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden.49
Zwar gehört auch die Dialektik der Aufklärung in den Zusammenhang der
Diskussionen um den Begriff des Materialismus und der dialektischen
Logik, die Horkheimer bereits in der frühen Phase mit Adorno und anderen Kollegen des Instituts geführt hat. Wie man aber den zitierten Sätzen
der „Vorrede“ entnehmen kann, erfolgt bei Adorno und Horkheimer zu
diesem Zeitpunkt einer Änderung der Zeitdiagnose, die dazu motiviert,
das Projekt des interdisziplinären Materialismus aufzugeben. Im Gegensatz zu diesem taucht in der Dialektik der Aufklärung nun der Verdacht auf,
dass „nicht bloß der Betrieb sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich
geworden“ ist. Dies betrifft naturgemäß die eigene wissenschaftliche
Grundlage jenes interdisziplinären Projekts des Instituts. Unter anderem
ist diese neue Zeitdiagnose von der im Laufe der 30er Jahren entwickelten
Theorie des Staatskapitalismus von Friedrich Pollock wesentlich beeinflusst, dem die Dialektik der Aufklärung gewidmet ist. Dabei handelt es
sich hauptsächlich um den Aufstieg einer neuen, das Modell der freien
Konkurrenz ablösenden Phase des westlichen Kapitalismus, in der der
Staat zwecks Krisenvermeidung stark regulierend eingreift. Nicht zuletzt
bedeutet dies, dass der Bezug zur Transformation der menschlichen Welt
durch praktische Tätigkeit, den die vorangehenden Modelle kritischer
Theorie mehr oder weniger direkt aufgewiesen haben, verloren gegangen
zu sein scheint.50
Die Dialektik der Aufklärung ist das Ergebnis der dramatischen Verarbeitung dieser neuen Zeitdiagnose. Es handelt sich um das Misstrauen
gegen die eigentlichen rationalen Mitteln, die aus der Aufklärung stammen und denen jenes Projekt noch grundlegend verpflichtet war. Mit der
Dialektik der Aufklärung erfolgt so, in einem Wort, der Übergang von dem
interdisziplinären Materialismus Horkheimer’scher Prägung zu einem
anthropologisch und geschichtsphilosophisch angelegten Modell einer
totalisierten Vernunftkritik, das die Konstitution von Zwang und Herrschaft im Wesen der Subjektivität selbst sucht. Sie setzt sich so programmatisch und selbstbewusst dem aporetischen Verfahren aus, mit rationalen
Mitteln die ratio selber zu kritisieren:
Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen
hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen
49
50
44
GS3, S. 11–12.
Pollock (1975), S. 72ff.
Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit
in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der
heute überall sich ereignet.51
Der Wirkungserfolg und die gewonnene Zentralität der Dialektik der
Aufklärung in der Denktradition der kritischen Theorie macht sie zum
Gegenstand massiver Auseinandersetzungen. Ihre Folgen bestimmen die
gesamte Weiterentwicklung der Tradition und so auch wesentlich die negative Dialektik. Im nächsten Unterabschnitt werde ich diese Diskussion
mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte der negativen Dialektik wieder
aufgreifen. Zunächst aber soll nur das philosophiehistorische Selbstverständnis der negativen Dialektik betrachtet werden, das unabhängig von
ihrer späteren Rezeptionsgeschichte gefasst werden kann. Insgesamt lässt
sich sagen, dass sie die gesamte Problemkonstellation, die oben dargestellt
worden ist, zusammenfassend reflektiert.
Wie alle kritische Theorie bestimmt sich auch die negative Dialektik
bereits in ihrer Ausgangslage als ein wesentlich zeitbezogenes Denkgebilde.
Ihr viel kommentierter Anfangssatz drückt dies formelhaft aus: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“52. Bereits anhand der Wortwahl
und der Begriffskonstellation, die das Wort „Philosophie“ hier umkreist,
lässt sich diese Zeitbezogenheit in aller Deutlichkeit konstatieren: „Überholung“, „sich am Leben erhalten“, „Augenblick“, „Versäumnis“. Die so
konzipierte „Philosophie“, auf die sich die negative Dialektik als ihren
Ausgangslage bezieht, ist demzufolge ein zeitlich begrenztes Gebilde, das
infolge des Versäumnisses ihrer möglichen (und notwendigen) Realisierbarkeit nicht mehr zeitgemäß ist und nur im Rahmen dieser Unzeitgemäßheit, gewissermaßen als Nachleben von sich selbst, fortbesteht. Ein
bestimmter Zeitpunkt hätte also erreicht werden müssen, in dem die theoretische Summe dessen, was die so aufgefasste „Philosophie“ innerlich
konstituiert, in die Wirklichkeit überführt worden wäre. Dieser Zeitpunkt
ist aber versäumt worden, sodass das ganze Gebilde innerhalb dieser großen Ambivalenz, besser: dieser akuten Krisensituation, die seine eigene
Existenzberechtigung betrifft, noch existiert. Dass es sich nun bei einem
so umrissenen Begriff von Philosophie unmissverständlich um den idealistischen, genauer: Hegel’schen handelt, kommt in den nächsten Sätzen
zum Ausdruck:
51
52
GS3, S. 13.
GS6, S. 15.
45
An ihr [der Philosophie – D. P.] wäre zu fragen, ob und wie sie
nach dem Sturz der Hegelschen überhaupt noch möglich sei, so wie
Kant der Möglichkeit von Metaphysik nach der Kritik am Rationalismus nachfragte. Stellt die Hegelsche Lehre von der Dialektik den
unerreichten Versuch dar, mit philosophischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen, so ist Rechenschaft
vom fälligen Verhältnis zur Dialektik zu geben, wofern sein Versuch scheiterte.53
Es besteht kein Zweifel, dass auch die negative Dialektik hier wiederholt
auf die oben zusammengefasste Hegel-Kritik Marxens verweist, auf die
sich bereits der interdisziplinäre Materialismus Horkheimer’scher Prägung beziehen konnte. Allerdings geht sie von dem Versäumnis der möglichen Realisierbarkeit der Philosophie durch praktische Tätigkeit aus, was
ihre akute, sogar etwas paradoxe Krisensituation weiter vertieft: „Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang
verhieß. Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht
theoretisch sich prolongieren“54. Was bleibt dann dem Philosophieren in
dieser Krisensituation übrig? Auf diese Frage antwortet die negative Dialektik kategorisch: „Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins
mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung,
brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren“55.
Die Hegel’sche Philosophie wird dann durch den zunächst etwas rätselhaften Versuch charakterisiert, „mit philosophischen Begriffen dem
diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen“56, ein Versuch, der aber
seinerseits als „unerreicht“ gilt. Wenn im Falle der Antrittsvorlesung
Adornos mit dem Titel Die Aktualität der Philosophie von dem eher „extensiv“ angelegten Totalitätsanspruch der Philosophie die Rede war,
scheint hier nun die Aufmerksamkeit auf ein dazu komplementäres, aber
„intensiv“ konzipiertes Anliegen gerichtet zu werden: das dem Begriff
Ungleichartige ins begriffliche Medium reibungslos zu übersetzen. Was
„das dem Begriff Heterogene“ überhaupt sein könnte, werde ich im zweiten Kapitel thematisieren: Dort wird gezeigt, wie Adorno diese Formulierung mit der Schelling-Hegel’schen Formel des Absoluten als „Identität
von Identität und Nichtidentität“57 im Grunde synonym verwendet. Emphatisches Philosophieren, dem der negativen Dialektik zufolge das Hegel’sche Denkgebäude als Vorbild dient, bedeutet demgemäß, das Wirkliche in dessen Totalität – also einschließlich das dem Begriff Heterogene –
begrifflich zu fassen. Auch wenn die negative Dialektik die unzweideutige
53
54
55
56
57
46
GS6, S. 16.
GS6, S. 15.
GS6, S. 15.
GS6, S. 15.
WW5, S. 73.
Krisensituation dieses Begriffs von Philosophie unter nachidealistischen
Bedingungen anerkennt, bleibt sie ihm mittelbar treu: Sie geht von ihm
aus, um die – sowohl innerphilosophischen als auch geistesgeschichtlichen
– Gründe für seinen unwiderruflichen Verfall kritisch zu hinterfragen.
Auch deshalb steht im Zentrum der negativen Dialektik eine philosophische Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie in
Gestalt der Identitätsproblematik, die eben zu jener Auffassung führte.
So gesehen ist die negative Dialektik schließlich eine von denjenigen
zeitgenössischen Denkmodellen, die die Frage nach der Möglichkeit von
Dialektik im Zeichen seiner angeblichen Obsoleszenz stellen. Gewissermaßen wiederholt sie Marxens Herangehensweise an Hegels Philosophie,
die – wie gesagt – als Gründungskonstellation aller kritischen Theorie
gelten kann: den Anspruch, ihren rationalen Kern herauszupräparieren.
Damit soll sie zugleich kritische Selbstreflexion der (klassischen deutschen) Philosophie sein und den Übergang zum kritischen Materialismus
vollziehen. Klar ist nun, dass sich diese Grundoperation allein deshalb so
gestaltet, weil sie dem emphatischen Philosophiebegriff treu bleibt; wären
der negativen Dialektik andere Denkwege offengestanden, als auf diesem
Begriff emphatischen Philosophierens zu beharren, dann wären sowohl
die Aktualitätsfrage der Philosophie, ob sie unter nachidealistischen Bedingungen überhaupt weiterzubetreiben sei, als auch ihre Aufgabe, rücksichtslose Selbstkritik zu üben, nicht in dieser Radikalität gestellt worden.
Gerade diese Radikalität aber indiziert das heutige philosophische Interesse
an der negativen Dialektik, erlaubt sie es uns doch unter anderem, die
philosophischen Folgen und Aporien jener Denkmodelle zu beurteilen,
die auf dem emphatischen Begriff von Philosophie auch unter nachhegelschen Bedingungen insistieren. Auch aufgrund dieser Ausgangslage ist die
negative Dialektik für die spekulativen Fragestellungen über die Denkfähigkeiten zur Erfassung des Absoluten noch aktuell – Fragestellungen,
wie sie im Laufe der klassischen deutschen Philosophie und auch, wie ich
im nächsten Abschnitt darstellen werde, in den heute erneut auftretenden
spekulativen Denkbewegungen wieder auftauchen.
Nach diesen Ausführungen sind wir in der Lage, den philosophiegeschichtlichen Ort der negativen Dialektik thesenhaft zusammenzufassen.
Daraus ergibt sich das Konzept einer negativen Dialektik als Spielart des
kritischen Materialismus. Dieser philosophiegeschichtliche Ort lässt sich
im Wesentlichen durch einen dreistufigen Gedankengang rekonstruieren:
1. Negative Dialektik beansprucht die Erbschaft der westlichen
Aufklärung, deren innere Logik die Denkentwicklung der klassischen deutschen Philosophie zwischen Kant und Hegel freilegt.
47
2. Doch zugleich erkennt sie die Krise des Idealismus als die Erschöpfung von deren spekulativem Gehalt, also als eine Krise ihres Anspruches, „mit philosophischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen“58. Das bestimmt diese Erbschaft als kritisch-materialistisch.
3. So deutet die negative Dialektik den Imperativ einer rationalen
Transformation der menschlichen Welt durch praktische Tätigkeit,
zu dem die Marx’sche Kritik am Idealismus immanent führte, als
„auf unabsehbare Zeit vertagt“59. Das macht es erforderlich, die
Bedingungen des Abschiedes von philosophischer Spekulation
und des „Überganges zur Praxis“ noch einmal kritisch zu erwägen.
In Bezug auf den Materialismusbegriff lässt es sich wie folgt zusammenfassen: Während der Deutsche Idealismus den kumulativen Höhepunkt
des westlichen Rationalismus bzw. der europäischen Aufklärung mit all
ihren Widersprüchen und Zweideutigkeiten bilde (1), sei der Materialismus seit Marx „keine durch Entschluß zu beziehende Gegenposition
mehr, sondern der Inbegriff der Kritik am Idealismus und an der Realität,
für welche der Idealismus optiert, indem er sie verzerrt“60 (2). Es stehe
aber noch grundsätzlich offen, wie ein derartiger Materialismus tatsächlich zu konzipieren sei, „da die traditionellen Antworten nicht nur der seit
1917 zur Staatsdoktrin erstarrten Marxschen Lehre, sondern auch der
älteren Kritischen Theorie sich als problematisch erwiesen haben“, sodass
„Adorno es als seine Aufgabe [betrachtet], den Übergang von Hegel zu
Feuerbach und Marx zu reformulieren“ 61 (3). Indem sie, hauptsächlich
ausgehend von der Identitätsproblematik in der Philosophie der Neuzeit,
auf diesen Denkweg noch einmal reflektiert, unternimmt die negative
Dialektik den Versuch, den noch gründlich zu durchdenkenden kritischen
Materialismus endlich zum Begriff zu bringen, der seinerseits als Inbegriff
der Idealismuskritik und folglich des kritischen Denkens überhaupt gilt.
Der kritische Materialismus ist also nicht identisch mit dieser Selbstreflexion: Er ist vielmehr deren philosophisches Produkt – das, was aus ihr
philosophisch entsteht.
So seien Idealismus und Materialismus seit Marx keine äquivalenten,
einander wesentlich gleichgültigen Gegenpositionen, die einem dogmatisch-weltanschaulich zur Verfügung stünden und ganz nach den moralischen oder ästhetischen Neigungen und Präferenzen des jeweiligen Individuums auszuwählen seien. Eine solch geistlose Gegenüberstellung, wie
58
59
60
61
48
GS6, S. 16.
GS6, S. 15.
GS6, S. 197.
Schmidt (2002), S. 90.
sie sich etwa in gewissen marxistischen Historiographien findet, gehört
laut Adorno zum Vorphilosophischen62. Der noch gründlich zu durchdenkende kritische Materialismus sei vielmehr dem Idealismus wesentlich
überlegen und qualitativ verschiedenartig, weil er aus diesem durch ein
kritisch-immanentes Verfahren entsteht und an sich die nun entmystifizierte Summe von dessen rationalem, grundsätzlich negativem Gehalt zu
enthalten beansprucht. Die Denktradition der Kritischen Theorie hat sich
seit Marx an der Gestaltung eines solchen Materialismus gründlich abgearbeitet, ihn aber noch nicht zum Begriff gebracht, wie erstens die Erstarrung des dialektischen Materialismus Marx’scher Prägung zum Status
einer Staatsreligion und zweitens das Scheitern des interdisziplinären
Materialismus Horkheimers zeigten. Es liege also auch an mangelhafter
theoretischer Selbstreflexion, so die negativ-dialektische Argumentation
schließlich, dass die materialistische Theorie derart verwendet und herabgesetzt werden konnte, und es sei an der Zeit, sie erneut – anhand dieses
nun gewonnenen Selbstverständnisses – zu durchdenken.
Dass es dem Materialismus an Selbstreflexion mangelt, bedeutet dies
grundsätzlich, dass er bisher das Reflexionsniveau des Idealismus noch
nicht gänzlich überschritten hat. Entweder bleibt er im Dogmatismus
gefangen, solange er voridealistisch die Folgen der Miteinbeziehung des
erkennenden Subjekts in den Erkenntnisprozess nicht voll berücksichtigt,
oder er verharrt auf dem Reflexionsniveau des Idealismus, indem er systematisch verfasst wird. Der kritische Materialismus muss folglich eine
radikale Idealismuskritik erst noch durchführen: Wohl sind äußere Gestalten des Idealismus in der Moderne bereits einer Kritik unterzogen worden,
die Durchführung einer radikalen Identitätskritik aber, die das Wesen des
Idealismus trifft, ist noch zu leisten. „Ehe das gelingt, wird der Idealismus
beliebig auferstehen“63, wie er tatsächlich und wider Willen, so die negative Dialektik, in Gestalt der wohl erfolgreichsten philosophischen Schulen
der kontinentaleuropäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts auferstanden ist: der Husserl’schen Phänomenologie und des Bergsonismus, „Träger philosophischer Moderne“ 64 . „Beide Ausbruchsversuche gelangten
nicht aus dem Idealismus heraus: Bergson orientierte sich, wie seine positivistischen Erzfeinde, an den données immédiates de la conscience,
Husserl ähnlich an den Phänomenen des Bewußtseinsstroms. Dieser wie
jener verharrt im Umkreis subjektiver Immanenz“65.
Auch Denkmodelle, die im Geiste von Karl Marx konzipiert wurden,
sind diesem Schicksal nicht entgangen: Erwähnt sei das wirkungsmächtige
Werk Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács, das das Prole62
63
64
65
PT, S. 19ff.
GS6, S. 33.
GS6, S. 20.
GS6, S. 21.
49
tariat als identisches Subjekt-Objekt der Geschichte postuliert und dem
so eine offensichtlich idealistische Denkstruktur zugrunde liegt. Bekanntlich hat Lukács selbst sein Werk später als idealistisch abgelehnt66. Dies
zeigt, wie auch in der Denktradition des Marxismus der Idealismus auferstanden ist und der kritische Materialismus noch ein offener Begriff ist.
66
50
Lukács (1968).
B. Negative Dialektik: Zur Rezeptionsgeschichte
Der erste wirkungsmächtige Versuch einer systematischen Interpretation
in der bisher ziemlich spärlichen Rezeptionsgeschichte der negativen Dialektik ist von Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen
Handelns wenn nicht erstmals formuliert, so doch zumindest popularisiert worden. Habermas platziert das Werk nicht nur in der Denkentwicklung Adornos, sondern auch innerhalb der Denktradition der kritischen
Theorie seit Marx im Allgemeinen. Die negative Dialektik sei als Denkmodell in einem engen Zusammenhang mit den Aporien zu lesen, die aus
der Dialektik der Aufklärung stammen. Diese Aporien, die deshalb in der
negativen Dialektik wieder auftauchen, würden aus einer total gewordenen Vernunft- und Gesellschaftskritik abgeleitet, die auf der Grundlage
einer Zusammenführung von Identität und Instrumentalität, Subjektivität
und Macht operiert. Als total könne sie ihre normative Grundlage nicht
mehr rational ausweisen, denn mit einer totalisierenden Kritik, so der
Gedankengang, fielen die kritisierende und die kritisierte Instanz letztendlich zusammen. Totalisierend sei die Kritik als einzig mögliche Durchführung des Grundgedankens kritischer Theorie unter Bedingungen des
Spätkapitalismus geworden, in dem die Möglichkeiten einer praktischen
Umwälzung der Gesellschaft tendenziell blockiert erschienen. Als Versuch schließlich, eine Selbstreflexion dieser Aporien zu leisten, die aber
ihren kategorialen Rahmen mit sich bringe, sei die negative Dialektik in
diesem Sinne nichts weiter als eine Übung – ein Exertitium – bestimmter
Negation, die aber zwecklos und aporetisch – weil totalisierend – geworden sei. Die Erkenntniskompetenzen der Philosophie innerhalb einer total
gewordenen Vernunftkritik würden in diesem Sinne an die Ästhetik hoffnungslos weitergegeben. Habermas formuliert seine einflussreiche Kritik
wie folgt:
Auf diese tastenden Versuche, dem Schatten des identifizierenden
Denkens, der Reifikation zu entkommen, greift Adorno später, als
er sich der Dialektik der Aufklärung zu entringen versucht, zurück,
um sie zu radikalisieren. Die ‚Negative Dialektik‘ ist nurmehr als
ein Exerzitium, eine Übung, zu verstehen. Indem sie dialektisches
Denken noch einmal reflektiert, führt sie vor, was man nur so zu
Gesicht bekommt: die Aporetik des Begriffs des Nicht-Identischen.
Es verhält sich keineswegs so, daß die ‚Ästhetik einen Schritt weiter von dem Wahrheitsgehalt ihrer Gegenstände entfernt (ist) als
die Negative Dialektik, die es immer schon mit Begriffen zu tun
hat‘. Vielmehr kann Kritik, weil sie es mit Begriffen zu tun hat, lediglich demonstrieren, warum die Wahrheit, die sich der Theorie
entzieht, in den avanciertesten Werken der modernen Kunst einen
Unterschlupf findet, aus dem sie freilich ohne ‚Ästhetische Theorie‘ auch wiederum nicht hervorzulocken wäre. (…) Absichtlich
51
regrediert das philosophische Denken, im Schatten einer Philosophie, die sich überlebt hat, zur Gebärde.67
Wesentlich für diese Habermas’sche Lesart ist die Auffassung, dass die
Kritische Theorie zu diesen Aporien nicht aufgrund irgendwelcher, einfach zu berichtigender Kontingenzen gelangt ist, sondern infolge einer
generalisierten Erschöpfung des gesamten Denkparadigmas der Bewusstseinsphilosophie, die sie noch weiterzubetreiben versuchte. Habermas
deutet den so konzipierten aporetischen Denkweg der „frühen“ Kritischen Theorie als Symptom des tiefer liegenden Problems der Ausweisbarkeit normativer Grundlagen der Vernunft in der Spätmoderne, das, wie
er im späteren Werk Der philosophische Diskurs der Moderne darlegt, seit
Nietzsche zu Tage getreten sei und den Eintritt in die sogenannte „Postmoderne“ philosophisch motiviert habe 68 . Diese Symptome begründen
nun die Notwendigkeit eines grundlegenden philosophischen Paradigmenwechsels von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie, die eine gründliche Rehabilitierung kritischen Denkens angesichts
seiner Aporien ermöglichen soll:
Demgegenüber möchte ich darauf beharren, daß das Programm der
frühen Kritischen Theorie nicht an diesem oder jenem Zufall, sondern an der Erschöpfung des Paradigmas zur Bewusstseinsphilosophie gescheitert ist. Ich werde zeigen, daß ein Paradigmenwechsel
zur Kommunikationstheorie die Rückkehr zu einem Unternehmen
gestattet, das seinerzeit mit der Kritik der instrumentellen Vernunft
abgebrochen ist; dieser erlaubt ein Wiederaufnehmen der liegengebliebenen Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie.69
Diese Auffassung ist prägend für die Weiterentwicklung der Kritischen
Theorie gewesen, die nunmehr – zumindest „offiziell“ und mit Umwegen
– diesem Denkweg hauptsächlich folgte. Axel Honneth beispielsweise,
der wohl wichtigste Vertreter der nachhabermasschen Generation der
Kritischen Theorie, setzt sich in seinem Werk Kritik der Macht sowohl mit
der kommunikationstheoretischen Wende bei Habermas als auch mit
Foucaults Machtanalyse auseinander, um beide in seine anerkennungstheoretische Rekonstruktion der Kritischen Theorie zu integrieren. Von der
Diagnose eines soziologischen Defizits der „klassischen“ Kritischen Theorie der Gesellschaft ausgehend, deutet Honneth die agonistische Grundstruktur der Analytik der Machtbeziehungen Foucaults als ein in eine reflektierte kritische Gesellschaftstheorie notwendig aufzunehmendes Paradigma des Sozialen, das von dem Habermas’schen Begriff der Verständi-
67
68
69
52
Habermas (1981), S. 515f.
Habermas (1988), S. 104ff.
Habermas (1981), S. 517f.
gung als zweites Paradigma kritisch komplementiert werden soll 70 . Die
Auseinandersetzung und kritische Reflexion der beiden konkurrierenden
Ansätze sollen also den Grundstein für eine umfassende, an den jungen
Hegel anknüpfende Theorie des Kampfes um Anerkennung71 aus heutiger
Sicht liefern. Auch wenn Honneth dabei die Aporien der Dialektik der
Aufklärung selbst noch einmal reflektiert, geht er doch grundsätzlich von
der Habermas’schen Diagnose aus.
Die Notwendigkeit, das erschöpfte Denkparadigma der Bewusstseinsphilosophie durch das der Kommunikationstheorie zu ersetzen, hat auch
für das Materialismusproblem erhebliche Folgen. Denn dem Materialismus liegt hauptsächlich – zumindest im Ansatz – die duale Denkstruktur
zugrunde, die Denken als identitätsstiftend und verobjektivierend, Sein
hingegen als dem Denken polar entgegengesetzt konzipiert. Ohne diese
zumindest anfängliche Polarität verliert der Materialismus einen Großteil
seines kritischen Potentials, wie sich im Laufe dieser Arbeit noch klarer
herausstellen wird. Aus der Sicht von Habermas bildet der kritische Materialismus, dem die negative Dialektik Konsistenz verleihen möchte, so
keine Antwort auf die Krise des Idealismus, die auf der Höhe der jetzigen
Zeit stünde; dies könne nur die Wende zur Kommunikationstheorie leisten, die eben diese duale, verobjektivierende Denkstruktur zugunsten
einer Logik der Interaktion verlässt. Es ist daher kein Zufall, dass die Materialismusproblematik, die in der neuzeitlichen Philosophie zumindest
seit der europäischen Aufklärung von großer Wichtigkeit war, in den Weiterentwicklungen der Kritischen Theorie nach Adorno zwar nicht gerade
verschwand, aber doch seine Zentralität verlor. Hier lässt die Hypothese
Adornos anführen, der zufolge die Probleme eines gewissen kategorialen
Rahmens dann, wenn er verlassen wird, nicht zwangsläufig gelöst, sondern eher nur beiseitegelassen werden.72
70
71
72
„Aus einer kritischen Analyse der Schwierigkeiten, in die diese beiden Ansätze
[diejenigen von Habermas und Foucault – D. P] auf unterschiedlichem Reflexionsniveau jeweils führen, sollen sich implizit die Richtlinien ergeben, denen eine
‚Kritik der Macht‘ heute zu folgen hätte. Insofern vollzieht der, der die Denkbewegung von Adorno über Foucault zu Habermas führt, die Stufen einer Reflexion
nach, in der sich die kategorialen Prämissen einer kritischen Gesellschaftstheorie
schrittweise klären“. Honneth (1986), S. 8.
„Wer die gesellschaftstheoretischen Errungenschaften der historischen Schriften
Michel Foucaults in einem kommunikationstheoretischen Rahmen zu integrieren
versucht, ist auf einen Begriff des moralisch motivierten Kampfes angewiesen, für
den die Jenaer Schriften Hegels mit ihrer Idee eines übergreifenden ‚Kampfes um
Anerkennung‘ noch immer das größte Anregungspotential liefern“. Honneth
(1992), S. 7.
GS6, S. 71.
53
Eine zweite systematische Lesart hat sich größtenteils als kritische Antwort auf die erste entwickelt. Zwar erkennt sie im Geiste der Kritik Habermas’ die Aporien einer totalisierenden kritischen Gesellschaftstheorie.
Doch sie reduziert die negative Dialektik nicht darauf, sondern unternimmt den Versuch, sie als Denkmodell unter Berücksichtigung der Kritik
von Habermas zu rehabilitieren. Dafür zergliedert sie die negative Dialektik in zwei Gedankenströme, die sich zwar gegenseitig bedingen, aber
doch ihre Autonomie wahren: die kritische Selbstreflexion des Subjekts
und die Gesellschaftstheorie. Ihrem vollen Begriff nach erhebe die negative
Dialektik den Anspruch, beide Gedankenströme zu integrieren, sofern ein
Isomorphieverhältnis zwischen ihnen anhand der Identitätskategorie
hergestellt werden könne. Zwar bestreitet die zweite Lesart – mit Habermas – die Effektivität dieses Isomorphieverhältnisses, die Validität aber
der Selbstreflexion des Subjekts, die die negative Dialektik reflektiert und
radikalisiert, bleibt bestehen und kann ein weiterführendes philosophisches Potential entfalten. Denn für sich genommen sei die kritische Selbstreflexion des Subjekts grundsätzlich autonom im Rahmen der negativen
Dialektik und weise auf ein mögliches Modell von Rationalität unter
nachidealistischen Bedingungen hin, das es noch zu entwickeln gelte.
Gerade das ist die argumentative Strategie der zweiten Lesart, die die negative Dialektik als Konstruktion des Rationalen deutet: Sie bestreitet die
reibungslose Isomorphie zwischen Tauschprinzip und Identitätsprinzip –
die sie in der Denkfigur der Ontologie des falschen Zustandes zusammengefasst sieht und die dem vollen Begriff der negativen Dialektik entspricht –,
und rettet modifizierend die negativ-dialektische Logik der kritischen
Selbstreflexion des Subjekts als Konstruktion eines Modells von Rationalität, das breiter ist als jenes, welches das theoretische Gefüge des Idealismus bereitstellte.
Die Idee der negativen Dialektik als Konstruktion des Rationalen
wurde zuerst von Herbert Schnädelbach in der Adorno-Konferenz 1983
entwickelt; seine Schülerin Anke Thyen hat sie dann ausgearbeitet. So
formuliert sie Schnädelbach:
Negative Dialektik als ‚Ontologie des falschen Zustandes‘ ist ein
Konzept, das man nicht retten kann. Es beruht auf einer ontologischen Interpretation von nur scheinbar widersprüchlichen Aussagenstrukturen inhaltlicher Rede, die dadurch zustande kommt, daß Adorno sie in ein ganz unmittelbares Abbildungs- oder zumindest
Isomorphieverhältnis zur Realität setzt (…). Adorno gelangt zu
dieser Überzeugung, weil er Idealismuskritik und Gesellschaftstheorie philosophisch mit einander identifizierte; Hegels absolute
Idee, die ihm als das Paradigma von ‚Identität‘ überhaupt erschien,
54
und die gesellschaftliche Totalität waren für ihn zwei Gestalten desselben Ganzen, das das Unwahre ist.73
So sei zwar der kategoriale Rahmen einer „Ontologie des falschen Zustandes“, der Inbegriff der Dialektik der Aufklärung, in der negativen Dialektik präsent; er sei aber vom Anliegen der negativen Dialektik, eine
„Konstruktion des Rationalen“ unter nachidealistischen Bedingungen zu
leisten, grundsätzlich trennbar. So gesehen verfüge die negative Dialektik
über ein breiteres Reflexionsniveau als die Dialektik der Aufklärung, und
sie falle nicht zwangsläufig unter deren Aporien, die sich auf die theoretische Figur einer Ontologie des falschen Bestehenden konzentrieren. Im
Gegenteil: Als eine „Konstruktion des Rationalen“ unter Bedingungen der
Spätmoderne sei die negative Dialektik, so die zweite Lesart weiter, als
„normativ gehaltvolle Logik des philosophischen Diskurses“74 überhaupt
zu deuten; sie vollziehe somit die Reflexion der Aporien der Dialektik der
Aufklärung implizit und sei diesen immanent überlegen. Zwar erkennt
diese Lesart die Wichtigkeit der kommunikationstheoretischen Wende an,
unterscheidet aber zugleich von der kommunikativen eine mit dieser
größtenteils unvereinbare dialektische Rationalität, die einen anderen Geltungsbereich habe und nicht reibungslos mit dem bewusstseinsphilosophischen Denkparadigma zu identifizieren sei. So sei die Wendung zur
Kommunikationstheorie innerhalb der Denktradition der kritischen Gesellschaftstheorie tatsächlich begründet durchgeführt worden, mit dem
Paradigmenwechsel seien aber wichtige Theoriepotentiale für eine kritische Theorie als Philosophie der Moderne verloren gegangen, die die negative Dialektik bereitstellt und die es kritisch wiederaufzugreifen gilt.
Mit Blick auf ihr konkretes theoretisches Gefüge ließen sich diese
beiden verschiedenen Lesarten so rekonstruieren, dass die erste mit einer
Reduktion von Identität auf Instrumentalität operiert, während die zweite
Identität und Instrumentalität qualitativ zu unterscheiden sucht. Die erste
vertritt insofern eine Reduktionismusthese, die zweite eine Differenzierungsthese von Identität und Instrumentalität. Damit ist der zweiten
Lesart zufolge die erkenntnistheoretisch angelegte Dialektik von Identität
und Nichtidentität, die die negative Dialektik im Geiste eines negativen
Hegelianismus entfaltet, von der geschichtsphilosophisch angelegten
Dialektik von Mythos und Aufklärung, die der Dialektik der Aufklärung
zugrunde liegt, wesentlich zu unterscheiden. Jene sei mit dieser keineswegs deckungsgleich, sondern vielmehr breiter angelegt und qualitativ
verschiedenartig. So ergibt sich die Möglichkeit, Rationalität als diskursive,
begriffsgeleitete Konstruktion innerhalb jener Dialektik von Identität und
Nichtidentität zu fassen und von einer Rationalität des Nichtidentischen
73
74
Schnädelbach (1985). S. 89.
Thyen (1989), S. 14.
55
bei Adorno zu sprechen, anstatt die negative Dialektik – wie die Dialektik
der Aufklärung – als zwangsläufig aporetisch deuten zu müssen. Anstelle
der zwangsläufigen und alles andere ausschließenden Wendung zur Kommunikationstheorie sind nun verschiedene Denkmodelle für eine kritische
Gesellschaftstheorie unter den Bedingungen der Spätmoderne möglich. So
schreibt Thyen am Schluss ihres Buches, das die zweite Lesart entfaltet:
Nach dem Gesagten möchte ich in bezug auf die Perspektiven der
kritischen Theorie vorschlagen, die Rationalität des Nichtidentischen (Adorno) und die Rationalität der Kommunikation (Habermas) – weitere Positionen sind denkbar – für zwei unterschiedliche
Geltungs- bzw. Aufgabenbereiche kritischen Denkens in Anspruch
zu nehmen. Und zwar so, daß die Erwartungen und die Forderungen an eine ‚Universaltheorie der Vernunft‘ unter Bedingungen der
Moderne einerseits nicht zu hoch angesetzt werden, andererseits
aber theoriefähig bleiben. Das Projekt der Moderne ist ein Theorieprojekt mit unterschiedlichen Aspekten – wie die Moderne
selbst. Die Einheit der Theorie in einem Prinzip zu suchen, wäre
dem inadäquat. Aspekte aber brauchen sich nicht notwendig auszuschließen. (…) Man braucht die Idee der Versöhnung nicht aufzugeben und kann trotzdem von Verständigung reden. Man kann bewußtseinsphilosophisch argumentieren, ohne Intersubjektivität als
leitendes Theoriemodell aufgeben zu müssen. Man kann über Sinn
als bewußtseinsfähigen Sinn sprechen und ihn doch idealtypisierend objektivieren. Man kann die klassische Vorstellung einer Subjekt-Objekt-Beziehung in Begriffen der Subjekt-Objekt-Dialektik
kritisieren, ohne sich methodologisch zu diskreditieren. – Und
man braucht dazu kein ‚prima paradigma‘.75
Diese Lesart weist manche Vorteile gegenüber der ersten auf. Sie fasst die
negative Dialektik insofern differenzierter auf, als sie sie nicht auf die
Denkfigur einer Ontologie des falschen Zustandes reduziert und die negativ-dialektische Identitätskritik als nicht deckungsgleich mit der Kritik
der instrumentellen Vernunft ansieht, sondern einen qualitativen Unterschied zwischen beiden erkennt. So gewinnt die negativ-dialektische Logik der Selbstreflexion eine gewisse Autonomie gegenüber der Konstruktion einer Ontologie des falschen Bestehenden. Das macht sie auch für
philosophische Themenbereiche relevant, die diese Ontologie transzendieren – was unter anderem beim Materialimusproblems der Fall ist. Darüber hinaus hinterfragt sie die eigentliche Grundlage der Ontologie des
falschen Zustandes – nämlich das Isomorphieverhältnis zwischen Identität und Tausch – und stellt deren Unzulänglichkeiten fest, die von der
ersten Lesart nicht weiter beachtet werden. All dies erlaubt es der zweiten
Lesart, eine differenziertere, weil pluralistischere Konzeption von kritischer Theorie zu entwickeln, die das Zusammenbestehen von verschiede75
56
Thyen (1989), S. 280.
nen Denkparadigmen und Denkmodellen je nach Themen- und Aufgabenbereichen zulässt.
Auf der anderen Seite ist die Dekonstruktion der Denkfigur einer
Ontologie des falschen Bestehenden, die die zweite Lesart durchführt, mit
dafür verantwortlich, dass die negative Dialektik zwar rehabilitiert, aber
nicht mehr in ihrem vollen Begriff erfasst werden kann. Als Konstruktion
von Rationalität unter Bedingungen der Spätmoderne bemüht sie sich um
die Entwicklung einer material gefassten Rationalitätskonzeption, die den
oft kritisierten Formalismus anderer Modelle der Kritischen Theorie wie
der Kommunikationstheorie zwar komplementiert, sich aber auf gewisse
Themenbereiche beschränken soll. Denn als Konstruktion von Rationalität bzw. als „normativ gehaltvolle Logik des philosophischen Diskurses“ ähnelt die negative Dialektik grundsätzlich einem kritischen sprachphilosophischen Verfahren, das von einer wie auch immer verfassten Texteinheit ausgeht und deren Begrifflichkeit mit dem zu konfrontieren sucht,
was man eine „vollere“ Erfahrung des Objekts nennen könnte. Der sozialphilosophische Ruf kritischer Theorie einschließlich ihrer praktischen
Tendenz erhält hier aber eine mittelbare, sogar sekundäre Rolle.
Beide Lesarten stimmen jedoch grundsätzlich darin überein, dass die
Zusammenführung von Identität und Instrumentalität, die ihrerseits die
Konstitution einer total gewordenen Vernunft- und Gesellschaftskritik in
Gestalt der negativen Dialektik ermöglicht, nicht konsistent bzw. erst
zum Preis von unüberwindbaren Aporien durchgeführt werden kann.
Auch die vorliegende Arbeit geht von dieser Diagnose aus; sie rekonstruiert die kritische Selbstreflexion des Subjekts anhand der Identitätsproblematik und reflektiert auf die Möglichkeiten, sie kritisch-materialistisch
umzudeuten. Zwar wird auch das gesellschaftskritische Denken für bestimmte argumentative Übergänge von Relevanz sein und entsprechend
thematisiert werden76. Doch im Grunde gehe ich im Folgenden von den
Resultaten der zweiten Lesart aus, die die negative Dialektik als eine Konstruktion des Rationalen expliziert.
76
§ 8 B.
57
§ 4. Subjektalismus, Korrelationismus
und Materialismus heute
Wir sahen, dass sich der Materialismus seit Ende der idealistischen Epoche
vor allem im deutschsprachigen Raum als zentraler Streitbegriff behaupten
konnte, der viele disparate Motivationen diffus zusammenbringt und so
das Gesicht des nachidealistischen Zeitalters tief prägt. Er steht seitdem
gewissermaßen im Zentrum ganz unterschiedlicher Debatten, die nicht
immer eine klare programmatische und konzeptionelle Einheit aufweisen,
doch zumindest einen gemeinsamen Gegner haben – den oft ebenso diffus
wie polemisch aufgefassten „Idealismus“. Angesichts der letzten Entwicklungen der sogenannten „kontinentaleuropäischen Philosophie“ ließe sich
nun die Hypothese aufstellen, dass die Ausbildung einer vergleichbaren
Tendenz auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu konstatieren sei. Von
object-oriented ontologies und ontological turns über naturalistisch angelegte Interpretationen der klassischen deutschen Philosophie und der Phänomenologie bis hin zu neuen Realismen und dem spekulativen Materialismus scheint das Panorama der zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Philosophie durch Tendenzen gekennzeichnet zu sein, die der Materialismusbegriff exemplarisch verkörpert77. Trotz manchmal eklatanter
Diskrepanzen zwischen den theoretischen Beiträgen, die an dieser Tendenz direkt oder indirekt beteiligt sind, hat man sie immer wieder unter
den gemeinsamen Begriff eines erneuten Materialismus und Realismus zu
bringen versucht. Dabei nehmen sie selbstbewusst Bezug auf ganz unterschiedliche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unternommene Versuche,
den Materialismus unter nachidealistischen Bedingungen neu zu fassen,
und reflektieren auf deren Grenzen. Entsprechend ist auch Adornos negative Dialektik Gegenstand der Auseinandersetzung geworden78.
Unter diesen Beiträgen sind die sogenannten spekulativen Materialismen und Realismen rasch in den Mittelpunkt gerückt. Es handelt sich um
Autoren verschiedener Provenienz und unterschiedlicher Traditionen – zu
nennen wären hier etwa Ray Brassiers radikaler Nihilismus, Graham
Harmans object-oriented ontology, Ian H. Grants spekulativer Naturalismus und Quentin Meillassoux spekulativer Materialismus –, die sich zunächst 2007 in London, dann 2009 in Bristol versammelt haben, um die
Richtlinien eines zeitgenössischen Materialismus und Realismus zu the-
77
78
58
Unter den Arbeiten, die diese noch laufende Wende dokumentieren, sind die folgenden zu nennen:Bryant/Srnicek/Harman (2011); Harman (2011); Johnston
(2012); Gabriel (2014).
Vgl. Brassier (2007), S. 32ff.; Morgan (2017).
matisieren79. Dabei dürfte ohne Zweifel das Werk Après la finitude von
Meillassoux als das wirkungsmächtigste anzusehen sein, das wiederholt –
und bereits sehr früh – im Rahmen der zeitgenössischen Philosophie als
epochemachend bezeichnet worden ist. Es versucht die Grundlinien und
die allgemeine Problemlage zu skizzieren, um den Rahmen abzustecken,
in dem sich der heutige Materialismus zu bewegen hat. Auch wenn die
anderen Autoren und Beiträge, die dieser neumaterialistischen Tendenz
zuzuschreiben sind, der Konzeption und der diagnostizierten Problematik
von Après la finitude nicht unmittelbar zustimmen, hat das Werk einen so
tiefgreifenden Einfluss ausgeübt, dass die Auseinandersetzung mit ihm
unabdingbar geworden ist. Im Folgenden rekonstruiere ich seine Position
in Bezug auf die Materialismusfrage.
Die gewaltige philosophische Geste von Après la finitude besteht hauptsächlich darin, dass es die Frage nach den Denkfähigkeiten zur Erfassung
eines Absoluten – bekanntlich das Hauptthema der klassischen deutschen
Philosophie – in aller Radikalität wieder ins Zentrum der philosophischen
Reflexion stellt. Meillassoux deutet die Miteinbeziehung des Subjekts in
den Erkenntnisprozess – die ihm zufolge zwar von Berkeley begonnen,
aber erst mit der kopernikanischen Wende Kants stringent durchgeführt
worden sei – als progressive Entabsolutierung der Denkfähigkeiten. So sei
Denken zu einem denk- bzw. subjektunabhängigen Absoluten grundsätzlich nicht mehr fähig, sondern lediglich zu einer denk- bzw. subjektkorrelativen Realität. Berkeley und – konsequenter – Kant hätten demgemäß
den Korrelationismus oder das Zeitalter der Korrelation als philosophische
Grundposition etabliert, der bis heute vorherrschend sei. Da der Korrelationismus das Denken letztlich entabsolutiere, unterminiere er tendenziell
die Grundlagen aller klassischen Materialismen, die das Denken traditionsgemäß als etwas ansähen, das zu einem subjekt-unabhängigen Absoluten – der Materie – grundsätzlich fähig war. Mit anderen Worten: Der
Korrelationismus, der in vielen Hinsichten mit einer dem Kritizismus und
der Transzendentalphilosophie verpflichteten Denkweise zusammenfällt,
ist eine philosophische Grundposition der unhintergehbaren Relationalität
von Denken und Sein. Dieser philosophischen Grundposition zufolge
seien beide lediglich in ihrem gegenseitigem Verhältnis zueinander erkennbar, erreichbar oder gar thematisierbar – gleichgültig letztlich, wie die
Termini konkret konzipiert werden. Meillassoux schreibt:
Ainsi, on pourrait dire que jusqu’à Kant un des principaux problèmes de la philosophie consistait à penser la substance, tandis
qu’à partir de Kant il s’est bien plutôt s’agit de penser la corrélation.
79
Die Beiträge wurden in der Zeitschrift Collapse veröffentlicht. 2010 wurde die
Zeitschrift Speculations für die weitere Entwicklung der so entstehenden Denkbewegung gegründet.
59
Avant le transcendantal, l’une des questions qui pouvait départager
de façon décisive les philosophes rivaux était: quel est celui qui
pense la véritable substance: est-ce le philosophe qui pense l’Idée,
l’individu, l’atome, Dieu – quel Dieu? Après Kant, et depuis Kant,
départager deux philosophes rivaux ne revient plus tant à se demander lequel pense la véritable substantialité, qu’à se demander
lequel pense la corrélation la plus originaire. Est-ce le penseur de la
corrélation sujet-objet, du corrélat noético-noématique, de la corrélation langage-référence? La question n’est plus: quel est le juste
substrat?, mais: quel est le juste corrélat?80
Wie die Idealismen sind auch nicht alle Korrelationismen gleich. In Après
la finitude schlägt Meillassoux vor, zwischen einem schwachen und einem
starken Korrelationismus zu unterscheiden. Zwar schränken beide die
Fähigkeit des Denkens ein, ein denkunabhängiges Absolutes zu erreichen;
sie unterscheiden sich aber zunächst hinsichtlich der Notwendigkeit und
der widerspruchsfreien Denkbarkeit eines derartigen Absoluten. Während
der schwache Korrelationismus – für den die kantische Philosophie paradigmatisch ist – ein subjektunabhängiges Absolutes für grundsätzlich
unerkennbar, doch zumindest für widerspruchsfrei denkbar und auch für
transzendentalphilosophisch notwendig hält, hält der starke Korrelationismus diese Unterstellung letztlich für sinnlos. Für ihn stellt die wie
auch immer verstandene Korrelation zwischen Sein und Denken die unhintergehbare Realität dar. Der absolute Idealismus ist nun in vieler Hinsicht eine Variante des starken Korrelationismus, der zwar die Fähigkeiten
des Denkens abspricht, ein denkunabhängiges Absolutes zu erreichen,
doch die Subjekt-Objekt-Korrelation selbst nicht nur für unhintergehbar,
sondern zudem für absolut erklärt. So fällt für ihn das Absolute mit der
Korrelation von Sein und Denken zusammen. Entsprechend sieht sich
Meillassoux mit der traditionellen Lesart der Entwicklungslogik des nachkantischen Idealismus darin einig, dass der schwache Korrelationismus,
der die widerspruchsfreie Denkbarkeit eines denkunabhängigen Absoluten anerkennt, konsistent und zwangsläufig zu dem starken Korrelationismus führen muss, der diese Möglichkeit bestreitet. So werde das korrelationistische Prinzip aufgrund seiner eigenen Konsequenz zum starken
Korrelationismus getrieben, der die bruchlose Sein-Denken-Korrelation
als letztliche und unüberwindbare Realität anerkennt.
Doch es gibt noch radikalere Varianten des starken Korrelationismus
hinsichtlich der Entabsolutierung, die sie vollziehen. Sie halten sogar die
(idealistische, oder wie Meillassoux es später nennen wird: subjektalistische 81 ) Behauptung der Absolutheit der Sein-Denken-Korrelation für
unbegründet und unmöglich, wenngleich sie auf der Unhintergehbarkeit
80
81
60
AF, S. 20.
Diese neue Terminologie hat Meillassoux später eingeführt. Vgl. Meillassoux (2012).
der Korrelation bestehen. Damit behaupten sie, dass die aktuelle SeinDenken-Korrelation ein unerklärbares, unbegründbares und somit kontingentes Faktum darstellt. Das ist für Meillassoux paradigmatisch bei dem
frühen Wittgenstein und dem späten Heidegger der Fall.
Gewiss stellt der Korrelationismus in all seinen Varianten einen philosophischen Gewinn gegenüber dem vorkorrelationistischen Denken dar:
Darin stimmt Meillassoux mit dem Kritizismus überein. Denn tatsächlich
ist das vorkorrelationistische Denken in seiner eigenen Konsequenz zu
der verhängnisvollen Alternative Dogmatismus oder Skeptizismus gelangen, wie Kant bekanntlich diagnostizierte. Es stellt sich aber laut Meillassoux die Frage, ob die kantische Lösung – nämlich: „der kritische Weg
ist allein noch offen“82 – der zwangsläufig einzige Weg sei, um dieser Alternative zu entkommen. Denn während der Korrelationismus von den
meisten Denkern praktisch für die einzige Möglichkeit des nachkantischen Philosophierens gehalten wird, der entsprechend das philosophische Panorama des 19. und 20. Jahrhunderts beherrscht hat und auch –
wie gesagt – einen nicht zu übersehenden philosophischen Gewinn gegenüber dem vorkorrelationistischen Denken darstellt, werden seine
Grenzen im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte immer sichtbarer.
Um diese Grenzen zur Sprache zu bringen und zusammenzufassen,
bezieht sich Meillassoux auf das Problem der Anzestralität. Dieses Problem wird angesichts bestimmter Aussagen aufgeworfen, die die modernen
Naturwissenschaften heutzutage mit großer Zuverlässigkeit aufstellen
können und die Zustände betreffen, die vor der Emergenz des Lebens, der
menschlichen Gattung und folglich des Bewusstseins stattgefunden haben.
Bei diesen anzestralen, naturwissenschaftlich verifizierbaren Aussagen
handelt es sich paradigmatisch um quantitativ formulierte Behauptungen
über den Ursprung des Weltalls, die Formierung der Erde, den Ursprung
des Lebens, der menschlichen Gattung (homo habilis) und dergleichen. So
sind die modernen Naturwissenschaften heute in der Lage, mit großer
Zuverlässigkeit realistisch angelegte Aussagen zu produzieren, die beispielsweise lauten: Die Erde entstand vor etwa 4,6 Milliarden Jahren. Nun
stellt Meillassoux angesichts derartiger anzestraler Aussagen die Frage:
„quelle interprétation le corrélationisme est susceptible de donner aux ennoncés ancestraux?“83. Gewiss ist sich der Philosoph dessen bewusst, dass sich
der Korrelationismus nicht um eine Infragestellung, sondern vielmehr um
eine transzendentalphilosophische Begründung der modernen mathematischen Naturwissenschaften bemüht. Ein Korrelationist könnte folglich
solchen Aussagen inhaltlich zustimmen, ohne die Validität der Vernunftkritik in Frage zu stellen – denn die Vernunftkritik untersucht gerade die
Möglichkeitsbedingungen jener Aussagen. Die Frage bleibt dennoch in
82
83
KrV, B 2888.
AF, S. 26.
61
folgendem Sinne bestehen: Könnte der Korrelationismus eine buchstäbliche, derart realistisch angelegte Interpretation dieser Sätze konsistent formulieren oder müsste er ihnen einen gewissen „transzendentalphilosophischen Zusatz“ hinzufügen? Meillassoux schreibt dazu:
Soit l’énoncé ancestral suivant : ‚L’événement x s’est produit tant
d’années avant l’émergence de l’homme‘. Le philosophe corrélationiste n’interviendra en rien sur le contenu de l’énoncé : il ne contestera pas que c’est bien l’événement x qui s’est produit, ni contestera la date de cet événement. Non : il se contentera d’ajouter –
mentalement peut-être, mais il l’ajoutera – quelque chose comme
un simple codicille, toujours le même, discrètement placé au bout
de phrase. A savoir : l’événement x s’est produit tant d’années avant
l’émergence de l’homme – pour l’homme (et même pour l’homme de
science). Ce codicille, c’est le codicille de la modernité : le codicille
par lequel le philosophe moderne se garde (ou du moins le croit-il)
d’intervenir en rien dans le contenu de la science, tout en préservant un régime du sens extérieur à celui de la science, et plus originaire que lui. Donc, le postulat du corrélationisme, face à un énoncé ancestral, c’est qu’il y a au moins deux niveau de sens dans un tel
énoncé : le sens immédiat, réaliste ; et un sens plus originel, corrélationnel, amorcé par le codicille.84
Denn tatsächlich implizierte eine buchstäbliche und realistische Interpretation der anzestralen Aussagen der Naturwissenschaften nichts weniger
als die Akzeptanz gewisser Konsequenzen, die den Kern der transzendentalphilosophischen Denkweise betreffen und dem Kritizismus sogar als
Absurditäten erscheinen müssten. Es handelt sich beispielsweise um folgende Konsequenzen:
- que l’être n’est pas coextensif à la manifestation puisqu’il s’est
produit dans le passé des événements ne se manifestant pour personne;
- que ce qui est a précédé dans le temps la manifestation de ce qui
est;
- que la manifestation est elle-même apparue, dans le temps et dans
l’espace – et qu’à ce titre la manifestation n’est pas la donation
d’un monde, mais plutôt elle-même un événement intramondain;
- que cet événement, en plus, peut être daté;
- que la pensée est donc en mesure et de penser l’émergence de la
manifestation dans l’être, et de penser un être, un temps, antérieur
à la manifestation;
- que la matière-fossile est la donation présente d’un être antérieur
à la donation, c’est-à-dire qu’un archifossile manifeste
l’antériorité d’un étant sur la manifestation.85
84
85
62
AF, S. 30–31.
AF, S. 31.
Angesichts des Problems der Anzestralität sieht sich der Korrelationist
also vor eine schwierige Alternative gestellt: Entweder fügt er den stark
realistischen Aussagen der Naturwissenschaften den transzendentalphilosophischen (korrelationistischen) Zusatz hinzu, dem zufolge sie nicht
buchstäblich, nicht realistisch, sondern lediglich vom Standpunkt des jetzt
erkennenden Menschen aus zu interpretieren seien, was letztlich die eigentliche Substanz dieser Aussagen relativiert; oder er interpretiert sie in
ihrer deutlich realistischen Dimension, was aber wiederum die Infragestellung der korrelationistischen Sichtweise impliziert. Daher kann Meillassoux so weit gehen zu behaupten, dass die Frage „à quelle condition un
énoncé ancestral conserve-t-il un sens?“ – nämlich: buchstäblich oder
transzendentalphilosophisch – eigentlich eine andere, tiefere Fragestellung
beinhaltet, nämlich: „comment penser la capacité des sciences expérimentales à produire une connaissance de l’ancestral? Car c’est bien, par le biais
de l’ancestralité, le discours de la science qui est ici en jeu, et plus spécialement ce qui caractérise un tel discours : sa forme mathématique“86.
Anders gesagt, hebt die Frage nach der Anzestralität ein seitens des
Korrelationismus und folglich aller der Transzendentalphilosophie
verpflichteten Sichtweisen schwer fassbares Rätsel hervor, nämlich: „la
capacité des mathématiques à discourir du Grand Dehours, à discourir d’un
passé déserté par l’homme comme par la vie“87. Dieses Rätsel zeigt für
Meillassoux unter anderem die Grenzen des Korrelationismus auf und
zugleich die Notwendigkeit, nachkorrelationistische Denkmuster zu erschließen, die aber dem Reflexionsniveau des Korrelationismus (und folglich auch des vorkritischen Materialismus) überlegen sind.
Gewiss bringt auch die Konstruktion des Problems der Anzestralität
seine ganz eigenen Schwierigkeiten mit sich. Man hat oft darauf hingewiesen, dass die Figur der Anzestralität unter anderem Geltung und Genese
vermenge und so den eigentlichen Charakter der Transzendentalphilosophie missverstehe. Zwar sucht Meillassoux auf diese Einwände zu reagieren und die Figur der Anzestralität konsistenter zu formulieren88. Er besteht aber immer wieder auf dem instrumentellen Charakter des Anzestralitätsproblems in seinem Denken: Es handle sich dabei bloß um eine philosophische Konstruktion, die die metaphysischen Probleme des Korrelationismus zusammenfassend zur Sprache bringen solle. Diese Probleme
wurden ihrerseits im Laufe der Denktraditionen von denen gesammelt
und bearbeitet, die Kant folgten und ihn zugleich kritisierten.
86
87
88
AF, S. 37.
AF, S. 37.
Vgl. Byant/Srnicek/Harman (2011), S. 84ff., 92ff. Meillassoux hat auf diese Kritik
in der englischen Ausgabe von Après la finitude Bezug genommen.
63
Der spezifische Lösungsvorschlag Meillassoux’ besteht darin, das kantische Diktum „Der kritische Weg ist allein noch offen“ in Frage zu stellen
und die Möglichkeit einer anderen Alternative als Skeptizismus, Dogmatismus oder Kritik zu entwickeln. Es handelt sich um den spekulativen
Weg. Im Einklang mit der klassischen deutschen Philosophie soll „spekulativ“ hier so viel bedeuten wie die Erstellung eines Absoluten im Allgemeinen. Doch dieses Absolute im Allgemeinen soll – im Gegensatz zur
metaphysischen Tradition – nicht ein absolut notwendiges Wesen und auch
nicht ein korrelatives Absolutes sein: „[N]ommons spéculative toute pensée prétendant accéder à un absolu en général; nommons métaphysique
toute pensée prétendant accéder à un étant absolu – ou encore prétendant
accéder à l’absolu via le principe de raison. Si toute métaphysique est par
définition spéculative, notre problème revient à établir qu’à l’inverse toute
spéculation n’est pas métaphysique : que tout absolu n’est pas dogmatique“89.
Die Radikalität des Meillassoux’schen Projekts wird tatsächlich erst
dann ersichtlich, wenn man die Möglichkeit eines nicht metaphysischen
Absoluten erfasst, das erstens vom Absoluten der Metaphysik grundverschieden und folglich nicht dogmatisch ist und das sich zweitens auch
nicht mit dem Absoluten des nachkantischen Idealismus gleichsetzen lässt
und folglich materialistisch – weil radikal denkunabhängig und nicht
denkkorrelativ – sein muss. Zu der Möglichkeit dieses nicht metaphysischen und materialistischen Absoluten ist der starke Korrelationismus, so
Meillassoux, eigentlich bereits vorgedrungen, ohne sich ihr aber wirklich
bewusst zu werden: Es handelt sich um die Absolutheit der Kontingenz, die
von dem starken Korrelationismus bereits als (absolutes doch unbewusstes, so Meillassoux) Prinzip zur Erfassung der eigenen Sein-DenkenKorrelation gesetzt wird:
[N]ous devons montrer que le cercle corrélationel – et ce qui en
constitue le nerf, à savoir la distinction de l’en-soi et du pour-nous –
présuppose lui-même, pour être pensable, qu’on ait admis implicitement l’absoluité de la contingence. Il nous faut plus précisément
démontrer que la facticité de la corrélation – sur laquelle repose
l’argument du cercle pour disqualifier aussi bien l’idéalisme que le
réalisme dogmatique – n’est pensable qu’à la condition d’admettre
l’absoluité de la contingence du donné en général. Car si nous arrivons à montrer que ce pouvoir-être-autre de toute chose est
l’absolu présupposé par le cercle lui-même, il sera avéré que la contingence ne peut pas être désabsolutisée sans que ce cercle
s’autodétruise – ce qui est une façon de dire que la contingence se
trouvera immunisée de l’opération de relativisation de l’en-soi au
pour-nous, propre au corrélationisme.90
89
90
64
AF, S. 47.
AF, S. 74f.
Auf die einzelnen Schritte, mit denen Meillassoux eine strenge Demonstration der Absolutheit der Kontingenz durchzuführen gedenkt, braucht
hier nicht näher eingegangen werden. Wichtiger ist es, sich abermals dem
Begriff des Materialismus zuzuwenden, der sich aus dem hier vorgestellten kategorialen Rahmen ergibt. Denn allein schon der konsistente Anspruch darauf, ein nicht metaphysisches und zugleich spekulatives, ein
nicht dogmatisches und zugleich materialistisches Denkprinzip zur Begründung eines erneuten Materialismus vorzuweisen, erlaubt es, die Geschichte und den Begriff des Materialismus differenzierter zu interpretieren. Zwar erkennt Meillassoux die oben vorgeschlagene Unterscheidung
zwischen klassischem und kritischem Materialismus an: Auch er ordnet den
klassischen Materialismus der Metaphysik grundsätzlich unter – sofern
beide auf der Setzung eines absolut notwendigen Wesens basieren – und
deutet den kritischen Materialismus als den Versuch, die Grundlinien des
Materialismus unter der Vernunftkritik und folglich dem Korrelationismus zu aktualisieren. Doch zugleich erlaubt es die Denkfigur eines spekulativen Materialismus, alle Materialismen, die noch im Horizont der Vernunftkritik stehen, unter dem Standpunkt der radikalen Schwächung von
deren Grundprinzipien und folglich als ein Problem zu betrachten. So
kann er in diesem Zusammenhang zwar das radikal subjektunabhängige
Wesen des klassischen Materialismus als Kriterium für jeglichen Materialismus wieder aufgreifen: Der Materialismus soll – mit Epikur – in der
Lage sein zu behaupten, „et que la pensée n’est pas nécessaire (quelque
chose peut être sans la pensée) et que la pensée peut penser ce qu’il doit y
avoir lorsqu’il n’y a pas de pensée“91. Doch zugleich kann Meillassoux
Anspruch darauf erheben, den dogmatischen Charakter des klassischen
Materialismus aufgrund der Absolutheit der Kontingenz zu umgehen und
so einen spekulativen Materialismus unter Bedingungen des nachmetaphysischen Denkens zu reformulieren.
91
AF, S. 50.
65
§ 5. Fazit
Die idealistische Identitätskrise der Philosophie, die vor allem in Deutschland infolge der radikalen Infragestellung der Hauptthesen des philosophischen Idealismus und mit diesem auch der westlichen Metaphysik
einsetzt, steht im Zusammenhang einer tiefen gesellschaftlichen, politischen und akademischen Umwälzung. Der Materialismus als Streitbegriff
erfährt dabei eine Art Wiedergeburt, wobei er verschiedenartige Interessen und Motivationen des nachidealistischen Zeitalters diffus zusammenbringt (§ 1). Mit dieser Wiedergeburt wird die Frage virulent, wie der
Materialismus, ein grundsätzlich voridealistisches und der Metaphysik
verpflichtetes Denkgebilde, unter nachidealistischen Bedingungen verfasst
sein soll. Das wirft das Problem eines kritischen Materialismus auf, das sich
aus der Frage nach seiner eventuellen Kompatibilität mit dem erkenntniskritischen Gewinn der idealistischen Philosophie ergibt (§ 2). Die kritische Gesellschaftstheorie, die unter den Bedingungen der Krise des Idealismus mit Marx anhebt, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Von
Marx über Horkheimer bis zu Adornos negativer Dialektik lässt sie sich
als Versuch interpretieren, den kritischen Materialismus endlich zum Begriff zu bringen. Die negative Dialektik tut dies auf der Grundlage einer
kritischen Selbstreflexion des Subjekts, wie sie sich anhand der Identitätskategorie in der neuzeitlichen Philosophie rekonstruieren lässt (§ 3). Der
Materialismus ist so bis heute Gegenstand von Auseinandersetzungen, die
ihn hauptsächlich vom Standpunkt seiner spekulativen Dimension aus
begreifen (§ 4).
66
Zweites Kapitel:
Identität und Nichtidentität
Das vorliegende Kapitel widmet sich dem zentralen Begriff der negativen
Dialektik: dem Identitätsbegriff. Auf eine systematische Einführung in die
Fragestellung des Kapitels (§ 6) folgt ein Überblick über die weit verzweigte, aber keineswegs unzusammenhängende Identitätsdebatte in der
Philosophie der Neuzeit. Er beginnt zunächst mit Leibnizens bekanntem
„Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ und Humes Kritik an der
Identitätskategorie und geht dann über zu Kants transzendentalphilosophischer Transformation der Identitätsfrage, um schließlich die Debatte
auch im nachkantischen Idealismus zu thematisieren, als dessen Höhepunkt Schellings und Hegels Identitätsformel angesehen wird (§ 7). Damit sind im Grunde die Voraussetzungen erfüllt, um die negativdialektische Identitätsfrage behandeln zu können. Nachdem sie anhand
der Denkfigur des Vorrangs des Objekts und ihrer gesellschaftstheoretischen Implikationen ausführlich präsentiert worden sind (§ 8), werden
die verschiedenen Behandlungen der Antinomienlehre seit der Kritik der
reinen Vernunft als Vergleichsmaßstab herangezogen, der eine Gegenüberstellung von Kant, Hegel und Adorno erlaubt (§ 9). Damit erhebt das
Kapitel den Anspruch, die Grundoperation der negativen Dialektik an die
Denktradition der Philosophie der Neuzeit – vor allem Kant und Hegel –
anzuknüpfen und mittels des von dieser bereitgestellten Instrumentariums näher darzulegen.
69
§ 6. Identität und Nichtidentität:
systematische Einführung
Bestimmte Aspekte des Identitätsproblems können zunächst aus alltäglichen Verwendungsweisen des Identitätsprädikats abgeleitet werden. Betrachten wir beispielsweise folgende sprachliche Konstruktionen aus dem
Alltag:
1. „Robert und Kristin haben eine identische Schale.“
2. „Der Spaziergänger fand am Tatort einen identischen Ring wie
den, den Karl bei seinem Tod getragen hat.“
3. „Beide Autos haben identische Leistungen aufgewiesen.“
4. „Die Bücher sind identisch, es handelt sich bloß um eine digitale und eine analogische Auflage.“
Auch wenn derartige Konstruktionen im Alltag problemlos verwendet
werden, ist der Sinn, der mit ihnen normalerweise gemeint ist, bei näherer
Betrachtung erklärungsbedürftig. Bedeutet das Identischsein in Satz (1)
nichts anderes als bloße Ähnlichkeit? Denn um eine numerische Identität
kann es hier sicherlich nicht gehen, da es sich offensichtlich um zwei Objekte handelt; die Annahme, sie seien in all ihren physikalischen Eigenschaften miteinander tatsächlich identisch, erscheint sogar dem gesunden
Menschenverstand schlicht widersinnig. Ist dieses Identischsein dann
lediglich eine sprachliche Äquivokation? Das Identischsein in Satz (2)
deutet hingegen auf eine numerische Identität hin: Es wird vermutet, dass
der Spaziergänger den einen Ring gefunden hat, der Karl bei seinem Tod
gehörte. Was bedeutet nun, dass ein Gegenstand identisch mit sich selbst
ist? Ist hier der Erkenntnisgewinn nur den verschiedenen Kontexten zuzurechnen? Das Identischsein in Satz (3) scheint seinerseits einer Eigenschaft zu entsprechen, die beide numerisch unterschiedlichen Objekte
besitzen. Kommt dann das Identischsein einer quantitativen Kommensurabilität gleich? Welche Identitätskriterien werden hier angewendet?
Braucht Identität überhaupt Kriterien? Wie sind sie zu formulieren? Das
Identischsein in Satz (4) schließlich dürfte Inhaltliches, gar Substantielles
betreffen, das die Äußerlichkeiten, wie den materiellen Träger des Gegenstandes, gegenüber seinem Wesen irrelevant macht, das ja in beiden Fällen
dasselbe bleibt. Aber kann das Wesentliche eines Gegenstandes von seiner
materialen Erscheinungsform unabhängig sein?
Das sind nur einige Fragestellungen, die aus der durchaus alltäglichen
Verwendung des Identitätsprädikats erwachsen und zugleich philosophische Probleme aufwerfen. Diese vermehren sich noch, wenn eine andere
wesentliche Dimension des Identitätsbegriffs betrachtet wird, die sich
71
auch in alltäglichen Zusammenhängen lokalisieren ließe. Gemeint ist die
Identität einer Person im Gegensatz zu der eines Objekts. Hier sind Fragestellungen zur formalen Individuation relevant, etwa wenn man in moralischen Zusammenhängen untersucht, was eine Person von einem Ding
unterscheidet und warum ihr als solcher eine Würde zukommen soll.
Dabei sind ihre einzigartige Körperlichkeit und ihre geistigen Eigenschaften, ihr personales Selbstverständnis, ihre kontinuierlichen Erinnerungen
durch die Zeit hindurch mögliche Kandidaten für eine derartige Individuation von Personen im Gegensatz zu der von Objekten. Doch sie alle
haben problematische Seiten: Zum Beispiel kann sich die körperliche Verfasstheit einer Person drastisch ändern, ohne dass dies ihre persönliche
(Selbst-)Identität berühren muss; oder ihr Selbstverständnis kann gründlich umformuliert werden, sodass man sogar von der Suche, der Gewinnung und der Behauptung der eigenen Identität sprechen kann. Hier verlässt man den Bereich der formalen Individuation und berührt ichtheoretische und psychologische, möglicherweise auch soziale und anthropologische Dimensionen der Identität. Klar wird auch, dass die Identitätsproblematik tief im Alltagsleben verwurzelt ist und in transdisziplinären Wissenschaftsbereichen ganz unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Bei all
dem stellt sich die Frage, ob es sich bei diesen zum Teil sehr verschiedenen
Identitätsattributen um ein und dieselbe Identität handelt und wie sie
überhaupt zusammenhängen.
Bei ihren begriffsexplikativen Bemühungen sind den Philosophen
diese großen Ambivalenzen im Identitätsbegriff nicht entgangen. „It is
certain there is no question in philosophy more abstruse than that concerning identity, and the nature of the uniting principle, which constitutes
a person“, schreibt Hume, der sich mit der Identitätsfrage intensiv
auseinandergesetzt hat. „So far from being able by our senses merely to
determine this question“, fährt er fort, „we must have recourse to the
most profound metaphysics to give a satisfactory answer to it“92. Dementsprechend unterscheiden die meisten Überblicke mindestens zwischen
zwei oder drei verschiedenartigen Identitätsbegriffen, ohne eine explizite
Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Beispielsweise schlagen einflussreiche Lexika und Wörterbücher vor, zwischen formallogischer, ontologischer, ichtheoretischer und erkenntnistheoretischer Identität zu unterscheiden; viele führen einen weiteren, rein logischen Identitätsbegriff ein,
der meist mit dem identifizierenden Urteilen zusammenfällt. Auch ist
eine Klassifikation von differenten, oft nicht ohne Weiteres miteinander
zu versöhnenden Identitätsbegriffen anhand philosophischer Disziplinen
wie Logik, Ontologie, Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie, Meta-
92
72
Hume (2007), S. 123
physik und Sozialphilosophie zu finden93. Es scheint also ein impliziter,
unthematisierter Konsens zu herrschen, dem zufolge „Identität“ ein umfassender Oberbegriff ist, in Bezug auf den keine streng einheitliche Behandlung stattfinden kann. Die oben gestellte Frage sollte daher vielleicht
anders gestellt werden: Wie lässt sich Identität theoretisch begreifen? Ist
eine Theorie der Identität überhaupt möglich, die ihre verschiedenen Auffassungen konsistent und einheitlich zu entfalten vermag? Oder drastischer: Lässt sich Identität als theoretischer Gegenstand systematisch behandeln?
Angesichts des bisherigen Fehlens einer konsistenten philosophischen Theorie der Identität und der Wichtigkeit dieses Konzepts für verschiedene wissenschaftliche Bemühungen werden diese Fragen immer
wieder aufgeworfen. Dieter Henrich beispielsweise ist davon ausgegangen,
dass eine noch zu formulierende Theorie der Identität einen wenn nicht
systematischen, so doch zumindest vereinheitlichenden Ansatz des Identitätsproblems liefern sollte. Henrich ist sich dabei von Anfang an darüber
im Klaren, dass es derzeit – er schrieb dies 1979 – „keine Publikation
[gibt], nicht einmal in den Lexika, mit deren Hilfe es möglich ist, Übersicht über die verzweigte Problematik zu gewinnen, welche eine Theorie
der Identität zu lösen hat“94. Er selbst bietet keine derartige Theorie im
strengen Sinne an, sondern liefert eine Übersicht über die Identitätsproblematik in ihren grundlegenden Dimensionen. Manfred Frank teilt Henrichs Diagnose über die Komplexität der Identitätsproblematik, scheint
jedoch die kontroverse Frage zu verneinen, ob die verschiedenen Identitätsbegriffe einen zumindest vereinheitlichenden Ansatz überhaupt zulassen. So unterstellt auch Frank, dass der Identitätsbegriff „zu den dunkelsten des philosophischen Vokabulars gezählt werden muss“ 95 . Auch bei
denjenigen Autoren, die sich dem kategorialen Rahmen der sogenannten
„analytischen Philosophie“ verpflichtet fühlen, findet die Identitätsproblematik große Aufmerksamkeit. Die Arbeiten zu dieser Thematik im Feld
der analytischen Philosophie sind jedoch bereits unüberschaubar96.
Als „eine gigantische Polemik gegen die gesamten Wirkungen des Identitätsprinzips sowie eine Analyse der Funktion des Identitätsprinzips im
westlichen Rationalismus“ 97 greift auch die negative Dialektik in diese
93
94
95
96
97
Hierzu konsultierte Lexika und Wörterbücher sind: Edwards (1972); Foulquié
(1986); Audi (1995); Sandkühler (2010).
Henrich (1979), S. 133.
Frank (2013), S. 234.
Vgl. beispielsweise die Sammelbände Munitz (1971) und Lorenz (1982).
„On peut dire que Dialectique négative est une gigantesque polémique contre les
effets d’ensemble du principe d’identité, en même temps qu’une analyse de la fonction du principe d’identité dans le rationalisme occidental“. Badiou (2005).
73
Debatten ein. In ihr nimmt „Identität“ – ebenso wie ihr Gegenpart: die
Nichtidentität – in ihrer konstitutiven Vieldeutigkeit eine zentrale Stellung ein. Denn „Identität“ und „Nichtidentität“ stellen in erster Linie das
Hauptmittel dar, mittels dessen Adorno die Konstitution, die Vermittlung
und das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt philosophisch reflektiert. Der Begriff erhält bei ihm hauptsächlich formallogische (A = A),
ontologische (Identität eines Dinges), ichtheoretische (Ich-Identität) und
vermittlungstheoretische (Identität von Subjekt und Objekt) Dimensionen98. Doch darüber hinaus ist Identität auch die Grundkategorie, anhand
derer Adorno verschiedenartige Dimensionen einer kritischen Theorie
miteinander zu verbinden und so deren vollen Anspruch als vermittelnde
Erkenntniskritik und zugleich Gesellschaftskritik einzulösen sucht. Aus
diesem Grund geht der Identitätsbegriff bei Adorno weit über die rein
philosophischen Bedeutungsebenen der Identität hinaus und gewinnt
gesellschaftstheoretische, anthropologische und geschichtsphilosophische
Bestimmungen hinzu. Es ist in diesem Sinne wohl aufgrund seiner konstitutiven Vieldeutigkeit, dass der Identitätsbegriff bei Adorno so verschiedene Theoriestränge tendenziell zu integrieren vermag, was aber, wie zu
zeigen sein wird, nicht immer unproblematisch ist99.
Zu diesem Zweck möchte ich als These formulieren, dass die verschiedenen Dimensionen der Identität in der negativen Dialektik sich erst
ausgehend von der streng philosophischen Problematik erschließen lassen,
da die außerphilosophischen Bedeutungen der Identität bei Adorno im
Grunde in einem isomorphen Verhältnis zu den philosophischen stehen
und nur aus diesen explizierbar sind. Adorno selbst gibt explizit Anlass zu
dieser These, wenn er behauptet, dass die Grundoperation der negativen
Dialektik von Hegel beinahe erreicht worden sei: „Das Verwiesensein von
Identität auf Nichtidentisches, wie Hegel beinahe es erreichte, ist der
Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie“100. So liefert das spezifische
Instrumentarium der neuzeitlichen Philosophie, das sich weitgehend an
den Bestimmungen der Identität abgearbeitet hat, aufgrund seiner eigenen
Konsequenz selbst die Denkmittel für die Operation, die die negative
Dialektik methodisch entfalten will. Entsprechend gibt der nächste Abschnitt einen historiographisch breit angelegten Überblick über den Identitätsbegriff in der Neuzeit, um dann zur Problematik bei Adorno überzugehen. Dabei werde ich den Identitätsbegriff in seiner konstitutiven
Problemhaftigkeit und Vieldeutigkeit behandeln, so wie ihn auch die negative Dialektik fasst. Von Leibniz bis Hume sind hauptsächlich drei Aspekte des Identitätsbegriffs zentral: der formallogische, der ontologische und
98
99
100
74
GS6, S. 145, Fußnote 2.
Diese Probleme betreffen hauptsächlich den Versuch der negativen Dialektik,
Identität als Übergangskategorie zu fassen. Vgl. unten § 6 B.
GS6, S. 126–127.
der ichtheoretische. Ab Kant und vor allem in den Denksystemen des
Deutschen Idealismus gewinnt seine vermittlungstheoretische Dimension
die Oberhand, die ihrerseits auch für den Materialismus von zentraler
Bedeutung sein wird. Diese historiographisch angelegte Darstellung des
Identitätsbegriffs soll eine solide Basis zur Auseinandersetzung mit der
immer wieder verwirrenden Identitätsfrage in der negativen Dialektik
schaffen.
75
§ 7. Das Identitätsproblem in der neuzeitlichen
Philosophie: ein Überblick
A. Das Identitätsproblem bei Leibniz und Hume
Wohl ohne Ausnahme sind sich die Philosophen und Philosophiehistoriker, die sich mit dem philosophischen Identitätsproblem befassen, darin
einig, dass Leibniz den ersten wirkungsmächtigen Versuch unternommen
hat, eine gewisse Systematik und Klarheit in die Verwendung des obskuren Identitätszeichens zu bringen. Gewiss war beispielsweise der Satz der
Identität (principium identitatis), demzufolge jedes Einzelne mit sich
selbst identisch sei, seit der Antike bekannt. Er wird meistens als A = A
wiedergegeben und fungiert traditionsgemäß neben dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten als eines der drei
klassischen Denkgesetze, die allem Denken, allem Diskurs und wohl allem Sinn zugrunde liegen. Wie aber der Satz methodisch zu verwenden
und analytisch auszudifferenzieren sei, wie das Identitätszeichen und das
Identitätsprädikat selbst zu deuten seien, dürfte bis Leibniz größtenteils
in systematischem Dunkel verharrt haben.
Leibniz präsentiert in seinem 1686 publizierten Discours de métaphysique das Prinzip, das dann als das „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ (principium identitatis indiscernibilium) große – und kontroverse – philosophische Karriere gemacht hat. In seiner ursprünglichen
Formulierung besagt das Prinzip nämlich, „qu’il n’est pas vray que deux
substances se ressemblent entierement [c’est-à-dire selon toutes leurs
dénominations intrinsèques], et soyent differentes solo numero“101. Das
Prinzip unterstellt mit anderen Worten, dass dann, wenn alle Eigenschaften von zwei natürlichen Substanzen identisch sind, sie auch numerisch
identisch sind. Einfacher gesagt: Qualitative Identität (Gleichheit aller
Eigenschaften von zwei Substanzen) impliziert notwendigerweise numerische Identität. Mit vergleichbaren Formulierungen ist das Prinzip auch
einige Jahre später in der Monadologie (§ 9) und in den Nouveaux Essais
vorgestellt worden.
Bereits aus der angeführten Definition lässt sich ersehen, dass das
Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren zum Begriff der (numerischen) Identität aufgrund des Begriffes der Eigenschaft gelangt, mit dem
es immanent verbunden ist: Wenn a und b dieselben Eigenschaften besitzen, dann sind a und b numerisch identisch. Wesentlich für die Interpretation und Kritik des Prinzips wird folglich sein, wie der Begriff von Eigen101
76
Leibniz (2002), § 9. Frank (2013) versucht, das Prinzip anhand von Begriffen der
Prädikatenlogik zu formalisieren: (a)(b)[ F(Fa ↔ Fb) ↔ (a = b)], wo a und b für
Individuen und F für Eigenschaften stehen.
schaft zu definieren ist. Anders als normalerweise unterstellt wird, geht
Leibniz selbst von diesem (metaphysisch gewendeten) Prinzip aus, um die
prinzipielle Einmaligkeit aller natürlichen Substanzen, die er später als
einzigartige Monaden deuten wird, zu behaupten. Leibniz hat es also im
Grunde als Individuationsprinzip verwendet: Das Individuum ist demgemäß die einmalige, wohl mathematisch beherrschbare Kombination der
Instantiierung von Prädikaten.
Dies dürfte auch erklären, warum das Prinzip so oft missverstanden
und umformuliert worden ist. Eine bekannte Ableitung des Prinzips wurde
das „Prinzip der Ununterscheidbarkeit von Identischem“ benannt, im
Grunde eine Umkehrung des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren. Es besagt, dass zwei Dinge dann identisch sind, wenn sie dieselben
Eigenschaften besitzen102. Beide Wendungen des Prinzips werden oft mit
einander verwechselt und undifferenziert „Leibniz-Gesetz“ bzw. „LeibnizLaw“ genannt, obwohl sie streng voneinander unterschieden werden müssen. Das erste Prinzip gilt schon immer als äußerst kontrovers, während
das zweite meist problemlos akzeptiert wird.
Nach den angeführten Definitionen beider Prinzipien besteht kein
Zweifel, dass sie natürliche Substanzen („deux substances“; „zwei Dinge“)
betreffen und folglich einen ontologischen Inhalt besitzen. Leibniz hat
jedoch auch logische, genauer: semantische Wendungen des Prinzips formuliert, die im Grunde keine Substanzen, sondern die Satz- bzw. die Urteilsform betreffen. So konzipiert besagt es, dass zwei sprachliche Ausdrücke miteinander identisch sind, wenn sie in Sätzen ohne Verlust des
Wahrheitswertes (salva veritate) sich wechselseitig ersetzen können103. Die
Ambivalenzen zwischen Semantik und Ontologie finden sich damit auch
in Leibnizens Behandlung der Identität, wie sie überhaupt das philosophische Identitätsproblem seit seinen Ursprüngen stets begleitet haben. Bis
Schelling und Hegel bleibt Identität derart ambivalent, auch wenn die
Begriffe von Ontologie und Semantik bei Kant, wie noch zu rekonstruieren sein wird, eine grundlegende Transformation erfahren. Frank schreibt:
„Schelling und Hegel jedenfalls übernehmen Leibnizens Schwanken zwischen Semantik und Ontologie, indem sie bald Subjekt und Prädikat, bald
Subjekt und Objekt durch das ‚ist‘ identifiziert glauben“ 104 . Man kann
wohl vermuten, dass dieses Schwanken innerhalb der rationalistischen und
idealistischen Denkmodelle nicht zu vermeiden ist, sofern sie das wie auch
immer vermittelte Zusammenfallen von Denken und Sein als unhinter-
102
103
104
Formal ließe sich dies auch in der Umkehrung der obigen Formalisierung angeben:
(a)(b)[(a = b) ↔ F(Fa ↔ Fb)]. In natürlicher Sprache: Für alle a, für alle b, wenn
a und b identisch sind, dann für alle F ist Fa identisch mit Fb.
Vgl. Frank (2013), S. 235.
Frank (2013), S. 234.
77
gehbare Bedingung des Philosophierens vertreten. Darauf wird im Folgenden zurückzukommen sein.
Die englischsprachige Philosophie zur Zeit von Leibniz war exemplarisch
darum bemüht, den damaligen kategorialen Rahmen der neueren Philosophie, der noch Reste der Scholastik enthalten durfte, durch ein wissenschaftlich-empiristisch, nominalistisch und weitgehend skeptisch informiertes Instrumentarium zu ersetzen. Ohne Zweifel war dabei die metaphysisch konzipierte Kategorie der Substanz ein gemeinsamer Kritikpunkt der philosophischen Bemühungen, die von Hobbes über Locke bis
Hume reichten. Im Allgemeinen trugen sie weitreichend dazu bei, die
„Reduktion der Rolle des Substanzbegriffes in unserer Weltvorstellungen“105 zu verstärken. Sie trafen somit auch den Kern der Leibniz’schen
Identitätslehre, die in vieler Hinsicht weiterhin der Kategorie der Substanz verpflichtet war. Die faszinierende Identitätsdebatte, die die englischsprachige Philosophie in dieser Epoche beherrschte, drehte sich im
Grunde um die folgenden Fragestellungen: Verzichtet man konsequent
auf metaphysische und substanztheoretische Erklärungsmodelle, die keine
Rechtfertigung und Legitimation in der empiristisch konzipierten Erfahrung finden, dann erscheint die Frage nach der Identität, die ja auf eine
Relation zwischen zwei im Grunde verschiedenen, doch gleichzusetzenden Relata hinzuweisen scheint, als höchst rätselhaft; woher stammt also
die menschliche Vorstellung von Identität (sowohl eines Gegenstandes als
auch einer Person)? Lässt sich diese Frage ohne substanztheoretische
Erklärungsversuche sinnvoll beantworten? Ist Identität nicht vielmehr
eine bloße Fiktion?
Es war wohl David Hume, der die radikalsten und wirkungsmächtigsten Konsequenzen aus diesen Fragestellungen zog. Seine Argumentation
ließe sich mit Blick auf die Identitätsproblematik so zusammenfassen: Da
Identität eine zweiseitige Beziehung von etwas zu etwas meinen muss,
wovon Leibniz in seinem Prinzip noch ausging, kann einem Einzelnen
zwar Einheit durch verschiedene Zeitpunkte hindurch, wohl aber nicht
Identität im strengen Sinne zugesprochen werden. Die Aussage, dass ein
Ding „mit sich selbst“ identisch sei, ist für Hume tautologisch und nichtssagend, sofern der mit dem Reflexivpronomen bezeichnete Gegenstand
nicht in mindestens einer Hinsicht „von sich selbst“ verschieden ist. Mehreren Gegenständen kann per definitionem ebenso keine Identität miteinander zugesprochen werden, da die Erfahrung grundsätzlich von ihrer
Zahl und raumzeitlichen Positionierung abhängt. Hume schreibt:
As to the principle of individuation; we may observe, that the view
of any one object is not sufficient to convey the idea of identity.
105
78
Henrich (1979), S. 139.
For in that proposition, an object is the same with itself, if the idea
expressed by the word, object, were no ways distinguished from
that meant by itself; we really should mean nothing, nor would the
proposition contain a predicate and a subject, which however are
implyed in this affirmation. One single object conveys the idea of
unity, not that of identity.
On the other hand, a multiplicity of objects can never convey this
idea, however resembling they may be supposed. The mind always
pronounces the one not to be the other, and considers them as
forming two, three, or any determinate number of objects, whose
existences are entirely distinct and independent. Since then both
number and unity are incompatible with the relation of identity, it
must lie in something that is neither of them. But to tell the truth,
at first sight this seems utterly impossible. Betwixt unity and number there can be no medium; no more than betwixt existence and
nonexistence. After one object is supposed to exist, we must either
suppose another also to exist; in which case we have the idea of
number: Or we must suppose it not to exist; in which case the first
object remains at unity.106
Bekanntlich löst Hume sein Problem mithilfe des (teilweise umformulierten) Begriffes der Dauer (duration): Unsere Vorstellung von Identität
charakterisiert er grundsätzlich als eine Fiktion, die von der Unveränderlichkeit (invariableness) und der Beständigkeit (uninterruptedness) eines
betrachteten Dinges durch das Zeitkontinuum hindurch stammt. Genauer
gesagt gibt uns die Unveränderlichkeit eines Gegenstandes nichts anderes
als die allgemeine Vorstellung einer numerischen Selbigkeit (number) und
die Beständigkeit bloß diejenige der Einheit. Unsere (fiktive, doch starke)
Vorstellung von Identität selbst wird aus diesen beiden anderen Vorstellungen abgeleitet und zusammengesetzt, sie ist aber mit ihnen nicht
gleichzusetzen: „Here then is an idea, which is a medium betwixt unity
and number; or more properly speaking, is either of them, according to
the view, in which we take it: And this idea we call that of identity“107. Es
ist bereits philosophiegeschichtlich dokumentiert worden108, dass Hume
somit als Erster das identitätskritische Argument formuliert hat, das später von Clarke, Kant, Pierce, Wittgenstein und anderen Philosophen mit
Variationen übernommen wurde. Am bündigsten formuliert hat es wohl
Wittgenstein, der „Identität“ ebenfalls für eine nutzlose Fiktion hält: „Beiläufig gesprochen: von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein
Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar
nichts“109.
106
107
108
109
Hume (2007), S. 133.
Hume (2007), S. 134.
Vgl. Frank (2013), S. 234, Fußnote 4.
Wittgenstein (2003), Satz 5.53ff.
79
Eine ebenso geschickte und einflussreiche Argumentationslinie entwickelt Hume hinsichtlich der ichtheoretischen bzw. personalen Identität.
Sie besagt: Die Vorstellungen einer Person bilden zwar einen komplexen
Assoziationszusammenhang, der aufgrund bestimmter Regeln strukturiert zu sein scheint und sich deshalb empiristisch untersuchen lässt; über
diesen rein bewusstseinsimmanenten Assoziationszusammenhang hinaus
kann aber nichts herausgefunden werden, das die Rede von einer Identität
der Person im strengen Sinne erlauben würde. Keine Substanz, kein die
Vorstellungsassoziation „transzendierendes“ Gebilde, kein wie auch immer konzipierter Träger der eigentlichen Vorstellungen befindet sich „jenseits“ dieses Assoziationszusammenhangs. So ist für Hume auch die Vorstellung unseres geistigen Lebens als eine Identität eine Fiktion; der Philosoph kann aber nicht präzise angeben, woher sie in diesem Fall stammt
und warum wir unserem Vorstellungsleben diese vermutlich starke Einheitlichkeit nicht abzusprechen vermögen. Damit sieht Hume ein wesentliches Problem für die Philosophie aufgeworfen.
War das Leibniz’sche „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ noch als Individuationsprinzip – wenn auch ambivalent – aufzufassen
und so für eine Ontologie natürlicher Gegenstände prinzipiell tauglich, so
weist die empiristische Kritik der ontologisch konzipierten Identitätskategorie als Fiktion bei Hume dies nun zurück. Was die Ontologie angeht,
kann die so entlarvte Identität höchstens eine Rolle im Bereich der relation
of ideas spielen. Ebenso wenig ist sie für Hume eine ausgezeichnete Kategorie, von der aus wir die anscheinend einzigartige Einheitlichkeit unseres
Vorstellungslebens verstehen könnten. Es ist daher nicht übertrieben,
wenn Adorno behauptet, dass Humes kritische Revision der Identitätskategorie wesentlich zu einer tendenziellen Abschaffung sowohl des ontologisch konzipierten Dinges als auch der Ichsubstanz beigetragen hat 110 .
Dies führt nämlich zu der radikalen Infragestellung des ursprünglichen
kategorialen Rahmens der neuzeitlichen Philosophie, der mit Descartes
errichtet wurde, hier aber nun an seine Grenzen zu stoßen scheint.
110
80
GS6, S. 188; GS3, S. 40.
B. Identität bei Kant
Sowohl mit Blick auf die ontologische als auch auf die ichtheoretische
Identität war Kant von der Hume’schen Problemlage bestimmt. Was die
ontologische Identität betrifft, so wendet sich auch Kant explizit gegen
Leibnizens „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“, indem er
diesem die aus der transzendentalen Reflexion stammende Unterscheidung zwischen numerischer und begrifflicher Differenz entgegensetzt. Im
Geiste Humes argumentiert Kant, dass Dinge bereits durch ihre verschiedenen Stellungen im Raum voneinander numerisch verschieden seien,
auch wenn man von allen ihren „prädikativen“ („begrifflichen“) Eigenschaften absehe. Es ist in diesem Sinne keine wie auch immer konzipierte
Prädikationstheorie, die für die Individuationsfrage entscheidend ist, wie
Leibniz’ Prinzip impliziert. Vielmehr ist für Kant die phänomenale Positionierung des Dinges im Anschauungsfeld wesentlich für dessen Individuierung. Diese Unterscheidung wird durch die transzendentale Reflexion
geleistet, sofern sie die Erkenntnis der Dinge im Raum – abermals anders
als Leibniz – nicht als noumena, sondern als phaenomena betrachtet. Kant
erläutert:
So kann man bei zwei Tropfen Wasser von aller innern Verschiedenheit (der Qualität und Quantität) völlig abstrahieren, und es ist
genug, daß sie in verschiedenen Örtern zugleich angeschaut werden, um sie für numerisch verschieden zu halten. Leibniz nahm die
Erscheinungen als Dinge des reinen Verstandes (ob er gleich, wegen der Verworrenheit ihrer Vorstellungen, dieselben mit dem Namen der Phänomene belegte,) und da konnte sein Satz des Nichtzuunterscheidenden (principium identitatis indiscernibilium) allerdings nicht bestritten werden; da sie aber Gegenstände der Sinnlichkeit sind, und der Verstand in Ansehung ihrer nicht von reinem,
sondern bloß empirischem Gebrauch ist, so wird die Vielheit und
numerische Verschiedenheit schon durch den Raum selbst als die
Bedingung der äußeren Erscheinungen angegeben.111
Im Gefolge Humes erfolgt bei Kant dementsprechend eine konsistente
Verlagerung der Identitätskategorie von der Ontologie auf die Logik.
Dabei trifft Kant nicht nur Leibnizens, sondern auch Wolffs Projekt, dessen Ontologie bekanntlich mit Denkprinzipien wie dem Widerspruchsprinzip und dem Prinzip des zureichenden Grundes beginnt, um erst dann
zur Erläuterung des formell und sehr weiten aufgefassten Seienden („ens“)
vermittels der Analyse von Begriffspaaren wie „possibilis et impossibilis“,
„determinatus und indeterminatus“, „idem und diversum“ zu gelangen112.
Bei Wolff handelt es sich um die Verwendung eines Grundsatzes der Er111
112
KrV, A263–264 | B319–320.
Ficara (2006), S. 98.
81
kenntnis als ontologisches Prinzip, dem alles Seiende gehorchen muss: Es
sei ein Irrtum zu glauben, dieser Grundsatz „gehöre [laut Wolff] schlicht
zur subjektiven Logik“113, wie Pichler schreibt. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, der so eine ontologische Auffassung von Identität
impliziert, soll ein Grundgesetz aller Dinge sein – dass sie nicht zugleich
sein und nicht sein können, sofern sie Dinge sind – und nicht bloß eine
Norm des (korrekten) Denkens darstellen.
Gegen diese stark ontologische Auffassung von Identität behauptet
Kant nun unzweideutig, dass „im Grunde betrachtet (…) diese Begriffe in
die Logik gehören“114. Diese Aussage erfolgt im Rahmen einer strukturellen architektonischen Transformation der Ontologie in der Analytik des
Verstandes:
Die transzendentale Analytik hat demnach dieses wichtige Resultat:
daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form
einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren, und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung
sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen
uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten
könne. Seine Grundsätze sind bloß Prinzipien der Exposition der
Erscheinungen, und der stolze Name einer Ontologie, welche sich
anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori
in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz
der Kausalität) muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des
reinen Verstandes, Platz machen.115
Hier wird die Ontologie als eine „stolze“ Disziplin insofern betrachtet, als
sie sich eben für fähig hält, ausgehend von einem Grundsatz der Erkenntnis wie dem der Kausalität systematisch strukturierte Erkenntnisse a priori über Dinge überhaupt zu liefern. Auch wenn dieses Ontologiekonzept
keinem konkreten ontologischen Entwurf etwa Wolffs oder Baumgartens
direkt entspricht, scheint Kant deren klassischen Ontologiebegriff im
Sinn gehabt zu haben. Anstelle der so konzipierten Ontologie führt er
nun eine neue Wissenschaft ein, die nicht das Seiende als Seiendes (syn113
Apud Ficara (2006), S. 99.
Zitiert nach Henrich (1988), S. 53. Vgl. auch Hosenfelder (2012), S. 25f., Fußnote 50: „Bezüglich der eigentlichen Rolle nun, die Identität in der Logik spielen soll,
war Kant freilich unterschiedlicher Meinung gewesen. 1755 stellt er den Satz der
Identität als oberstes Prinzip über den Satz des Widerspruchs (N. Diluc., Prop III).
In den sechziger Jahren betrachtet er den Satz der Identität als oberste Formel aller
bejahenden, den Satz des Widerspruchs als oberste Formel aller verneinenden Urteile. In der Kritik der reinen Vernunft nennt er den Satz des Widerspruchs allein
den obersten Grundsatz aller analytischen Urteile (B 189ff). 1790 sagt er, daß die
analytischen Urteile ‚ganz auf dem Satze der Identität oder des Widerspruchs beruhen‘“.
115
KrV, A 247/B 874.
114
82
thetisch), sondern bloß die Begriffe des Verstandes (analytisch) erforschen kann, anhand deren ein jeder prädizierender Bezug zum Seienden
möglich ist. Anders als die Ontologie kann die Analytik des Verstandes
ihre Begriffe nicht auf Dinge überhaupt, sondern bloß auf Gegenstände
der möglichen Erfahrung beziehen. Zwar bezeichnet Kant die Grundbegriffe dieser neuen Wissenschaft – wie jene der alten Ontologie – als Kategorien, die im Laufe seiner vorkritischen Periode in die dann entstehende
Transzendentalphilosophie eingeführt werden116. Doch ihre Leistung besteht darin, die „Prinzipien der Exposition der Erscheinungen“ zu leiten,
nicht aber, die Grundgesetze des Seienden als solche vorzutragen. Auch
im Unterschied zu der als Erste Philosophie aufgefassten Ontologie bei
Wolff setzt die Analytik des Verstandes eine Transzendentale Ästhetik
voraus, die dem Verstand das Material der Erscheinungen liefern kann; nur
beide zusammen können einen Erkenntnisanspruch erheben.
In einem Wort: Bei der Analytik des Verstandes handelt es sich um
eine durchaus neu gestaltete Wissenschaft, die die Ontologie ersetzt, deren systematische Rolle übernimmt und vor allem einen von dieser unterschiedenen Erkenntnisanspruch erhebt. In ihr verliert der Identitätsbegriff seine zentrale Stellung für die Erfassung des Seienden als solchen und
wird grundsätzlich an die Logik verwiesen und auf diese begrenzt. Wohl
aus diesem Grund tritt nicht die Identität, sondern die Einheit als eine
Quantitätskategorie in der Kategorientafel auf, die in gewisser Weise die
Rolle der alten Ontologie in der Kritik der reinen Vernunft ersetzt.
Geht man nun von der ontologischen zur ichtheoretischen Auffassung
der Identität über, so sieht man, wie Kant auch hier die Hume’sche Problematik zwar erbt, sie aber mit den bereitgestellten Mitteln der Transzendentalphilosophie umstrukturiert. Kant nimmt die von Hume freigelegten
Schwierigkeiten wahr, die sich aus der Erfassung des Ich als Substanz
ergeben und immanent zu Aporien – Paralogismen – führen. Doch anders
als Hume besteht Kant darauf, die unmittelbar von uns zu konstatierende
Einheitlichkeit unseres Vorstellungslebens als eine Identität im strengen
Sinne zu bezeichnen, die aber jenen Schwierigkeiten nicht zwangsläufig
unterliegen muss.
Große Kontroversen in der Kant-Forschung ergaben sich aus der
Frage, wie man einen derart konzipierten Ich-Begriff zu verstehen habe.
Diese Debatten waren so zentral, dass man sogar behaupten könnte, sie
hätten für die Ausbildung der darauffolgenden Denktraditionen richtungweisend gewirkt. Denn abhängig von diesem Ich-Begriff hat man
sowohl eine strenge Subjektphilosophie als auch deren Kritik darzulegen
versucht. Ich werde auf diese Kontroversen nicht näher eingehen, da dies
116
Aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahr 1772. Vgl. Rivero (2014), S. 36.
83
für die kantische Transformation des ichtheoretischen Identitätsbegriffs,
wie ihn die negative Dialektik fasst, nicht erforderlich ist. Vielmehr werde
ich mich auf eine Art Standardinterpretation beschränken, die das kantische Bewusstseinskonzept mit seinem höchsten Potential zu plausibilisieren sucht und so noch heute theoriebildende Wirkung haben dürfte. Gemeint ist Dieter Henrichs Interpretation der Identität des Subjekts in der
Kritik der reinen Vernunft117.
Henrich versucht, das „Ich denke“ Kants analytisch zu zergliedern
und handlungstheoretisch zu explizieren. Da jeder von seinen Bewusstseinsinhalten als den seinen denken können muss, ist dieses „Ich denke“ zunächst selbstbezüglich, sodass es durch eine Beziehung von etwas
zu etwas charakterisiert ist. So gesehen ist Selbstbewusstsein im Grunde
nichts anderes als dieser Selbstbezug. Außerdem muss es sich selbst durch
seine zeitlich sich ändernden Zustände hindurch erhalten, die ihrerseits
den Zusammenhang konstituieren, der es selbst ist. Es ist, anders gesagt,
eine bilaterale Selbstbeziehung, die eine Andersheit in der Identität notwendigerweise einzubeziehen scheint. „Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu
unserem Erkenntnis jemals gehören können, bewußt als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen (weil diese in mir doch
nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem anderen zu einem Bewusstsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden
können)“118, wie Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft
schreibt.
So will Kant die identitätskritischen Einwände Humes grundsätzlich
berücksichtigt haben, zugleich aber die starke Einheitlichkeit unseres
Bewusstseinslebens als eine Identität mit sich selbst deuten, die sogar a
priori gegeben sein muss und somit als Grundlegung einer transzendentalen Deduktion dienen kann. In beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft hat Kant die Zentralität hervorgehoben, die die Identität des „Ich
denke“ für die Lehre der subjektiven Objektkonstitution und folglich für
die Hauptaufgabe der Kritik besitzt. In der ersten Auflage schreibt er:
„Denn das Gemüt konnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der
Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es
nicht die Identität seiner Handlungen vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (…) einer transzendentalen Einheit unterwirft“119. Und in der zweiten Auflage heißt es: „Synthetische Einheit des
Mannigfaltigen der Anschauungen, a priori gegeben, ist also der Grund
der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimm-
117
118
119
84
Henrich (1988).
KrV, A 116.
KrV, A 108.
ten Denken vorhergeht“120. Bei dieser zugrunde liegenden Identität handelt es sich aber nicht um eine – metaphysisch aufgeladene – intelligente
Substanz, nicht um einen die Bewusstseinsimmanenz transzendierenden
Träger der Vorstellungen, wäre Kant doch sonst einem vorhumeschen und
folglich vor den „Paralogismen der reinen Vernunft“ ungeschützten Argumentationsmuster verpflichtet. Vielmehr versucht Kant eine Konzeption der Identität des Selbstbewusstseins zu entwickeln, die ihn von den
metaphysischen Traditionen des Subjekts als „Substanz“, die den Fehler
des „Paralogismus der reinen Vernunft“ begangen haben, trennt. Selbstbewusstsein wird im Grunde zu einer Art potentieller Handlung, die sich
selbst jedes Mal muss aktualisieren können und eben anhand dieser Aktualisierung Identität aufweist. So Henrich zusammenfassend:
Es ist als wirklicher Vollzug des Bewusstseins zu denken, das die
Form des Bewusstseins eines intelligenten Subjektes von sich selbst
in Beziehung auf einen bestimmten Gedanken oder eine bestimmte
Menge von Gedanken hat. Der Satz, mit dem Kant die These der
transzendentalen Deduktion einleitet, lautet: ‚Das: Ich denke, muß
alle meine Vorstellungen begleiten können‘ (B 131). Er könnte
dann von einer nur logischen Form im Sinne des Neokantianismus
reden, wenn die eine Form des Subjektdenkens schlechtweg allen
Gedanken zugeordnet würde. Aber obwohl von einem einzigen
‚Ich denke‘ die Rede ist, wird von ihm auch gesagt, daß es einzelne
Gedanken (actualiter) sowohl begleiten als auch nicht begleiten
kann. Das kann nichts anderes heißen, als daß in Beziehung auf
diese Gedanken und jeweils in Beziehung auf jeden von ihnen ein
Bewusstsein ‚Ich denke diesen Gedanken‘ möglich sein muß. Das
Ich, somit das Subjekt dieser Gedanken, ist in allen diesen Gedanken dasselbe. Und weiterhin ist auch der Gedanke von der Möglichkeit des Begleitenkönnens einundderselbe, wenn immer ein
Gedanke von dem Bewusstsein, daß Ich ihn denke, begleitet wird.
Insofern ist in jedem Ich-Gedanken auch der Gedanke von der
Identität des Subjekts und von seinem Verhältnis zu möglichen
Gedanken eingeschlossen. Aber dennoch ist das Bewusstsein ‚Ich
denke‘ in einer unbestimmten Anzahl von Fällen zu aktualisieren.
(…) Zum Begriff des Selbstbewusstseins selbst gehört also auch
der Begriff einer unbestimmten Menge der Fälle seines Eintretens.121
An dieser Stelle kann man bereits die Grundlinien der Kantischen Behandlung der ontologischen und der ichtheoretischen Identität zusammenfassen: hinsichtlich der Identität des Dinges folgt Kant Humes identitätskritischer Argumentation gegen Leibniz und die Wolffschule, indem
er Identität von der Ontologie in die Logik verlagert und jene architekto120
121
KrV, B 134.
Henrich (1988), S. 58–59.
85
nisch transformiert. Mithilfe eines erneuten kategorialen Rahmens versucht er nun den Gedanken der Ich-Identität derart neu zu formulieren,
dass er zum Grundbestandteil einer transzendentalen Deduktion gemacht
und gleichzeitig Bewusstsein vor den „Paralogismen der reinen Vernunft“ geschützt wird.
Mit dieser transzentalphilosophischen Transformation der ontologischen und der ich-theoretischen Identität werden, mit anderen Worten,
die subjektive und die objektive Pole der erkenntnistheoretischen Reflexion
maßgeblich neu bestimmt. Erst jetzt wird auch die Vermittlung beider so
gefasst, wie sie sowohl der nachkantische Idealismus als auch die negative
Dialektik erben werden. Zwar wird die Bestimmung einer vermittlungstheoretischen Identität von Subjekt und Objekt grundsätzlich im Laufe des
nachkantischen Idealismus eingeführt, doch sie verweist retrospektiv auch
auf die transzendentalphilosophische Transformation neuzeitlicher Kategorien. Es handelt sich um das Instrumentarium, anhand dessen der Idealismus und die ihm verpflichteten Denkmodelle auch das Subjekt-ObjektVerhältnis denken werden. Im Laufe des nachkantischen Idealismus gewinnt so diese vermittlungstheoretische Bestimmung der Identität progressiv die Oberhand, sofern sowohl die oben erwähnte Unterscheidung
von noumena und phaenomena und der mit ihr zusammenhängende Phänomenalismus als auch die so auf eine neue Basis gestellte subjektive Konstitutionslehre die Koinzindenz von Subjekt und Objekt strukturell ändern.
Ich werde mich im nächsten Unterabschnitt mit dieser vermittlungstheoretischen Bestimmung der Identität im nachkantischen Idealismus
ausführlich befassen. Es sei hier nur abermalig wiederholt, dass die oben
dargestellte transzendentalphilosophische Transformation neuzeitlicher
Kategorien den kategorialen Rahmen wesentlich umstrukturiert, in dem
sich nicht nur die vorkantischen Denkmodelle, sondern auch die klassischen Materialismen eingebettet waren. Das lässt sich paradigmatisch
anhand der Umformulierung exemplifizieren, die den Begriff der Materie
mit der Vernunftkritik erfährt. Bei Kant wird Materie so umgedeutet, dass
sie als „Inbegriff von lauter Relationen“122 fungiert, die nur durch die sich
im Raume abspielenden Kräfte erkennbar sind. Sie wird, in einem Wort,
innerhalb des bereits Konstituierten aufgefasst, was ihre Rolle als unvermitteltes Absolutes – und mit ihr den Rahmen der klassischen Materialismen
– tendenziell unterminiert.
122
86
KrV A265/B321. Natürlich ist der Kantische Materiebegriff viel komplexer als
diese kurze Definition und unterliegt wesentlichen Veränderungen im Sinne der
Denkentwicklung des Philosophen. Vor allem wird man zwischen einem vorkritischen und einem kritischen Materiebegriff untescheiden müssen, doch dieser letzte
bleibt nicht immer univok, vor allem wenn man die Metaphysischen Anfangsgründe
der Naturwissenschaft berücksichtigt. Vgl. Walker (1971)
C. Identität und Nichtidentität im nachkantischen Idealismus
Fichte hat vielleicht den ersten wirkungsmächtigen Versuch unternommen, die kritische Philosophie in den Stand eines wahren philosophischen
Systems zu erheben. Er hat die komplexe theoretische Konstellation, die
sich mit den frühen Rezipienten und den ersten Kritikern Kants ergab123,
philosophisch bearbeitet und davon ausgehend die Denkfigur der Wissenschaftslehre entwickelt, die sich gewissermaßen als eine zu sich selbst gekommene kritische Philosophie zu präsentieren suchte. Zwar folgt die
Wissenschaftslehre der im Kontext der ersten Kant-Rezeption erhobenen
Forderung Reinholds, das kritische System der Philosophie müsse auf
einem absoluten ersten, an ihm selbst evident gewissen und unmittelbar
einsichtigen „Grundsatz“ basiert sein. Doch reagiert Fichte gleichzeitig
auf die skeptischen Kritiker Kants (und Reinholds), die unter anderem auf
das Problem der Nichtausweisbarkeit des ersten Grundsatzes Reinholds
hinweisen; auch für Fichte kann der absolut erste, schlechthin unbedingte
Grundsatz alles Wissens „nicht bewiesen, noch abgeleitet werden“124. Das
Resultat dieser Auseinandersetzung nun, wie es sich in der Grundlage der
gesamten Wissenschaftslehre von 1794/5 darstellt, ist ein Aufbau des philosophischen Systems, das bekanntlich nicht auf nur einem, sondern auf drei
einleitenden, miteinander immanent verbundenen Grundsätzen ruht, aus
denen das Ganze des Systems hergeleitet werden muss.
Hier beginnt die langwierige Debatte, die die eigentliche Geschichte
und Entwicklung des nachkantischen Idealismus in vielem begleitet: die
Debatte um die korrekte Struktur und Darstellung des Absoluten. Schematisch kann man davon ausgehen, dass vor Kant zwei Begriffe des Absoluten grundsätzlich miteinander konkurrieren: Der eine fasst das Absolute
als das schlechthin Erste und Unbedingte auf, das alles Weitere innerlich
bedingt und konstituiert; der zweite konzipiert das Absolute als Ganzheit,
als „absolute Größe“. Den ersten Begriff des Absoluten vertreten bei123
124
Vgl. Zöller (2013), S. 13ff. Zöller rekonstruiert dieses geistige Ambiente in Bezug
auf die ersten Kritiker und Rezipienten Kants. Es handelt sich zunächst um Friedrich Heinrich Jacobi, der für eine alternative Art von Vernunftkritik plädierte, die
ihrerseits nicht auf der (selbstbezüglichen) transzendentalen Reflexion beruhen,
sondern mittels des durch ein nicht vernünftiges Gefühl zugänglichen
bens“ gewonnen werden sollte; zweitens um Karl Leonhard Reinhold, der auf der
Notwendigkeit einer auf einem unmittelbar einsichtigen und evident gewissen
Grundsatz basierenden Elementar- bzw. Grundsatzphilosophie zur Systematisierung der kantischen Philosophie bestand; und zuletzt um Salomon Maimon und
Gottlob Ernst Schulze, die ihrerseits Kritik an der Nichtausweisbarkeit des „Satzes
des Bewusstseins“ von Reinhold übten und eine grundsätzliche skeptische Position
gegenüber der Systematisierung der kantischen Philosophie aus einem Prinzip vertraten.
Fichte (1965), §2, S. 264.
87
spielsweise Plotin und Leibniz, während der zweite etwa von Giordano
Bruno, Nicolaus Cusanus und Baruch de Spinoza entwickelt worden ist125.
Kant selbst verwendet, wie es scheint, nicht einmal das Wort „das Absolute“ (nominalisiert) in seinen gesammelten veröffentlichten Schriften, auch
wenn er in eben demselben Sinne zum Beispiel vom „Unbedingten“ spricht.
So wird der wie auch immer aufgefasste Begriff des Absoluten erst ab 1785
im Rahmen des Pantheismusstreites – also der Rezeption des Werkes
Spinozas im deutschsprachigen Raum – in der deutschsprachigen Philosophie zentral126. Fichte selbst spricht in der Grundlage von 1794/95 regelmäßig vom „absoluten Ich“, „absoluten Setzen“, „absoluten Subjekt“ und dergleichen, doch „das Absolute“ (nominalisiert) taucht auch hier nicht auf.
Zumindest in den veröffentlichten Schriften verwendet Fichte den Begriff
erst um die Jahrhundertwende (wahrscheinlich bereits unter dem Eindruck
der Lektüre Schellings), sodass er beispielsweise in der Wissenschaftslehre
von 1804 sogar plakativ schreiben kann, dass „die Aufgabe der Philosophie
sich auch ausdrücken [lässt]: Darstellung des Absoluten“127. Es geht aber
auch um die Bestimmung des Absoluten, wenn Fichte sich bereits in der
Grundlage von 1794/95 die Aufgabe stellt, „den absolut ersten, schlechthin
unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen“128. Dem
obigen Klassifikationsvorschlag zufolge vertritt Fichte den ersten, Schelling
und Hegel hingegen den zweiten Begriff des Absoluten. Darauf wird im
Folgenden zurückzukommen sein.
Nun fällt im nachkantischen Idealismus die Debatte um den Begriff
des Absoluten zu einem nicht geringen Teil mit der Diskussion über die
Identitätsproblematik zusammen, wie sie sich den Idealisten im Gefolge
Kants stellt. Denn bereits rein terminologisch bedeutet das Absolute
(vom Lateinischen ab-solutus) nichts anderes als das von jeder Bestimmtheit und Abhängigkeit Losgelöste, das in und durch sich selbst allein Bestehende, das schlechthin Beziehungs- und Bedingungslose, eben das
Gegenteil des Relativen. Das Absolute ist also das, was aller Bestimmtheit
und aller Differenz vorhergeht (und folglich diese gewissermaßen enthalten und begründen muss), somit die ursprüngliche Identität – das ursprüngliche Einssein – vor aller möglichen Teilung und Entgegensetzung.
Als der „schlechthin unbedingte“ und „absolut erste“ deutet der erste
Grundsatz der Wissenschaftslehre auf ein so konzipiertes Absolutes hin; es
soll, wie Fichte schreibt, „diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den
empirischen Bestimmungen unsers Bewusstseins nicht vorkommt, noch
vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtsein zum Grunde liegt,
125
126
127
128
88
Vgl. Jäschke (2010), S. 110f.
Für eine gute Rekonstruktion der Rezeption Spinozas im idealistischen Deutschland, vgl. Pätzold (1995).
Fichte (1985), S. 11. Auch in der Darstellung der WL von 1801, z. B. § 5 und § 6.
Fichte (1965), S. 255.
und allein es möglich ist“129. Durch diese Tathandlung nun „setzt [das Ich]
ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein“130. Es ist also, wie Fichte sich
gelegentlich auch ausdrückt, ein Selbstsetzen des absoluten, rein selbstbezüglichen und rein selbstkonstituierenden Ich, das „allem ichlich verfassten Bewusstsein [vorausliegt]“ und „als solche[s] nicht Gegenstand eines
bestimmten Bewusstseins sein kann“131.
Es ist schwer zu übersehen, wie sehr der Begriff des absoluten Ich
Fichtes dem oben thematisierten „Ich denke“ Kants in vielem systematisch verwandt ist. Sie unterscheiden sich im Grunde aber darin, wie Fichte selbst zugibt, dass Kant ihn „nie als Grundsatz bestimmt aufgestellt
[hat]“132. So weist das absolute Ich Fichtes im Grunde dieselbe Struktur
auf wie das kantische „Ich denke“: Es ist reine Selbstbezüglichkeit, die
jedem Objektbezug und jeder Objektkonstitution logisch vorausgeht,
und schließt somit in dieser puren Selbstbezüglichkeit die Andersheit ein.
Dies lässt sich auch insofern einsehen, als Fichte in der Wissenschaftslehre
von 1794/5 zum Begriff der Tathandlung gelangt, indem er den Satz der
Identität (A = A) heranzieht, der ihm zufolge unter den Tatsachen des
empirischen Bewusstseins mit aller Evidenz und Gewissheit vorkommt.
Dieser Satz drückt bereits in aller Einsichtigkeit die Selbstbezüglichkeit
anhand des duplizierten A aus. Dass das A nun dupliziert und aufgrund
des Identitätszeichens auf sich selbst bezogen wird, macht deutlich, dass
es in dieser selbstbezüglichen Duplizität die Andersheit bereits in sich
schließen muss, sonst wäre der Satz – wie oben bereits thematisiert – ganz
und gar nichtssagend. (Später wird Schelling schreiben, die Differenz sei
im Satz A = A bereits präsent, aber nicht „aktuiert“133). Philosophisch
drückt Fichte diesen Sachverhalt so aus, dass er aus dem ersten Grundsatz
den zweiten ableitet: „Es wird dem Ich schlechthin ein Nicht-Ich entgegengesetzt“134. Dieser zweite Grundsatz wird wiederum durch den Satz
~A nicht = A gewonnen, anhand dessen die Differenz zwischen beiden
Polen deutlicher zutage tritt (Schelling und Hegel werden sie später in
den Satz A = B umwandeln).
Die kurze Einführung in die ersten zwei Grundsätze der Wissenschaftslehre von 1794/95 soll genügen, um die Entwicklung der Identitätsproblematik bis Fichte innerhalb des nachkantischen Idealismus bis um
1800 im Überblick zu betrachten. Kant hatte zwar behauptet, dass „die
synthetische Einheit der Apperception der höchste Punkt [ist], an dem
man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die
129
130
131
132
133
134
Fichte (1965), S. 255
Fichte (1965). S. 261
Zöller (2013), S. 22.
Fichte (1965), S. 262.
Vgl. Frank (2013), S. 236.
Fichte (1965), S. 266
89
Transscendental-Philosophie heften muß“ 135 ; doch erst Fichte hat dies
zum Status eines schlechthin unbedingten Grundsatzes erhoben, der für
die transzendentalphilosophische Systembildung – und, wie wir sehen
werden, für die Bestimmung eines absoluten Identitätsbegriffs – tauglich
ist. Auch war bei Kant die einheitliche Verfassung des puren Selbstbewusstseins als Identität – eine bilaterale Selbstbeziehung, die die Andersheit in sich einschließt – bereits präsent, aber erst Fichte hat sie formal
durch die theoretische Figur des Setzens und Entgegensetzens anhand der
Grundsätze der Wissenschaftslehre zum Ausdruck gebracht. In ihrer Einheit aufgefasst, so Schelling und Hegel später, bilden die zwei ersten
Grundsätze der Wissenschaftslehre eine Antinomie. Sofern er diese Antinomie zur Sprache kommen ließ, hat Fichte hier bereits, wie wenig später
Hegel behaupten wird, einen wesentlichem Schritt zum „kühn ausgesprochene[n] echte[n] Prinzip der Spekulation“136 bzw. zum Begriff der absoluten Identität getan.
Um die Jahrhundertwende kommt es zu dem bekannten Atheismusstreit, der letztlich zum (erzwungenen) Rücktritt Fichtes von seiner Professur an der Universität Jena führte. Bereits zu dieser Zeit werden die
theoretischen Differenzen zwischen Fichte und dem jungen Schelling, der
ebenfalls in Jena lehrte, immer deutlicher. Offenkundig werden sie aber
erst um 1800 mit der Veröffentlichung von Schellings System des transzendentalen Idealismus und Fichtes darauffolgenden Bemerkungen bei der
Lektüre von Schellings transzendentalem Idealismus. Ihre Differenzen kreisen auch gerade um den eigentlichen Aufbau der Philosophie selbst: Während für Fichte die als Wissenschaftslehre konzipierte Transzendentalphilosophie das ganze vollendete System der Philosophie umfasst, vertritt
Schelling eine duale Verfassung des philosophischen Systems, der gemäß
die Transzendentalphilosophie lediglich einen Teilbereich des Systems der
Philosophie neben der ihr gleichberechtigten Naturphilosophie einnimmt.
So kann Hegel bereits 1801 seine erste veröffentlichte Schrift Differenz
des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie nennen.
Auch um die Jahrhundertwende entwickelt sich die Identitätsproblematik innerhalb des nachkantischen Idealismus in einer Weise, dass sie
bereits zu diesem Zeitpunkt beinahe ihre definitive Gestaltung erhält. Sie
koinzidiert mit der reich dokumentierten Polemik zwischen Schelling und
Hegel, die zwar bis und um 1800 grundlegende Einsichten teilten, sich im
Laufe des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts dann aber immer deutlicher voneinander distanzierten. Ausgangslage der Identitätsproblematik
ist wie gesagt die Entwicklung einer Theorie der für die Differenz sensiblen Identität. Das Bedürfnis einer derartigen Theorie gründet sich nicht
nur auf das philosophische Interesse am Identitätsbegriff im Allgemeinen,
135
136
90
KrV, B 134.
WW2, S. 11.
der in vielen Teildisziplinen der Philosophie von großer Wichtigkeit ist. Es
geht auch auf die partikulären philosophischen Ziele des nachkantischen
Idealismus zurück, genauer die Entwicklung eines holistischen Systems
der Philosophie nach den (und in Bezugnahme auf die) metaphysikzerschmetternden Wirkungen der im Grunde dualistisch verfassten kantischen Philosophie.
Im Gegensatz zu Fichte bestand Schelling auf der Gleichberechtigung von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie als philosophischen Teildisziplinen innerhalb des Systems der Philosophie. Dieser
Umstand ändert nicht nur die eigentliche Architektonik des Systems
selbst, das jetzt ein „subjektives Subjektobjekt“ (Intelligenz) und ein
„objektives Subjektobjekt“ (Natur) birgt, sondern auch den Begriff des
Absoluten und mit ihm den der Identität, die beide Teildisziplinen innerhalb einer Ganzheit umfassen soll. Würde Natur – wie laut Schelling bei
Fichte – als ein vom Subjekt bloß Beherrschtes gedacht und nicht als ein
tatsächliches (objektives) Subjektobjekt, dann könnte weder wahre Identität noch wahre Entgegensetzung beider bestehen. Mit anderen Worten:
Sowohl die Identität als auch die Entgegensetzung von Intelligenz und
Natur, von Subjekt und Objekt sind nur dann möglich, so Schellings
Konzeption, wenn beide zugleich als Subjektobjekt gedacht werden; die
Identität beider als Subjektobjekt muss vorausgesetzt werden, damit sie
überhaupt als miteinander identisch oder als verschieden begriffen werden
können. Das erfordert nun ein Konzept von Identität, das ein Verhältnis
zwischen zwei Verschiedenen (A und B, Natur und Intelligenz) zu erstellen vermag, die ihrerseits vollständig auf eine und dieselbe Sache – nämlich das als „Indifferenzpunkt“ beider konzipierte Absolute – zutreffen.
Dieses Konzept von Identität nennt Schelling absolute Identität. Ein so
aufgefasstes System der Philosophie, dem ein derartiger Begriff von absoluter Identität zugrunde liegt, bezeichnet Schelling – in aller Deutlichkeit
zunächst in der 1801 verfassten Darstellung meines Systems der Philosophie,
die durch das Personalpronomen die Distanzierung von Fichte bereits im
Titel anzeigt – als absolutes Identitätssystem. Hegel prägte dazu, eher in
polemischer Absicht, den Begriff „Identitätsphilosophie“, die sich auch
rasch eingebürgert hat. Hierüber schreibt rückblickend der späte Schelling:
Bekanntlich war dies [der Begriff Identitätsphilosophie – D. P.] die
Ausdrucksweise des absoluten Identitätssystems, ein Name, den
übrigens der Urheber selbst nur einmal gebraucht hat, nur, um es
überhaupt und insbesondere von dem Fichteschen zu unterscheiden, welches der Natur gar kein selbsteigenes Sein gelassen, sondern sie zum bloßen Accidens des menschlichen Ich gemacht hat.
Dagegen sollte der Name ausdrücken, daß in jenem Ganzen Subjekt und Objekt mit gleicher Selbständigkeit einander gegenüber-
91
stehen, das eine nur das ins Objekt hinübergetretene (…), das andere nur das als solches gesetzte Subjekt sei.137
Wenn Identität bereits selbstbezüglich ist, indem sie als ein Verhältnis
eines Einzelnen zu sich selbst und folglich als eine Art Selbstverhältnis
gedeutet werden kann, dann zeichnet sich der Schelling’sche Begriff der
absoluten Identität dadurch aus, dass sie noch einmal selbstbezüglich gemacht wird. „[I]nwiefern kann gesagt werden“, fragt sich Henrich, „die
Identität als solche sei selbst Eines, in dem alle Differenz ihren Ursprung
findet? Die Identität, die man wohl als eine Relation zu sich verstehen
kann, wird damit doch selbst noch einmal selbstreferentiell gemacht“138.
Schelling selbst spricht entweder von der Identität der Identität oder von
duplicirter Identität, um diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen.
Um seinen doch noch ziemlich unklaren Kerngedanken zu verdeutlichen,
schlägt Hegel seinem Jugendfreund Schelling in ihrem Briefwechsel vor,
ihn mit der Formel Identität von Identität und Nichtidentität zu fassen, die
Schelling mit Begeisterung übernimmt und die Hegel zunächst in der
Differenzschrift und dann wiederholt bis zur Wissenschaft der Logik als
(abstrakte, doch im Wesentlichen korrekte) Bezeichnung des Absoluten
verwendet. Die bekannte Textstelle der Differenzschrift, in der Hegel die
Konzeption seines Freundes vorstellt, rekapituliert das philosophische
Identitätsproblem und erörtert die Lösung Schellings wie folgt:
So gut die Identität geltend gemacht wird, so gut muß die Trennung geltend gemacht werden. Insofern die Identität und die Trennung einander entgegengesetzt werden, sind beide absolut; und
wenn die Identität dadurch festgehalten werden soll, daß die Entzweiung vernichtet wird, bleiben sie einander entgegengesetzt. Die
Philosophie muß dem Trennen sein Recht widerfahren lassen; aber
indem sie es gleich absolut setzt mit der der Trennung entgegengesetzten Identität, hat sie es nur bedingt gesetzt, so wie eine solche
Identität – die durch Vernichtung der Entgegengesetzten bedingt
ist – auch nur relativ ist. Das Absolute selber aber ist darum die
Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und
Einssein ist zugleich in ihm.139
Frank erläutert, wie die Schelling’sche absolute Identität verstanden werden soll: Als Urteil aufgefasst, impliziert absolute Identität im Grunde die
„Gleichmöglichkeit zweier (Unter-)Urteile. Wer sagt ‚A = B‘, sagt nicht,
dass A, als A, zugleich B wäre – das wäre völlig absurd. Er sagt vielmehr,
dass das, was A ist, dasselbe ist wie das, was B ist. Oder auch: Dasjenige,
für das der Subjekt-Terminus steht, ist dasselbe wie das, für das der Prädi137
138
139
92
Zitiert nach Franz (1992), S. 206, Fußnote.
Henrich (1989), S. 138.
WW2, S. 96.
katausdruck zutrifft“140. Hogrebe hat vorgeschlagen, den Sachverhalt so
zu formalisieren: Fa → (∃x) (x = a ∧ Fx), oder auch: (x) [(Fx → (∃y)
(Gy ∧ x = y)]141, was mit folgenden Worten wiedergegeben werden könnte: Wenn Fa, dann existiert ein x, das gleich ist wie a und Fx, oder: Für alle
x, wenn Fx, existiert ein y, sodass Gy und x gleich y sind. Hier wird klar,
dass dieses „dasselbe“, für das sowohl der Subjekt-Terminus als auch der
Prädikatausdruck stehen, eben auf einen „Indifferenzpunkt“ von zwei
Verschiedenen hinweist. Einfacher formuliert: Subjekt und Objekt, Geist
und Natur können demgemäß erst in dem Sinne als identisch mit einander
aufgefasst werden, wenn sie Teilbereiche eines und desselben Ganzen sind,
das beide umfasst und das es erst erlaubt, sie voneinander zu unterscheiden. Das, was Geist ist, ist auch das (bzw. ist identisch mit dem), was
Natur ist; dasselbe Absolute kann sowohl als Natur als auch als Geist
aufgefasst werden. Erst mit einem duplizierten Identitätsbegriff kann
diese logische Struktur begriffen werden, so Schelling, denn nur er erlaubt,
die Identität und die Differenz von zwei Verschiedenen anhand einer sie
umfassenderen Identität zu verstehen.
Zwar hat Hegel diese Identitätsformel nicht als seine eigene Konzeption vorgestellt und die Identitätsphilosophie auch wenige Jahre später,
mit aller Emphase in der 1807 publizierten Phänomenologie des Geistes,
stark kritisiert. Die dort formulierte Interpretation des Absoluten als
Nacht, „worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind“142, betrifft eben Schellings identitätsphilosophische Konzeption des Absoluten
als Indifferenzpunkt, in dem, so Hegel, „alles gleich ist“143. Doch hat er,
wie gesagt, die Formel auch mehrmalig verwendet, um das Absolute formell – und dementsprechend abstrakt – aufzufassen. „Die Analyse des
Anfangs“, schreibt er beispielsweise in der bekannten Eingangsbetrachtung
der 1812 erschienenen Wissenschaft der Logik, auf die Adorno in der Negativen Dialektik explizit Bezug nimmt, „gäbe somit den Begriff der Einheit
des Seins und des Nichtseins – oder, in reflektierterer Form, der Einheit
des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins – oder der Identität
der Identität und Nichtidentität. Dieser Begriff könnte als die erste, reinste,
d.i. abstrakteste Definition des Absoluten angesehen werden“144. Hegel
verwendet diese Formel also bis in sein Spätwerk, denn sie bringt nicht
nur das philosophische Interesse am Begriff des Absoluten im Allgemeinen zur Sprache, indem sie Identität und Nichtidentität immanent miteinander korreliert, um Identität überhaupt verständlich zu machen. Darüber
hinaus ist sie auch, wie bereits erwähnt, eine Antwortmöglichkeit auf das
140
141
142
143
144
Frank (2013), S. 246.
Hogrebe (1989), S. 81.
HW3, S. 22.
HW3, S. 22.
WW5, S. 73.
93
Anliegen des nachkantischen Idealismus, eine alle Entzweiung umfassende
Identität zu konzipieren.
Als Reflexionsbestimmungen behandelt Hegel die Begriffe von Identität, Unterschied und Widerspruch bekanntlich auch in der Wesenslogik.
Auch dort begreift der Philosoph Identität und Unterschied als immanent
miteinander verknüpft, die sich in ihrer Einheit und Gegensätzlichkeit in
der Denkfigur des Widerspruchs integrativ aufheben. Zwar folgt Hegel
hier Fichte und Schelling, die den Satz der Identität (A = A) ja aufgrund
einer darin impliziten, nicht „aktuierten“ Differenz (A = B) thematisierten. Erst Hegel145 bringt aber mit aller Deutlichkeit den Satz der Identität
und den Satz des Widerspruches immanent miteinander in Verbindung
und erhebt so nicht bloß die Identität, sondern auch (und grundsätzlich)
den Widerspruch zum Grundprinzip der Logik. So schreibt er in einer
bemerkenswerten Textstelle aus der Wesenslogik:
Der andere Ausdruck des Satzes der Identität, A kann nicht zugleich
A und Nicht-A sein, hat negative Form; er heißt der Satz des Widerspruchs. Es pflegt darüber, wie die Form der Negation, wodurch sich
dieser Satz vom vorigen unterscheidet, an die Identität komme,
keine Rechtfertigung gegeben zu werden. (…) Es ist A ausgesprochen und ein Nicht-A, das Rein-Andere des A; aber es zeigt sich
nur, um zu verschwinden. Die Identität ist also in diesem Satze
ausgedrückt – als Negation der Negation. A und Nicht-A sind unterschieden, diese Unterschiedenen sind auf ein und dasselbe A bezogen. Die Identität ist also als diese Unterschiedenheit in einer Beziehung oder als der einfache Unterschied an ihnen selbst hier dargestellt. Es erhellt hieraus, daß der Satz der Identität selbst und noch
mehr der Satz des Widerspruchs nicht bloß analytischer, sondern
synthetischer Natur ist. Denn der letztere enthält in seinem Ausdrucke nicht nur die leere, einfache Gleichheit mit sich, sondern nicht
allein das Andere derselben überhaupt, sondern sogar die absolute
Ungleichheit, den Widerspruch an sich. (…) Was sich also aus dieser
Betrachtung ergibt, ist, daß erstens der Satz der Identität oder des
Widerspruchs, wie er nur die abstrakte Identität, im Gegensatz gegen den Unterschied, als Wahres ausdrücken soll, kein Denkgesetz,
sondern vielmehr das Gegenteil davon ist; zweitens, daß diese Sätze
mehr, als mit ihnen gemeint wird, nämlich dieses Gegenteil, den absoluten Unterschied selbst enthalten.146
So kann Hegel die Reflexionsbestimmungen von Identität und Unterschied anhand eines beeindruckenden Satzes zusammenfassen, der ja für
seinen Begriff von Dialektik wesentlich ist: „‚Alle Dinge sind an sich selbst
widersprechend‘, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen
145
146
94
Vgl. dazu GS5, S. 87.
WW5, S. 45.
vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke“147. Für Hegel
ließe sich das so interpretieren: Wenn der Identitätssatz und der Satz des
Widerspruches immanent miteinander verbunden sind, dann sind Identität und Widerspruch des Wirklichen und im Wirklichen auch miteinander
wesentlich verknüpft. Dieser Sachverhalt wird wesentlich nicht nur für die
Hegel’sche, sondern auch für die negative Dialektik sein.
Dass Identität und Nichtidentität, Einzelnes und Allgemeines sich
gegenseitig bedingen und immanent miteinander verknüpft sind, kann
man laut Hegel sogar aus dem Sinn des einfachsten prädikativen Urteils
ableiten. Behauptet man etwa, dass die Substanz a illegal ist, dann wird
zunächst vorausgesetzt, dass ein bestimmtes, voll individuiertes Einzelnes
(in dem Fall die Substanz a) von anderen Einzelnen unterschieden werden
könne. Auch wird dabei präsupponiert, dass ein Prädikat, das ihm zugesprochen wird (in dem Fall das Illegalsein), als Allgemeinheit im Unterschied zu Einzelnem konzipiert und folglich sowohl diesem als auch jenem Einzelnen ohne Bedeutungsverlust zugesprochen werden könne.
Einzelnes und Prädikate können demgemäß voll bestimmte Sätze bilden,
die ihrerseits Behauptungen über Objekte vollziehen – ganz gleichgültig
zunächst von der (ontologischen) Art des bezogenen Objekts, ob es dieses tatsächlich „gibt“ oder nicht –, denn, wie Henrich (mit Tugendhat und
Strawson) schreibt, die Identitätsbehauptung impliziert als solche keine
Existenzaussage148. Das scheint eben eine Voraussetzung eines jeglichen
Objektbezuges zu sein. Ist es nun der Fall, was der Satz behauptet, dann
ist er wahr. Sofern dieser bestimmte Einzelne von anderen Einzelnen unterschieden werden muss, um Objektbezug und folglich Prädikation
überhaupt zu ermöglichen, dann müssen zugleich gewisse Regeln der
Identität gegeben werden, aufgrund derer es voll individuiert wird und im
Unterschied zu anderen Einzelnen dasselbe als sich selbst bleibt. Identität
ist folglich eine Implikation eines jeglichen Satzes mit Subjekt-PrädikatForm; ganz in diesem Sinne behauptet Adorno unzweideutig, dass „Denken identifizieren [heißt]“149. Mit anderen Worten: ohne Identität lässt
sich weder ein bestimmter Einzelner von anderen Einzelnen unterscheiden, denn er muss voll individuiert werden; noch lässt sich ein Prädikat als
Allgemeinheit (als Begriff) konzipieren, denn es muss diesem und jenem
voll individuierten Einzelnen ohne Bedeutungsverlust zugesprochen werden können, damit es überhaupt etwas bedeuten kann. Ohne Identität ist
somit, in einem Wort, kein Objektbezug und folglich auch kein Denken
möglich, sofern jedes Denken als begrifflich aufgefasst wird. Deshalb kann
Kant (und mit ihm wohl der gesamte Idealismus) behaupten, dass Selbstbewusstsein nichts anderes als Identität ist.
147
148
149
WW5, S. 74, meine Hervorhebung.
Henrich (1989), S. 162.
GS6, S. 17.
95
Doch trifft der identitätsphilosophische Grundgedanke Schellings
und Hegels zu, dann muss in diesem einfachen prädikativen Satz selbst –
will er nicht nichtssagend oder letztlich gar ein Unsatz sein – Nichtidentisches wiederum enthalten sein, an dem die Prädikation überhaupt vollzogen wird. Anders gewendet kann der Sachverhalt auch so erörtert werden:
Das Objekt muss als Nichtidentisches, dem Denken Kontrastiertes fungieren, damit etwas von ihm überhaupt prädiziert und so letztlich Identität mit einem allgemeinen Prädikat erstellt werden kann. Sogar im analytischen Urteil muss dieses Nichtidentische, so Hegel, bereits enthalten
sein150. Prädikation ist folglich ein Akt, den das identische Subjekt am
nichtidentischen Objekt identifizierend, also bestimmend vollzieht: „Das
Begreifen eines Gegenstandes besteht in der That in nichts Anderem, als
daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt, und ihn in seine
eigene Form, d.i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit,
oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt“151. Folgt
man nun Spinozas (und Jacobis) Prinzip, dem zufolge alle Bestimmung
eine Negation ist (omnis determinatio est negatio)152, sofern bei jeder Bestimmung die entgegengesetzte Bestimmung notwendigerweise ausgeschlossen wird, dann ist dieser bestimmende Akt ein negativer Vollzug
und das reflexive Verhältnis von Subjekt und Objekt ebenfalls ein negatives. Dies bedeutet für Hegel bereits nichts anderes, als dass die einfachste
Prädikation dialektisch zur immanenten Ausführung des gesamten Systems der Philosophie führt. Henrich schreibt:
Wenn auf Einzelnes sich zu beziehen heißt, ihm Identität zuzusprechen, und wenn dies wiederum bedeutet, es von allen anderen
Einzelnen, die durch dasselbe sortale Prädikat bezeichnet werden,
zu unterscheiden, so gehen ganz umfassende Bedingungen der
Identifizierung schon in die Bedeutung des einfachen SubjektPrädikatsatzes ein. Es scheint, daß wir uns dann, wenn wir Eines als
solches ansprechen, auch schon dazu verpflichtet haben, es im
Prinzip in jeder Situation gegen jedes andere Einzelne identifizieren
zu können. Wäre es so, so müßte angenommen werden, daß wir
auch über ein Verfahren verfügen, das es erlaubt, die Identität eines
Einzelnen unter allen Bedingungen seines Gegebenseins und in allen Zweifelsfällen zu erkennen und wiederzuerkennen. Das kann,
wie man sich gleichfalls leicht deutlich machen kann, nur in Bezie-
150
151
152
96
„Jedes Urteil, nach Hegels Aufweis sogar das analytische, trägt, ob es will oder
nicht, den Anspruch in sich, etwas zu prädizieren, was nicht einfach mit dem bloßen Subjektbegriff identisch ist“. GS6, S. 78.
WW6, S. 254.
Spinoza hat zuerst dieses Prinzip bekanntlich in einem Brief zur Erklärung mathematischer Begriffe formuliert. Jacobi hat es später als ein ontologisches Prinzip interpretiert. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hat Hegel dieses
Prinzip als das wesentliche Lehrstück Spinozas erwähnt.
hung auf ein umfassendes System von individualisierenden Bedingungen möglicher Gegebenheit geschehen.153
Die Ausführung des gesamten Systems der Philosophie also, das auf absoluter Identität basiert, wird aus der einfachsten Prädikation immanent
nötig, weil erst das ausgeführte System „die Identität eines Einzelnen
unter allen Bedingungen seines Gegebenseins und in allen Zweifelsfällen“ artikulieren kann, die wiederum ein jeglicher Objektbezug voraussetzt. Anders gesagt: Das mit dem Selbstbewusstsein nichtidentische und
folglich ihm kontrastierte Objekt kann erst mithilfe des ausgeführten
Systems in dem Begriff vollends aufgehen, der es subsumiert.
Die Uneinigkeiten zuletzt, die zwischen Schelling und Hegel im Laufe der Zeit immer gründlicher werden, entsprechen nicht dem Verständnis
von Identität und Nichtidentität als Teilen ein und desselben Ganzen.
Darüber sind die beiden Jugendfreunde wohl immer einig gewesen. Ihre
Diskrepanzen betreffen vielmehr das Verständnis vom Ganzen selbst, wie
also die allumfassende Totalität verständlich zu machen ist. „Während
Schelling glaubt“, schreibt Frank, „dass die umgreifende Identität aus der
ihr untergeordneten Relation von Identität und Differenz nicht verständlich gemacht werden kann, glaubt Hegel eben dies. Diese Relation nennen
Hegel und Schelling (…) ‚Reflexion‘. Und Hegels von Schelling abweichende Position kann dann so wiedergegebenen werden: Die Reflexion
muss als autark gedacht werden“154. Identität und Nichtidentität, Subjekt
und Objekt, Intelligenz und Natur werden von Schelling, mit anderen
Worten, als bloße Relata (Potenzen) aufgefasst, die eines Relationsübergreifenden notwendigerweise bedürfen, um verständlich zu werden. Dieses Relationsübergreifende nennt Schelling – zumindest ab 1809 – Seyn,
das wesentlich transreflexiv sein soll155. Für Hegel dagegen bedürfen Identität und Nichtidentität nichts weiter als ihre wechselseitige, als Prozess
konzipierte Relation, weil das Objekt am Ende des Prozesses zugleich als
immer schon gewesenes Subjekt begriffen wird. Bündig formuliert: Das
Absolute, das sich als Identität der Identität und Nichtidentität fassen
lässt, ist für Hegel diese sich entwickelnde, ausdifferenzierende und prozessualisierte Relation selbst, die als widersprüchliche Ganzheit aufgefasst
wird. „Sein“ bezeichnet für ihn nun bloß den abstraktesten Nullpunkt
dieser selbstbezüglichen Entwicklung: „Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts“156.
Auch hier wird ersichtlich, wie das identische Subjektobjekt, die absolute
Identität am Anfang des dialektischen Prozesses vorausgesetzt werden
153
154
155
156
Henrich (1989), S. 138.
Frank (2013), S. 233.
Frank (2013), S. 237ff.
WW6, S. 82.
97
muss, damit sie überhaupt am Ende erreicht werden kann. Manche Interpreten – wie etwa Frank selbst, nicht zuletzt aber auch der späte Schelling
und Adorno – werden an Hegel wegen einer Art Introjektion des Subjektiven ins Nichtsubjektive Kritik üben: „Indem Hegels Philosophie ihren
Anfang beim Allerunbestimmtesten, beim unmittelbaren Sein oder ‚bloßen Objektiven‘ zu nehmen vorgibt“, schreibt Frank, „verwickelt sie sich
in einen Zirkel, da aus Objekt Subjekt nur werden kann, wenn es Subjekt
schon war, freilich ein ‚nicht als solches schon gesetztes Subjekt‘, sondern
ein Subjekt als indifferente ‚Gleichmöglichkeit‘ von Wesen (Subjekt) und
Sein (Objekt): ‚Subjekt-Objekt‘“ 157 . Schelling sprach bekanntlich von
einem „unendlichen Mangel an Sein“158, der das Hegel’sche System durchziehe. Indem Schelling diesen Mangel mit einer Deutung der Identitätsformel zu berichtigen sucht, der ein transreflexives Seyn zugrunde liegt,
konnte Schellings Formel „attraktiv werden für materialistische Versuche,
Hegels Philosophie ‚vom Kopf auf die Füße zu stellen‘“159. Diese Operation wird im Rahmen aller kritischen Theorie reflektiert – und dies ist
auch der Fall bei der negativen Dialektik.
Hier kann man bereits in aller Deutlichkeit sehen, wie der absolute
Identitätsbegriff Schellings und Hegels auf dem Höhepunkt einer langen
Entwicklung steht, die die Geschichte der neueren Philosophie im Wesentlichen begleitet. Besteht man auf ihrem philosophischen Instrumentarium, das von der bipolaren, „faktischen“ Entzweiung von Subjekt und
Objekt, Intelligenz und Natur ausgeht und an ihrer Versöhnung laboriert,
dann ergibt sich die Frage nach einer Grundlogik, die sowohl ihre Entzweiung als auch ihr Einssein verständlich zu machen vermag. Die absolute
Identitätsformel, die Schelling um die Jahrhundertwende formuliert, ist
ein Versuch, unter nachkantischen Bedingungen eine solche Grundlogik
zu entwickeln. Erst sie hat es auch erlaubt, die folgerichtige Kritik am
kantischen (und fichteschen) „Formalismus“ zu entwickeln und somit
zum vielbeachteten „inhaltlichen Philosophieren“ zu gelangen, wie es
Schelling und Hegel um 1800 vorschwebt. „Inhaltliches Philosophieren
seit Schelling war begründet in der Identitätsthese“, schreibt Adorno und
stimmt darin mit Frank überein. „Nur wenn der Inbegriff des Seienden,
schließlich Seiendes selbst, Moment des Geistes, auf Subjektivität reduzierbar; nur wenn Sache und Begriff im Höheren des Geistes identisch
sind, ließ nach dem Fichteschen Axiom, das Apriori sei zugleich das
Aposteriori, sich prozedieren“160.
Aus der absoluten Identitätsformel lassen sich aber zugleich die zentralen Artikulationsschwierigkeiten ableiten, in die der späte Idealismus
157
158
159
160
98
Frank (1992), S. 77.
Zitiert nach Frank (2013), S. 247.
Frank (2013), S. 246.
GS6, S. 85.
gerät. Sie betreffen im Grunde das Verhältnis des Ganzen und der Teile.
Wird auf der einen Seite die umgreifende Identität, wie bei Hegel, als der
Relation von Subjekt und Objekt immanent aufgefasst und folglich die
Reflexion beider als autark gedacht, dann kann jedes Relat sein Sein bloß
aus dem Verweis auf sein anderes beziehen und folglich sich nur in diesem
wechselseitigen Verwiesensein selbst begründen. Daraus ergibt sich ein
unendlicher Begründungszirkel, der das Sein nur unendlich voraussetzt,
wie eben der späte Schelling Hegel vorwerfen wird. Wird dagegen die
allumfassende Identität, wie bei Schelling, als Seyn begriffen und folglich
als der Relation von Subjekt und Objekt transzendent aufgefasst, dann
riskiert man, auf ein Reflexionsniveau zurückzufallen, das dogmatische,
gar theologisierende Ressourcen wieder mobilisieren muss. Zusammengefasst ist das der zentrale Kritikpunkt der Hegelianer an Schelling. Diese
Artikulationsschwierigkeiten haben die Nachgeschichte des absoluten
Idealismus im Wesentlichen bestimmt. Sie bilden weitgehend die philosophische Konstellation, aus der sich auch die Idee einer negativen Dialektik
erschließen lässt.
99
§ 8. Negative Dialektik und Identität
Aus der oben behandelten Identitätsproblematik in der neueren Philosophie konnten bereits die wichtigsten Bedeutungsebenen der Identität zur
Sprache gebracht werden, die unmittelbaren philosophischen Gehalt aufweisen. Dort ging es um verschiedene, doch im Grunde nicht zusammenhangslose Identitätssinne: von der Identität anhand des Identitätssatzes
(A = A) über Leibnizens Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren
und die empiristische und transzendentalphilosophische Kritik am Identitätsbegriff bis zu der idealistischen Transformation logischer Prinzipien in
systembildende Grundsätze und zuletzt dem Schelling’schen (und Hegel’schen) Begriff absoluter Identität. In vielen Hinsichten versucht der
Idealismus diese verschiedenartigen Bedeutungsebenen von Identität
integrativ aufzugreifen. Das gilt besonders für Fichte, der in der Grundlage von 1794/95 vom Identitätssatz A = A ausgehend zum systemstiftenden Begriff der Tathandlung gelangt. Der absolute Identitätsbegriff Schellings nun, an den Hegel kritisch anknüpft, versteht sich in vielem auch als
konsequente Auslegung des Identitätssatzes in seiner „nicht aktuierten“ Nichtidentität und lässt sich, wie wir sahen, als eine Art Höhepunkt
der Identitätsproblematik in der Neuzeit betrachten.
Als einem Denkmodell nun, das dem kategorialen Rahmen der klassischen deutschen Philosophie in wesentlichen Zügen verpflichtet ist, ist
auch der negativen Dialektik die Identitätsproblematik zentral. Dies bindet die negative Dialektik an eine umfassende philosophische Fragestellung, die heute immer mehr an Relevanz gewinnt. Auch in ihr geht der
Identitätsbegriff weit über diese im Grunde streng philosophische, wohl
originäre Bedeutungsebene der Identität hinaus. Er erhält dabei zusätzlich
geschichtsphilosophische (Identität als Naturbeherrschung) und gesellschaftstheoretische (Identität als Tausch) Bestimmungen, die mehr oder
minder einheitlich behandelt und aus der philosophischen Identitätsproblematik mittelbar abgeleitet werden. So wird Identität, genauer: das ihr
zugrunde liegende Identitätsdenken in der negativen Dialektik, wie bereits
erwähnt, zu einer „historisch gewordene[n], universale[n] Weise des Inder-Welt-Seins“161. Sie bildet folglich ein Konzept, anhand dessen Adorno
verschiedene theoretische Konstellationen miteinander zu verbinden
sucht und das ihm grundsätzlich als interdisziplinäres Deutungsmittel
dient; eben infolge seiner Vielschichtigkeit scheint der Begriff der Identität dafür angemessen zu sein. Identität ist in diesem Sinne für Adorno die
Grundkategorie, mit der sich eine kritische Theorie – deren eigentliche
Idee eben die immanente Verbindung von Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik enthält – unter nachhegelschen Bedingungen artikulieren
161
Thyen (1989), S. 113.
100
lässt; Identitätskritik oder Kritik am Identitätsdenken ist ihre Grundoperation.
Was lässt sich nun einleitend unter Identitätskritik verstehen?
Schwerwiegende Missverständnisse sind in der Sekundärliteratur diesbezüglich entstanden, die die negative Dialektik in die Nähe eines „Irrationalismus“ und „Ästhetizismus“ rücken, was von ihrem Geist weit entfernt
ist. Zwar geht Adorno wie der gesamte Idealismus davon aus, dass „Denken identifizieren [heißt]“ 162 und folglich dass jeder kognitive Vollzug
Identität immanent impliziert und sogar voraussetzt. Doch es ist natürlich
nicht die reine identifizierende – synthetisierende – Dimension des Denkens, was unter Adornos Kritik am „Identitätsdenken“ fällt. Mit diesem
Terminus ist hier vielmehr ein bestimmter Typus von Theorie und Diskursivität gemeint, der die bloße Herstellung von erkenntnistheoretischer
Identität mit der Gewinnung gehaltvoller Erkenntnis vermengt. Unter
„bloßer Herstellung von Identität“ versteht sich im Grunde ein diskursives Verfahren, das „die für eine wahre Erkenntnis konstitutive Differenz
zwischen Allgemeinem und Besonderem einebne, negiere oder aufhebe
zugunsten einer Identität von beiden am Orte des Denkens oder des Bewußtseins selbst“163. Daher der oft wiederholte Kritikpunkt Adornos am
Identitätsdenken, es „nivelliere“ das Besondere, „verdränge“ es, „behandle
es gewaltsam“. Unter „wahrer“ oder „gehaltvoller Erkenntnis“ wird dagegen ein Erkenntnismodell verstanden, in dem das zu untersuchende Objekt in all seinen konstitutiven, das heißt hier: inhaltlichen und nichtbegrifflichen Dimensionen den Vorrang im Erkenntnisprozess erhält, ohne
dabei an Diskursivität und Bestimmtheit einzubüßen. Gemeint ist eine
„Rettung“ des Besonderen mit und über seine allgemeinbegrifflichen Dimensionen hinaus.
Zur Veranschaulichung dieser für die negative Dialektik wesentlichen
Differenz könnte die Frage nach den Erkenntnismethoden hilfreich sein.
Zwar dürften maßgebend „quantitative“ Verfahren wie Klassifikation,
Formalisierung, Subsumption und dergleichen exemplarisch an den
Denkmodellen beteiligt sein, die am deutlichsten unter Adornos Kritik
fallen. Denn solche quantitativ angelegte Methoden legen traditionsgemäß das Schwergewicht im Erkenntnisprozess eher auf das Formelle und
Allgemeine als auf das Begreifen des Besonderen in seiner Einzigartigkeit.
Jedoch ist die bloße Verwendung solcher Erkenntnismethoden für
Adorno keineswegs an sich problematisch; er selbst hat für bestimmte
soziologische Untersuchungen auf quantitative Methoden zurückgegriffen164. Das Problematische besteht eher darin, dass die Verwendung sol162
163
164
GS6, S. 17.
Thyen (1989), S. 114.
Beispielsweise das in der Emigration verfasste Werk The Authoritarian Personality,
das soziologische Surveys verwendet und sogar eine Skala zu entwickeln sucht – die
101
cher „identifizierenden“ Erkenntnismethoden ohne Weiteres für die eigentliche Erkenntnis gehalten wird, dass also die bloße Verwendung verifizierbarer, für „wissenschaftlich“ gehaltener Erkenntnismethoden im
Erkenntnisprozess den Vorrang gegenüber dem zu untersuchenden Objekt erhält. Solche Methoden können im Sinne Adornos zwar höchst hilfreich für eine gehaltvolle Erkenntnis sein, jedoch nur, wenn sie als Vorstufe
für deren Entwicklung verstanden werden. Negativ-dialektische Identitätskritik wendet sich entsprechend im Grunde gegen die Reifizierung der
Methode als etwas dem jeweiligen konkreten Objekt Unabhängiges, das
bei allen Erkenntnisgegenständen undifferenziert angewandt werden
könnte. Gegen formell angelegte Denkmodelle plädiert die negative Dialektik für inhaltliches Philosophieren, das in der Lage ist, die zu begreifende „Sache“ möglichst in ihrer Einzigartigkeit zur Darstellung zu bringen.
Grundsätzlich dieselben Argumente dürften mit Blick auf die formale Logik mobilisiert werden. Zwar fassen Sätze der Logik und der Mathematik in engerem Sinne das zusammen, was Adorno „Identitätsdenken“ nennt. Doch plädiert negative Dialektik keineswegs für eine Art
„Verzicht auf die Logik“ und ist dementsprechend auch nicht einer anderen Erkenntnisweise verpflichtet, die sich von dem logisch artikulierten
Diskurs dispensierte und intuitionistisch, ästhetisch, magisch oder wie
auch immer angelegt wäre. Kritisiert an der Logik wird lediglich deren
verdinglichender Absolutismus, genauer: der naive Realismus der Logik, wie
Adornos Behandlung von Husserls Logischen Untersuchungen ausführlich
zeigt. Naiv realistisch wird demgemäß die Logik mit der Unterstellung,
dass die Sätze der Logik Wahrheit an sich für Gegenstände überhaupt
besitzen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass Sätze notwendigerweise
Inhaltliches implizieren, und zwar „sowohl mit Hinblick auf die Faktizität
ihres eigentlichen Vollzugs, auf tatsächliches subjektives Urteilen, wie mit
Hinblick auf die stofflichen Elemente, die auch dem abstraktesten Satz,
sei es noch so vermittelt, zugrunde liegen, wenn er überhaupt etwas bedeuten, ein Satz sein soll“165. Kurz gesagt, die formale Logik „ist nicht zu
reinigen von ihrem metalogischen Rudiment“166, das die negative Dialektik als das unauflösliche Etwas bezeichnet.
Zwar gewinnt nun das Konzept einer „wahren“, „gehaltvollen“ oder
„inhaltlichen“ Erkenntnis in manchen Kontexten den Aspekt utopischer
Erkenntnis: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“ 167 ; „Erkenntnis, die den
165
166
167
sogenannte F-Skala –, die die Tendenzen einer bestimmten Persönlichkeit zu faschistischen Verhaltensmustern messen soll.
GS5, S. 73–74.
GS6, S. 139.
GS6, S. 21.
102
Inhalt will, will die Utopie“ 168 . Doch die Möglichkeit eines derartigen
Erkenntnismodells, das sich nicht auf die rein identifizierende Dimension
des Denkens beschränkt und letztlich auf das Inhaltliche abzielt, beruht
für Adorno auf der dialektischen Auffassung des Denkens selbst. Ihr
zufolge nimmt alle Identität notwendigerweise Nichtidentisches in den
Blick, ebenso wie alle Begrifflichkeit erst mithilfe nichtbegrifflicher, deiktischer Momente ihre Bedeutungsfunktion tatsächlich erfüllen kann. „Der
Begriff ist ein Moment wie ein jegliches in dialektischer Logik. In ihm
überlebt sein Vermitteltsein durchs Nichtbegriffliche vermöge seiner Bedeutung, die ihrerseits sein Begriffsein begründet. Ihn charakterisiert
ebenso, auf Nichtbegriffliches sich zu beziehen – so wie schließlich nach
traditioneller Erkenntnistheorie jede Definition von Begriffen nichtbegrifflicher, deiktischer Momente bedarf“169.
Laut Adorno ist, wie wir sahen, die Philosophie der Neuzeit von
Leibniz über Hume und Kant bis zum nachkantischen Idealismus beinahe
zu dieser dialektischen Auffassung des Denkens gelangt: „Das Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches, wie Hegel beinahe es erreichte,
ist der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie“ 170 . Hier treffen wir
erneut, jetzt aber anhand der Identitätsproblematik, auf das im ersten
Kapitel thematisierte Selbstverständnis negativer Dialektik als immanente
Kritik am Idealismus – und in diesem Sinne auch auf das eigentliche bereitgestellte Instrumentarium der neuzeitlichen Philosophie.
168
169
170
GS6, S. 66.
GS6, S. 24.
GS6, S. 126–127, meine Hervorhebung.
103
A. Die identitätskritische Grundoperation negativer Dialektik:
Vorrang des Objekts
Die identitätskritische Grundoperation negativer Dialektik könnte durch
zwei simple Thesen wiedergegeben werden:
1. Identität und Nichtidentisches sind durcheinander vermittelt.
2. Nichtidentisches ist vorrangig gegenüber Identität.
Die erste These ist idealistisch, die zweite materialistisch. Diese Sätze
könnten im Sinne Adornos ohne Bedeutungsverlust mit variierter Terminologie auch so formuliert werden:
1. Subjekt und Objekt sind zwar gegenseitig vermittelt, wie der
Idealismus behauptet.
2. Doch gegen den Idealismus enthält dieses Vermitteltsein eine
interne Ungleichheit zugunsten des Letzteren, die sich aus dem
eigentlichen Sinn der Vermittlung konsequent ergibt und diese
wesentlich transformiert.
Versuchen wir nun, diese Grundoperation konkreter zu fassen.
1. Die erste These entspricht grundsätzlich der gegenseitigen Vermittlung
von Identität und Nichtidentität, wie sie der absolute Idealismus aufgrund
seiner eigenen Konsequenz bereits erreicht hat. Es handelt sich nicht bloß
um den kritisch-idealistischen Grundgedanken, dem zufolge jegliche Objektivität durch Subjektivität immanent vermittelt sei. Außerdem impliziert diese These auch den umgekehrten Gedanken, dass Identität lediglich im Verwiesensein auf Nichtidentisches expliziert werden könne: „Wie
im Sinne Kants keine Welt, kein Konstitutum ohne die subjektiven Bedingungen der Vernunft, des Konstituens möglich ist, so, fügt Hegels Selbstreflexion des Idealismus hinzu, ist auch kein Konstituens, so sind keine
erzeugenden Bedingungen des Geistes möglich, die nicht von tatsächlichen Subjekten und damit schließlich selber von einem nicht bloß Subjektiven, von ‚Welt‘ abstrahiert wären“171. Das beste Dokument einer solchen
„Selbstreflexion des Idealismus“ ist wohl die Debatte zwischen Schelling
und Hegel, die oben zusammenfassend rekonstruiert worden ist. Erst eine
solche Selbstreflexion erlaubt es, auch das Bedingende ebenfalls als Bedingtes und folglich dialektisch aufzufassen. Diese Leistung ist eine interne Forderung des absoluten Idealismus selbst, sofern er als organisches
System der Philosophie ohne das mechanische Setzen von Grundsätzen –
wie Schelling und Hegel Reinhold und Fichte stets vorgeworfen haben –
gestaltet werden soll.
171
GS5, S. 258.
104
Aus dem Sinn dieser ersten These ergibt sich dementsprechend auch
umgekehrt, dass Nichtidentisches nur durch Identität, also mit Begriffen
erreichbar werden kann. Bei dem Nichtidentischen geht es folglich sowohl für den Idealismus als auch für die negative Dialektik um keine Positivität, die etwa den Sinnen unmittelbar gegeben sei und zugleich dem
Begriff irgendwie widerspenstig wäre. „Trivial, daß das Nichtidentische
keine Unmittelbarkeit, daß es vermittelt ist“172. Auch wenn Adorno dies
hier explizit hervorhebt, bleibt der Begriff des Nichtidentischen immer
eine Quelle von großen Missverständnissen in der Sekundärliteratur, die
ihn nicht als Reflexionsbegriff, der in einer dialektischen Relation zur
Identität steht, sondern vielmehr als ontologische Kategorie begreift173.
Das Nichtidentische ist folglich keine Gegebenheit, sondern eine Reflexionsbestimmung; keine Sache, sondern ein umfassenderer Blick auf die Sache;
kein Ansichseiendes, sondern immanent vermittelt; keine vorkritische,
sondern eine kritische Kategorie. Wäre dem nicht so, dann würde das
Nichtidentische direkt zum „Mythos des Gegebenen“ führen, dem zufolge ein unmittelbar Gegebenes vor jedem Begriff etwa erfahrbar wäre, an
dem sich die Begriffe „extern“ abarbeiteten174. Dagegen wendet sich die
negative Dialektik explizit: „Nichts in der Welt ist aus Faktizität und Begriff zusammengesetzt, gleichsam addiert“175. Sie ist folglich der kritischidealistischen Einsicht zutiefst verpflichtet, die das durchgängige Vermitteltsein von Identität und Nichtidentität als gegenseitig deutet: Nichtidentisches ist in diesem Sinne, wie Thyen vorschlägt, eher als Grenzbegriff
des Begrifflichen176 zu fassen, der dessen Begriffsein wie seine eigentlich
allgemeinbegriffliche Bedeutungsfunktion konstituiert und immanent zu
kritisieren erlaubt. Auch wenn sie dafür eine umfassendere Identität voraussetzen muss, ist die absolute Identitätsthese wohl der wirkungsmächtigste und konsequenteste Versuch gewesen, Identität und Nichtidentität
miteinander zu artikulieren.
2. Anders als der Idealismus behauptet die negative Dialektik nun
aber, dass eine sowohl logische als auch genetische Ungleichheit zugunsten
der Objektivität in der Subjekt-Objekt-Vermittlung selbst enthalten ist,
die vom Idealismus vernachlässigt worden sei: „Objekt kann nur durch
Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als
Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch
Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber
172
173
174
175
176
GS6, S. 126.
Vgl. diesbezüglich zum Beispiel Guzzoni (1981).
Die Kritik am Myth of the Given wurde bekanntlich zunächst von Sellars formuliert
und fungierte danach als klassisches Argumentationsmuster gegen nicht durchdachte realistische und fundationalistische Denkmodelle. Vgl. Brandom (1997).
GS6, S. 189.
Thyen (1989), S. 204ff.
105
vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt
zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein“177. Wie
sich hier deutlich zeigt, ist dieser Gedankengang dem einer „konstitutiven
Subjektivität“ im Grunde entgegengesetzt und betrifft strukturell sowohl
die Konstitution von Subjekt und Objekt als auch die Artikulation beider.
Es handelt sich zudem um die materialistische Grundthese der negativen
Dialektik: den Vorrang des Objekts. Von der Begründung dieser These
hängt nun die Konsistenz der negativen Dialektik als eines materialistischen Denkmodells ab: „Durch den Übergang zum Vorrang des Objekts
wird Dialektik materialistisch“178 . Adorno formuliert grundsätzlich vier
Argumente, um die These vom Vorrang des Objekts zu plausibilisieren: (a)
ein kritisch-immanentes, (b) ein philosophiehistorisches, (c) ein historisch-gesellschaftliches und (d) ein anthropologisches Argument. Sie
wollen wir im Folgenden näher betrachten.
(a) Vorrang des Objekts: kritisch-immanentes Argument
Der größte Anspruch der negativen Dialektik besteht darin, ihre Grundoperation rein immanent aus dem Geist des Idealismus selbst zu begründen. Das kritisch-immanente Argument für den Vorrang des Objekts soll
folglich das stärkste und zugleich das weniger begründungsbedürftige
Argument sein, das Adorno zu mobilisieren hat. Es besagt, dass die Ungleichheit zugunsten des Objekts, die dieses sowohl logisch als auch genetisch gegenüber der Subjektivität primär macht, aus dem Sinn der SubjektObjekt-Vermittlung selbst soll extrahiert werden können. Es soll somit den
Kern des Idealismus in dessen eigenem Element treffen können. Adorno
schreibt:
Die Universalität von Vermittlung ist aber kein Rechtstitel dafür,
alles zwischen Himmel und Erde auf sie zu nivellieren, wie wenn
Vermittlung des Unmittelbaren und Vermittlung des Begriffs dasselbe wären. Dem Begriff ist die Vermittlung essentiell, er selber ist
seiner Beschaffenheit nach unmittelbar die Vermittlung; die Vermittlung der Unmittelbarkeit jedoch Reflexionsbestimmung, sinnvoll nur in bezug auf das ihr Entgegengesetzte, Unmittelbare. Ist
schon nichts, was nicht vermittelt wäre, so geht, wie Hegel hervorhob, solche Vermittlung notwendig stets auf ein Vermitteltes, ohne
das sie auch ihrerseits nicht wäre. Daß dagegen Vermitteltes nicht
ohne Vermittlung sei, hat lediglich privativen und epistemologischen Charakter: Ausdruck der Unmöglichkeit, ohne Vermittlung
das Etwas zu bestimmen, kaum mehr als die Tautologie, Denken
von Etwas sei eben Denken. Umgekehrt bliebe keine Vermittlung
ohne das Etwas. In Unmittelbarkeit liegt nicht ebenso deren Vermitteltsein wie in der Vermittlung ein Unmittelbares, welches ver177
178
GS6, S. 184.
GS6, S. 193.
106
mittelt würde. Den Unterschied hat Hegel vernachlässigt. Vermittlung des Unmittelbaren betrifft seinen Modus: das Wissen von ihm
und die Grenze solchen Wissens. Unmittelbarkeit ist keine Modalität, keine bloße Bestimmung des Wie für ein Bewußtsein, sondern
objektiv: ihr Begriff deutet auf das nicht durch seinen Begriff Wegzuräumende. Vermittlung sagt keineswegs, alles gehe in ihr auf,
sondern postuliert, was durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes; Unmittelbarkeit selbst aber steht für ein Moment, das
der Erkenntnis, der Vermittlung, nicht ebenso bedarf wie diese des
Unmittelbaren179.
Dass die Subjekt-Objekt-Vermittlung universell sein soll, markiert den
Unterschied zwischen dem voll ausgeführten absoluten Idealismus und
der Transzendentalphilosophie, die aufgrund der Ding-an-sichProblematik einen „Bruch“ in der Subjekt-Objekt-Vermittlung – einen
Erkenntnisblock, wie sich Adorno auch ausdrückt – noch zuließ. Denn wie
bereits erwähnt, deuten die Idealisten den Begriff des Dinges an sich generell als immanent widersprüchlich und die kritische Philosophie deshalb
als korrekturbedürftig, was dann zur Denkbewegung des nachkantischen
Idealismus führte. Zu etablieren ist in ihren Augen dagegen eine radikalisierte, selbstkonstituierende und bruchlose Vermittlungsstruktur, die alle
Objektivität auf Subjektivität zurückzuführen erlaubt. Damit aber muss
der absolute Idealismus – und Adorno zufolge jeder Versuch, Subjektivität
zu verabsolutieren – eine interne Differenz in der Vermittlung selbst vernachlässigen, die ihren eigentlichen Modus betrifft. Erst so lässt sich das
philosophisch begründen, was Adorno „den Trug konstitutiver Subjektivität“180 nennt, gegen den sich die negative Dialektik grundlegend wendet.
Zwar sind Subjekt und Objekt notwendigerweise durch einander
vermittelt, wie der Idealismus in Gestalt der absoluten Identitätsformel
behaupten konnte; doch während das Erstere aus seiner eigenen Beschaffenheit ohne das Letztere nicht einmal konzipiert werden kann, muss sich
das Letztere gegenüber dem Ersteren mindestens in einer Hinsicht als
autonom erhalten. Diese Hinsicht mag zwar nicht erkenntnistheoretisch
sein, denn das Begreifen eines Objekts setzt Vermittlung tatsächlich bereits voraus. Doch das impliziert nicht nur, kantisch formuliert, dass das
Objekt als solches ohne Vermittlung widerspruchsfrei gedacht werden
könne, sondern vielmehr, dass es als subjektunabhängig widerspruchsfrei
konzipiert werden müsse, sofern Vermittlung selbst – subjektives Verwiesensein auf etwas, das nicht sich selbst ist – möglich sein soll. Mit anderen
Worten: Dieses Etwas muss dementsprechend als unauflöslich konzipiert
werden, sofern Vermittlung selbst möglich sein soll: „Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste,
179
180
GS6, S. 173.
GS6, S. 10.
107
doch durch keinen weiteren Denkprozess abzuschaffende Abstraktion
des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann
formale Logik nicht gedacht werden“181.
Brian O’Connor hat den Versuch unternommen, diesen Gedankengang der negativen Dialektik durch eine transzendentale Argumentation
zu rekonstruieren. „Transzendental“ soll hier so viel bedeuten, dass sich
der vermittlungstheoretische Vorrang des Objekts eben aus dem immanenten Sinn der Subjekt-Objekt-Vermittlung ergeben soll. O’Connor
schreibt:
(i) It is agreed that there is experience.
(ii) There must be something to which the subject relates. If this
something were the subject itself, its own concepts, it would not
be explained how it is that experience has an apparent externally
directed relation, unless an extravagant intrasubjective explanation of this structure were to be proposed (…).
(iii) The notion of an external relation entails that experience is
the relation of the subject to something that is not purely subjective. Thus experience is a relation of subjects to nonconceptual
objects. (To understand objects as being purely conceptual would
be to reduce the nonconceptual dimension of their otherness).
(iv) The commitment to the notion of experience therefore entails a belief that there are objects to which the subject must necessarily relate in order to experience: these obejcts are not reducible to concepts. This conclusion is what Adorno means by the
mediated priority of the object.182
Wäre das unauflösliches Etwas – „something that is not purely subjective“,
wie sich O’Connor ausdrückt – in jeglicher Subjekt-Objekt-Vermittlung
nicht vorauszusetzen, dann würde sich das Subjekt im Erkenntnisprozess
letztlich nur auf sich selbst beziehen und Erkenntnis selbst nur ein Selbstverhältnis sein, das überhaupt keine Beziehung zu irgendeiner Andersheit
besäße. Es reduzierte sich letztendlich auf eine Art von gigantischem
analytischem Urteil, wie Adorno mehrfach wiederholt: „Das πρῶτον
ψεῦδος des Idealismus seit Fichte war, in der Bewegung der Abstraktion
werde man dessen ledig, wovon abstrahiert ist. (…) Denken widerspräche
schon seinem eigenen Begriff ohne Gedachtes und dies Gedachte deutet
vorweg auf Seiendes, wie es vom absoluten Denken doch erst gesetzt
werden soll: ein einfaches ὕστερον προτερον“183. Die Idee der Erkenntnis
181
182
183
GS6, S. 139.
O’Connor (2004), S. 56–57.
GS6, S. 139.
108
als ein Verhältnis zu Verschiedenem erfordert, dass das Etwas, die Objektivität – wenn nicht in erkenntnistheoretischer, dann zumindest in einer
noch zu bestimmenden Hinsicht – als subjektunabhängig konzipiert wird.
Von hier ausgehend kann man, so die negative Dialektik, ein gesamtes
materialistisches Denkmodell ausbuchstabieren. Es bleibt aber zu bestimmen, in welcher Hinsicht dieses unauflösliche Etwas widerspruchsfrei
konzipiert werden kann, ohne in die Ding-an-sich-Problematik oder den
Mythos des Gegebenen zu geraten: „Vom Vorrang des Objekts ist legitim
zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten
Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an
sich als unbekannte Ursache der Erscheinung“184.
(b) Vorrang des Objekts: philosophiehistorisches Argument
Das philosophiehistorische, das historisch-gesellschaftliche und das anthropologische Argument sind im Grunde Hilfsargumente zur Begründung
des Vorrangs des Objekts. Bei dem philosophiehistorischen handelt es
sich um eine retrospektive Interpretation der Geschichte des nachkantischen Idealismus im Lichte der Identitätsproblematik, die gewissermaßen
vom Verfall des absoluten Idealismus ausgeht, um seine Vermittlungsstruktur zu widerlegen. Das Argumentationsmuster lässt sich wie folgt
verstehen:
Zur Grundoperation der negativen Dialektik ist der absolute Idealismus zwar zumindest partiell gelangt, sofern er das gegenseitige Verwiesensein von Identität und Nichtidentisches, von Subjektivität und Objektivität bereits konzipiert hat. Doch sollte die Dialektik von Identität und
Nichtidentität konsequent ausgetragen werden, wie sie bereits bei Schelling und Hegel angelegt ist, dann bedeutet dies in letzter Konsequenz die
eigentliche Überwindung des Idealismus selbst und die Erstellung des
Vorrangs des Objekts. Denn zu Ende gedacht muss das immanente Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches den absoluten Charakter
von Geist und so die eigentliche Grundlage des absoluten Idealismus
selbst aufheben. So gesehen deutet der absolute Idealismus bereits über
sich hinaus. Um sich als idealistisch zu erhalten, muss er dagegen eine
umfassendere Identität präsupponieren, wie anhand der absoluten Identitätsformel dargelegt worden ist. Es erfolgt nun, so der entscheidende
Argumentationsgang Adornos (und, wie wir sahen, auch Franks und anderer Interpreten), eine Vorentscheidung für den absoluten Idealismus:
„Hegels inhaltliches Philosophieren hatte zum Fundament und Resultat
den Primat des Subjekts oder, nach der berühmten Formulierung aus der
Eingangsbetrachtung der Logik, die Identität von Identität und Nichtidentität“, schreibt Adorno. „Das bestimmte Einzelne war ihm vom Geist
184
GS 10.2, S. 748
109
bestimmbar, weil seine immanente Bestimmung nichts anderes als Geist
sein sollte. Ohne diese Supposition wäre Hegel zufolge Philosophie nicht
fähig, Inhaltliches und Wesentliches zu erkennen“185. Die Artikulationsschwierigkeiten des späten Idealismus zeigen aber, dass er in virulente
Schwierigkeiten gerät, wenn er Identität zu verabsolutieren sucht: Entweder muss er das Sein unendlich voraussetzen (Hegel) oder ein transreflexives Seyn setzen (Schelling).
Diese Vorentscheidung für den Idealismus bei Hegel versucht Adorno
nun auch mikrologisch zu demonstrieren. Er bezieht sich unter anderem
auf folgende Textstelle aus dem Anfang der Seinslogik Hegels:
[Raum und Zeit sind] ausdrücklich als unbestimmte bestimmt, was
– um zu seiner einfachsten Form zurückzugehen – das Seyn ist.
Eben diese Unbestimmtheit ist aber das, was die Bestimmtheit desselben ausmacht; denn die Unbestimmtheit ist der Bestimmtheit
entgegengesetzt; sie ist somit als Entgegengesetztes selbst das Bestimmte, oder Negative, und zwar das reine, ganz abstrakt Negative.
Diese Unbestimmtheit oder abstrakte Negation, welche so das
Seyn an ihm selbst hat, ist es, was die äußere wie die innere Reflexion ausspricht, indem sie es dem Nichts gleich setzt, es für ein leeres Gedankending, für Nichts erklärt. – Oder kann man sich ausdrücken, weil das Seyn das Bestimmungslose ist, ist es nicht die (affirmative) Bestimmtheit, die es ist, nicht Seyn, sondern Nichts.186
In dieser Passage lässt sich deutlich erkennen, dass Hegel zwar von Seyn
als Unbestimmtem ausgeht, um gleich im nächsten Satz – „stillschweigend“, wie Adorno schreibt – von Unbestimmtheit zu reden. Anders als
das Unbestimmte, das hauptsächlich eine bloße indexikalische Funktion
besitzt und so auf ein Diesda hindeuten will, ist die Unbestimmtheit ja
bereits ein allgemeinbegriffliches Konstrukt. Im Begriff der Unbestimmtheit „verschwindet das“, so Adorno, „dessen Begriff sie ist; er wird dem
Unbestimmten als dessen Bestimmung gleichgesetzt und das erlaubt die
Identifikation des Unbestimmten mit dem Nichts. Damit ist in Wahrheit
bereits der absolute Idealismus supponiert, den die Logik erst zu beweisen
hätte“187.
Anders gewendet: Auch hier handelt es sich um widerstreitende Tendenzen, die im absoluten Idealismus am Werke sind. Die eine Tendenz ist
mikrologisch und betrifft die Dialektik des Besonderen. Sie nimmt den
nichtidentischen Charakter des Besonderen – des unauflöslichen Etwas –
als notwendigen Bewegungsgrund des Denkens wahr, der seinerseits aufgrund seiner eigenen Unauflöslichkeit zur Aufhebung des Primats des
Geistes und folglich zum Vorrang des Objekts tendenziell führen kann.
185
186
187
GS6, S. 19.
Zitiert nach GS6, S. 125–126.
GS6, S. 126.
110
Vom Standpunkt des Materialismus aus ist diese Tendenz des Idealismus
äußerst progressiv und erlaubt die konsistente Formulierung seiner immanenten Kritik. Doch gleichzeitig operiert im absoluten Idealismus eine
andere Tendenz, die makrologisch ist und den Systemcharakter des Denkens betrifft. Hier muss die Konsistenz und Geschlossenheit des Systems
stets präsupponiert und affirmiert werden, was schließlich zu einer Unterbrechung der Dialektik des Besonderen führt. Für den Materialismus
ist dies die konservative Tendenz des Idealismus, die es zu überwunden
gilt. Paradoxerweise ermöglicht die absolute Identitätsthese beide widerstreitenden Tendenzen zugleich.
So kann die negative Dialektik an verschiedenen Stellen behaupten,
dass Hegel das immanente Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches, das „der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie [ist]“188, nur
beinahe erreicht hat. „Weil Hegel vor der Dialektik des Besonderen zurückschreckt, die er konzipierte – sie vernichtete den Primat des Identischen und folgerecht den Idealismus –, wird er unablässig zur Spiegelfechterei getrieben. (…) Eben damit wird die Dialektik von Nichtidentität
und Identität scheinhaft: Sieg der Identität über Identisches“189. „[Hegel]
trägt die Dialektik des Nichtidentischen nicht aus (…). Sein eigener Begriff des Nichtidentischen, bei ihm Vehikel, es zum Identischen, zur Sichselbstgleichheit zu machen, hat unabdingbar deren Gegenteil zum Inhalt;
darüber eilt er hinweg. (…) Hegels absolutes System, das auf dem perennierenden Widerstand des Nichtidentischen beruht, negiert, gegen sein
Selbstverständnis, sich selbst“190.
Ersichtlich muss die negative Dialektik den absoluten Idealismus gewissermaßen hinter sich haben, um solche Diagnosen formulieren zu können; darum handelt es sich hier grundsätzlich um ein retrospektiv angelegtes Hilfsargument zur Plausibilisierung des Vorrangs des Objekts.
Denn damit der absolute Idealismus als „Spiegelfechterei“, „scheinhaft“,
„selbst negierend“ betrachtet werden kann, muss seine idealistische
Hauptthese in mancher Hinsicht bereits überwunden sein. Dies trifft auf
die negative Dialektik aufgrund ihrer philosophiegeschichtlichen Distanzierung, die das Obsoletwerden der absoluten Identitätsthese einsehen
lässt, teilweise zu. In mancher Hinsicht wiederholt sie jene philosophische
Geste von Voltaire gegenüber Leibnizens Theodizee, die auf einem außerphilosophischen Ereignis basiert, um einen innerphilosophischen Sachverhalt „extern“ zu widerlegen: „Das Erdbeben von Lissabon reichte hin,
Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der
zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich ent188
189
190
GS6, S. 127.
GS6, S. 175.
GS6, S. 126.
111
zieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete“191.
Auch für die negative Dialektik dementiert das nachhegelsche Zeitalter in
weitem Maße die Identitätsthese, sofern die katastrophalen Ereignisse des
20. Jahrhunderts dem aufklärerischen Projekt einer vernünftigen Gestaltung der Wirklichkeit, das unter anderem ein konkreter Ausdruck jener
Identitätsthese war, eindeutig (und definitiv?) widersprechen. Hier wird
bereits das dritte Argument zur Begründung des Vorrangs des Objekts
berührt: das historisch-gesellschaftliche.
(c) Vorrang des Objekts: historisch-gesellschaftliches Argument
Das historisch-gesellschaftliche Hilfsargument zur Plausibilisierung des
Vorrangs des Objekts ist zugegeben indirekter als das philosophiehistorische und muss daher mit einer höheren Begründungslast rechnen. Das
Argument lautet: „Index für den Vorrang des Objekts ist die Ohnmacht
des Geistes in all seinen Urteilen wie bis heute in der Einrichtung der
Realität“192. Es ist vor allem aufgrund der umfassenden Dialektisierung
des Vorrangs des Objekts, die es ausdrückt, äußerst interessant: Hier wird
dieser Vorrang – und mit ihm der Materialismus selbst – als etwas zu
Überwindendes aufgefasst, welche Überwindung aber immer noch konkret verhindert wird. Das Argument geht zunächst von der streng aufklärerischen Prämisse aus, dass die gesellschaftliche Realität nach Maßstäben
der Vernunft durchgängig eingerichtet werden könne, dass etwas in ihr
aber immer noch großen, im Grunde undurchschaubaren Widerstand
dagegen leiste. Gemeint sind hier nicht allein die katastrophalen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die für die negative Dialektik hauptsächlich unter
dem Namen Auschwitz zusammenzufassen sind und das schlechthinnige
Scheitern des Projekts der Aufklärung und der Vernunft selbst symbolisieren. Es handelt sich darüber hinaus und wohl in erster Linie um „die
Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft“, nämlich: „daß keiner mehr hungern soll“193.
Der Vorrang des Objekts ist in diesem Sinne ein Ausdruck dafür, dass
sich die Realität den Subjekten als opak zeigt, dass die Gestaltung der
menschlichen Welt durch Vernunftprinzipien in weitem Maße widerspenstig bleibt. Das Wort „Objekt“ fungiert hier damit als Ausdruck aller Hindernisse, die eine vernünftige – in diesem Sinne „subjektive“ – Gesellschaftsgestaltung hemmen: Die gesellschaftliche Realität könnte zwar
durchaus nach Maßstäben der Vernunft eingerichtet werden, doch etwas
in ihr leistet großen Widerstand dagegen. Was ist dieses Etwas, das sich in
diesem Sinne den Menschen als eine rätselhafte, undurchsichtige und
fremde Dinglichkeit präsentiert? Der so konzipierte Vorrang des Objekts
191
192
193
GS6, S. 354.
GS6, S. 187.
GS4, S. 178.
112
ist in gewissem Sinne eine Antwort auf die intuitive und größtenteils „naive“ Frage, die seitens des gesunden Menschenverstandes angesichts flagranter Ungerechtigkeit oft gestellt wird: „Warum machen die Menschen
nichts dagegen?“ Man könnte die „Ohnmacht des Geistes“ in der Einrichtung der Realität, von der hier die Rede ist, auch anhand des bekannten
Tagebucheintrags Kafkas illustrieren: „Deutschland hat Rußland den
Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“ 194 . Was könnte man in
seiner Winzigkeit gegen den Weltlauf machen? Doch warum fühlt man
sich so ohnmächtig, wenn letztlich die gesellschaftliche Welt aus nichts
anderem als aus Verhältnissen von Menschen besteht, die grundsätzlich
durchschaubar und vernünftig veränderbar sein müssen?
Noch wichtiger an diesem Argument ist seine indirekte Schlussfolgerung: „An den Stellen, wo die subjektive Vernunft subjektive Zufälligkeit
wittert, schimmert der Vorrang des Objekts durch; das an diesem, was
nicht subjektive Zutat ist. Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens
von Objekt; das hat auch fürs Verhältnis von Theorie und Praxis seine
Konsequenz“ 195 . Der historisch-gesellschaftliche Vorrang des Objekts
impliziert nichts anderes, als dass eine durchaus vernunftgemäße Einrichtung der gesellschaftlichen Realität möglich ist und folglich deren Opazität durchbrochen werden kann, die es verhindert, dass die Subjekte sie als
durchlässig betrachten und nach Maßstäben der Vernunft gestalten. Diese
Opazität hat in der Denktradition der kritischen Theorie seit Marx in dem
Begriff des Fetischcharakters der Ware philosophischen Ausdruck erhalten, der für die undurchsichtige Dinglichkeit der Welt verantwortlich sein
soll. Diesem Gedankengang zufolge wäre die entfremdete Dinglichkeit
der Welt – in kritischer Terminologie: die Verdinglichung – dann überwunden, wenn eine vernunftgemäße Einrichtung der menschlichen Welt
erreicht wäre, in der die Subjekte die menschliche Welt als Produkt ihrer
Arbeit – und folglich ihrer Bestimmung – wiedererkennen könnten:
„Trotz des Vorrangs des Objekts ist die Dinghaftigkeit der Welt auch
Schein. Sie verleitet die Subjekte dazu, das gesellschaftliche Verhältnis
ihrer Produktion den Dingen an sich zuzuschreiben. Das wird im Marxschen Fetischkapitel entfaltet, wahrhaft einem Stück Erbe der klassischen
deutschen Philosophie“196. So redet Adorno konsequenterweise von einer
„Aufhebung [des Materialismus], [der] Befreiung des Geistes vom Primat
der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung“197.
Indirekt ist dieses Argument insofern, als es vom jetzigen Stand der
gesellschaftlichen Welt ausgeht, um den vom Idealismus vertretenen Pri194
195
196
197
Tagebucheintrag Kafkas vom 2. August 1914. Kafka (1983), S. 305.
GS10.2, S. 752.
GS6, S. 190.
GS6, S. 207. Ich werde im vierten Kapitel auf diesen Sachverhalt ausführlich zurückkommen.
113
mat des Subjekts zu widerlegen. Es lautet dementsprechend: Wäre das
Subjekt sowohl logisch als auch genetisch gegenüber dem Objekt tatsächlich primär und konstituierend, dann wäre die objektive Welt ihm vernünftig und durchsichtig gestaltbar, was (offensichtlich und bisher) falsch
ist. Ergo: Das Primat des Subjekts und mit ihm der Idealismus sind korrekturbedürftig.
(d) Vorrang des Objekts: anthropologisches Argument
Das anthropologische Hilfsargument zur Plausibilisierung des Vorrangs
des Objekts ist in weitem Maße naturalistisch inspiriert und betrifft die
Phylogenese der menschlichen Gattung. Es lautet: „Genetisch ist das
verselbständigte Bewußtsein, Inbegriff des Tätigen in den Erkenntnisleistungen, abgezweigt von der libidinösen Energie des Gattungswesens
Mensch. Dagegen ist sein Wesen nicht indifferent; keineswegs definiert es,
wie bei Husserl, die ‚Sphäre absoluter Ursprünge‘. Bewußtsein ist Funktion
des lebendigen Subjekts, sein Begriff nach dessen Bild geformt. Das ist
aus seinem eigenen Sinn nicht zu exorzieren“198.
Nach aller Evidenz geht Adorno hier von einem naturwissenschaftlichen Argumentationsmuster aus: Bewusstsein ist das letzte Produkt der
Naturgeschichte, das die gesamte vorherige Entwicklung sowohl des Anorganischen als auch des Organischen voraussetzt. Adorno ist sich im
Klaren darüber, dass dieses phylogenetische Argument an sich nicht hinreichend ist, um den Vorrang des Objekts zu begründen. Denn der Idealismus kann dagegen argumentieren, dass der genetische Ursprung des
Geistigen aus der Natur ja nicht den logischen Vorrang des Objekts gegenüber der Subjektivität notwendigerweise implizieren müsse. In einem
Wort: Genese ist nicht Geltung. So wird für die Begründung des Vorrangs
des Objekts noch die Behauptung nötig, dass das Bewusstsein als „modifiziert leibhafter Impuls“199 von dem Körperlichen, Leibhaften und Materiellen nicht abzulösen und noch innerlich durch es bestimmt sei, sodass
das Geistige auch logisch nur mit Rekurs auf die Natur erklärbar sei. Hier
vertritt Adorno eine Art dialektischer Emergenztheorie des Geistes: Dass
die epistemischen Vermögen des Menschen aus vorepistemischen stammen und sich von diesen nicht ablösen lassen, muss nicht – so die größte
Herausforderung der negativen Dialektik – einen Rückfall in den nackten
Physikalismus implizieren.
Diese vorepistemischen Verhaltensweisen des Menschen nun, die im
Ursprung des Rationalen zu lokalisieren sind, fasst Adorno unter der
Kategorie des Mimetischen zusammen200. Zwar bedeutet Mimesis im Einklang mit der Tradition die imitatio, wie Benjamin sie definiert: die Fähig198
199
200
GS6, S. 186.
GS6, S. 204.
Vgl. Morgan (2017).
114
keit, „ähnlich zu werden und sich zu verhalten“201. Doch sie entspricht bei
Adorno auch dem philosophischen Problemtitel, der über die imitatio
hinaus rezeptive, emotionale, projektive und ästhetische Verhaltensweisen
umfasst, die ihrerseits nicht rein begrifflich vermittelt und im Wesentlichen leiblich gebunden sind. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wird
das mimetische Verhalten tendenziell zu einem Tabu, was dazu führt, dass
die Mimesis (immer neutralisierter) Zuflucht in der Kunst findet. Sie
bleibt aber der Erkenntnis konstitutiv. So schreibt Adorno in der Metakritik:
Ist Rationalität insgesamt die Entmythologisierung mimetischer
Verhaltensweisen, so kann es nicht wundernehmen, daß das mimetische Motiv in der Reflexion auf die Erkenntnis sich am Leben erhält; vielleicht nicht bloß als archaisches Rudiment, sondern weil
Erkenntnis selber ohne den wie immer auch sublimierten Zusatz
von Mimesis nicht konzipiert werden kann: ohne sie wäre der
Bruch von Subjekt und Objekt absolut und Erkenntnis unmöglich.202
Zwar wurde diese Hypothese bereits in der Dialektik der Aufklärung ausgearbeitet203, sie bleibt aber darüber hinaus nicht nur für die Metakritik,
sondern auch für die negative Dialektik zentral. Auch Letztere lokalisiert
in dem Mimetischen den Ursprung des Rationalen, das seinerseits nicht
als von jenem gänzlich autonom gedacht werden könne – was wiederum
Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt sei:
In ihrem Postulat, dem des Vermögens zur Erfahrung des Objekts
– und Differenziertheit ist dessen zur subjektiven Reaktionsform
gewordene Erfahrung – findet das mimetische Moment der Erkenntnis Zuflucht, das der Wahlverwandtschaft von Erkennendem
und Erkanntem. Im Gesamtprozeß der Aufklärung bröckelt dies
Moment allmählich ab. Aber er beseitigt es nicht ganz, wofern er
nicht sich selbst annullieren will. Noch in der Konzeption rationaler Erkenntnis, bar aller Affinität, lebt das Tasten nach jener Konkordanz fort, die einmal der magischen Täuschung fraglos war. Wäre dies Moment gänzlich getilgt, so würde die Möglichkeit, daß
Subjekt Objekt erkennt, unverständlich schlechthin, die losgelassene Rationalität irrational. Das mimetische Moment seinerseits jedoch verschmilzt auf der Bahn seiner Säkularisierung mit dem rationalen“204.
Auch hier wird der Vorrang des Objekts nur indirekt indiziert: Das Argument vermag lediglich, den genetischen Vorrang der Natur gegenüber
201
202
203
204
Benjamin (1977), S. 210.
GS5, S. 147, Fußnote 2.
GS3, S. 42ff.
GS6, S. 55
115
dem Geist zu begründen und den Geist emergenztheoretisch zu spezifizieren. Es ist aber insofern wichtig, als die vorherigen Argumente nur die
logische Dimension des Vorrangs des Objekts berücksichtigt haben. Nun
erst wird sein voller Anspruch eingelöst.
***
An dieser Stelle lässt sich bereits die Grundoperation der negativen Dialektik mit wenigen Worten zusammenfassen. Zwar stellt der Vorrang des
Objekts den Inbegriff des negativ-dialektischen Materialismus dar, doch
er wird nur infolge der voll ausgeführten Identitätsproblematik gewonnen,
wie sie der Idealismus aufgrund seiner eigenen Konsequenz erreicht hat.
Erst der absolute Idealismus hat den dialektischen Charakter des Denkens
zur Sprache gebracht, dem zufolge es unabdingbar mit Nichtidentischem
verbunden ist. Wie Adorno schreibt: „Denken ist an Seiendes gekettet“205.
So wird der negativ-dialektische Materialismus, der mit dem Vorrang des
Objekts im Grunde zusammenfällt, nicht dem Idealismus bloß entgegengestellt, sondern aus ihm kritisch-immanent gewonnen. Die beiden Thesen nun, durch die die Grundoperation der negativen Dialektik wiedergegeben wurde – 1. Identität und Nichtidentisches sind gegenseitig vermittelt, und 2. Nichtidentisches ist vorrangig gegenüber Identität –, dürfen in
diesem Sinne zwar eine gewisse Kontrarietät ausdrücken, doch die zweite,
die materialistische These steht vielmehr in einem Komplementaritätsverhältnis zur ersten, der kritisch-idealistischen. „Der Vorrang des Objekts
wird aus dem defizienten Modus des idealistischen Vermittlungsbegriffs
gewonnen und nicht durch die Negation des Vorrangs des Subjekts“,
schreibt Thyen. „Erst aus jenem defizienten Modus läßt sich das Ungleichgewicht von Subjekt und Objekt ableiten“206.
Reduziert man logisch den Inbegriff der negativen Dialektik auf diese
Thesen, dann wird – wie gesagt – die Konsistenz des negativ-dialektischen
Materialismus grundsätzlich von dem Übergang von der ersten zur zweiten These abhängen. Denn der Idealismus hat sich bereits um die Konsistenz der ersten These bemüht. Indem er alle möglichen Implikationen
und Bedingungen von der durchgängigen Vermittlung von Subjekt und
Objekt ausbuchstabiert hat, hat er so die Artikulationsschwierigkeiten
freigelegt, zu denen die Selbstreflexion des Subjekts immanent führt. So
hat der späte Idealismus das Problem des Begründungszirkels der Reflexion
offenbart, die das Sein entweder nur unendlich voraussetzen kann (Hegel)
oder transreflexiv setzen muss (Schelling). Die negative Dialektik reflektiert sowohl die Artikulationsschwierigkeiten selbst als auch beide Antwortvorschläge; sie ist aber der Hegel’schen Variante grundsätzlich ver205
206
GS6, S. 109, Fußnote.
Thyen (1989), S. 208.
116
pflichtet, der zufolge die Subjekt-Objekt-Relation als autark aufzufassen
ist: „Nichts ist möglich als die bestimmte Negation der Einzelmomente,
durch welche Subjekt und Objekt absolut entgegengesetzt und eben
dadurch miteinander identifiziert werden. Subjekt ist in Wahrheit nie ganz
Subjekt, Objekt nie ganz Objekt; dennoch beide nicht aus einem Dritten
herausgestückt, das sie transzendierte. Das Dritte tröge nicht minder“207.
Als eine interne Berichtigung der Hegel’schen Variante könnte der
Vorrang des Objekts so als der Versuch interpretiert werden, den Artikulationsschwierigkeiten des späten Idealismus – und mit ihm der gesamten
Subjektphilosophie – identitätskritisch zu entgehen, ohne aber – wie bei
dem späten Schelling und der neueren Ontologie – ein transreflexives Sein
setzen zu müssen. Wir sahen, wie Hegel Identität und Unterschied derart
miteinander in Verbindung bringt, dass er eine jegliche feste Objektbestimmung in ihr Entgegengesetztes überführen und jedes Ding als immanent widersprüchlich auffassen kann: „‚Alle Dinge sind an sich selbst
widersprechend‘, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke“208. Doch Hegel
konnte das Wirkliche nur deshalb so auffassen, weil er über einen Begriff
absoluter Identität verfügte, der das Objekt als immer schon da gewesenes
Subjekt expliziert. So ist auch für ihn das Objekt notwendigerweise qualitativ reicher und bestimmungsvoller als ein jeglicher Einzelbegriff, unter
der es subsumierbar ist, weil es sich als aufgrund absoluter Identität Widersprüchliches auch als lebendige Ganzheit begreifen lässt. Alle Dinge
sind in diesem Sinne zwar an sich widersprechend, doch am Orte des
Absoluten als Ganzheit spekulativ auflöslich. So fungiert laut der negativdialektischen Interpretation der Geschichte des Idealismus das Subjekt bei
Hegel letztendlich – und wohl wider Willen – doch als Erstes.
Mit dem Vorrang des Objekts besteht die negative Dialektik umgekehrt darauf, dass das Objekt unauflöslich sei. Während sie die Unterstellung beibehält, dass „jeder einzelne unter eine Klasse subsumierte Gegenstand Bestimmungen hat, die in der Definition seiner Klasse nicht enthalten sind“209, verfügt sie nicht mehr über den Begriff absoluter Identität,
der jene Unterstellung bei Hegel erst konsistent machte. So ist auch für
die negative Dialektik das Objekt zwar notwendigerweise qualitativ reicher als eine jegliche einzelne Bestimmung, doch eben als solche unauflöslich. Mit dem Idealismus fasst die negative Dialektik das Objekt so als
unendlich, doch gegen den Idealismus als eine prinzipiell unauflösliche
Unendlichkeit: „Die traditionelle Philosophie glaubt, ihren Gegenstand
als unendlichen zu besitzen, und wird darüber als Philosophie endlich,
abschlußhaft. Eine veränderte müßte jenen Anspruch kassieren, nicht
207
208
209
GS6, S. 177.
WW5, S. 74.
GS6, S. 153.
117
länger sich und anderen einreden, sie verfüge übers Unendliche. Sie würde
aber statt dessen selber, zart verstanden, unendlich insofern, als sie verschmäht, in einem Corpus zählbarer Theoreme sich zu fixieren“210. „Ein
jegliches Seiendes ist mehr, als es ist“.211 „Was ist, ist mehr, als es ist“212.
Die These des Vorranges des Objekts greift aber nicht nur in die
strukturelle Rolle der Objektivität, sondern auch in die der Subjektivität
im Erkenntnisprozess ein. Dies zeigt sich auch anhand der konstitutionstheoretischen Schlussfolgerung Adornos, derzufolge „Subjekt in Wahrheit
nie ganz Subjekt [ist], Objekt nie ganz Objekt“213, weil sie „sich durch
einander [konstituieren], wie sie vermöge solcher Konstitution auseinandertreten“214. Dass das Subjekt nie ganz Subjekt sei, ist zunächst eine interne Konsequenz des Vorranges des Objekts selber. Denn wir sahen, dass
er eine phylogenetische Dimension enthält, derzufolge „das verselbständigte Bewußtsein, Inbegriff des Tätigen in den Erkenntnisleistungen,
[genetisch] abgezweigt [ist] von der libidinösen Energie des Gattungswesens Mensch (…) Bewusstsein ist Funktion des lebendigen Subjekts, sein
Begriff nach dessen Bild geformt. Das ist aus seinem eigenen Sinn nicht
zu exorzieren“215. Ist Bewusstsein in diesem Sinne notwendigerweise leiblich gebunden, dann bedeutet dies zugleich, dass das Subjekt eben nur
auch als Objekt konzipiert werden könne und folglich tatsächlich nie ganz
Subjekt sei. Rationalität, das Subjektsein selbst bleibt in diesem Sinne
immer dem Objektsein angehaftet.
Sind Subjekt und Objekt nie ganz sich selbst, weil sie sich durch das
jeweils Andere konstituieren und so auch aus einander auseinandertreten,
dann bestünde die intuitive Schlussfolgerung darin, dass beide aus einem
Dritten wie Sein, Natur oder Gesellschaft entstehen, das seinerseits das
wahrlich Konstitutive wäre und aus dem man eine Ontologie oder eine
Art object-oriented ontology ausbuchstabieren könnte. Doch eben diese
Schlussfolgerung wird von der negativen Dialektik anhand einer ausführlichen Ontologiekritik kritisch verhindert: „[d]ennoch beide nicht aus
einem Dritten herausgestückt, das sie transzendierte. Das Dritte tröge
nicht minder“ 216 . Diese Ontologiekritik, die das Wesen des negativdialektischen Materialismus vervollständigt, ist der Gegenstand des nächsten Kapitels.
210
GS6, S. 25.
GS6, S. 109.
212
GS6, S. 164.
213
GS6, S. 177.
214
GS6, S. 176
215
GS6, S. 186.
216
GS6, S. 177
211
118
B. Identität als Übergangskategorie
Wir sind von der Feststellung ausgegangen, dass „Identität“ bereits von
einem rein philosophischen Standpunkt aus eine vieldeutige und problematische Kategorie ist. Das westliche Denken ist seit Beginn der Neuzeit
nicht nur der Problemhaftigkeit des Identitätsbegriffs theoretisch innegeworden, sondern hat ihn dann – folgt man beispielsweise Hume – für
einen der dunkelsten Begriffe des philosophischen Vokabulars gehalten.
Die Denksysteme des Deutschen Idealismus haben vielleicht den wirkungsmächtigsten Versuch unternommen, die verschiedenen philosophischen Bedeutungsebenen von Identität anhand eines Begriffs absoluter
Identität zu integrieren. Dabei werden formallogische, ontologische, ichtheoretische und vermittlungstheoretische Dimensionen des Identitätsbegriffs philosophisch artikuliert. Die negative Dialektik geht von diesem
idealistischen Integrierungsversuch aus und sucht, wie wir sahen, ihn
kritisch-materialistisch zu wenden. Dabei besteht sie auf der eigentlichen
Prämisse des absoluten Idealismus über das immanente Vermitteltsein von
Identität und Nichtidentität, um ihre identitätskritische Grundoperation
aus ihr zu entfalten. Als solche vollzieht sie sich im Rahmen der Selbstreflexion des Subjekts innerhalb seiner eigenen Erkenntnisvermögen, die sie
zwar immanent kritisiert, doch nicht verlässt.
Wie ich bei der Diskussion über die Rezeptionsgeschichte der negativen Dialektik thematisiert habe, entspricht die Selbstreflexion des Subjekts dem einen Gedankenstrom negativer Dialektik, der zwar ihr grundlegender ist, jedoch von dem gesellschaftstheoretischem komplementiert
wird. So hat die Rezeptionsgeschichte des Werkes das Problem massiv
beschäftigt, ob Adorno es gelungen ist, beide Gedankenströme miteinander zu verbinden und so den vollen Anspruch negativer Dialektik, Gesellschaftskritik und Erkenntniskritik in einem zu sein, tatsächlich einzuhalten: „Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt“217.
Wohl aufgrund ihrer eigenen Vieldeutigkeit soll die Identitätskategorie als
Bindeglied zwischen beiden Gedankenströmen dienen. Deshalb verlässt
die Identitätsproblematik in der negativen Dialektik die Logik der Selbstreflexion und erreicht auch andere, oft metaphorisch wirkende Dimensionen, die aber immer noch der innerhalb der Logik der Selbstreflexion
ausgearbeiteten Dialektik von Identität und Nichtidentität zu folgen
scheint.
Wie soll nun – ihrem Anspruch nach – die Identitätskategorie Kritik
an der Gesellschaft und Erkenntniskritik miteinander verbinden? An einer
zentralen Stelle der Negativen Dialektik schreibt Adorno:
217
GS10.2, S. 748.
119
Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den
abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist
urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein
gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn
werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt
zum Identischen, zur Totalität (…). Kritik am Tauschprinzip als
dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und
gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde.
Das allein transzendierte den Tausch. Hat ihn die kritische Theorie
als den von Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die
Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei
aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das
nichts qualitativ Verschiedenes toleriert. Würde keinem Menschen
mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.218
Es handelt sich um ein Isomorphieverhältnis – eine „Urverwandtschaft“ –
zwischen dem kategorialen Gefüge des durchgearbeiteten Identitätsdenkens in Gestalt der Hegel’schen Philosophie einerseits und der spätkapitalistischen Gesellschaft andererseits. Diese Isomorphie soll grundsätzlich
darin bestehen, dass beide umfassend auf Identität basiert sind: das Identitätsdenken auf dem Identitätsprinzip, das das Denken immanent konstituiert und zum System ebenso immanent führt; die spätkapitalistische
Gesellschaft auf dem aus der Warenform abgeleiteten Tauschprinzip, das
seinerseits „urverwandt“ mit dem Identifikationsprinzip ist. Das dialektisch konzipierte Identitätsprinzip formiert so den zu Ende gedachten
Systemgedanken innerlich, während das ebenfalls identitätsstiftende
Tauschprinzip vom Gebrauchswert der jeweiligen Waren abstrahiert und
sie miteinander vom Standpunkt der durchschnittlichen Arbeitszeit aus
identisch, kommensurabel macht.
Mit dem tendenziellen Ausschluss nichtkapitalistischer Räume im
Spätkapitalismus wird das Tauschprinzip nun so ausgeweitet, dass die
ganze Welt „zum Identischen, zur Totalität“219 gemacht wird. Die negative
Dialektik geht von diesem Isomorphieverhältnis aus und will so eine vermittelte Rekonstruktion des Grundprinzips der kapitalistischen Gesellschaft selbst sein. Besteht tatsächlich dieses Isomorphieverhältnis zwischen Identitätsprinzip und Tauschprinzip, dann entspricht die Identitätskritik, die die negative Dialektik zu leisten versucht, der Grundlogik
einer spätkapitalistischen Gesellschaftskritik. Das macht, wie gesagt, den
vollen Begriff der negativen Dialektik als Zusammenführung erkenntnis-
218
219
GS6, S. 149f.
GS6, S. 149.
120
theoretischer Identitätskritik und spätkapitalistischer Gesellschaftskritik
aus.
Die kritische Theorie der Gesellschaft hat sich von Anfang an darum
bemüht, die Logik und die Voraussetzungen dieser Zusammenführung
stringent freizulegen. Denn ihr eigener Begriff enthält eben die Prämisse,
dass Gesellschaftskritik erst auf der Grundlage einer umfassenden Erkenntniskritik konsistent durchgeführt werden kann. Die Kritische Theorie hat sich daher schon immer dadurch ausgezeichnet, beide Ebenen in
ihren Analysen in Verbindung zu bringen, auch wenn dies oft im Bereich
des Essayistischen und gar Metaphorischen verblieben ist. Das gilt auch
für Adorno: Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass er sich lebenslang
um das theoretische Bindeglied bemüht hat, das diese Zusammenführung
erlaubt. Wenn er in der Negativen Dialektik diese Zusammenführung als
isomorphisch unter der Kategorie der Identität zu fassen sucht, ist dies das
Ergebnis einer langen Auseinandersetzung Adornos, die sich zumindest
bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen lässt220. Seitdem stand er in Austausch mit seinem Kollegen im Institut für Sozialforschung Alfred SohnRethel, der, wie es in der Negativen Dialektik heißt, „zuerst darauf aufmerksam gemacht [hat], daß in ihm [im Transzendentalen – D. P.], der
allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geistes, unabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt“221.
Bereits in den 30er Jahren hat Sohn-Rethel den Versuch unternommen, eine marxistische Erkenntnistheorie zu entwickeln, die grundsätzlich in der Ableitung eines, wie er es nannte, „abstrakten“ oder „rationalen
Denkens“ aus der Marx’schen Wertform bestehen sollte. Es handelt sich
tatsächlich um nichts Geringeres als den Nachweis, „daß die logische
Formbestimmtheit des rationalen Denkens in direkter Weise von der
Formbestimmtheit des Waren-Geld-Austausches bedingt ist“ 222 . Dabei
glaubt Sohn-Rethel plausibilisieren zu können, dass die Abstraktionsleistungen, die die Ware als „Quantität schlechthin“223 unter Ausschluss aller
qualitativen Bestimmtheiten zu fassen erlauben und folglich Voraussetzung des Tauschvorganges sind, im Grunde dieselben kognitiven Abstraktionsleistungen sind, die der Formbestimmtheit des „abstrakten Denkens“ entsprechen: „Diese Quantität an sich oder in abstracto ist wie die
Tauschgleichung, aus der sie entspringt, relationaler Natur und haftet
wiederum wie die Tauschgleichung am Akt des Tauschvollzuges (…). Es
ist diese absolute, von Qualität überhaupt ‚abgelöste‘ Quantität relationa-
220
221
222
223
Vgl. Pettazzi (1983).
GS6, S. 178.
Sohn-Rethel (1978), S. 40.
Sohn-Rethel (1973), S. 75.
121
ler Natur, welche dem reinen mathematischen Denken als Formbestimmtheit zugrundeliegt“224.
Aus dieser Beschreibung des Programms Sohn-Rethels lässt sich bereits ersehen, welche Schwierigkeiten sein direktes Ableitungsverhältnis
von Real- und Denkabstraktion bereitet. Wird dieses Verhältnis radikalisiert, wie Sohn-Rethel selbst in Gestalt einer „Liquidierung des Apriorismus“ programmatisch intendiert, dann bedeutet dies nichts anderes, als
dass alles „abstrakte“ bzw. „rationale Denken“ auf die abstrahierende Rationalität des Tausches zurückgeführt werden müsste. Aus dieser Rückführung würde sich dann ergeben, dass „Denken“ wahrlich zu einem bloßen Epiphänomen der Tauschrationalität herabgesetzt werden müsste225.
Dies impliziert erstens, dass eine so konzipierte marxistische Erkenntnistheorie paradoxerweise die offensichtlichen Intentionen der Gesellschaftsanalyse von Marx nicht mehr rational begründen könnte, die ja von
der prinzipiellen Transformierbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse aufgrund kollektiver Aktion ausgeht. Zweitens könnte man nicht mehr die
normativen Prinzipien des Ideologieverdachts in Bezug auf theoretische
Gebilde explizieren, da alle „abstrakte“ Erkenntnis und wohl alles Denken
an der Tauschlogik teilhätte und so prinzipiell als ideologisch bestimmt
werden könnte. Seine Forderung an die materialistische Theoriebildung,
„daß in ihr keine Kategorien verwandt werden, von denen man nicht weiß,
von welchen Produktionsverhältnissen sie bedingt sind“226, wäre folglich
schwerlich haltbar – denn abgesehen von der konkreten kategorialen
Auswahl wäre „rationales Denken“ bereits rein formell an der Tauschlogik
gebunden. Sohn-Rethels aporetischem Versuch fehlt daher, in einem Wort,
Vermittlung.
Indem er behauptet, dass das Tauschprinzip „urverwandt mit dem
Identifikationsprinzip [ist]“, dass dieses „sein gesellschaftliches Modell“ am Tausch hat, scheint Adorno mit Sohn-Rethel prinzipiell übereinzustimmen. Es ist aber leicht zu erkennen, wie Adorno Sohn-Rethels
Argumentation nur auf Kosten großer Inkonsistenzen in der Konstruktion
der negativen Dialektik folgen kann: Will der eine Gedankenstrom der
negativen Dialektik eben die Dialektik des Nichtidentischen in Auseinandersetzung mit dem Identitätsdenken reflektieren und Nichtidentität so
als kritische Kategorie par excellence freilegen, würde das direkte Ableitungsverhältnis Sohn-Rethels von Real- und Denkabstraktion, das den
gesellschaftstheoretischen Gedankenstrom negativer Dialektik gründen
soll, gerade dies unmöglich machen. Thyen schreibt treffend, dass, „folgt
man Sohn-Rethel, der Topos ‚Nichtidentität‘, insofern er an die Erfahrungsgehalte empirischer Subjekte gebunden ist, obsolet würde (…). Die
224
225
226
Sohn-Rethel (1973), S. 75.
Thyen (1989), S. 188.
Sohn-Rethel (1978), S. 29.
122
Erklärungsversuche der materialistischen Erkenntnistheorie fallen, weil
sie das Verhältnis von Warenform und Denkform reduktionistisch behandelt, selbst unter die Kritik des Identitätsdenkens“227. Wohl aus diesem
Grund sind die Ausführungen in der negativen Dialektik, die sich der
Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel widmen, ziemlich begrenzt.
Sohn-Rethel scheint Adornos allgemeine Intuition zwar zu bekräftigen, der zufolge ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Identitätsdenken und der Tauschlogik besteht, doch weder er noch Adorno selbst vermögen diese Zusammenhangslogik konsistent zu explizieren, ohne die
Grundlage der Dialektik des Nichtidentischen fatal zu treffen. So beschränkt sich Adorno auf den Hinweis, es besteht eine „Urverwandtschaft“ zwischen Tauschprinzip und Identitätsprinzip, doch anders als
Sohn-Rethel deutet er diese Urverwandtschaft nicht als direktes, wohl
unvermitteltes Ableitungsverhältnis, sondern vorsichtiger als Isomorphieverhältnis. Adornos Argument gewinnt somit eher den Status einer
exemplifizierenden und plausibilisierenden Analogie.
Doch als Analogie leuchtet Adornos Versuch, Identität als Übergangskategorie zwischen Erkenntniskritik und Gesellschaftstheorie zu
deuten, eben die identitätskritische Grundoperation der negativen Dialektik ein. Besteht man auf die Dialektik des Nichtidentischen, wie sie der
eine Gedankenstrom der negativen Dialektik freilegt, dann führt die Rede
von einem Isomorphieverhältnis zwischen Identifikationsprinzip und
Tauschprinzip zu der Analogie, dass Identität dem Tauschwert, Nichtidentität dem Gebrauchswert entspricht und beide korrelieren, während
der Gebrauchswert aber wiederum als materiale Grundlage für allen
Tausch fungieren soll. Adorno weist explizit auf diesen Umstand hin,
wenn er schreibt, dass „es aber gleichwohl des nicht unter die Identität zu
Subsumierenden – nach der Marxischen Terminologie des Gebrauchswerts
– bedarf, damit Leben überhaupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhältnissen, fortdauere, ist das Ineffabile der Utopie“228. Man sieht
ein, wie hier der Vorrang des Objekts analog enthalten ist: Bei aller Ausbreitung des Tauschprinzips im Spätkapitalismus muss ein „nicht unter es
zu Subsumierendes“ – ein unauflösliches Etwas, der Gebrauchswert –
vorausgesetzt werden, damit Tausch überhaupt zustande kommt. Mit der
Totalisierung des Tausches – des Identischen – wird dieser Gebrauchswert
aber nur als das Negative zugänglich. So erlaubt es der Vorrang des Objekts, anders gesagt, alle Objektivität auch hier unter dem Standpunkt des
Antinomischen zu fassen.
227
228
Thyen (1989), S. 191.
GS6, S. 22.
123
C. Negative Dialektik und Identität: Zusammenfassung
In diesem Abschnitt habe ich versucht, die Grundoperation der negativen
Dialektik anhand zweier einfacher Thesen zur Sprache zu bringen: 1.
Identität und Nichtidentisches sind gegenseitig vermittelt, und 2. Nichtidentität ist primär gegenüber der Identität. Es wurde dabei erörtert, dass
beide Sätze nicht bloß in einem Kontrarietäts-, sondern vielmehr in einem
dialektischen Komplementaritätsverhältnis zueinander stehen. Denn der im
zweiten Satz enthaltene Vorrang des Objekts wird erst aus der defizienten
Vermittlungsstruktur gewonnen, die der erste Satz ausdrückt und die auch
der voll ausgeführte absolute Idealismus aufgrund der absoluten Identitätsthese vertritt. Auch habe ich den Versuch unternommen, die andere,
dieser Grundoperation untergeordnete Übergangsdimension der Identität
zu problematisieren. Indem sie von der absolut-idealistischen These der
durchgängigen Vermittlung von Subjekt und Objekt ausgeht, setzt die
negative Dialektik so die gesamte Entwicklung des Idealismus voraus.
Doch mit ihrer identitätskritischen Grundoperation, die der Konstruktion
des Vorrangs des Objekts entspricht, will sie zugleich in diese Entwicklung eingreifen und den Idealismus kritisch-materialistisch an seine immanenten Grenzen führen. Der Vorrang des Objekts wird aber immerhin,
wie wir sahen, als eine interne Berichtigung der Hegel’schen Vermittlungskonstruktion konzipiert, die ja aus den Artikulationsschwierigkeiten
des späten Idealismus immanent erwächst.
Die Konstruktion des Vorrangs des Objekts ist ihrem eigenen Anspruch nach Teil der Logik der Selbstreflexion. Doch aufgrund ihrer
Grundoperation nimmt die negative Dialektik eine Position sui generis
zwischen den Denkmodellen ein, die das Instrumentarium der neuzeitlichen Philosophie reflektieren. Diese Position der negativen Dialektik
könnte auch graphisch dargestellt werden:
124
Figurativ kann man die Position der negativen Dialektik zwischen den
anderen Denkmodellen deutlicher ersehen. Indem der klassische Materialismus Sein und Geist als grundsätzlich materiell fasst, behauptet er den
konstituierenden Charakter des Seins und die Erkennbarkeit beider, die ja
letztendlich gleicher Natur sind. Die kopernikanische Wende Kants
zeichnet sich nun durch die doppelte Operation aus, dass das mit dem
Geist unkorrelierte Ansich entabsolutiert wird und jenem allein konstituierender Charakter zugesprochen wird. Doch sofern die transzendentale
Erkenntnisweise keine starke ontologische These unterstellen muss, lässt
sie die Denkbarkeit eines mit Geist unkorrelierten Ansich zu. Weil der
darauffolgende absolute Idealismus die Denkbarkeit eines Ansich für eine
interne Inkonsistenz des kantischen Projekts hält, negiert er sogar eine
bloße Denkbarkeit und affirmiert die Einheit von Sein und Denken am
Ort des Absoluten. Daraus ergibt sich notwendig der konstituierende
Charakter von Geist. Die negative Dialektik nimmt nun eine Zwischenposition ein: Mit Kant und dem Idealismus, doch gegen den klassischen
Materialismus fasst auch sie Subjektivität wenn nicht als konstituierend,
so doch als aktive Instanz auf, die sich der Objektivität gegenüber nicht
bloß hinnehmend verhält. Hier ist ihre kritische Dimension enthalten.
Mit Kant, doch gegen den Idealismus behauptet sie, dass Erkenntnis die
Denkbarkeit eines unkorrelierten Seins notwendigerweise voraussetzt, das
sie nun aber – gegen Kant und den Idealismus, doch mit dem klassischen
Materialismus – aufgrund des Vorranges des Objekts zudem als konstituierend deutet. Hier ist nicht nur ihre materialistische Dimension, sondern
auch ihre eigentliche Herausforderung inbegriffen.
125
§ 9. Dialektik und Antinomie: Kant, Hegel, Adorno
Dass die Antinomie der reinen Vernunft einen fruchtbaren explikativen
Weg in die internen Entfaltungen und Verwicklungen der klassischen
deutschen Philosophie darstellt, bedarf nur einer kurzen historischen
Betrachtung. Nachdem sie Kant wohl als Kernstück der transzendentalen
Dialektik der Kritik der reinen Vernunft zum Begriff brachte, wurde sie
immer wieder im nachkantischen Idealismus als Vorbild dessen referiert,
wie sich die menschliche Vernunft das Absolute – nämlich: durch Antinomien – denken kann. Es wäre dann nicht übertrieben zu behaupten,
dass sie im Laufe des nachkantischen Idealismus immer mehr an Wichtigkeit gewinnt, bis Hegel sie – wie wir unten im Detail sehen werden – wohl
als das wichtigste, die darauffolgenden Denkbewegungen unabdingbar
bestimmende Lehrstück der kantischen Philosophie fasste.
Wohl aus diesem Grund hat Brian O’Connor vorgeschlagen, die Antinomienlehre als Vergleichungsmaßstab nicht nur für die interne Entwicklungslogik der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch für
nachidealistische Denkmodelle wie die negative Dialektik zu nehmen229.
Auch Jürgen Ritsert hat jüngst das Wesen moderner Dialektik aus der
Antinomienlehre darzulegen versucht230. Diese wird von Kant über Hegel
bis Adorno so bearbeitet und uminterpretiert, dass sie einen solchen Vergleichungsmaßstab zu bieten vermag. Ich folge O’Connors Vorschlag und
versuche im Weiteren, die Entfaltung der Antinomienlehre etwas ausführlicher darzustellen, als er dies getan hat – auch wenn ich den Grundlinien
seiner Argumentation durchaus zustimme. Allgemeines Ziel dieses Abschnitts ist es daher, Adornos Interpretation – und Weiterführung – der
Denkentwicklung der klassischen deutschen Philosophie und so seine
eigene Auffassung der negativen Dialektik als kritischer Materialismus
weiter zu vertiefen. Ich rekonstruiere die Antinomienlehre bei Kant, Hegel und Adorno jeweils anhand (a) des Grundes für die Entstehung der
Antinomie der Vernunft, (b) der Methode ihrer Entfaltung und Darstellung und letztlich (c) des Schlüssels zu ihrer Auflösung.
Kant
(a) Entstehung: Eigentümlich für die kantische Behandlung der Antinomie
der reinen Vernunft mit Blick auf deren Entstehung ist ihr natürlicher und
unvermeidlicher Charakter: Die Vernunft ist laut Kant von Natur aus so
gestaltet, dass sie sich schon aus ihrem elementaren logischen Gebrauch
notwendigerweise in Antinomien verwickelt. Es handelt sich dabei um
keine willkürliche Operation des Dialektikers, sondern um eine Verwurze229
230
O’Connor (2004), S. 25–28.
Ritsert (2017), S. 37ff.
126
lung der Antinomie in der menschlichen Vernunft. Die Antinomie entsteht nach Kant immer dann, wenn die Vernunft die absolute Reihe der
Bedingungen eines gegebenen Bedingten sucht – wenn sie regressiv, aus
einer gegebenen bedingten Erscheinung die komplette Reihe ihrer Bedingungen zu vervollständigen versucht, ohne die diese Erscheinung nicht
möglich wäre. So lautet der unvermeidliche Grundsatz, den sich Kant
zufolge die Vernunft ständig stellt: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist
auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war“231. Fordert die Vernunft
also die absolute Totalität der Bedingungen, eine komplette „regressive
Reihe in der Synthesis des Mannigfaltigen“, so macht sie die Kategorie des
Verstandes zur kosmologischen Idee – zu einer Idee, deren Inhalt der
Inbegriff aller Erscheinungen ist und somit auf keiner sinnlichen Erfahrung beruhen kann. Sobald wir die Vernunft „über die Grenze der Erfahrung hinaus“ auszudehnen wagen, sobald sie also das Unbedingte anzutreffen versucht, „entspringen vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen, und
deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Widerspruch ist, sondern sogar
in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Nothwendigkeit antrifft,
nur daß unglücklicher Weise der Gegensatz eben so gültige und
nothwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat“232.
(b) Methode: Die Antinomie ergibt sich demgemäß aus zwei widersprüchlichen und somit inkompatiblen, aber an sich vollständig konsistenten Lehrsätzen, auf denen die kosmologischen Ideen beruhen. Jeder Lehrsatz, sofern er „erstlich als Synthesis nach Regeln dem Verstande und doch
zugleich als absolute Einheit derselben der Vernunft congruiren soll“, ist
„für den Verstand zu groß, wenn sie der Vernunfteinheit adäquat ist“, und
„für die Vernunft zu klein“233; woraus unvermeidlich ein Widerstreit entspringt. Kants Antithetik könnte in diesem Sinne, wie O’Connor vorschlägt, eine externe Interpretation der Antinomie benannt werden, sofern
jeder Lehrsatz (z.B. Determinismus) an sich absolut gültig und widerspruchslos ist und die Antinomie folglich erst durch eine externe Gegenüberstellung beider Lehrsätze (z.B. Determinismus und Indeterminismus)
entspringt. Deshalb meint Kant, dass die Methode der Antithetik eine
skeptische Methode ist – wobei er sicherlich das skeptische Verfahren der
Äquipollenz meint –, die aber nicht mit dem Skeptizismus im Allgemeinen zu verwechseln sei. Die Antithetik soll also diesen Widerstreit veranlassen und von einem ebenfalls externen Standpunkt aus untersuchen, ob
er eher aus einer bloßen Phantasmagorie besteht, die sich aber notwendig
aus der Natur der Vernunft ergibt.
231
232
233
KrV, A 409 | B 436.
KrV, A 421 | B 449.
KrV, A 422 | B 450.
127
(c) Schlüssel: Den Schlüssel zur Auflösung der Antinomie gibt bekanntlich der eigene transzendentale Idealismus234. Durch die allgemeine
Annahme, die Gegenstände in Raum und Zeit als Objekte möglicher Erfahrung seien nicht als Dinge an sich, sondern als bloße Erscheinungen
anzusehen, werde ein Ausweg aus den Antinomien möglich. Denn die
absolute Totalität der Reihe der Bedingungen, die die Vernunft beim Erkennen eines gegebenen Bedingten sucht, gilt nur als Bedingung der Dinge an sich und kann daher nicht auf Erscheinungen angewandt werden.
Der transzendentale Idealismus zeigt so, dass die Antinomie der reinen
Vernunft der Widerstreit eines bloßen Scheins ist, die aus einer Art Homogenisierung der transzendentalen Bedeutung einer reinen Kategorie
und der empirischen Bedeutung eines Verstandesbegriffs besteht. Bei der
Behebung der Antinomie der reinen Vernunft wird diese Verwechselung
geklärt, sodass der transzendentale Idealismus gleichzeitig den korrekten
Gebrauch und den adäquaten Gültigkeitsbereich der Begriffe zu liefern
vermag.
Zusammenfassend interpretiert die kantische Auffassung die Antinomie mit Blick auf (a) ihre Entstehung als unvermeidlich und der Natur
der Vernunft gemäß; (b) als extern bzw. antithetisch hinsichtlich der Methode und (c) als limitativ bzw. korrektiv in Bezug auf den Schlüssel zur
Auflösung der Antinomie.
Hegel
Die Art und Weise, wie Hegel die kantische Antinomienlehre analysiert,
begleitet die Entwicklung seines Denkens auf eine überraschend einheitliche Weise. Bereits in der Differenzschrift (1801) betrachtet Hegel die kantische Lehre der Antinomie als einen fruchtbaren und reichen Ausgangspunkt für die Entfaltung seiner eigenen Philosophie. Auch wenn später
gerade seine philosophische Motivation für die Auseinandersetzung mit
der Problematik der Antinomie Unterschiede aufweist, lässt sich seine
kritische Analyse der kantischen Philosophie im Grunde einheitlich rekonstruieren und verweist auf eine neue Antinomienlehre.
(a) Entstehung: Dass er die ganze transzendentale Dialektik Kants und
besonders seine Lehre der Antinomie sehr hoch geschätzt habe, behauptet
Hegel selbst wiederholt an unterschiedlichen Stellen seines Werkes. In der
Antinomienlehre habe Kant dem widersprüchlichen Charakter der Vernunft seinen Schein von Willkür und Sophisterei genommen und das
Denken als wesentlich und notwendig antinomisch gedeutet, was, so Hegel,
„für einer der wichtigsten und tiefsten Fortschritte der Philosophie neuerer Zeit zu achten“235 sei. Hegel teilt also mit Kant die Auffassung, dass
234
235
KrV, A 491 | B 519.
HW8, § 48.
128
die Antinomie natürlich, also im menschlichen Erkennen verwurzelt und
daher unvermeidlich ist. Anders als bei Kant beruht die Antinomie aber
nach Hegel nicht bloß auf der menschlichen Vernunftverfassung, sondern
auf jedem Gegenstand des Erkennens. Die Realität richtig zu betrachten
heißt nach Hegel, ihre immanente Widersprüchlichkeit zu begreifen und
die Tatsache reflexiv nachzuvollziehen, dass die Antinomie nicht als eine
einfache Bestimmung der Vernunft zu verstehen, sondern als die eigentliche Gestaltung der Wirklichkeit sei:
Die Hauptsache, die zu bemerken ist, ist dass nicht nur in den vier
besonderen, aus der Kosmologie genommenen Gegenständen die
Antinomie sich befindet, sondern vielmehr in allen Gegenständen
aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Dies
zu wissen und die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen,
gehört zum Wesentlichen der philosophischen Betrachtung; diese
Eigenschaft macht das aus, was weiterhin sich als das dialektische
Moment des Logischen bestimmt236.
(b) Methode: Bestreitet Hegel die Auffassung der Antinomie als ein vom
jeweiligen Objekt isolierter Mechanismus der menschlichen Vernunft und
platziert sie in die Wirklichkeit selbst, so verzichtet er auf eine externe
Antithetik, die eine dem Objekt ebenfalls externe Gegenüberstellung von
äquipollenten Lehrsätzen mit sich bringt und beide aus einem externen
Standpunkt betrachtet. Vielmehr werden Antinomien als interne Bestimmungen des Objekts aufgefasst. In diesem Sinne könnte die Hegel’sche
Lehre der Antinomie als eine „interne oder immanente Interpretation“ derselben betrachtet werden. Keine äußerliche Antithetik soll die
Antinomie entfalten und untersuchen, sondern das dialektische Moment
des Logisch-Reellen selbst. Dieses Moment begreift Hegel bekanntlich als
das dynamische und immanente Übergehen einer jeglichen festen Bestimmung in ihre entgegengesetzte Bestimmung, die Feststellung also,
dass immanente Antinomien jedem Gegenstand konstitutiv sind, ohne die
dieser als solcher gar nicht bestünde. Dies entspricht ebenfalls dem Hegel’schen Anspruch, das Objekt in seinem Reichtum und in seiner Vielseitigkeit zu begreifen, jenseits der Einseitigkeit und der „subjektiven“ Dimension des Verstandes. Das dialektische Moment des Logisch-Reellen
besteht folglich aus einer Art von modifiziertem Skeptizismus – einem
skeptischen Moment, wie Hegel ihn nennt –, der alle festen Bestimmungen
aufhebt und in ihr Entgegengesetztes überführt.
(c) Schlüssel: Für Hegel unterscheidet sich die Dialektik vom bloßen
Skeptizismus grundsätzlich darin, dass ein spekulatives Moment des Logischen dem negativ-dialektischen Moment folgt, das es seinerseits erlaubt,
die Antinomien als Teil eines organischen Ganzen zu betrachten. Dieses
236
HW8, § 48.
129
spekulative Moment aber, das wohl in die philosophische „Darstellung des
Absoluten“ münden soll, findet durchaus diversifizierte Behandlungen im
Denken Hegels. Es könnte sogar behauptet werden, dass seine ganze
philosophische Laufbahn in dem Versuch besteht, die korrekte Art und
Weise dieser Darstellung zu suchen und zu erproben. Sieht man aber von
diesen jeweils besonderen – und zum Teil wesentlichen – Differenzen ab
und beschränkt sich auf das rein Logische, wie es beispielsweise in der
Kleinen Logik als das Spekulative oder das Positiv-Vernünftige zu finden ist,
so bemerkt man, dass Hegel das spekulative Moment als die konkrete
Einheit des Entgegengesetzten in dem eigenen Gegenstand begreift, was
wiederum die konkrete und lebendige Totalität des Objekts fasst. Wir
sahen, wie Hegel von einem Begriff absoluter Identität ausgeht, um den
Begriff dieser Ganzheit zu konzipieren. Anders nun als die Widersprüche
zu schlichten oder sie horizontal zu nivellieren, soll das Spekulative sie in
einem lebendigen Ganzen – als Ganzes – betrachten. Das entspricht weitgehend der logischen Dimension des alten Hegel’schen Projekts, wie er es
zumindest seit der Differenzschrift skizziert hat: dem Versuch nämlich, ein
einheitliches, durch die Versöhnung des einander Entgegengesetzten produziertes Weltbild zu konstruieren – oder, um es mit Jacobi zu sprechen,
„den Verstand zur Vernunft zu bringen“237. Das Spekulative aber, sofern
sein Inhalt immer aus vielseitigen, scheinbar widersprüchlichen Aussagen
besteht, kann niemals in einem einzigen Satz formuliert werden. Daraus
lässt sich wohl die ganze Philosophie Hegels in ihren Grundprinzipien
ableiten.
Die Hegel’sche Antinomienlehre kann daher wie folgt zusammengefasst werden: (a) Die ebenso unvermieldich Entstehung der Antinomien
wird als der Natur des Gegenstandes gemäß interpretiert, (b) dargestellt
und entfaltet werden sie mit Blick auf die Methode intern bzw. dialektisch,
und (c) der Schlüssel für ihre Auflösung ist hier integrativ bzw. spekulativ.
Adorno
Kant und Hegel sind sich darüber einig, dass Antinomien im Laufe des
Erkenntnisprozesses unvermeidlich entstehen. Daraus leitet Kant aber
einen „Erkenntnisblock“ zum Unbedingten ab, während Hegel die Antinomie als die wesentliche Wirklichkeitsverfassung und folglich als Movens
der nun anders aufgefassten Dialektik betrachtet. Dass das Unbedingte
erkenntnisgemäß zugänglich sei, falls Erkenntnis im strengen Sinne überhaupt möglich sein sollte, erlaubt es Hegel, den spekulativen Moment des
Logisch-Reellen als integrativ zu deuten. Dagegen insistiert Kant auf der
Kritik der Vernunft als Phänomenalismus und fasst Dialektik als eine
Logik des transzendentalen Scheins. Freilich deutet Hegel jeden „Er237
Vgl. Horstmann (2003).
130
kenntnisblock“ wie den zwischen noumena und phaenomena als an sich
widersprüchlich und folglich grundsätzlich überwindbar, aber die Auffassung des Spekulativen als synthetisch setzt die philosophische Möglichkeit zur Totalität voraus, die für Kant höchstens regulative Funktion erhalten kann. In vielen Hinsichten nimmt die negative Dialektik eine Art
Position zwischen den beiden Modellen ein.
(a) Entstehung: Im Gefolge der Tradition der klassischen deutschen
Philosophie geht auch die negative Dialektik davon aus, dass Antinomien
im Laufe des Erkenntnisprozesses unvermeidlich entstehen. Doch anders
als Kant deutet sie diese nicht bloß als Ausdruck der defizienten Verfassung der menschlichen Vernunft, die von Natur aus nicht dazu ausgestattet
sei, das Absolute zu erkennen. Sie stimmt aber auch nicht ohne Weiteres
mit Hegel darin überein, dass das Wirkliche an sich widersprüchlich sei:
„Der Widerspruch ist nicht, wozu Hegels absoluter Idealismus unvermeidlich ihn verklären mußte: kein herakliteisch Wesenhaftes“ 238 . Vielmehr sind Widersprüche, die ihrerseits negativ-dialektisch zu Antinomien
werden können, „Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des
Begriffenen im Begriff“239. Widersprüche ergeben sich demnach aus der
akribischen Konfrontation von Begriff und Gegenstand, sofern der immanente Anspruch des Begriffes darauf, den Gegenstand in seiner Einzigartigkeit und Vollständigkeit zu subsumieren, aufgrund des Vorrangs des
Objekts nicht eingelöst werden kann. Da die Widersprüche so aber keine
Schlichtung erfahren, fasst die negative Dialektik sie als Antinomien auf.
Nicht weil die menschliche Vernunft defizitär sei, entstehen Antinomien,
sondern weil das Denken noch der Dialektik der Identität gehorche:
Das Differenzierte erscheint so lange divergent, dissonant, negativ,
wie das Bewußtsein der eigenen Formation nach auf Einheit drängen muß: solange es, was nicht mit ihm identisch ist, an seinem Totalitätsanspruch mißt. Das hält Dialektik dem Bewußtsein als Widerspruch vor. Widersprüchlichkeit hat vermöge des immanenten
Wesens von Bewußtsein selber den Charakter unausweichlicher
und verhängnisvoller Gesetzmäßigkeit. Identität und Widerspruch
des Denkens sind aneinandergeschweißt. Die Totalität des Widerspruchs ist nichts als die Unwahrheit der totalen Identifikation, so
wie sie in dieser sich manifestiert. Widerspruch ist Nichtidentität
im Bann des Gesetzes, das auch das Nichtidentische affiziert240.
(2) Methode: Guido Kreis hat jüngst die Methode der negativen Dialektik
anhand einer Negativen Dialektik des Unendlichen zu operationalisieren
versucht. Im Fall des Unendlichen führt Kreis diese Methode so an, dass
sie bestreitet „(a) gegen Hegel, daß wir das absolut Unendliche wider238
239
240
GS6, S. 17.
GS6, S. 17.
GS6, S. 17–18.
131
spruchsfrei denken und erkennen können; sie stellt dabei aber (b) nicht
lediglich eine Restitution der limitativen Dialektik dar, sondern nimmt
eine metatheoretische Position ein, von der aus sie argumentiert, daß es
keine Lösung der Paradoxien des Unendlichen gibt, die nicht selbst
schwerwiegende Probleme aufwerfen würde“241. Es handelt sich so um ein
doppeltes philosophisches Verfahren, das zunächst von der Aufstellung
der wesentlichen Widersprüche im kategorialen Rahmen einer Disziplin
oder eines philosophischen Begriffes ausgeht, um diese dann metatheoretisch als Antinomien aufzufassen.
Adorno hat selbst einige Beispiele gegeben, die das negativdialektische Verfahren konkret illustrieren: „Ein Widerspruch etwa wie
der zwischen der Bestimmung, die der Einzelne als seine eigene weiß, und
der, welche die Gesellschaft ihm aufdrängt, wenn er sein Leben erwerben
will, der ‚Rolle‘, ist (…) unter keine Einheit zu bringen; ebensowenig der,
daß das Tauschprinzip, das in der bestehenden Gesellschaft die Produktivkräfte steigert, diese zugleich in wachsendem Grad mit Vernichtung
bedroht“ 242 . Zwar handelt es sich hier im Grunde um gesellschaftliche
Kategorien, aus denen sich eine negative Dialektik paradigmatisch entwickeln lässt. Doch als „konsequente[s] Bewußtsein von Nichtidentität“243,
von der grundlegenden Differenz zwischen Begriff und dem von ihm
Gemeinten soll sich eine negative Dialektik aus jeglicher Begrifflichkeit
entfalten können, was sie dann auch einem internen Verständnis der Antinomie verpflichtet. So können auch durchaus alltägliche Begriffe immanente und unüberwindbare Widersprüche enthalten, soweit das Diesda
eines jeglichen von ihnen visierten Dinges mit der allgemeinen Begrifflichkeit reflexionslogisch konfrontiert wird. Denn die allgemeine Begriffsbildung erfordert notwendigerweise, dass auf die Einzigartigkeit des
Dinges – die eine konkrete Geschichtlichkeit, eine besondere ästhetische
Dimension und vor allem eine unikale Materialität umfasst und in dessen
Begriff als Nichtidentität enthalten ist – zugunsten der Allgemeinheit
verzichtet wird, die ihrerseits für diese Einzigartigkeit vollends blind ist.
Implizit in diesem semantischen Argument sind im Wesentlichen
zwei Unterstellungen. Die erste Unterstellung ist nominalistisch und
betrifft die Theorie der Begriffsbildung. Sie besagt, dass ein Begriff notwendigerweise Anspruch auf eine „Ordnung schaffende Invarianz gegenüber dem Wechsel des unter ihm Befassten“244 erhebt, die ihrerseits ihn zu
einem Begriff macht. Die zweite Unterstellung ist ontologisch und besagt,
dass das zu befassende Objekt in Wirklichkeit einem (wohl konstanten)
Wechsel unterliegt, der dem es subsumierenden Begriff wesentlich entgeht.
241
242
243
244
Kreis (2015), S. 24.
GS6, S. 155.
GS6, S. 17.
GS6, S. 156.
132
Das erzeugt nun eine „Differenz von Denken und Gedachtem“, die „jeglicher Begriff, noch der des Seins, reproduziert“245. Dieser gesamte Gedankengang entstammt offensichtlich Nietzsches Frühschrift Über Wahrheit
und Lüge im außermoralischen Sinne, deren Stelle hier zitiert sei:
Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes
Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für
zahllose, mehr oder weniger ähnliche, daß heißt streng genommen
niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muß. Jeder
Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß
nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff
Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und
erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das „Blatt“ wäre, etwa eine Urform, nach der alle
Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt
wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre.
Wir nennen einen Menschen „ehrlich“; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner
Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heißt wieder: das Blatt ist
die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die „die Ehrlichkeit“ hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, somit ungleichen Handlungen, die wir
durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche
Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine
qualitas occulta mit dem Namen: „die Ehrlichkeit“. Das Übersehen
des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns
auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns
unzugängliches und undefinierbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen
wagen, daß er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil.246
Bekanntlich beschreibt Nietzsche hier den Erkenntnisprozess als anthropomorphisierende und falsifizierende Fiktionalisierung des Wirklichen,
die sich die epistemische Verfassung des Gattungswesens Mensch vor
allem zu Zwecken der Naturbeherrschung und Selbsterhaltung naturalistisch konstituiert habe. Das „Gleichsetzen von Nichtgleichen“, das Nietzsche in jeder Begriffsbildung unabdingbar am Werke sieht, entspricht im
245
246
GS6, S. 175.
Nietzsche (1973), S. 373f.
133
Grunde dem „Identischmachen des Nichtidentischen“, das Adorno am
Identitätsdenken als einem „nivellierenden“, dem Besonderen „Gewalt
antuenden“ Prozess kritisiert. Während Nietzsche aber konsequenterweise auf die eigentlichen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffe verzichtet,
besteht Adorno auf ihrer klassischen, emphatischen Auffassung, der zufolge alles Wahre objektiv ist. Die negative Dialektik versucht folglich, das
Nichtidentische zur Sprache zu bringen, indem sie den immanenten Widersprüche des Objekts zum Ausdruck verhilft. Anstatt davon auszugehen, dass das Objekt und sein Begriff deckungsgleich sind oder sein sollen,
wird der Begriff bloß zum Anfang eines Prozesses mit offenem Ausgang, in
dem das Objekt, wie bereits erwähnt, gewissermaßen als Rätsel erscheint.
(c) Schlüssel: Eine jegliche Dialektik, die sich nicht als integrativ bezeichnet, die also auf den Totalitätsanspruch des spekulativen Moments
des Logisch-Reellen selbstbewusst verzichtet und sich als ein sprachphilosophisches Verfahren kritischer Modellanalysen gestaltet, enthält zwangsläufig eine restriktive Dimension der Antinomie. Im strengen Sinne wird
die Antinomie nicht aufgelöst: Das Ziel der negativen Dialektik besteht in
ihrer kritischen Formulierung, nicht in ihrer Auflösung. Es handelt sich
um eine – im Grunde metatheoretische – Dialektik im Stillstand, wie Walter Benjamin sie bekanntlich auffasste. Doch aus der Unmöglichkeit, die
Antinomie aufzulösen, muss kein Skeptizismus, muss keine Gegenaufklärung folgen, die das Projekt der Vernunft aufgibt. Das negativ-dialektische
Verfahren will vielmehr erinnern: erinnern an Nichtidentisches.
Zusammenfassend interpretiert die negative Dialektik die Antinomie
als (a) unvermeidlich bzw. materialistisch, was ihre Entstehung betrifft, (b)
die Methode der Darlegung lässt sich als intern und (c) der Schlüssel zur
Auflösung der Antinomie als restriktiv bezeichnen. Die drei verschiedenen Zugangsweisen lassen sich im Überblick wie folgt darstellen:
Antinomie
der Vernunft
Entstehung
Methode
Schlüssel
Kant
unvermeidlich,
dem Wesen der
Vernunft gemäß
extern und
antithetisch
restriktiv und
korrektiv
Hegel
Adorno
134
unvermeidlich,
intern und dialektisch
dem Wesen des Gegenstandes gemäß
unvermeidlich,
der Konfrontation
von Begriff und Gegenstand gemäß
intern und negativdialektisch
integrativ und
spekulativ
restriktiv
§ 10. Fazit
Die weit verzweigte Identitätsproblematik in der Philosophie der Neuzeit
ist die ausgezeichnete Herangehensweise, anhand der die negative Dialektik die Konstitution, Artikulation und Trennung von Subjekt und Objekt
denkt (§ 6). Sie lässt sich hauptsächlich durch formallogische, ontologische, ichtheoretische und vermittlungstheoretische Dimensionen erschließen, die seit Leibniz und Hume über Kant bis zum nachkantischen
Idealismus behandelt werden (§ 7). Die negative Dialektik knüpft an den
integrativen Versuch der absoluten Identitätsformel Schellings und Hegels
an, um aus ihr den Vorrang des Objekts identitätskritisch zu extrahieren.
Der aus der absoluten Identitätsformel abgeleitete Vorrang des Objekts,
der mit dem kritisch-materialistischen Gehalt der negativen Dialektik
praktisch zusammenfällt, ist auch das Muster, durch das sich die anderen
Bedeutungsebenen der Identität in der negativen Dialektik denken lassen
(§ 8). So lässt sich die negative Dialektik in jene Denktradition komparatistisch einfügen, die die moderne Dialektik aufgrund der Antinomie der
Vernunft entwickelt (§ 9).
135
Drittes Kapitel:
Ontologie und Dialektik
Das vorliegende Kapitel widmet sich dem Ontologieproblem, wie es sich
aus der negativ-dialektischen Identitätsproblematik immanent ergibt. Es
handelt sich grundsätzlich um die Fragestellung nach der Begründung des
Vorrangs des Objekts, der den Übergang zum kritischen Materialismus
rein reflexionslogisch leisten soll und folglich gerade nicht auf die Setzung
eines transreflexiven Seins rekurriert. Ich gehe von einer einführenden
Erörterung des nachkantischen Ontologieproblems aus (§ 11), wie es
sich mit Blick auf die Deutung der neueren Ontologien stellt (§ 12). Die
negativ-dialektische Ontologiekritik, deren Ursprünge bereits bei Kant zu
finden sind, wird anhand ihrer bedürfnistheoretischen, vermittlungstheoretischen und sprachphilosophischen Dimensionen rekonstruiert (§ 13).
Stets werden die Konsequenzen der Ontologiekritik für die Materialismusfrage gezogen, die im letzten Abschnitt des Kapitels nochmals dargelegt werden (§ 14).
139
§ 11. Zum Problem der Ontologie nach Kant
Wie alle Hauptbegriffe, die in der vorliegenden Arbeit behandelt werden,
verdient auch der Begriff der Ontologie den Status eines philosophischen
Problemtitels, insofern nicht nur seine eigentliche Bedeutung, sondern
bereits die Möglichkeitsbedingung der Ontologie nach Kant höchst umstritten ist. Wie im Fall der Hauptbegriffe, die in den vorherigen Kapiteln
aufgetaucht sind, wird auch hier nicht versucht, eine einseitige und endgültige Definition des Ontologiebegriffs zu formulieren – wäre dies doch
ohnehin eine Aufgabe, die nach aller Wahrscheinlichkeit aufgrund der
Problemhaftigkeit und der Breite des Begriffs scheitern würde. Vielmehr
wird hier der Anspruch erhoben, die interne Problemhaftigkeit des Ontologiebegriffs zu entfalten. Zu einem konkreten Ontologiebegriff werden
wir erst im Laufe des Kapitels gelangen können.
Eine kurze historische Einführung vermag bereits die in dem Ontologiebegriff involvierten Probleme deutlich zu machen. Zwar wird der
Begriff Ontologie erst am Anfang des 17. Jahrhunderts terminologisch
fixiert, doch die Idee eines ausgezeichneten, weil allgemeinsten und
grundlegendsten Themenbereiches der Philosophie, der der Erforschung
des Seins entspricht, ist wohl so alt wie die Geschichte des abendländischen Denkens. Im Anschluss an das ihm vorherige Denken hat bekanntlich Aristoteles eine derartige Seinswissenschaft konzipiert, die ihrerseits
Teil der von ihm einheitlich behandelten Ersten Wissenschaft ist. Neben
der Ontologie als Seinswissenschaft gehört zur aristotelischen Metaphysik auch die Gotteswissenschaft, die ihrerseits nicht das Sein schlechthin,
sondern das höchste Seiende zum Thema hat. Die Natur dieser einheitlichen Behandlung bei Aristoteles ist bis heute Gegenstand spezialisierter
Diskussion darüber, ob beispielsweise die so konzipierte Einheit der metaphysischen Wissenschaft streng sachlich ist oder zumindest teilweise
doch eher den materiellen Umständen der Komposition des Textes und
der Überlieferung zugerechnet werden muss. Auf alle Fälle gehören zur
Geschichte der westlichen Denktradition nicht nur sachliche Notwendigkeiten, sondern auch durchaus kontingente, außertheoretische Ereignisse,
die Einfluss auf die innertheoretische Auseinandersetzung genommen
haben und nehmen. Das ist sicher der Fall bei der Ontologie. Am Anfang
des 17. Jahrhunderts – wohl von Rudolf Göckel – fixiert, ist der Terminus
zunächst gleichbedeutend mit der metaphysica generalis, die im Grunde
jener Seinswissenschaft der aristotelischen Metaphysik entspricht; die
Gotteswissenschaft als Wissenschaft des höchsten Seienden erhält ihrerseits, auch durchaus im Geiste der Tradition, eine ausgezeichnete Position
innerhalb der metaphysica specialis. Wie sich nun diese zweiseitige, „architektonische“ Bestimmung der metaphysischen Wissenschaft gestalten
141
wird, ist bereits ein wesentliches Problem, das die Geschichte der Ontologie stets begleiten wird:
Hatte Aristoteles, bei dem sich zwar noch nicht der Name, wohl
aber die Sache der Ontologie im Sinne einer Seinswissenschaft findet, diese in der notwendigen polaren Spannung von Seins- und
Gotteswissenschaft, von allgemeiner und spezieller Metaphysik
entworfen und daher deren innere Einheit in einer einzigen Wissenschaft aufgehoben, so beginnen die beiden Pole von Seins- und
Gotteswissenschaft bereits bei Pererius (gestorben 1610) sich zu
verselbständigen und als zwei verschiedene Wissenschaften sich
nebeneinander zu ordnen: Erste Philosophie und allgemeine Wissenschaft auf der einen, Metaphysik im Sinne von Theologie, Weisheit und göttlicher Wissenschaft auf der anderen Seite.247
Man kann sagen, dass es sich bei den meisten Autoren ausgehend von der
Prägung des Terminus „Ontologie“ im 17. Jahrhundert über die Schulphilosophie bis zu Kants Metaphysikkritik darum handeln wird, diese sich
trennenden Wissenschaften nach ihrer jeweiligen Auffassung immer wieder umzuordnen. In wohl allen Fällen sind diese zwei Pole ausschlaggebend: auf der einen Seite die Disziplin, die sich der Erforschung des Seins
schlechthin widmet, auf der anderen Seite die Disziplin(en), die bestimmte
Gegenstände der Metaphysik (Seele, Welt, Gott) zum Thema haben. Mit
ihrer progressiven Verselbstständigung erfahren beide Grundwissenschaften im Laufe der Moderne auch ein unterschiedliches Schicksal: Die Art
und Weise beispielsweise, wie die Vernunftkritik beide Disziplinen jeweils
treffen und strukturell zu einer Umformulierung drängen wird, ist wesentlich verschieden. Während die verschiedenen Subdisziplinen der metaphysica specialis Gegenstand einer transzendentalen Dialektik sein werden,
erhält die metaphysica generalis eine nicht unzweideutige Position in der
Vernunftkritik zwischen der Analytik des Verstandes, der Transzendentalphilosophie und der Kritik selbst.
Dieser kurze historische Überblick über die terminologische Fixierung des Ontologiebegriffs dürfte bereits ausreichen, um ein operationelles Bild der Ontologie zu gewinnen. Sofern sie die Erforschung des Seins
zum Gegenstand hat, ist sie die allgemeinste und grundlegendste Disziplin
des menschlichen Wissens, die allen anderen Wissenschaften logisch vorgeordnet ist. Sie erhebt dementsprechend den Anspruch, das Sein
schlechthin bzw. das Sein qua Sein (oder das Sein, sofern es Sein ist) zu
erforschen – im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften, die bestimmte
Bereiche des Seins bzw. das Sein von einem bestimmten Standpunkt aus
zum Thema haben. So hat man die Erforschung des Seins traditionsgemäß
auf zwei Arten durchzuführen versucht: entweder als Theorie der Exis247
Ritter (1980), S. 1889.
142
tenz oder als Theorie der Seienden. „Einerseits kann der Schwerpunkt bei
grundsätzlichen Fragen liegen, was etwa den Begriff des Seins ausmacht
oder was es bedeutet, dass etwas existiert. Andererseits kann spezifischer
nach dem Seienden gefragt werden, und zwar danach, was existiert bzw.
genauer: welche allgemeinsten Arten von Seiendem (Dinge, Eigenschaften,
Sachverhalte, Ereignisse, Prozesse etc.) es gibt, was also zum ‚Inventar‘ unserer Welt gehört“248.
Diese beiden Ströme der ontologischen Forschung haben sich nicht
willkürlich ausgebildet; vielmehr kann man davon ausgehen, dass sie der
Doppelbedeutung des Seinsbegriffs selbst bzw. des „Ist“ zwischen Kopula
und Existenz folgen, die ihm traditionsgemäß zugesprochen werden 249 .
Für beide Varianten gibt es prominente, eine Tradition begründende Vertreter bereits in der Antike: Parmenides für die erste und Aristoteles
selbst für die zweite. Trotz schulischer Diskrepanzen kann man aber sagen,
dass beide Traditionen stets Aussagen über das Sein selbst zu treffen beanspruchen – und nicht etwa (erkenntnistheoretisch bzw. modern formuliert)
Aussagen über unseren Zugang zum Sein. In einem Wort: Die (klassische,
vorkantische) Ontologie ist grundsätzlich nichtkorrelationistisch angelegt.
Ihre Aussagen sollen das Sein betreffen, und zwar nicht nur, sofern es mit
einem denkenden Subjekt korreliert, sondern vielmehr in seiner grundsätzlich subjektunabhängigen Quidität.
Mit dem Rückbezug des Subjekts auf seine Erkenntnisvermögen, der
im Laufe der Neuzeit, wird dieser Erkenntnisanspruch der Ontologie
progressiv in Frage gestellt. Nach einem immer weiter verbreiteten Bild
wird mit der Vernunftkritik die Ontologie durch ein wie auch immer konzipiertes Modell von Erkenntnistheorie ersetzt, das seinerseits keine Aussagen über das Sein selbst, sondern lediglich über unseren Zugang zum
Sein zu treffen beansprucht. Mit der scholastischen Terminologie könnte
man bedeutungsgleich behaupten, dass die intentio recta der klassischen
Ontologie durch de intentio obliqua der neuzeitlichen Erkenntnistheorien
progressiv ersetzt wird. Kant selbst hat in einer bekannten, oben bereits
zitierten Passage behauptet, dass „der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori
in einer systematischen Doktrin zu geben (z.E. den Grundsatz der Kausalität) dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz
machen [muß]“ 250 . Zusammen mit der neuzeitlichen Metaphysikkritik
tritt somit auch eine wirkungsmächtige Ontologiekritik in der Neuzeit
zutage – zu der die Kritische Theorie, wie wir sehen werden, als ein Spätprodukt gehört –, die Anspruch und Umfang der menschlichen Erkenntnis gründlich verändern sollte. Dieser Beschreibung zufolge ist jede On248
249
250
Sandkühler (2010), S. 1857.
Vgl. diesbezüglich Tugendhat (1992), S. 21ff.
KrV, A 247/B 874.
143
tologie, sofern sie Aussagen über das Sein selbst vor der selbstreflexiven
Erforschung unseres Zuganges zum Sein zu treffen beansprucht, notwendigerweise dogmatisch und philosophisch zu überwinden.
Auch wenn die Denker nach Kant mit dieser kantischen Diagnose im
Grunde einverstanden waren, bestanden sie immer wieder auf der Möglichkeit einer veränderten Ontologie auch nach Kant. Eine rein historische
Betrachtung kann diesen Umstand illustrieren: Nach Kant und vor allem
im Geiste Kants sind verschiedene Denkmodelle formuliert worden, die sich
als ontologisch charakterisieren. Das ist beispielsweise der Fall bei den neukantianischen (Südwestdeutsche Schule), phänomenologischen (Husserl,
Heidegger, Scheler), real-ontologischen (Hartmann), sprachanalytischen
(Quine und Strawson) und sogar marxistisch-materialistischen (Lukács)
Denkentwürfen, um nur einige zu nennen. Auch heute noch werden immer neuere mengentheoretische, politische, soziale, ästhetische, kurz:
neuere Ontologien entwickelt, was die Rede von einer zeitgenössischen
Wiedergeburt der Ontologie legitimiert hat251. Sie behaupten zusammenfassend, dass die von Kant inaugurierte Selbstreflexion des Subjekts auf
seine eigenen Erkenntnisvermögen wenn nicht eine eigene umfassendere,
in diesem Sinne korrelationistische Ontologie zwangsläufig mit sich führen
muss – wie im Übrigen die Entwicklung des späten Idealismus vor allem
bei Schelling (aber auch beim späten Fichte252) zeigt –, dann doch zumindest mit der Formulierung von neueren Ontologien nicht inkompatibel ist.
Vorausgesetzt nun, dass ihre Selbstcharakterisierung als ontologisch
nicht willkürlich ist, müsste man dann im Lichte jener weit verbreiteten
Beschreibung der letzteren Philosophiegeschichte behaupten, dass sie alle
– trotz aller möglichen Kant-Inspiration – dogmatisch geblieben sind?
Oder handelt es sich um eine bloße terminologische Äquivokation? Herbert Schnädelbach scheint darauf hinzuweisen:
Ist damit nicht jede Ontologie, die Kants Diktum ‚Der kritische
Weg ist allein noch offen‘ respektiert – und die neuere Ontologie
gibt vor, dies zu tun –, zum Scheitern verurteilt? Jede Antwort auf
die Frage, ob es nach Kant überhaupt Ontologie gegeben habe, die
mehr war als eine dogmatische Konservierung überholter Positionen, wird davon abhängen, was man unter ‚Ontologie‘ versteht253.
Nun könnte man bei dieser Frage davon ausgehen, dass die terminologische Auswahl in der Philosophiegeschichte in der Regel streng gehandhabt wird – sodass hier möglicherweise etwas am Werke ist, das nicht bloß
als eine terminologische Ungenauigkeit weggelassen werden kann.
251
252
253
Vgl. Bryant/Srnicek/Harman (2011); Marchardt (2010).
„Tun schlägt zurück in ein Sein zweiter Ordnung; ausdrücklich, wie allbekannt, in
der Wendung des späten Fichte gegenüber der Wissenschaftslehre von 1794“;
GS10.2, S. 754. Vgl. dazu auch Zöller (2013), S. 47ff.
Schnädelbach (1983), S. 235.
144
Eben davon geht auch die negative Dialektik in ihrem im Folgenden
zu untersuchenden Verhältnis zur Ontologie aus: Ihr zufolge antwortet die
massive Entstehung von neueren Ontologien unter nachkantischen Bedingungen auf bestimmte inner- und außertheoretische Bedürfnisse, für
die auch das dialektische Denken eine Alternativantwort sein will. Die
Entstehung von neueren Ontologien – die Setzung eines transreflexiven
Seins zweiter Ordnung im Gefolge der Grenzen der Selbstreflexion des
Subjekts – ist dementsprechend kein der Formulierung der negativen
Dialektik äußerlicher Umstand. Vielmehr ist sie in deren Begriff immanent enthalten: „Man könnte das auch so ausdrücken“, trägt Adorno in
der Vorlesung Ontologie und Dialektik vor, „daß in unserer gegenwärtigen
Situation die Dialektik durch die Ontologie vermittelt ist; und die Analysen, die zu dialektischen Aussagen führen, sind in gewisser Weise gar
nicht unverwandt den phänomenologischen Analysen, wie sie zunächst
zur Ontologie geführt haben (…). Dialektik ist also, daß der Übergang
zur Dialektik eigentlich in der kritischen Selbstreflexion der Ontologie
bestehen soll“254. Der Übergang zur Dialektik ist dementsprechend auch
auf die Kritik an den neueren Ontologien selbst verwiesen.
Die ontologische Problematik ist auch dem Materialismus in vielerlei
Hinsicht zentral. Im ersten Kapitel habe ich bereits auf den ontologischen
Inhalt der Grundthese des klassischen Materialismus über die ultimative
Verfasstheit des Wirklichen als Materie hingewiesen. Doch auch dem kritischen Materialismus – um dessen Begriff sich die negative Dialektik
bemüht – scheint die Ontologie prima facie unentbehrlich zu sein, sofern
er zwar von der subjektiven Reflexion ausgeht, doch über sie hinausgelangen muss. Dass dieses Hinausgelangen in Gestalt einer Ontologie verfasst
sein muss, ist zwar eine intuitive Schlussfolgerung, die negative Dialektik
verhindert sie aber – aus Gründen, die im nächsten Abschnitt dargestellt
und problematisiert werden.
254
OD, S. 12–13.
145
§ 12. Negative Dialektik und Ontologiekritik
Wie es in seiner „Notiz“ zu lesen ist, entstand das Werk Negative Dialektik aus drei Vorträgen – den sogenannten „Pariser Vorträgen“ –, die Adorno 1961 am Collège de France in französischer Sprache hielt. Der
Inhalt dieser Vorträge entsprach dabei nicht der „Einleitung“ in das fünf
Jahre später publizierte Werk, sondern vor allem dem ersten Teil des Buches über das „Verhältnis zur Ontologie“ (erster und zweiter Vortrag);
nur der dritte Vortrag befasste sich mit dem zentralen Teil über „Negative
Dialektik: Begriffe und Kategorien“ 255 . Die „Einleitung“ ihrerseits, der
Adorno – wohl in Reminiszenz an Hegels „Wissenschaft der Erfahrung
des Bewusstseins“ – den Titel Zur Theorie der geistigen Erfahrung zu geben
erwogen hatte, wurde erst später verfasst.
Nur scheinbar ist das kritische Ziel des „Verhältnisses zur Ontologie“ das Denken Martins Heideggers als solches. Gezielt wird vielmehr
auf eine immanente Kritik der neueren Ontologie im Allgemeinen – derjenigen ontologischen Denkweise also, die in einem nachidealistischen Ambiente entstanden ist und sich folglich von der vorkantischen Ontologie
selbstbewusst unterscheidet. Heidegger nimmt in der Analyse Adornos
nur insofern eine Sonderstellung ein, als er für den konsequentesten und
prominentesten Vertreter dieser neuontologischen Denkweise gehalten
wird. Heideggers Werk ist dementsprechend nur Anlass zur Kritik der
neueren Ontologie im Allgemeinen – nicht Ziel.
255
Vgl. GS6, S. 409. Diese Vorträge hielt Adorno auf Einladung von Robert Minder
vor großen philosophischen Persönlichkeiten des damaligen Frankreichs, wie beispielsweise Maurice Merleau-Ponty (wohl sein „idealer Adressat“, um den Ausdruck des Herausgebers der Nachgelassenen Schriften Adornos zu verwenden) und
Jean Wahl. Zum ersten Vortrag notierte Adorno später am 15. März 1961 in sein
Tagebuch: „Vortrag gehalten, zu schwer, Merleau-Ponty chokiert. Gott und die
Welt waren da“; zum zweiten, am 18. März: „Vorlesung überfüllt, ging viel besser“,
und zum letzten, am 21. März: „Letzte Vorlesung ging sehr gut, brüllte wie ein
Ochs. Merleau-Ponty und Jean Wahl zugegen aber nicht gesprochen“ (OD,
S. 427f.). Wenige Wochen später, am 3. Mai 1961, starb Merleau-Ponty in Paris.
Adorno äußerte sich – mit Worten tiefer Humanität – über seinen Tod in einem
Brief an Minder: „Lassen Sie mich hinzufügen, wie sehr mich der Tod von MerleauPonty erschüttert hat. Nichts hätte mich, als Sie so gütig waren, uns einander vorzustellen, auf die Idee gebracht, einem Todkranken gegenüberzustehen. Er war ohne alle Frage eine ganz außerordentliche Denkkraft – gerade angesichts der tiefen
theoretischen Differenzen, glaube ich wohl qualifiziert und auch verpflichtet zu
sein, das zu sagen. Und angesichts des Unwiderruflichen habe ich dann doch ihm
gegenüber, nachdem ich so kurz vor seinem Tod Positionen bis ins Innerste angriff,
die ihm wesentlich waren, etwas wie ein Gefühl von Schuld. Wie ist man doch im
Leben verstrickt; wenn man die Wahrheit sagen will, schlägt auch das zum Bösen
aus; Ibsen hat das schon ganz richtig gesehen“; OD, S. 427f.
146
Die negative Dialektik liefert grundsätzlich drei verschiedene Argumentationsmuster zur Analyse und Kritik der neueren Ontologie. Erstens
entwickelt sie eine Theorie des philosophischen Bedürfnisses, derer Vorläufer grundsätzlich die Marx’sche Ideologiekritik ist. Als solche unternimmt sie den Versuch, philosophische Grundentscheidungen als vermittelten Ausdruck außerphilosophischer, hauptsächlich gesellschaftlicher
Konstellationen zu deuten, wobei diese Grundentscheidungen ihrerseits
wiederum eine (meist indirekte) Rolle für die Legitimierung, Rechtfertigung und Bewusstseinsentwicklung dieser Konstellationen spielen. Zwar
will die negative Dialektik im Grunde eine immanente Analyse des philosophischen Konstruktes als solches leisten, doch als Ideologiekritik orientiert sie zugleich die Problematik in Richtung der folgenden Fragestellungen: Auf welches inner- und außerphilosophische Bedürfnis reagiert die
Wiedergeburt der Ontologie in der Spätmoderne? Auf welches Problem
antwortet sie? Stellen ihre Antworten wahre oder nur kompensatorische
Lösungen für das ins Auge gefasste Problem dar?
Außer der Theorie des philosophischen Bedürfnisses entwickelt die
negative Dialektik noch ein sprachphilosophisches und ein vermittlungstheoretisches Argumentationsmuster für die Kritik an der neueren Ontologie. Hier führt sie die Metaphysik- und Ontologiekritik radikal weiter,
die nach Kant ganz unterschiedliche Autoren vereinen. In vieler Hinsicht
ähnelt das sprachkritische Modell Adornos zur Kritik der Ontologie der
Sprachanalyse, die im 20. Jahrhundert von der angelsächsischen Philosophie paradigmatisch vertreten wurde; die negative Dialektik zieht jedoch
radikal andere Konsequenzen aus dieser Kritik.
Die sprachanalytische Kritik an der Ontologie wird zuletzt von einer
philosophischen Theorie der Begriffsbildung illustriert, deren Hauptthese
Adorno bereits sehr früh aufgestellt hat: „Die sachliche Struktur eines
philosophischen Gebildes mag mit seiner Sprachstruktur, wo nicht zusammenfallen, zumindest doch in einem gestalteten Spannungsverhältnis
stehen“256. Mit Blick auf die Ontologie hat der Philosoph diese These vor
allem im Werk Jargon der Eigentlichkeit ausgeführt, das als Exkurs zur
Negativen Dialektik, vor allem zu deren ontologiekritischem Teil, veröffentlicht worden ist. Ihr zufolge müssen Ontologie und Dialektik auch als
Sprachmodelle verstanden werden, die unterschiedlichen Sinnregimes
gehorchen.
Ich werde in den nächsten drei Unterabschnitten diese drei Aspekte
der Ontologiekritik Adornos rekonstruieren. Zuvor ist es aber angebracht,
jenen zwischenzeitig beinahe vergessenen Namen zu erwähnen, der die
Gedankengänge des „Verhältnisses zur Ontologie“ sehr früh antizipiert
hat: Karl Heinz Haag. Die Wichtigkeit Haags für die theoretischen Arbei256
GS1, S. 370.
147
ten Adornos gilt es noch ausführlich zu dokumentieren. Nicht nur hat
Adorno Haag eines seiner Hauptwerke gewidmet – die Drei Studien zu
Hegel –, Haag hat darüber hinaus sehr gelungene Arbeiten publiziert, die
durchaus im Geiste der kritischen Theorie entstanden sind und wichtige,
hauptsächlich philosophiehistorische und auch seinstheoretische Lücken
der Tradition erfüllen. Im „Verhältnis zur Ontologie“ wird sein Hauptwerk Kritik der neueren Ontologie zitiert, die noch 1956 als Habilitation
bei Adorno und Horkheimer verfasst wurde – also vor den „Pariser Vorträgen“ Adornos. So war Haags Zusammenarbeit mit Adorno und Horkheimer seit den frühen 1950er Jahren ohne alle Zweifel wesentlich für die
Entstehung des ontologiekritischen Teils der Negativen Dialektik – man
könnte sogar von einem Einfluss des dreißigjährigen Haag auf den bereits
reifen Philosophen Adorno sprechen. Es seien hier nur die ersten Sätze
des philosophischen Hauptwerks Haags zitiert, der auch den Geist des
„Verhältnisses zur Ontologie“ – vor allem seines zweiten Teils über „Sein
und Existenz“ – der Negativen Dialektik beherrscht: „Die ontologische
Diskussion unserer Tage verschweigt die eine Frage, der sich doch niemand entziehen kann, es sei denn, er bekennt sich offen zum Dogmatismus. Es ist die Frage, ob die ontologischen Strukturen etwas an sich seiendes, φυσει, ober ob sie bloße Produkte von Denken, θεσει, sind. Solange sie dieser Frage ausweicht, verzichtet Ontologie auf die Erörterung
ihrer eigenen Gültigkeit“257.
257
Haag (1960), S. 7.
148
A. Zur Theorie des ontologischen Bedürfnisses
Der Bedürfnisbegriff taucht nicht nur in der Negativen Dialektik, sondern
im Werk Adornos im Allgemeinen 258 im Zusammenhang mit der
Marx’schen Bedürfnistheorie auf. Dieser zufolge sind Bedürfnisse grundsätzlich gesellschaftlicher Natur, die in einem wechselseitigen Verhältnis
zur Produktion und Konsumption stehen. So entspricht ein Bedürfnis
zwar einem Mangel im Subjekt, das danach verlangt, durch Konsumption
eines bestimmten Objekts gestillt zu werden; dieser Mangel aber wird
wiederum aus der Produktion gesellschaftlich bestimmt. Mit einem Bedürfnis wird also ein Objekt immanent vorausgesetzt, durch das es selbst
vermittelt ist und dessen Konsumption es stillen und wiederum neue Bedürfnisse produzieren kann. Zwar gibt es für Marx elementare, sogenannte
„natürliche“ Bedürfnisse „wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung
usw.“259. Doch auch sie, ihr Umfang und ihre Befriedigungsart sind geschichtlich mitbestimmt, sofern sie beispielsweise „je nach den klimatischen und anderen natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes [verschieden sind]“260. Kurzum, Bedürfnissubjekt und Bedürfnismaterial sind
beide gesellschaftlich bedingt und gehorchen der Dialektik von Produktion und Konsumption einer gegebenen Gesellschaft. Das betrifft, wie
Marx schreibt, jedes Produkt menschlicher Tätigkeit:
Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis. Wenn die Konsumption aus ihrer ersten Naturrohheit und Unmittelbarkeit heraustritt – und das Verweilen in derselben wäre selbst noch das Resultat einer in der Naturrohheit steckenden Produktion – so ist sie
selbst als Trieb vermittelt durch den Gegenstand. Das Bedürfnis,
das sie nach ihm fühlt, ist durch die Wahrnehmung desselben geschaffen. Der Kunstgegenstand – ebenso jedes andre Produkt –
schafft ein kunstsinniges Publikum. Die Produktion produziert
daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch
ein Subjekt für den Gegenstand.261
So lassen sich nach Marx nicht nur Reichtum, sondern auch Grenzen und
Widersprüche einer bestimmten Gesellschaftsformation anhand der Bedürfnisse ihrer Individuen indirekt herauslesen. Sofern sie von der Produktion erzeugt und mitbestimmt werden, sind die Bedürfnisse Zeuge im
Individuum vom Entwicklungsgrad einer bestimmten Gesellschaft. Je
mehr gesellschaftlich erzeugte Bedürfnisse als notwendig gesetzt werden,
so Marx, umso höher ist der Reichtum einer Gesellschaft. Denn „der
258
259
260
261
Vgl. paradigmatisch Adornos Thesen über Bedürfnis: GS8, S. 392ff.
MEW23, S. 185.
Ebd.
MEW13, S. 634.
149
Reichtum besteht stofflich betrachtet nur in der Mannigfaltigkeit der
Bedürfnisse“ 262 . Doch eine bestimmte Gesellschaftsformation wie die
kapitalistische kann die Bedürfnisse durch Produktion erzeugen und zugleich einem Teil der Individuen die Konsumption des Bedürfnisgegenstandes verwehren, die erst das Bedürfnis stillen würde. So gibt es ein
Übermaß an Produzenten, die nicht oder nur zum Teil Konsumenten sind.
Während Adorno die Marx’sche Bedürfnistheorie übernimmt, erkennt er zugleich an, dass sie sich im Spätkapitalismus „erheblichen
Schwierigkeiten [gegenübersieht]“. Denn
[a]uf der einen Seite vertritt sie den gesellschaftlichen Charakter
des Bedürfnisses und darum die Befriedigung der Bedürfnisse in ihrer unmittelbarsten, konkretesten Form. Sie kann sich keine Unterscheidung von gutem und schlechtem, echtem und gemachtem,
richtigem und falschem Bedürfnis a priori vorgeben. Auf der anderen Seite muß sie erkennen, daß die bestehenden Bedürfnisse selber
in ihrer gegenwärtigen Gestalt das Produkt der Klassengesellschaft
sind. Menschlichkeit und Repressionsfolge wäre an keinem Bedürfnis säuberlich zu trennen. Die Gefahr einer Einwanderung der
Herrschaft in die Menschen durch deren monopolisierte Bedürfnisse ist nicht ein Ketzerglaube, der durch Bannsprüche zu exorzieren wäre, sondern eine reale Tendenz des späten Kapitalismus. (…)
Dieser Gefahr und allen Widersprüchen im Bedürfnis muß die dialektische Theorie standhalten. Sie vermag das nur, indem sie jede
Frage des Bedürfnisses in ihrem konkreten Zusammenhang mit
dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses erkennt, anstatt das
Bedürfnis im allgemeinen sei’s zu sanktionieren, sei’s zu reglementieren oder gar als Erbe des Schlechten zu unterdrücken.263
Der hier noch 1943 formulierte Einwand gegen die klassische Bedürfnistheorie von Marx wird wesentlich für die negative Dialektik sein. Er will
zusammenfassend eine (normative) Insuffizienz innerhalb der Bedürfnistheorie aufdecken: Während sie einerseits alle Bedürfnisse als gesellschaftlich bedingt und folglich als mittelbares Produkt der antagonistischen
Klassengesellschaft betrachtet, kann sie nicht a priori angeben, welche
Bedürfnisse zum Fortbestand und welche zu der Aufhebung dieser Klassengesellschaft mittelbar oder unmittelbar beitragen. Beide Tendenzen
finden sich – wohl nicht proportioniert – in dieser einen Gesellschaft
selbst inbegriffen. Eine Theorie des Bedürfnisses im Spätkapitalismus
muss dementsprechend mit einem holistisch angelegten Instrumentarium
ausgestattet sein, das es erlaubt, falsche von richtigen Bedürfnissen zu differenzieren. Falsch sind jene Bedürfnisse, deren innere Logik dem Fortbestand der Klassengesellschaft und der mit ihr zusammenhängenden Pro262
263
MEW42, S. 426.
GS8, S. 393.
150
duktion von gesellschaftlich überwindbarem Leiden zugrunde liegt. Sie
sind in diesem Sinne deshalb falsch, weil sie von einer Gesellschaftsverfassung abhängig sind, die innerlich widersprüchlich – antagonistisch – ist
und als solche nicht fortbestehen kann, ohne in regelmäßige und immer
destruktivere Krisen zu geraten. Dieses Instrumentarium gilt es nun, so
Adorno noch 1943, weiterzuentwickeln.
In welchem Sinne kann man nun angesichts dieser Bedürfnistheorie
von einem ontologischen Bedürfnis im Spätkapitalismus sprechen – und in
welchem Sinne kann man behaupten, dass es falsch ist? Dass es sich zunächst bei der Wiederbelebung der Ontologie im 20. Jahrhundert um ein
gesellschaftliches Bedürfnis handelt, lässt sich nicht bloß an der innerphilosophischen Struktur der neuontologischen Denkgebilde, sondern vor
allem an ihrer – bis heute – herausragenden Wirkung herauslesen: „Ihre
Wirkung wäre aber nicht zu verstehen, käme ihr kein nachdrückliches
Bedürfnis entgegen. Index eines Versäumten, die Sehnsucht, beim Kantischen Verdikt übers Wissen des Absoluten solle es nicht sein Bewenden
haben“264. Dieses Verlangen, „beim Kantischen Verdikt übers Wissen des
Absoluten solle es nicht sein Bewenden haben“, entspricht im Grunde
dem zunächst durchaus nachvollziehbaren Bedürfnis nach einem Festen,
einer verbindlichen Seinsordnung, deren innerphilosophische Grundlagen
die kantische Metaphysik- und Ontologiekritik tendenziell unterminiert hat.
Diese Diagnose der negativen – wenn wir wollen: kulturgeschichtlichen – Effekte der Vernunftkritik ist nicht neu; bereits die ersten Kritiker
Kants, hauptsächlich Jacobi, haben auf den aus der Vernunftkritik resultierenden Nihilismus bekanntlich hingewiesen. Ob nun die kantische Vernunftkritik ihrerseits nur ein (gelungener) philosophischer Ausdruck
dessen ist, was Jürgen Habermas das permanente Legitimationsbedürfnis
der Moderne aufgrund ihres immanenten Entzauberungsprozesses genannt hat, darf hier offenbleiben265. Auf alle Fälle entsteht mit der Moderne und der kapitalistischen Gesellschaft eine radikale gesellschaftliche
Weltfremdheit, die eben ein reintegratives Bedürfnis verschiedener Art mit
sich bringt. An sich ist dieses gesellschaftliche Bedürfnis – so Adorno –
nicht falsch: „Bedürfnisse sind ein Konglomerat des Wahren und Falschen;
wahr wäre der Gedanke, der Richtiges wünscht“266. Es ist in gewissem
Sinne eine natürliche Antwort auf eine akute Krisensituation. Falsch wird
es erst dann, wenn es sich eben als Restauration eines vermutlich Vergangenen gestaltet, die letztlich mit dem aktuellen Fortbestand desjenigen
gesellschaftlichen Systems kompromittiert ist, das das Bedürfnis als solches erst erzeugt hat. So würde die gelieferte Antwort eines Denkmodells
auf dieses Bedürfnis lediglich eine illusionäre Ersatzwirkung haben.
264
265
266
GS6, S. 67.
Vgl. diesbezüglich Schnädelbach (1996), S. 11.
GS6, S. 98.
151
Adorno tendiert dazu, recht unterschiedliche Phänomene des Spätkapitalismus als restaurative Antworten auf dieses Bedürfnis nach wahrer Integration zu identifizieren, wie etwa die soziologisch konstatierbare Verstärkung des Aberglaubens und der New-Age-Religionen, die Entstehung
(und verborgene Ausdauer) des Faschismus und der Totalitarismen verschiedener Art – und nicht zuletzt die Wiederbelebung der Ontologie.
„Universal sind Ahnung und Angst, Naturbeherrschung webe durch ihren
Fortschritt immer mehr mit an dem Unheil, vor dem sie behüten wollte;
an jener zweiten Natur, zu der die Gesellschaft gewuchert ist. Ontologie
und Seinsphilosophie sind – neben anderen gröberen – Reaktionsweisen,
in denen das Bewußtsein jener Verstrickung sich zu entwinden hofft“267.
Nicht umsonst, so Adorno, verbinden sich auf eigentümliche (und gefährliche) Weise all diese Phänomene bei dem wohl konsequentesten und
radikalsten neueren Ontologen: bei Heidegger.
Es ist dementsprechend etwas unpräzise, zu behaupten, dass der
Spätkapitalismus das Bedürfnis nach ontologischen Denkmodellen an sich
erzeugt, wie man dem Ausdruck ontologisches Bedürfnis voreilig entnehmen könnte. Vielmehr antworten die neueren Ontologien in ihrem eigentlichen, vermittelten Medium – dem begrifflich-philosophischen – auf das
gesellschaftliche Bedürfnis nach wahrer Integration, das der schwindelerregende, sozial atomisierende und die Umwelt zerstörende Spätkapitalismus notwendigerweise erweckt. Sie sind insofern restaurativ, als sie in
ihrer philosophischen Operation einen Moment der Geistesgeschichte
wiederherzustellen beanspruchen, in dem das reine Denken noch in der
Lage war, ontologische Inhalten autonom zu produzieren und von ihnen
ausgehend eine stabile Ordnungsstruktur zur Erschließung des Wirklichen zu erstellen. „Heidegger freilich durchschaute die Illusion, von welcher der populäre Erfolg der Ontologie zehrt: daß aus einem Bewußtsein,
in dem Nominalismus und Subjektivismus sedimentiert sind, einem, das
überhaupt nur durch Selbstreflexion zu dem wurde, was es ist, der Stand
der intentio recta einfach gewählt werden könne“268. Paradigmatisch für
diese autonom produzierten gedanklichen Inhalte sind selbstverständlich
die ontologischen Gottesbeweise, die bis Kant eine grundlegende Funktion in den Systementwürfen der Neuzeit spielten und mit der Vernunftkritik – so glaubt Adorno jedenfalls – definitiv widerlegt sind. „Sagt nicht,
wer vom Absoluten handelt, notwendig, es sei das denkende Organ, das
dessen mächtig sei, eben dadurch selbst das Absolute[?]“269.
Zwar lässt sich dieser restaurative Impuls auch bei Heidegger besonders deutlich anerkennen, bei dem das Pathos des Ursprungs, des ZurückZu, der Volte sogar eine wichtige innertheoretische Funktion erhält. Doch
267
268
269
GS6, S. 75.
GS6, S. 76.
GS6, S. 397.
152
auch bei als „progressiv“ auftretenden Ontologien, die anstatt Existenz
etwa „Arbeit“, „Freiheit“ oder „Gesellschaft“ als ontologische bzw. allen
Sinn erschließende Grundkategorie dekretieren, ist für Adorno diese restaurative Tendenz am Werk. Sie zeichnet sich nicht nur durch inhaltliche
Bestimmtheiten, sondern eben durch die formelle – und für Adorno antinomische – Grundoperation aus, Ontisches als Ontologisches zu hypostasieren und daraus eine Invariantenlehre zu verordnen, die Veränderbares zu
Unveränderbarem, Geschichtliches zu Ungeschichtlichem konvertiert
und so das Sekuritätsbedürfnis zu stillen scheint, das die in ständige Krise
geratene Spätmoderne erweckt. Diese gesamte philosophische Prozedur
wäre aber nicht möglich ohne einen bestimmten Umgang mit der Sprache,
in dem gewisse atomisierte Termini als Index von unmittelbarem Sinn
behandelt werden, der so zur Bildung eines ontologisierenden Jargons
dezidiert beiträgt270. Diese Grundoperation bleibt, so Adorno, bei allen
neueren Ontologien grundsätzlich identisch, auch wenn sie zu verschiedenen inhaltlichen Resultaten gelangen können. Es handelt sich um den
einzig möglichen Weg, ontologisches Denken wiederherzustellen, nachdem die Vernunftkritik durchgeführt worden ist.
Im nächsten Unterabschnitt werde ich die Vorbedingungen dieser Grundoperation aufgrund der Kategorien „Sein“ und „Existenz“ ausführlich
analysieren. Es sei hier nur ein letztes Wort zur Bedürfnistheorie Adornos
gesagt: Während die bekannte Ontologie- und Metaphysikkritik, die im
Laufe des 20. Jahrhunderts paradigmatisch vom logischen Positivismus
durchgeführt worden ist, im Grunde darin besteht, infolge der angeblichen Sinnlosigkeit der Aussagen der neueren Ontologien diese abzulehnen, folgt die bedürfnistheoretische Ontologiekritik einem radikal
anderen Denkmuster. Als eine Variante von Ideologiekritik geht die Bedürfnistheorie nicht davon aus, dass die Aussagen der Ontologiekritik
bloß sinnlos sind, sondern sie versucht, sie auch als Symptome einer außertheoretischen Konstellation zu lesen. So ist sie stärker „immanent“ angelegt, auch wenn sie die zu kritisierenden Denkmodelle holistisch auf die gesellschaftliche Praxis bezieht und diese ihrerseits aufgrund
der Tendenzen zergliedert, die sich durch gesellschaftliche Bedürfnisse
übersetzen lassen. Gerade deshalb muss ihr Ansatz streng vermittelt sein,
andernfalls kann sie leicht als ein Organon von undialektischen und unmittelbaren Analogien angewandt werden, was ihrer Intention und ihrem
Anwendbarkeitspotential zuwiderlaufen würde. Das bedeutet: Zwischen
der notwendig produzierten Desintegration der spätkapitalistischen Klassengesellschaft, der reaktiven Entstehung von Faschismen und der Formulierung von neuontologisch angelegten Denkmodellen, zwischen all
270
Vgl. unten § 12 C.
153
diesen Phänomenen mag sehr wohl ein Zusammenhang bestehen, der
bedürfnistheoretisch gedeutet werden könnte. Dieser Zusammenhang
darf sich aber nicht mit dem bloß Analogischen begnügen, das allenfalls
einen niedrigen Erkenntnisanspruch erheben darf. Indem sie Gesellschaft,
Ökonomie und kulturelle Denkgebilde in einen immanenten Zusammenhang bringen möchte, läuft die Kritische Theorie stets Gefahr, analogisch
zu prozedieren. Wie aller dialektischen Theorie ist auch ihr Vermittlung
wesentlich; Vermittlung ist dementsprechend der Schlüssel, der eine gelungene Gesellschaftstheorie im Geiste der Kritischen Theorie zu beurteilen erlaubt. Das bedeutet, dass allein die Bedürfnistheorie nicht über den
Wahrheitsgehalt eines Denkgebildes direkt entscheiden darf: Sie ist nur
ein Übergangsmittel zu dessen immanenter Analyse. Im Fall der neueren
Ontologie wird erst virulent, wie sie die Frage nach deren Möglichkeitsbedingungen qua Ontologie in einem nachkantischen Ambiente beantwortet.
154
B. Sein, Existenz, Vermittlung
Die Bedürfnistheorie kann, wie eben gesehen, lediglich einen gesellschaftskritischen hermeneutischen Beitrag zur Auslegung von Denkgebilden leisten. Allein vermag sie über ihren Wahrheitsgehalt und ihre philosophische Konsequenz nicht zu urteilen. Eine immanente Kritik an der
Ontologie muss hinzugefügt werden, die zwar aus ihr erwächst, doch eine
andere kritische Prozedur verfolgt: „Kritik am ontologischen Bedürfnis
treibt zur immanenten der Ontologie“271. Dafür entwickelt Adorno ein
reflexionskritisch und sprachtheoretisch angelegtes Argumentationsmuster, das in vielen Hinsichten dem kantischen verpflichtet ist. Im Folgenden soll es rekonstruiert werden.
Innerphilosophisch behaupten die neueren Ontologien, dass die Erstellung von ontologischen Aussagen nicht bloß einer Art philosophischer Grundentscheidung entspricht. Vielmehr bewegt sich ihnen zufolge
jedes Denkmodell innerhalb eines gewissen „ontologischen Vorverständnisses“, das jedem theoretischen und praktischen Bezug zum Seienden
vorausgeht, das aber bei dem ordinären theoretischen Diskurs größtenteils unthematisiert bleibt. Dementsprechend wollen auch die neueren
Ontologien ein rein immanentes Argumentationsmuster liefern – hierin
besteht ihre philosophische Kraft. Sie argumentieren, dass eine zumindest
unthematisierte Ontologie auch dort vorausgesetzt werden muss, wo
streng „faktenorientiert“ (bzw. ontisch) prozediert wird. Bei der Ontologie handelt es sich zunächst um einen gewissermaßen unumgänglichen
kategorialen Rahmen, der nicht nur für alle kognitiven Leistungen konstitutiv ist, sondern überhaupt für die Art und Weise, wie sich Menschen auf
Seiendes gegenständlich beziehen. Aus philosophiehistorischen und kulturgeschichtlichen Gründen hat sich nun die menschliche Reflexion immer weniger mit diesem vorgängigen Seinsverständnis befasst; darin liegen,
unter anderem, die Gründe ihrer Krise. Es komme nun darauf an, den
Blick der Philosophie auf die Ontologie zu orientieren und erneut die
Seinsfrage zu stellen, die allen anderen thematischen Fragestellungen vorausgeht.
Zwar entspricht das dem bekannten Argumentationsgang, den Heidegger zumindest seit dem epochalen Werk Sein und Zeit entwickelt hat,
um die Wendung zu einer neuontologischen Denkweise zu begründen.
Doch wie sich im Folgenden zeigen wird, transzendiert diese das Denken
Heideggers und wird, so Adorno, von den meisten neuontologischen
Denkgebilden auch der Sache nach vertreten. Auch wenn Heidegger seine
eigene ontologische Grundlegung stets neu gedacht hat, hat sich dieser
Gedankengang infolge der unumgänglichen Notwendigkeit ontologischen
271
GS6, S. 104.
155
Besinnens in der Tradition stark kristallisiert. So schreibt Heidegger noch
auf den ersten Seiten seines Hauptwerks von 1927 über die Notwendigkeit, die Seinsfrage erneut zu stellen:
Ontologisches Fragen ist zwar gegenüber dem ontischen Fragen
der positiven Wissenschaften ursprünglicher. Es bleibt aber selbst
naiv und undurchsichtig, wenn seine Nachforschungen nach dem
Sein des Seienden den Sinn von Sein überhaupt unerörtert lassen.
Und gerade die ontologische Aufgabe einer nicht deduktiv konstruierenden Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von
Sein bedarf einer Vorverständigung über das, „was wir denn eigentlich mit diesem Ausdruck ‚Sein‘ meinen“.
Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so
Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der
vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden
Ontologien selbst. Alle Ontologie, mag sie über ein noch so reiches
und festverklammertes Kategoriensystem verfügen, bleibt im Grunde
blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre
Fundamentalaufgabe begriffen hat.272
Diese Textstelle enthält nicht nur die Begründung einer Rückkehr zu den
ontologischen Fragestellungen, sondern implizit auch den zentrale Begriff
der „ontologischen Differenz“. Zunächst über die Unumgänglichkeit der
Ontologie: Heidegger plädiert für ein Verständnis des theoretischen Unternehmens, das dreistufig angelegt ist. Es gibt erstens die faktenorientierten, ontischen Untersuchungen der positiven Wissenschaften, die sich
damit beschäftigen, was der Fall ist. Aus diesen Untersuchungen ergibt
sich immanent das, was Heidegger hier ontologisches Fragen im „naiven“ Sinne nennt, das einer theoretischen Konstruktion der Hauptkategorien entspricht, die in den Einzelwissenschaften jeweils am Werke sind.
Nach aller Wahrscheinlichkeit hat hier Heidegger den Begriff der materialen Ontologien als Wesenswissenschaft im Sinne, den Husserl seit etwa 1913
rehabilitiert hat. Die materialen Ontologien, so Husserl, beschäftigen sich
abstrahierend mit den unterschiedlichen „Seinsregionen“, die ihrerseits
von den Einzelwissenschaften ontisch untersucht werden. „Jede dieser
Regionen (z.B. Natur, Mensch, Geschichte) ist das Objekt einer eigenen
auf sie bezogenen Wesenswissenschaft oder materialen Ontologie“. Bei
diesen materialen Ontologien handelt es sich um „streng apriorische Wissenschaften“, die „das Fundament der auf denselben Gegenstandsbezirk
ausgerichteten empirischen Wissenschaften [bilden]“ 273 . Ontologisches
272
273
Heidegger (2006), S. 11.
Husserl (1992), S. 28.
156
Fragen, so der Gedankengang, ist folglich ein theoretischer Diskurs zweiter Stufe, der aus der Reflexion auf die wissenschaftliche Tätigkeit immanent erwächst und die Hauptbegriffe dieser Tätigkeit zum Gegenstand hat.
Doch sofern diesem theoretischen Diskurs zweiter Stufe der Seinsbegriff
absolut zentral ist, bleibt auch er naiv, wenn die Frage nach dem Sein zuvor unerörtert geblieben ist. Die Untersuchung, die sich mit der Frage
nach dem Sein befasst, ist dann ein Diskurs dritter Stufe, der grundlegender als alle anderen ist und deshalb von Heidegger „fundamental“ genannt
wird. Im Rahmen von Sein und Zeit wird diese fundamentale Grundwissenschaft erst als eine Analytik desjenigen Seienden zugänglich, aufgrund
dessen Existenz sich das Sein erst manifestiert: das Dasein. Denn „[d]ie
ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist“274.
In diesem Gedankengang ist nun auch die Idee der ontologischen
Differenz – auch ontisch-ontologische Differenz genannt – anwesend, auf
der Heideggers Denken in vieler Hinsicht philosophisch gründet. Diese
Idee dürfte sich der Sache nach in allen Denkgebilden finden, die Ontologie als unumgänglich interpretieren. „Die Überordnung der Seinsfrage über
die Erkenntnisfrage, durch die man die neuere Ontologie allgemein charakterisieren kann“, schreibt Schnädelbach, „soll selbst das Resultat erkenntnistheoretischer Reflexionen sein: seit Lotze spielt dabei das Argument,
daß das Subjekt selbst ein Seiendes und die Erkenntnisrelation eine Seinsrelation ist, eine zentrale Rolle“275. Der Idee der ontisch-ontologischen
Differenz zufolge besteht ein qualitativer Unterschied zwischen Sein und
Seiendem, aufgrund dessen sowohl die Differenz als auch die mögliche
Verbindung zwischen Ontik und Ontologie hergestellt werden kann.
Gemäß dieser Idee ist ein jeglicher gegenständlicher Bezug zu Seiendem
durch das Sein (ungegenständlich) bestimmt, das aber wiederum nur
durch das Seiende selbst erschließbar sei. Bereits vor Sein und Zeit, in der
Vorlesung über Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927, hat
sich Heidegger mit diesem Begriff ausführlich befasst. Dort steht sogar,
dass „[d]as Problem des Unterschieds von Sein überhaupt und Seiendem
nicht ohne Grund an erster Stelle [steht]. Denn die Erörterung dieses
Unterschieds soll erst ermöglichen, eindeutig und methodisch sicher dergleichen wie Sein im Unterschied von Seiendem thematisch zu sehen und
zur Untersuchung zu stellen“276. Etwa dasselbe hat Heidegger im Sinn,
wenn er in der oben angeführten Passage zwischen den ontischen Wissenschaften und den sie fundierenden Ontologien unterscheidet, die wiederum ein bestimmtes Seinsverständnis – oder einen Verständnishorizont,
um einen immer wieder verwendeten Begriff zu verwenden – und folglich
die Seinsfrage stets voraussetzen. Der vergegenständlichende Bezug zum
274
275
276
Heidegger (2006), S. 12.
Schnädelbach (1983), S. 235.
Heidegger (1997), S. 322.
157
Seienden setzt dementsprechend nicht nur ein Seinsverständnis voraus,
wobei Sein sich fundamental vom Seienden unterscheidet; er ist auch in
einem sinnhaften Totalitätszusammenhang (Horizont) eingebettet, der das
Seiende stets transzendiert und immanent bestimmt. Doch das so verstandene Sein – zu dem das ganze Denken Heideggers führt – ist wie
gesagt nur durch das Seiende erschließbar, „in“ das es gesetzt ist – sodass
sich hier ein evidenter Zirkel ergibt, der aber für Heidegger unvermeidlich
und sogar index veri ist.
Der schwer zu überschätzende Erfolg dieser Idee Heideggers in der
zeitgenössischen Philosophie könnte unter anderem darauf zurückgeführt
werden, dass sie es ermöglicht, die zwei Hauptvarianten der ontologischen Forschung organisch zusammenzudenken, die traditionsgemäß
getrennt durchgeführt worden sind: die Theorie der Existenz einerseits
und die Theorie der Seinsarten andererseits. Sogar Adorno nannte diese
Idee eine „glückliche terminologische Innovation“ 277 Heideggers, auch
wenn er sich bemüht, sie zu kritisieren. Denn zum einen begründet sie die
Ontologie als unumgängliche theoretische Disziplin, die in der ordinären
wissenschaftlichen Tätigkeit impliziert ist, diese aber gleichzeitig übersteigt; zum anderen affirmiert sie die Vorgängigkeit der radikaler verstandenen Seinsfrage im Hinblick auf alle ontologischen Fragestellungen und
betrachtet die sich mit ihr befassende Disziplin als „Fundamentalontologie“. Mit der Rehabilitierung der so verstandenen Ontologie in Gestalt
der Seinsfrage liefert sie auch eine emphatische Antwort auf die idealistische Identitätskrise der Philosophie, unter deren Wirkung die phänomenologische Denktradition, der Heidegger wesentlich angehört, entstanden ist. So rehabilitiert Heidegger das Verständnis von der Philosophie als der auf die Totalität gerichteten Grundwissenschaft, das nach dem
Tod Hegels in die Krise geraten war, ohne aber gegen den Geist der Vernunftkritik zu verstoßen.
Auch wenn sie nicht direkt an Heidegger oder an die Phänomenologie anknüpfen, sind für Adorno alle Denkgebilde, die sich nach Kant als
ontologisch verstehen, mit dieser Grundoperation mehr oder minder
kompromittiert. Denn bereits die Erstellung von ontologischen Aussagen
gleich welcher Inhalte setzt ihm zufolge voraus, dass sie ihrem Anspruch
nach von den ontisch ausgerichteten Aussagen grundverschieden sind.
„Nur dann nämlich ist Ontologie in nachdrücklichem Sinn, eine Lehre
von Sein überhaupt, möglich, wenn Sein – was immer wir uns darunter
vorstellen mögen – als ein von allem Seienden Unabhängiges oder, wie es
in der Sprache von ‚Sein und Zeit‘ heißt, ‚Vorgängiges‘ kann erwiesen
werden“ 278 . „Ontologie muß also ex definitione die Vorgängigkeit von
277
278
OD, S. 24.
OD, S. 95.
158
Sein über Seiendes lehren“ 279 . Bei der ontisch-ontologischen Differenz
handelt es sich so um die minimale Voraussetzung aller Ontologie als
Disziplin. Aus diesem Grunde behauptet Heidegger, dass die Frage nach
dem Unterschied von Sein und Seiendem die allererste ist, mit der man
sich auseinanderzusetzen hat. Auch deshalb erläutert Adorno die ontischontologische Differenz als eine Konzeption der Ontologie schlechthin,
wie er in seiner Vorlesung über Ontologie und Dialektik schreibt:
Unter ontologischer Differenz versteht man also die Differenz
zwischen Sein und Seiendem, – wobei diese Differenz ebensowohl
einen Unterschied bezeichnet wie, der Konzeption der Ontologie
zufolge, doch auch wieder eine Verbindung zwischen den beiden
Momenten: denn das Seiende soll für die Ontologie einen ausgezeichneten Schlüsselcharakter für das Sein besitzen. Und umgekehrt ist ohne das Verständnis des Seins, Heidegger zufolge, ein
Verständnis des Seienden und damit der sogenannten einzelnen regionalen Ontologien überhaupt nicht zu gewinnen. Also von dieser
Differenz von Sein und Seiendem im Begriff des Seins selber, in der
ontologischen Fragestellung selber reden wir, wann immer ich den
Ausdruck ontologische Differenz gebrauchen werde.280
Nun ist es genau diese Idee, gegen die sich die negative Dialektik wendet.
Ihre Kritik hat grundsätzlich zwei Momente. Zunächst macht Heidegger
mit dem Begriff der ontisch-ontologischen Differenz eine petitio principii,
die die Vorgängigkeit des Ontologischen gegenüber dem Ontischen eigentlich vorentscheidet. Zwar gibt er dies teilweise selbst zu, indem er
sein philosophisches Verfahren anhand der theoretischen Figur des Zirkelschlusses expliziert. Doch die Tatsache, dass die Philosophie aufgrund
ihres eigenen Wesens gewissermaßen einer Art Zirkelschluss immer unterliegen muss, dispensiert den Philosophen nicht, seine Voraussetzungen
argumentativ nachzuholen. So Adorno:
Er hat zwar mit dem Paradoxon, daß die Philosophie nicht den
Zirkel zu vermeiden, sondern an der richtigen Stelle in ihn einzusteigen habe, ganz recht, aber er bleibt hinter dieser seiner eigenen
These insofern zurück, als es bei ihm wirklich nur bei einem bloßen
Zirkelschluß bleibt; das heißt, daß eigentlich immer wieder nur diese
Prämisse von der Vorgängigkeit des Seins über das Seiende nachgebetet, wiederholt, variiert wird, ohne daß nun in einem eigentlich
argumentativen Zusammenhang ihr nachgegangen wäre. Und das
wird methodologisch mit jener Verachtung für das Argument gestützt, im Grunde mit jener Verachtung für das Denken überhaupt,
279
280
OD, S. 97.
OD, S. 25.
159
die ja dieses besondere Denken in einem so hohen Maß charakterisiert.281
So wird die Vorgängigkeit des Seinsverständnisses gegenüber jeglichem
Bezug zu Seiendem von der neueren Ontologie gewissermaßen präsupponiert, obwohl sie doch gerade erst argumentativ zu demonstrieren wäre.
In vielem vollzieht sie, so Adorno, einen philosophischen Gestus des „Als
ob“: Stellt man sich darauf ein, als ob die Ontologie und so die Seinsfrage
allen anderen ontischen Fragestellungen logisch vorgängig wäre, dann
ergibt sich ein bestimmtes Denkbild, dessen Ausführung die Fundamentalontologie ist. Zwar gesteht Adorno zu, dass die ontischen Untersuchungen der Einzelwissenschaften anhand von Grundprinzipien operieren,
deren Formalisierung „ontologisch“ – im Rahmen eines Diskurses zweiter
Stufe also – benannt werden könnte. Doch sofern es nicht anders bewiesen wird, sollte man davon ausgehen, dass diese ontologisierende Formalisierung nichts anderes als eine Abstraktion der je konkret experimentierenden Vollzüge der Einzelwissenschaften darstellt. Kurz gesagt sind die
ontischen Untersuchungen sowohl genetisch als auch logisch gegenüber
den „ontologischen“ vorgängig.
Außer diesem einen Argument enthält die negativ-dialektische Kritik
an der Ontologie auch ein zweites Moment. Ihm zufolge basiert der Begriff der ontisch-ontologischen Differenz auf einem Kunststück, dem
seine Faszination größtenteils zuzurechnen ist. Dieses Kunststück besteht
im Grunde in der Verwandlung der konstitutiven Leerheit des Seinsbegriffs in Positivität. Bereits Kant hatte bekanntlich in der BeweisgrundSchrift und dann auch in der Kritik der reinen Vernunft den Seinsbegriff
anhand der Setzung oder Position logisch zergliedert und so seine unumgängliche Leerheit als einheitlicher, nominalisierter Begriff freilegt 282 .
Vorausgesetzt nun, dass das Sein der Summe dessen entspricht, was der
Fall ist und sich folglich inhaltlich bestimmen lässt, dann kann eine ontisch-ontologische Differenz notwendigerweise auf diese Leerheit hinweisen – doch sie wird im Zusammenhang der neueren Ontologie als „höhere“ Unbestimmtheit, Unumgänglichkeit, Unverfügbarkeit und Unthematisierbarkeit verklärt. In diesem Sinne macht die Ontologie gewissermaßen aus der Not eine Tugend – aus der immanenten Leerheit des Seinsbegriffs heraus wird seine vermutlich höhere Dignität affirmiert. Diesen
Gedankengang hat Karl Heinz Haag am klarsten formuliert, und Adorno
sekundiert ihm in der Negativen Dialektik. So schreibt Haag:
Was allerdings unter einem solchen, von der Sphäre des Ontischen
angeblich völlig unabhängigen ‚Sein‘ zu verstehen ist, muß unausgemacht bleiben. Seine Bestimmung würde es in die Dialektik von
281
282
OD, S. 39.
KW2, S. 632f.
160
Subjekt und Objekt hineinziehen, von der es gerade ausgenommen
sein soll. An dieser Unbestimmtheit, an der wohl zentralsten Stelle
der Heideggerschen Ontologie, liegt es, daß die Extreme Sein und
Seiendes auch gegeneinander notwendig unbestimmt bleiben müssen, so daß nicht einmal angebbar ist, worin deren Differenz besteht. Die Rede von der ‚ontologischen Differenz‘ reduziert sich
auf die Tautologie, das Sein sei nicht das Seiende, weil es das Sein
sei. Heidegger macht also den Fehler, den er der abendländischen
Metaphysik vorwirft, daß nämlich stets ungesagt geblieben sei, was
Sein im Unterschied zum Seienden meine.283
Die negative Dialektik ordnet sich dementsprechend in die Denktradition
der vermittlungstheoretischen und sprachphilosophischen Kritik am
Seinsbegriff ein, die in der Moderne wohl auf Kant zurückgeht und mit
Variationen bis zur Sprachanalyse des 20. Jahrhunderts reicht. Diese Kritik könnte so zusammengefasst werden: Der Seinsbegriff hat stets eine
ausgezeichnete Rolle in der Philosophiegeschichte insofern gespielt, als er
die totalisierende Intention der klassischen Metaphysik und so auch des
überlieferten Philosophiebegriffs synthetisiert hat. Grund dürfte sein,
dass er seinem Wesen nach mehrdeutig ist und an sich vor allem die Bedeutungen der Existenz und der Prädikation enthält, die zusammengenommen die Hauptfragen der Ontologie ergeben. Doch eben infolge
dieser Undifferenziertheit erwachsen aus dem für die Theoriebildung
größtenteils unverzichtbaren Seinsbegriff kategoriale Probleme, die entweder unausweisbare Aussagen oder schlicht sinnlose Fragen zur Folgen
haben können. Der Seinsbegriff bedarf daher einer innerbegrifflichen
Zergliederung und so einer möglichen Übersetzung in andere Begriffe,
um die aus ihm entstehenden kategorialen Probleme zu lösen. Wie gesagt
hat bereits Kant dies erkannt, indem er die Prädikation in eine Kategorienlehre übersetzt und die Existenz als Position expliziert hat. Auch
wenn sie ganz unterschiedliche Konsequenzen daraus ableitet, erbt die
moderne sprachanalytische Kritik am Seinsbegriff größtenteils diese von
Kant inaugurierte kritische Operation. So schreibt zum Beispiel Ernst
Tugendhat:
Im logischen Positivismus, etwa in Carnaps Aufsatz ‚Überwindung
der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache‘ (1932), galt
Ontologie für schlechthin sinnlos. Allerdings nicht das Wort ‚Sein‘.
Man braucht es ja ständig, auch in logisch formalisierten Aussagen.
Es hat jedoch verschiedene disparate Bedeutungen, insbesondere
die der Existenz, der Prädikation und der Identität. In logistisch
formalisierten Aussagen ist diese Mehrdeutigkeit behoben, indem
die verschiedenen Bedeutungen verschieden symbolisiert werden.
Hingegen scheint es für die Metaphysik charakteristisch, daß sie an
283
Haag, Kritik der neueren Ontologie, zitiert nach ND, S. 121f.
161
dem mehrdeutigen Wort festhalten möchte, und daraus, erklärt
Carnap, entstehen sinnlose Fragen. Wäre das alles, so ließe sich jedoch eine Ontologie denken, die sich ausschließlich an eine der
Bedeutungen des Wortes ‚Seins‘ hält, etwa an die der Existenz.
Carnap muß daher erklären: das Wort ‚Sein‘ fungiert zwar sinnvoll,
wenn man es in Aussagen lediglich gebraucht; hingegen wären alle
Fragen, die es irgendwie thematisch machen, sinnlos.284
Trotz aller Positivismuskritik distanziert sich die negative Dialektik nicht
strikt von diesem Argumentationsmuster. Auch sie führt den Seinsbegriff
sprachtheoretisch auf seine Grundlagen zurück, um seine immanenten
Vermittlungen aufzuzeigen. Auch sie ist damit einverstanden, dass der
Seinsbegriff aufgrund seiner Mehrdeutigkeit einer innerbegrifflichen Zergliederung bedarf und immanent zu kategorialen Problemen führt. Auch
sie interpretiert den Seinsbegriff der Metaphysik und der neueren Ontologien als eine begriffliche Autonomisierung, die aus der problematischen
Verwendungsweise des sprachlichen Seinsbegriffs erwächst und für seine
philosophische Faszination auch in einem nachkantischen Ambiente
größtenteils verantwortlich ist. Anders als die Hauptvertreter der Sprachanalyse erklärt die negative Dialektik die Aussagen der Ontologie jedoch
nicht für schlicht sinnlos, sondern deutet sie innerhalb einer Bedürfnistheorie, wie sie oben rekonstruiert worden ist und die im Grunde die
Rolle einer Art Symptomatologie – „Wovon ist die Wiedergeburt der Ontologie ein Symptom?“ – übernimmt. „Der Seinskult lebt von uralter Ideologie, den idola fori: dem, was im Dunkel des Wortes Sein und der daraus
abgeleiteten Formen gedeiht“285.
Mit anderen Worten: Das Sein der neueren Ontologien ist im Grunde,
so die negative Dialektik, nichts anderes als eine unerlaubte begriffliche
Hypostasierung, die sich aus den undifferenzierten Verwendungsweisen
des Seinsbegriffs ergibt. Das wie auch immer zu verstehende Sein ist dem
Ontologen lediglich durch den Seinsbegriff zugänglich, wie dieser in den
menschlichen Sprachen ordinär verwendet wird. Gewiss kann – und soll –
der alltägliche Seinsbegriff aufgrund logischer und philosophischer Analyse
geklärt und differenziert werden, doch der Bezug zur ordinären Sprache
bleibt wesentlich. Abgesehen von besonderen Variationen dieser oder
jener menschlichen Sprache fungiert der Seinsbegriff nun aber als Position
(Existenz) und als Kopula. Als Position setzt Sein ohne alle Frage Vermittlung voraus, sofern ein besonderes X eben durch einen kognitiven
Vollzug gesetzt wird. Der Anschein von Unvermitteltsein und Unbedingtheit, der dem Seinsbegriff anhaftet und seiner unterstellten radikalen
Differenz zum Ontischen zugrunde liegt, wird dann von der Kopula abge-
284
285
Tugendhat (1992), S. 23.
GS6, S. 107.
162
leitet, sofern diese die Funktion sowohl eines Existentialurteils als auch
einer Synthesis erfüllt:
‚Ist‘ stellt zwischen dem grammatischen Subjekt und dem Prädikat
den Zusammenhang des Existentialurteils her und suggeriert damit
Ontisches. Zugleich bedeutet aber es, rein für sich genommen, als
Copula, den allgemeinen kategorialen Sachverhalt einer Synthesis,
ohne selber ein Ontisches zu repräsentieren. Darum läßt es ohne
viel Umstände auf der ontologischen Seite sich verbuchen. Von der
Logizität der Copula bezieht Heidegger die ontologische Reinheit,
die seiner Allergie gegen Faktisches gefällt; vom Existentialurteil
aber die Erinnerung an Ontisches, die es dann erlaubt, die kategoriale Leistung der Synthesis als Gegebenheit zu hypostasieren286.
Die Tendenz zur Verselbstständigung der Kopula jenseits ihrer synthetischen Funktion, wie sie der Ontologie im strengen Sinne wesentlich ist,
ist folglich dem Seinsbegriff immanent. „Im Wort Sein, dem Inbegriff
dessen, was ist, hat die Copula sich vergegenständlicht“287. Es handelt sich
eben um eine logisch und bedeutungstheoretisch unerlaubte Hypostasierung, die das Sein als Kopula aus seiner notwendigen Relation zwischen
Subjekt und Prädikat herausnimmt und es autonomisiert. Diese Operation
erklärt sich nicht bloß aus der immer defizitären Dimension der menschlichen Sprache, die, wie Kant sagt, „von den Zufälligkeiten ihres Ursprungs, einige nicht zu ändernde Unrichtigkeiten [hat]“288. Sie registriert
auch den dialektischen Charakter des Denkens, das sowohl Matrix von
Vermittlung als auch selbst vermittelt ist: Denken ist demzufolge eine
Potenz, deren Leistung Verflüchtigung von objektivem Sinn ist – und
nicht dessen Erstellung. Anders gewendet: Denken ist Negativität. „In ihr
[der Sinnlosigkeit des Wortes Sein – D. P.] schlägt die Unmöglichkeit
sich nieder, positiven Sinn durch den Gedanken zu ergreifen oder zu erzeugen, der das Medium der objektiven Verflüchtigung von Sinn war“289.
„Denken dagegen, das nicht als Ursprung sich behauptet, sollte nicht
verbergen, daß es nicht erzeugt sondern wiedergibt, was es, als Erfahrung,
bereits hat“290.
Die Hypostasierung des Seins beruht in diesem Sinne bloß auf einem
verfälschten Vermittlungskonzept, das aber in den logischen Verwendungsweisen des Seinsbegriffs verwurzelt ist. Die durchgeführte Kritik an
ihm führt zugleich zu dem dialektischen Vermittlungsbegriff, den die
negative Dialektik vertritt: „Jeder Versuch, das ‚Ist‘, und wäre es in der
286
287
288
289
290
GS6, S.
GS6, S.
KW2, §
GS6, S.
GS6, S.
105.
109.
1.
105.
71.
163
blassesten Allgemeinheit, überhaupt nur zu denken, führt auf Seiendes
hier und dort auf Begriffe“291. So lässt sich Sein nur insofern denken, als es
durch Seiendes vermittelt gedacht wird; diese Vermittlung ist aber ihrerseits nicht mit einer Variante von ontisch-ontologischer Differenz zu
vermengen. Letztere denkt Sein zwar im Ausgang von Seienden, um aber
anschließend die Grundverschiedenheit beider und die Vorgängigkeit des
Seins zu behaupten. Die dialektische Vermittlung des Seins durch das
Seiende besteht hingegen in der Auflösung des Seins selbst, das als eine
philosophische Abstraktion entlarvt wird: „Kein Sein ohne Seiendes“292,
wie die Konklusion der negativ-dialektischen Ontologiekritik lauten
müsste.
Daraus folgt unmittelbar, dass der ontologische Rahmen, den die
neueren Ontologien formulieren, nur aufgrund einer Ontologisierung des
Ontischen zustande gebracht werden kann. Denn wenn Sein nur einen aus
der Ontik abgeleiteten und aus der Kopula hypostasierten Begriff darzustellen vermag, kann der ontologische Rahmen eines Denkgebildes auch
nur einem anders gewendeten Verhältnis zur Ontik entsprechen. Das ist
die Grundoperation, die für Adorno alle nachkantische Ontologie vollzieht: Ontisches wird aus dessen geschichtlich-gesellschaftlicher Konstellation herausgenommen und zum Status des alles bestimmenden Ontologischen erhoben. Die unmittelbare Konsequenz dieser Grundoperation ist
die Konversion von Geschichtlichem zu Übergeschichtlichem und die
Herausbildung einer angeblich stabilen Invariantenlehre, die aber nur aus
einer Verklärung ihres eigentlich geschichtlichen Charakters besteht. Indem aber Geschichtliches zu Ontologischem erhoben wird, wird zugleich
ein geschichtlich-gesellschaftlicher Zustand – und somit auch ein bestimmtes Menschenbild – verewigt, der aber grundsätzlich überwindbar
ist. Bei Heidegger wird dieser Umstand besonders klar anhand von Kategorien wie Angst, die aus einer bestimmten menschlichen Formation
stammen und deshalb prinzipiell überwindbar sind, die aber bei ihm ontologisiert werden: „Kategorien wie die Angst, von denen zumindest nicht
zu stipulieren ist, sie müßten für immer währen, werden durch ihre Transfiguration Konstituentien von Sein als solchem, ein jener Existenz Vorgeordnetes, ihr Apriori“293. Das ist aber auch der Fall bei Kategorien, die in
der marxistischen Tradition so zentral sind wie der Arbeitsbegriff, entsprechend transreflexiv gesetzt werden und so auch neuontologisch erfasst werden können294. Auch aus diesem Grund sind die neueren Onto291
GS6, S. 111.
GS6, S. 139.
293
GS6, S. 125.
294
In der marxistischen Tradition hat paradigmatisch der späte Lukács diesen Denkweg
eingeschlagen. Hieraus ließe sich die Kontroverse zwischen ihm und Adorno rekonstruieren. Vgl. diesbezüglich Tertulian (2009).
292
164
logien für Adorno konservativ, auch wenn sie sich als progressiv präsentieren: Ein Gesellschafts- und Menschenbild wird verewigt, das dem jetzigen Zeitalter mittelbar oder unmittelbar entstammt und grundsätzlich
überwindbar ist (und auch sein soll, wenn man an der Idee der Versöhnung festhält).
Im nächsten Abschnitt werde ich die Konsequenzen dieser Seinskritik für die Materialismusfrage und das Vermittlungsmodell der negativen
Dialektik zusammenfassen. Zuvor möchte ich aber diese negativdialektische Ontologiekritik anhand ihres sprachanalytischen Pendants
etwas konkreter vervollständigen und plausibler machen.
165
C. Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die These Adornos zu
plausibilisieren, der zufolge die philosophische Grundpolarisierung von
Ontologie und Dialektik erst im Zusammenhang mit und hauptsächlich im
Ausgang von ihrer sprachlichen Dimension vollends entfaltet werden kann.
Denn mit seinem hier rekonstruierten Beitrag zur Ontologiekritik vertritt
er die Auffassung, dass die Sprachproblematik keineswegs nur einen Aspekt neben den anderen in dieser Polarität bildet, sondern vielmehr die
wesentliche Komponente der Grundpolarisierung selbst ist, sodass sich
die Gegenüberstellung von Ontologie und Dialektik gerade in der Form
des philosophischen Schreibens ausdrückt bzw. in der jeweils zugrunde
liegenden Sprachtheorie sedimentiert. Das heißt, ontologisches und dialektisches Denken sind zwei grundverschiedene Denkarten, deren Grundverschiedenheit ihrerseits sprachlich, als unterschiedliche Sprachmodelle
konkretisiert wird.
Ausgegangen wird von einer konzeptuellen Grundrekonstruktion des
Jargon-Begriffs bei Adorno, der mindestens seit 1956 vom Autor terminologisch verwendet wird. Der Jargon ist Adorno zufolge das Produkt
einer sprachlichen Operation, zu der grundsätzlich alle ontologischen
Denkweisen nach Kant tendieren. Zwar bringt das Denken Martin Heideggers diese sprachliche Operation in Gestalt eines Jargons der Eigentlichkeit am klarsten zum Ausdruck, doch sie ist für Adorno die innerliche
Konsequenz aller Ontologie in der Moderne. Dem Jargon-Begriff ist nun
diejenige philosophische Verfahrensweise entgegenzusetzen, die Adorno
im Anschluss an Walter Benjamin wohl als das ausschlaggebende Merkmal
des dialektischen Denkens überhaupt entwickelt: das Modell des Denkens
in Konstellationen. „Jargon“ und „Denken in Konstellationen“ bilden zwei
grundlegend gegensätzliche Denk- und Schreibmodelle, die Ausdruck und
Teil der entsprechenden Grundpolarisierung Ontologie und Dialektik
selbst sind. Allein anhand dieser Sprachmodelle lässt sich diese Grundpolarisierung, wie sie sich bei Adorno gestaltet, durchsichtig machen.
Was das konkrete Verhältnis Heideggers zum Jargon betrifft, zeigt
sich, dass er, so wie ihn Adorno konzipiert, keineswegs direkt bei Heidegger zu finden ist. Vielmehr ist er eine rein theoretische Konstruktion, die
lediglich gesellschaftliche und philosophische Tendenzen der Spätmoderne
herauszukristallisieren versucht und nicht direkt einem konkreten Textkorpus entspricht. Heideggers Texte sind wohl der meist- und höchstreflektierte Ausdruck und die am meisten beachtete Verkörperung dieser
Tendenzen, folglich spricht und hallt in ihnen der Jargon mittelbar nach.
Es wäre ein Missverständnis, Textstellen aus dem Heidegger’schen Korpus
dem oben thematisierten Jargon-Begriff bei Adorno direkt gegenüberzustellen, um einzuwenden, Heidegger schreibe doch nicht so. Sicherlich
166
finden sich bei Heidegger Textstellen, die dem Jargon-Begriff durchaus
entsprechen – Adorno zeigt ja einige auf –, aber es lassen sich auch Textpassagen finden, die ihm widersprechen. Ausschlaggebend für meine Intentionen ist hingegen, theoretisch plausibel zu machen, dass die genannten Tendenzen mit der ontologischen Denkweise koinzidieren (und in
extremis koinzidieren müssen).
(a) Zum Jargon-Begriff
Adorno verwendet die Worte „Jargon“ bzw. „Jargon der Eigentlichkeit“ in
terminologischer Prägung spätestens seit 1956, wo sie in der Metakritik
der Erkenntnistheorie auftaucht. Dort erscheint der Jargon als direkte
sprachliche Konsequenz einer bestimmten innerphilosophischen Operation,
die die damaligen Entwicklungen der Phänomenologie vollzogen haben:
Wenn der kritische Vollzug der zur Phänomenologie geronnenen
Motive deren Löcher aufdeckt, die sie durch den Übergang von einem Begriff zum anderen vergebens stopft, so will in gewissem
Sinn die Phänomenologie in ihrer ontologischen Endphase jene
Löcher selbst: von ihren unfreiwilligen Irrationalitäten profitiert
ihre zuinnerst irrationalistische Absicht. Daher redet sie den Jargon
der Eigentlichkeit, der mittlerweile die gesamte deutsche Bildungssprache zum geweihten Kauderwelsch verderbte, theologischer Ton
bar des theologischen Inhalts wie eines jeglichen außer der Selbstvergötzung.295
Diese Beschreibung erlaubt aber kaum eine begriffliche Rekonstruktion
dessen, was unter einem Jargon der Eigentlichkeit zu verstehen sei. Auch
im Werk, das den Begriff als Titel trägt, findet man – wie üblich bei
Adorno – keine eindeutige Definition des Jargon-Begriffs, weil er selbst
nur in Konstellationen behandelt wird. Man müsste folglich den Begriff –
oder zumindest dessen philosophischen Gehalt – aus diesen Konstellationen herauskristallisieren: Der Jargon verfüge über „eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter“, der „Sprachfunktion im Jargon“ von bestimmten wiederholten Worten wie „existenziell, ‚in der Entscheidung‘, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung“ sei nachzugehen; der Jargon sei „objektiv ein System“ und
benutze „als Organisationsprinzip die Desorganisation, den Zerfall der
Sprache in Worte an sich“; Worte werden zu solchen des Jargons „erst
durch die Konstellation, die sie verleugnen, durch die Gebärde der Einzigkeit jedes einzelne davon“; manche Worte des Jargons „mögen in anderer Konstellation ohne Blinzeln nach dem Jargon verwendet werden“; der
Jargon operiere „Eigentlichkeit, oder ihr Gegenteil, aus jedem solchen
einsichtigen Zusammenhang heraus“; im Jargon [sind] die Worte „aus295
GS5, S. 41f., meine Hervorhebung.
167
tauschbare Spielmarken, unberührt von Geschichte“; „was Jargon sei und
was nicht, darüber entscheidet, ob das Wort im Tonfall geschrieben ist, in
dem es sich als transzendent gegenüber der eigenen Bedeutung setzt; ob
die einzelnen Worte aufgeladen werden auf Kosten von Satz, Urteil, Gedachtem“; der Jargon „sorgt dafür, daß, was er möchte, in weitem Maß
ohne Rücksicht auf den Inhalt der Worte gespürt und akzeptiert wird
durch ihren Vortrag“; „das vorbegriffliche, mimetische Element der Sprache nimmt er zugunsten ihm erwünschter Wirkungszusammenhänge in
Regie“; der Jargon verschandelt „das Oberste, das zu denken wäre und das
dem Gedanken widerstrebt (…) indem er sich aufführt, als ob er es – ‚je
schon‘, würde er sagen – hätte“; den Worten wird vom Jargon „die Transzendenz der Wahrheit über die Bedeutung der einzelnen Worte und Urteile
als ihr unwandelbarer Besitz“ zugesprochen, „während jenes Mehr [das
dem philosophischen Sprachverfahren eigentümlich ist – D. P.] allein in
der Konstellation, vermittelt sich bildet“; die Dialektik „von Wort und
Sache ebenso wie die innersprachliche zwischen den Einzelworten und
ihrer Relation“ werden vom Jargon abgebrochen etc.296
Den angeführten Zitaten ist zunächst zu entnehmen, dass der Jargon
„objektiv ein System“ 297 – oder zumindest systemähnlich – sei. Adorno
verwendet den System-Begriff stets streng terminologisch im Sinne der
theoretischen Figur eines in sich geschlossenen Referenzrahmens, der
hierarchisch anhand eines meist selbst gesetzten ersten Prinzips strukturiert ist, das den ganzen Referenzrahmen bestimmt. Es handelt sich also
um eine in sich geschlossene Totalität bzw. einen autarken Immanenzzusammenhang, dessen Teile lediglich mit Blick auf das selbstbezügliche
Ganze Sinn erhalten. Adorno kennt lediglich idealistische Denksysteme, in
denen also nur Identität herrschen kann, auch wenn sie durch Nichtidentität konstituiert wird; ein System der Differenz beispielsweise, wie es manche zeitgenössischen Autoren 298 zu konstruieren versuchen, ist Adorno
zufolge ein Selbstwiderspruch. Die theoretische Figur eines Referenzrahmens, der beispielsweise auf Differenz oder Nichtidentität – und nicht auf
Identität – aufbauen würde, wäre für Adorno wohl diejenige eines Antisystems, so wie die eigene negative Dialektik es zu sein beansprucht299.
296
297
298
299
Alle Zitate GS6, S. 417–421.
GS6, S. 417.
Das ist wohl das theoretische Ziel der Abhandlung Différence et repétition von
Gilles Deleuze, die nicht auf das emphatische Systemdenken verzichten will, aber
naturgemäß von einer gründlichen Kritik am Hegelianismus bzw. Idealismus ausgeht.
„Spricht man in der jüngsten ästhetischen Debatte vom Antidrama und vom Antihelden, so könnte die Negative Dialektik, die von allen ästhetischen Themen sich
fernhält, Antisystem heißen.“ GS6, S. 10. Zum Begriff des Antisystems ausführlich
§ 13 unten.
168
Das Prinzip nun, das den Jargon als System durchstrukturiere und
hierarchisiere, sei „die Desorganisation, de[r] Verfall der Sprache in Worte
an sich“300 . In der Denktradition der Kritischen Theorie gibt es einige
sprachtheoretische Erklärungsmodelle für das angebliche Phänomen eines
(zeitgenössischen) Verfalls der Sprache in ihre Namens-, Signifikations-,
Ausdrucks- und auch Kommunikationsdimensionen: Walter Benjamin
verwendet beispielsweise ein theologisch und messianisch angelegtes Erklärungsmodell einer gründlichen Distinktion zwischen namengebender
Sprache überhaupt und be-deutender Sprache des Menschen, um ein erst
wirklich in der Moderne konstatierbares Phänomen zu deuten301; die Dialektik der Aufklärung spricht soziologisierend noch von einem Übergreifen – im Laufe des sogenannten westlichen Aufklärungsprozesses und
infolge der Scheidung zwischen Dichtung und Wissenschaft – von „der
Arbeitsteilung auf die Sprache“, die die Gesamtkonstitution des Wortes in
Bild, Ton und Signifikant zergliedert und fragmentarisch macht 302 ; Adorno und Horkheimer sprechen mehrmals von einer Art moderner Entfremdung der Sprache und ihrer Funktionen, die durch die Effekte und
Methoden der Kulturindustrie entstehe. Der „Verfall der Sprache in Worte
an sich“ ist wohl ein zutiefst damit zusammenhängendes Phänomen, das
historisch-gesellschaftlich lokalisiert ist: In extremis tendiere Sprache im
Laufe des Kapitalismus, so die beiden Autoren, von einem zuvor organisierten Gesamtzusammenhang, der überaus vermittelt und selbstbezüglich
gewesen sei, zu einem bedeutungsautonomen, in seinen Funktionen zersplitterten und zusammenhangslosen Wortaggregat. Dieses Phänomen ist
eine Voraussetzung nicht nur für die Entstehung eines Jargons wie desjenigen der Eigentlichkeit, sondern auch für bestimmte avantgardistische
Sprach- und Kunstprozeduren wie die Montage und die Collage, die eben
vom „Verfall der Sprache in Worte an sich“ Gebrauch machen, um aus
dem Fragmentarischen ansatzweise eine neue ästhetische Ganzheit zu
bilden. Der Jargon aber operiert Adorno zufolge grundsätzlich anders.
Der Jargon hat den „Verfall der Sprache in Worte an sich“ zur Voraussetzung und erhebt im Zuge einer autonomisierenden Desaggregation
die einzelnen, mit ontologischer Dignität aufgeladenen Worte zum systemstiftenden Prinzip; er ist nur dann möglich, wenn die Sprache außerhalb strenger diskursiver Sinnzusammenhänge verwendet wird, sodass ein
anderes, grundverschiedenes Sinnregime entsteht. Dieses basiert seinerseits nicht mehr auf Vermittlung, sondern hauptsächlich auf Zerstreuung.
Bestimmte Worte lassen sich aus soziologischen, psycholinguistischen
und geschichtlichen Gründen einfacher in den Jargon einbeziehen, doch
300
301
302
GS6, S. 417–418.
Vgl. den Abschnitt „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ in Benjamin (1977).
GS3, S. 34.
169
jedes Wort und jeder Wortkomplex kann zum Teil eines Jargons werden,
solange sie als Index von unmittelbarer Bedeutung behandelt werden.
Schlicht gesagt: Das Problem besteht naturgemäß nicht darin, dass man
Worte wie „Eigentlichkeit“, „Begegnung“ oder „echtes Gespräch“ verwendet, sondern wie man sie verwendet. Dementsprechend können auch
Worte und Wortkomplexe wie „Aufklärung“, „Gesellschaft“ und „Dialektik“ einen neuen Jargon bilden, sofern sie nicht mehr als das, was sie sind
– also fehlbare Teile einer Art Versuchsanordnung zur tentativen Deutung
historisch-gesellschaftlich vermittelter Phänomene innerhalb konkreter
Sinnzusammenhänge –, verwendet werden und somit eine Art von autarker „Substanz“ an sich erhalten. In seinem rein philosophischen Gehalt ist
das Jargon-Problem letztlich eines der philosophischen Begriffsbildung im
Allgemeinen: Jeder philosophische und theoretische Diskurs in der Moderne muss sich dem Risiko eines tendenziellen Jargonwerdens aktiv stellen und sich möglichst dagegen immunisieren, was allein durch eine strenge sprachliche Reflexion möglich ist.
(b) Denken in Konstellationen
Das Wort „Konstellation“ – oder auch „Konfiguration“ – wird als Terminus technicus der kritischen Sprachtheorie wohl zuerst von Walter Benjamin in seiner bekannten Abhandlung über den Ursprung des deutschen
Trauerspiels verwendet. Dort handelt es sich um ein komplexes Verhältnis
zwischen Ideen, Begriffen, Konstellationen von Begriffen und den Phänomenen, die durch sie „aufgeteilt“ und „gerettet“ werden müssen:
Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den
Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch
deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene
und in keiner Weise können diese Kriterien für den Bestand der
Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene
für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen. Während die Phänomene durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeit, ihre Differenzen
Umfang und Inhalt der sie umfassenden Begriffe bestimmen, ist zu
den Ideen insofern ihr Verhältnis das umgekehrte, als die Idee als
objektive Interpretation der Phänomene – vielmehr ihrer Elemente
– erst deren Zusammengehörigkeit zueinander bestimmt. Die
Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als
Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich. Und zwar liegen jene
Elemente, deren Auslösung aus den Phänomenen Aufgabe des Begriffes ist, in den Extremen am genauesten zutage. Als Gestaltung
des Zusammenhanges, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben. Daher ist es falsch, die allgemeinsten Verweisungen der Sprache als Begriffe zu verstehen,
anstatt sie als Ideen zu erkennen. Das Allgemeine als ein Durchschnittliches darlegen zu wollen, ist verkehrt. Das Allgemeine ist
170
die Idee. Das Empirische dagegen wird um so tiefer durchdrungen,
je genauer es als ein Extremes eingesehen werden kann. Vom Extremen geht der Begriff aus.303
Trotz Benjamins teils esoterischen, teils mystischen Neigungen hat Adorno die hier knapp entworfene und in dieser Abhandlung ausgeführte
Sprachtheorie sehr früh als eine mögliche dialektische Theorie der Begriffsbildung interpretiert. Inwiefern Benjamin diese Sprachtheorie ursprünglich als explizites Gegenmodell zur Heidegger’schen konzipiert und Adorno sie anfangs auch als solche aufgenommen hat, muss offenbleiben,
auch wenn es relativ gute Hinweise dafür gibt304. Wichtig ist vielmehr, dass
sie zum wesentlichen Bestandteil der erneuten dialektischen Theorie wurde, um die sich Benjamin und Adorno als immanente (Sprach-)Kritik der
(fundamentalen) Ontologie stets bemühten und deren definitive Fassung
– mit dem frühen und tragischen Tod Walter Benjamins 1940 und dem
abrupten Abbruch ihrer Zusammenarbeit – wohl die Negative Dialektik ist.
Im oben angeführten Zitat ist bereits das Wesentliche dieser kritischen
Sprachtheorie genannt: Ideen (der Terminus taucht bei Adorno selbst
kaum auf) bestehen aus einem komplexen Ensemble von Begriffen, die
sich ihrerseits um ein gegebenes zu interpretierendes Phänomen tentativ
sammeln und hauptsächlich dessen einmalige und extreme Elemente zur
Sprache zu bringen versuchen. Dieses Ensemble von Begriffen ist nun
eine Konstellation, die lediglich in ihrer eher anarchischen und so keineswegs hierarchisierenden Zusammengehörigkeit besteht. Lediglich die die
Konstellation formenden Begriffe haben ein verallgemeinerndes Verhältnis zu dem zu deutenden Phänomen; die durchkomponierte Konstellation
selbst – ein Stück Text, das sich also nur konkret sprachlich materialisiert
– ist bereits ein konkretes Bild – eine Idee – des Phänomens. Dialektisch
ist dieses Bild nun insofern, als sich die darin enthaltenen Begriffe auf
gegensätzliche und gar kontradiktorische Aspekte des zu interpretierenden Phänomens bzw. Objekts beziehen können und es deshalb in seinem
immanenten Werden zu erfassen suchen.
Wohl seit 1928 hat Adorno durch Konstellationen geschrieben; die
ersten repräsentativen Beispiele der konkreten Verwendung der konstellativen „Methode“ sind wohl die Texte über Schubert und das KierkegaardBuch. Die konkret schriftlichen Konsequenzen dieser Sprachtheorie sind
leicht anhand von Adornos Texten selbst zu erkennen, während die
Sprachtheorie ihrerseits seine durchaus einzigartige Schreibweise zu erläutern vermag: Zugunsten eines freien Essayismus verzichtet der Text struk303
304
Benjamin (1977), S. 15.
Die erste – und im ersten Kapitel bearbeitete – Darstellung des philosophischen
Programms Adornos, der 1931 gehaltene Vortrag Die Aktualität der Philosophie,
fällt mit einer grundlegenden Kritik an der Ontologie zusammen; diese war auch
Thema anderer Arbeiten zu jener Zeit. Vgl. GS1, S. 325ff.
171
turell auf „hierarchisierende“ Textgattungen wie den Traktat, die in der
Regel einen Vollständigkeitsanspruch beim Behandeln des thematisierten
Objekts erheben und im Extremfall more geometrico verfasst sind; stattdessen soll die Oberstruktur des Textes vom zu deutenden Objekt und
dessen Einzigartigkeit abgeleitet werden. Die wichtigste Texteinheit ist
dann die jeweils individuell durchkomponierte Konstellation von Begriffen, die ihrerseits alle gleich nah zum Konstellationsmittelpunkt stehen und
von denen keiner den Vorrang über die anderen erhält, sodass sie sich nicht
als übergeordnet autonomisieren und polarisieren können. Ziel der Konstellationen ist es, „das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens
selber“ 305 reden zu lassen und es vor allem nicht unter einem einzigen
übergeordneten Begriff einseitig zu subsumieren. Weil die Konstellationen
nun immanent in Bewegung sein müssen, werden statische Definitionen
einzelner Begriffe grundsätzlich abgelehnt, sodass die Begriffe einzig im
Laufe des Textes und durch die Konstellationen hindurch Sinn erhalten.
Definitionen können lediglich dann zugelassen werden, wenn sie selbstbewusst als vorläufig auftreten und dem In-Bewegung-Setzen des Gedankens dienen. Die einzelnen Begriffe werden in der Regel so übernommen,
wie sie hic et nunc in den konkreten gesellschaftlichen und historischen
Verhältnissen spontan vorzufinden sind: Sie werden, mit anderen Worten,
in ihrer konkreten Geschichtlichkeit selbstbewusst behandelt, sodass die
aus ihnen komponierten Konstellationen in gewissem Sinne „vorübergehend“ sind. Wahrheit als „werdende Konstellation“ 306 impliziert, wie
Adorno schreibt, dass sie zeitlich vermittelt ist und stets aktualisiert werden muss.
Obwohl die konstellative Methode der theoretischen Begriffsbildung
zunächst als etwas Esoterisches erscheinen kann, erkennt Adorno ihre
Verwendung bei anderen modernen Autoren und Wissenschaftlern. Paradigmatisch ist hier Max Webers Notion eines idealtypischen Sinnverstehens, das, so Adorno, geistig mit dem Modell des Denkens in Konstellationen urverwandt sei. Dabei orientiere sich Weber an einem bestimmten
Komponieren von Begriffen, das Adorno als Vorbild seiner eigenen gesuchten Denk- und Schreibweise als besonders bedeutend anerkennt:
Er [Max Weber – D. P.] lehnt ausdrücklich das abgrenzende Definitionsverfahren nach dem Schema ‚genus proximum, differentia
specifica‘ ab und verlangt statt dessen, soziologische Begriffe müßten aus ihren ‚einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. Die endgültige begriffliche Erfassung kann daher nicht am Anfang, sondern muß am Schluß der Untersuchung stehen‘. Ob es einer solchen Definition am Schluß allemal bedarf, oder ob, was Weber das
305
306
GS6, S. 38.
GS10.2, S. 604.
172
‚Komponieren‘ nennt, ohne formal definitorisches Resultat das zu
sein vermag, wohin schließlich auch Webers erkenntnistheoretische
Absicht möchte, steht dahin. So wenig Definitionen jenes Ein und
Alles der Erkenntnis sind, als welches der Vulgärszientivismus sie
betrachtet, so wenig sind sie zu verbannen. Denken, das in seinem
Fortgang nicht der Definition mächtig wäre, nicht für Augenblicke
es vermöchte, die Sache durch sprachliche Prägnanz einstehen zu
lassen, wäre wohl so steril wie eines, das an Verbaldefinitionen sich
sättigt. Wesentlicher jedoch, wofür Weber den Namen des Komponierens gebraucht, der dem orthodoxen Szientivismus inakzeptabel
wäre. Er hat dabei freilich bloß die subjektive Seite, das Verfahren
der Erkenntnis im Auge. Aber es dürfte um die in Rede stehenden
Kompositionen ähnlich bestellt sein wie um ihr Analogon, die musikalischen. Subjektiv hervorgebracht, sind diese gelungen allein,
wo die subjektive Produktion in ihnen untergeht. Der Zusammenhang, den sie stiftet – eben die ‚Konstellation‘ –, wird lesbar als
Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts. Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der
Sprache. Sogar ein Verfahren, das so sehr dem traditionellen Wissenschaftsideal und seiner Theorie sich verpflichtet wie das Max
Webers, enträt keineswegs dieses bei ihm nicht thematischen Moments.307
Das Weber’sche idealtypische Sinnverstehen operiert durch Denkkonstellationen insofern, als es durch eine bestimmte veränderte Schreibmethode
– selbstbewusstes Komponieren von nicht hierarchisierenden Begriffsnetzen anstelle des traditionellen Verfahrens vom übergeordneten Begriff –
das zu deutende Objekt ins Zentrum der Erkenntnismethode stellt; es
distanziert sich grundsätzlich von einer möglichen Autonomisierung eines
einzigen Oberbegriffs und nimmt das zu deutende Objekt als eine Art
Rätsel auf, das es durch eine Mehrzahl von Begriffen zu lösen gilt. Das
singuläre Objekt besitzt somit im Wesentlichen den Vorrang gegenüber
dem klassifikatorischen Verfahren – dies alles genügt Adorno im Grunde
bereits, die Methode des Denkens in Konstellationen mit der dialektischmaterialistischen gleichzusetzen.
(c) Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle
Aus dem oben Dargestellten lassen sich zwei Sprachmodelle extrahieren,
deren Haupteigenschaften im Folgenden zur besseren Sichtbarkeit tabellarisch dargestellt werden 308 . Beide Sprachmodelle sind unter fast allen
Gesichtspunkten einander diametral entgegengesetzt: Ausgehend von
einem grundverschiedenen Verständnis über das Wesen der Sprache leiten
307
308
GS6, S. 167.
OD, S. 72–77; GS6, S. 492ff.
173
sich ebenso grundverschiedene Eigenschaften dessen ab, wie sich Sprache
in beiden Modellen jeweils konstituiert und was sie überhaupt leistet. Man
könnte diese Unterschiede darauf zurückführen, dass Ontologie und
Dialektik als Sprachmodelle in ihrem jeweiligen Verständnis von Philosophie als Produktion gründlich voneinander abweichen: Während die negative Dialektik auf der philosophischen Unmöglichkeit der Produktion von
positiven gedanklichen Inhalten besteht, muss das ontologische Denken
diese Unmöglichkeit bestreiten. Für die negative Dialektik ist Philosophie
nach der Vernunftkritik auch in dem Sinne nur negativ möglich, dass sie
auf das Material anderer Disziplinen und Wissenschaften angewiesen ist.
Ihr bleibt – mit ihrem konstellativen Sinnregime – lediglich die Funktion,
dieses Material zu konfigurieren, und die multidisziplinäre, wenn auch
holistische Tendenz übrig. Ontologie dagegen erhebt grundsätzlich den
Anspruch, gedankliche Inhalte immanent produzieren oder zum ontologischen Status erheben zu können, sofern sie einen kategorialen Rahmen
etabliert, der die Diskurse der Wissenschaften erst ontologisch gründet.
„Denken dagegen, das nicht als Ursprung sich behauptet, sollte nicht
verbergen, daß es nicht erzeugt sondern wiedergibt, was es, als Erfahrung,
bereits hat“309.
Jargon
Denken in Konstellationen
Typologie
Sprache ist archetypisch/originär; gründlich
seinsbezogen
Sprache ist ectypisch / nominalistische Reproduktion von Seiendem
Verhältnis zum
Sein
ontologisch / besitzt selbst
ontologische Dignität
nur im intentionalen Spannungsverhältnis zu Seiendem
Leistung/
Potential
Enthüllung / Lichtung des
Seins selbst
Ausdruck von Seiendem
durch Konstellationen
Sinn
mögliche Autonomisierung
von ontologisch aufgeladenen Worten / tendenzielle
Unmittelbarkeit des Sinnes /
realistisch
Sinn nur in weiten Sinnzusammenhängen möglich / Vermittlung von jeglichem Sinn durch
das Ganze / nominalistisch
Aufbau
systematisch/
systemähnlich
antisystematisch/
essayistisch
Verhältnis zur
Wahrheit
Sprache als grundsätzlich
wahrheitsfähig / Wahrheit
von Sprache abhängig /
Wahrheit selbst sprachlich
Sprache als grundsätzlich wahrheitsfähig / Wahrheit von Sprache
abhängig / Wahrheit selbst
sprachlich
309
GS6, S. 71.
174
In der Tabelle fällt aber auf, dass Sprache in beiden Sprachmodellen in
einem positiven Verhältnis zur Wahrheit steht bzw. Wahrheit erst ermöglicht. Zwar ändert sich die Art und Weise, wie und aufgrund welcher philosophischen Operation Sprache in beiden Sprachmodellen wahrheitsfähig
sein soll, aber das Wesentliche ist, dass Sprache in ihnen überhaupt als
wahrheitsfähig angesehen wird – anders als beispielsweise im Skeptizismus
und in der Mystik. Noch wesentlicher ist die Auffassung, dass Wahrheit in
ihnen selbst irgendwie sprachlich sei. Grund dafür mag sein, dass beide die
Kritik an einem Wahrheitsverständnis teilen, dem zufolge das Wahre rein
ideell und deshalb von Sprache überhaupt unabhängig sei. Anders formuliert bedeutet dieser Sachverhalt zugleich, dass Philosophie selbst eines
bestimmten Sprachmodells bzw. eines bestimmten (und nicht gleichgültig
welchen) sprachlichen Sinnregimes bedarf, um sich zu aktualisieren. Dies
erhellt erneut, wie dialektisches Denken für Adorno untrennbar mit dem
Denken in Konstellationen verbunden ist bzw. dass beide praktisch eins
sind. Denn nur das konstellative Sprachregime erlaubt laut Adorno die
Aufhebung von übergeordneten, einseitig identifizierenden und subsumierenden Oberbegriffen; nur es verhindert das systematische Jargonwerden des Diskurses dadurch, dass sich einzelne Worte und Begriffe
innerhalb der Konstellationen nicht autonomisieren können; nur es lässt
das Widersprüchliche in den philosophischen Diskurs organisch und konstitutiv eingehen; nur es kann das zu deutende Objekt in seinem geschichtlich-gesellschaftlichen Werden thematisieren; nur es erlaubt, kurz
gesagt, die Gestaltung eines durchaus vermittelten philosophischen Diskurses. Deutlich wird, wie alle bisher bearbeiteten Grundmotive des negativ-dialektischen Materialismus hier enthalten sind.
175
§ 13. Ontologiekritik, Antisystem, Materialismus
Ich habe den Kern der Ontologiekritik der negativen Dialektik anhand
von drei Mustern zu explizieren und sie so in verschiedene nachidealistische Traditionen der Metaphysik- und Ontologiekritik einzuordnen versucht. Es handelt sich um ein bedürfnistheoretisches Argumentationsmuster, das Marx verpflichtet ist, ein vermittlungstheoretisches, das auf
Kant zurückgeht und auch in der modernen Sprachanalyse weitergeführt
wird, und ein sprachphilosophisches, das nach dem Wesen von Ontologie
und Dialektik als sprachlichen Gebilden fragt und von Adorno mit Benjamin entwickelt wird. In allen Fällen geht die negative Dialektik von der
zwangsläufigen Problemhaftigkeit ontologischer Denkweisen unter nachkantischen Bedingungen aus, die somit das Wesen der neueren Ontologien verschiedener Provenienz innerlich bestimmt.
Das bedürfnistheoretische Argumentationsmuster versteht sich als
eine Variante der Ideologiekritik, die geistige Gebilde aufgrund einer breit
angelegten gesellschaftlichen Symptomatologie erfasst. Hier versucht
Adorno die Wiedergeburt der Ontologie in der Spätmoderne als eine –
grundsätzlich konservative – Antwort auf ein theoretisches und gesellschaftliches Bedürfnis zu interpretieren, das aus der nachidealistischen
Identitätskrise der Philosophie erwächst. Das vermittlungstheoretische
Argumentationsmuster besteht grundsätzlich darin, Sein als eine unerlaubte Hypostasierung zu deuten, die sich aus den undifferenzierten Verwendungsweisen des Seins als Position und Kopula ergibt. Aus der vermittlungstheoretischen Kritik der Ontologie ergibt sich dann die Möglichkeit, Ontologie und Dialektik als zwei grundverschiedene Sprachmodelle zu deuten, die verschiedenen Sinnregimes gehorchen und so die
philosophische Theoriebildung auch unterschiedlich verkörpern.
Die auf diese Weise rekonstruierte Ontologiekritik der negativen Dialektik in all ihren Dimensionen hat nun große Konsequenzen nicht nur
für die philosophische Theoriebildung im Allgemeinen, sondern auch für
die eigentliche Konzeption des (kritischen) Materialismus selbst. Im
Rahmen der negativen Dialektik spielt sie eine doppelte Rolle: Zunächst
verhindert sie die aus der philosophischen Reflexion immanent erwachsende Setzung eines transreflexiven Seins, das als erstes Prinzip fungiert
und so Subjekt und Objekt in Gestalt von „Sein“, „Gesellschaft“, „Natur“,
„Horizont“, „Ereignis“ oder eines wie auch immer verfassten ersten Prinzips einbettet. Subjekt und Objekt werden so – in deutlich Hegel’scher
Tradition gegen Schelling – zwangsläufig zu einer autarken, in diesem
Sinne rein „immanenten“ Struktur, in der sie „absolut entgegengesetzt
und eben dadurch miteinander identifiziert werden“310. Ist das als Erstes
310
GS6, S. 177.
176
konzipierte Sein selbst vermittelt, dann kann es nicht kategorial Erstes
sein. Ein nicht geringer Beitrag der negativen Dialektik zur Geschichte
des Materialismus ist ihrem Anspruch nach der Nachweis, dass auch fortgeschrittene materialistische Denkmodelle dieser ontologischen Grundstruktur der Form nach gehorchen und so an der totalitätsbezogenen
Grundoperation der klassischen Metaphysik noch – und wohl wider Willen – teilhaben: „Weil ihr Begriff [der Materie] unbestimmt sei, ihm als
Begriff eben das fehlt, was mit ihm gemeint ist, fällt alles Licht auf seine
Form. Das gliedert Hegel in die abendländische Metaphysik an deren
äußerster Grenze ein. Engels hat das gesehen, aber die umgekehrte, ebenfalls undialektische Konsequenz gezogen, Materie sei das erste Sein. Dialektische Kritik gebührt dem Begriff des ersten Seins selber“311.
Zweitens verhindert diese Seinskritik ebenso, dass eine ontologische
Ungleichheit in diese autarke Vermittlungsstruktur eingebaut wird, die
sonst einen ontologisch vorgeordneten Pol innerhalb der Vermittlungsstruktur etablierte. Erst jetzt lässt sich der Anspruch des Vorrangs des
Objekts tatsächlich erfassen: In der autarken Subjekt-Objekt-Vermittlung
wird eine interne Ungleichheit offenbar, die aber nicht ontologisch, sondern rein reflexionstheoretisch auszubuchstabieren ist. Ohne diese doppelte Leistung ist eine Dialektik nicht möglich, wie sie die negative Dialektik zum Begriff bringen will:
Ist Dialektik aber einmal unabweisbar geworden, so kann sie nicht
wie Ontologie und Transzendentalphilosophie bei ihrem Prinzip
beharren, nicht als eine wie immer auch modifizierte, doch tragende Struktur festgehalten werden. Kritik an der Ontologie will auf
keine andere Ontologie hinaus, auch auf keine des Nichtontologischen. Sie setzte sonst bloß ein Anderes als das schlechthin Erste;
diesmal nicht die absolute Identität, Sein, den Begriff, sondern das
Nichtidentische, Seiende, die Faktizität. Damit hypostasierte sie
den Begriff des Nichtbegrifflichen und handelte dem zuwider, was
er meint. Grundphilosophie, πρωτη φιλοσοφια führt notwendig
den Primat des Begriffs mit sich; was ihm sich verweigert, verläßt
auch die Form eines vorgeblich aus dem Grunde Philosophierens.312
Erst mit dieser doppelten Leistung wird die Denkfigur eines Antisystems
installiert, der die negative Dialektik Konsistenz verleihen möchte. Sie
zeichnet sich eben nicht durch die ontologische Umkehrung von wie auch
immer formulierten Systemprinzipien aus, sondern durch die Auflösung
eines jeden Systemprinzips und so durch das interne Zerlegen von Denksystemen gleichgültig welcher Provenienz. Denn mit einer derartigen
Umkehrung fiele die negative Dialektik auf das Reflexionsniveau des Sys311
312
GS6, S. 127.
GS6, S. 140.
177
temdenkens zurück, das sie durch immanente Kritik doch überwinden
will. Zwar geht Adorno davon aus, dass das paradigmatische – und konsequenteste – Systemdenken auf einem ausdrücklichen ichtheoretischen
Prinzip basiert ist, wie dies die Denksysteme des nachkantischen Idealismus tun. Doch der Form nach bleiben auch die neueren Ontologien dem
Systemdenken verhaftet, indem sie durch die Hypostasierung vermittelter
Einzelkategorien operieren, die aus der ihnen eigentümlichen Vermittlung
herausgenommen und in diesem Prozess ontologisiert werden. Aus diesem Grunde kann Adorno – radikaler noch – behaupten, dass auch ontologisch aufgebaute Denkmodelle dem Idealismus grundsätzlich immer
noch verpflichtet sind:
Idealismus herrscht, auch wenn das ὑποκειμενον Sein oder Materie
oder wie immer genannt wird, vermöge der Idee des ὑποκειμενον.
Totales Begreifen aus einem Prinzip etabliert das totale Recht von
Denken. Die theoretische Grenze gegen den Idealismus liegt nicht
im Inhalt der Bestimmung ontologischer Substrate oder Urworte,
sondern zunächst im Bewußtsein der Irreduktibilität dessen was ist
auf einen wie immer auch gearteten Pol der unaufhebbaren Differenz (…). Gerade die Husserlsche Wendung zu einem ‚korrelativen‘ Seinsbegriff, die dessen spätere Theologisierung vorbereitete,
war extrem idealistischen Sinnes, und ihn hat jener Begriff niemals
verloren. (…) Husserls ontologischer Zug ist, wie der Hegels, der
wahrhaft idealistische. Indem die allerallgemeinsten Bewußtseinsstrukturen ihrer Beziehung auf jeglichen Stoff entäußert werden
und diese Beziehung selber einzig noch als formale Charakteristik
der Bewußtseinsstruktur wiederkehrt, wird das rein Geistige als An
sich installiert und schließlich zum Sein.313
Die Denkfigur nun, die dieses Gebilde immanent zerlegt und so die „Irreduktibilität dessen was ist auf einen wie immer auch gearteten Pol der
unaufhebbaren Differenz“ philosophisch ermöglicht, heißt Antisystem.
Das Antisystem entspricht wiederum, so Adorno, der Formstruktur eines
konsistenten Materialismus: „Es erhellt ohne weiteres schon daraus, daß
der Materialismus, der ja gerade die Vormachtstellung des Geistes als eines
constituens schlechthin bestreitet, seinem eigenen Wesen nach System gar
nicht sein kann“314. „Im Grunde könnte es materialistische Systeme nicht
geben“315. Materialismus und System scheinen sich für Adorno philosophisch auszuschließen: Das spezifisch Materialistische soll eben dem entsprechen, was sich dem Systemprinzip entzieht. So konzipiert ist der kritische Materialismus keine starke inhaltliche These über das Wesen des
Wirklichen, sondern die Entlarvung ihrer prinzipiellen Inkonsistenz.
313
314
315
GS5, S. 186f.
PT, S. 264.
PT, S. 242.
178
Mit dieser umfassenden Operation werden nun die materialistischen
Kategorien ontologisch entleert. Sie beanspruchen keinen direkten Bezug
zum Ansichseienden zu erstellen und so keine unveränderbaren Gebilde
zu sein, die unmittelbaren und durchsichtigen Sinn erhielten. Vielmehr
werden sie stets innerhalb einer gegebenen geschichtlichen Konstellation
vorgefunden und so in dieser durchaus kontingenten Geschichtlichkeit
bearbeitet. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass dies nur als essayistische Sinnbildung konkret zu entfalten ist. So besitzt die negative Dialektik
im Grunde kein stabiles Kategorienkorpus und ist auch keine feste Methode, sondern eine Matrix für das Antisystemdenken, deren Logik „eine
des Zerfalls ist: der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der
Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar sich gegenüber
hat“316.
Aus dieser Konstellation lassen sich zuletzt auch die Hauptprobleme
und Herausforderungen ableiten, die sich der negativen Dialektik als einem materialistischen Denkmodell stellen. Auf sie wird im nächsten Kapitel kritisch eingegangen.
316
GS6, S. 148.
179
§ 14. Fazit
Obwohl die kantische Vernunftkritik den kategorialen Rahmen der klassischen Ontologie strukturell unterminiert und sie durch eine transzendentalphilosophisch angelegte Analytik des Verstandes ersetzt, die die eigentliche Existenzberechtigung der Ontologie in Frage stellt, entstehen nach
Kant verschiedene neue Ontologien, die dem Kritizismus gewachsen zu
sein beanspruchen. Wie die negative Dialektik gestalten sie sich auch als
eine Alternativantwort auf die Krise des Idealismus und sind deshalb im
Konzept negativer Dialektik kritisch inbegriffen (§ 11). Die negativdialektische Ontologiekritik folgt einem dreiteiligen Argumentationsmuster: einem bedürfnis-, einem vermittlungs- und einem sprachtheoretischen. Sie geht von einer der Ideologiekritik verwandten philosophischen
Symptomatologie aus, um dann zur immanenten Kritik der Seinskategorie
als unerlaubte begriffliche Hypostasierung zu gelangen. So können Ontologie und Dialektik als Sprachmodelle rekonstruiert werden, die zwei
grundverschiedenen Sinnregimes gehorchen (§ 12). Erst diese umfassende
Denkoperation installiert die Denkfigur des Antisystems, um die sich die
negative Dialektik bemüht und die der Formstruktur des für sie konsistenten Materialismus entspricht (§ 13).
180
Viertes Kapitel:
Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus
Nachdem die Grundbestimmungen des negativ-dialektischen Materialismus ausgearbeitet worden sind, wird abschließend der Versuch unternommen, seine Grenzen darzulegen. Ich werde zunächst seine Grundlinien möglichst sachlich und einheitlich rekapitulieren und so ihn als eine
Variante des Fehlkorrelationismus begreifen, der sich als ein selbstbewusst
spannungsvolles Denkgebilde deuten lässt (§ 15). Aus dieser Bestimmung des negativ-dialektischen Materialismus als Fehlkorrelationismus
lassen sich seine internen Grenzen ableiten, die ich abermals anhand des
Begriffs des Objekts und der Materie (§ 16), der Naturgeschichte (§ 17)
und der Idee seiner eigenen Selbstüberwindung (§ 18) entfalte.
183
§ 15. Negative Dialektik als Fehlkorrelationismus
Seinem eigenen Anspruch nach steht die Konstruktion des Vorrangs des
Objekts auf dem Höhepunkt einer langen philosophischen Entwicklung,
die nach der korrekten Artikulation von Subjekt und Objekt sucht. Die
Identitätsproblematik war die Neuzeit hindurch die ausgezeichnete Herangehensweise, anhand der sich diese Artikulation denken ließ. Erst sie
hat es – ihrem Anspruch nach – konsequent erlaubt, Einssein und Trennung, Identität und Differenz von Subjekt und Objekt, Geist und Welt
zur Sprache zu bringen. So ist der philosophische Idealismus bei Schelling
und Hegel aufgrund seiner eigenen Konsequenz zum gegenseitigen Vermitteltsein von Subjekt und Objekt gelangt, wie dies die absolute Identitätsformel zeigt: Subjekt und Objekt sind erst mit Rekurs auf ihre Vermittlung durch das jeweils andere explizierbar – eine Vermittlung, die
zugleich eine umgreifendere Identität beider erstellt. So hat der philosophische Idealismus eine Grundlogik entwickeln können, die diese Artikulation begreifbar gemacht hat – jedoch nicht ohne immanente Schwierigkeiten.
Als „Organon Kritischer Theorie überhaupt“317 rekonstruiert die negative Dialektik diese philosophische Entwicklung und greift zugleich in
sie kritisch ein: Der philosophische Idealismus habe, so die negative Dialektik, die durchgängige Vermittlung von Subjekt und Objekt aufgrund
der absoluten Identität nur deshalb begründen können, weil er eine nicht
aufzuhebende Ungleichheit innerhalb der Vermittlung selbst vernachlässigt habe. Die philosophische Einholung dieser Ungleichheit ist die Konstruktion des Vorrangs des Objekts. Er besagt in erster Linie, dass sich das
Objekt aufgrund seiner eigenen Beschaffenheit mindestens in einer Hinsicht gegenüber dem Subjekt als autonom erhalten müsse. Soll Erkenntnis
tatsächlich ein Verhältnis zwischen zwei Verschiedenen bedeuten, wie es
in ihrem Begriff enthalten zu sein scheint; soll sich Denken im Erkenntnisprozess auf ein Etwas beziehen, das nicht selbst denkerischer Natur ist,
dann muss das Objekt als unauflöslich konzipiert werden und gegenüber
der Subjektivität unabhängig sein. Die so immanent gewonnene Unauflöslichkeit des Objekts stellt nun die wesentliche Grundlage dar, auf der
der negativ-dialektische Materialismus aufgebaut wird. So gesehen führt
die Artikulationsproblematik von Subjekt und Objekt – das ist der Anspruch der negativen Dialektik – immanent zum Vorrang des Objekts und
folglich zum kritischen Materialismus, der – anders als vom Idealismus
behauptet – die wahre Kulmination des neuzeitlichen Denkens darstellt.
Weil er aus der immanenten Kritik an dem absolut-idealistischen
Vermittlungsmodell und so auch an der eigentlichen Konzeption einer
317
Schnädelbach (1983), S. 81.
185
konstituierenden Subjektivität gewonnen wird, ist der Vorrang des Objekts nur reflexionslogisch angelegt und folglich in einer Hegel’schen
Tradition inbegriffen, die die Subjekt-Objekt-Vermittlung als eine autarke
Struktur auffasst. So mobilisiert die negative Dialektik eine umgreifende
Ontologiekritik, die die Setzung eines transreflexiven Seins aus der Selbstreflexion des Subjekts und die damit korrelierte Reontologisierung der
Objektdimension verhindert. Erst mit dieser umfassenden Prozedur wird
die Denkfigur des Antisystemischen konstruiert, die der Formstruktur
des negativ-dialektischen Materialismus entspricht.
Diese gesamte Konstruktion stellt in diesem Sinne den bemerkenswerten Versuch dar, lediglich mit Mitteln des Idealismus den kritischen
Materialismus zu begründen und diesen folglich mit den Grundlagen der
Vernunftkritik kompatibel zu machen. Sie ist in diesem Sinne eine kritische Antwort auf die Einwände von Dogmatismus und Autoritarismus,
die traditionsgemäß gegen die Materialismen klassischer und moderner
Provenienz mobilisiert wurden. Dieser Versuch ist aber insofern zutiefst
spannungsvoll, als die negative Dialektik eben nur mit dem bereitgestellten Instrumentarium der Selbstreflexion des Subjekts auf das Jenseits der
Selbstreflexion hinweisen will. Anders gesagt: Mit der Konstruktion des
Vorrangs des Objekts verfügt die negative Dialektik zwar über eine erkenntniskritische These, die die logische Unabhängigkeit des Objekts gegenüber der Subjektivität zur Sprache bringt. Es handelt sich wohl um
eine erkenntnistheoretische Übersetzung der ontologisch fundierten These
des klassischen Materialismus über das Primat der Materie vor dem Bewusstsein, die ihrerseits samt allen anderen materialistischen Grundkategorien selbst ontologisch entleert wird. Sie hat so eine doppelte Funktion:
den dogmatischen Charakter des klassischen Materialismus kritisch aufzulösen und zugleich seinen philosophischen Gehalt beizubehalten. Hier
ist eine Operation von Kritik und Rettung in einem im Gang.
Quentin Meillassoux hat diejenige Denktradition, die diese philosophische Operation im Allgemeinen vollzieht, sickened oder misfired correlationisms genannt. Es handelt sich um jene Tradition nachkantischen Philosophierens, die einen radikalen Anti-Idealismus entwickeln will, dem zufolge letztendlich keine reibungslose Koinzidenz zwischen Sein und Denken bestehen könnte, jedoch ohne die Grundlage der Vernunftkritik als
Transzendentalismus zu revidieren oder in manchen Fällen gar zu berühren.
Irrationalismus, Existenzialismus, Lebensphilosophie, Unbewusstheitsphilosophien und andere nachkantische vergleichbare Denkschulen dürften im Großen und Ganzen dieser Tradition angehören. So begreift sie
Meillassoux:
[I]t refuses both the return to a naive pre-critical stage of thought
and any investigation of what prevents the ‘circle of the subject’
186
from harmoniously closing in on itself. Whether it be the Freudian
unconscious, Marxist ideology, Derridean dissemination, the undecidability of the event, the Lacanian Real considered as the impossible, etc., these are all supposed to detect the trace of an impossible coincidence of the subject within itself, and thus of an extracorrelationational residue in which one could localize a ‘materialist
moment’ of thought. But in fact, such misfires are only further correlations among others: it is always for a subject that there is an
undecidable event or a failure of signification. Unless we fall back
on naive realism, we cannot treat these misfires as ‘effects’ of a
cause that could definitely be established as external to the subject
or even to consciousness. In any case, a correlationist would have
no difficulty in retorting that this genre of materialism is either a
disingenuous idealism or a dogmatic realism of the ‘old style’.318
Diese Fehlkorrelationismen scheinen nun stets dieselbe Operation zu
vollziehen, die zugleich ihr Wesen ausmacht: Indem sie die SubjektObjekt-Korrelation aus ihrer Achse lösen wollen, ohne sie aber durch den
Rekurs auf Transzendentes abzubrechen, deuten sie notwendig auf eine
nicht korrelationistische, nicht subjektbezogene Sinninstanz hin, die aber
innerhalb ihres kategorialen Rahmens nicht begründbar ist. Diese Sinninstanz muss dann eine zweideutige Position gegenüber der SubjektObjekt-Korrelation einnehmen: Sie muss teilweise immanent und folglich
dem Subjekt zugänglich sein und gleichzeitig auf eine Externalität hinweisen können, die nicht auf Subjektivität reduzierbar ist. Das ist wohl auch
der Fall des Vorrangs des Objekts, Inbegriff des negativ-dialektischen
Materialismus, denn auch er impliziert die Einholung einer unauflöslichen
Dimension des Objekts, die der Reflexion Widerstand leistet und deshalb
eine interne Ungleichheit in der Subjekt-Objekt-Vermittlung zugunsten
der Objektivität impliziert, die sich in der Vermittlung selbst offenbart. So
gesehen lässt sich der negativ-dialektische Materialismus als eine Variante
von Fehlkorrelationismus begreifen.
Die sich als Fehlkorrelationismen gestaltenden kritischen Materialismen sind in diesem Sinne durchaus spannungsreiche Konstruktionen,
müssen sie doch jene Grenzmomente der Subjekt-Objekt-Korrelation
erkenntniskritisch anspannen, um sie aus ihrer Achse zu lösen und somit
ihre materialistische Grundintention zu aktualisieren; damit aber wächst
zugleich das Risiko, dass sie in schwerwiegende Inkonsistenzen geraten.
Dieselbe Operation folglich, aus der sie ihren Wahrheitsgehalt als materialistisches Denkmodell extrahieren, kann auch ihre Konsistenz gefährden;
je mehr sie die Subjekt-Objekt-Korrelation destabilisieren und folglich
selbst spannungsvoller werden – denn die Korrelation bildet eben ihren
eigenen Boden –, desto näher kommen sie ihrem Wahrheitsgehalt. Dieser
318
Gespräch mit Meillassoux, in: Harman (2011), S. 166.
187
ist seinerseits von dieser Destabilisierung untrennbar, sofern sie die subjektive Selbstreflexion – und die damit korrelierte gesamte Subjektphilosophie – von ihrem Inneren ausgehend zu ihrer Selbstüberwindung
drängt319.
Diese Operation lässt sich nun auch als eine Kompromisslösung für das
Problem des Materialismus ansehen, das ich im ersten Kapitel thematisiert
habe. Zusammenfassend habe ich dieses Problem anhand eines Selbstwiderspruchs zur Sprache gebracht, der stets entsteht, wenn Materie – das,
was nicht subjektiver Natur ist – zum Status eines allumfassenden Denkprinzips erhoben wird. Adorno nennt dies den Grundwiderspruch, der
„den Aufbau eines sogenannten konsequenten Materialismus immer verhindert“320. Insofern alle klassischen Materialismen diesen Vollzug leisten,
verfallen sie laut Adorno in denselben Grundwiderspruch. Die Möglichkeit, diesem Grundwiderspruch zu entgehen, ohne dabei den eigentlichen
Gehalt des Materialismus zu verlieren, wirft das Problem eines kritischen
Materialismus auf. Die sich als Fehlkorrelationismus gestaltenden kritischen Materialismen stellen insofern eine Kompromisslösung dieses Problems dar, als sie die Grundthese des Materialismus über das wahrhaft
Wirkliche als Materie mithilfe der Destabilisierung der Korrelation erkenntniskritisch transformieren und so den Grundwiderspruch zwar umgehen, jedoch auf Kosten von Spannungen, die aus ihrem kategorialen
Rahmen schwerlich auszumerzen sind.
Im Fall der negativen Dialektik fasst die Denkfigur eines Antisystems,
das auf der Antinomie aufbaut, dieses systemtheoretische Quidproquo
größtenteils zusammen: „Man kann das [den Grundwiderspruch – D. P.]
durch ein eleganteres Denken beseitigen; er verweist aber auf den antinomischen Charakter des Denkens als eine Anstrengung zur Erfassung der
Wirklichkeit überhaupt“321. Das eigentlich Materialistische wird dann zum
Antinomischen konvertiert und wiederum in die Subjekt-ObjektVermittlung selbst hineinprojiziert.
In den nächsten Abschnitten werde ich diese Spannungen konkret
für die negative Dialektik darlegen. Sie ergeben sich immanent aus dem
philosophischen Ort, den das Objekt in ihr einnimmt.
319
320
321
Adorno hat übrigens seine philosophische Lebensaufgabe so begriffen: „Seitdem der
Autor den eigenen geistigen Impulsen vertraute, empfand er es als seine Aufgabe,
mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen“;
GS6, S. 10.
PT, S. 241.
ND, S. 48.
188
§ 16. Objekt, Mimesis, Materie
Trifft die oben formulierte These über den spannungsvollen Charakter der
negativen Dialektik als Fehlkorrelationismus tatsächlich zu, muss sich
diese Spannung auf ihre materialistischen Grundkategorien zurückverfolgen lassen. Ausgehend vom Objektbegriff selbst werde ich versuchen,
diese innerkategoriale Spannung zur Sprache zu bringen. Wie bereits erwähnt, ist diese Spannung aber nicht als eine schlechthinnige Inkonsistenz
aufzufassen, sondern als index veri: Auch in den Einzelkategorien
herrscht jenes fragile Gleichgewicht von Korrelationsdestabilisierung und
materialistischem Grenzmoment, aus dem allein ihr Wahrheitsgehalt zur
Sprache gebracht wird.
Die Konstruktion des Vorrangs des Objekts ist der Versuch, die Subjekt-Objekt-Vermittlung kritisch-materialistisch zu artikulieren und so
die Vermittlung selbst sui generis aufzufassen. In ihr wird dem Objekt ein
unauflöslicher Charakter zugesprochen, ohne jedoch die Subjekt-ObjektKorrelation abzubrechen. Wir sahen, wie dies hauptsächlich mit der
Denkfigur des Antinomischen erfasst wird: Sofern Denken identifizierend operiert und das Objekt immer qualitativ reicher als jeglicher Einzelbegriff ist, meldet sich die Unauflöslichkeit des Objekts im Bereich des
bereits Konstituierten als ein nicht zu schlichtender Widerspruch – eine
Antinomie eben – an. So wird das Objekt zwar nicht zu etwas, das unmittelbar vorhanden wäre, wie Adorno wiederholt deutlich macht; doch sein
„Mehr“ gegenüber der Subjektivität wird indiziert.
Die ganze Herausforderung der negativen Dialektik als eines kritisch-materialistischen Denkmodells besteht nun darin, diese Operation
konsistent zu plausibilisieren, ohne aber ein transreflexives Sein setzen
oder die Objektseite reontologisieren zu müssen. Adorno will eine derartige Reontologisierung hauptsächlich aus kritischen Gründen vermeiden:
Sollte das Objekt in strengem Sinne als Konstituens konzipiert werden,
würde dies für ihn jene entfremdete, undurchschaubare Dinglichkeit –
nämlich: Verdinglichung – bloß naturalisieren, der gegenüber das Subjekt
letztlich ohnmächtig bleiben müsste. Es handelte sich mit anderen Worten
um die bloße Wiederherstellung der alten intentio recta, der gemäß das
Subjekt sich unkritisch nach den „naiv realistisch“ aufgefassten Objekten
richten soll. Dagegen will die negative Dialektik zwar die Stellung des
Subjekts als kritisches Agens, dem das Wirkliche prinzipiell transformierbar und deshalb grundsätzlich offen ist, retten und bekräftigen. Doch dies
darf wiederum nicht implizieren, dass das Wirkliche von diesem subjektiven Agens konstituiert wird. Aus dieser Konstellation ergibt sich die konstitutionstheoretische Schlussfolgerung, dass weder Subjekt noch Objekt
konstituierend oder konstitutiv sind: „[D]er kritische Gedanke möchte
nicht dem Objekt den verwaisten Königsthron des Subjekts verschaffen,
189
auf dem das Objekt nichts wäre als ein Götze, sondern die Hierarchie
beseitigen“322. Radikaler noch folgt, dass weder Subjekt noch Objekt eigentlich als solche sind: „Subjekt ist in Wahrheit nie ganz Subjekt, Objekt
nie ganz Objekt, dennoch beide nicht aus einem Dritten herausgestückt,
das sie transzendierte“323. „Sie konstituieren ebenso sich durch einander,
wie sie vermöge solcher Konstitution auseinandertreten“324
Adorno ist der scheinbar widersprüchliche, sicherlich spannungsvolle
Charakter dieses Sachverhalts natürlich nicht entgangen. In unterschiedlichen Passagen und Zusammenhängen der negativen Dialektik hat er auf
ihn hingewiesen: „Derlei Überlegungen zeitigen den Anschein von Paradoxie. Subjektivität, Denken selber, sei nicht aus sich zu erklären sondern
aus Faktischem, zumal der Gesellschaft; aber die Objektivität der Erkenntnis wieder sei nicht ohne Denken, Subjektivität“ 325 . „Heidegger
entging nicht, daß es sowohl Prinzip der Vermittlung wie unvermittelt ist,
als Konstituens das Konstitutum Faktizität voraussetzt. Der Sachverhalt
ist dialektisch: ihn übersetzt Heidegger auf Biegen der Brechen in die
Logik der Widersprüchlichkeit“326. Doch anstatt die Paradoxie schlichten
zu wollen, besteht Adorno auf ihr: Sie erscheint als solche nur dem, der
der „Cartesischen Norm, Erklärung müsse das Spätere, wenigstens logisch
Spätere aus dem Früheren begründen“327, folgt. Dagegen gehe es darum,
der „Hypostasis des Verhältnisses von Grund und Folge, des subjektiven
Prinzips, dem die Erfahrung nicht sich fügt“, zu entgehen und so dialektisch, also „mit dem ältesten Medium der Aufklärung, der List, den Knoten der Paradoxie zu entwirren“ 328 . Für Adorno scheint die Paradoxie
Indiz des Wahren zu sein, sofern man an der Erfahrung des Sachverhalts
radikal festhält.
Offensichtlich oszilliert Adorno hier zwischen zwei unterschiedlichen Argumentationsebenen, die von ihm jedoch als kategorial untrennbar behandelt werden und so die Paradoxie kreieren. Zum einen hält Adorno an einer vermittlungstheoretischen Argumentationsebene fest, der
zufolge Objektivität erst in Korrelation mit einem Subjekt aktuell gedacht
werden kann: „Von Objektivität kann Subjekt potentiell, wenngleich nicht
aktuell weggedacht werden“329. Zum anderen erfordert aber der Vorrang
des Objekts bereits rein logisch, dass das Objekt als unauflöslich und so
als grundsätzlich subjektunabhängig konzipiert wird – und zwar in einem
322
323
324
325
326
327
328
329
GS6, S. 182.
GS6, S. 177.
GS6, S. 176.
GS6, S. 144.
GS6, S. 114, Fußnote.
GS6, S. 144.
GS6, S. 144f.
GS10.2, S. 747.
190
nicht nur rein negativ bestimmbaren Sinne: „Vom Vorrang des Objekts ist
legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im
weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische
Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung“330. Zu Ende gedacht schließen sich beide Argumentationsebenen aus: Muss das Objekt
tatsächlich als unauflöslich und subjektunabhängig in einer nicht rein
negativ bestimmbaren Weise konzipiert werden, setzt dies bereits voraus,
dass das Subjekt von der Objektivität aktuell weggedacht wird. Beide
Argumentationsebenen sind nun in der Konstruktion des Vorrangs des
Objekts spannungsvoll inbegriffen. Fügt man, wie Adorno im Grunde
intendiert, die Bestimmung hinzu, dass das subjektunabhängige Objekt
nicht subjektiver Natur ist, folglich zumindest auch als materiell zu fassen
ist, dann muss aus dieser Prämisse ein umfassender materialistischer Denkentwurf entwickelt werden können, in dem aber das Objekt prinzipiell als
streng nicht korrelationistisch gedacht wird und somit konstituierend ist.
Dies kann die negative Dialektik jedoch nicht zulassen. Die Paradoxie
entsteht so aus dem spannungsvollen Rahmen selbst, in dem negative
Dialektik operiert.
Alfred Schmidt hat auf seine Art und Weise diesen Sachverhalt registriert, ohne ihn aber in der Konstruktion der negativen Dialektik selbst
explizieren zu können. Schmidt ist bekanntlich für die wohl wirkungsmächtigste nichtontologische Interpretation von allem Materialismus kritischer Provenienz verantwortlich. Er schreibt:
Freilich hat Adorno, allem abhold, was auch nur entfernt nach ‚Ontologie‘ aussieht, darauf verzichtet, seine Lehre vom ‚Vorrang des
Objekts‘ so abzustützen, wie dies durchaus möglich ist. Ihm
entgeht, daß jener Vorrang des Objekts vor dem Subjekt innerhalb
der Vermittlung, auf kognitiver Ebene also, nur dann verbindlich
geltend zu machen ist, wenn herausgearbeitet wird, daß ihm, auf
ontologischer Ebene also, ein Vorrang der Materie vor dem Bewußtsein entspricht331.
Noch evidenter wird die aus dieser kategorialen Spannung entstehende
Paradoxie mit dem systematischen Ort des durchaus zentralen Begriffs
der Materie in jedem Materialismus, folglich auch in der negativen Dialektik. Adorno schreibt: „Von außen betrachtet wird, was in der Reflexion
auf Geist spezifisch als nicht Geistiges, als Objekt sich darstellt, Materie.
Die Kategorie Nichtidentität gehorcht noch dem Maß von Identität.
Emanzipiert von solchem Maß, zeigen die nichtidentischen Momente sich
als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem“332. Materie
wird dann nur reflexionstheoretisch durch die „terminologische Mas330
331
332
GS10.2, S. 748.
Schmidt (1977), S. 59f., Fußnote.
GS6, S. 193.
191
ke“ des Objekts, also eben durch die Reflexionsbestimmung der Nichtidentität erreicht, die ja noch dem ebenfalls reflexionstheoretisch angelegten Identitätsbegriff gehorcht. Sollte nun die Nichtidentität von dem Maß
der Identität emanzipiert sein, würden „die nichtidentischen Momente
sich als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem [zeigen]“,
was dann nur „von außen“ zugänglich wäre. Doch diese „externe“ Betrachtung ist der negativen Dialektik wiederum nicht möglich; jenseits der
Identitätsproblematik befände man sich auch jenseits des Bereichs der
Selbstreflexion und folglich der negativen Dialektik selbst.
Deshalb muss sich negative Dialektik dieser „nichtidentischen Momente“ lediglich erkenntniskritisch versichern: durch die Bekräftigung der
Empfindung und somit der nicht zu tilgenden somatischen Dimension
der Erkenntnis; durch den „hinzutretenden“ körperlichen Impuls im moralischen Räsonieren, das „Rudiment einer Phase [ist], in der der Dualismus des Extra- und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war“333;
durch die Umwendung zur leibhaften und deshalb immer vermittelten
materiellen Erfahrung; in einem Wort: durch die möglichste Rehabilitierung des Mimetischen innerhalb des Erkenntnisprozesses. Es hat sich gezeigt, dass Adorno in der Mimesis jene vorepistemischen Verhaltensweisen zusammengefasst sieht, die im Ursprung der epistemischen sind334. Im
Laufe der Aufklärung findet die Mimesis Zuflucht hauptsächlich in der
Kunst, doch sie ist nicht gänzlich im Bereich der Erkenntnis auszumerzen,
indiziert sie doch einen Ort, in dem Subjekt und Objekt zu einem Indifferenzpunkt tendieren, der aber nicht auf Identität, sondern auf möglicher
Affinität basiert. Mimesis ist für Adorno so die Voraussetzung aller Erkenntnis:
Der griechische Streit, ob Ähnliches oder Unähnliches das Ähnliche erkenne, wäre allein dialektisch zu schlichten. Gelangt in der
These, nur Ähnliches sei dazu fähig, das untilgbare Moment von
Mimesis in aller Erkenntnis und aller menschlichen Praxis zum
Bewußtsein, so wird solches Bewußtsein zur Unwahrheit, wenn die
Affinität, in ihrer Untilgbarkeit zugleich unendlich weit weg, positiv sich selbst setzt. In Erkenntnistheorie resultiert daraus unausweichlich die falsche Konsequenz, Objekt sei Subjekt. Traditionelle
Philosophie wähnt, das Unähnliche zu erkennen, indem sie es sich
ähnlich macht, während sie damit eigentlich nur sich selbst erkennt.
Idee einer veränderten wäre es, des Ähnlichen innezuwerden, indem sie es als das ihr Unähnliche bestimmt.335
Indem die negative Dialektik das nicht zu tilgende Mimetische innerhalb
des Erkenntnisprozesses zum Bewusstsein zu bringen und so zu rehabili333
334
335
ND, S. 227–228.
§ 8 A.
GS6, S. 153.
192
tieren sucht, will sie auf eine mögliche mimetisch angeeignete Materie hinweisen, die zwar nicht gänzlich subjekteigen, doch auch nicht vollends
subjektabhängig ist336. Es handelt sich gewissermaßen um ein Anderes des
Subjekts im Subjekt – wahrscheinlich das Maximum an Materiellem, das
negative Dialektik als Fehlkorrelationismus zulässt.
Doch bereits ein vermittelter Materiebegriff setzt wiederum einen
nicht korrelationistischen Materiebegriff notwendig voraus, der ja als
Grundlage von jenem gelten kann. Denn damit Materie reflexionstheoretisch durch die „terminologische Maske“ des Objekts überhaupt auftreten
kann; damit sich die vom Maß der Identität eventuell emanzipierten
„nichtidentischen Momente“ als materiell oder „fusioniert mit Materiellem“ zeigen können; damit Materie überhaupt mimetisch angeeignet werden kann, muss als minimale Voraussetzung der systematische Ort der
Materie als ontologisch unabhängig vorhanden sein. Es handelt sich dabei
nicht um jene Materie, die von einer Subjektivität bereits präformiert und
deshalb korrelationistisch ist, sondern um eine völlig präsubjektive, leblose,
eben nicht korrelationistische und somit tote Materie, wie sie vom Materialismus stets mitgedacht wurde337. Nur eine derartige Materie könnte als
das Etwas fungieren, das sich mimetisch aneignen ließe. Diese nicht korrelationistische Materie ist aber in der negativen Dialektik abwesend, auch
wenn ihr systematischer Ort unabdingbar ist, um ihre gesamte Konstruktion zu fundieren.
Dass Adorno einmal diese „externe Betrachtung“ formuliert, von der
ausgehend allein es möglich ist, die nichtidentischen Momente „als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem“ einzusehen, scheint
darauf hinzuweisen, dass die negative Dialektik doch einen uneingestandenen spekulativen Ort einnimmt, der es ihr erst erlaubt, Aussagen über
ein radikal subjektunabhängiges Absolutes – Materie in strengem Sinne –
zu erstellen. Paradigmatisch lässt sich dieser spekulative Ort begreifen,
wenn sich Adorno auf die Leistungen der Naturwissenschaften in einem
positiven Sinne beruft – was bekanntlich eher ausnahmsweise erfolgt: „Für
den Vorrang des Objekts spricht wohl ein mit Kants Konstitutionslehre
Unvereinbares: daß die ratio in den modernen Naturwissenschaften über
die Mauer blickt, die sie selbst errichtet; ein Zipfelchen dessen erhascht,
was mit ihren eingeschliffenen Kategorien nicht übereinkommt. Solche
336
337
Interessanterweise hat Adorno eben dieses Oszillieren an Kierkegaards Denken
kritisiert: „Weder ist er Identitätsphilosoph noch erkennt er positives, bewusstseintranszendentes Sein an. Weder ist ihm die Dingwelt subjekt-eigen noch subjektunabhängig. Vielmehr: sie fällt fort“; GS2, S. 45. Es wäre zu fragen, inwiefern man
auch an der negativen Dialektik eine solche Kritik üben sollte.
Das ist die Definition der Materie, die Meillassoux – im Anschluss an eine lange
epikureische Tradition – verwendet. Vgl. § 4 oben.
193
Erweiterung der ratio erschüttert den Subjektivismus“338. So hätten die
modernen Naturwissenschaften „seit Einstein (…) mit theoretischer
Stringenz das Gefängnis der Anschauung sowohl wie der subjektiven
Apriorität von Raum, Zeit und Kausalität gesprengt. Die – dem
Newtonschen Prinzip der Beobachtung nach – subjektive Erfahrung
spricht, mit der Möglichkeit solchen Ausbruchs, für den Vorrang des
Objekts und gegen ihre eigene Allmacht. Sie wendet, ungewollt dialektischen Geistes, die subjektive Beobachtung wider die Lehre von den subjektiven Konstituentien“339.
Hier fasst Adorno mit aller Deutlichkeit den radikal nicht korrelationistischen Charakter der Erkenntnisse an, die die modernen Naturwissenschaften in der Lage zu produzieren sind. So erkennt er ausdrücklich an,
dass die moderne ratio über die Mittel verfügt, über „die Mauer [zu blicken], die sie selbst errichtet“, und so hoch vertrauenswürdige Aussagen
zu machen, die gegen „die Lehre der subjektiven Konstituentien“ antreten.
Er erkennt also explizit die spekulative Fähigkeit des Denkens an, mit
seinen eigenen Mittel ein subjektunabhängiges Absolutes zu erreichen.
Doch es ist nicht diese Dimension, die am Ende für den Vorrang des Objekts maßgeblich bleibt. Am deutlichsten kann man diesen Sachverhalt
anhand der Problematik der Naturgeschichte nachvollziehen.
338
339
GS10.2, S. 748.
GS6, S. 188f.
194
§ 17. Natur, Geschichte, Naturgeschichte
Neben der Idee einer „Logik des Zerfalls“ gehört die „Idee der Naturgeschichte“ zu den ältesten philosophischen Motiven Adornos. Zwar geht
sie von einer in der philosophischen Tradition fest eingebetteten Idee
zweiter Natur aus, doch sie erhält in der Tradition der modernen Dialektik,
vor allem bei Adorno und Benjamin ab den zwanziger Jahren, eine durchaus neue Fassung. Adorno hat sich in einem wichtigen, allerdings zu Lebzeiten unveröffentlichten Jugendtext von 1932 mit dem Titel Die Idee der
Naturgeschichte ausführlich mit ihr befasst. Das Motiv der Naturgeschichte
geht aber über seine Jugendphase weit hinaus und reicht bis hin zur Negativen Dialektik, in deren eigentlichem Konzept es inbegriffen ist. Ich werde zunächst mit Philip Hogh340 eine kurze Rekonstruktion der Idee der
zweiten Natur bei Aristoteles und Hegel vorschlagen, um dann zu der
Problematik der Naturgeschichte in der negativen Dialektik überzugehen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gleich zu Beginn auf eine
von Adorno selbst verwendete Vordefinition des Begriffs Naturgeschichte
verwiesen. Bei diesem Begriff handelt es sich nicht etwa um „die Geschichte der Natur, so wie die Natur Gegenstand der Naturwissenschaften ist“, sondern vielmehr um den Versuch, „die übliche Antithesis von
Natur und Geschichte aufzuheben; daß also überall da, wo ich mit den
Begriffen Natur und Geschichte operiere, nun nicht letztgültige Wesensbestimmungen gemeint sind, sondern daß ich die Intention verfolge, diese
beiden Begriffe zu einem Punkt zu treiben, an dem sie in ihrem puren
Auseinanderfallen aufgehoben sind“341. Der Begriff ist zugleich dem einer
negativen Dialektik nicht äußerlich, sondern kann als eine immanente
Auslegung derselben gedeutet werden: „Über das Verhältnis dieser Dinge
zum historischen Materialismus wollte ich noch sprechen, kann aber hier
nur soviel sagen: es ist nicht das der Ergänzung einer Theorie durch eine
andere, sondern das der immanenten Auslegung einer Theorie. Ich stelle
mich sozusagen als der richterlichen Instanz der materialistischen Dialektik. Es wäre zu zeigen, daß das Vorgetragene nur eine Auslegung von gewissen Grundelementen der materialistischen Dialektik ist“342. Es gilt zu
zeigen, wie der antisystematische Vorrang des Objekts immanent in die
Idee der Naturgeschichte mündet – und deshalb auch seine gesamte Problemkonstellation mit sich bringt.
In seinen Ausführungen über die Idee der Naturgeschichte knüpft
Adorno explizit an Lukács’ Begriff der zweiten Natur an, den dieser in
seinem Jugendwerk Theorie des Romans entwickelt hat. Lukács war
340
341
342
Hogh (2011).
GS1, S. 345.
GS1, S. 365.
195
Adorno zufolge der Erste, der den Begriff philosophisch wieder aufgegriffen hat343. „Wieder aufgegriffen“ insofern, als der Begriff der zweiten Natur eine lange philosophische Vorgeschichte hat. Er führt nämlich auf
Aristoteles zurück, der in der Nikomachischen Ethik die Gewohnheit ausdrücklich als zweite Natur definiert. Aristoteles schreibt: „Die Gewohnheit ist nämlich leichter zu ändern als die Natur. Denn nur darum wird
auch die Gewohnheit so schwer geändert, weil sie der Natur gleicht, wie
Euenus spricht: ‚Lange, glaube mir, Freund, muß dauern die Übung; sie
wird dann sich als die zweite Natur der Menschen am Ende erweisen‘“344.
Aristoteles’ Verwendung des Gewohnheitsbegriffs ist hier bekanntlich in
seiner Tugendlehre inbegriffen: Zu tugendhaften Charakteren werden wir
Menschen erst durch die kontinuierliche Ausübung und Internalisierung
tugendhafter Praktikern, die dann im Handeln wiederum externalisiert
werden. Zu diesem Erlernen sind wir von unserer Naturanlage her befähigt:
Darum werden uns die Tugenden weder von Natur gegen die Natur
zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung. Ferner bringen wir zu dem, was wir von Natur besitzen, zuerst das Vermögen mit, und dann erst äußern wir die entsprechenden Tätigkeiten, wie man an den Sinnen sehen kann. (…) Die Tugenden dagegen erlangen wir nach vorausgegangener Tätigkeit, wie
dies auch bei den Künsten der Fall ist. Denn was wir tun müssen,
nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun345.
Aristoteles unterscheidet hier zwischen einer ersten Natur, die unserer
ursprünglichen Naturanlage entspricht, und einer zweiten Natur, die sich
als Produkt von Gewöhnung sedimentiert. Diese zweite Natur ist nur
aufgrund unserer Naturanlage – der ersten Natur – möglich, die uns wiederum das Erlernen von tugendhaften Praktikern gestattet. Doch da sie so
zum menschlichen Wesen wird, ist sie auch als Natur, wenngleich als
zweite, zu definieren.
Die aristotelische Theorie ist allem Anschein nach eine Grundlage
der Hegel’schen Behandlung der zweiten Natur, die ihrerseits für Lukács
und Adorno zentral ist. In der Philosophie des Geistes der Enzyklopädie
schreibt Hegel: „Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, –
eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine
Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen
als solchen und den Vorstellungs- und Willensbestimmungen als verleib-
343
344
345
GS6, S. 351.
Aristoteles (1995), 1152a, S. 172.
Aristoteles (1995), 1103a, S. 26f.
196
lichten zukommt“ 346 . In erkennbar aristotelischer Tradition deutet also
auch Hegel die Gewohnheit als eine gewordene, in diesem Sinne zweite
Natur, die als solche erst durch kontinuierliches und prozesshaftes Erlernen – „Ein- und Durchbildung“ – sedimentiert wird. Wie die erste Natur
wird die so verstandene Gewohnheit dann zu einem unmittelbaren Sein
der Seele bzw. einer Unmittelbarkeit, die als solche leiblich gebunden und
so unhintergehbar ist. Doch anders als die erste Natur ist diese zweite
gesetzt, was aber ihren unhintergehbaren Charakter nicht aufhebt. Sowohl
bei Aristoteles als auch bei Hegel setzt dieser Gewöhnungsprozess die
Fähigkeit zum Erlernen voraus, das im Grunde in der subjektiven Aneignung von bereits vorgefundenen Praktikern und Mustern besteht. Besonders Aristoteles hebt immer wieder die Funktion hervor, die die Beobachtung des Musterhaften für das Erlernen der Tugenden hat347. Hogh schlägt
nun vor, diese Bestimmungen der zweiten Natur bei Aristoteles und Hegel als subjektive zweite Natur zusammenzufassen, die eine objektive zweite
Natur in Gestalt eines Systems der Sittlichkeit miteinbezieht:
Gemeint ist damit, wie sich die erste Natur eines menschlichen
Subjekts durch die Gewöhnung an bestimmte Praktiken und durch
ihre gewohnte Ausübung zu einer dann nicht mehr hintergehbaren
zweiten Natur umformt. Des Weiteren wird in der oben zitierten
Hegelschen Bestimmung der zweiten Natur sichtbar, dass die subjektive zweite Natur sich nur herausbilden kann, dass die erste Natur also nur zu einer zweiten transformiert werden kann, wenn das
werdende Subjekt sich bestimmte schon bestehende Praktiken unter Anleitung durch andere Subjekte selbst aneignet, sie – wie Hegel sagt – sich einbildet. Das heißt, dass die Transformation der ersten zur zweiten Natur nur in einem sozialen Raum stattfinden
kann, der bereits nach bestimmten Regeln und Normen strukturiert ist und es von seinen Mitgliedern verlangt, ihr Handeln gemäß
diesen Regeln und Normen auszurichten. Diese Regeln und Normen existieren (…) in der gesellschaftlichen Praxis und ihren Institutionen, in dem also, was Hegel das System der Sittlichkeit
nennt.348
Das System der Sittlichkeit fasst den Rahmen zusammen, der die menschlichen Praktiken normativ strukturiert und in dem sich die sittlichen Subjekte als solche wiederfinden. Es entstammt laut Hegel dem freien Willen
der Subjekte und fungiert so als „Objektivierung des Geistes“349. Doch
auch wenn es geistigen Wesens ist und deshalb den Subjekten gegenüber
prinzipiell durchsichtig sein soll, hatte ihm Hegel selbst bekanntlich naturhaften Charakter zugewiesen, indem es den Subjekten zunächst als
346
347
348
349
WW10, S. 184.
Aristoteles (1995), 1103a–b.
Hogh (2011), S. 4.
Ebd.
197
Absolutheit gegenübersteht. Es hat „eine absolute, unendliche festere
Autorität und Macht als das Sein der Natur“350, was dann die Rede von
einer objektiven zweiten Natur begründet.
Zusammengefasst ist das der philosophische Rahmen, aus dem sich
die Idee der Naturgeschichte erschließen lässt. Zunächst geht sie von der
kritischen Wendung des kategorialen Rahmens der so konzipierten (objektiven) zweiten Natur aus, wie sie ihrerseits bereits bei Marx angelegt und
bei Lukács zuerst voll ausgeführt wird. Kritisch gewendet wird dieser
kategoriale Rahmen erst dann, wenn die zweite Natur – Lukács nennt sie
die Welt der Konvention – nicht mehr als das den Menschen gegenüber
normativ durchsichtige System der Sittlichkeit, sondern als der zu erschließende und so zu überwindende Bereich der Verdinglichung gedeutet
wird. Lukács ist – so Adorno – dieser Problematik in der folgenden Textstelle am nächsten gekommen:
Die zweite Natur der Menschengebilde hat keine lyrische Substantialität: ihre Formen sind zu starr, um sich dem symbolschaffenden
Augenblick anzuschmiegen; der inhaltliche Niederschlag ihrer Gesetze ist zu bestimmt, um die Elemente, die in der Lyrik zu essayistischen Veranlassungen werden müssen, je verlassen zu können;
diese Elemente aber leben so ausschließlich von der Gnade der Gesetzlichkeiten, haben so gar keine von ihnen unabhängige sinnliche
Valenz des Daseins, daß sie ohne sie in Nichts zerfallen müssen.
Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die
erste: sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht
mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten und wäre deshalb – wenn dies möglich
wäre – nur durch den metaphysischen Akt einer Wiedererweckung
des Seelischen, das sie in ihrem früheren oder sollenden Dasein erschuf oder erhielt, erweckbar, nie aber von einer anderen Innerlichkeit erlebbar.351
Die Idee der Naturgeschichte erwächst nun aus der dialektischen Radikalisierung dieser kritischen Wendung bei Lukács. Mit ihr zeigt sich das
Gewesene und in diesem Sinne Geschichtliche als Natur, während sich
Natur auch als Gewordenes offenbart, als Produkt des menschlichen Agens. Natur und Geschichte werden so anhand der Denkfigur der Vergänglichkeit tendenziell ununterscheidbar: „Der tiefste Punkt, in dem
Geschichte und Natur konvergieren, ist eben in jenem Moment der Vergänglichkeit gelegen. Wenn Lukács das Historische als Gewesenes in Natur sich zurückverwandeln läßt, so gibt sich hier die andere Seite des Phä-
350
351
WW7, S. 294f.
Lukács zitiert nach GS1, S. 356f.
198
nomens: Natur selber stellt als vergängliche Natur, als Geschichte sich
dar“352.
Als Behauptung einer unhintergehbaren Verschlingung von Natur
und Geschichte spielt die Idee der Naturgeschichte eine doppelte Rolle.
Indem sie Geschichte als Natur offenbart, will sie erstens darauf hinweisen, dass Geschichte heute noch naturwüchsig bleibt, sodass Geschichte
im emphatischen Sinne – als Bereich eines durchsichtigen menschlichen
Agens – noch nicht ist: „Menschliche Geschichte, die fortschreitender
Naturbeherrschung, setzt die bewußtlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort“ 353. Indem sie umgekehrt Natur als Geschichte offenbart,
will sie zweitens darauf bestehen, dass Natur, wie sie sich vor allem im
Spätkapitalismus zeigt, immer nur zweite Natur ist; reine, von menschlicher Vorbestimmung unabhängige Naturräume gibt es tendenziell nicht
mehr: „Je unerbittlicher Vergesellschaftung aller Momente menschlicher
und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit sich bemächtigt, desto unmöglicher, ans Gewordensein des Gespinsts sich zu erinnern“ 354 . „Was
wahrhaft thesei ein wenn schon nicht von Individuen so doch von ihrem
Funktionszusammenhang erst Hervorgebrachtes ist, reißt die Insignien
dessen an sich, was dem bürgerlichen Bewußtsein als Natur und natürlich
gilt. Nichts, was draußen wäre, erscheint mehr jenem Bewußtsein; in gewissem Sinn ist auch tatsächlich nichts mehr draußen, nichts unbetroffen
von der totalen Vermittlung“355.
So erhebt die Idee der Naturgeschichte den Anspruch, sowohl Geschichte in ihrer angeblichen menschlichen Durchsichtigkeit als auch
Natur in ihrer vermeintlichen radikalen Andersheit zur Menschheitsgeschichte kritisch aufzuheben, ohne jedoch beide in eine Art umfassender,
idealistisch angelegter „Geschichte des Geistes“ zu konvertieren. Geschichte in emphatischem Sinne hat für sie vielmehr noch nicht angefangen: „Was anders wäre, hat noch nicht begonnen“356. So will sie Natur und
Geschichte als zwei autonome Instanzen radikal entabsolutieren und zusammenführen, was das nun naturgeschichtliche Wirkliche als prinzipiell
transformierbar bestimmt. Es handelt sich somit um das stärkste aufklärerische und korrelationistische Motiv der Kritischen Theorie. Ihm zufolge
gibt es grundsätzlich nichts, was durch das menschliche Agens nicht
transformierbar wäre – dies betrifft selbst den Tod: „Aber der Tod ist in
keinem Verstande rein; auch nichts Apodiktisches (…). Wie manche niedere Organismen nicht im selben Sinne sterben wie die höheren, individuierten, so ist angesichts des Potentials der Verfügung über organische
352
353
354
355
356
GS1, S.
GS6, S.
GS6, S.
GS6, S.
GS6, S.
357f.
348f.
351.
351.
148.
199
Prozesse, das Umriß gewinnt, der Gedanke einer Abschaffung des Todes
nicht a fortiori abzutun“357. Der Tod taucht gewissermaßen als die letzte
vorgegebene und in diesem Sinne „mythische“ Tatsache auf, die der „Natur“ als einer selbstgenügsamen und autonomen Instanz anhaftet, die aber
prinzipiell überwindbar ist und die es aufklärerisch zu überwinden gilt. So
können Adorno und Horkheimer – noch radikaler – die Abschaffung des
Todes als „die innerste Zelle jeglichen antimythologischen Gedankens“ 358
definieren. Natur und Geschichte werden beide zu einer einzigen Instanz,
die zwar weder ganz menschenfremd noch ganz menscheneigen ist, die
aber sinnerweckt und so menschlich angeeignet werden kann: die Naturgeschichte. Schmid-Noerr hat hier von der Unnatürlichkeit der Natur in
Gestalt ihrer Sozialität und umgekehrt auch von der Natürlichkeit des Sozialen gesprochen359. Bei Marx noch ist die Naturgeschichte Vorgeschichte:
„Was einmal bei Marx, mit schwermütiger Hoffnung, Vorgeschichte heißt,
ist nicht weniger als der Inbegriff aller bisher bekannten Geschichte, das
Reich der Unfreiheit“360.
Man sieht hier ein, wie Adorno behaupten konnte, dass die Idee der Naturgeschichte nicht als ein Einzelelement unter anderen, sondern als eine
immanente Auslegung materialistischer Dialektik – oder: kritischer Theorie
– zu betrachten ist. Zwar taucht sie in der negativen Dialektik explizit erst
im zweiten Modell über Hegel auf, doch sie könnte auch als eine naturgeschichtliche Erschließung des Vorrangs des Objekts und folglich der materialistischen Grundoperation der negativen Dialektik betrachtet werden.
Wir sahen, wie der Vorrang des Objekts immanent in die konstitutionstheoretische Schlussfolgerung mündet, der zufolge „Subjekt in Wahrheit
357
358
359
360
GS6, S. 517, meine Hervorhebung.
GS3, S. 96, meine Hervorhebung. Der durchaus faszinierende Gedanke einer
Abschaffung des Todes ist der materialistischen Denktradition nicht neu. Laut
Schmid-Noerr (1990) findet er sich in den klassischen Materialismen von Lukrez
und La Mettrie, taucht auch bei Meillassoux in der radikaleren – und befremdlichen
– Gestalt einer Resurrektion der Toten im Zusammenhang mit der absoluten Kontingenz der Naturgesetze auf. Es scheint so einen sachlichen Bezug zwischen dem
Materialismus (verschiedener Provenienzen) und dem Gedanken einer Abschaffung des Todes zu geben: Wird auf die Denkfigur einer immateriellen Seele radikal
verzichtet, dann verliert der Tod des physischen Leibes seinen vermeintlich notwendigen Charakter. Er wird so bloß zu einer überwindbaren Kontingenz im Gesamtzusammenhang des immerwährenden Materiellen. In diesem Gedanken berührt der Materialismus die Weltreligionen, die die Abschaffung des Todes auf ihre
eigene Art und Weise verheißen. Abgesehen von dem Beitrag Schmid-Noerrs, der
diesen Bezug auch – wenngleich nur en passant – konstatiert, gibt es m. E. keine
Arbeiten, die sich ihm ausführlich widmen.
Schmid-Noerr (1992), S. 44ff.
GS8, S. 234.
200
nie ganz Subjekt [ist], Objekt nie ganz Objekt“361. Wie er Subjekt und
Objekt zu einem nicht rein begrifflichen, sondern mimetisch vermittelten
Indifferenzpunkt zusammenführt, so treibt auch die Idee der Naturgeschichte Natur und Geschichte zu einem solchen Punkt. Beide Gedanken
sind insofern miteinander wesentlich kommensurabel, und dieser gilt so
als Auslegung von jenem.
Doch als eine naturgeschichtliche Erschließung des Vorrangs des Objekts prolongiert die Idee der Naturgeschichte seine oben dargestellte
Problemkonstellation. Wie dort scheint Adorno auch hier zwei Argumentationsebenen kategorial zu vermengen, was zu immanenten Spannungen
in der Konstruktion der Naturgeschichte führt. Hier lässt sich diese Vermengung anhand einer Art non sequitur explizieren: Dass sich Natur nur
in ihrer Verschlingung mit der Menschheitsgeschichte und der menschlichen Gattung überhaupt zeigt; dass die „Vergesellschaftung aller Momente
menschlicher und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit sich bemächtigt“ habe, sodass es heute tatsächlich unmöglich sei, „ans Gewordensein
des Gespinsts sich zu erinnern“362; dass sich Natur so nur auch als Menschengemachtes überhaupt explizieren lässt; dass tatsächlich „nichts unbetroffen von der totalen Vermittlung“ sei – aus alledem folgt nicht, dass die
Natur außerhalb und vor allem vor dieser Verschlingung autonom nicht
bestanden habe. Dort scheint Adorno einer vermittlungstheoretischen
Argumentationsebene zu folgen, die nach der Art der Artikulation von
Natur und Geschichte fragt, während es hier um eine realontologische
Argumentationsebene geht.
Indes muss aber auch hier eine autonome, in diesem Sinne nicht korrelationistische Natur mindestens spekulativ vorausgesetzt sein, damit das
Verhältnis von Natur und Geschichte als das einer Verschlingung überhaupt gefasst werden kann. Denn dass die Verschlingung von zwei verschiedenen Instanzen beide voneinander ununterscheidbar gemacht hat,
impliziert nicht zwangsläufig, dass sie zunächst nicht autonom gewesen
sein können. Im Gegenteil setzt jede Verschlingung von Verschiedenem
die zumindest anfängliche Beständigkeit des Verschiedenen als solches
voraus. Sonst müsste man annehmen, dass eine Verschlingung von Gleichem stattfindet, was die Rede von der Naturgeschichte als der ununterscheidbar gewordenen Einheit von etwas angeblich Grundverschiedenem
widersinnig machte. Mehr noch: Allein die Behauptung, dass sich blinde
Natur in der aktuellen Geschichte perpetuiert, setzt den Zugang zu einer
von der Menschengattung unbetroffenen ersten Natur voraus, was ihre
Auffassung als ein Bereich des „Fressens und Gefressenwerdens“ erst
ermöglicht.
361
362
GS6, S. 177.
GS6, S. 364.
201
Diese kategoriale Spannung lässt sich am deutlichsten anhand der
Fragestellung über die sogenannte „Realdialektik“ nachvollziehen. Zwar
behauptet Adorno explizit, die Dialektik stamme aus der Reflexion zwischen Begriff und Gegenstand und dürfe deshalb nicht auf den Naturbereich übertragen werden. Doch die Konstruktion der Naturgeschichte
impliziert, dass Natur und Geschichte in einer einzigen Instanz tendenziell fusionieren und so „nichts unbetroffen von der totalen Vermittlung“ mehr ist. Streng genommen ist der negativ-dialektische Materialismus somit nicht historisch, sondern naturhistorisch: „So wenig Dialektik
auf Natur als universales Erklärungsprinzip auszudehnen ist, so wenig
doch sind zweierlei Wahrheiten nebeneinander aufzurichten, die dialektische innergesellschaftlich und eine gegen sie indifferente. Die an der Einteilung der Wissenschaften orientierte Trennung von gesellschaftlichem
und außergesellschaftlichem Sein täuscht darüber, daß in der heteronomen Geschichte blinde Naturwüchsigkeit sich perpetuiert“363.
Bedeutet dies nun aber, dass der Dialektik keine Naturgrenzen mehr
gesetzt sind? Die Diskussion um die Abschaffbarkeit des Todes scheint
diese Frage paradigmatisch zu bejahen: Sogar der Tod als letztes Naturfaktum soll prinzipiell menschlich angeeignet und überwunden werden können. Doch gäbe es tatsächlich keine Naturgrenzen für die materialistische
Dialektik, dann müsste man in extremis auch annehmen können, dass
nicht nur Natur und mit ihr der Tod, sondern sogar die Naturgesetze vom
Gattungswesen Mensch prinzipiell angeeignet und so gewissermaßen
„überwunden“ werden könnten. Das aber würde den Materialismus zu
einer Karikatur des subjektiven Idealismus machen. Nichts ist vom Geist
der negativen Dialektik weiter entfernt. Dieser Sachverhalt weist aber
darauf hin, dass der Materialismus insofern zumindest ein Absolutes – sei
es bloß die reine Kontingenz der Naturgesetze als ein unüberwindbares
Naturfaktum, das als solches radikal menschenunabhängig ist – spekulativ
postulieren muss, will er nicht tendenziell in einen Immaterialismus umschlagen364.
363
364
GS6, S. 145.
Man könnte die Idee der Naturgeschichte im Anschluss an ihre Problemkonstellation mit einer Hypothese illustrieren, die im 21. Jahrhundert immer heftiger diskutiert wird. Gemeint ist die Theorie des Anthropozäns, die von Paul Crutzen und
Eugene Stoermer entwickelt worden ist (Davies 2016). Dieser Hypothese zufolge
ist die Menschheit als Gattungswesen aufgrund seiner wachsenden technischen Naturbeherrschung zu einem geologischen Faktor geworden, der als solcher wesentlichen Einfluss auf die biologischen, geologischen, klimatischen und atmosphärischen Naturvorgänge der Erde gewinnt. So sei die Erde mit diesem Umstand in ein
neues Zeitalter eingetreten: das Anthropozän. Die genaue Datierung, wann dieses
neue Erdzeitalter begonnen habe, ist umstritten; mögliche Kandidaten sind die
Entstehung der Landwirtschaft, der Beginn der Industrialisierung (etwa um 1800)
oder der Anfang des sogenannten Atomzeitalters in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
202
§ 18. Selbstaufhebung des Materialismus?
Indem sie Natur und Geschichte als zwei autonome und grundverschiedene Instanzen aufzuheben beansprucht, fusioniert die Idee der Naturgeschichte beide in einer einzigen, die weder rein geschichtlich – als Bereich
eines durchsichtigen menschlichen Agens – noch rein naturhaft – als Bereich rein vorgegebenen Seins – ist: Naturgeschichte. Mit dieser Operation beabsichtigt sie grundsätzlich zweierlei: 1. tendenziell alle Natur als
zweite Natur und 2. aktuell menschliche Geschichte als naturwüchsig zu
entlarven. Das unmittelbare Ergebnis dieser Operation ist die Konvertierung aller bisherigen Geschichte in Vorgeschichte. Wahre Geschichte, die
Hervorbringung des qualitativ Anderen durch menschliches Agens im
Gegensatz zum „Fressen und Gefressenwerden“ der blinden Natur, wird
ins Noch-Nicht verschoben: „Was anders wäre, hat noch nicht begonnen“365.
Es liegt so in der eigentlichen Bestimmung wahrer Geschichte, dass
sie erst dann anfinge, wenn sie sich von ihrer immanenten Naturwüchsigkeit befreite. Trotz des oft wiederholten Bilderverbots der negativen Dialektik, dem zufolge der „versöhnte Zustand“ nicht bildlich zu porträtieren
sei, ist diese eine Bestimmung seinem Begriff unabdingbar und auch als
solche in der negativen Dialektik stets referiert: In einem versöhnten
Zustand wären die materiellen Bedürfnisse, die jenes naturhafte „Fressen
und Gefressenwerden“ auch innerhalb des gesellschaftlichen Bereiches
365
Abgesehen von der genauen Datierung will die Hypothese des Anthropozäns darauf hinweisen, dass mit dem wachsenden menschlichen Einfluss auf die Erde gravierende Folgen wie die Erschöpfung von Naturressourcen und das Aussterben von
Tierarten, ein Klimawandel, der Rückgang von Permafrostböden und eine generalisierte Umweltzerstörung einhergehen, womit die Erde eine qualitativ neue, menschenbedingte und vor allem unhintergehbare Gestalt erhalten hat. Denn nicht zuletzt ist die Menschheit so zu einer möglichen Vernichtungsmacht der irdischen Natur als Ganzheit geworden. – Diese Hypothese des Anthropozäns weist Ähnlichkeiten mit der Idee der Naturgeschichte auf. Beide gehen von einer Verschlingung
von Natur und Geschichte aus, indem sie die unter dem menschlichen Agens bewirkte aktuelle Naturgestaltung geschichtlich als unhintergehbar deuten. Beide bestehen darauf, dass im Anthropozän bzw. im Spätkapitalismus keine von menschlichem Einfluss freien Naturräume mehr aufzufinden sind. Während der Hypothese
des Anthropozäns aber die gesellschaftskritische Dimension der Idee der Naturgeschichte fehlt, die es dieser erlaubt, menschliche Geschichte als Perpetuierung des
Naturzwangs („Fressen und Gefressenwerden“) und so zugleich als eine Art blinder Natur zu fassen, scheint die Theorie des Anthropozäns der Natur trotz aller
menschlichen Vermitteltheit wesentliche Autonomie zuzuweisen. Die technische
Verfügung über sie kann naturgemäß nicht unbegrenzt erfolgen, ohne eine tendenzielle Verunmöglichung der Lebensbedingungen auf der Erde und so mögliche Reaktionen der Erde zu verursachen (vgl. Danowski e De Castro 2016; Latour 2015).
GS6, S. 148.
203
perpetuiert, womit alle bisherige menschliche Geschichte als Vorgeschichte
bestimmt ist, grundsätzlich befriedigt. Gemeint ist die Einrichtung einer
Gesellschaftsverfassung, in der „keinem Menschen mehr ein Teil seiner
lebendigen Arbeit vorenthalten [würde]“366 und so die Produktion gesellschaftlich bedingten Leidens überwunden wäre. Für Adorno impliziert
dies nichts anderes als die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen
Bedürfnisse und so die Selbstaufhebung des (historischen) Materialismus:
„Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse
im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte
sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der
materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse
verweigert“367.
Hier bezieht sich Adorno zwar auf den „historischen Materialismus“ und meint somit alle materialistischen Denkgebilde, die im Gefolge
von Marx entstanden sind – einschließlich seines eigenen. Wesentlicher
Aspekt seiner Marx-Interpretation besteht dementsprechend in dieser
dialektischen Zielsetzung, die der Selbstüberwindung des Materialismus
entspricht. Die Konstruktion der Denkfigur des Materialismus bei Marx
sei, so Adorno, von Beginn an zielgerichtet und so als prinzipiell überwindbar bestimmt: Der Materialismus gründet demgemäß in der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens, die durch materielle
Bedürfnisse bestimmt ist; dessen immanentes Ziel ist so ihre Befriedigung:
Der Marxsche Materialismus hat ein Telos, das ihn grundsätzlich
unterscheidet von den anderen materialistischen Philosophien, die
wir bislang besprochen haben: Wenn die materiellen Bedingungen
der Menschheit zu sich selbst kommen, das heißt, wenn die Reproduktion der Gattung Mensch und die Befriedigung der Bedürfnisse
der Menschen von dem Tauschwert, von dem Profitmotiv endlich
einmal befreit werden, dann wird die Menschheit aufhören, unter
dem materiellen Zwang zu existieren; die Erfüllung des Materialismus wird zugleich das Ende des Materialismus sein.368
Das hier besprochene Ende des Materialismus entspräche dem Aufkommen jenes „Reichs der Freiheit“, das Marx im dritten Band des Kapitals
paradigmatisch zur Sprache bringt. Seine Möglichkeitsbedingung ist die
Abschaffung des „durch Not und äußere Zweckmäßigkeit“ bestimmten
Arbeitens, die erst aufgrund einer vollends rationalisierten Produktion
zutage treten kann. So würden die Vorgeschichte als Reich der Notwendigkeit, das dem Zweck der Selbsterhaltung der Gattung noch dient,
durch ein als Selbstzweck konzipiertes Reich der Freiheit und mit diesem
366
367
368
GS6, S. 150.
GS6, S. 207.
PT, S. 276f.
204
der Vorrang der materiellen Bedürfnisse der Menschheit aufgehoben.
Marx schreibt:
Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da wo das Arbeiten,
das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört;
es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur
ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben
zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und
er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen
Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies
Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich
erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren
Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden
Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand
und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich
der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche
Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der
Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner
Basis aufblühen kann.369
Auch wenn sich Adorno hier explizit auf den historischen Materialismus
bezieht und diese Entwicklung als ihm spezifisch darlegt, scheint er darauf
zu bestehen, dass tendenziell jeglicher Materialismus zu seiner Selbstaufhebung führt. Marx ist dafür zwar tatsächlich paradigmatisch, doch diese
Tendenz ist auch bei anderen materialistischen Denkmodellen zu finden
und gehört ihnen sachlich zu. Wenn Adorno die These der Abschaffung
des Materialismus bei Marx kommentiert, spricht er davon, dass „diese
Situation bis zu einem gewissen Grade die eigentümliche Struktur der
meisten materialistischen Theoreme erklären [dürfte], die auf der einen
Seite Determinismus, und zwar Naturdeterminismus lehren, und auf der
anderen Seite Ideen eines richtigen Lebens entwerfen“370.
Hier handelt es sich um Interpretationsbestände Adornos über die
materialistische Denktradition, die als solche grundsätzlich bestreitbar
sind. Ich möchte sie nicht einzeln prüfen, sondern bloß die systematischen Spannungen hervorheben, die sie gegenüber seinem eigenen Materialismusbegriff aufweisen. Wir sahen, dass die Idee der Naturgeschichte
eine unhintergehbare Verschlingung von Natur und Geschichte postuliert,
die die Naturgrenze des Materialismus tendenziell aufhebt: Ist keine Natur „von der totalen Vermittlung“ mehr unbetroffen, bleiben keine vom
369
370
MEW25, p.828
PT, S. 198.
205
menschlichem Agens unberührten Naturräume mehr übrig, dann fallen
auch die Grenzen weg, die den Materialismus aus dem Naturbereich verwiesen haben. Lässt sich dementsprechend inner- und außergesellschaftliches Sein nicht mehr strikt voneinander unterscheiden, dann wird der
eigentliche Unterschied zwischen einem historischen und einem außerhistorischen Materialismus hinfällig. Aus diesem Grund bemüht sich die
negative Dialektik um den Begriff eines naturhistorischen bzw. naturgeschichtlichen Materialismus.
Was hat in diesem Zusammenhang „die Befreiung des Geistes vom
Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung“ zu bedeuten,
die wiederum in die Selbstaufhebung des (historischen) Materialismus
münden soll? Indem der Materialismus infolge dieser Befreiung als selbstaufhebbar bestimmt wird, wird er exklusiv auf den menschlich-gesellschaftlichen Bereich festgelegt – denn erfüllt und so vom Primat der Materie befreit werden nur die menschlichen Bedürfnisse. Das ist kein zufälliger Widerspruch, vielmehr ist er ein weiteres Indiz dafür, dass der negativdialektische Materialismus die Idee der Naturgeschichte nicht zu Ende
führen kann, ohne in offensichtliche Spannungen zu geraten. So scheint
auch die eigentliche Idee einer Selbstaufhebung des Materialismus eine
erste Natur uneingestanden voraussetzen zu müssen, auf die er aber keinen Einfluss hat. Andernfalls müsste man annehmen, dass auch die produktive und reproduktive Dynamik anderer Lebewesen, die dem „Fressen
und Gefressenwerden“ der Natur gehorcht, mit der Etablierung einer
vernünftigen Gesellschaftsverfassung in die Versöhnung mit einbezogen
wäre. So eigentümlich diese Idee auch wirken mag, darf doch nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass sie der Problemkonstellation angehört,
die das Motiv einer Selbstaufhebung des Materialismus aufgrund der Erfüllung seiner Zielsetzung mit sich bringt. Das ist bekanntlich der zentrale
Kritikpunkt Habermas’ am späten Marcuse, der, wohl unter dem Einfluss
Adornos, dieser Idee ebenfalls verpflichtet ist:
Marcuse hat eine alternative Einstellung zur Natur im Sinne, aber
aus ihr läßt sich nicht die Idee einer Neuen Technik gewinnen. Statt
Natur als Gegenstand möglicher technischer Verfügung zu behandeln, können wir ihr als Gegenspieler einer möglichen Interaktion
begegnen. Statt der ausgebeuteten Natur können wir die brüderliche suchen. Auf der Ebene einer noch unvollständigen Intersubjektivität können wir Tieren und Pflanzen, selbst den Steinen, Subjektivität zumuten und mit Natur kommunizieren, statt sie, unter Abbruch der Kommunikation, bloß zu bearbeiten. Und eine eigentümliche Anziehungskraft, um das mindeste zu sagen, hat jene Idee behalten, daß eine noch gefesselte Subjektivität der Natur nicht wird
entbunden werden können, bevor nicht die Kommunikation der
Menschen untereinander von Herrschaft frei ist. Erst wenn die
Menschen zwanglos kommunizierten und jeder sich im anderen
206
erkennen könnte, könnte womöglich die Menschengattung Natur
als ein anderes Subjekt – nicht, wie der Idealismus wollte, sie als ihr
Anderes, sondern sich als das Andere dieses Subjektes– erkennen371.
Diese Problemkonstellation fasst die Grenzen des negativ-dialektischen
Materialismus zusammen, die hier dargestellt worden sind. Als solche
erwachsen sie aus seinem eigenen kategorialen Rahmen und scheinen auch
über sie hinauszuweisen, ohne dies aber explizit ausbuchstabieren zu können.
371
Habermas (1969), S. 57. Ray Brassier hat neulich einen ähnlichen Kritikpunkt
erhoben: die Idee der Naturgeschichte und mit ihr die Selbstaufhebung des Materialismus implizierten in „the rehabilitation of a fully anthropomorphic ,living‘ nature, a desire to revoke spirit’s estrangement from matter, to reforge the
ken ,chain of being‘, and ultimately to repudiate the labour of disenchantement initiated by Galileo in the physical realm, continued by Darwin in the biological
sphere, and currently being extended by cognitive science to the domain of mind“,
Brassier (2007), S. 40
207
§ 19. Fazit
Aus ihrem eigenen kategorialen Rahmen heraus lässt sich die negative
Dialektik als eine Spielart des Fehlkorrelationismus begreifen, der die
Subjekt-Objekt-Korrelation zwar destabilisiert, um daraus ihren Wahrheitsgehalt als materialistisches Denkmodell zu extrahieren, sie aber nicht
abbricht. Das jedoch kann nur unter Inkaufnahme innertheoretischer
Spannungen gehen, die sich auf ihre materialistischen Hauptkategorien
übertragen lassen (§ 15). Am Begriff des Objekts lassen sich diese Spannungen anhand von dessen materieller Dimension einsehen, die zwar
immer mimetisch angeeignet und deshalb vermittelt ist, die aber zugleich
einen unvermittelten Materiebegriff voraussetzt (§ 16). Dieselbe Spannung zeigt sich in der Konstruktion der Naturgeschichte als unhintergehbare Verschlingung von Natur und Geschichte (§ 17) wie auch an der
Idee einer möglichen Selbstüberwindung des Materialismus (§ 18), die
beide einen Begriff erster Natur als ihre eigene Möglichkeitsbedingung
voraussetzen bzw. indizieren.
208
Schlussbetrachtung
Die vorliegende Untersuchung hat sich der Spannung zwischen Materialismus und Kritik gewidmet, die seit der idealistischen Identitätskrise der
deutschen Philosophie im Horizont zeitgenössischen Denkens steht. Aus
dieser Spannung ergibt sich der Problemcharakter des kritischen Materialismus, mit dem sich die im 19. Jahrhundert entstehende Kritische Gesellschaftstheorie exemplarisch befasst. Sofern das Problem des kritischen
Materialismus den kategorialen Rahmen sowohl der aus der Vernunftkritik entwickelten Subjektphilosophie als auch der darauffolgenden Materialismen kritisch hinterfragt, ist es für beide Fronten zeitgenössischen
Philosophierens von Bedeutung. Indiz dieses noch währenden Problemcharakters – und seiner Relevanz – sind sowohl die verschiedenen Materialismus-Streite seit Mitte des 19. Jahrhunderts als auch die vielen Spielarten von Materialismus, die seitdem und bis heute aufeinanderfolgten.
Als „Organon Kritischer Theorie überhaupt“372 bringt die Negative
Dialektik Theodor W. Adornos diese Spannung nun besonders deutlich
zur Sprache, weshalb sie dieser Arbeit als philosophischer Ausgang dient.
Wie alle kritische Theorie lehnt sie die Hauptoperation der klassischen
Materialismen als dogmatisch und selbstwidersprüchlich ab und erhebt somit den Anspruch, den kritischen Materialismus aus der immanenten
Kritik an dem philosophischen Idealismus zu begründen. Das Ergebnis
dieser immanenten Kritik ist der Vorrang des Objekts, der in der philosophischen Einholung einer immanenten Ungleichheit zugunsten der Objektivität in der Subjekt-Objekt-Korrelation besteht. Indem er aus dem
identitätsphilosophischen Instrumentarium des Idealismus immanent
erwächst und so seinem Anspruch nach die wahre Vollendung neuzeitlichen Denkens darstellt, liefert er die Grundlage, auf welcher sich der kritische Materialismus konsistent aufgebaut wird. Da er aber weder die
Subjekt-Objekt-Korrelation abbrechen noch Objektivität ontologisieren
soll, führt die negative Dialektik eine umfassende Ontologiekritik durch,
die in der Denkfigur des Antisystems mündet. Sie verhindert sowohl die
Etablierung von ontologischen Grundprinzipien wie Sein, Materie und
Gesellschaft als auch die Ontologisierung von innerkorrelationellen Gehalten wie Nichtidentität. In diesem Sinne versucht sie die Diskontinuität
von Sein und Denken innerkorrelativ und rein reflexionstheoretisch zu
entfalten und entspricht der Grundstruktur des negativ-dialektischen
Materialismus. So gesehen lässt sich der negativ-dialektische Materialismus als eine Variante von Fehlkorrelationismus begreifen, der als solcher
eine Kompromisslösung des Problems des Materialismus darstellt. Wie
jeder Fehlkorrelationismus weist auch der negativ-dialektische Materia372
Schnädelbach, (1983), S. 81.
209
lismus indirekt auf eine außerkorrelationelle Instanz hin, die aber innerhalb seines kategorialen Rahmens nicht explizierbar ist. Aus dieser Nichtexplizierbarkeit einer Sinninstanz, die ihrer Konsistenz als Materialismus
wiederum unentbehrlich ist, lassen sich ihre Grenzen immanent ableiten.
Sie sind nicht als bloße Inkonsistenzen, sondern als notwendige Spannungen zu betrachten, die sich aus dem Konzept des negativ-dialektischen
Materialismus selbst ergeben.
Infolge des so zusammengefassten Ergebnisses der vorliegenden Untersuchung kann man nun die Nachgeschichte der Kritischen Theorie seit
der Negativen Dialektik erneut fassen. Wie ich bezüglich der Rezeptionsgeschichte des Werkes thematisiert habe373, stellt auch Habermas – wenn
auch von einem anderen Standpunkt aus – die oben dargestellten Grenzen
negativer Dialektik heraus. Indem er sie aber als Symptome der Erschöpfung der gesamten Bewusstseinsphilosophie deutet, sieht er sich gezwungen, die bekannte Wende von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie zu vollziehen. Diese Wende hat sehr wirkungsreiche
Konsequenzen für die Weiterentwicklung kritischer Gesellschaftstheorie
gehabt, die noch heute deutlich spürbar sind; denn Habermas folgten, wie
allbekannt, die Hauptvertreter der nächsten Generationen der Denktradition. Unter anderem gehört zu diesen Konsequenzen die Aufgabe des
gesamten kategorialen Rahmens und mit ihm auch der Problemkonstellation, inerhalb derer sich das Problem des Materialismus stellte. Nicht
umsonst verliert der Materialismus mindestens seit der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) die Zentralität, die er in der Geschichte
kritischer Gesellschaftstheorie von Marx bis Adorno noch erhielt.
Wenn nun die vorliegende Arbeit – mit Habermas, aber durch andere
Mittel – zur Herausstellung der Grenzen des negativ-dialektischen Materialismus gelangt, deutet ihr Ergebnis jedoch auf eine völlig andere Richtung hin. Anstatt die internen Grenzen negativer Dialektik als Symptome
einer Erschöpfung zu interpretieren, die zum Paradigmenwechsel und so
zur Aufgabe der hier reflektierten Problemkonstellation zwangsläufig
führt, lädt das Ergebnis der vorliegenden Arbeit gewissermaßen dazu ein,
auf ihnen zu beharren. Indem sie offenbart, dass die negative Dialektik
letztinstanzlich einen uneingestandenen spekulativen Ort einnimmt, von
dem ausgehend sie ihren kategorialen Rahmen allein begründen kann,
stellt sich die Frage nach der spekulativen Dimension der Kritischen Theorie. Weil sie im Zusammenhang der idealistischen Identitätskrise der deutschen Philosophie als Kritik an der Spekulation entstanden ist, hat sie
stets diese Dimension immanent aufzuheben und so den kritischen Materialismus auch als Auflösung der (spekulativen) Philosophie zu begründen
beansprucht. Trifft das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zu, dann
373
§ 3 B.
210
offenbart die negative Dialektik, dass dieser Anspruch nicht konsequent
gehalten werden kann.
Es spannt sich so ein Bogen innerhalb der Denktradition der Kritischen Theorie von der Kritik an der Spekulation über die Unmöglichkeit,
sie reibungslos durchzuführen, bis hin zu der Offenbarung der Unumgänglichkeit des Spekulativen. Vollzieht man hier mit Habermas einen
Paradigmenwechsel, dann wird diese gesamte Problemkonstellation
gleichzeitig vergessen, wenn man mit Adorno die Dynamik philosophischer Probleme innerhalb jener Logik von „Dauer und Vergessen“ 374 begreift. Wird aber die Unumgänglichkeit des Spekulativen eingesehen, dann
besteht man auf ihrer Dauer: zwar wird die Gültigkeit der Habermas’schen Wende nicht in Frage gestellt, doch andere Denkwege öffnen
sich.
Sie ließen sich anhand eines Forschungsprogramms skizzierend formulieren. Es bezieht sich auf das Verhältnis der Kritischen Theorie zur philosophischen Spekulation. Naturgemäß wird mit dem Einsehen in die Unumgänglichkeit des Spekulativen keine bloße Rückkehr zur idealistischen
Spekulation angestrebt. Vielmehr wirft auch die negative Dialektik anhand
ihrer hier dargestellten Grenzen das Problem eines Begriffes von nicht
idealistischer und zugleich nicht dogmatischer Spekulation auf, die die Kritische Theorie als materialistische Denkweise strukturell transformieren
und zugleich begründen könne. Das ist auch das Hauptproblem, das einen
beträchtlichen Teil der aktuellen kontinentaleuropäischen Philosophie
einigt.
374
GS6, S. 71
211
Literaturverzeichnis
Adorno, T. (1997). Gesammelte Schriften. Herausgegeben von von Rolf
Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss
und Klaus Schultz. Suhrkamp.
Adorno, T. (1974). „Philosophische Terminologie“, Band 2, in: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp.
Adorno, T. (1995), Kants Kritik der reinen Vernunft. Herausgegeben von
Rolf Tiedemann. Suhrkamp.
Adorno, T. (1995). „Philosophische Terminologie: Zur Einleitung“, in:
Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp.
Adorno, T. (2008). „Ontologie und Dialektik“, in: Nachgelassene Schriften,
Abteilung IV: Vorlesungen. Suhrkamp.
Aristoteles (1995). „Nikomachische Ethik“, in: Philosophischen Schriften 3.
Nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearbeitet von Günther
Bien. Meiner.
Audi, R. (1995). The Cambridge Dictionary of Philosophy, Cambridge.
Badiou, A. (2005). De la dialectique négative dans sa connexion à un certain
bilan de Wagner. Vortrag an der École Normale Supérieure, 8. und 22.
Januar 2005. Verfügbar in: http://www.lacan.com/badwagnerone.htm.
Badiou, A. (2007), The Century, Translated, with a comentary and notes,
by Alberto Toscano. Polity Press.
Bayertz, K. et al. (Hrg.) (2012). Der Materialismus-Streit, Hamburg: Meiner.
Beiser, F. (2014). After Hegel: German Philosophy 1840-1900, University
Press Group.
Benjamin, W. (1977). Gesammelte Schriften. Band II.1. Suhrkamp.
Bloch, E. (1972) Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz.
Suhrkamp.
Bolte, G. (1995). Von Marx bis Horkheimer. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Brandom, R. (1997) Empiricism and the Philosophy of Mind: with an Introduction by Richard Rorty and a Study Guide by Robert Brandom.
Harvard University Press.
Brassier, R. (2007). Nihil unbound: Enlightenment and Extinction. Palgrave Macmillian.
Braustein, D. (2011). Adornos Kritik der politischen Ökonomie. Transcript
Verlag.
Bryant, Srnicek and Harman (Hrsg.) (2011). The Speculative Turn. Continental Materialism and Realism. re.press.
Buck-Morss, S. (1979), Origin of Negative Dialectics, Free Press.
Danowski, D. e De Castro, E.V. (2016). Há mundo por vir? Ensaio sobre
os medos e os fins. Cultura e Barbárie.
213
Das Wortauskunftsystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (online unter https://www.dwds.de).
Davies, J. (2016). The Birth of the Anthropocene. University of California
Press.
Deprun, J. (1992). „Deux emplois du mot matérialisme: Christian Wolff
et Jean-Jacques Rousseau“, in: Diex-huitième Siècle (Zeitschrift), Année 1992, Volume 24, Numéro 1.
Dubiel, H. (1988). Kritische Theorie der Gesellschaft: Eine einführunde
Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas, Juventa
Edwards, P. (Hrgs.) (1972). The Encyclopedia of Philosophy, London.
Engels, F. (1962). „Dialektik der Natur“, in: Marx/Engels Werke, Band 20.
Dietz Verlag, Berlin.
Ficara, E. (2006). Die Ontologie in der ,Kritik der reinen Vernunft‘, Königshausen & Neumann, Würzburg.
Fichte, J.G. (1965). „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als
Handschrift für seine Zuhörer“, in: Lauth und Jacob (Hrgs.). Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Reihe I,
Band 2. Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog).
Fichte, J.G. (1985). „Die Wissenschaftslehre, II. Vortrag im Jahre 1804“,
in: Lauth und Jacob (Hrgs.). Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Reihe II, Band 8. Friedrich Frommann Verlag
(Günther Holzboog).
Foulquié, P. (1986). Dicctionaire de la langue philosophique, PUF.
Frank, M. (2013). „Identität der Identität und Nichtidentität: Schellings
Weg zum absoluten System“, in: Arndt et al. (Hrgs). Hegel-Jahrbuch,
Band 19, Heft 1.
Frank, M. (1992) Der unendliche Mangel an Sein, Fink.
Franz, A. (1992). Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit
den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F. W. J. Schellings.
Königshausen & Neumann 1992
Furth, P. (1980). „Negative Dialektik und materialistische Theorie der
Dialektik. Einleitende Bemerkungen zur Dialektikauffassung in
Westdeutschland“, in: Furth, P. (Hrsg.) Arbeit und Reflexion. Zur materialistischen Theorie der Dialektik – Perspektiven der
schen ,Logik‘. Pahl-Rugenstein.
Gabriel, M. (Hrsg.) (2014). Der Neue Realismus. Suhrkamp.
Gjesdal, K. (2015). Debates in 19th Century European Philosophy. Routledge.
Guzzoni, U. (1981). Identität oder nicht. Freiburg/München.
Haag, K.H. (1960). Kritik der neueren Ontologie. W. Kohlhammer Verlag.
Habermas, J. (1969). Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘. Suhrkamp.
214
Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1,
Suhrkamp.
Habermas, J. (1987). Philosophisch-politische Profile. Suhrkamp.
Habermas, J. (1988). Der philosophische Diskurs der Moderne, Suhrkamp.
Habermas, J. (1992). Nachmetaphysisches Denken, Suhrkamp.
Hafner, K. (2005). „'Daß der Bann sich löse'. Annäherungen an Adornos
Marx-Rezeption“, in: Materialistische Theorie und Praxis. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Kritik der politischen Ökonomie.
Ca ira.
Harman, G. (2011). Quentin Meillassoux: Philosophy in the Making. Edinburgh University Press.
Haynes, P. (2012). Immanent Transcendence: Reconfiguring Materialism in
Continental Philosophy. Bloomsbury.
Hegel, G.W.F. (1986). Werke in 20 Bänden. Suhrkamp, 1986.
Heidegger, M. (1997). „Die Grundprobleme der Phänomenologie“, in:
von Herrmann (Hrgs.). Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen
1923-44. Band 24. Vitorio Klostermann.
Heidegger, M. (2006) Sein und Zeit, De Gruyter.
Heine, H. (1972) Werke und Briefe in 10 Bänden. Band 1, Berlin und
Weimar.
Henrich, D. (1979). „Identität – Begriffe, Probleme, Grenzen“, in: Marquardt, Stierle (Hrgs). Identität. Wilhelm Fink Verlag.
Henrich, D. (1988). „Die Identität des Subjekts in der transzendentalen
Deduktion“, in: H. Oberer, G. Seel (Hg.), Kant. Analysen – Probleme
– Kritik, Würzburg.
Hogh, P. (2011). „Zweite Natur. Kritische und affirmative Lesarten bei
John McDowell und Theodor W. Adorno“, in: XXII. Deutscher
Kongress für Philosophie. LMU-München. Verfügbar in: https://
epub.ub.uni-muenchen.de/12604/
Hogrebe, W. (1989). Prädikation und Genesis, Frankfurt (M): Suhrkamp.
Honneth, A. (1986). Kritik der Macht. Reflexionsstufe einer kritischen
Gesellschaftstheorie, Frankfurt (M): Suhrkamp.
Honneth, A. (1992). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt (M): Suhrkamp.
Honneth, A. (2007), „Gerechtigkeit im Vollzug: Adornos 'Einleitung' in
die Negative Dialektik“, in: Pathologien der Vernunft, Suhrkamp.
Horkheimer, M. (Hrg.) (1970). Zeitschrift für Sozialforschung. Fotomechanischer Nachdruck der Originalausgabe: Paris/New York, Institut
für Sozialforschung 1932-1941. Mit einer Einleitung von Alfred
Schmidt. DTV.
Hortsmann, R.-P. (2003). „Den Verstand zur Vernunft bringen? Hegels
Auseinandersetzung mit Kant in der Differenz-Schrift“. – In: W.
215
Welsch, K. Vieweg (Hrsg.): Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht. München.
Hossenfelder, M. (2012). Kants Konstitutionstheorie und die transzendentale Deduktion, De Gruyter.
Hume, D. (2007). A Treatise on Human Nature, Volume 1, Clarendon Press.
Husserl, E. (1992). „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischer Philosophie“, in: Husserliana, Band 5. De Gruyter.
Jäschke, W. (Hrgs.) (2010). Hegel-Handbuch: Leben – Werk – Schule. J.B.
Metzler.
Johnston, A. (2012). Prolegomena to any future materialism. Volume One:
The outcome of contemporary french philosophy. Northwestern University Press.
Kafka, F. (1983). Tagebücher: 1910-1923, Fischer.
Kant, I. (1977). Werkausgabe in 12 Bänden. Herausgegeben von Wilhelm
Weischedel. Suhrkamp.
Kant, I. (1998). Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten
Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann. Felix Meiner.
Köhnke, H.C. (1986). Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die
deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus Suhrkamp.
Kreis, G. (2015). Negative Dialektik des Unendlichen, Suhrkamp
Lange, F.A. (1974). Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch. Herausgegeben und eingeleitet
von Alfred Schmidt. Suhrkamp.
Leibniz, G.W. (1804), Opera philosophica, ed. Erdmann.
Leibniz, G.W. (2002). „Metaphysische Abhandlung“, in: Monadologie und
andere metaphysische Schriften, Meiner.
Lorenz, K. (Hrsg.) (1982). Identität und Individuation, Stuttgart.
Löwith, K. (1995). Von Hegel zu Nietzsche: der revolutionäre Bruch im
Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg, Meiner.
Lukács, G. (1968) „Versuch einer Selbstkritik“, in: Geschichte und Klassenbewusstsein, Neuwied.
Mansfeld, J. et al. (Hrgs.) (2011) „Demokrit“, in: Die Vorsokratiker: Griechisch / Deutsch, Reclam.
Marchardt, O. (2010), Die politische Differenz. Suhrkamp.
Marx, K./Engels, F. (1970). Werke. Dietz Verlag Berlin.
Meillassoux, Q. (2006). Après la finitude. Essai sur la nécessité de la
contingence. Préface d‘Alain Badiou. Seuil.
Meillassoux, Q. (2012). Iteration, Reiteration, Repetition: A Speculative
Analysis of the Meaningless Sign. Konferenz an der Freien Universität
Berlin, 20. April 2012. Verfügbar in: www.spekulative-poetik.de
Mörchen, H. (1981). Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikatiosverweigerung. Klett-Cotta Verlag.
216
Morgan, A. (2017). „A Preponderance of Objects: Critical Theory and
the Turn to Objects“, in: Adorno Studies, Volume 1, Issue 1.
Munitz, M. (Hrsg) (1971). Identity and Individuation, New York.
Nietzsche, F. (1973). „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne“, in: Werke. Colli/Montinari (Hrsg.). Dritte Abteilung, Zweiter
Band. De Gruyter.
O'Connor, B. (2004). Adorno’s Negativ Dialectic. Philosophy and the
possibility of critical rationality. The MIT Press.
Pätzold, D. (1995). Spinoza – Aufklärung – Idealismus. Die Substanz der
Moderne. Peter Lang.
Pettazzi, C. (1983). Studien zu Leben und Werk Adornos bis 1938, In: Text
+ Kritik, Sonderband Adorno.
Pollock, F. (1975). Stadien des Kapitalismus. Herausgegeben von Helmut
Dubiel. C. H. Beck: München.
Ritsert, J. (2017). Summa Dialectica: Ein Lehrbuch zur Dialektik. Juventa.
Ritter, J. et al (Hrgs.) (1980). Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Eintrag „Ontologie“, Band 6.
Rivero, G. (2014). Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant. Kantstudien-Ergänzungshefte, Band 180, De Greuyter.
Sandkühler, H.J. (Hrgs.) (2010), Enzyklopädie Philosophie. Felix Meiner
Verlag, Hamburg.
Schmid-Noerr, G. (1990). Das Eingedenken der Natur im Subjekt: zur
Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schmid-Noerr, G. (1992). Die Unnatürlichkeit der Natur: über die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen. Stroemfeld/Nexus.
Schmid-Noerr, G. et al. (Hrgs). Kritischer Materialismus. Hanser.
Schmidt, A. (1977), Drei Studien über Materialismus: Schopenhauer,
Horkheimer, Glücksproblem. Carl Hanser Verlag.
Schmidt, A. (2002). „Adornos Spätwerk: Übergang zum Materialismus als
Rettung des Nichtidentischen“, in: Schmidt/Fetscher (Hrsg.), Emanzipation als Versönung: Zu Adornos Kritik der ,Warentausch‘Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, Verlag Neue Kritik.
Schnädelbach, H. (1983). „Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion
des Rationalen bei Adorno“, in: Friedeburg/Habermas (Hrgs).
Adorno-Konferenz 1983. Suhrkamp.
Schnädelbach, H. (1983). Philosophie in Deutschland: 1831-1933. Suhrkamp.
Schnädelbach, H. (1996). „Kant – Der Philosoph der Moderne“, in:
Schönrich, Kato (Hrgs.) Kant in der Diskussion der Moderne, Suhrkamp.
Sohn-Rethel, A. (1973), Geistige und körperliche Arbeit, Suhrkamp.
Sohn-Rethel, A. (1978). Warenform und Denkform, Suhrkamp.
217
Tertulian, N. (2009). „L’Ontologie chez Heidegger et chez Lukács – Phénoménologie et dialectique“. In: Kriterion (Zeitschrift), Número 119,
Juni/2009.
Thyen, A. (1989). Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des
Nichtidentischen bei Adorno. Suhrkamp
Tugendhat, E. (1992). Philosophische Aufsätze, Suhrkamp.
Vogel, S. (1996). Against Nature: The Concept of Nature in Critical Theory. Suny Press.
Walker, R.C.S. (1971). “The Status of Kant’s Theory of Matter”, in: Synthese (Zeitschrift), Vol. 3, No. 1 (“Kant and Modern Science”), S.
121-6.
Whitehead, A. N. (2013). The concept of nature. Hardpress Publishing.
Wiggershaus, R. (1986). Die Frankfurter Schule: Geschichte / Theoretische Entwicklung / Politische Bedeutung, Hanser.
Wittgenstein, L. (2003). Logisch-Philosophische Abhandlung. Suhrkamp
Wolff, C. (1972). Psychologia rationalis: methodo scientifica pertractata,
Olms, Hildesheim und New York.
Wolff, C. (2005). Erste Philosophie oder Ontologie. Nach wissenschaftlicher Methode behandelt, in der die Prinzipien der gesamten menschlichen Erkenntins enthalten sind. Übersetzt und Herausgegeben von
Dirk Effertz. Felix Meiner.
Zöller, G. (2013). Fichte lesen. Legenda, Band 4.
218