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SMS ı Ruhm ı Kalenter ı Leere ı Licht ı Globalität ı Parallelen ı Kampf ı Scham ı Prekär ı Frauen ı Väter ı Costner ı Eastwood Winter 2010 Ausgabe 2 expositionen 1 Editorial Geneigte Leserin, geneigter Leser Wie viel Engagement steckt in dreissig Seiten Seminararbeit? Wie viel Erkenntnis? Eine allgemeingültige Antwort wäre: Nicht viel – aber auch nicht wenig. Eine konkrete Antwort liefert die zweite Ausgabe von expositionen. Studentische Arbeiten behandeln eine Vielzahl an Themen mit einer Fülle von Methoden. Daraus versammelt das vorliegende Magazin einen wilden Querschnitt. In expositionen fliessen Informationen zusammen, nicht nur über die Darstellung von weiblichem Terrorismus, Clint Eastwood oder einen beinahe vergessenen Soziologen. Sondern auch über das «Studieren»: Was interessiert (Mit-)Studierende und wie beantworten sie ihre Fragen? expositionen pflegt eine Kultur von Wissen, nicht nur über das Mahnmal zur Bücherverbrennung, die «Väterliteratur» oder die Finanzkrise. Sondern auch über die «Vielfalt»: Wie sieht das Wissen aus, das im Umfeld der Uni entsteht, aber seinen Weg aus dem privaten Kreis andernorts nicht findet? Allen, die ihre Arbeit und Gedanken hier offenlegen oder sich sonst mit Kritik und Unterstützung um expositionen bemühen, gilt unser Dank. Wir wünschen eine ereignisreiche Lektüre. Die Redaktion 2 Inhaltsverzeichnis «Wi schribt me daas?» (Berndeutsch-)Rechtschreibung im Spannungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft und Linguistik Thomas Kobel Rechtschreibung im Berndeutschen – ein knifliges Thema. Dieser Beitrag liefert keine Anleitung für eine korrekte Orthographie beim nächsten SMS, aber möglicherweise einen kleinen Einblick in Grundsätze und Geschichte der Schreibung. Denn wenn es ums Schreiben geht, zerren verschiedene Prinzipien in unterschiedliche Richtungen – und am Ende mischt auch die Politik noch mit. Seite 4 «Da hast du Ruhm!» oder vom Verstehen ohne Sprache. Donald Davidsons Argument gegen die Standardtheorie der Sprache Andreas Heise Brauchen wir eine Sprache, um die Äusserungen eines anderen Menschen zu verstehen? Ja, lautet die landläuige Antwort. Nein, meint der Sprachphilosoph Donald Davidson, denn wir können scheinbar unverständliche Äusserungen wie Malapropismen verstehen. Wie dieser Umstand mit der herkömmlichen Idee von Sprache zu vereinen ist, klärt der vorliegende Text. Seite 7 Tageschronist mit scharfer Feder. Der Nachlass von Ossip Kalenter (1900-1976) Natascha Fuchs Wie gestaltete sich das Leben eines exilierten Schriftstellers und welche Bedeutung kam dabei dem «PEN-Club Deutscher Autoren im Ausland» zu? Die Sichtung des Nachlasses von Ossip Kalenter beleuchtet diese Fragen und skizziert gleichzeitig das Bild eines Lebensabschnitts. Seite 11 Eine leere Architektur. Micha Ullmans Mahnmal Die Bibliothek Claudia Bossard Die überwältigende Leere, die das Bücherverbrennungsmahnmal in Berlin auszeichnet, verlangt nach einer Deutung: Semiologische, ästhetische und architekturgeschichtliche Ansätze verorten hierbei das Mahnmal in einer speziisch deutschen Tradition der Arbeit an der Vergangenheit. Seite 14 Die Bedeutung des Lichts in der christlichen Liturgie und Architektur Adeline Zumstein Der zentrale Stellenwert des Lichts für sakrale Bauten und Riten ist unbestritten. Doch woraus speist sich diese Tradition der Lichtmetaphorik, Lichtverehrung und Lichtgestalten? Seite 18 Enteuropäisierung der Menschenrechte. Von der Universalität zur Globalität – Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung Christine Saxer Die Menschenrechte sind aus einer christlich geprägten Kultur entstanden. Dennoch werden sie heute auf der ganzen Welt eingefordert. Am Beispiel China wird hier aufgezeigt, wie Rechtssysteme kulturspeziisch geprägt sind. Wie müssen Menschenrechte konzipiert sein, damit sie global gelten können? Seite 20 Wo Parallelen sich begegnen. Wie kann neues Wissen entstehen? Zwei Antworten anhand von J. M. Keynes` General heory Hannes Mangold Michel Foucault und Thomas S. Kuhn haben beide wissenschaftssoziologische Thesen zur Entstehung von neuem Wissen formuliert. Ihre Ansätze werden hier vorgestellt und auf John Maynard Keynes General Theory angewendet. Seite 23 expositionen 3 Tarde vs. Durkheim. Der Kampf um die «richtige» Soziologie in Frankreich um 1900 Aleksander Milosz Zielinski Um die vorletzte Jahrhundertwende war Gabriel Tarde ein einlussreicher französischer Sozialtheoretiker. Den vorliegenden Text interessiert neben Tardes Theorie der Nachahmung und dessen Entwurf der Disziplin «Soziologie» insbesondere auch eine kulturgeschichtliche Verortung derselben. Seite 27 Ja schämt ihr euch denn nicht? Scham, Entdifferenzierung und die Finanzkrise Dieter Meier Unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Veränderungen und ihrer gruppenspeziischen Auswirkungen wird ein Blick auf die Handlungseinstellung jener geworfen, die scheinbar die Finanzkrise verschuldet haben. Seite 31 Ein soziologisches Porträt zu Arbeits- und Lebensbedingungen von Verkäuferinnen. Eine Studie zur Prekarität im Detailhandel in Zeiten des inanzgetriebenen Akkumulationsregimes Markus Flück Prekarität als neue Form sozialer Ungleichheit muss stärker beachtet werden. Das «soziologische Porträt» zeigt hier exemplarisch auf, welche Anforderungen ein prekäres Arbeitsverhältnis stellt – und wie damit umgegangen wird. Seite 34 Frauen und bewaffneter Kampf. Eine literarische Auseinandersetzung Stefanie Nydegger Wie wird weiblicher Terrorismus in Judith Kuckarts Roman Wahl der Waffen dargestellt? Anhand des medialen Diskurses zur weiblichen Tatbeteiligung in den 1970er Jahren wird diese Frage hier beantwortet. Ebenso wird gezeigt, wie Kuckart die existentielle Seite des Terrorismus mit der existentiellen Seite von literarischem Schaffen verbindet. Seite 38 «Väterliteratur» als literaturgeschichtlicher Problemfall. Eine sehr kurze Übersicht Julian Reidy Das Genre der «Väterliteratur» wurde bisher als Auseinandersetzung mit den Vätern als Vertreter der Macht konzipiert. Hier wird ein solches Kriterium anhand von zentralen, zu dieser Kategorie gezählten Texten hinterfragt. Mit dem Terminus «Vertrauenskrise» wird ein alternatives Unterscheidungsmerkmal entwickelt. Seite 41 «On a knight’s errand». Fremderfahrung und Selbstindung in Kevin Costners Dances With Wolves Fiona Gunst In Kevin Costners Dances With Wolves (1990) wird die Erfahrung des Weissen an der Frontier – ein konventionelles Motiv des Westernilms – mit der Annäherung an das Fremde, einen Indianerstamm, enggeführt. Das Muster von John J. Dunbars Transformation zu Dances With Wolves wird hier als Übergangsritus erzählt. Seite 46 Ruchloser Killer oder erbärmlicher Schweinehirt? Wie Clint Eastwood in Unforgiven über Körperdarstellungen ein Imagewandel gelingt Alain Gloor Heute wird Clint Eastwood (*1930) für seine Darstellung vielschichtiger Charaktere gepriesen. Dem war nicht immer so. Für den Imagewandel weg vom einfältigen Actionschauspieler sorgte Eastwood als Regisseur und Schauspieler in Unforgiven (1992) gleich selbst – über zwei diametrale Körperentwürfe, wie hier gezeigt wird. Seite 49 zu letzt Ariane Koch Wirft in ihrem Bildbeitrag Fragen der Wahrnehmung auf. Beitrag in der Heftmitte 4 «Wi schribt me daas?» (Berndeutsch-)Rechtschreibung im Spannungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft und Linguistik Thomas Kobel R echtschreibung im Berndeutschen – ein knifliges Thema. Dieser Beitrag liefert keine Anleitung für eine korrekte Orthographie beim nächsten SMS, aber möglicherweise einen kleinen Einblick in Grundsätze und Geschichte der Schreibung. Denn wenn es ums Schreiben (und ums möglichst leichte Lesen) geht, zerren verschiedene Prinzipien in unterschiedliche Richtungen – und am Ende mischt auch die Politik noch mit. Die grundsätzlichen Fragen «Wi schribt me daas?» – Wer hat diese Frage nicht schon gestellt, während er oder sie entnervt vor dem PC an einer Seminararbeit oder vor einem Blatt Papier an einem Aufsatz schrieb. Die Rechtschreibung im Standarddeutschen ist manchmal schon verzwickt genug. Wer aber gerne «korrektes» Berndeutsch schreiben möchte, stösst sehr bald auf noch viel grundsätzlichere Fragen und Probleme, weil es keine allgemein gültige oder anerkannte Norm gibt. Trotzdem wird heute sehr intensiv berndeutsch geschrieben, ohne dass dies in einem babylonischen Chaos enden würde. Offenbar sind wir uns in den wesentlichsten Punkten doch einig, was wie zu schreiben ist – sonst würden wir uns auf Berndeutsch schriftlich gar nicht verständigen können. In den Detailfragen hat sich aber bis heute keine einheitliche Handhabung durchgesetzt. Fangen wir ganz, ganz vorne an: Was tun wir eigentlich, wenn wir schreiben? Modellhaft gesagt fixieren wir Sprache, die es zunächst nur mündlich (oder in Gedankenform) gab. Um das tun zu können, machen wir uns unsere Segmentierung des Sprachflusses bewusst, also die Isolation von Wörtern und Lauten, die immer wieder vorkommen. Das erlaubt es uns, mit einer begrenzten Anzahl von Zeichen eine unbegrenzte Anzahl von möglichen Äusserungen festzuhalten. Ein Zeichensystem wie unser Alphabet nennt man phonographisch – es hat also ein Zeichen (Graphem) für jeden Laut (Phonem). Das ist nur eine von verschiedenen Möglichkeiten, so gibt es auch logographische Systeme (in denen ein Zeichen für ein Wort steht, z.B. Chinesisch) oder solche, die für jede Silbe ein Zeichen bereit stellen. Für jeden Laut ein Zeichen und umgekehrt – ist doch gar nicht so schwierig? Leider ist es nicht so einfach: Weil unser Alphabet fürs Lateinische entstanden ist, gibt es nicht für jeden Laut einen Buchstaben. Manchmal wird deswegen der gleiche Buchstabe verschieden ausgesprochen (etwa in Ruhe und Ruck – einmal wird das /u/ geschlossen und lang, ein- mal offen und kurz gesprochen, aber wir haben nur einen Buchstaben dafür). Manchmal wird der gleiche Laut verschieden geschrieben (weise, Waise: /ei/ und /ai/ für denselben Zwielaut). Die Beziehung zwischen Phonem und Graphem ist also nicht eine umkehrbar eindeutige. Das heisst, dass man weder von der Aussprache eindeutig auf die Schreibung schliessen kann, noch umgekehrt. Nichts leichter, als dieses Problem zu lösen, könnte man einwenden: Wozu gibt es denn das Internationale Phonetische Alphabet? Dort gibt es für jeden menschlichen Laut ein eindeutiges Zeichen. Ein interessanter Einwand, nur bringt er uns nicht weiter. Erstens würde ein solches System viel schwerfälliger und komplizierter. Und zweitens werden die gleichen Wörter nicht überall gleich ausgesprochen. Das heisst, dass man mit einer Rechtschreibung gleichzeitig eine Recht-Sprechung definieren würde. Die andere Variante, dass dann halt einfach jeder jedes Wort so schreibt, wie er es ausspricht, ist auch nicht praktikabel. Schliesslich lesen geübte Leser nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern erfassen ein Wort als Ganzes. Wenn aber die Orthographie der Wörter nicht konstant bleibt (wie es bei einer individuell lautgetreuen Schreibung der Fall wäre), funktioniert das WortLesen nicht mehr. Wer schon mal versucht hat, einen Mundart-Text aus einer anderen Sprachregion laut vorzulesen, weiss, wie es ist, plötzlich wieder in den Buchstabier-Modus zurückzufallen. Wir sind also immer noch gleich weit wie am Anfang: Ohne einen minimalen Konsens bezüglich Rechtschreibung geht es nicht. Sprache als Spielball politischer Interessen Um nicht alles von Grund auf neu entwickeln zu müssen, ist es naheliegend, für eine Verschriftung ein bereits bestehendes System einer mehr oder weniger verwandten Sprache zu adaptieren. Im Fall von Berndeutsch ist dies natürlich das Standarddeutsch. An diesem misst sich implizit, in Abgrenzung oder Anlehnung, jeder Berndeutsch-Rechtschreibevorschlag. Weil Sprache aber kein für sich isoliertes Phänomen expositionen 5 ist, sondern intensiv mit der persönlichen Identität, damit auch mit der Gesellschaft und ergo politischen Interessen zusammenhängt, können Anleihen bei anderen Sprachen zu Konflikten und (Verlust-)Ängsten führen. Dass die Mundart als von der Standardsprache bedroht wahrgenommen wird, ist kein neues Phänomen. So schrieb der Zürcher Romanist Heinrich Morf schon im Jahr 1901: «In absehbarer Zeit wird die Verkehrssprache in Städten wie Basel und Zürich hochdeutsch [sic] sein.» Die Diskussion um die Bedrohung der Mundart ist auch heute noch hochaktuell. Das zeigt etwa die aktuelle politische Debatte um Standarddeutsch im Kindergarten und Schulunterricht, oder das Dossier zur «Mundart-Debatte» auf tagesanzeiger.ch. Dort generierten diverse Artikel jeweils mehrere Hundert Kommentare (u.a. Beiträge von Peter von Matt: Der Dialekt als Sprache des Herzens? Pardon, das ist Kitsch!, oder Iwar Werlen: «Bereits 1875 glaubte man, Schweizerdeutsch stürbe aus»). Für eine Norm «fehlen jegliche institutionellen und sprachpolitischen Voraussetzungen». Einer Sprache zu einer Schriftform zu verhelfen, hat also auch einen politischen Hintergrund. Der Spruch «a language is a dialect with an army and a navy» besagt, dass eine Sprache dann als Sprache gilt, wenn ihre Sprechergemeinschaft über genügend (politischen, militärischen) Einfluss verfügt. Wenn man das umdreht, könnte man auch sagen, dass, wer eine eigene Sprache hat, auch eine legitime und ernstzunehmende Nation ist. Eine Voraussetzung dafür, dass eine Sprache als (Ausbau-)Sprache und nicht lediglich als Dialekt gilt, ist, dass es sich um eine Schriftsprache handelt. Denkt man die Ängste mit, dass die Schweizer Dialekte durch das Standarddeutsche vereinnahmt würden, erstaunt es wenig, dass es in der (Deutsch-)Schweiz – gerade in den 1930er Jahren – sprachpflegerische Strömungen gab, die teils auch eine Rechtschreibenorm zum Ziel hatten. Wer die eigene Sprache mit einer Schriftform stärkt, grenzt sich ab und stärkt die eigene Nation. Radikal: Emil Baer und die «gemeinschweizerische Sprache» Heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist der Normierungsversuch von Emil Baer. Der Pfarrer und Sprachwissenschaftler wollte 1937 eine šwizer folchsšrift («Schweizer Volksschrift») schaffen. Wie radikal er dabei vorging, zeigt sich bereits im Titel: Einerseits setzte er auf konsequente Kleinschreibung, andererseits wollte er nach dem Prinzip «ein Buchstabe für jeden Laut» neue Buchstaben einführen und andere weglassen. So würde eben statt <sch> neu <š> ge- schrieben oder statt <ng> <ŋ>. Statt <qu> steht <kw>, und <c>, <v>, <x> und <y> sollen nur noch in «wissenschaftlichen Fremdwörtern» gebraucht werden. Dies, damit die Hochsprache auch als Wissenschaftssprache taugt. Baer hatte tatsächlich eine Ausbausprache vor Augen: Im Anhang seines Werkes liefert er Beispieltexte für Geschäftskorrespondenz, private Briefe, einen Nekrolog, einen Schulaufsatz, Vereinsstatuten oder Zeitungsannoncen. Selbst die Namen wollte er nach der Lautung schreiben. Hansjakob Gutknecht hätte also neu mit <Hansjokeb Guetchnächt> unterschrieben. Dass sich Baers Vorschlag nicht durchsetzte, hatte verschiedene Gründe. Es liegt beispielsweise auf der Hand, dass eine solche Schriftsprache den Austausch mit dem deutschsprachigen Ausland erheblich erschwert hätte. Ausserdem wollte Baer (1937: 31) die Unterschiede zwischen den Dialekten verwischen. Sein Ziel war ein «Gemeinalemannisch»: «Nienen uf der wält šribt es folch si šproch uf die art, das es ietwederem frei gštelt wär d wort eso z šribe, wien är s na siner ortsmundart oder šprächgwonet zuefelig seit.» («Nirgends auf der Welt schreibt ein Volk seine Sprache auf die Art, dass es jedem freigestellt wäre, die Wörter so zu schreiben, wie er sie in seiner Ortsmundart oder nach seiner Sprechgewohnheit zufällig sagt.») Das Gegenstück: Eugen Dieths Dialäktschrit Ein weitaus grösserer Erfolg war der Dialäktschrift von Eugen Dieth beschieden, die 1938 fast gleichzeitig wie Baers Regelvorschlag herausgegeben wurde. Die Dialäktschrift ist bis heute bekannt und ein unverzichtbares Referenzwerk. Allerdings hatte sie gerade beim Berndeutsch Mühe, sich durchzusetzen (vgl. unten). Dieth verfolgt im Vergleich zu Baer einen diametral entgegengesetzten Ansatz: Ihm geht es darum, die Eigenheiten und Unterschiede eines jeden Dialekts möglichst lautgetreu wiedergeben zu können. Auch Sprechende anderer Dialekte sollen aufgrund des Schriftbildes ableiten können, «wie es tönt». Wer Dialekt schreibe, solle in erster Linie seinem Gehör folgen. «Eine feste, einheitliche Norm, wie die hochdeutsche Schreibnorm, ist weder angestrebt noch erwünscht.» (Dieth 1986: 21) Eines der wichtigsten Merkmale der Dieth-Schreibung ist die Kennzeichnung der Vokallänge durch Verdoppelungen. Andere Dehnungsmarkierungen (etwa <h>) sind nicht zulässig. Das hat zur Folge, dass das Schriftbild auch bei eigentlich identischen Lexemen von jenem des Standarddeutschen sehr oft abweicht und damit gewöhnungsbedürftiger wird. Der Mittelweg (und Berner Königsweg): Werner Martis Bärndütschi Schrybwys Der in Bern bekannte Ansatz Werner Martis unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von jenen Baers und Dieths. Erstens ist er jüngeren Datums (Erstauflage 1972), zweitens beschränkt er sich aufs Berndeutsche und beansprucht nicht Geltung für sämtliche deutschschweizer Dialekte. Und drit- 6 tens wählt er einen Mittelweg: Marti will weder eine neue (Schrift-)Sprache kreieren noch zur lautgetreuen Schrift umgewöhnen, sondern sich im Interesse des Leseflusses wo immer möglich an der Standard-Orthographie orientieren. Zuviel Lauttreue sei nicht sinnvoll, denn erstens behindere sie den Lesefluss, und zweitens sei es ohnehin eine Illusion, dass jemand aus einer anderen Sprachregion «solche Texte wirklich ‹richtig› (vor)lesen kann, welche Schreibweise man auch immer anwendet.» (Marti 1985: 29) Von der StandardOrthographie soll da abgewichen werden, wo sie zu lautlichen Verfälschungen führe. Das Dehnungs-h bleibt also beispielsweise erlaubt. Obwohl dieser Ansatz zu einem schwer überschaubaren Dickicht von Einzel- und Sonderregeln führt, hat sich im berndeutschen Sprachraum Martis Regelwerk noch am ehesten etabliert, während im Rest der Deutschschweiz oft auf Dieth rekurriert wird. Dies liegt unter anderem an einer grossen Berndeutsch-Tradition in der Literatur, die sich zunächst sehr stark am Standard orientiert hat. Martis Regelwerk führt hier nicht zu einem Bruch, oder wie er selbst sagt: «Der Schriftsteller selbst müsste sich völlig umgewöhnen, und das will er (meistens) nicht.» (Marti 1985: 25) Den Berndeutsch Schreibenden auf den Griffel geschaut Vom geschichtlichen Rückblick zur (Schreib-)Gegenwart: Ein exemplarischer Blick in Texte von Berndeutsch-Autoren zeigt sehr schnell, dass die Spannweite der angewandten Konventionen sehr gross ist. Beispiel Kennzeichnung der Vokallänge: Der Sprachwissenschaftler Christian Schmid verdoppelt lange Vokale in seiner Berndeutsch-Kolumne im kleinen Bund (2009) konsequent und folgt damit Dieth. Der Schriftsteller Pedro Lenz (2008: Plötzlech hets di am Füdle) kennzeichnet manche Längen und andere nicht, ohne dass sich ein dahinter verborgenes System erschliessen lassen würde. Trotzdem ist bei ihm die Sensibilität viel höher als im CD-Booklet von Züri West (2008: haubi Songs), in dem Längen manchmal durch Verdoppelung oder Dehnungs-h gekennzeichnet werden und manchmal gar nicht. Erstaunlich ist, dass es bei Züri West sogar zu falschen Längenkennzeichnungen kommt, sei es durch Verdoppelung (wohl in Anlehnung an Zürichdeutsch: Ziit) oder durch eine falsche Analogie zum Standard (schiele, liegsch). Auch Patent Ochsner (2008: The Rimini Flashdown) arbeitet mit Verdoppelungen, Dehnungs-h und <ie> oder ohne Kennzeichnung. Noch um einiges weniger regelhaft als in diesen öffentlichen Texten ist die Schreibung in privaten Texten, wozu insbesondere die leicht zu untersuchenden Chats zählen. In entsprechenden Studien ist von «normfreier» geschriebener Dialektsprache die Rede. Trotz der daraus resultierenden Variabilität scheinen sich die Chattenden relativ gut zu verstehen – Verständigung kann also auch ohne Norm funktionieren. Normlos glücklich? Die Frage, «wi me daas schribt», lässt sich also vorderhand fürs Berndeutsche nicht beantworten. Vor allem bei den Vo- kalen bleiben viele Fragen offen: Soll man das «me» («man») mit <e> oder <ä> verschriften? Hier würden zwar alle Regelwerke für ein <e> plädieren, trotzdem liest man oft <ä>. Soll man die Länge in «daas» verschriften, oder doch lieber nur <a> schreiben? Oder wäre es vielleicht sogar der Sprachrealität angemessener, von einem silbischen <ds> auszugehen? Solche Fragen müssen Berndeutsch-Schreibende vorderhand individuell für sich beantworten – und sie werden es auch in absehbarer Zukunft tun müssen; für eine Norm fehlen schliesslich «jegliche institutionellen und sprachpolitischen Voraussetzungen» (Lötscher 1990: 202). Wir sind also wieder bei der Verbindung von Sprache und Politik: Ohne politische Macht etwa in Form einer amtlichen Rechtschreibung wird sich kaum eine Norm durchsetzen, wie sie für das Standarddeutsche bekannt ist. Baer, Emil; Baur, Arthur 1937: Šribed wien er reded! Ifüerig id Šwizer Folchsšrift Dieth, Eugen 1986: Schwyzertütschi Dialäktschrift. Dieth-Schreibung (2. Aufl., bearbeitet und hg. von Christian Schmid-Cadalbert) Fuhrhop, Nanna 2006: Orthografie Marti, Werner 1985: Bärndütschi Schrybwys. Ein Wegweiser zum Aufschreiben in berndeutscher Sprache (2., überarbeitete Auflage) Lötscher, Andreas 1990: Zum Problem der Normalisierung der Mundartschreibung im Schweizerdeutschen. In: Philipp, Marthe (Hg.): Alemannische Dialektologie im Computer-Zeitalter. 191-207 Dossier «Die Mundart-Debatte». Im Internet unter: http://www.tagesanzeiger.ch/dossiers/kultur/dossier2. html?dossier_id=548 (Stand vom 5. 11. 2010) Thomas Kobel studiert im 9. Semester Germanistik und Philosophie. Der vorliegende Text basiert auf seiner Bachelor-Arbeit. expositionen 7 «Da hast du Ruhm!» oder vom Verstehen ohne Sprache Donald Davidsons Argument gegen die Standardtheorie der Sprache Andreas Heise rauchen wir eine Sprache, um die Äusserungen eines anderen Menschen zu verstehen? Ja, lautet die landläuige Antwort. Nein, meint der Sprachphilosoph Donald Davidson, denn wir können scheinbar unverständliche Äusserungen wie Malapropismen verstehen. Dieser Umstand ist unvereinbar mit der herkömmlichen Idee einer Sprache. B Hannah studiert Geschichte und sitzt mit Stefan am Tisch bei einer Flasche Wein. Sie rekonstruieren ein gemeinsames Erlebnis, das fünf Jahre her ist. «Schau her, die Geschichtsstudentin betreibt die Hysterografie des eigenen Lebens», bringt Stefan mittendrin leicht lallend hervor. «Du meinst eher Historiograie», sagt darauf Hannah. Stefan unterläuft ein Malapropismus. Malapropismen sind verfehlte Verwendungen von Wörtern, häufig Fremdwörtern. Eine philosophisch spannende Frage lautet: Sind Malapropismen sprachliche Fehler? Der amerikanische Philosoph Donald Davidson hat sich dieser Frage angenommen und gibt zur Antwort: «Ja, aber in einem uninteressanten Sinn.» Wenn Stefan den sprachlichen Ausdruck «Hysterografie» braucht, wenn er den Begriff der Historiograie meint, dann stimmt dieser Gebrauch nicht damit überein, was in einem guten Wörterbuch steht oder was eine Befragung erlesener Expertinnen ergeben würde. Dies ist für Davidson jedoch bloss eine «seichte Konzeption» des richtigen Sprachgebrauchs. Nach ihm brauchen wir einen «tieferen Begriff» dessen, was die im Kontext geäusserten Wörter bedeuten. Für Davidson soll dieser tiefere Begriff insbesondere einen Unterschied ermöglichen zwischen dem, was die Sprecherin bei einer bestimmten Gelegenheit meint oder implikiert, also die Sprecherbedeutung im Sinne des Sprachphilosophen Paul Grice, und dem, was ihre Wörter bedeuten, also die buchstäbliche oder wörtliche Bedeutung. Diese Unterscheidung ist jedoch bedroht durch Malapropismen. Denn hier scheint es, als träte die beabsichtigte Bedeutung an die Stelle der wörtlichen. Um diesem Problem zu begegnen, entwickelt Davidson den Begriff der Erstbedeutung. Davidsons Begriff der Erstbedeutung Die Absichten, die einer sprachlichen Äusserung zugrunde liegen, sind in der Regel in Zweck-Mittel-Relationen geordnet. Wenn beispielsweise Diogenes gegenüber Alexander die Worte spricht «Würdest du mir aus der Sonne gehen?», dann geschieht dies in der Absicht (A1), eine Äusserung zu machen, die von Alexander als wahr interpretiert wird immer dann und nur dann, wenn er Diogenes aus der Sonne gehen würde. In (A2), Alexander darum zu bitten, ihm aus der Sonne zu gehen (die Illokution im Sinne John L. Austins). In (A3), dass sich Alexander von dem Platz vor der Sonne wegbewegt (die Perlokution in Austins Sinne). Und in der Absicht (A4), der Nachwelt eine gute Anekdote zu hinterlassen. Zu diesen Absichten kommen die Grice’schen Absichten dazu, wonach Diogenes einige dieser Zwecke verfolgt, indem er Alexander einige der beteiligten Absichten erkennen lässt. Eine solche relexive Absicht ist gegeben bei der Absicht, in einer bestimmten Weise interpretiert zu werden (A1), sowie bei der Absicht, Alexander zu bitten, ihm aus der Sonne zu gehen (A2). Die Erstbedeutung wird nun festgelegt durch die erste Absicht in einer solchen Kette von Absichten, die einer Grice’schen reflexiven Absicht bedarf. Der Begriff der Erstbedeutung nun ist in seiner vorläufigen Bestimmung nicht auf sprachliche Zeichen, sprich Wörter einer natürlichen Sprache beschränkt. Er umfasst ebenso nichtsprachliche Zeichen, die nichtnatürlich bedeuten, beispielsweise ein absichtliches Zwinkern, mit welchem man zu verstehen geben kann, dass man jemanden mag. Damit entspricht der Begriff der Erstbedeutung bis auf weiteres demjenigen der nichtnatürlichen Bedeutung bei Grice. Was muss zu diesem Begriff hinzukommen, wenn die Erstbedeutung auf eine linguistische oder sprachliche Bedeutung im engeren Sinn beschränkt werden soll? Sprachliche Bedeutung und die Standardtheorie Auf diese Frage, die Frage nach dem Wesen der Sprache sozusagen, gibt Davidson zunächst die Antwort, die seines Erachtens die landläufige ist. Eine Sprache ist demnach ein System, das der Sprecherin und Hörerin gemeinsam ist und das die Artikulation logischer Beziehungen zwischen Äusserungen ermöglicht sowie die Fähigkeit erklärt, bisher unbekannte Äusserungen in geordneter Weise zu interpretieren. Diese Auffassung sei die Standardtheorie der Sprache. Gemäss der Standardtheorie ist die wörtliche Bedeutung oder Erstbedeutung durch folgende drei Prinzipien gekennzeichnet: (P1) Erstbedeutung ist systematisch: Eine kompetente Sprecherin oder Interpretin ist in der Lage, Äusserungen aufgrund der semantischen Eigenschaften der in der jeweiligen Äusserung enthaltenen Bestandteile oder Wörter sowie aufgrund der Struktur dieser Äusserung zu interpretieren. Damit dies möglich ist, müssen zwischen den Bedeutungen verschiede- 8 ner Äusserungen systematische Beziehungen bestehen. (P2) Erstbedeutungen sind etwas Gemeinschaftliches: Damit Sprecherin und Interpretin erfolgreich und regelmässig miteinander kommunizieren können, muss ihnen eine Interpretationsmethode der unter (P1) beschrieben Art gemeinsam sein. (P3) Erstbedeutungen werden durch erlernte Konventionen oder Regelmässigkeiten bestimmt: Die systematische Kenntnis oder Kompetenz von Sprecherin oder Interpretin ist erlernt, ehe sich Gelegenheiten der Interpretation ergeben, und sie ist durch Konventionen bestimmt. Das Argument gegen die Standardtheorie Davidson legt es darauf an zu zeigen, dass Phänomene des Bedeutungswechsels wie Malapropismen die Standardtheorie der Sprache widerlegen. Um seinen Punkt zu machen, trifft Davidson folgende Annahme: (PM1) Phänomene des Bedeutungswechsels wie Malapropismen beeinträchtigen das wörtliche Verstehen nicht notwendigerweise. Für Davidson weist sich in der Folge, dass die Standardtheorie dem in (PM1) ausgedrückten Umstand nicht Rechnung tragen kann. Ob man jedoch geneigt ist, Davidson (PM1) einzuräumen, hängt an der Überzeugungskraft von Beispielen wie das von Hannah und Stefan. Um des Arguments willen, werde ich Davidson (PM1) zugestehen. Allerdings ist es angebracht zu bemerken, dass Malapropismen die Verständigung mindestens erschweren können. Wenn sie Verständigung aber nicht in jedem Fall zum Scheitern bringen, dann trifft (PM1) zu. Der entscheidende Punkt ist dann, wie man erklären soll, dass Malapropismen die Verständigung mitunter nicht beeinträchtigen. Wie könnte man mit der Standardtheorie eine Rekonstruktion dessen liefern, dass Verstehen bei Bedeutungswechseln möglich ist? Man versteht eine Person nicht deshalb, weil ihre Äusserung diese und diese Bedeutung hat, sondern ihre Äusserung hat diese und diese Bedeutung, weil man sie so versteht. Eine Rekonstruktion des wörtlichen Verstehens für unseren Beispielfall könnte wie folgt aussehen: Hannah hat Stefan nur und genau deswegen verstanden, weil … (a) Hannah über den Begriff Historiograie verfügt und (b) entweder (b1) oder (b2) der Fall ist: (b1) Hannah kennt die Bedeutung von «Hysterografie». Aufgrund des Gesprächsverlaufs, der Unterstellung von Stefans Rationalität und des Kontextes schliesst sie, dass Stefan nicht von einer röntgenologischen Untersuchung der Ge- bärmutter sprechen wollte, sondern von Geschichtsschreibung. Also meinte Stefan nicht Hysterograie, sondern Historiograie. (b2) Hannah kennt die Bedeutung von «Hysterografie» nicht. Sie erkennt aber den ähnlichen Klang zu «Historiografie». Aufgrund des Gesprächsverlauf, der Unterstellung von Stefans Rationalität, des Kontextes (Stefan ist angetrunken) und dem Wissen um die generelle menschliche Fehleranfälligkeit sowie um die spezielle menschliche Fehleranfälligkeit bei Alkoholeinfluss schliesst sie, dass Stefan von Geschichtsschreibung sprechen wollte. Also meinte Stefan Historiograie. Erstens muss um des Arguments willen festgesetzt werden, dass Stefan wirklich einen Malapropismus beging. Stefan machte kein absichtliches Wortspiel, sonach liegt keine implikierte Sprecherbedeutung vor. Dass Malapropismen keine Implikaturen sind, ist einer der springende Punkte für Davidson, zumal Implikaturen nicht allein auf der Ebene der Erstbedeutung operieren, sondern weitere Grice’sche Absichten involvieren. Malapropsimen sind für Davidson jedoch Phänomene, die nur die Ebene der Erstbedeutung betreffen. Zweitens ist es wichtig, Bedingung (a) hervorzuheben. (a) ist nämlich eine entscheidende Voraussetzung für Davidsons Argument, und zwar insofern, als dass damit Fragen der Interpretation und des Spracherwerbs entkoppelt werden. Davidson setzt mit einem Wort voraus, dass die Interpretin selbst bereits über «eine Sprache» verfügt, sprich über ein ausgebildetes Arsenal von Begriffen, welches insbesondere «Historiografie» einschliesst. Das Problem der Ähnlichkeit Wenn man unter Davidsons Voraussetzungen weiterhin für eine standardtheoretische Auffassung argumentieren will, so müsste man zeigen, dass bei der vorgebrachten Rekonstruktion Regeln oder Konventionen ins Spiel kommen. Nun ist gemäss der Standardtheorie per Konvention geregelt, dass dem sprachlichen Ausdruck «Hysterografie» die Bedeutung Hysterograie zukommt sowie dem sprachlichen Ausdruck «Historiografie» die Bedeutung Historiograie. Wenn es möglich ist, dass der sprachliche Ausdruck «Hysterografie» in der Bedeutung von Historiografie aufgefasst werden kann, dann müsste dieser Bedeutungswechsel des sprachlichen Ausdrucks «Hysterografie» durch Konventionen erklärt werden, wenn der konventionelle Charakter dieser Zuordnung gewahrt werden soll. Es müsste eine Regel geben, über die Hannah bereits vor Stefans Äusserung verfügt, und die sie lediglich anzuwenden braucht. Gibt es aber eine solche Regel, der Hannah in dieser Rekonstruktion folgt? Man könnte sagen, dass die Regel sich irgendwie auf die klangliche Ähnlichkeit der beiden sprachlichen Ausdrücke bezieht. Hier stellen sich indes zwei Probleme. Erstens müsste man die Relation der Ähnlichkeit genauer beschreiben und in eine Regel fassen können. Dies dürfte sich schwierig gestalten, weil Ähnlichkeit eine graduelle und ungenaue Relation ist. «Alles ähnelt allem in irgend- expositionen 9 einer Weise», behauptet Davidson gar zugespitzt. Selbst wenn dieses standardtheoretische Unterfangen gelänge, verfügt Davidson noch über einen zusätzlichen, gewichtigeren Einwand. Demgemäss sind Malapropismen nicht die einzigen Fälle von Bedeutungswechseln. Bedeutungswechsel mit Zusatzinformation Es ist auch möglich, dass zwischen sprachlichem Ausdruck und beabsichtigter Erstbedeutung keine klangliche Ähnlichkeit besteht, und die Sprecherin trotzdem «durchkommt», die Interpretin also die beabsichtigte Erstbedeutung erfasst. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn uns die Sprecherin im Zuge der Äusserung selbst mit Informationen versieht, die uns helfen, die Äusserung zu verstehen. Das klassische Beispiel dazu liefert Lewis Carrolls Through the Looking Glass: Humpty Dumpty versucht Alice von den Vorteilen zu überzeugen, den Nichtgeburtstag zu feiern anstatt den Geburtstag, und beendet seine Ausführungen mit: «Da hast du Ruhm!» Darauf erwidert Alice, dass sie nicht wisse, was Humpty Dumpty mit «Ruhm» meine. «Natürlich nicht –», antwortet Humpty Dumpty, «bis ich es dir sage. Ich meinte: Da hast du ein schön zwingendes Argument!» Alles ähnelt allem Weise. Wenn wir Humpty Dumpty unterstellen, dass er vernünftig ist, dann können wir gemäss Davidson seine Äusserung «Da hast du Ruhm» wörtlich so verstehen wie «Da hast du ein schön zwingendes Argument», und zwar weil wir die Zusatzinformation haben, dass er «Ruhm» so verwendet wissen will. An diesem Punkt sind viele geneigt, Davidsons Ansatz zu verabschieden. Zu offensichtlich absurd scheint dieser Schluss. Indes, es gilt die Annahme der Rationalität zu berücksichtigen. Humpty Dumpty kann nur solange mit seinem eigentümlichen Wortgebrauch durchkommen, wie wir Anlass haben zur Vermutung, er verhalte sich sonst im Grossen und Ganzen rational. Der systematische Punkt der Zusatzinformationen ist dieser: Wenn eine Sprecherin, die einen Bedeutungswechsel vornimmt, verstanden werden kann, auch ohne dass eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Äusserung und der beabsichtigten Interpretation besteht, dann scheint die Zahl der Möglichkeiten, wie die Sprecherin Verständigung sicherzustellen vermag, theoretisch unendlich. Dies trifft zu, da Verständnis in gewissen Fällen allein aufgrund von Zusatzinformationen entsteht, von denen die Sprecherin vernünftigerweise annehmen kann, dass sie der Interpretin zur Verfügung stehen. Wie diese zahllosen Möglichkeiten von Bedeutungswechseln systematisiert, in Regelform gebracht und von einer Interpretin mit endlichem Verstand hätten erlernt werden können, erscheint damit fragwürdig. (P3) wäre sonach verletzt und die Standardtheorie aufzugeben. Davidsons Wende: von der Bedeutung zur Verständigung Die Standardtheorie vermag laut Davidson keinen Begriff der Erstbedeutung zu liefern, der erklären könnte, weshalb wir in der Lage sind Bedeutungswechsel zu verstehen. Aus dem Problem der Bedeutungswechsel zieht Davidson jedoch nicht allein den negativen Schluss, die Standardtheorie bachab zu schicken, sondern einen weiteren, der zu einer grundlegenden Neuausrichtung in der Sprachphilosophie führt: Es ist nicht die Erstbedeutung einer Äusserung, die zur Verständigung führt, sondern es ist Verständigung, die die Erstbedeutung einer Äusserung erst festlegt. Für Davidson ist Erstbedeutung mit anderen Worten derivativ gegenüber Verständigung – und nicht umgekehrt, wie es häufig konstruiert wird. Man versteht eine Person wie Stefan nicht deshalb, weil seine Äusserung wörtlich diese und diese Bedeutung hat, sondern die Äusserung von Stefan bedeutet wörtlich dies und das, weil man sie so versteht. «Meaning […] gets its life from those situations in which someone intends (or assumes or expects) that his words will be understood in a certain way, and they are. In in irgendeiner such cases we can say without hesitation: how he intended to be understood, and was understood, is what he, and his words, literally meant on that occasion. There are many other interpretations we give to the notion of (literal, verbal) meaning, but the rest are parasitic on this. […] Where understanding matches intent we can, if we please, speak of ‹the› meaning; but it is understanding that gives life to meaning, not the other way round.» (Davidson 1994: 11f.) Davidsons sprachphilosophische Wende zieht indes Probleme nach sich. Zwei davon möchte ich abschliessend beleuchten: 1. Kann man nicht sagen, jemand meine etwas mit seiner Äusserung, selbst dann, wenn diese Äusserung nicht verstanden wird? 2. Was aber ist das Kriterium dafür, ob eine Äusserung richtig verstanden wird? Schliesslich besteht die Möglichkeit von Missverständnissen. Zu 1.: Es bietet sich an, mindestens zwei Fälle zu unterscheiden, in denen die Äusserung einer Sprecherin nicht verstanden wird. Einerseits sind Fälle denkbar, in denen beispielsweise eine vorbeifahrende S-Bahn die Sprecherin schlicht übertönt und ihre Äusserung deswegen nicht verstehbar ist. Solche Störquellen sind kontingent. Solange die semantische Absicht der Sprecherin rational ist, kann Davidson diesen Fällen Rechnung tragen: «So if a speaker reasonably believes he will be interpreted in a certain way, and speaks with the intention of being so 10 understood, we may choose to say he means what (in the primary sense) he would have meant if he had been understood as he expected and intended. Reasonable belief is itself such a flexible concept that we may want to add that there must be people who would understand the speaker as he intends, and the speaker reasonably believes he is speaking to such a person.» (Davidson 1994: 12f.) Mit dem Begriff der vernünftigen Überzeugung («rational beflief») ist zugleich die zweite Art von Fällen charakterisiert, in denen Äusserungen nicht verstanden werden, wenn sie nämlich nicht rational sind. Hier schweben Davidson vermutlich pathologische Fälle vor. Wenn tatsächlich kein Anlass besteht, einem Menschen Rationalität zu unterstellen, dann können wir den Äusserungen dieses Menschen letztlich keinen Sinn abgewinnen, und umgekehrt. Ein Mensch meint dann eben nichts mit seiner Äusserung. Humpty Dumpty ist in dieser Hinsicht ein Grenzfall. Zu 2.: Missverständnisse setzen Verständnis voraus, so sieht eine saloppe Antwort mit Davidson aus. Davidson hat bei seinen Analysen stets konkrete raum-zeitliche Interpretationssituationen vor Augen. Ein Missverständnis liesse sich sonach charakterisieren als ein Verständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt, welches ein zeitlich früheres Verständnis uminterpretiert. Für nahezu jede Interpretation einer Äusserung besteht die Möglichkeit, dass wir sie zu einem späteren Zeitpunkt revidieren. Dies gesteht Davidson zu. Aber erst dann, wenn die Revision erfolgt, kann – im Rückblick – von einem Missverständnis die Rede sein. Es ergibt mit anderen Worten keinen Sinn Folgendes zu behaupten: «Diese Deine Äusserung missverstehe ich jetzt gerade.» Verständigung, wörtliches Verstehen als Erfassen der Erstbedeutung, ist für Davidson der grundlegende Begriff einer Theorie der Kommunikation. Hinter diesen kann man nicht weiter zurückgehen. Bruderer, Urs 1997: Verstehen ohne Sprache. Zu Donald Davidsons Szenario der radikalen Interpretation Davidson, Donald 1986: A Nice Derangement of Epitaphs. In: LePore, Ernest (Hg.): Truth and Interpretation: Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson. 433-446 Davidson, Donald 1994: The Social Aspect of Language. In: McGuinness, Brian et al. (Hgg.): The Philosophy of Michael Dummett. 1-16 Davidson, Donald 2001: Communication and Convention. In: Ders.: Inquiries into Truth and Interpretation. 265-280 Simpson, David 2003: Interpretation and Skill: On Passing Theory. In: Preyer, Gerhard et al. (Hgg.): Concepts of Meaning. Framing an Integrated Theory of Linguistic Behavior. 251-266 Andreas Heise studierte Philosophie und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bern, Wien und Zürich. Der Text basiert auf einem Kapitel seiner Lizentiatsarbeit Literarische Sprache und Donald Davidson und Literarische Sprache. Die Arbeit versucht Davidsons Theorie der Sprache und der Interpretation fruchtbar zu machen für literaturwissenschaftliche Probleme wie den impliziten Autor und erzählerische Unzuverlässigkeit. Die Verwendung von Anführungszeichen und Kursivsetzung folgt den Konventionen in der Philosophie. expositionen 11 Tageschronist mit scharfer Feder Der Nachlass von Ossip Kalenter (1900-1976) Natascha Fuchs D er vor allem in Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Präsident des Exil-PEN erwähnte Feuilletonist Ossip Kalenter hat einen umfangreichen Nachlass hinterlassen. Was aber macht man mit dem Nachlass eines vergessenen Schriftstellers? Man sichtet ihn. Und hofft auf Funde, die grössere Zusammenhänge eröffnen. Auf 42 Archivschachteln mit Briefen, Manuskripten, Typoskripten, Druckfahnen, Tagebüchern, Notizen, Zeitungsausschnitten und weiteren Materialien ist Ossip Kalenters Nachlass, der ursprünglich in Koffern und einer Holzkiste gelagert war, mittlerweile verteilt, und noch warten viele Konvolute auf eine gründliche Sichtung. Die Vielzahl unterschiedlicher Dokumente ist charakteristisch für die breite Tätigkeit des Feuilletonisten, Reiseerzählers und Publizisten Kalenter. Geboren 1900 in Dresden, sprach er in Anspielung auf Heinrich Heine von sich als einem «der ersten Männer seines Jahrhunderts». Seinen bürgerlichen Namen Johannes Burkhardt streifte er früh zu Gunsten des Pseudonyms Ossip Kalenter ab, um zu Beginn der Zwanziger Jahre in den wichtigen Feuilletons der «Frankfurter Zeitung», des «Berliner Tageblatt» oder der «Basler Nachrichten» unter ebendiesem ‹nom de plume› zu veröffentlichen. Zu seinen frühesten Förderern gehörte auch Hugo Marti vom Berner «Bund». 1934 verlegte Kalenter seinen festen Wohnsitz von Italien, wo er seit 1924 lebte, nach Prag, um dort von 19371939 das Feuilleton des angesehenen «Prager Tagblatt» zu redigieren. Beim Einmarsch der Deutschen in Prag flüchtete er mit tschechoslowakischen Papieren nach Zürich, wo er zwar als politischer Flüchtling anerkannt, aber auch mit einem sieben Jahre währenden Arbeitsverbot belegt wurde, das erst 1947 vollständig aufgehoben wurde. Der Nachlass, der vor allem Dokumente aus der Zeit nach 1945 beinhaltet, liefert reichlich Anschauungsmaterial zu Kalenters Anstrengungen, sich nach dem langen Arbeitsverbot wieder eine Existenz aufzubauen. Im Exil Die unterschiedlich umfangreichen Korrespondenzen mit über vierhundert Briefpartnern, darunter – um nur einige wenige zu nennen – Max Brod, Albert Ehrenstein, Claire Goll, Richard Katz oder Wilhelm Sternfeld, dokumentieren neben Kalenters vielfältigen Bemühungen, die über die ganze Welt verstreute Exilgemeinde deutschsprachiger Schriftsteller zu unterstützen, auch das Bemühen eines emigrierten Autors, sich nach dem Krieg den Lebensunterhalt zu sichern. Eine bedeutende Rolle kommt hierbei der Exilzeitschrift «Aufbau» zu, die unter der Leitung von Manfred George zu einem der wichtigsten Foren deutschsprachiger Exilanten geworden war. Ende 1945 erhielt Kalenter von der kantonalen Fremdenpolizei die Genehmigung, für den «Aufbau» zu schreiben, und verfasste regelmässig längere und kürzere Beiträge sowohl für das politische Ressort wie auch für das Feuilleton. Unermüdlich rief er als Tageschronist mit scharfer Feder die Verbrechen zahlloser Nazi-Anhänger wieder und wieder ins Bewusstsein. Er berichtete von den Nürnberger Prozessen, verfasste Geburtstagsreden, erinnerte an Verstorbene, informierte über das schweizerische Rechtswesen, besprach Neuerscheinungen und Theateraufführungen. Als sein Arbeitsverbot 1947 vollständig aufgehoben wurde, veröffentlichte Kalenter nebst seinen Berichten für den «Aufbau» nach New York vermehrt auch wieder in Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. 1950 schliesslich war der finanzielle Druck so gross, dass er sich auch wieder um Publikationen in deutschen Feuilletons bemühte. Er bat seinen Kollegen Hellmut Schlien in einem Brief vom 4. Oktober 1950 um eine Übersicht über deutsche Zeitungen: «Ich muss, muss, muss das Deutschland-Geschäft aktivieren, denn hier ist in Anbetracht der Preise und der seit 1920 nicht erhöhten Honorare einfach nicht mehr zu leben.» Bereits einen Monat später schrieb er an Schlien, dass erste deutsche Blätter seine Feuilleton-Beiträge angenommen hätten. Kalenters Prosa-Miniaturen vermeiden polemische Schärfe – im Gegensatz zu seiner angriffigen Berichterstattung zur Tagespolitik für den «Aufbau», wo er sich nicht scheut, politisch brisante Debatten anzustossen. Auch seine ab 1950 wieder einsetzenden Buchpublikationen mit anmutigen Titeln wie Von irdischen Engeln und himmlischen Landschaften (1955), Die Liebschaften der Colombina (1957) oder Olivenland (1960) sind Zusammenstellungen von komischen und zuweilen frivolen oder märchenhaften Geschichten und Reisebeschreibungen, die ohne politische Untertöne auskommen. Ebenso gewissenhaft wie Kalenter seine privaten Briefwechsel aufbewahrte, sammelte er auch seine Korrespondenz mit verschiedenen Schweizer Behörden. Diese Konvolute beleuchten exemplarisch die schwierigen Existenzbedingungen, unter denen sich deutsche, österreichische oder tsche- 12 choslowakische Schriftsteller im Schweizer Exil während und nach dem Zweiten Weltkrieg zurechtfinden mussten. In regelmässigen Abständen erhielt Kalenter zwischen 1939 und 1945 die Aufforderung zur Ausreise, und wie so viele andere Emigranten musste auch er immer wieder seine Bemühungen um die Weiterreise in ein anderes Land nachweisen, damit seine Aufenthaltsgenehmigung um wenige Monate verlängert wurde. Wie sehr ihn diese Unsicherheit während den Kriegsjahren mitnahm, vertraute er seiner Bekannten Ingeborg Kemkes in einem Brief vom 5. Februar 1948 an: «Ich fand mich nur mühselig wieder ins Leben zurück und stehe auch heute noch nicht wieder so darin wie einst. Es war zu viel.» Nach Kriegsende gründete Kalenter zusammen mit weiteren Exilanten in Zürich den «Schutzverband Deutscher Schriftsteller» (SDS) mit dem Ziel, deutsche Exilanten nach Jahren der behördlichen Zurückweisung zu unterstützen. Konkret bestanden die Aufgaben des SDS in der Organisation von Vortragsabenden, im Prüfen von Manuskripten, in der Herausgabe eines Mitteilungsblattes, der Organisation von Rechtsbeistand bei urheberrechtlichen Streitfällen und in der Erteilung von Ratschlägen an hilfesuchende Kollegen. Im Nachlass Kalenters befindet sich ein mehr als dreihundert Seiten umfassendes Manuskript, das Beiträge von über vierzig deutschsprachigen Schriftstellern im Schweizer Exil enthält. Kalenter, der vom SDS mit der Redaktion der Anthologie betraut worden war und sehr viel Zeit in die Auswahl und Zusammenstellung des Manuskriptes investiert hatte, bemühte sich vergeblich, die Anthologie Sei still Gewalt ... Deutsche Dichtung in der Schweizer Emigration herauszugeben. Das Projekt scheiterte schliesslich an den Bedingungen, die der Europa-Verlag an eine Veröffentlichung knüpfte. Der Nachlass gibt nicht nur Aufschluss über die vielfältigen Tätigkeiten des Exilanten, der 1956 das Schweizer Bürgerrecht erhielt, sondern gewährt auch Einblicke in persönliche Freuden und Leiden. 1950 arbeitete Kalenter an einem Band mit Briefen von Rainer Maria Rilke an Mathilde Vollmoeller, die ihm von Hans Purrmann, dem späteren Ehemann von M. Vollmoeller, zur Sichtung und allfälligen Veröffentlichung überlassen worden waren. Als ihm die Erben von Rainer Maria Rilke die Publikation des fertiggestellten kommentierten Bandes unter Androhung gerichtlicher Schritte untersagten, zitierte er klammheimlich in einer seiner nächsten Veröffentlichung Von irdischen Engeln und himmlischen Landschaften einige Zeilen aus einem Brief von Rilke an M. Vollmoeller – der Insel-Verlag, der die Rechte von Rilkes Erben verwaltete, reagierte nie. Kalenter konnte seine Freude über diesen Streich, wie aus brieflichen Zeugnissen hervorgeht, nicht verhehlen und amüsierte sich diebisch darüber. Der PEN-Club Deutscher Autoren im Ausland 1957 wurde Ossip Kalenter zum Präsidenten des «PENCentre of German Writers Abroad» gewählt. Es handelte sich hierbei um die Nachfolgeorganisation des 1934 neu ge- gründeten deutschen PEN-Clubs, dessen erster Vorsitzender Heinrich Mann gewesen war. Zu dieser Neugründung im Exil kam es in Folge der ‹Gleichschaltung› des deutschen PEN-Zentrums durch die Nationalsozialisten kurz nach der Machtergreifung Hitlers und der ersten grossen Emigrationswelle deutscher Schriftsteller. Der deutsche PEN-Club im Exil wurde vom Internationalen PEN-Club offiziell anerkannt und versammelte deutschsprachige Schriftsteller aus der ganzen Welt bis zur Wiedereinrichtung eines deutschen PEN-Clubs 1948. Danach wurde er umbenannt in «PENClub Deutscher Autoren im Ausland, Sitz London» und bestand weiterhin, um die Anliegen deutscher und deutsch- «Ich fand mich nur mühselig wieder ins Leben zurück und stehe auch heute noch nicht wieder so darin wie einst. Es war zu viel.» schreibender Autoren, die nicht nach Deutschland zurückkehren wollten oder konnten, zu vertreten. Kalenter hatte die Diskussion um die Neugründung eines deutschen PENClubs als Sonderberichterstatter für die «United-Press» am Internationen PEN-Kongress in Zürich 1947 engagiert mitverfolgt und war auch am Internationalen PEN-Kongress in Kopenhagen 1948, an dem die Wiederzulassung eines PENZentrums in Deutschland beschlossen wurde, anwesend, diesmal als Mitglied des Exil-PENs in London. Er stand zudem in regelmässigem Briefkontakt mit Mitgliedern des Vorstandes und wurde insbesondere bei der Aufnahme neuer Mitglieder um seine Meinung gefragt und bemühte sich auch selbst, neue Mitglieder für den PEN-Club Deutscher Autoren im Ausland anzuwerben. An Richard Katz schrieb er am 21. Oktober 1948: «[W]ir möchten die Gruppe der deutschen Autoren im Ausland (die also nicht identisch ist mit der innerdeutschen PEN-Gruppe) möglichst repräsentativ ausbauen; darf ich fragen, ob Sie dem PEN angehören, früher angehörten oder heute anzugehören Neigung hätten? Ich werde von London dauernd um Vorschläge und Namen gebeten und würde mich sehr, sehr freuen, Sie vorschlagen zu dürfen». Seine breite Vernetzung und sein Engagement machten Kalenter schliesslich zum Kandidaten für das Amt des Präsidenten. Er selbst erklärte seine Wahl zum Präsidenten des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland in einem Brief an Rudolf Frank vom 29. Januar 1958 jedoch mit anderen Argumenten: «Dass meine Wahl eine Verlegenheitslösung war, brauche ich Ihnen wohl kaum zu erklären. Die Verlegenheit bestand darin, dass kaum einer aus dem Londoner Kreis mit seinen in der letzten Zeit ver- expositionen 13 öffentlichten Büchern, sofern er überhaupt welche veröffentlichte, das Echo fand, das mir, zu meiner eigenen Verwunderung, zuteil wurde. Dazu kamen lokale Gereiztheiten, denen ich – lokal wie real, d.h. ihrer Substanz nach – fern stehe. Es war ähnlich wie bei der Wahl Heinrichs VII. von Luxemburg. Jetzt muss ich nur acht geben, dass ich nicht auch noch wie dieser mit der vergifteten Hostie umgebracht werde.» Trotz der seiner Meinung nach eher zufälligen Wahl zum Präsidenten hielt Kalenter dieses Amt zehn Jahre lang inne und wurde 1967 zum zweiten Ehrenpräsidenten nach Thomas Mann ernannt. Durch die Sichtung, Ordnung und Inventarisierung der von Ossip Kalenter selbst angelegten Dossiers zum PEN mit Korrespondenzen, Zeitungsausschnitten und Dokumentationen wird die Geschichte des «PEN-Centre of German Writers Abroad» für die Forschung zugänglich. Ossip Kalenter gehört nicht zu den ‹bekannten› Namen, die bei der Beschäftigung mit der deutschsprachigen Exilliteratur immer wieder genannt werden. Sein Nachlass macht aber deutlich, wie wichtig neben der Beleuchtung von Einzelschicksalen der Blick auf Institutionen und Organisationen für die Exil-Thematik ist. Natascha Fuchs studiert Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Bern und arbeitet als Stipendiatin im Archiv des Robert Walser-Zentrums an der Inventarisierung des Nachlasses von Ossip Kalenter. Das Stipendium wurde ihr von der Christoph Geiser Stiftung zugesprochen, die den Zweck hat, Archive von Schriftstellerinnen und Schriftstellern nach wissenschaftlichen Kriterien zu erschliessen und sie in geeigneter Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Weitere Informationen unter www.cgst.ch / info@cgst.ch 14 Eine leere Architektur Micha Ullmans Mahnmal Die Bibliothek Claudia Bossard M icha Ullmans Mahnmal Die Bibliothek ist eine Versinnbildlichung von Leere und Abwesenheit. Das wirkt auf den ersten Blick irritierend, motiviert aber im selben Moment zu Sprache, weil es das Bedürfnis auslöst diese Leere irgendwie greifbar zu machen. Hier wird gezeigt, dass «Erinnerung» immer mit Kommunikation und Interaktion verbunden ist. Bricht diese ab oder verschwindet sie, ist Vergessen die Folge. «Gräbt man ein Loch, erweitert man den Himmel» (Micha Ullman) Ein Blick nach innen Die Bibliothek von Micha Ullman unter dem Bebelplatz in Berlin-Mitte ist tagsüber nur zufällig zu entdecken. Ohne das Wissen, dass in der Mitte des grossen Platzes, umrahmt von der Deutschen Staatsoper, der St.-Hedwigs-Kathedrale und der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität ein Mahnmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 errichtet worden ist, käme man nicht auf die Idee, den Boden genauer zu betrachten. Denn beim Betreten des Bebelplatzes fällt der Blick (wenn der Platz nicht gerade zu Werbezwecken von der Stadt Berlin vermietet wurde) auf eine Gebäudekulisse hinter einer großen, leeren, mit Kopfstein gepflasterten Fläche, in deren Mitte häufig einzelne Menschen stehen und auf den Boden starren. Aus der Ferne entsteht der Eindruck, die Besucher würden eine Art Kunstwerk darstellen. Aber dem ist nicht so: Stattdessen ist es Micha Ullmans Mahnmal, das einen Blick in die Tiefe und in das Innere des historisch bedeutsamen Platzes fordert. Seine Skulptur liegt unter der Erde und besteht aus einem abgeschlossenen Raum von sieben mal sieben Metern Grundfläche und fünf Metern Höhe, der nur von oben durch eine Glasplatte einsehbar ist. Ausgestattet ist die unterirdische Kammer mit leeren weißen Regalen aus Beton, in denen rund 20’000 Bücher Platz finden könnten – ungefähr so viele, wie vor 77 Jahren öffentlich verbrannt worden sind. Nachts wird der Raum beleuchtet und ein Lichtstrahl aus der gläsernen Öffnung geworfen, der sich weit über die Leere des Platzes verstreut und die Skulptur sichtbar erstrahlen lässt. Die Bibliothek erweckt beim Betreten der Glasplatte ein Gefühl des Unbehagens und der Angst. Die Leere der Grube erzeugt Sprachlosigkeit beim Betrachter und den Eindruck, ins Nichts zu fallen. Eine rätselhafte Arbeit, die nicht gegen den Himmel ragt. Paradoxerweise verkörperte der Bebelplatz unter Friedrich II. im 18. Jahrhundert das Zentrum des «Forum Fridericianum» und symbolisierte mit dem Bauensemble programmatische Ideen der Aufklärung wie Toleranz, Freiheit und Kultur. In der Mitte desselben Platzes verbrannten die deutsche Studentenschaft, die Hitlerjugend sowie NS-Mitglieder am 10. Mai 1933 tausende Bücher jüdischer, marxistischer und regimekritischer Autoren. Der symbolische Gewaltakt wurde, unterstützt von den propagandistischen Worten Joseph Goebbels und bejubelt von der Menschenmenge, als Spektakel gefeiert. Es war, mit Heinrich Heines Worten aus der Almansor-Tragödie, «ein Vorspiel nur, [denn] dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.» Anlässlich des 60. Jahrestages der Bücherverbrennung wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, um für den Bebelplatz ein zeitgemäßes Denkmal zu finden. Ullman überzeugte die Jury mit seinem Entwurf einer unterirdischen Bibliothek. Der Grund dafür liegt zum einen in der künstlerischen Qualität und ästhetischen Klarheit seiner Arbeit, die verschiedene Deutungsansätze zulässt, zum anderen aber auch in der eindrucksvollen Integration der historischen architektonischen Umgebung in das Gesamtbild der Skulptur (Endlich 2003: 253). Micha Ullman hat sein Mahnmal bewusst verschlüsselt angelegt (ebd.: 452). «Es soll für sich und aus sich heraus sprechen. Nur wenn die Skulptur autonom funktioniert, kann sie ihre totale Wirkung entfalten.» (Ullman zit. nach Endlich 1995: 158). Jan Mukarovský, der Ästhetiker und Mitbegründer der «Prager Schule», weist in seinem Vortrag Die Kunst als semiologisches Faktum auf die Notwendigkeit hin, Kunst semiologisch zu betrachten. Zentral in Mukarovský Theorie ist die Unterscheidung zwischen der autonomen und der kommunikativen Funktion des Kunstwerks. Sein ästhetisches Gehalt (nach Mukarovský: die ästhetische Funktion) verleiht einem Kunstwerk Autonomie und ermöglicht der Kunst so, den Fokus auf seine ihm eigene Wirklichkeit, Ausdrucksmöglichkeit und Gestaltungsweise zu lenken. Kunst besitzt immer eine autonome Funktion aber nicht zwingend eine kommunikative. Diese ist nur dann vorhanden, wenn ein Kunstobjekt ein spezifisches Sujet (Thema, Inhalt), das von einem Betrachter auch als solches wahrgenommen wird, behandelt. Zwischen der kommunikativen und autonomen Funktion besteht eine Dialektik, die ein kontinuierliches «Pendelschwingungsverhältnis» zwischen dem Kunstwerk und der Wirklichkeit erzeugt (Mukarovský 1970: 147). expositionen 15 Die Bibliothek ist als Auftragskunst zu verstehen, weil sie in Form eines Wettbewerbs ausgeschrieben wurde und ein konkretes Thema behandelt. Sie besitzt daher die autonome und kommunikative Funktion. Die Darstellung und Wirkung der Skulptur von Ullman kann autonom erfasst werden. Was außerhalb ihrer eigenen Existenz und Materialität vor sich geht, kann sie nicht berühren. Sie ist vor dem menschlichen Eingriff geschützt. Wenn die Leere des Bebelplatzes aber durch kommerzielle Nutzung gefüllt wird, ist dies für das Mahnmal eine gewaltsame Störung, weil die Leere des Platzes ein wichtiger Bestandteil der Skulptur ist und mit der leeren Bibliothek kommuniziert. Sie verstärkt die Abwesenheit der Bücher und darf nicht ‹gefüllt› werden, sonst verliert das gesamte Bild an Kraft, denn die Stärke der kommunikativen Funktion der Bibliothek liegt gerade in ihrer Ruhe und Stille. Ihre Ästhetik zwingt dem Betrachter keine Antworten und Anweisungen auf, sondern erzeugt eine Sprachlosigkeit und Fragen, die im Nachhinein zum Dialog motivieren. Eine Semiologie der Leere Die materielle Beschaffenheit der Bibliothek ist bescheiden und einfach gehalten: Ohne Details und Schnörkel bleibt sie auch in ihrer Ausgestaltung rudimentär und leer. In der Grube sind Büchergestelle angebracht, deren Inhalt – die Bücher – aber abwesend ist. So entsteht der Eindruck, als sei diese Arbeit nicht vollendet worden – als fehle noch etwas. Das materielle Artefakt der Bibliothek ist ein Loch im Boden, welches mit einer Glasplatte zur Oberfläche hin versiegelt ist. Was bedeutet nun diese von den Materialien erzeugte Leere und was insinuiert die Leere im Kollektivbewusstsein? Wenn wir versuchen, den abstrakten Begriff «Leere» semiologisch greifbar zu machen, so fehlt das physisch greifbare Referenzobjekt, da «Leere» immer auf einen fehlenden Inhalt verweist. Ein Zeichen kann zur Sache, die es bezeichnet, auch einen indirekten, metaphorischen Bezug herstellen. In diesem Sinne verweist die Darstellungsform der «Leere» auf Abwesenheit oder Verlust. Die Suche nach einer visualisierten Leere und Abwesenheit ist für Micha Ullmans Arbeiten charakteristisch: «In der Bildhauerei hat mich immer die Frage fasziniert, wie man mit dem Fehlenden, dem nicht Existierenden arbeitet, mit dem ‹Nichts›. Ein Loch ist eine Grundform, eine Urform, die beides umfasst, Werk und Werkstoff, und letztlich kommt man zu einem bildnerischen Ergebnis, dessen Essenz die Abwesenheit ist.» (Ullman zit. nach Endlich 2003: 450) Interessant ist, dass die Konzeption der Bibliothek nicht nur die Überlegung beinhaltet, wie Leere dargestellt werden kann, sondern die Materialität auch Leere hervorhebt und damit eine bildhafte «Essenz der Abwesenheit» schafft. Das materielle Artefakt der Bibliothek erzeugt visuelle Leere und kennzeichnet gleichzeitig seine Interpretation in Bezug auf das Thema Bücherverbrennung: als einen symbolischen Gewaltakt, um Kultur zu vernichten und Leere oder ein Vakuum zu erzeugen, und so Platz für neue Inhalte zu schaffen. Wenn die Bücherverbrennung als Versuch verstanden wird, «Geist» zu vernichten, ist dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt, da dieser, im Unterschied zu Papier und Büchern, durch Feuer nicht zu zerstören ist. So schrieb Heinrich Mann zur Bücherverbrennung: Abbildung 1: Thomas Kobel «Der Bücherverbrennung soll man gedenken – um der Ohnmacht willen, die sich erdreistete, Scheiterhaufen zu errichten für Geisteswerke: als ob Geisteswerke nicht feuerfest wären.» (Mann 1936: 772) 16 Über den Geist und seinen unzerstörbaren Charakter lässt sich eine Analogie zur Leere, zum Nichts und zur Luft herstellen. Die von Ullman gewählten Materialen sind ebenfalls feuerfest. Er hat ein sichtbares Vakuum aus Beton, Luft und Leere geschaffen. Die Metaphorik der Leere ist mannigfach: Sie kann mit dem Geist in Verbindung gebracht werden, aber auch mit der Abwesenheit, dem Nicht-mehr-vorhanden-sein und dem Tod. Ein Zustand der Leere versetzt den Menschen in Unsicherheit und Angst. Es sind dieselben Gefühle, die ein Betrachter erfährt, wenn er für kurze Zeit die Glasplatte der Skulptur betritt: das Gefühl, ins Nichts zu fallen. Camera obscura Micha Ullman beschreibt das architektonische Prinzip seiner Skulptur als Camera obscura, eine Kamera mit der Glasplatte als Film (Ullman 2006: 84). Eine Camera obscura ist ein dunkler Behälter oder Raum, in den durch ein kleines Loch Licht hineinfallen kann. Auf der gegenüberliegenden Seite entsteht dadurch ein auf dem Kopf stehendes Abbild. Die Farben und Perspektiven des so hineinprojizierten primären Bildes werden in seiner Ursprünglichkeit bewahrt. Je kleiner die Öffnung, desto schärfer wird die Abbildung und umgekehrt. Da die Bibliothek selbst die Camera obscura darstellt, ist sie der eigentliche Beobachter, der den Bebelplatz und somit auch uns – den Betrachter – sieht. Der Blick entspringt der Tiefe und es ist also entscheidend, was aus dem Inneren der Bibliothek herausdringt. Das die architektonische Funktionsweise der Methode der Camera obscura entspricht, bestätigt erneut den autonomen Charakter der Skulptur. Sie verwaltet sich in ihrer Abgeschlossenheit selbst und hält an ihrer Gestaltungsweise (der Leere) fest. Die Bibliothek gewährt dem Betrachter sowie sämtlichen Geräuschkulissen des Bebelplatzes und der Karl-Liebknecht-Strasse keinen Einlass. Sie kann ihre Ruhe bewahren, obwohl das Aussen ständig auf die Glasplatte treffen und einzudringen versuchen. Doch selbst Veränderungen des Lichteinfalls sind für den Innenraum der Bibliothek nicht entscheidend. Nur die Abbildung 2: © www.art-in-berlin.de Spiegelung des Betrachters ändert sich je nach Wetterbedingungen und Lichtverhältnis, nicht aber das Bild, das die Bibliothek abgibt: Ihr Blick nach aussen bleibt stets derselbe. Das Auge funktioniert nach demselben Prinzip wie eine Camera obscura, dementsprechend kann die Bibliothek in Analogie des menschlichen Auges gesehen werden. Auf der Glasplatte spiegeln sich die Spitzen aller Gebäude, die den Bebelplatz säumen, die die Bücherverbrennung von 1933 miterlebten und noch jetzt von dieser Vergangenheit zeugen. Jeder Besucher findet sich selbst, durch seine Spiegelung oder seinen Schatten, in der Grube wieder. Indem er durch sein Abbild hindurch die leeren weissen Regale sieht, wird er gemahnt an die mögliche eigene Gefährdung durch und Teilhabe an Ideologie und Mitläufertum. Wenn Wolken sich in der Grube spiegeln wird auf der spiegelnden Glasplatte ein gleissendes Licht erzeugt, das die Vorstellung von Feuer evoziert. Das Projizieren eines Bildes auf den leeren Film, also das Hinzufügen der Bücher, geschieht ohne Willen und Bewusstseinsanstrengung automatisch in den Köpfen der Betrachter. Die Bücher sind so abwesend, wie sie präsent sind. Gegen die Erinnerung Micha Ullmans Skulptur ist als Mahnmal zu begreifen und nicht als Denkmal. Zwischen den beiden Begriffen existiert zwar keine exakte Differenzierung, in den Wortstämmen lässt sich jedoch ein wesentlicher Unterschied feststellen. Das «Mahnen» birgt Warnung oder Gefahr in sich. Die Mahnung appelliert an ein «nie wieder», spricht aus einer negativen Erfahrung heraus und will einen bestimmten Sachverhalt bewusst in Erinnerung rufen. «Denken» hingegen verweist weniger auf ein negatives Ereignis und bietet einen freieren, individuelleren Assoziationsraum für Erinnerungen, Begriffe und Vorstellungen. Ein Mahnmal orientiert sich in seiner Ästhetik und Gestaltungsweise an den historischen Örtlichkeiten und bezieht diese Räumlichkeiten aktiv mit ein; Häufig sind sie staatlich finanzierte Denkmäler, die bewusst für eine Öffentlichkeit gebaut werden, um auf ein einschneidendes Geschehnis in der Vergangenheit aufmerksam zu machen. Aleida Assmann hält in ihrem Buch Erinnerungsräume fest, dass gerade authentische historische Orte ein grosses Potential an Wirkungskraft für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume besitzen: Erinnerungsorten wohnt eine sonderbare Verflechtung aus Raum und Zeit inne, die «Präsenz mit Absenz, sinnliche Gegenwart mit historischer Vergangenheit verschränkt.» (Assmann 1999: 338) Denkmäler und Mahnmale stellen, weil sie Träger von Erinnerungen sind, eine besondere Form der Architektur dar. Sie geben Aufschluss darüber, wie eine Gesellschaft ihre Vergangenheit gewichtet, interpretiert, wie viel Raum sie ihr zukommen lässt und was sie den zukünftigen expositionen 17 Generationen an Erinnerungsorientierung hinterlassen will. Zugleich legen sie Zeugnis darüber ab, in welchem Moment der historischen Verarbeitung sich eine Gesellschaft befindet oder sich situieren will. James E. Young hat in seiner umfangreichen Studie Formen des Erinnerns festgehalten, wie Holocaust-Gedenkstätten an einen jeweiligen nationalen Erinnerungskodex angebunden werden. Dass gerade für Deutschland der Einbezug des Zweiten Weltkrieges in seine Erinnerungslandschaft ein höchst problematisches, quälendes und schwieriges Unterfangen darstellt, liegt – so Young – vor allem daran, dass die Mahnmale in Deutschland, im Unterschied zu anderen Ländern wie Polen und Israel, immer auch Monumente eines Täters sind, der seinen Opfern gedenkt. Eine derart komplizierte Basis fordere einen Bruch mit der nationalen Erinnerungskultur, und die Gegenwartskünstler Deutschlands antworteten auf die heikle Denkmalfrage mit der Errichtung von sogenannten «Gegen-Monumenten». Der Kerngedanke liegt in der Frage, ob ein Monument nicht eher Hindernis denn Anstoss für das öffentliche Erinnern sei (Young 1993: 57). Skeptisch gegenüber der Ästhetik und den Ideen der traditionellen, positiv geprägten Erinnerungsfiguren, waren sich Künstler wie Horst Hoheisel (Aschrottbrunnen in Kassel), Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz (Monument gegen Faschismus in Hamburg) einig: Um sich von der Generation der Täter loszulösen, müssen sie in ihrer bildlichen und figurativen Ausdrucksweise neue Formen des Erinnerns finden (ebd.: 57). So wird in den Darstellungsformen von Gegenmonumenten der Begriff «Erinnern» ausgelotet, sowohl die Notwendigkeit des Erinnerns als auch sein Unvermögen finden darin Platz. Die Materialität tritt hinter den Einbezug des Betrachters zurück. Ziel ist es nicht, Trost-Gefühle oder andere ‹Inhalte› zu spenden, sondern mit Hilfe von künstlerischen Provokationen die gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen offen zu legen und zu enttabuisieren. Der Prämisse folgend, dass Wiedergutmachung und Schuldabarbeitung weder real noch symbolisch möglich sind, soll der Betrachter aus seiner (Selbst-)Zufriedenheit herausgerissen werden. Die Bibliothek von Micha Ullman ist damit ein Gegenmonument, weil die Deutung dem Betrachter überlassen wird und die Skulptur so zu Dialogen und Gesprächen aufruft. Das bedeutendste deutsche Mahnmal ist nach James E. Young weniger ein bestimmtes einzelnes Werk, als der laufend geführte Diskurs zu den Fragen, wie erinnert werden soll, in wessen Namen und zu welchem Zwecke (ebd.: 52). Die Bibliothek versinnbildlicht die Abwesenheit von Büchern und somit auch von Sprache, motiviert aber im selben Zuge zum Sprechen, weil ihre Leere und somit ihr Verständnis nur durch Dialoge bewältigt werden können. Die Sprachlosigkeit und das Gefühl des Unbehagens, die sich beim Betreten der Glasplatte einstellen, entsprechen dem «Pendelschwingungsverhältnis» nach Mukarovský, es ist das Changieren zwischen der autonomen Wirklichkeit des Kunstwerks und der heutigen Realität. Die Bücherverbrennung von 1933 ist als ein Höhepunkt symbolischer Gewalt zu verstehen und kündigte gleichzeitig Ende und Anfang an. Micha Ullman legt sein Kunstwerk genauso symbolisch an. Die Bibliothek ist real, sie steht zur Benutzung bereit, aber dennoch bleibt sie leer und metaphorisiert die kulturelle Leerstelle, welche mit der Bücherverbrennung angestrebt wurde: Die Bibliothek ist eine Grabstätte für Bücher, und kann auch als eine solche für das «Volk des Buches» gelesen werden. Das Nicht-Vorhandensein der Bücher verweist auf die Abwesenheit der Ermordeten und das Licht beleuchtet diesen Verlust und lässt ihn ewig bestehen. Assmann, Aleida 1999: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses Endlich, Stefanie 1999: Denkmal Bücherverbrennung. In: dies. (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. 104-105 (Bd. II) Endlich, Stefanie 1995: Der Blick nach Innen. In: Architektenkammer Berlin (Hg.): Architektur in Berlin. Jahrbuch 1995. 156-159 Endlich, Stefanie 2003: Erinnerungszeichen und Denkmäler für die Bücherverbrennung. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Zeitschrift für die Geschichtswissenschaft 51 (2003). 447-455 Endlich, Stefanie 2006: USA und Deutschland – Anmerkungen zum Vergleich der Erinnerungskulturen mit Blick auf das World Trade Center Memorial. In: Schlusche, Günter (Hg.): Architektur der Erinnerung. NS-Verbrechen in der europäischen Gedenkkultur. 24-31 Mann, Heinrich 1936: Die Bücherverbrennung. In: Die Neue Weltbühne 32 (1936). 772-775 Mukarovský, Jan 1970: Kapitel aus der Ästhetik. Aus dem Tschechischen übersetzt von Walter Schamschula Ullman, Micha 2006: Architektur und Erinnerung. In: Schlusche, Günter (Hg.): Architektur der Erinnerung. NS-Verbrechen in der europäischen Gedenkkultur. 82-85 Young, James E. 2000: At Memory’s Edge. AfterImages of the Holocaust in Contemporary Art and Architecture Young, James E. 1993: The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning Claudia Bossard studiert an der Universität Bern Germanistik und Theaterwissenschaften. Der vorliegende Text basiert auf einer Seminararbeit zur Veranstaltung Berlin – Die Stadt als Text. 18 Die Bedeutung des Lichts in der christlichen Liturgie und Architektur I Adeline Zumstein m November 2010 stehe ich in der grossen und sagenumwobenen Hagia Sophia in Istanbul: Sie ist überwältigend. Zugegeben, ein sehr subjektives Urteil. Und dennoch stimmen etliche Geschichtsschreiber seit tausendfünfhundert Jahren denselben Ton an – Das Innere der Hagia Sophia ist erfüllt von einem sphärischen, magischen und atemberaubenden Licht, das die Kühnheit der Architektur noch um ein Vielfaches verstärkt. Die Hauptkirche des oströmischen Reiches ist in der Forschung ein prominentes Beispiel dafür, wie Licht innerhalb der christlichen Architektur beziehungsweise Liturgie seinen Einluss ausübt(e). Doch warum ist die Lichtinszenierung im Christentum scheinbar so wichtig? Funktion und Ästhetik in der Architektur Der christliche Sakralbau als Versammlungsraum und als Ort, an dem der Gläubige Christus und Gott durch Gebete und Eucharistie begegnet, verlangt seit jeher nach einer Architektur, die Funktion und Ästhetik auf einer monumentalen Ebene miteinander verbindet. Dabei drängt sich dem Betrachter nicht selten die Frage auf, ob sich die Form den liturgischen Anforderungen anzupassen hat oder ob das monumentale Erscheinungsbild der Architektur doch vorrangig ist. Herausragende Beispiele christlicher Sakralbauten wie etwa die Hagia Sophia in Istanbul oder die gotische Kathedrale von Saint-Denis lassen uns heute vermuten, dass sowohl der Funktionalität als auch dem religiös-ästhetischen Empfinden Beachtung geschenkt wurde. Dabei sollten jedoch nicht die jeweils stiltypischen Bauformen, sondern vor allem das Licht zur verbindenden Kraft werden. Licht bedeutet… Welche Bedeutung kommt dem Licht im Christentum zu? Eine Frage, die scheinbar einfach und schliesslich doch so vielschichtig ist. Licht erhellt die Dunkelheit, Licht birgt das Gute in sich, Licht bringt Frieden. Diese Konnotationen des Lichts sind aber keinesfalls ausschliesslich typisch christlich. Tatsächlich reichen die Wurzeln der christlichen Lichtbedeutung – die sich später sogar zu einer Lichtmetaphysik entwickelt hat – bis in die frühgriechische Dichtung und Philosophie. Bereits einige Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung trat in Texten der Begriff «Licht» als Stellvertreter für erhabene und ehrenvolle Ausdrücke auf. Diese Zuordnung zwischen dem Symbol, also dem «Licht», und dem Symbolisierten, zum Beispiel «Ruhm», geschah willkürlich und man kann heute keine eindeutigen Hinweise darauf finden, nach welchen Kriterien einzelnen Ausdrücken der Begriff «Licht» als Repräsentant zugeordnet wurde. Diese Tendenz verdichtete sich innerhalb der Literatur soweit, dass auch Götter und Göttererscheinungen (Epiphanien) mit Licht in Verbindung gebracht wurden. Das Licht diente somit nicht mehr bloss als Mittel zum Erkennen, Wahrnehmen und im weitesten Sinne als Mittel zur Ehrung, sondern man begann, das Licht zu spiritualisieren, das heisst, das sinnlich wahrnehmbare Licht wurde zum intelligiblen, zum philosophischen und rein geistigen Licht. Eine zentrale Rolle spielte dabei Platon, bei dem das Licht nicht mehr nur die Stellvertreterfunktion für sinnlich nicht Wahrnehmbares einnahm, sondern auch für ‹das Wahre› selbst stand. Lichtgestalten der Antike Der Idee des intelligiblen Lichts folgte bald eine in alle Gesellschaftsschichten übergreifende Sonnengottanbetung. Dieser Ritus wurde, wie andere auch, von der römischen Kultur übernommen und weiterentwickelt. So äusserte sich der Sonnengottkult in einer erweiterten Sonnenverehrung, die sich nicht nur auf der religiösen, sondern auch auf der politischen Ebene manifestierte. Der so genannte «sol invictus» – die «unbesiegbare Sonne» – stand im römischen Imperium für den politisch-ideologischen Herrscher und als Garant des inneren und äusseren Zusammenhalts. Die Anbetung des Lichts in Form der Sonne galt nicht mehr nur einer Gottheit, sondern auch dem Kaiser selbst. Von nun an wurde es üblich, diese «Lichtgestalten» mit einem Nimbus darzustellen. Der berühmte «christliche Heiligenschein» war geboren. «Und Christus, deine Sonne, geht für dich auf» Als sich die junge Christengemeinde nach dem Toleranzedikt von 313 von einer Untergrundbewegung allmählich zur Staatsreligion entwickelte, hatte man sich schon längst einzelner Riten des Sonnengottkults bedient und diese in die eigene, sich immer stärker entwickelnde Tradition eingebunden. Obwohl die Institution Kirche von Anfang an eine Exklusivität im Bezug auf ihren Gott und ihren Glauben pflegte, war man gezwungen, jahrhundertealte heidnische Rituale, die in der Bevölkerung fest verankert waren, in die eigene Religion mit einzubeziehen. Ein Beispiel dafür nennt Plinius der Jüngere in einem Bericht aus dem 2. Jahrhundert, in dem expositionen 19 er bekundet, dass schon das frühe Christentum auf besondere Weise die allgemeine Sonnenverehrung teilte: «Die Christen kommen an einem bestimmten Tag vor dem Aufgang des Lichts zusammen, um Christus wie einem Gott ein Lied zu singen.» Die frühen Christen lebten eingebunden im Glauben an die Überlieferung und an den Mensch gewordenen Sohn Gottes. Sowohl die Taufe als auch das Abendmahl – damals noch gleichbedeutend mit einem gemeinsamen Sättigungsmahl – wurden mit Hilfe von Licht inszeniert und zelebriert, mit einer religiösen Erleuchtung gleichgesetzt, und fanden dabei ihren Höhepunkt im Osterfest. Aber nicht nur zu Ostern, sondern auch im täglichen Vespergottesdienst nahm das Licht eine visuelle und theologisch bedeutende Stellung ein. Auf der religiösen Ebene sah man Christus als das wahre Licht: «In allem Geschaffenen war er das Leben, und für die Menschen war er das Licht. Das Licht strahlt in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht auslöschen können.» (Johannes 1,4-5) Daneben empfand man auf der Ebene des ästhetischen und emotionalen Lichterlebnisses den erhellten Versammlungsraum als ein Symbol für Sittlichkeit und gottesfürchtiges Leben: «Auch ihr wart einst im Dunkeln, aber jetzt seid ihr im Licht, weil ihr mit dem Herrn verbunden seid. Lebt nun auch als Menschen, die im Licht stehen! Aus dem Licht erwächst als Frucht jede Art von Güte, Rechtschaffenheit und Treue. […] Was aber ans Licht kommt, wird selbst Licht. Darum singen wir: ‹Wach auf du Schläfer! Steh auf vom Tod! Und Christus, deine Sonne, geht für dich auf.» (Epheser 5,8-14) Die Lichtmetaphysik des Dionysius Areopagita Zu Beginn des 6. Jahrhunderts verfasste ein Anhänger des Neuplatonikers Proklos im griechischsprachigen Raum die vier Schriften Über die göttlichen Namen (De divinis nominibus), Über mystische Theologie (De mystica theologia), Über die himmlische Hierarchie (De caelesti hierarchia) und Über die kirchliche Hierarchie (De ecclesiastica hierarchia). Diese Abhandlungen gehörten seit deren Übersetzung im 9. Jahrhundert durch Johannes Eriugena zu den bedeutendsten Texten des Mittelalters. Trotz der enormen Berühmtheit der Schriften ist die wahre Identität des Autors unbekannt. Der womöglich am Anfang des 6. Jahrhunderts verstorbene Neuplatoniker gab sich als derjenige Dionysius aus, der von Paulus auf dem Athener Areopag bekehrt wurde. Diese Illusion verschaffte innerhalb kürzester Zeit sowohl dem Verfasser als auch den Schriften im Osten und Westen ein hohes Ansehen. Der sogenannte Dionysius Areopagita (auch bekannt als Pseudo-Dionysius) befasste sich in den besagten Schriften mit der neuplatonischen Lehre, wobei er den Geist als dem Körper vorrangig definierte. Die himmlischen Wesen, Engel und Teufel erklärte er für reine Geister und ordnete diese in Hierarchien ein. Zentral bei seiner Lehre war dabei immer die Anwesenheit des «Einen», des «Vaters der Lichter», des «Gottes», der nicht nur alles geschaffen hat, sondern auch alles zusammenhält. Daneben scheint für den Menschen, der sich auf der untersten, fast völlig materiellen Ebene befindet, die rein intelligible Sphäre nahezu unerreichbar. Indem sich jedoch der Mensch der Schönheit und dem Glanz des Materiellen hingibt, kann er förmlich in die höheren Sphären Gottes emporgehoben werden. Das heisst: Durch das Betrachten des sinnlich wahrnehmbaren Lichtes (in all seinen Formen) kann der Gläubige zum wahren, intelligiblen Licht und somit zu Christus und Gott hingeführt werden. Der corpus areopagiticum propagierte eine Lehre, die die Bedeutung des Lichts im christlichen Glauben endgültig in eine weit verbreitete Lichtmetaphysik verwandelte. Licht war nicht nur Gott selber, sondern zugleich auch ein Weg zu Gott und in den Himmel. Architektonische Lichtkonzepte? Auf welche Weise sich diese Lehre im christlichen Sakralbau im Einzelnen niederschlug, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Dass monumentale Fensteröffnungen, riesige Öllampen und sanfter Kerzenschein nicht nur auf der funktionellen Ebene ihre Dienste erfüll(t)en, darf jedoch mit ruhigem Gewissen angenommen werden. So steht in den Türen von Saint-Denis geschrieben: «Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das da edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so dass sie durch wahre Lichter zu dem wahren Licht gelangen, wo Christus die wahre Tür ist.» Sämtliche im Text genannten Zitate sind Übersetzungen aus folgenden Editionen: Onasch, Konrad 1993: Lichthöhle und Sternenhaus. Licht und Materie im spätantik-christlichen und frühbyzantinischen Sakralbau Flasch, Kurt 2006, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli Abt Suger von Saint-Denis 2000: Ausgewählte Schriften. Ordinatio, De consecratione, De administratione. Hg. von Andreas Speer und Günther Binding Adeline Zumstein studierte an der Universität Bern Kunstgeschichte und Denkmalplege. Der vorliegende Text basiert auf ihrer Bachelorarbeit. 20 Enteuropäisierung der Menschenrechte Von der Universalität zur Globalität – Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung Christine Saxer D ie Menschenrechte entstanden aus einer christlich geprägten Kultur. Dennoch werden sie heute auf der ganzen Welt eingefordert. Der Konlikt zwischen Universalität und Kulturrelativismus der Menschenrechte wird hier zwar nicht gelöst. Am Beispiel China soll aber aufgezeigt werden, wie ein jedes Rechtssystem kulturspeziisch geprägt ist. Wie können Menschenrechte global gelten? Menschenrechte und die Vereinten Nationen Von wenigen Ausnahmen (wie der Genfer Konvention von 1864 und dem Abkommen zur Unterdrückung von Sklaverei und Zwangsarbeit von 1926) abgesehen, war es nach dem zweiten Weltkrieg, als die ersten internationalen Abkommen vereinbart wurden, die heute als Menschenrechte bekannt sind. So stellt die Charta der Vereinten Nationen (1945) den Beginn einer Entwicklung dar, die sowohl die Universalität wie auch die Institutionalisierung der Idee von Menschenrechten zwischenstaatlich etablierte. Jedoch fehlt es den Vereinten Nationen bis heute an Durchsetzungskraft, da die Charta durch die Wahrung der staatlichen Souveränität jede Einmischung in innere Angelegenheiten verbietet. Im Rahmen der Vereinten Nationen entstand 1948 auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, welcher trotz ihres unverbindlichen Charakters eine hohe moralische Bedeutung zugeschrieben wird. Die UNO-Pakte I und II (1966) sind dagegen klar verpflichtend. In der Sekundärliteratur wird betont, dass in diesen beiden Abkommen dem Selbstbestimmungsrecht (Kollektivrechte) eines Staates – über den souveränen politischen Status sowie die souveräne wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung – ein zeitlicher, wenn auch nicht inhaltlicher Vorrang vor den individuellen Menschenrechten gegeben wird. Renaissance des Naturrechts In der Rechtsphilosophie spricht man in diesem Zusammenhang für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von einer «Renaissance des Naturrechts», welches zur Bewältigung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes heran gezogen wurde. Eine naturrechtliche Begründung geht davon aus, dass dem Menschen aufgrund seines Mensch-Seins, aufgrund seiner Natur, bestimmte unveräusserliche Rechte zugesprochen werden. Diese Rechte sind vorstaatlich, d.h. unabhängig von einer gesetzten Rechtsordnung und müssen deshalb vom Staat gewährleistet und schliesslich in juristischen Rechten (Grundrechten) konkretisiert werden. Da die erwähnten UN-Dokumente in diesem Kontext entstanden, liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Die Menschenrechte sind naturrechtlich begründet. Dabei ist kritisch zu hinterfragen, was die kulturellen Bedingungen dieses Naturrechts in der westlich-europäischen und angelsächsischen Welt ausmacht. Antike Ursprünge Bereits in der Antike wurde das Naturrecht kontrovers diskutiert. Von der Antiken Mythologie über das Polisdenken bis zur Tragödiendichtung wurde das gesetzte Recht (Nomos) als Ausdruck der göttlichen Ordnung (der Natur, Physis) angesehen. Dieses Einheitsdenken durchbrachen die Sophisten, indem sie einen Werterelativismus vertraten. Demnach konnte das Naturrecht keine absolute Gültigkeit mehr beanspruchen. Unter anderen Sokrates, Platon und Aristoteles wendeten sich in der Folge gegen die Sophisten, indem sie eine absolute Wertsetzung erneut verteidigten. Insbesondere die Stoa übte in der Folge einen ausgeprägten Einfluss auf die Naturrechtslehre aus, insofern, dass der Logos (der Ursprung hinter der Wirklichkeit) zur Grundlage der späteren metaphysischen Auffassung von allgemeingültigen Menschenrechten wurde. Dabei ist der Logos von den Stoikern als ein göttlicher Ursprung, der die Einheit der Welt begründet und der Welt das Gesetz, den Nomos gibt, konzipiert worden. Die Welt entspricht somit einer vernünftigen Ordnung – dem Logos –, welche der Mensch, durch den Funken des göttlichen Urfeuers, den er in sich trägt, zu erkennen vermag. Damit sind zwei der drei Kernelemente einer Naturrechtstheorie beisammen: Die Existenz einer ewig gleichen Sollensanordnung und die Intelligibilität, also das Vermögen kraft menschlicher Vernunft das Naturrecht erkennen und befolgen zu können. Als dritter Grundbaustein ist schliesslich die Derogation (Ausserkraftsetzung) des positiven Rechts durch das Naturrecht zu ergänzen. Kontinuität im christlichen Mittelalter In der Stoa ist der Logos alleiniger Gotteswille und nicht mehr nur Abbild der göttlichen Ordnung. Die christliche Philosophie wandte sich erst mit Thomas von Aquin von der heilsgeschichtlichen Rechtsdogmatik ab und wieder dem Menschen als vernunftbegabtes Wesen zu. Indem Thomas von Aquin das Naturrecht als durch die menschliche Vernunft erkennbar und zugleich als Widerspiegelung des gött- expositionen 21 lichen Rechts konzipierte, war seine Naturrechtslehre eine Variante des Gottesebenbildlichkeits-Arguments des Menschen. Das Gewissen des Einzelnen war somit der Ausdruck des Göttlichen in jedem Menschen, das Moralsystem religiös legitimiert. Übernahmen in der Neuzeit Dokumente wie die Virginia Bill of Rights (1776) oder die französische Déclaration (1789), welche als erste menschenrechtliche Verfassungen gelten, gehören jedoch erst in die Zeit der Aufklärung. Diese zeichnet sich durch ein Denken aus, welches die Welt nicht mehr mit Hilfe einer göttlichen Ordnung, sondern nur noch aus sich selbst heraus erklärt. Das Naturrecht wurde in diesem Sinne zum säkularen Recht, rational be- und auf individuellen Rechtsansprüchen gegründet. Roy Porter bemerkt in seiner Kleinen Geschichte der Aufklärung (1991), dass die Aufklärer die Auffassung vertraten, die menschliche Natur und somit alle Menschen hätten im Grunde die gleichen Eigenschaften und Bedürfnisse. Somit könne es nur einen allgemeingültigen Standard der Ge- Die Welt wird aus sich selbst heraus erklärt. rechtigkeit geben. Aber da die Aufklärung jegliche metaphysische Erklärung aufgegeben hatte, konnte sie für die Legitimierung von allgemein gültigen Menschenrechten, wie sie in der Virginia Bill of Rights oder der Déclaration gefordert sind, nicht einen im Kosmos liegenden Logos herbeiziehen, wie im Naturrecht bis anhin. Diese Lücke wurde durch die feine aber wichtige Umschreibung behoben, dass der menschlichen Natur per se ein aus der Vernunft begründeter Anspruch auf Freiheit und Individualität zugeschrieben wurde. Die Gegenposition der Naturrechtslehre ist der «Rechtspositivismus», der selbst diese aufgeklärte Form des Naturrechts ablehnt. Im Gegensatz zum Naturrecht, das von der Verbindung von Moral und Recht ausgeht, vertreten die meisten Theorien des Rechtspositivismus die Trennungsthese: Recht ist Recht aufgrund seiner formalen Kriterien und nicht aufgrund seines Inhaltes. Die Menschenrechte sind sowohl als juristische Dokumente, wie auch in ihrer philosophischen Begründung ein Ausdruck der westlich-europäischen und angelsächsischen Kulturentwicklung. Dabei sind sie eng mit der Entstehung der demokratischen Staatsformen verbunden. Das Naturrecht, ob nun mit einer transzendentalen oder auch säkularen Letztbegründung, wurde als Legitimierungsfaktor der Menschenrechte nie in Frage gestellt. Selbst die aufgeklärte, moderne Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Natio- nen, entstand in einer Phase der Wiederentdeckung des Naturrechts. Religionsfreiheit in China Das öffentliche Bild von China hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Neben der ökonomischen Euphorie bestimmt heute die menschenrechtliche Anklage den Ton der Auseinandersetzung. Am Beispiel der Religionsfreiheit lässt sich gut aufzeigen, welche anderen kulturellen Bezugspunkte Menschenrechte haben können. Nicht nur die kommunistische politische, sondern auch ältere sozio-kulturelle Traditionen prägen die Politik Chinas, die auf gesamtgesellschaftliche Harmonie und Stabilität ausgerichtet ist. Die Legitimität der Parteipolitik beruht daher auf der Balance zwischen Toleranz (sozio-ökonomischer Autonomie) und politischer Kontrolle (politische Loyalität) im Volk. Das Aufkommen von Religion wird als Störfaktor angesehen, weil zu starke Kontrolle die Toleranz der Parteipolitik und dadurch ihre Legitimität untergraben könnte. Zudem werden der Religion revolutionäre Kräfte zugeschrieben, die als eine Gefahr für die paternalistische Ideologie der kommunistischen Partei angesehen werden, denn auch die Geschichte Chinas ist von religiös motivierten Kriegen und Umstürzen geprägt. Davon sind die Uiguren sowie die Tibeter doppelt betroffen: Religiös-ethnische Minderheiten werden seit dem 11. September 2001 von der Regierung als Terroristen stigmatisiert und ihre Bekämpfung als Beitrag am weltweiten Kampf gegen den internationalen Terrorismus verstanden. Dieser Denkweise folgend ist es zum Wohle aller legitim die Religionsfreiheit einzuschränken. Oder allgemeiner gesprochen: Die Individualrechte sind hier dem Gemeinwohl unterzuordnen. Auch in europäischen Staaten, in denen Individualrechte eine stärkere inhaltliche Bedeutung haben, werden aus Angst vor dem Verlust des ideologisch christlichen Machtanspruchs Minderheitenreligionen (Sekten mit eingeschlossen) mit rechtlichen und staatlichen Massnahmen zurückgedrängt. Als Beispiele können hier die in den 80er Jahren europaweit als gefährliche Sekte eingestuften Hare Krishna oder das berüchtigte Minarettverbot in der Schweiz erwähnt werden. Menschenrecht nach dem Gemeinwohl Verletzungen individueller Rechte werden demnach mit kollektiven Ansprüchen gerechtfertigt, vor allem in Bezug auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Volksrepublik. Genau dieser Vorrang von kollektiven über individuelle Rechte ist auch in der Präambel der UNO-Pakte verankert. Ohne das totalitäre Regime Chinas zu verharmlosen kann gesagt werden, dass die chinesische Regierung rein formell betrachtet, mit ihrer Unterdrückung von bestimmten Religionen, nicht zwingend gegen die UNO-Pakte verstösst. Kritik der Universalität In einer Zeit, in der die Interaktion zwischen den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Gruppen in ihrer 22 Dichte und Geschwindigkeit zunimmt, ist es unausweichlich grenzüberschreitende Debatten über allgemeine Werte zu führen. Dabei scheint es von grösster Wichtigkeit, dass der europäisch-westliche Anspruch auf Universalität «seiner» Menschenrechte hinterfragt wird. Denn es gibt keine Monokultur oder «Monowerte», die unabhängig von anderen Kulturen oder von intrakultureller Kritik gegeben sind. Die Menschenrechte im europäisch-westlichen und angelsächsischen Raum haben sich in einem Prozess entwickelt, der über Jahrzehnte und Jahrhunderte dauerte und noch immer andauert. Dass sich auch in anderen Kulturen und Gesellschaften davon abweichende «Menschenrechte» konzeptionalisieren, darf nicht ausgeschlossen werden. Chance der Globalität In der Literatur zu den Menschenrechten wird ein interkultureller Ansatz diskutiert, aus dem ein minimaler Menschenrechtskatalog hervorgehen könnte. Dieser wird dadurch legitimiert, dass er in jeder Kultur selbst begründet wird und sich in einem interkulturellen Dialog entwickelt. Zentraler Punkt dieses Dialoges ist die Voraussetzung der Gleichwertigkeit der Partner und somit die kritische Hinterfragung der westlich-europäischen und angelsächsischen Dominanz. Wie Karl-Heinz Pohl (2008: 11) darlegt, wurden die Menschenrechte «zum säkularen Transzendenten, zu unserem letzten absoluten, quasi-religiösen Bezugspunkt», nachdem sich das westliche Moralsystem, wie das Beispiel des Naturrechts aufzeigt, von seiner religiösen Fundierung gelöst hatte. Der Begriff der «Universalität» sollte durch den der «Globalität» der Menschenrechte ersetzt werden. Vom Ziel, Rechte – darunter auch die Menschenrechte – auf ewig und für alle in Stein zu meisseln, sollte Abstand genommen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass auch und gerade das Recht ein veränderlicher Kulturaspekt darstellt, der immer wieder neu ausgehandelt werden muss, innerhalb eines Landes, einer Kultur – und zusehends auch global. Picht, Georg 1980: Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten. In: Picht, Georg (Hg.): Hier und jetzt: Philosophieren nach Auschwitz. 116-133 Pohl, Karl-Heinz 2002: Zwischen Universalismus und Relativismus. Menschenrechte und interkultureller Dialog mit China. In: Occasional Papers 5 (2002). 1-31 Porter, Roy 1991: Kleine Geschichte der Aufklärung Seiwert, Hubert 2004: Angst vor Religionen. Ein Versuch über Deutschland und China. In: Zeitdiagnosen, Religionsfreiheit und Konformismus, über Minderheiten und die Macht der Mehrheit (=Zeitdiagnosen 8). 77-92 Christine Saxer studiert Religionswissenschaft, Politikwissenschaft und Recht im 10 Semester. Die dem Artikel zugrunde liegende Arbeit entstand im Frühjahrsemester 2010 in einem Seminar zu den Grundzüge einer globalen Religionsgeschichte. expositionen 23 Wo Parallelen sich begegnen Wie kann neues Wissen entstehen? Zwei Antworten anhand von J. M. Keynes’ General Theory Hannes Mangold M ichel Foucault und Thomas S. Kuhn haben beide Thesen zur Entstehung von neuem Wissen formuliert. Sie gehen dabei nicht vom Erindungsreichtum eines Individuums, sondern von dem der Forschungsgemeinschaft aus. Ihre Ansätze werden hier ausgeführt und am Beispiel der General Theory von John Maynard Keynes geprüft. Krise der Erkenntnis 1916 wurde das physikalische Universum ein anderes. Albert Einstein hatte mit Kollegen die Grundlagen der allgemeine Relativitätstheorie veröffentlicht, die Zeit wurde zur geometrischen Grösse, der Raum krümmte sich, Parallelen berührten sich, Newton lag falsch. 1916 stand man auch im dritten Jahr jenes «Grossen Krieges», der durch seine räumliche Ausdehnung, seine nie gesehene Zerstörungskraft und seine hoch technisierte Führung weite Teile der Welt erschütterte. – Das Erleben einer anonym und maschinell gewordenen, todbringenden angewandten Wissenschaft «Krieg», sowie die fundamentale Neuschreibung der szientifistischen «Königin Physik» durch Einstein, bilden zwei zentrale Katalysatoren für eine erkenntnistheoretische Krise, die das westliche Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfasste. Mit einem revidierten, skeptizistischen Blick nahm in Frankreich beispielsweise Gaston Bachelard in der Bildung des wissenschaftlichen Geistes (fr. 1938) das Vorgehen der Wissenschaften in den Blick. Fast zeitgleich erschien im damaligen Deutschland Ludwik Flecks zunächst wenig beachtete Schrift Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), deren Argumentation ein allzu positivistisches Verständnis von Erkennen und Erkenntnis ebenfalls unterlief. Krise der Wirtschaft Als vielleicht besonders dogmatische Wissenschaftler beschäftigten sich die Ökonomen der Zeit nicht gerade intensiv mit dieser Erkenntniskritik. Auch möglich, dass ein spezifisches Problem ihrer noch jungen Disziplin sie davon abhielt. In England hatte 1925 mit der Wiedereinführung des Goldstandards (zu alter Parität) ein starker wirtschaftlicher Rückgang eingesetzt, der sich spätestens nach dem New Yorker Börsenkrach von 1929 zur massivsten «Weltwirtschaftskrise» des Jahrhunderts ausweitete. Die zeitgenössisch tonangebende liberale Theorie konnte weder Dauer noch Intensität – je nach Nation folgten Arbeitslosenraten im zweistelligen Bereich während mehr als zehn Jahren – dieser Depression erklären. In der Annahme von systeminhärenten Selbstheilungskräften wurde, über Anpassungsmechanismen in Löhnen und Preisen, die Rückkehr zu Vollbeschäftigung prognostiziert. Diese kam und kam aber nicht. Keynes vs. Klassik In diesem Umfeld veröffentlichte John Maynard Keynes 1936 seine General Theory of Employment, Interest and Money. Dazu veranlasst sah sich Keynes durch jene Erklärungsschwäche der, von ihm so genannten, «klassischen» Volkswirtschaftslehre bezüglich der Grossen Depression. Keynes konzipierte seine Allgemeine Theorie explizit als Gegenthese zu David Ricardo und dessen Nachfolgern. Wozu der sendungsbewusste Cambridger übrigens sämtliche Ökonomen vor und ausser ihm zählte. Was grenzte die General Theory nun von anderen ökonomischen Lehren ab? Keynes stellte seine allgemeine Theorie in der Tat auf ein völlig neues Fundament. Unter anderem räumte er der Unsicherheit eine wesentliche Rolle bei ökonomischen Entscheiden ein, wies auf die Bedeutung der Nachfrage hin und formulierte als einer der Ersten makroökonomische, auf gesamtwirtschaftlich aggregierte Grössen bezogene Formeln. Insbesondere aber wies Keynes auf die Relevanz des Geldes für die Realwirtschaft hin, nicht von ungefähr nannte er seine Konzeption eine «monetäre Theorie der Produktion». (Diese schlagwortartige Zusammenfassung lässt sich, wo das lesenswerte Original nicht bereit liegt, gegebenenfalls durch eine Vielzahl an Sekundärliteratur ergänzen; vgl. bspw. Caspari 2009.) Von diesem neuen theoretischen Fundament ausgehend konnte Keynes’ FunktionenSystem Phänomene wie die «Liquiditätsfalle» oder die unfreiwillige Arbeitslosigkeit erklären, vor denen die klassische Lehre kapituliert hatte. Auch der Wirtschaftspolitik gab die General Theory gänzlich neue Impulse: Während beispielsweise Friedrich August von Hayek in den 1930er Jahren eine Erhöhung der Sparquote als Aufschwungsmittel propagierte, verwies Keynes diametral entgegengesetzt auf eine Erhöhung des Konsums, und meinte damit neben den privaten Haushalten auch den Staat. Friedman vs. Keynes Ob mit den massiven Rüstungsinvestitionen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges oder den teilweise keynesianisch begründeten staatlichen Programmen wie dem «New Deal»: Fast zeitgleich mit dem Erscheinen der General Theory wurde die Weltwirtschaftskrise zur Vergangenheit. Dennoch und 24 wohl auch gerade aufgrund dieser Unklarheit prägt das Buch die ökonomische Dogmengeschichte seither. In den 1940er und 50er Jahren verwalteten eigentliche Schüler von Keynes die Lehren des «Meisters» ziemlich erfolgreich; bedeutend war im Besonderen Paul Samuelsons Economics-Lehrbuch (ab 1948). Indem diese in der so genannten «neoklassischen Synthese» die Situation der Vollbeschäftigung als Regel- und diejenige der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit als Spezialfall modulierten, gingen sie allerdings den genau umgekehrten Weg als es die General Theory getan hatte. Mit dem Ölschock von 1973 und der damit einhergehenden Stagflation war es dann das Modell der neoklassischen Synthese, das ein Erklärungsdefizit aufwies. Unter der publizistischen Führung von Milton Friedman übernahm die monetaristische Schule in den 1970ern eine doktrinäre Vorrangstellung innerhalb der Ökonomie. In der Liberalisierung, der gezielten Verringerung der staatlichen Eingriffe und dem Vertrauen auf die «Kräfte» des Marktes wurde wieder, wie schon vor Keynes, das massgebliche Instrument der Wohlfahrtssteigerung identifiziert. Noch in der Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 bildet das Schlagwort «Keynes» ein Scheitelpunkt der Diskussion: Analog zu Liberalen wie Edward Prescott, die sich von «Keynes» distanzieren, versuchen «New Keynesians» wie Paul Krugman durch Erweiterungen des Samuelsonschen Modells eine staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik zu restituieren. Assoziation wird sich hier insofern als nützlich erweisen, als sich in der fraglichen Krise gerade die Kritik an der Vorstellung eines stetig sich akkumulierenden Wissensstands und eines kontinuierlichen Erkenntnisfortschritts artikuliert hat. Zunächst aber zur Frage: Wie lässt sich das Aufkommen von neuem Wissen beschreiben? Archäologie und Revolution Dieser allzu kurze Einblick in die von Keynes formulierten Neuerungen und diese viel zu knappe Doktrin-Geschichte können hier nicht weiter ausgeführt werden. Vielmehr kehren wir zurück zur Erkenntniskrise nach dem Ersten Weltkrieg: Wie gesehen wurden in den 1930er Jahren Versuche einer skeptischen Wissenschaftsgeschichte formuliert. Rund drei Dekaden später waren es neben anderen Michel Foucault und Thomas S. Kuhn, die diese Arbeit fortführten. Beide interessierten sich für alternative Lösungen der Frage, wie neues Wissen entstehen kann, suchten also Antworten, die nicht von spezifischen und kreativen Schöpfungsakten von «genialen» Wissenschaftlern ausgingen – sondern die Gemeinschaft der Forschenden in den Vordergrund stellten. Im Rahmen seiner Methodenstudie Archäologie des Wissens (dt. 1981) öffnete Foucault den Blick für Neu- und Umschreibungen in der diskursiven Struktur von Erkenntnissen über Begriffe wie «Transformation» oder «Bruch». Dem – wenn auch nur sehr oberflächlich – entsprechend prägte Kuhn in The Structure of Scientiic Revolutions (1970) die Metapher vom «Paradigmenwechsel», um die Ablösung einer wissenschaftlichen Doktrin durch eine andere zu bezeichnen. Bemerkenswert ist, dass sich ersterer auf Gaston Bachelard – er hatte den «epistemologischen Bruch» konzipiert –, letzterer auf Ludwik Fleck beruft, und damit beide im weiteren Einzugsfeld der oben genannten «Krise der Erkenntnis» verortbar werden (vgl. Rheinberger 2008: 35-37 u.a.). Diese den, erscheint als Aufgabe dieser populären Form der Wissenschaftsgeschichte; ihr Thema sei in der Trias «Genese, Kontinuität, Totalisierung» (ebd.: 197) gegeben. Die «Archäologie» dagegen interessiert sich für «Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken» (ebd.: 198), also für die Bedingungen, die eine spezifische Formulierung eines Sachverhaltes erst möglich machen. Die Formation von Wissen beschreibt Foucault anhand der vier «Schwellen» der Positivität, Epistemologisierung, Wissenschaftlichkeit und Formalisierung (ebd.: 265-269). Die Ideengeschichte konzentriert sich nach Foucault fast ausschliesslich auf die Letzte, analysiert also voraussetzungsreiche Wissensformationen, die institutionalisiert sind und nur mit einem hohen Mass an Vorwissen und Axiomen funktionieren. Die Archäologie ihrerseits fasst vor allem die ersten beiden Stufen ins Auge. Sie untersucht auf einem oberflächlich weniger sichtbaren Feld, wie sich bestimmte Aussagen zu einem Feld mit zunehmender Autonomie verdichten und wie die in einem solchen Feld gemachten Aussagen zunehmend gewissen kohärenten Mustern folgen müssen. Dieser Fokus führt dazu, dass nicht mehr die Aussagen an sich, sondern die Formationsregeln von Aussagen in einem spezifischen Gebiet, das keineswegs den Grenzen der akademischen Disziplinen folgt, beschrieben werden können. «Die Archäologie definiert die Formationsregeln einer Gesamtheit von Aussagen.» (ebd.: 238) Zeichnet sich eine Veränderung in dieser Struktur ab, kann von einem «Bruch» gesprochen werden. Was ist ein «Bruch»? «Bruch» nennt Foucault (1981: 252) «Transformationen [...], die sich auf das allgemeine System einer oder mehrerer diskursiver Formationen auswirken». Diese Definition wird verständlicher, wenn man Foucaults Zurückweisung der traditionellen Ideengeschichte mit in den Blick nimmt. Die Einflüsse und langen Linien nachzuzeichnen, welche die Voraussetzung für die Formulierung neuer Erkenntnisse bil- Brüche sind Transformationen, die sich auf das System diskursiver Formationen auswirken. expositionen 25 Was ist ein «Paradigmenwechsel»? Wie Foucault sieht auch der Physiker Kuhn die wissenschaftliche Entwicklung weder als Resultat von individuellen Erfindungen noch als Fortschritt durch kontinuierliche Falsifikation, wie etwa Karl Popper. Ausgehend von der Gemeinschaft der Forschenden prägt Kuhn den etwas ungenauen Begriff des «Paradigmas». Damit meint er grob eine etablierte und institutionalisierte wissenschaftliche Errungenschaft, die in Bezug auf ein spezifisches Problemfeld erfolgsversprechend genug ist, um eine grössere Zahl an Anhängern zu gewinnen und Lösungen auszuarbeiten. Wissenschaft, die innerhalb eines solchen Paradigmas ausgeführt wird, beschreibt Kuhn mit der Metapher des «puzzle-solving». Auch diese so genannte «normal science» löst jedoch nicht alle ihre Probleme zufriedenstellend. In der Regel fällt dies nicht weiter ins Gewicht, es kommt aber vor, dass sich eine «Anomalie» als schwerwiegend erweist. Dann konzentriert sich die Forschung zunehmend auf diese, das Paradigma gerät in eine «Krise». Gelingt es nicht, eine Lösung zu erarbeiten, besteht die Möglichkeit einer «scientific revolution». Eine solche erfolgt, wenn ein neuer wissenschaftlicher Ansatz die Anomalie beseitigen kann ohne dabei wesentlich an Auch die «normal science» kann nicht alle Probleme befriedigend lösen. Erklärungskraft gegenüber dem alten Paradigma einzubüssen. In einem «Paradigmenwechsel» wird also an die Stelle eines alten Systems der Wissensproduktion ein neues gesetzt, wie Kuhn anhand der Einführung der Relativitätstheorie durch Einstein beispielhaft illustriert. Eine «reconstruction of the field from new fundamentals» (Kuhn 1970: 85) ist dabei als sozialpsychologische Funktion innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft zu verstehen. Das neue Paradigma ist weder besser noch schlechter als sein Vorgänger, bedeutet also keinen Fortschritt, sondern operiert schlicht entlang neuer Parameter. Spuren eines Bruchs in der General heory Kann nun Keynes’ General Theory auf einen diskursgeschichtlichen Bruch bezogen werden? Die Antwort, die der hier ausgebreitete Kontext nahelegt, lautet ja. Schliesslich hängt die Erkenntniskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur mit den epistemologischen Texten zusammen, die ebenso als Einflüsse Foucaults und Kuhns wie als Ausdruck eines Wandels der Erkenntnistheorie genannt worden sind. Beispielsweise durchliefen auch Psychologie und Biologie eine Neuformulierung, und auch die Literaturgeschichte kann an der Vielzahl der neuen Strömungen der Zeit (Expressionismus, Symbolismus, fin de siècle, Neue Sachlichkeit usw.) eine ähnlichen Bewegung ausmachen. Kurzum, «die Möglichkeit neuer Aussagen» (Foucault 1981: 238) bestand. Auch ohne ausführlichere Beschreibung der diskursiven Formationen lässt sich damit auf ein «Feld diskursiver Ereignisse» (ebd.: 42) schliessen, in dem die General Theory zu verorten ist. Keynes Text macht seine Partizipation am wissenschaftskritischen Diskurs der Zeit auch selbst explizit. Schon der Titel weist auf diese Einordnung hin – indem er Einsteins General Theory of Relativity ziemlich unverblümt zitiert. Aber auch an anderer Stelle artikuliert Keynes’ General Theory diesen Bezug: «The classical economic theorists resemble Euclidean geometers in a non-Euclidian world who, discovering that in experience straight lines apparently parallel often meet, rebuke the lines for not keeping straight […]. Yet, in truth, there is no remedy except to throw over the axiom of parallels and to work out a non-Euclidean geometry. Something similar is required in to-day economics.» (Keynes 1997: 16) Keynes parallelisiert an dieser Stelle seine Arbeit mit derjenigen von Bernhard Riemann, der mit seiner nicht-euklidischen Geometrie die Grundlage für die Relativitätstheorie geschaffen und die Mathematik fundamental erneuert hatte. Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit und den Nutzen einer basalen Neuschreibung einer Wissenschaft legitimiert Keynes einerseits seine Arbeit. Andererseits erweist sich die Passage damit aber auch als – vielleicht peripheren – Ausdruck jener «Transformation» in den «Formationsregeln einer Gesamtheit von Aussagen», die in der Zwischenkriegszeit an der Kritik der Wahrheit von wissenschaftlichen Axiomen abzulesen ist. Kein Paradigmenwechsel in der Ökonomie Die Frage bleibt: Wenn sich Keynes’ Aussagen auf gewisse neue Regeln und damit auf einen interdisziplinären «Bruch» beziehen lassen – wie steht das in Zusammenhang mit der intradisziplinären Entwicklung der Ökonomie? Um 1900 hatte sich diese im akademischen Betrieb etabliert, spezifische Methoden und Probleme identifiziert; funktionierte nach Kuhn also als «normal science». Folglich ist das lange Anhalten der hohen Arbeitslosenraten in der Grossen Depression als Stadium der «Krise» interpretierbar, da die klassische Volkswirtschaftslehre keine langfristigen Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt beschreiben konnte. In der Tat hatte also «nature [...] somehow violated the paradigm-induced expectations» (Kuhn 1970: 52). Löste die General Theory aber eine «wissenschaftliche Revolution» aus? Als Erneuerung «not [of] the superstructure [...] but [of] the premisses» der Ökonomie hatte Keynes (1997: ix) dieses Ziel ja explizit verfolgt. Aber selbst wenn man mit der weiten Definition Kuhns (1970: 85) arbeitet, die eine wissenschaftliche Revolution beschreibt als «reconstruction of the field from new fundamentals», kann man diese Sicht nicht übernehmen. Denn gerade in der anschliessenden Entwicklung der Ökonomie waren, wie gesehen, grundlegende 26 Theoreme der General Theory von der Gemeinschaft der Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nicht übernommen worden. Als Spezialfall der kurzen Frist wurde beispielsweise Keynes’ Modulation der Arbeitslosigkeit zwar in die «neoklassische Synthese» integriert. Schon das widersprach aber diametral der Ansicht des Cambridgers, der die Situation der Vollbeschäftigung als Ausnahme Spezialfall seiner Theorie konzipiert hatte. Mit dem Aufkommen des Monetarismus wurden dann selbst solche Zugeständnisse weiter zurückgedrängt. Empirisch ging mit diesem Prozess die wirtschaftliche Erholung kurz vor und die lange Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg einher. «[D]espite the despair of those who have seen it as the end of an existing paradigm» (Kuhn 1970: 84) gelang es der «normalen» oder «klassischen» Ökonomie also im Falle von Keynes «to handle the crisis-provoking problem». Dem entsprechend kann für die durchaus revolutionäre Theorie von Keynes kein Paradigmenwechsel im Sinne von Kuhn postuliert werden. Höchstens als Ausdruck einer «Krise», auf die freilich die Rückkehr zu den bewährten Forschungsstrategien folgte, ist die General Theory lesbar. Statische Ökonomie Während sich in Aussagesystemen wie der Physik, der Erkenntnistheorie, der Psychologie oder der «schönen» Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vergleichbare Transformation nachweisen lässt, ist die Volkswirtschaftslehre vergleichsweise statisch geblieben. Für letztere können daraus mindestens die zwei folgenden Schlüsse abgeleitet werden: Entweder stellen die Wirtschaftswissenschaften eine überdurchschnittlich dogmatische Disziplin dar, die schon von ihrem Kern her als liberaler Entwurf angelegt ist und die mit dem Terminus der «politischen Ökonomie» vielleicht am treffendsten beschrieben wird. Oder: Die auf Adam Smith und David Ricardo zurückgehenden Grundannahmen ebendieses liberalen Weltbildes bieten in der Tat das trefflichste Analyseinstrumentarium für den Untersuchungsgegenstand des Reichtums – auch in einem wissenssoziologischen Sinn. Welcher dieser Auffassung man folgen will? Wer kritische Debatten als wünschenswert erachtet, empfiehlt Ökonominnen erstere, Geisteswissenschaftlern aber letztere. Caspari, Volker 2009: John Maynard Keynes. In: Kurz, Heinz D. (Hg.): Klassiker des ökonomischen Denkens 2. Von Vilfredo Pareto bis Amartya Sen. 161-186 Foucault, Michel 1981: Archäologie des Wissens Keynes, John Maynard 1997: The General Theory of Employment, Interest and Money Kuhn, Thomas S. 1970: The Structure of Scientific Revolutions Rheinberger, Hans-Jörg 2008: Historische Epistemologie zur Einführung Hannes Mangold studiert Germanistik und Volkswirtschaft im 11. Semester an der Universität Bern. Die hier präsentierten Ergebnisse entstanden in Folge der Lektüre einiger Texte zur Historischen Epistemologie, die durch einen Kurs zur Literatur der klassischen Moderne an der Freien Universität Berlin angeregt worden sind. expositionen 27 Tarde vs. Durkheim Der Kampf um die «richtige» Soziologie in Frankreich um 1900 Aleksander Milosz Zielinski U m die vorletzte Jahrhundertwende war Gabriel Tarde ein einlussreicher französischer Sozialtheoretiker. Tardes Theorie der Nachahmung und Entwurf der Disziplin «Soziologie» werden hier kurz vorgestellt. Wieso sich diese nicht durchgesetzt haben, zeigt der folgende Text anhand der Debatte zwischen Tarde und Durkheim, die wiederum auf die zunehmende Virtualisierung von Lebenswelt und Wissenschaft im 20. Jahrhundert bezogen wird. Gabriel Tardes Soziologie der Nachahmung In meiner Lizentiatsarbeit habe ich mich ausführlich mit Leben und Werk von Gabriel (de) Tarde beschäftigt. Tarde? Noch nie gehört!, werden sich wohl viele von Euch denken, darunter bestimmt auch einige Soziologen und Soziologinnen. Vor hundert Jahren wäre dies sehr unwahrscheinlich gewesen, nicht nur in Frankreich: Tarde (geb. 1843) war bis zu seinem frühen Tod 1904 Inhaber des renommierten Lehrstuhls für Philosophie am Collège de France (den er vergeblich in einen Lehrstuhl für Soziologie umzubenennen versuchte) und einer der meist gelesenen Autoren der damaligen Zeit. Besnard (1995: 221) bezeichnet ihn sogar als damals bekanntesten Soziologen Frankreichs. Dagegen war der heute berühmtere Émile Durkheim, sein deutlich jüngerer Kontrahent, bis zu Tardes Tod (noch) ohne eigenen Lehrstuhl. Im Folgenden wird es darum gehen, anhand einer chronologischen Übersicht zu zeigen, wie die Auseinandersetzung zwischen Tarde und Durkheim verlief. Bevor ich aber zum Einblick in die Debatte zwischen den Beiden komme, möchte ich gerne in einigen Sätzen die wichtigsten Bausteine von Tardes «Nachahmungstheorie» präsentieren. Wie der Name schon sagt (sein Hauptwerk hiess entsprechend Gesetze der Nachahmung), handelt es sich um eine soziologische Theorie, die dem Phänomen der Nachahmung eine zentrale Rolle beimisst. Dabei beinhaltet dieser Begriff bei Tarde sowohl bewusste als auch unbewusste Formen der Nachahmung. Aus Platzgründen kann ich hier weder auf die Epistemologie Tardes (vgl. Monadologie und Soziologie) noch auf sein Wissenschaftsverständnis (vgl. Die sozialen Gesetze) eingehen. Mit Bezug auf das letztere möchte ich trotzdem festhalten, dass für Tarde die Erforschung der Gesetze der Wiederholung, des Gegensatzes und der Adaptation die Aufgabe jeder Wissenschaft war. Im Gegenstandsbereich der Soziologie handelt es sich bei den zu untersuchenden Wiederholungen eben um Nachahmungen. Nachahmungen alleine genügen jedoch nicht, um die Mannigfaltigkeit des Sozialen erklären zu können. Damit etwas nachgeahmt werden kann, muss es zuerst erfunden respektive entdeckt werden. Es ist also die Dialektik aus Erfindung und Nachahmung, die nach Tarde den Motor des Sozialen ausmacht. Dabei ist die Nachahmung die wesentlich häufigere Tätigkeit, während Erfindungen relativ selten vorkommen. Tarde entwickelt eine Typologie der unterschiedlichen Formen der Nachahmung und versucht Gesetze zu entwickeln, die erklären sollen, warum beim Aufeinanderprallen von zwei Erfindungen sich die eine und nicht die andere durchsetzt. So bizarr das aus dem heutigen Wissenschaftsverständnis heraus auch anmuten mag, so korrekt waren seine Einsichten zum Teil: So funktioniert die S-Kurve der Nachahmung in der Innovationsforschung bis heute als Erklärungsansatz für die Diffusion von Neuerungen und entspricht damit Tardes Ansatz. Auseinandersetzung zwischen Tarde und Durkheim Damit komme ich zur Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Gabriel Tarde und Émile Durkheim über das richtige Verständnis der Soziologie und ihre Begründung als eigenständige Wissenschaft. Für die nachfolgende Rekonstruktion konnte ich auf einige zuverlässige Quellen zurückgreifen, welche diese ausführlich behandeln (Lukes 1973, Besnard 1995 u.a.). Die Soziologie hatte sich in den 1890er Jahren noch nicht als eigenständige Disziplin etabliert, und es war nicht abzusehen, ob sie eines Tages eher einer «psychologie sociale» gleichen würde, wie dies Tarde vorschwebte, oder sich als Wissenschaft sui generis mit den «faits sociaux» (den sozialen Tatsachen) als Untersuchungsgegenstand würde etablieren können, wie dies Durkheim anstrebte. Besnard macht darauf aufmerksam, dass Tarde dank seiner prosaischen Sprache auch bei den jüngeren Forschern einige Sympathisanten hatte. Zudem war er nicht der einzige, der Durkheims Vorstellung der sozialen Tatsachen kritisierte. Im Wesentlichen drehte sich die Auseinandersetzung zwischen Tarde und Durkheim um die zentralen Begriffe des jeweiligen Kontrahenten und ihre Berechtigung. Durkheim kritisierte von Beginn an die inflationäre Verwendung des 28 Begriffes der Nachahmung bei Tarde und hielt ihm vor, die Bedeutung dieses Terminus so weit ausgedehnt zu haben, dass er alles und nichts bedeute. Andererseits hielt Tarde Durkheim vor, dass sein zentraler Begriff der sozialen Tatsache so definiert sei, dass er das bereits voraussetze (die Gesellschaft, das Soziale), was die Soziologie eigentlich erklären müsse. Undifferenziertheit vs. Ontologie 1890 publizierte Gabriel Tarde Les lois de l’imitation, ein Buch, das auch über akademische Kreise hinaus Beachtung fand. Durkheim, der in seinen früheren Publikation Tarde kaum Beachtung geschenkt hatte (ausser einer lobenden Erwähnung seiner kriminalistischen Aufsätze) griff die Hauptthesen dieses Buches erstmals in seiner Habilitation De la division du travail social (1893) auf und an (Tarde ist einer der meistzitierten Autoren in diesem Werk): «l’imitation ne peut rien expliquer à elle seule» (1902 [1893]: 368). Tardes Replik erscheint in den Questions sociales (Tarde 1895). Trotz zum Teil lobenswerten Erwähnungen, (z.B. «remarquable et profonde étude»; 1895: 141), fällt sein abschliessendes Urteil vernichtend aus: «M. Durkheim, rêveur tenace et tranquillement outrancier, logicien imperturbable, plus profond que juste, captieux au point de s’abuser lui-même et de se démontrer que ses constructions à priori sont des vérités d’observation, imagine aisément au dehors la continuité de déroulement logique et de développement paisible qu’il sent en lui même.» (Tarde 1895: 137). 1894 erscheint dann Durkheims bis heute vielzitierter Aufsatz Les règles de la méthode sociologique, in dem er zu Beginn den Terminus «soziale Tatsache» ins Spiel bringt und so definiert, dass dem Leser sofort klar wird, dass er sich von Tardes Konzeption der Soziologie abgrenzt: Er betont dabei vor allem, dass die Allgemeinheit eines Phänomens nicht ausreiche, um es zum Gegenstand der Soziologie zu machen. Gleichzeitig macht er schon hier darauf aufmerksam, dass der von Tarde vorgeschlagene Begriff der Nachahmung als das zentrale soziale Phänomen unbrauchbar sei, da man darunter vollkommen verschiedene Dinge verstehe, die nicht miteinander verwechselt werden dürften. Im Gegensatz zur ein Jahr zuvor erschienen Habilitation Durkheims hat dieser Aufsatz heftige Attacken seitens Tardes zur Folge. Dieser veröffentlicht nicht weniger als fünf Texte, in denen er Durkheim scharf kritisiert. Allen voran der Abdruck eines im Oktober 1894 am 1. Internationalen Kongress für Soziologie gehaltenen Vortrages, in dem er soweit geht, Durkheims Ausführungen als «fantasmagorie ontologique» zu betiteln. 1987 erscheint Durkheims berühmtestes Werk, die Untersuchung zum Selbstmord als sozialem Phänomen (Le suicide. Étude de sociologie), in dem sich der Verfasser noch deutlicher gegen Tarde und seine Soziologie wendet. Er greift dabei erneut das Argument auf, bei der Nachahmung handle es sich um drei verschiedene Phänomene, die nicht miteinander verwechselt werden dürften. Sein Argumentationsstrang läuft darauf hinaus, nur eine dieser Nachahmungsarten als «wahre» Nachahmung zu akzeptieren, Tardes Nachahmung jegliche Gemeinsamkeit mit dieser abzusprechen und zu demonstrieren, dass Tardes Theorie der Nachahmung als Ganzes unbrauchbar sei. Wie Besnard (1995: 231ff.) überzeugend darlegt, gelingt ihm eine strikte Trennung zwischen den drei Arten der Nachahmung jedoch nur bedingt. Was noch schwerer wiegt, ist dann aber, dass er selbst die Trennung vernachlässigen muss, um die reduzierte Nachahmung von Tarde zu widerlegen. Auch wenn dies selbstverständlich nicht bedeutet, dass seine Kritik unberechtigt ist, so zeigen die Schwierigkeiten in der Argumentation doch deutlich den polemischen Charakter von Durkheims Attacke. Trotz Durkheims explizitem Wunsch, den Konflikt mit Tarde irgendwann als abgeschlossen zu betrachten, zog sich die Debatte bis zu Tardes Tod hin. Allerdings war es in den Jahren nach dem Erscheinen des Suicide vor allem Durkheim, der immer wieder eine Gelegenheit fand, um die Theorie (und die Person) Tardes zu kritisieren – Tarde selbst äusserte sich in diesen Jahren kaum noch explizit zu seinem grössten Widersacher. Kein Ende des Konlikts Wie Besnard und Borlandi (2000) kürzlich gezeigt haben, darf das Fehlen von Publikationen Tardes zu diesem Thema allerdings nicht als Einverständnis mit Durkheims Kritik im Suicide verstanden werden. Vielmehr arbeitete er lange Zeit an einer passenden Replik, die er jedoch nie fertig stellte, geschweige denn publizierte. Besnard und Borlandi veröffentlichten das vorhandene Manuskript anlässlich einer Aufsatzsammlung zum 100. Jubiläum des Suicide und argumentieren überzeugend, dass es Tarde nicht wirklich gelungen sei, die Schwachstellen in Durkheims Werk dezidiert zu benennen und zu einem Gegenschlag auszuholen, was die Nicht-Veröffentlichung dieses Aufsatzes zu Lebzeiten erklären dürfte. In den Jahren 1903 bis 1904 kam es schliesslich zum eigentlichen Showdown anlässlich einer Vortragsreihe an der École des Hautes Etudes Sociales, in der Tarde und Durkheim jeweils zum Thema «Soziologie und Sozialwissenschaften» referierten, bevor es beim dritten Treffen zu einer direkten Debatte kam. Allerdings brachte auch dieses keine Annäherung der beiden Positionen, die Fronten blieben bis zum Schluss verhärtet: Tarde schloss (erneut) mit dem Vorwurf der Ontologie (während er sich selbst als Nominalisten bezeichnete), und Durkheim weigerte sich, auf diese Diskussion einzugehen, da sie für ihn am Thema vorbeiging (Lukes 1973: 312f.). Erst 1915, elf Jahre nach dem Tod von Tarde, liess sich Durkheim bei der Gelegenheit einer kurzen Geschichte der Soziologie in Frankreich ein positives Urteil über seinen Gegner entlocken: «Tarde entendait (...) faire et fit, en effet, oeuvre de sociologue» (Durkheim 1915: 12). Abschliessend ist noch auf einige Gemeinsamkeiten der gegenseitigen Attacken zu verweisen (vgl. Besnard 1995: 230): expositionen 29 Beide Autoren warfen einerseits dem anderen vor, in Metaphysik und Mystizismus zu verfallen. Beide sahen sich andererseits als Fortsetzer der soziologischen Tradition, während sie dem jeweiligen Kontrahenten Untreue gegenüber deren Prinzipien unterstellten. Vermutlich hatten beide Autoren ein Stück weit Recht mit ihrer Kritik an Methode und am begrifflichen Instrumentarium des jeweiligen Kontrahenten. Tardes Verschwinden aus dem soziologischen Diskurs Die üblichen Erklärungsansätze für die Tatsache, dass sich eine auf Émile Durkheim zurückgehende Art und Weise, Soziologie zu betreiben, durchsetzen konnte, lassen sich im Wesentlichen auf institutionelle Ursachen zurückführen: Im Gegensatz zu Tarde, der eher ein Einzelgänger war, und dem es – trotz seiner Beliebtheit bei der Pariser Leserschaft vor allem in den 1890er Jahren – nicht gelungen war, auch nur einen Schüler nachzuziehen, der seinen Ansatz weiterverfolgt hätte, hinterliess Durkheim nicht nur eine ganze «Schule» (Marcel Mauss und Maurice Halbwachs gehören zu den bekanntesten Forschern), sondern gründete zudem eine über Frankreich hinaus bekannte Fachzeitschrift, die Année Sociologique. Aus dieser Perspektive erscheint es nahe liegend, dass sich Durkheims Ideen (wie die Fundierung der Soziologie auf sozialen Tatsachen) vor allem in Frankreich durchsetzen konnten und Nachahmer fanden (bei dieser Antwort sehen wir übrigens das Tarde’sche Erklärungsmuster am Werk!). Trotzdem vermag dieser Erklärungsversuch nicht ganz zu befriedigen. Er hilft uns nämlich nicht weiter zu bestimmen, warum die Werke von Durkheim oder seinen Schülern für heutige Leser weitgehend nachvollziehbar sind (auch wenn man Anstoss an bestimmten Begriffen oder Erklärungen nehmen kann), während es schwierig ist den teilweise wirren Ausführungen von Tarde zu folgen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass heutige Theoretiker, die sich auf Tarde berufen, diesen nicht aus sich heraus erklären, sondern – mehr oder weniger gelungen – versuchen, zeitgenössische Theorien hineinzulesen, sei es Bruno Latour (2001) mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie oder, allen voran, Gilles Deleuze mit seinen Vorstellungen von Differenz und Wiederholung (1967). Von der modernen zur virtuellen Episteme In meinen Augen erscheint es vielversprechender das Verschwinden Tardes aus dem soziologischen Diskurs unter Rückgriff auf den Begriff der «Episteme» zu erklären. Episteme meint dabei quasi den Rahmen, in dem sich das Denken einer Epoche bewegt. Geprägt hat den Begriff Michel Foucault, insbesondere in Die Ordnung der Dinge (orig. 1966). Dort beschreibt er minutiös die Eigenschaften zuerst der klassischen und anschliessend der modernen Episteme. Diese präsentiert er vor dem Hintergrund der auf Analogien respektive Ähnlichkeiten basierenden und stark magischabergläubische Züge aufweisenden Episteme der Renaissance. Das Zeitalter der Repräsentation, die klassische Epi- steme, kann durch «das gegliederte System einer mathesis, einer taxinomia und einer genetischen Analyse definiert werden» (Foucault 1974: 111), während das moderne Zeitalter die Beziehung der Repräsentation selbst problematisiert. Der Unterschied kann auch prägnant mit folgender Gegenüberstellung auf den Punkt gebracht werden: «Man kann nicht die Substanzen erkennen, sondern die Phänomene; nicht die Essenzen, sondern die Gesetze; nicht die Wesen, sondern ihre Regelmässigkeiten» (ebd.: 302). Meine These lautet nun, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Übergang beobachten lässt von der modernen zur virtuellen Episteme. Worin besteht dieser Bruch? Im Gegensatz nicht nur zur modernen sondern auch zu allen vorangehenden Epistemen verschiebt sich das Denken – und seine Systematisierung in den Wissenschaften – vom Konkreten zum Abstrakten respektive vom Materiellen zum Virtuellen hin. Ich möchte dies aus Platzgründen an einem einzigen Beispiel illustrieren, Gödels Unvollständigkeitstheorem in der Mathematik. Andere prominente Beispiele wären Einsteins Relativitätstheorie oder die Quantenphysik. Der Gödelsche Beweis und eine Soziologie des Virtuellen Der Gödelsche Beweis demonstriert, dass hinreichend starke formale Systeme grundsätzlich unvollständig sind, d.h. dass Aussagen existieren, die sich innerhalb eines solchen Systems weder widerlegen noch beweisen lassen. Ausserdem ist es nicht möglich, allgemeine Entscheidungsverfahren zu identifizieren, die es erlauben würden, für beliebige Aussagen des Systems zu entscheiden, ob sie beweisbar sind oder nicht. Nicht einmal die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems kann innerhalb dieses Systems bewiesen werden. Damit wird David Hilberts Idee, dass nur das als wahr gelten kann, was beweisbar ist – ein zentrales Axiom des Materialismus, der in der modernen Episteme seinen Höhepunkt erreicht –, widerlegt. Wahrheit lässt sich nicht mathematisch auf Beweisbarkeit zurückführen. Oft wird Gödels Satz als Beleg für die Beschränktheit der Mathematik interpretiert. Ich sehe darin dagegen ein Zeichen dafür, dass die materialistische Mathematik nicht nur an ihre Grenzen gestossen sondern über sie hinausgewachsen ist, indem sie den Raum ihrer Repräsentation auf das Virtuelle hin geöffnet hat. Ein Indiz dafür ist nicht zuletzt die Rehabilitierung der imaginären Zahlen als feste Bestandteile der heutigen Mathematik. Was bedeutet meine These, wenn man sie auf die Auseinandersetzung zwischen Gabriel Tarde und Émile Durkheim überträgt? Ich möchte dies an einem Beispiel illustrieren, und zwar jenem der Verwendung der statistischen Methode bei den hier interessierenden Soziologen. In beiden Theorien nimmt sie nämlich eine wichtige Stellung ein. Allerdings ist das Statistik-Verständnis ein grundsätzlich Unterschiedliches: Während Tarde von den Nachahmungsströmen ausgeht, also von der Summe der jeweiligen Nachahmungen, interessieren Durkheim statistische Kategorien als soziale Tatsachen, d.h. als abstrakte Entitäten, die die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Handlung erhöhen oder senken. 30 Es überrascht also nicht, dass ihm Tarde, der offensichtlich nicht in der Lage war die Ebene des Konkreten zu verlassen, Ontologie vorwarf, also, dass er mit den sozialen Tatsachen die Existenz einer neuen Klasse von Gegenständen postulierte. Umso verständlicher ist dann auch, warum Durkheim einen so grossen Einfluss auf das – vor allem französische – soziologische Denken des 20. Jahrhunderts hatte: Als Erster hatte er es verstanden, den Raum des Virtuellen für diese neue Disziplin fruchtbar zu machen – nur so können nämlich seine zentralen Begriffe wie das «kollektive Bewusstsein» oder die «sozialen Tatsachen» verständlich gemacht werden – als Befreiung des Denkens von der zunehmenden Komplexität der konkreten Phänomene. Fazit Auch wenn es nach diesen Ausführungen schwierig erscheint, dafür zu argumentieren, dass Gabriel Tarde für heutige Soziologen relevant sein könnte, möchte ich trotzdem betonen, dass die Lektüre seiner Bücher (insbes. die erst kürzlich auf deutsch erschienenen Monadologie und Soziologie 2009 und Die Gesetze der Nachahmung 2003) für mich ein Vergnügen war und mir manchen Impuls für mein eigenes Denken gab. Zudem begegnete ich einer Reihe von Beispielen, die zeigten, dass Tarde durchaus auch in der Lage war Entwicklungen korrekt zu prognostizieren, auch wenn es für uns heute nicht immer nachvollziehbar bleibt, auf welcher Grundlage diese Prognosen zustande kamen. Als Fazit bleibt festzuhalten: Gabriel Tarde verdient es, (mit Vorbehalten,) in den Status eines Klassikers der Soziologie gehievt zu werden, man sollte aber Vorsicht walten lassen, wenn man ihm Konzepte und Denkmuster zuschreiben will, die erst in den letzten Jahrzehnten denkbar wurden. Möchte man sich zudem besser mit der Art und Weise vertraut machen, wie im ausgehenden 19. Jahrhundert Geschichtsphilosophie betrieben wurde und welche anderen Versuche, die Soziologie als eigenständige Disziplin zu begründen, existierten, so lohnt sich eine Lektüre der Bücher Tardes erst recht. Besnard, Philippe 1995: Durkheim critique de Tarde: Des Règles au Suicide. In: Borlandi, Massimo; Mucchielli, Laurent (Hgg.): La sociologie et sa méthode. Les Règles de Durkheim un siècle après. 221-243 Besnard, Philippe; Borlandi, Massimo 2000: Contre Durkheim à propos de son Suicide. Texte inédit de Gabriel Tarde. In: Borlandi, Massimo; Cherkaoui, Mohamed (Hgg.): Le suicide un siècle après Durkheim. 219-255 Deleuze, Gilles 1967: Différence et répétition Durkheim, Émile 1902 [1893]: De la division du travail social Durkheim, Émile 1975 [1915]: La sociologie en France. In: Textes. Éléments d’une théorie sociale. 109-118 Foucault, Michel 1974 [1966]: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften Latour, Bruno 2001: Gabriel Tarde and the End of the Social. Im Internet unter: http://www.bruno-latour.fr/ articles/article/082.html (Stand vom 16.11.2010) Lukes, Steven 1973: Emile Durkheim. His Life and Work: A Historical and Critical Study Tarde, Gabriel 1895: Questions socials. In: Ders.: Essais et mélanges sociologiques. 132-158 Tarde, Gabriel 2003: Die Gesetze der Nachahmung Tarde, Gabriel 2009: Monadologie und Soziologie Aleksander Milosz Zielinski hat im Herbst 2009 sein Studium in Soziologie und Philosophie an der Universität Bern mit einer Arbeit zu Gabriel Tarde abgeschlossen. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie in Bern und in diversen Bereichen der elektronischen Musik aktiv. expositionen 31 Arbeits- und Lebensbedingungen von Verkäuferinnen – Ein soziologisches Porträt Eine Studie zur Prekarität im Detailhandel in Zeiten des finanzgetriebenen Akkumulationsregimes Markus Flück G erade in der Schweiz scheint eine Diskussion um die Prekarisierung der Arbeitnehmenden dringend notwendig, wird doch Prekarisierung als Form der sozialen Ungerechtigkeit bisher oft tabuisiert. In welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen Erwerbsarbeit im Detailhandel als prekär zu bezeichnen ist, und wie die Betroffenen mit ihrer Situation umgehen, wird hier beleuchtet. Prekarität «Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Und prekär ist Erwerbsarbeit auch, sofern sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheiten in einem Ausmass verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert.» (Brinkmann et al. 2006: 17) Forschungsmethode Das Ziel meiner Bachelorarbeit war es, ein Bild davon zu skizzieren, wie subjektive lebensweltliche «Mikrokosmen» (Magnin 2005: 58) von Verkäuferinnen kapitalistische Makrostrukturen widerspiegeln. Meine Fragestellung lautete: Mit welchen Unsicherheiten und Unzufriedenheiten sehen sich Verkäuferinnen aufgrund ihrer beruflichen Lebenspraxis konfrontiert? Ich habe mich durchweg für Frauen als Interviewpartnerinnen entschieden, da diese im Detailhandel weit über die Hälfte aller Beschäftigten in tieferen Positionen stellen und sich exemplarisch zeigen lässt, wieso Frauen weiterhin stärker als Männer von Prekarisierung betroffen sind. Ich habe darauf geachtet, dass der Schwerpunkt der Interviews auf Stundenlöhnerinnen (die im Detailhandel relativ verbreitet sind) lag. Ansonsten war mir eine gewisse Streuung zentraler Merkmale (vor allem Familienkonstellation, aber auch gewerkschaftliche Aktivität und Alter) wichtig. Der Zugang zum Feld gestaltete sich schwierig, da ich keine direkten Kontakte besass. Über eine Gewerkschaft gelang es mir, einen ersten Gesprächstermin zu vereinbaren. Im Anschluss an das Gespräch konnte mir die Interviewpartnerin zwei weitere Gesprächspartnerinnen vermitteln (gemäss Schneeballprinzip, vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 72 f.). Auf der Suche nach einem maximalen Kontrast (jung, ledig, ohne Kinder, Schweizerin, finanziell unabhängig, vollzeitbeschäftigt) habe ich mich schliesslich selber in die Kaufhäuser begeben und so Kontakt zur vierten Interviewpartnerin aufnehmen können. Den Einstieg in die Interviews bildete ein «Wochenstundenplan», welchen ich den Interviewten vorlegte, mit der Bitte, diesen doch kommentierend auszufüllen. Im Anschluss habe ich versucht, auf die Ergebnisse des Ausfüllens vertieft einzugehen, unter anderem mit Fragen nach der Doppelbelastung von (Teilzeit-)Erwerbsarbeitarbeit und Familien- und Hausarbeit sowie der Rückfrage nach den Arbeitsbedingungen (z.B. Arbeitsklima) im Allgemeinen. Die weiteren Fragen zielten primär auf die Art und Weise der sozialen Einbettung (Familie, Freundeskreis, Vereinstätigkeiten etc.) sowie den Verlauf der Erwerbsbiografie (Ausbildung, Weiterbildung etc.). Zum Schluss fragte ich jeweils nach den persönlichen Zukunftsaussichten. Die Auswertung erfolgte dann in zwei Schritten: Einerseits Darstellung mittels «Soziologischem Porträt», andererseits vergleichende Diskussion der (Interview-)Ergebnisse im Kontext. Ursprünglich hätte ich gerne eigene Typisierungen vorgenommen, aufgrund der kleinen Fallzahl war dies aber (leider) nicht möglich. So habe ich mich entschieden, «Soziologische Porträts» zu erstellen. Robert Nisbet (1976) positioniert diese in seinem Buch Sociology as an Art Form analog zur Porträtmalerei. Dabei sollen sowohl die einzelne Persönlichkeit, als auch deren soziale Kontextualisierung herausgearbeitet werden. «Porträts, die vom Künstler angefertigt werden, betonen eher die individuellen Charakterzüge, also die Eigenschaften eines ganz bestimmten einzigartigen Menschen, während Porträts aus der Soziologie eher Merkmale hervorheben, welche eine grosse Zahl von Individuen in einer bestimmten Klasse oder Berufsgruppe normalerweise aufweisen.» (Nisbet 1976: 69, in: Honegger et al. 2010: 27) Meine Absicht war es, durch die Darstellung von «Gesichtern» die Konturen der Prekarität offenzulegen. Dabei war es mir wichtig, immer wieder Rückkoppelungen zur Prekarisierungstheorie herzustellen und mit weiterem empirischem Material zu ergänzen. Im Folgenden wird eines von insgesamt vier Porträts in voller Länge wiedergegeben. Melek Esen – ein soziologisches Porträt Melek Esen ist 39 Jahre alt, Ende der 1990er Jahre flüchtete 32 sie mit ihrem damaligen Mann aus politischen Gründen aus der Türkei in die Schweiz. Es folgte ein zweijähriges Asylverfahren, darauf hin erhielt die Familie eine Aufenthaltsbewilligung. Nach drei Jahren in der Schweiz, im Jahr 2000, erfolgte die Trennung, seitdem ist Melek alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, wobei der ältere dreizehn und der jüngere zehn Jahre alt ist. Melek Esen hat neben mehreren Deutschkursen ein sechsmonatiges Beschäftigungsprogramm absolviert und ein Jahr Betriebswirtschaftslehre an einer Fachhochschule in der Schweiz studiert. In der Türkei war sie langjährig als Buchhalterin tätig. Melek Esen arbeitet im Stundenlohnverhältnis – sie betont die Unregelmässigkeit ihrer Arbeitseinsätze. Falls es möglich ist, versucht Melek am Montag- und Dienstagnachmittag sowie am Mittwoch den ganzen Tag nicht eingeteilt zu werden. Über die Weihnachtszeit arbeitet sie vierzig Stunden pro Woche, im Durchschnitt sind es zwanzig bis fünfundzwanzig Stunden, «aber das ist unterschiedlich.» Am Montag- und Dienstagnachmittag «ich bin zu Hause, aber das ist einkaufen, waschen und putzen, Rechnungen bezahlen oder Arzttermine, aber für mich ich habe keinen Zeitteil (lacht).» Am Mittwoch geht Melek Esen den beiden Jungen beim Fussball spielen zuschauen. Gerne würde Melek «zum Beispiel ein Fitness machen oder so, ja mit den Kollegen treffen einen Kaffee trinken, oder so, etwas unterhalten, aber im Moment für mich ist sehr schwierig.» Finanziell ist die Familie «sehr eng» drin, das Geld des durchschnittlich fünfzigprozentigen Arbeitspensums reicht nicht aus und da der Vater, wenn überhaupt, nur wenig Alimente bezahlt, ist Melek Esen von finanziellen Leistungen der Sozialhilfe abhängig: «Wenn ich 100 Prozent arbeiten würde, ich kann nicht das Sozialhilfebudget erreichen.» – Die Armutsgrenze für eine alleinerziehende Person mit 2 Kindern liegt laut SKOSRichtlinien bei 3800 Franken pro Monat. Sozialhilfe zu beziehen heisst für Melek Esen, über jeden ausgegebenen und eingenommenen Franken Rechenschaft ablegen zu müssen: «Sie machen Budget so: drei Personen, wie viel Kalorien brauchen diese am Tag und wieviel Brot essen sie zum Beispiel und wie viel WC-Papier brauchen sie am Tag. Sie können so rechnen und dann eine Budget machen, das geht ja nicht so für das Leben, wir sind sehr eng.» Die Situation wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass Melek Esen keine Familienangehörigen in der Schweiz hat, die sie unterstützen könnten: «[B]ei den anderen helfen vielleicht Familie oder Bekannte, aber ich hab nur die Kollegen oder so. Ich hab keine Familie in der Schweiz. Ich muss alles selber erledigen.» Ein bisschen Entlastung bringt einzig die türkische Tagesmutter, die während Meleks Arbeitszeit zu den Kindern schaut. «Ich bezahle einfach so, das ist so wegen dem Essen, Mahlzeiten bezahle ich, den Rest bezahlt die Sozialhilfe. Ja, sonst geht es ja nicht (lacht).» Die Koordination zwischen dem Vater, der die Kinder manchmal am Wochenende zu sich nimmt, aber öfters mal kurzfristig absagt, der Tagesmutter, die dann einspringen sollte, aber vielleicht schon andere terminliche Verpflichtungen eingegangen ist, und Melek, die arbeiten muss, gestaltet sich schwierig. «Mhm, mhm ja meine Tagesmutter weiss es ja auch schon, ich habe ihr gesagt bitte, Freitag du kannst frei halten für nicht Termine und Besuche und so. Man weiss ja nicht ob der Vater die Kinder abholt oder nicht, sie akzeptiert mich bis jetzt schon, aber ab und zu ja nicht, oder.» Melek hat ein Jahr an der Fachhochschule studiert und hätte das Studium gerne abgeschlossen, aber «meine Sozialarbeiterin hat mir gesagt, dass ich arbeiten müsse und daneben studieren und eh ich habe es probiert, aber das ist nicht gegangen. Arbeit, Kinder, Schule, Haushalt und so, alles zusammen. Und alles war sehr anstrengend, ich hatte gesundheitliche Probleme auf dem Magen und mein Arzt hat mir gesagt, du kannst entscheiden, entweder Schule oder Arbeit.» Weil sie von der Sozialarbei- «einkaufen, waschen und putzen, Rechnungen bezahlen oder Arzttermine, aber für mich ich habe keinen Zeitteil (lacht).» terin die Auflage bekommen hat, arbeiten zu müssen und aus gesundheitlichen Gründen beides nicht möglich war, blieb Melek nichts anderes übrig, als sich für die Arbeit zu entscheiden. Nun möchte Melek auf dem Weiterbildungsweg die nötigen Diplome für «das Büro» nachholen, damit sie mehr verdienen kann: «Ich will eine Weiterbildung in der Buchhaltung, oder im Büro arbeiten. Ich will nicht bis an mein Lebensende beim Grossverteiler XY arbeiten, weil man nicht so gut verdient, ja ich habe es ja auch gesagt, Gastgewerbe und so man verdient ganz wenig. Ich will Weiterbildung machen.» Um etwas mehr zeitlichen Spielraum zu erhalten, hat sich Melek vor kurzem bei einer Detailhandelsfiliale in ihrer Nähe beworben. Sie hätte dadurch täglich eine Stunde Arbeitsweg sparen können. Weil die Schule der Kinder um 8.20 Uhr anfängt, hat sie den Chef beim Bewerbungsgespräch gefragt, ob sie erst um 8.15 Uhr anfangen könnte, der Chef hat das aber abgelehnt mit der Begründung: «die anderen Mütter arbeiten auch schon und wir können die Öffnungszeiten nicht verändern.» Wenn es um die Betreuung der Kinder geht, will Melek Esen keine Kompromisse eingehen: «zum Beispiel wenn meine Kinder krank sind, ich rufe ja an, meine Kinder die ganze Nacht erbrochen oder so und eh eine Magendarmgrippe, oder Fieber hat, ich kann nicht gehen, wenn sie wollen, sollen sie mir Kündigung geben, spielt keine Rolle für mich, für mich ist das Wichtigste meine Kinder Gesundheit, seine Psychologie, das ist Zufriedenheit, für mich ist sehr, sehr wichtig, während er krank und ich nicht dabei bin, das geht ja nicht für die Kinder.» Die Fürsorge gegenüber den Kindern illustriert auch schön die folgende Aussage : «Die Kinder sind, wie kann man sagen, wie Blumen so, man muss Wasser giessen und die Erde auch die pflegen, so kann man grösser werden, wachsen oder. Wenn man nicht gut zu den Blumen schaut, nicht Wasser expositionen 33 giesst, oder Erde, oder keine Sonne, das wachst ja nicht oder. Ich denke die Kinder sind auch wie Blumen so (lacht), wie Pflanzen.» Und so versucht Melek, das Beste aus der Situation zu machen und hofft, wenn die Kinder etwas älter sind sich von der Abhängigkeit der Sozialhilfe zu befreien, aber: «Das ist sehr schwierige Situation, ich kenne schon, aber man kann manchmal nicht verändern, aber leider ist so (lacht).» Brinkmann, Ulrich; Dörre, Klaus:Röbenack, Silke 2006: Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und politische Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse Honegger, Claudia; Neckel, Sighard;Magnin, Chantal 2010: Einleitung. In: Dies. (Hg.) 2010: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt Magnin, Chantal 2005: Prekäre Integration. Die Folgen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. In: Reihe Soziologie 73. 1-64 Nisbet, Robert 1976: Sociology as an Art Form Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika 2009: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch Markus Flück studiert zurzeit im Master Soziologie an der Universität Bern. Die Porträts entstanden im Rahmen seiner Bachelorarbeit. Seine Interessensschwerpunkte liegen in der Arbeits-, Kultur- und Wirtschaftssoziologie. 34 Ja schämt ihr euch denn nicht? Scham, Entdifferenzierung und die Finanzkrise Dieter Meier D as Zustandekommen und der Ablauf der weltweiten Finanzkrise lassen sich mittlerweile gut rekonstruieren. Bei den meisten Ansätzen geht es aber nur um die harten Fakten. Welche Rolle dabei der Mensch – also beispielsweise durch seine Emotionen und Affekte – spielt, wurde bisher nur wenig beachtet. Dies soll in dem hier vorliegenden Essay untersucht werden. Was im Sommer 2007 als Krise des US-Immobilienmarkts begann, weitete sich zur globalen Banken- und Finanzkrise aus. Nicht nur deren Ausmass und die Höhe der vernichteten Werte erstaunten die Öffentlichkeit. Ebenso verwunderte, dass allfällige Vorboten nicht oder falsch gedeutet wurden. Man blickte fragend zu den Wirtschaftswissenschaften, schliesslich gibt es weltweit rund eine Million ausgebildeter Ökonomen – keiner von ihnen schien das Platzen der Blase sowie die Folgen vorausgesehen zu haben. Und wer sich Der Hauptschuldige in diesem Drama mit mehreren Akten war schnell gefunden: Der Banker. zuvor kritisch zu den Vorgängen in der Finanzbranche geäussert hatte, der wurde belächelt – sofern man ihn überhaupt beachtete. Selten habe eine Wissenschaft spektakulärer versagt, schrieb Rolf Dobelli in der NZZ Ende Juni 2010 dazu, denn fast keine Disziplin könne auf einen solchen Datenpool zurückgreifen wie die Ökonomie, von den zur Verfügung stehenden Mitteln ganz zu schweigen. Trotzdem wurden nicht in erster Linie die Wirtschaftswissenschaften an den Pranger gestellt. Der Hauptschuldige in diesem Drama mit mehreren Akten war schnell gefunden: Der Banker. Gierig, weltfremd, arrogant – eine schnell wachsende Menge von wenig schmeichelhaften Adjektiven wurde verwendet, um den Charakter dieses Wesens zu beschreiben. Und auch sonst schallte dem Banker wenig Freundliches entgegen. Ihr ekelt uns an! Schämt euch! «Ihr ekelt uns an», war zum Beispiel zu vernehmen, was ja durchaus originell ist, um jemandem seinen Unmut mitzuteilen: Wovor man sich ekelt, wird durch die Sozialisation festgelegt. Hier ist zwar ein bemerkenswert vielfältiges Spektrum möglich, bei den meisten Menschen erregen aber nur ganz spezifische Dinge Ekel. Und es ist doch eher schwer vorstellbar, dass jemand dahingehend sozialisiert wird, dass er beim Anblick von Bankern Ekel verspürt. Dem Banker wurde aber nicht nur mitgeteilt, welche Gefühlsregungen sein Verhalten auslöste. Gleichzeitig wurden auch Emotionen seinerseits verlangt. «Schämt euch!», hiess es nicht selten. Genau, schämen sollten sie sich, diese Kerle! Umso empörender, dass sie nicht im Geringsten daran dachten. Schliesslich hatte ihre Branche eine Wirtschaftskrise globalen Ausmasses ausgelöst: Astronomisch hohe Vermögenswerte wurden ebenso vernichtet wie tausende von Arbeitsplätzen, einzelne Staaten gingen fast bankrott und andere mussten riesige Summen für Konjunkturprogramme aufwerfen. Bloss wegen den gierigen Bankern! Und nun wollten sich die nicht einmal schämen. Wie lässt sich dies erklären? Dazu muss etwas ausgeholt werden: Was ist Scham eigentlich, wie funktioniert sie? Schamgefühle Für das Schamgefühl sind zwei Faktoren notwendig: Eine Norm, gegen die man verstossen kann, sowie ein Gegenüber, welches diesen Verstoss mitbekommt. Normen sind gesellschaftliche Regeln, die das Zusammenleben festlegen. Sie sind eine Art Vorschriften, die uns sagen, wie wir uns in bestimmten Situationen zu verhalten haben, damit es dem gesellschaftlichen Zusammenleben angemessen ist. Verstösst man gegen eine soziale Norm, so wird dies von der Gesellschaft sanktioniert. Dies heisst nun nicht zwingend, dass man diese Normen auch anerkennen muss, und auch hinterfragen macht nicht immer Sinn (wir erinnern uns: «Weil ich deine Mutter bin, darum!»). «Soziale Norm», «Gesellschaft» und «Sanktion» sollen nun aber nicht den Eindruck erwecken, dass nur bezüglich einer Gesamtgesellschaft gegen allgemein gültige Verhaltensnormen verstossen werden kann. Dies ist auch im kleinen Kreis möglich, ja es reicht sogar eine einzelne anwesende Person, solange diese den Verstoss feststellt. Und dies deutet auf den zweiten Aspekt hin, der für die Scham notwendig ist: Das Gegenüber. Solange niemand den Verstoss gegen eine soziale Norm mitbekommt, sind auch keine Sanktionen zu befürchten. Ist dies aber der Fall, so wird man sich schämen, da man die Perspektive des Gegenübers einnimmt, und so den eigenen Verstoss feststellt. Der soziale Bezug des expositionen 35 Schamgefühls wird hier deutlich: man schämt sich vor jemandem. Der Verstoss gegen eine Norm, von deren Existenz man wusste, wird einem also bewusst. Darin ist die Scham reflexiv. Hat man jemandem Schaden zugefügt, so wird man sich wegen des Verstosses gegen die Norm, niemanden zu schädigen, und nicht wegen der Schädigung der anderen Person Der soziale Status wird nicht mehr ausschliesslich an der Leistung, sondern zunehmend am Erfolg gemessen. schämen. Dies wäre ein Schuldgefühl, welches eintritt, wenn man eine Handlung zu verantworten hat, durch deren Auswirkungen eine andere Person Schaden erlitten hat. Die Scham zielt also nicht auf den Schaden ab, sondern auf das Verhalten, welches den Schaden verursacht hat. Aber nicht nur darin unterscheiden sich diese beiden Emotionen, denn im Gegensatz zur Schuld kann die Scham nicht dauerhaft sein. Ganz trennen lassen sie sich aber trotzdem nicht; und zusammen spielen beide eine wichtige Rolle in der Sozialisation, indem sie mit der Durchsetzung von Normen und der Orientierung an Idealen gesellschaftskonformes Verhalten erzwingen. Schamlos Nun lässt sich ein weiteres Phänomen beobachten: Nicht alle Leute reagieren mit Scham, wenn sie gegen eine soziale Norm verstossen. Gerade die jüngste Generation fällt regelmässig durch als schamlos bezeichnetes Verhalten auf. Die Jugend hat weder Respekt noch Anstand! Die Beschuldigten reagieren nicht selten ratlos auf solche Vorwürfe. Das mag durch unterschiedliche Sozialisation erklärbar sein, hängt aber auch damit zusammen, dass soziale Normen einem Wandel unterliegen und Verhaltensweisen normal werden, die vor kurzem noch kaum denkbar waren – leider, mag man da denken, wenn man schon einmal im vollbesetzten Zug geführte ‹Geh-zum-Teufel-Gespräche› mitgehört hat. Interessant ist, dass sich die Leute für gewisse Verhaltensweisen nur vor bestimmten Personen schämen. Das sind zum Beispiel Leute aus derselben Umgebung oder derselben (Sub-)Kultur, wenn diese eigene Verhaltensnormen hervorgebracht hat. Zudem lässt sich beobachten, dass man sich für ein bestimmtes Verhalten nur vor Personen schämt, die – hier sind verschiedene Rangordnungen denkbar – höher gestellt sind als man selbst. Schämen? Nur bedingt Knüpfen wir hier an, um zum Thema zurückzukehren, denn eigentlich geht’s ja um Banker und deren Verhalten, respek- tive Nicht-Verhalten, denn schämen tun sie sich für den angerichteten Schaden ja nicht. Nicht gerade einfach, sowas plausibel zu machen. Aber ein Versuch lohnt sich. Die Differenzierung der Gesellschaft hat sich über die Zeit mehrfach verändert, heute leben wir in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Eines ihrer Grundprinzipien ist die neutrale Haltung gegenüber der Herkunft, der Status einer Person innerhalb der Gesellschaft hängt also von der von ihr erbrachten Leistung ab. Eine so funktionierende Gesellschaft ist zwar durchaus in der Lage, Ungleichheiten in den Teilsystemen zu erzeugen und auch zu tolerieren, betrachtet dies aber nicht als gravierend, da diese Ungleichheit als temporärer Zustand gesehen wird, der sich jederzeit wieder ändern kann. Hier lässt sich ein Wandel beobachten: Das meritokratische Ideal verschwindet zunehmend: der soziale Status wird nicht mehr ausschliesslich an der Leistung, sondern zunehmend am Erfolg gemessen. Leistung kann zwar auch zu Erfolg führen, umgekehrt setzt aber Erfolg nicht mehr zwingend Leistung voraus. Ein leistungsbedingter Status wird erarbeitet, wodurch der materielle Status und mit ihm die Anerkennung steigt. Die auf Kultur- und Sozialkapital beruhende Leistung führt so zur Stellung innerhalb der Gesellschaft. Anders beim Erfolg: Dieser ist meistens kurzfristig, oft einmalig und wird entsprechend hoch prämiert. Um Erfolg zu haben, sind bequeme Polster auf den Konten von Kulturund Sozialkapital sicher hilfreich, jedoch nicht notwendig. Mindestens so wichtig sind Rücksichtslosigkeit und ein beachtliches Mass an Selbstbewusstsein. Es dürfte zudem nützlich sein, wenn man als erfolgsorientierter Mensch allgemein gültigen Verhaltens-, ja wahrscheinlich auch Rechtsnormen, eine nicht allzu grosse Bedeutung beimisst beziehungsweise diese zu ignorieren weiss. Eine zunehmende Wichtigkeit von Erfolg lässt sich in allen gesellschaftlichen Teilbereichen beobachten, am offensichtlichsten wohl in der Unterhaltungskultur – Big Brother & Co. lassen grüssen. Aber auch in der Wirtschaft, am deutlichsten im Finanzsektor, liegt der Fokus zunehmend auf dem Erfolg. Hier sind Gewinne möglich, die nicht nur schnell und einmalig eingestrichen werden können. Sie sind zudem enorm hoch, und werden mehrheitlich von jungen Männern erzielt. Diese arbeiten viel, hart und lange. Anstelle der früher üblichen Beförderung und der damit einhergehenden Umstufung in eine höhere Lohnklasse führt dieser Einsatz aber heute – zumindest in der ‹richtigen› Branche – direkt zu hohen Verdiensten und Boni, sodass mancher bereits im Alter von 30 Jahren in Frührente gehen kann. Dass hohe Gewinne – und damit Erfolg – mittlerweile möglich sind, ohne jahrelang darauf hinzuarbeiten, hat nicht nur für die soziale Rangordnung, sondern auch für die Moral einer Gesellschaft Folgen. Die Spieltheorie belegt dies eindrücklich, und wer schon einmal an einem entsprechenden Experiment teilgenommen hat, der weiss, dass einmalig durchgeführte Transaktionen keine Verhaltensnormen hervorbringen, sondern durch Egoismus geleitet werden. Man schaut für sich selbst, und dem Rest der Gesellschaft fühlt 36 man sich nicht mehr verpflichtet. Wieso auch? Man trifft sich kaum ein zweites Mal, man macht viel Geld, und Geld macht vieles möglich. Das Verschwinden des normativen Rahmens der meritokratischen Leistungsgesellschaft, in dem bisher die Plätze innerhalb der sozialen Rangordnung ausgehandelt wurden, hat weitreichende Konsequenzen. Unterstützt durch eine immer weiter getriebene Individualisierung, einen schnellen technischen Fortschritt sowie die Globalisierung nahm der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt ab, und die Integration der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme wurde marode: Einige wurden bedeutender und einflussreicher als andere, zuoberst die Wirtschaft, wovon wiederum die Finanzbranche am meisten profitiert hat. Hängt nun der soziale Status Scham zielt also nicht auf den Schaden ab, sondern auf das Verhalten, welches den Schaden verursacht hat. von Erfolg und nicht mehr von Leistung ab, so wirkt sich dies auch auf die Sozialstruktur aus. Hohes soziales und kulturelles Kapital garantieren nicht mehr einen entsprechenden sozialen Status, wodurch sich dieser zunehmend auf zugrunde liegende ökonomische Merkmale wie Einkommen und wirtschaftlichen Erfolg stützt. Die Folgen für die Gesellschaft, allen voran der Statusverlust der Erwerbsarbeit, sind gravierend, teilweise wird gar eine neue Primärdifferenzierung behauptet: dass die heutige funktionale Differenzierung – also die Unterteilung in Teilbereiche wie Wirtschaft, Recht oder Kultur – abgelöst wird durch eine neue Unterteilung in geborene Gewinner und Verlierer. Das mag dramatisch tönen, ist aber keineswegs weit hergeholt angesichts der jährlich vererbten Vermögenswerte. Marode Integration der Teilsysteme + Erfolgskultur = Schamlosigkeit? Wie hängt das alles nun zusammen? Eigentlich sollte es ja um schamlose Banker gehen. Tut es auch, dazu muss man aber noch einiges zusammenfügen: Auf der einen Seite steht die Scham, das heisst eine Norm, gegen die man verstossen kann, sowie ein Gegenüber, das diesen Verstoss feststellen kann, auf der anderen Seite die Ablösung der Leistungsdurch die Erfolgsgesellschaft, wobei hier die Entwicklungen im Finanzsektor von speziellem Interesse sind. Für einige Sachen schämt man sich immer, für andere nur innerhalb einer bestimmten Bezugsgruppe; Die zunehmende Erosion des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts verstärkt diesen Gruppenbezug entsprechend. Man konzentriert sich zunehmend auf sich selbst, und da wird der Kreis an Personen, deren Meinung einem wichtig ist, bald einmal kleiner. So schämt man sich denn auch nur, wenn der Verstoss im dafür notwendigen Umfeld geschieht. Für den Künstler sind nur die Kritiken derjenigen von Bedeutung, die etwas von Kunst verstehen, und je angesehener der Kritiker, desto mehr Wert wird auf seine Meinung gelegt. Für den Wissenschaftler zählt auch in erster Linie der wissenschaftliche Diskurs, wobei die Kritik des renommierten Professors stärker gewichtet wird als der Beitrag eines unbekannten Verfassers. Und so wird es – grob gesprochen – auch im Finanzsektor sein. Was versteht der Laie denn schon von Anlagestrategien, Devisengeschäften und Ähnlichem? Warum sollte auf seine Meinung gehört werden? Die Leute ausserhalb der Finanzbranche sind nicht so wichtig, wenn es darum geht, das eigene Handeln zu rechtfertigen. Dies, verbunden mit dem Streben nach schnellem Erfolg und den vorhandenen Möglichkeiten, immunisiert zunehmend gegen externe Kritik, ergo verhallen auch die Appelle an das Schamgefühl zunehmend im Leeren. Die zunehmende Arbeitsteilung wird dem Rest des noch vorhandenen Verantwortungsgefühls den Todesstoss versetzen, denn: Man ist ja nicht für die Krise oder den Schaden verantwortlich, sondern hat nur seinen Job getan. Auch der zweite Aspekt der Scham, die Norm, ist differenziert zu betrachten. Der Übergang von der Leistungs- zur Erfolgsgesellschaft bringt zahlreiche Folgen mit sich. Wenn die Erwerbsarbeit tatsächlich von einem zunehmenden Bedeutungsverlust betroffen ist, dann verschwindet die Leistungsgerechtigkeit zunehmend weil damit der zentrale Aspekt dieser Gerechtigkeit verloren geht. Forderungen nach angemessener Teilnahme am Gerechitigkeitsprinzip müssen deswegen ins Leere laufen. Es entstehen neue Normen, teilweise auch nur innerhalb der Teilsysteme, bestehende verschwinden. Und wer auf der Erfolgsseite steht, der hat es immer weniger nötig, sich um den Rest der Gesellschaft und deren Verhaltensregeln zu kümmern. Warum auch, wer keinen Erfolg hat, ist ein Verlierer: Der Erfolg gibt dem Gewinner recht. Und nun? Heute lässt sich das Zustandekommen der Finanzkrise ‹technisch› erklären, und mittlerweile gibt es auch Erklärungen oder Erklärungsversuche, die den Faktor Mensch ebenfalls mit einbeziehen. Aber auch wenn man sich mittlerweile ein Bild der Vorgänge machen kann, so bleibt doch nach wie vor eine gewisse Ratlosigkeit: Wie soll es weitergehen? Den meisten scheint irgendwie klar zu sein, dass man so nicht weitermachen könne. Gleichzeitig lässt sich aber auch beobachten, dass den markigen Worten, die Finanzbranche an die kurze Leine zu legen, nur sehr selten auch entsprechende Taten gefolgt sind. Und die Banker? Es scheint mir etwas einfach, die ganze Schuld auf die Banker zu schieben. Vieles, wahrscheinlich zu vieles, war und ist abhängig von regelmässigen, hohen Netto-Renditen; wurden diese angeboten, dann wurde auch zugegriffen. Und das führt wieder einmal mehr zu der Frage, expositionen 37 ob sich die Nachfrage ein Angebot schafft oder ob es dank einem Angebot zur Nachfrage kommt. Blickt da überhaupt noch jemand durch? Oder muss man schlussendlich gar Dobelli recht geben, wenn er schreibt, dass wir uns eine Welt geschaffen haben, die so komplex ist, dass wir sie nicht mehr verstehen? Und ist es nicht etwas simpel zu glauben, mit Bankern und Politikern die Schuldigen gefunden zu haben? Schliesslich gibt es immer jemanden, der auch diesen einen Auftrag erteilt. Es hätte wohl einiges mehr an öffentlichem Druck und genauem Hinschauen gebraucht, damit sich in dieser Sache etwas bewegt hätte. Gerade das genaue Hinschauen wird ja oft und gerne vernachlässigt, solange alles glatt läuft. Als die UBS-Portfolios einem regelmässig zum Jahresende eine traumhafte Rendite aufs Konto gespült haben, hat auch niemand nach deren Zustandekommen gefragt – oder haben Sie? Nein? Schämen Sie sich! Honegger, Claudia;Neckel, Sighard;Magnin, Chantal 2010: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt. Neckel, Sighard 1991: Status und Scham: Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Dobelli, Rolf: Im Wunderland – wir haben eine kognitive Grenze überschritten. In: Neue Zürcher Zeitung 23.06.2010. Dieter Meier studiert Soziologie im Master an der Uni Bern. Der vorliegende Text basiert auf einer Arbeit im Rahmen des Seminars Ökonomische Affekte. 38 Frauen und bewaffneter Kampf Eine literarische Auseinandersetzung W Stefanie Nydegger ie wird weiblicher Terrorismus in Judith Kuckarts Roman Wahl der Waffen dargestellt? Massgebend für die Erstellung der Romanigur Jette Kindermanns, Mitglied der Bewegung 2. Juni, ist der in den 1970er Jahren geführte mediale Diskurs zur weiblichen Tatbeteiligung. Die historisch-politische Dimension des Linksterrorismus tritt in Kuckarts Werk dabei in den Hintergrund. Dagegen rückt die existentielle Seite des Terrorismus ins Zentrum, die eng gekoppelt ist an die existentielle Seite literarischen Schaffens. Mit ihrem ersten Roman Wahl der Waffen wurde Judith Kuckart 1990 als Schriftstellerin bekannt. Kuckarts Intention ist es, das gesellschaftliche Schweigen gegenüber dem deutschen Terrorismus zu brechen, das Ende der 1980er Jahre immer noch spürbar ist. Sie schreibt, dass die Geschichte der Protagonistin Jette Kindermann nicht erfunden und eng mit ihrem eigenen Leben verbunden ist. Die Bedeutung der Realisierung des Wegs in den Untergrund als politische Kämpferin, vorgeführt an der Romanfigur Jette Kindermann, die sich in das Gedächtnis des Kindes Katia, die für die Nachgeborenengeneration steht, als Verheissung für die eigenen spätere Lebensführung festgesetzt hat, wird, so Kuckart, in der Öffentlichkeit nicht thematisiert. Mit Jette verbindet Katia eine gemeinsame Zeit in deren Kindheit; Jette war Katias Kindermädchen und weibliches Vorbild. Die Beiden trennen zwei verschiedene Lebensführungen: Jette wird in den Unruhen der 1960er Jahre politisiert und entscheidet sich für ein Leben im Untergrund als aktiv kämpfendes Mitglied in der Bewegung 2. Juni, Katia, die Nachgeborene, verlässt Deutschland und wird Journalistin. Der Tod Jette Kindermanns im Kampf auf der Seite der Palästinenser, von dem Katia durch eine Zeitungsmeldung erfährt, vereint die beiden Frauen erneut. Katia begibt sich auf die Suche nach den hinterlassenen Spuren Jettes, angetrieben von Faszination und Ablehnung gegenüber der weiblichen Tatbeteiligung am bundesdeutschen Terrorismus. Die Medien: Konstruktions- und Reproduktionsmacht Zum Thema bundesdeutscher Terrorismus ist seit den 1970er Jahren zahlreiche Belletristik erschienen. Die literarischen Beiträge werden in der Forschung als gesellschaftliche Reaktion auf den Linksterrorismus gewertet. Luise Tremel konstatiert in ihrem Aufsatz Literrorisierung für den Beginn der 90er Jahre eine Wende in der Literatur über die RAF (Rote Armee Fraktion), auf die sich auch Kuckarts Roman beziehen lässt: Die Historisierung des bewaffneten Kampfes, d.h. der Perspektivenwechsel, der den Wandel der RAF von einer politischen Kraft zu einem historischen Phänomen begleitet hat, beginnt um 1990, also um das Jahr, in dem auch Kuckarts Werk erschienen ist. Die Psyche und die Persönlichkeit der einzelnen Terroristin rücken in den Fokus des Interesses, die historisch-politische Ebene wird marginalisiert. Kuckart befasst sich mit der Lebensführung einer weiblichen Revolutionärin, deren figurale Darstellung zentrale Bedeutung für den Blick auf die weibliche Tatbeteiligung am Terrorismus hat. Die Öffentlichkeit, d.h. der mediale Umgang mit den weiblichen Aktivistinnen, nimmt eine massgebende Position ein, da den Medien – als für die Öffentlichkeit bestimmt – hohe Konstruktions- und Reproduktionsmacht in der Darstellung der weiblichen Mitglieder der Bewegung 2. Juni und der RAF zukommt und somit zu grossen Teilen das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft prägen und mitbestimmen. Wolfgang Kraushaar und Gisela Diewald-Kerkmanns Beiträge zur Konstruktion und Reproduktion der weiblichen Darstellung anhand von Medienbeiträgen zur Bewegung 2. Juni dienen in der Folge dem Vergleich mit der Darstellung der fiktiven Figur Jette Kindermann aus Wahl der Waffen, die sich, so meine These, auf die reale Ingrid Siepmann zurückführen lässt. Die Darstellung von Frauen im Untergrund Zwei Textbeispiele aus dem Roman verdeutlichen den medial gesteuerten Diskurs, der sich zwischen den Polen von Zuschreibung und Entwertung bewegt: «[Jette] verkleidet als Mann, weil sie als Junge gelten will. Vergeblich, die Fahndung hält nach zwei jungen Männern und einer Frau Ausschau. […] Die eigene Bedeutung wächst mit der Gefährlichkeit, die einem zugeschrieben.» (Kuckart 2008: 91) Der Erzähler vermittelt, dass Jette als Mann wahrgenommen werden möchte. Es handelt sich hier dementsprechend nicht expositionen 39 um eine Selbstaussage der Figur Jette, d.h. es wird etwas angenommen, das Jette nicht selbst intendiert hat. Diese verkleidet sich ja als Mann, um nicht als Frau erkannt zu werden. Die Aussage des Erzählers ist jedoch eine andere: Er suggeriert, dass eine Frau in der Illegalität wie ein Mann ist oder zumindest sein möchte, d.h. im von aussen ersichtlichen Verhalten und Erscheinen sowie im Innern, im Denken und Fühlen. Kuckarts Roman nimmt hier und an anderen Textstellen eine Art der Darstellung von Frauen im bewaffneten Untergrund auf, die insbesondere in der zeitgenössischen Presse und Justiz kursierten. Diese Beschreibungen basierten dabei auf Vorstellungen und Vermutungen, die nicht auf Fakten und Selbstaussagen beruhten und vermittelten der Öffentlichkeit ein verfälschtes Bild der Täterinnen. Die Wiedergabe solcher Aussagemuster in Wahl der Waffen kann als Kritik am sensationalistischen und abwertenden Umgang mit den weiblichen Mitgliedern von RAF oder der Bewegung 2. Juni aufgefasst werden. Diese tendenziöse Zuschreibung von Merkmalen durch die Medien verdeutlicht ein weiterer Textauszug: «Etwas fehlt. Die Halbglatze sieht die Story in Fettbuchstaben […]. Er schreibt den prickelndsten Fortsetzungsroman, den sich das Blatt wünschen kann. […] Jette erregt ihn, er will sie in seine Sprache zwängen, bis sie hinausschreit aus ihrer Unwegsamkeit. Gewalttätig und weiblich. Er schwitzt. Doch etwas fehlt ihm. Ein Taschentuch? Etwas fehlt. Der Sex. ‹Lächelnd tarnt die Banklady mit Manieren eines Cowboys ihre Pläne› oder ‹Bankraub mit falschen Haaren und echter Pistole›.» (Kuckart 2008: 144ff.) Es scheint, als fühle sich der Journalist von Jette provoziert, da sie nicht in das bürgerlich-traditionelle Frauenbild passt. Dieser Eindruck entsteht durch die nebeneinander stehenden Attribute «weiblich» und «gewalttätig», die den Mann aus Angst oder Überforderung mit der Thematik zum Schwitzen bringen. Einerseits erregt ihn Jette, auf der anderen Seite möchte er sie zähmen und verfälschen, d.h. so zurecht stutzen, dass von ihr ein negatives und realitätsfernes Bild entsteht, das auf Schlagworte wie «gewalttätig» und «weiblich» reduziert werden kann. Dass Jette diese Zuschreibung zum «Schreien», ja sogar in die «Unwegsamkeit» bringen soll, spricht für die absichtlich gewollte Abwertung Jette Kindermanns in der Öffentlichkeit durch den Journalisten. Sex & Crime Nach den beiden bereits erwähnten Kategorien der Weiblichkeit und Gewalttätigkeit öffnet sich dem Journalisten in assoziativem Verfahren eine weitere Verbindung zur Terroristin: der Sex. Der Journalist geht den einfachsten Weg um eine Erfolgsstory zu lancieren und drängt Jette in den Bereich des Sex & Crime, macht sie zu einer «Banklady» mit männlichen Attributen. Die Gefährlichkeit Jettes wird durch die Verwendung des Verbs «tarnen», das Lächeln als Mittel zum Zweck, die Verwandlung der Person durch die falschen Haare und die schussbereite Pistole untermauert. Diese iktionale Szene zeigt, wie nahe terroristisches Handeln und sexuelle Potenz sich in Medienberichten stehen. Sie kann durchaus als exemplarische Wiedergabe der faktischen Berichterstattung geltend gemacht werden. Ein Banküberfall, an dem eine Frau mit dem Namen Jette Kindermann beteiligt war, wird in den Medien zum Krimi: Die beteiligte Frau wird zum Hauptereignis, während die männlichen Täter unerwähnt bleiben. Kuckarts Text kritisiert diesen Umgang, indem der Erzähler das Fehlen eines Taschentuchs (das in seinem Gebrauch doppeldeutig gesehen werden kann, nämlich sowohl zum Abwischen von Schweiss als auch von Sperma) betont und den Journalisten als Sensationslüstling und Lügner hinstellt. «Bankraub mit falschen Haaren und echter Pistole» lautet die Überschrift in der Bild-Zeitung vom 6. August 1973, zum Überfall an dem Ingrid Siepmann beteiligt war. Kuckart kritisiert die Art und Weise der faktischen Berichterstattung, setzt aber dem medialen faktischen Bild der weiblichen Terroristin keine fiktive Darstellung entgegen. Wie der Presse so unterläuft auch Kuckart der Fehler, dass sie bestehende Bilder der Terroristin wiedergibt und diese dadurch reifiziert. Ihre Darstellung der Protagonistin erinnert schliesslich doch an das Bild der weiblichen Tatbeteiligten aus dem Mediendiskurs der 1970er Jahre. Dieses hat sich offenbar im kulturellen Gedächtnis festgesetzt und in dieser Weise Eingang in die Literatur gefunden. Kuckarts Selbstanspruch auf eine Verarbeitungsfunktion ihres Textes wird hier also höchstens mangelhaft erfüllt. Eine Frau unter Männern Die Journalistin Katia rekonstruiert das Leben Jettes über deren Ex-Männer. Kindermann ist in ihren Jugendjahren der theoretisch-politische Mentor, gibt sich Jette intellektuell überlegen und lässt ihr kaum Raum sich sprachlich zu artikulieren. An vielen Stellen im Roman drückt sich Jette mimisch und gestisch aus und bedient sich somit der non-verbalen Körpersprache. Mit Jacob lernt Jette ihren Körper kennen, den sie anfänglich, aufgrund der protestantischen Zucht, die im Elternhaus herrschte, als hässlich empfindet. Jette erfährt in sexuellen Handlungen mit Jacob Befreiung, die der Text in die Nähe der Befreiung des Menschen durch den bewaffneten Kampf rückt, da die Sprache der Liebe und die des Kampfes Ähnlichkeit besitzen. Durch diese Verbindung öffnet sich dem Leser eine gängige Vermutung aus den 1970er Jahren, die besagt, dass der Griff zur Waffe für die Frau mit Befreiung gleichzusetzen ist (Günther Nollau). Jette ist jedoch, und das zeigt der Text sehr deutlich, keine Kämpferin im Dienste der Frauenbewegung, sondern Revolutionärin. Der Roman verbindet Sex und Gewalt und versucht auf diese Weise, auf Jettes spätere Liebe zum Kampf zu verweisen. Der Text wertet Jette des Weiteren als schlechte Mutter, die ihr Kind Konrad verwahrlosen lässt und ihren Sohn im Untergrund vergisst, hingegen wird der Vater Konrads mit kei- 40 ner Silbe kritisiert, obwohl er seinen väterlichen Pflichten nicht nachkommt. Jettes Handlungsunfähigkeit betreffend der Entziehung des Kindes, steht in starkem Kontrast zu den späteren Aktionen in der Bewegung 2. Juni, wo Jette ihr Leben für den Kampf bewusst aufs Spiel setzt. Mit Neumann startet Jette die ersten illegalen Aktionen. Er fühlt sich zu Jette auf der sexuellen Ebene hingezogen, an Jettes Person hat er wenig Interesse. Jette löst sich von Neumann durch den Gang in die Illegalität, der symbolisch mit der Beherrschung von Schusswaffen manifestiert wird. Die Waffe wird durch den Text als Indikator zur Abgrenzung Jettes von den anderen Frauen verwendet, die dem bürgerlichen Leben verhaftet bleiben. In der Beziehung Jettes zu Philipp kann eine hohe ideologische Ausgangsüberzeugung und die Identifikation der Figur Jette mit der Aufgabe als Revolutionärin konstatiert werden. In ihr wird sie vermehrt in jener Konstellation als vermännlichte Frau dargestellt, gerade auch im Kontrast zum biologisch männlichen Part, der als zärtlich und einfühlsam beschrieben wird. Im Text wird die weibliche Figur Jette unter einer Vielzahl von Männern isoliert. Sie gibt aufgrund dessen ihre Weiblichkeit kontinuierlich auf und erscheint zusehends als vermännlichte, harte, gewaltbereite Frau. Schreibtischtäterin Kuckart schreibt gegen die Tabuisierung einer Vorbildrolle der Terroristin für die Nachgeborenen an. Nachgeboren bedeutet: «Neidisch dabeistehen, wenn die anderen aufbrechen, nur Zeitungen, zerlesene, Bücher, Socken zurücklassen. Nachgeboren, das klingt überreif, faul. Nicht getrödelt, und doch zu spät gekommen, um dabeizusein, mitzudrehen am Rad, bevor es schwer wieder einrastet.» (Kuckart 2008: 41) Den Wunsch, dabei gewesen zu sein in der Bewegung 2. Juni, verarbeitet Kuckart im Bereich der Literatur. Wolfgang Kraushaar weist genau darauf hin: Die Bewunderungshaltung, die Anbetung des Mythischen, könne fast nur noch im Bereich der Fiktion, also von Schriftstellern, Theater- und Filmemachern, geäussert und diskutiert werden. In einem politischen Kontext sind solche Äusserungen dagegen zum Tabu geworden. Die Vergegenwärtigung der Bedeutung des revolutionären Aktivismus’ Jette Kindermanns für die Nachgeborenengeneration, zu der sich die Autorin Judith Kuckart zählt, rückt die Frage nach einer authentischen, unangepassten Lebensweise in den Vordergrund. Thomas Hoeps stellt im Zusammenhang mit Kuckarts Werk die Frage, welche Themenblöcke die Literatur in Zukunft zum bundesdeutschen Terrorismus tradieren wird. Vom Beispiel Kuckarts ausgehend lässt sich die Vermutung anstellen, dass keine Auseinandersetzung mit politischen Gründen für die Beteiligung am Terrorismus stattfinden wird, sondern vor allem der Weg in die Illegalität als radikale und totale Negierung «bürgerlicher» Lebensweisen zum zentralen tradierten Thema avanciert. Katia interessiert sich für die Entscheidung Jettes, die in den Untergrund führt und sieht in dieser Entscheidung eben deren «Wahl der Waffe». Katia «wählt» am Ende des Romans dagegen das Schreiben als ihre «Waffe». Die Rebellion Jettes als Existenzform rückt im Roman demnach in die Nähe von Katias Suche nach ihrer Identität als «Schreibtischtäterin», d.h. der Konzeption von Schreiben als Existenzform. «Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. ‹Ich› bleibt ein unanständiges Wort» (Kuckart 2008: 10), schreibt Kuckart. Katias Identität entwickelt sich im Schreiben über Jette, dieses führt Katia am Ende des Romans im fiktiven Gespräch mit Jette zur Fähigkeit, als Person, Frau und Autorin «Ich» sagen zu können ohne sich zu schämen. Das Schreiben wird zur Tat, so wie Jette ihre Moralvorstellungen in Handlung überführt hat. Durch die Fokussierung auf die existentielle Seite des Terrorismus wird gleichzeitig die existentielle Seite des literarischen Schaffens thematisiert und eine allgemeine Antwort auf die Frage nach einer selbständigen und selbstbewussten Lebensweise, abgekoppelt von Angepasstheit an gesellschaftliche Konventionen, gegeben. Diewald-Kerkmann, Gisela 2009: Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni Hoeps, Thomas 2000: Arbeit am Widerspruch. «Terrorismus» in deutschen Romanen und Erzählungen (1837-1992) Kraushaar, Wolfgang 2006: Mythos RAF. Im Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung und populistischer Bedrohungsphantasie. In: Ders. (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. 11861210 Kuckart, Judith 2008: Wahl der Waffen (Neuauflage) Tremel, Luise 2006: Literrorisierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004. In: Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. 1117-1154 Stefanie Nydegger studiert Germanistik und Erziehungswissenschaften im 9. Semester an der Universität Bern. Im vorliegenden Text präsentiert sie einen Ausschnitt ihrer BA-Arbeit. expositionen 41 «Väterliteratur» als literaturgeschichtlicher Problemfall Eine sehr kurze Übersicht Julian Reidy D as Genre der «Väterliteratur» wurde bisher als Auseinandersetzung mit den Vätern als Vertreter der Macht konzipiert. Hier wird ein solches Kriterium anhand von zentralen, zu dieser Kategorie gezählten Texten hinterfragt. Mit dem Terminus «Vertrauenskrise» wird ein alternatives Unterscheidungsmerkmal vorgeschlagen. Widersprüche und fehlende Mütter Die in den 1970er Jahren angeblich aufkommende «Väterliteratur» ist schnell erklärt. Im Rahmen eines relativ überschaubaren Textkorpus werde, so die germanistische Forschung, «Kritik am Vater als dem symbolischen Vertreter der Macht und des Gesetzes» (Venske 1992: 272) geübt; es handle sich um ein «genre» (Kosta 2001: 230), in dem «sons and daughters» mittels «autobiography/biography [...] probe[] their fathers’ involvement in the Third Reich while creating a literary mirror for self-reflection» (ebd.: 220). Trotz dieser im Grunde simplen Definition begegnen in der Sekundärliteratur zu den «Väterbüchern» überraschende Widersprüche; eine einheitliche Definition des angeblichen Genres der «Väterliteratur» liegt nicht vor. Allein über die zeitliche Einordnung der «Väterliteratur» herrscht Uneinigkeit, spricht doch Konrad Kenkel (1993: 186) von den «späten siebziger Jahren», Susan Figge (1993: 193) von den «early 1970s» und Aleida Assmann (2010: 193) von den «1970er und 1980er Jahre[n]». Zuweilen bleiben sogar wichtige Prämissen des Genres gänzlich unerfüllt, beispielsweise diejenige, wonach die «Väterbücher» stets eine Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit des Vaters darstellen sollten (so zum Beispiel in Jutta Schuttings Der Vater und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe), ganz zu schweigen von der äusserst problematischen Grundannahme, dass die Mütter in der «Väterliteratur» keine oder nur eine «peripherale» (Schlant 1999: 88) Rolle spielen. Heterogenität und Genre-Bildung Ausserdem scheint sich die Forschung nicht im Klaren darüber zu sein, ob die Texte der «Väterliteratur» als Werke der sogenannten Neuen Subjektivität zu gelten haben und damit eine weitgehend entpolitisierte, jedoch auf jeden Fall subjektive und individuelle Innensicht zur Darstellung bringen, oder ob sie für ein eminent politisches, gar polemisches autobiographisches Schreiben stehen. Diese Ambivalenz kommt nicht von ungefähr: In den «Väterbüchern» tritt den Rezipienten ein breites Spektrum an Reaktionen auf und Konfrontationen mit Vätern entgegen, wobei Privates und Subjektives mit politischen Reflexionen kollidiert. Die Frage, ob eine Gruppierung derart heterogener Werke unter geteilte Überbegriffe sinnvoll ist, stellt sich dabei von selbst. Wer es auf sich nimmt, die einzelnen «Väterbücher» zu vergleichen, konstatiert eine irritierende Heterogenität, die allein schon dem geteilten Genrebegriff Hohn spricht und bereits bei den geschilderten Vätern anfängt. Da stösst man nicht nur auf die grösstmögliche Variation in Bezug auf soziale Herkunft – vom adligen Gutsbesitzer bei Elisabeth Plessen über den Kriegsfotografen bei Peter Henisch und den protestantischen Pfarrer bei Ruth Rehmann bis hin zum proletarischen und katholischen blue-collar-worker bei Günter Seuren sind so gut wie alle Klassen und Hintergründe vertreten –, auch die ideologischen Vorzeichen könnten bei den diversen Vätern nicht unterschiedlicher sein: sie reichen von fanatischer und unbelehrbarer Befürwortung des Nationalsozialismus (beispielsweise bei Vesper und Gauch) über unreflektiertes Mitläufertum (bei Henisch) bis zu apolitischer Indifferenz (bei Schutting) oder gar einer gewissen kritischen Distanz zum Regime (bei Härtling). Der Tod der Väter Wer wie Schlant (1999: 85) davon ausgeht, dass unter solchen Vorzeichen formal und inhaltlich einheitliche «formula novels» geschrieben werden, die man allesamt leicht in dasselbe Genre und denselben literarhistorischen Kontext einordnen kann, der irrt. Sogar die angeblichen Grundkonstanten des Genres werden von Text zu Text äusserst different gestaltet oder fehlen gar ganz. Beispielsweise behauptet Hinrich Seeba (1991: 181), die in den «Väterbüchern» geschilderten Auseinandersetzungen fänden «immer nur», in gleichsam «monologischer» Manier, nach dem Tod der jeweiligen Väter statt. Beide angeblichen Grundtendenzen der «Väterliteratur» – der Tod des Vaters als Schreibimpuls und die «monologische» Anlage der Texte – sind in Wirklichkeit keine: Es gibt durchaus «Väterbücher», die von Disputen und Auseinandersetzungen zehren, welche sich zutrugen, als die jeweiligen Väter noch lebten (bei Vesper, Henisch und Plessen). Wir stellen hier einen ganz markanten Unterschied zwischen den verschiedenen Schreibsituationen fest, die in der «Väterliteratur» anzutreffen sind. Je nachdem, ob sich die 42 Autorin oder der Autor noch vor dem Tod des Vaters mit dessen konkreter und ideologischer Autorität kritisch auseinandergesetzt hat, entstehen ganz verschiedene Kommunikationssituationen; das angebliche Genre basiert also keineswegs auf einheitlichen produktionsästhetischen Prämissen. Ein fuzzy concept und die «Vertrauenskrise» «Väterliteratur» ist offenbar ein unzureichend definierter Begriff; wir haben es gleichsam mit einem «fuzzy concept» zu tun. Dass dieser Umstand der Germanistik bisher weitgehend entgangen ist, liegt vor allem darin begründet, dass die meisten Forschungsbeiträge zum Thema nur eine kleine Auswahl an Primärliteratur in den Blick nehmen und auf dieser Basis enorm weitreichende Schlüsse ziehen. Wir wollen daher in der Folge zu den meisten Texten im Korpus der «Väterliteratur» in wenigen Sätzen Stellung nehmen und auf die Probleme verweisen, die sich bei einer Analyse dieser Werke für das angebliche Genre stellen. Dabei gehen wir davon aus, dass das wichtigste Charakteristikum dieser Werke nicht ein irgendwie gearteter Konflikt zwischen Vätern und Söhnen oder Töchtern ist, sondern eine übergeordnete «Vertrauenskrise», die sich im familiären Raum angesichts der mangelhaft verarbeiteten Vergangenheit konstituiert und auf weitere Lebensbereiche übergreift. Die Texte entstehen mithin aus einer gesellschaftlichen Situation, in der die «Inanspruchnahme [...] jeglicher Autorität durch die ältere Generation [...] für die jüngere mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit [...] nicht länger akzeptabel [war]» (Mauelshagen 1995: 39). Das wichtigste Charakteristikum dieser Werke ist nicht ein Konflikt zwischen Vätern und Söhnen oder Töchtern, sondern eine übergeordnete «Vertrauenskrise». Historiographie und Literatur Aus unserer Betrachtung der verschiedenen «Väterbücher» ergibt sich ausserdem, dass sich in der «Väterliteratur» neben einer «Vertrauenskrise» auch eine besondere Form literarischer Historiographie manifestiert: In solcher literarischer Produktion, die ein «Scharnier zwischen dem Familiengedächtnis und der Aussenwelt» (Assmann 2010: 213) bildet, sind Fiktionen und Tatsachen nicht mehr klar zu scheiden, verschwindet mithin auch die Trennlinie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung. Wir postulieren also, dass es sich bei der «Väterliteratur» um eine Form von historischer Forschung handelt, die womöglich «on the personal level» Erkenntnisse über «national history» (Bushell 2004: 100) erarbeiten kann – somit weist die «Väterliteratur» eine politisch- historiographische Grundierung auf, die einer Einordnung des Genres in das Umfeld der Neuen Subjektivität widerspricht. Wir plädieren deshalb im Folgenden für eine Anerkennung der uneinholbaren Heterogenität, welche diesen Werken eignet. Es handelt sich hier um individuell verschiedene Reaktionen auf Problemstellungen, die paradoxerweise zugleich einzigartig und allgemeingültig sind; sie entspringen einer «Vertrauenskrise» und sind als Hybride von Geschichtsschreibung und Literatur zu betrachten, die zwischen Fiktionalität und Faktualität, zwischen einer Kontemplation des Subjektiven und einem dezidierten politischen Impetus oszillieren. Zu betonen ist, dass vergleichende Analysen der «Väterbücher» nicht rundweg abzulehnen sind; schliesslich unternehme ich in meinem Dissertationsprojekt einen ähnlichen Versuch. Kritisiert wird nur die Konstitution eines konsistenten und homogenen Genres auf zweifelhafter und widersprüchlicher Basis, welches die Rezeption gerne im Kontext der Neuen Subjektivität ansiedelt. Die einzelnen Texte weisen aber sehr wohl Gemeinsamkeiten auf, für deren Verständnis scheinen allerdings weitmaschigere Begriffe wie derjenige der «Vertrauenskrise» adäquater. Ein kritischer und sehr kurzer Überblick über die «Väterbücher» Bernward Vesper, Die Reise In der Forschung zur «Väterliteratur» wird zumeist Bernward Vespers «Romanessay» Die Reise (1977) als «Prototyp der Gattung» (Assmann 2010: 206) ausgemacht. Die meisten Interpreten lesen den Text als Auseinandersetzung mit dem Nazi-Vater Will Vesper und als Zeitdokument der Umwälzungen von 1968, wobei einige Vesper auch eine ideologische Nähe zum damals aufkommenden Linksterrorismus der RAF vorwerfen. Eine eingehende Analyse der Reise zeigt aber, dass Vespers Mutter fast so prominent im Text figuriert wie der Vater, diesem in ihrer Brutalität und ideologischen Verblendung in nichts nachsteht und dass Vespers kritische Reflexionen nicht bei der Figur des Vaters Halt machen. Vielmehr analysiert er (unter dem Einfluss von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse) die soziale Institution der Familie überhaupt, welche er – im Zuge der oben definierten «Vertrauenskrise» – in einer fundamental schuldgeprägten und faschistoiden Gesellschaft situiert. Der zwischen 1969 und 1971 verfasste Text, der posthum 1977 erschien, fokussiert somit keineswegs nur den Vater und weist einen eminent politischen Impetus auf. Also ist er weder in eine «Väterliteratur» noch in das Umfeld einer entpolitisierten Neuen Subjektivität einzuordnen. Es lässt sich auch zeigen, dass der Verdacht der Terrorismusund Gewaltverherrlichung in Bezug auf Die Reise unberechtigt ist: Im Kern des Buches steht nicht etwa terroristische Propaganda, sondern Vespers Versuch, auf der Basis der Postulate der New Left (u. a. von C. Wright Mills) und der Theorien der Kommune 2 (Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums) seine Identität als «Kind von Mittelklasseeltern» (Vesper 2009: 238) neu zu verhandeln und ein ge- expositionen 43 nuin revolutionäres Bewusstsein zu konstituieren. Eine Einordnung der Reise in den Kontext der «Väterliteratur» ist mithin aus inhaltlichen Gründen abzulehnen – die «Vertrauenskrise», die der Text behandelt, erfasst die ganze Gesellschaft und ihre Institutionen, nicht nur den Vater, und Vespers kritisches Anliegen ist ein sehr politisches und zeittypisches; in den vielen essayistischen und theoretischen Passagen konstatieren wir zudem den erwähnten historiographischen Gestus, dem bisher in der Forschung kaum Bedeutung zugemessen wurde. Anzumerken ist auch, dass Die Reise hitzige Diskussionen des Autors mit seinem Vater protokolliert – zwar war Will Vesper zum Zeitpunkt der Niederschrift des Textes tatsächlich bereits gestorben, aber man kann nicht behaupten, dass es sich hier um eine monologische Auseinandersetzung mit einem «immer nur» (Seeba 1991: 181) oder immer schon toten Vater handelt. Christoph Meckel, Suchbild. Über meinen Vater Ebenso zu kritisieren ist der bisherige germanistische Umgang mit Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater (1980): Der Text wird durch den Roman Suchbild. Meine Mutter (2002) ergänzt; beide Werke bilden laut dem Autor ein «Diptychon[]» (Meckel 2005: 128) – wer in Bezug auf Mekkel von «Väterliteratur» spricht, ignoriert also willentlich einen Teil dieses Diptychons. Auch bei Meckel konstatieren wir eine weit über den Vater hinausreichende analytische Geste: Die «Vertrauenskrise» setzt ein, als der Autor das Kriegstagebuch seines Vaters entdeckt; seine kritischen Reflexionen erfassen sodann aber Vater und Mutter, die Familie als solche. In meiner Arbeit schlage ich in diesem Zusammenhang Brücken zu Albrecht Koschorkes Thesen über das Nachleben des biblischen Modells der Heiligen Familie und zu Wilhelm Riehls traditionalistischen und im 19. Jahrhundert vielgelesenen Ausführungen über Die Familie (1855). Auch Meckels Vorgehen ist im Übrigen von einem nahezu geschichtswissenschaftlichen Impetus getragen; beispielsweise nutzt er das Kriegstagebuch des Vaters als ergiebige Primärquelle. Der Begriff einer «Väterliteratur» greift also auch hier zu kurz. Meckels Erkenntnisinteresse umfasst mehr als nur die Person des Vaters oder einen irgendwie gearteten Generationenkonflikt. Peter Henisch, Die kleine Figur meines Vaters Dasselbe gilt für Peter Henischs Roman Die kleine Figur meines Vaters (1975): Auch hier findet sich, entgegen den Prämissen der «Väterliteratur», eine gleichsam «dialogische» Struktur, denn der Text stützt sich auf Debatten und Gespräche mit dem Vater. Bei Henisch machen transkribierte Tonbandinterviews mit dem Vater, dem Kriegs- und Propagandafotografen Walter Henisch, sogar einen Grossteil des Romans aus; der Text hat mithin die Anlage einer «oral history». Es lässt sich leicht zeigen, dass Henischs Anliegen nicht die Enttarnung oder die Anklage des Vaters ist (im Gegenteil, sein Verhältnis zum Vater ist im Vergleich zu den anderen «Väterliteraten» geradezu innig und liebevoll), vielmehr stellt der Text gleichsam ein geschichtswissenschaftliches Projekt dar. Dass die nationalsozialistische Vergangenheit systematisch verdrängt wird, löst eine Krise des Vertrauens in das öffentliche Geschichtsbewusstsein aus. Analysiert wird, grob ausgedrückt, das Phänomen des Mitläufertums, wobei der Vater nur als Beispiel dient und die Erkenntnisse objektiviert werden (eine verallgemeinerte Anfälligkeit des Künstlers für ideologische Verlockungen ortet Peter Henisch selbstkritisch auch bei sich selbst). Der Anstoss für die Niederschrift des Romans ist, wie gesagt, nicht etwa ein Generationenkonflikt, sondern die Beobachtung des Autors, dass die nationalsozialistische Vergangenheit in der Öffentlichkeit systematisch verdrängt wird. Diese Feststellung löst eine Krise des Vertrauens in das öffentliche Geschichtsbewusstsein aus, die mit der Aufarbeitung der beispielhaften Biographie des Vaters beigelegt wird. Die politische Grundierung des Textes und das nahezu wissenschaftlich anmutende Vorgehen des Autors lassen eine Einordnung von Peter Henisch in den Kontext einer «Väterliteratur» abstrus erscheinen. Elisabeth Plessen, Mitteilung an den Adel Der Dialog mit dem Vater spielt sich auch in Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel (1976) im Kontext eines «Forschungsprojekts» ab: Plessens Vater, im Buch nur C. A. genannt, war Adliger und Mitläufer im Dritten Reich. Die Tatsache, dass er sich von den Nazis instrumentalisieren liess, löst bei der Tochter eine «Vertrauenskrise» aus, die nicht nur den Vater erfasst, sondern die gesellschaftliche Institution des Adels: Am Beispiel des Vaters und anhand der fruchtlosen Debatten, die sie mit ihm führte, analysiert Plessen akribisch die Dispositionen, welche den Adelsstand für die ideologischen Angebote der Nationalsozialisten anfällig machten. Die Autorin bringt mithin eine historiographische Institutionskritik mit politischer Sprengkraft vor, die durch Dialoge mit einem exemplarischen Mitläufer analytisch gefestigt ist; auch hier liegt der Fokus keineswegs nur auf einem spezifischen Vater oder der für die neue Subjektivität typischen privaten Innerlichkeit. Ruth Rehmann, Mann auf der Kanzel Ein institutionskritisches Projekt verfolgt auch Ruth Rehmann, die im Mann auf der Kanzel (1979) anhand ihres Vaters – ein 1940 verstorbener protestantischer Pfarrer, der kein Nazi war, aber das Regime aus theologisch-staatstragenden Gründen mittrug – beispielhaft zeigt, wie sich grosse Teile der protestantischen Geistlichkeit aufgrund ihrer staatstreuen theologischen Haltung von den Nazis vereinnahmen liessen. Auch sie interviewt Zeitzeugen und geht mit einem 44 sorgfältigen Forschergestus vor. Ihr eigener Sohn Jan Rehmann, seines Zeichens Historiker, nutzte die Untersuchungen seiner Mutter später gar als Quelle für seine wissenschaftliche Studie über Kirchen im NS-Staat. In Bezug auf diesen institutionskritischen Text, der das Private als politisch relevant versteht, greift der Terminus «Väterliteratur» zu kurz, und sicherlich haben wir es nicht mit einem Beispiel für Neue Subjektivität zu tun. E. A. Rauter, Brief an meine Erzieher Einen etwas erratischen und in der Sekundärliteratur bislang kaum beachteten Fall stellt E. A. Rauters Brief an meine Erzieher (1979) dar. Er bringt eine «Vertrauenskrise» zur Darstellung, die so allumfassend und hasserfüllt ist wie ansonsten nur bei Vesper; dabei bricht auch er mit den meisten Prämissen der «Väterliteratur»: Es handelt sich um einen Brief an meine Erzieher, nicht um einen (um mit Kafka zu sprechen) «Brief an den Vater». Rauters Hass richtet sich vor allem gegen seine Pflegeeltern – auch und gerade gegen die Pflegemutter. Ausgerechnet seinen leiblichen Vater aber bezeichnet der Autor als «Traumvater» (Rauter 1979: 68). Auch Rauters Zorn ist kein rein privater, im Raum der Neuen Subjektivität anzusiedelnder: Nach seiner traumatischen Kindheit bei den brutalen Pflegeeltern und im Erziehungsheim wird Rauter zum Randständigen, zum Kleinkriminellen und potenziellen Politterroristen. Rauter schreibt im Korpus der «Väterliteratur» als einziger Autor aus einer genuin und konstant «unbürgerlichen» und unterprivilegierten Perspektive, und aufgrund des im Brief an meine Erzieher formulierten Hasses, der sich keineswegs gegen den Vater richtet, wohl aber gegen die Gesamtgesellschaft und ihre Institutionen – der also auch eine politische Komponente aufweist –, kann man auch in Bezug auf Rauter nicht von «Väterliteratur» sprechen. Brigitte Schwaiger, Günter Seuren, Sigfrid Gauch Für Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit (1980) gilt sodann, dass in dieser Aufarbeitung des Vatertraumas auch die Mutter eine ganz gewichtige Rolle spielt, was bislang nur Aleida Assmann (2010: 208f.) bemerkt hat, die der Autorin mit einigem Recht einen Elektrakomplex attestiert. Wer in Schwaigers Buch nur eine Auseinandersetzung mit dem Vater sieht, ignoriert zudem die sprachkritischen Reflexionen der Autorin über das lange Nachleben antisemitischen Denkens und nationalsozialistischer Indoktrination – beides konstatiert sie mit Schrecken noch bei sich selbst, und ihre Ausführungen über die sich hartnäckig haltenden Denk- und Sprachmuster verleihen auch diesem Text schliesslich eine historiographisch-politische, über den Vater hinausweisende Dimension. Zu Günter Seurens Abschied von einem Mörder (1980) und Sigfrid Gauchs Vaterspuren (1979) ist anzumerken, dass die beiden Texte wahrscheinlich eine spezielle Unterkategorie der «Väterliteratur» darstellen, da es sich hier um die einzigen Werke handelt, in denen waschechte Täter und Kriegsverbrecher geschildert werden. Allein dadurch erhalten die Tex- te meines Erachtens einen Sonderstatus, der sie eher in die Nähe der beispielsweise von Dan Bar-On und Peter Sichrovsky unternommenen geschichtswissenschaftlichen und psychologischen Auseinandersetzungen mit den Nachkommen von Tätern rückt als in das Umfeld einer irgendwie gearteten «Väterliteratur». Jutta Schutting, Peter Härtling Vollkommen aus dem Rahmen fallen schliesslich die Bücher von Jutta Schutting und Peter Härtling. In Schuttings Erzählung Der Vater (1980) wird in apolitischer Weise eine idiosynkratische Form der Trauerarbeit betrieben; der Text wird zudem ergänzt durch den Roman Der Tod meiner Mutter (1997) – von «Vertrauenskrise» oder historiographischem Interesse keine Spur. Ähnliches gilt für Härtlings Roman Nachgetragene Liebe: Hier ist die Grundsituation der «Väterliteratur» invertiert, denn es war der Sohn, der (im Teenageralter) zu den Nazis abdriftete, während der Vater weitgehend standhaft blieb, als Anwalt noch lange jüdische Klienten verteidigte, und schliesslich in russischer Kriegsgefangenschaft starb. Dem Buch fehlt ebenfalls jegliche politische Färbung; eine «Vertrauenskrise» kommt nicht zur Darstellung, denn der Gestus ist primär ein entschuldigender. Nachgetragene Liebe (1980) ist somit der einzige Text aus dem Korpus der «Väterliteratur», den wir tatsächlich in das Umfeld der Neuen Subjektivität einordnen würden. Was tun mit der «Väterliteratur»? Ein Ausblick Wir dürfen festhalten, dass die einzelnen Werke die ohnehin widersprüchlichen Prämissen der «Väterliteratur» nicht erfüllen. In jedem angeblichen «Väterbuch» begegnet ein Erkenntnisinteresse, das viel mehr erfasst als nur die Person des Vaters: Mal fungiert die Mutter als zentrale Figur neben Das Anliegen vieler Autoren ist ein historiographisches: Historische Tatsachen sollen aufgearbeitet und über das Medium der Literatur vermittelt werden. dem Vater, mal gelten die analytischen Bemühungen der Autorinnen und Autoren der Familie als solcher oder der Gesamtgesellschaft, und in vielen Fällen beginnt die Auseinandersetzung mit den Vätern keineswegs erst nach deren Ableben. Das Anliegen sehr vieler Autoren ist zudem, wie wir zeigen konnten, ein historiographisches; es sollen historische Tatsachen aufgearbeitet und über das Medium der Literatur vermittelt werden. Diesem Vorgehen wohnt ein politischer Impetus und ein Bemühen um Öffentlichkeit inne, sodass von Neuer Subjektivität in Bezug auf diese Texte nicht die Rede sein kann. expositionen 45 Die «Väterliteratur» ist also nicht nur ein Genre, das oberflächlich und widersprüchlich definiert wurde: Auch die Texte, die es angeblich umfasst, entsprechen diesen Definitionen nur selten. Aus diesen Erkenntnissen folgt, dass ein Vergleich der fraglichen Werke nur fruchtbar sein kann, wenn man von homogenisierenden und vereinfachenden Begrifflichkeiten Abstand nimmt. Für alle «Väterbücher» ist die bereits erwähnte Heterogenität charakteristisch, die nicht zuletzt aus ihrer autobiographischen Spezifität erwächst. Wir halten es demnach für vermessen, sie allesamt demselben Genre zuzuordnen, und lehnen den myopischen und unzureichend definierten Begriff der «Väterliteratur» ab. Angemessener scheint uns eine Annäherung an diese facettenreichen Texte über den neu geschöpften Terminus «Vertrauenskrise» – im Bewusstsein der historiographischen und politischen Dimension der «Väterbücher». Assmann, Aleida 2010: Hilflose Despoten. Väter in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Thomä, Dieter (Hg.): Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. 198-214 Bushell, Anthony 2004: Family History as National History: Peter Henisch’s Novel «Die kleine Figur meines Vaters» and the Issue of Memory in Austria’s Second Republic. In: Orbis Litterarum 59 (2004). 100-113 Figge, Susan G. 1993: Fathers, Daughters, and the Nazi Past. Father Literature and its (Resisting) Readers. In: Martin, Elaine (Hg.): Gender, Patriarchy and Fascism in the Third Reich. The Response of Women Writers. 274-302 Kenkel, Konrad 1993: Der lange Weg nach innen. Väter-Romane der 70er und 80er Jahre. Christoph Meckel «Suchbild: Über meinen Vater» (1980), Elisabeth Plessen «Mitteilungen [sic!] an den Adel» (1976) und Peter Härtling «Nachgetragene Liebe» (1980). In: Brauneck, Manfred (Hg.): Der Deutsche Roman nach 1945. 167187 Kosta, Barbara 2001: Väterliteratur, Masculinity, and History. In: Jerome, Roy (Hg.): Conceptions of Postwar German Masculinity. 219-241 Mauelshagen, Claudia 1995: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre Seeba, Hinrich C. 1991: Erfundene Vergangenheit. Zur Fiktionalität historischer Identitätsbildung in den Väter-Geschichten der Gegenwart. In: Germanic Review 66.4 (1991). 176-182 Schlant, Ernestine 1999: The Language of Silence. West German Literature and the Holocaust Venske, Regula 1992: Frauenliteratur – Literatur von Frauen. In: Briegleb, Klaus; Weigel, Sigrid (Hgg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. 245-278 Der vorliegende Artikel ist eine leicht abgewandelte Version eines Vortrags, den Julian Reidy am 16. Oktober 2010 an der University of Cincinnati im Rahmen der alljährlichen Tagung Focus on German Studies hielt. Julian ermutigt mit diesem Beitrag hiesige GermanistInnen zum Focus-Jahrbuch beizutragen oder nächstes Jahr an der Tagung teilzunehmen. Mehr Informationen unter: http://www.artsci.uc.edu/collegedepts/german/focus/ 46 «On a knight’s errand» Fremderfahrung und Selbstfindung in Kevin Costners Dances With Wolves Fiona Gunst I n Kevin Costners mehrfach preisgekröntem Film Dances With Wolves (1990) wird die (Selbst-) Erfahrung des Weissen an der Grenze – ein konventionelles Motiv des Westernilms – mit der Annäherung an das Fremde, einen Indianerstamm, enggeführt. Das Muster, nach dem John J. Dunbars Transformation zu Dances With Wolves erzählt wird, ist das eines Übergangsritus’. Dances with Wolves beginnt mit einer Szene aus dem nordamerikanischen Bürgerkrieg. Dunbar ist verletzt und beschliesst seinem Leiden mit einem Kamikazeritt zwischen den Fronten ein Ende zu machen. Dadurch wird er ungewollt zum Helden und darf sich an einen Ort seiner Wahl versetzen lassen. Er entscheidet sich für den Westen: «I’ve always wanted to see the frontier […] before it’s gone». Die Disposition Dunbars präsentiert sich in diametralem Abstand zu der des Majors, der ihm den Passierschein für die Reise zum «furthermost outpost of the realm» ausstellt. Dieser fragt Dunbar, ob er ein «Indian-fighter» sei, worauf der Lieutenant irritiert reagiert. Der Major qualifiziert die indianische Kultur damit wie fast alle anderen Weissen im Film als «NichtKultur» (Lotman) ab, gegen die die «Kultur» aggressiv vorzugehen habe. Statt die Grenze der weissen Welt als Ort der Gefahr und Möglichkeit zur Selbstbehauptung im Kampf gegen die Indianer zu begreifen, scheint sie Dunbar dagegen einfach zu faszinieren. Dass diese Grenze eine menschgemachte, arbiträre und virtuelle ist, wird bei Dunbars Eintreffen im Fort offenbar: Statt eines befestigten, mit Palisaden umgebenen Grenzpostens erwarten Dunbar zerfallene, verlassene Hütten. Der äusserste Punkt des von den Weissen eroberten Gebiets ist zerstört. Die «Grenze» existiert nur in den Köpfen der Siedler und behauptet sich nicht in der Wirklichkeit. Das Fort ist damit ein liminaler Ort, einer, an dem Gegensätze sich aufheben und Grenzen nicht weiter existieren. Liminalität und Fremdheit Der «Limen» meint in Zusammenhang mit den «rites de passages», deren Bedingungen Victor Turner im Anschluss an Arnold Van Gennep untersucht hat, die Zeit und den Ort des Übergangs. Echte Übergangsriten sind für Turner an Stammesgemeinschaften gebunden und dienen dazu, ein Individuum von einer sozialen Position in eine andere zu überführen. Im Limen sind die «Grenzgänger» («liminaries») «betwixt-and-between» allen Normen, Werten, sowie Identitäten als Wahlmöglichkeiten ausgesetzt; was davor war, gilt nicht mehr. Um seinen postliminalen Status zu erlangen, wählt der Grenzgänger nach und nach aus den angebotenen Möglichkeiten. Dabei macht er die existenzielle Erfahrung, dass das, was in der präliminalen Phase unhinterfragt als richtig wahrgenommen wurde, keine allgemeine Gültigkeit besitzt. Diese Erkenntnis ist eine, die sowohl im Limen als auch in der Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit gemacht wird. Fremdheit ist – wie Liminalität – ein Zustand spezifischer «Beweglichkeit» (Simmel); der Fremde kommt mit den Elementen der neuen Umgebung in Berührung, ist aber mit keinem dieser Elemente «organisch verbunden» und so zugleich nah und fern. Mit der räumlichen Isolation von der Ausgangskultur wird seine ursprüngliche soziale und politische Identität wie diejenige des Grenzgängers bedeutungslos. Im «Exil» sind nach Turk zwei Paradigmen leitend: das der «unendlichen Approximation» und das der «aufhebbaren Entfremdung». Für die nie abschliessbare Annäherung an eine neue Kultur ist die nie vollständige Entfremdung von der alten aber stets Voraussetzung, Approximation und Absonderung sind damit Varianten derselben Bewegung. Im Zuge der Annäherung entdeckt der Fremde, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen graduell, nicht absolut sind. Annäherung und liminale Vorgänge In Dances With Wolves deutet die filmischen Erzählinstanz die strukturelle Gleichheit von Indianer und Weissem schon früh an: Kicking Bird, der Dunbars bester Freund werden wird, erscheint vor der ersten Begegnung der beiden in der Nähe des Forts im Bild, wo er mit der Hand durch die vom Wind bewegten Gräser streicht. In derselben Pose wird auch Dunbar gezeigt, bevor er das Fort erreicht. Bis diese Ähnlichkeit allerdings auch von ihnen selbst erkannt wird, sind verschiedene Zwischenschritte nötig. Als ihn eine kleine Gruppe Sioux im Fort besucht, versucht Dunbar einen Büffel darzustellen. Die Indianer verstehen jedoch nicht, was hier nachgeahmt wird und halten den Weissen für verrückt. Bezeichnenderweise erkennt schliesslich Kicking Bird, was Dunbar meint und nennt ihm das Lakota-Wort für Büffel, «Tatanka». Dieser erste Baustein der Annäherung verschafft Dunbar später den Respekt der Indianer. Dass er diese Anerkennung in einem szenischen Vorgang erhält, verknüpft die Erfahrung von Fremdheit mit dem Konzept der Liminalität: Wie Erika Fischer-Lichte zeigte, lassen sich auch Theateraufführungen als liminale Vorgänge lesen; und schon Turner hatte auf das kreative Potential der Liminalität hingewiesen. expositionen 47 Der nächste Schritt der Annäherung erfolgt wieder während eines liminalen Vorgangs. Um die bislang ausgebliebenen Büffelherden heranzubeschwören, vollziehen die Indianer ein Ritual. Die Szene spielt sich nachts ab, während einer Tageszeit also, die Gegensätze grundsätzlich einebnet. Dunbar, der die heranziehenden Büffel bemerkt hat, platzt, «Buffalos» schreiend, in die Zeremonie. Ihm schlägt pure Aggression entgegen, er wird vom Pferd gezerrt und fast verprügelt, bis ihm das kürzlich gelernte Wort einfällt: «Tatanka». Abrupt schlägt die Stimmung der Indianer in ausgelassene Freude um, Dunbar wird gefeiert. Er darf daraufhin gleichberechtigt mit den wichtigsten Männern des Stammes zur Jagd voranreiten. An den Festivitäten nach der erfolgreichen Jagd tauscht Dunbar zwei Kleidungsstücke gegen indianische Utensilien: seine Soldatenjacke gegen einen hölzernen Brustschmuck und den Hut gegen einen Dolch. Damit gibt er deutlich Teile seiner sozialen und politischen Identität auf, der eines Lieutenants der amerikanischen Armee, und streift sich gleichzeitig Teile einer neuen indianischen Identität über. Die durch die räumliche Trennung von seiner früheren Kultur obsolet gewordenen Insignien werden als Zeichen der Anerkennung des liminalen Status aufgegeben. Communitas und Entfremdung Im Limen, so Turner, schliessen sich Grenzgänger zu spontanen Gruppen zusammen, sogenannten «Communitas». Als solche lässt sich die Beziehung zwischen Dunbar und Stands With A Fist verstehen. Stands With A Fist überlebte als Kind weisser Siedler einen Anschlag der Pawnee und wurde daraufhin von den Sioux aufgenommen. Sie ist fast vollständig assimiliert, bleibt mit ihrer Hautfarbe unter den Indianern jedoch immer eine Andere und damit bei aller Nähe stets eine Grenzgängerin. Im Austausch mit Dunbar kann sie sich bruchstückhaft an die englische Sprache erinnern, wird ihm zur Dolmetscherin und lehrt ihn Lakota. Anders als mit den anderen Indianern kann Dunbar mit Stands With A Fist schon früh kommunizieren, eine Eigenschaft, die spontane Communitas auszeichnet. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte. Nach der Eheschliessung, bei der Dunbar bereits auf seinen Indianernamen Dances With Wolves hört, hält er sich dauerhaft bei den Sioux auf. Er spricht nun fliessend Lakota, trägt Indianerkleidung und Federn im langen Haar. Alle Unterschiede zu den Indianern scheinen aufgehoben. Vor dem Abritt der Sioux ins Winterlager erinnert sich Dunbar jedoch an sein Tagebuch, Teil des «identity kit» aus der Zeit, als er noch der beobachtende Fremde war. Er will es aus dem Fort holen, damit es allfällig nachrückenden Weissen nicht den Ort verrate, an dem sich die Sioux aufhalten. Dances With Wolves findet das Fort wiederhergestellt und von zahlreichen Militärs besetzt. In seiner Kleidung wird er von den Angehörigen seiner früheren Kultur für einen Indianer gehalten, sein Pferd wird niedergeschossen und er gefangen genommen. In Gefangenschaft verweigert sich Dances With Wolves den Weissen, indem er nur Lakota spricht. Dunbar hat aus den im Limen zur Verfügung stehenden Werten gewählt – und sich für die der neuen Kultur entschieden. Der alten gehört er, auch in der Anschauung der Militär, nicht mehr zu. Es ist der Moment der maximalen Annäherung an die Sioux und zugleich der maximalen Entfremdung von seiner früheren Kultur. Fremderfahrung und Selbstindung Dances With Wolves kann befreit werden, entschliesst sich dann aber, die Indianer gemeinsam mit seiner Frau zu verlassen, weil er glaubt, er würde von den Weissen gejagt. Beim Abschied erhält er sein Tagebuch zurück, das ein Indianerjunge gefunden hatte. Damit wird an die präliminale Phase angeschlossen. Dunbar erlangt einen Teil seines früheren identity kit zurück, wodurch die Entfremdung von der eigenen Kultur, beziehungsweise von der früheren Identität teilweise rückgängig gemacht wird. Dasselbe widerfuhr Stands With A Fist, die durch den Kontakt mit Dunbar die englische Sprache zurückerhielt. Der Austritt der beiden aus dem Limen als nun normative Communitas ist auch eine Rückkehr zur Ausgangskultur: Die sich hier verabschieden, sind Weisse, ein Ehepaar in Erwartung eines Kindes, und damit bis auf die Indianerkleidung eine prototypische amerikanische Familie. Kleidung, Werte und Namen mögen sich im Der Gral, der in der Fremde gefunden wird, ist nicht das Fremde, sondern die eigene Identität. Limen geändert haben, aber an dessen Endpunkt steht wieder die alte Kultur. Die Annäherung an das Fremde ist damit tatsächlich so etwas wie eine Gralssuche; der Major, der Dunbar den Passierschein ausgestellt hatte, tat das mit den Worten: «I am sending you on a knight’s errand.» Die Faszination Dunbars für die Frontier, für das Fremde, wird als uneinholbare Phantasie apostrophiert. Stattdessen kommt es in der realen Fremderfahrung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. So ist der emotional am stärksten aufgeladene Moment des Films jener nach einer gewonnen Schlacht der Sioux gegen die Pawnee, als Dunbar/Dances With Wolves minutenlang in Grossaufnahme gezeigt wird und dazu spricht: «I’d never really known who John Dunbar was. Perhaps the name itself had no meaning. But as I heard my Sioux name being called over and over, I knew for the first time who I really was.» Es ist genau jene Begegnung mit dem Eigenen, die das Erzählen von Dunbars Transformation zu Dances With Wolves nach dem Muster eines Übergangsritus sinnvoll macht. Der Gral, der in der Fremde gefunden wird, ist nicht das Fremde, sondern die eigene Identität. 48 Costner, Kevin 1990: Dances With Wolves Simmel, Georg 2002: Exkurs über den Fremden. In: Merz-Benz, Peter-Ulrich; Wagner, Gerhard (Hgg.): Der Fremde als sozialer Typus. Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen. 47-53 Turk, Horst 22001: Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik. Zum Fremdheitsbegriff der Übersetzungsforschung. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. 172-197 Turner, Victor 1977: Variations on a Theme of Liminality. In: Moore, Sally F.; Myerhoff, Barbara G. (Hgg.): Secular Ritual. 36-52 Turner, Victor 22003: Liminalität und Communitas. In: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hgg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. 251-262 Fiona Gunst studiert Germanistik und Theaterwissenschaft an der Universität Bern im 11. Semester. Der vorliegende Text entstand nach einem Seminar zu Fremdbildern in Theater, Film und Fernsehen. expositionen 49 Ruchloser Killer oder erbärmlicher Schweinehirt? Wie Clint Eastwood in Unforgiven über Körperdarstellungen ein Imagewandel gelingt H Alain Gloor eute wird Clint Eastwood (*1930) für seine Darstellung vielschichtiger Charaktere in Filmen wie Million Dollar Baby (2004) oder Gran Torino (2008) gepriesen. Dem war nicht immer so. Für den Imagewandel vom einfältigen Actionschauspieler aus Dirty Harry (1971) oder Sergio Leones Dollar-Filmen sorgte Eastwood als Regisseur und Schauspieler in Unforgiven (1992) gleich selbst. Entscheidend waren dabei zwei diametrale Körperentwürfe, die er in der Rolle des William Munny in sich vereinte. Unforgiven beginnt mit dem Bild eines Mannes, der ein Grab aushebt und einigen einleitenden Sätzen, die den Auftakt zu einer weiteren klassischen Interpretation des Western-Genres zu geben scheinen. Doch dieser Eindruck wird zerbrochen – spätestens als wir William Munny einige Minuten später zum ersten Mal ins Antlitz sehen. Kurz zuvor erblicken wir einen Mann, der auf seiner erbärmlichen Farm, unter den Augen seiner zwei Kinder, daran scheitert, kranke von gesunden Schweinen zu trennen. Es ist ein Körper zu sehen, dem alles zu schnell zu gehen scheint, der sich unbeholfen um die Tiere bemüht, der sich windet und hinfällt. Er rappelt sich auf und schaut in Richtung des Schofield Kids (Jaimz Woolvett) und zeigt dem Zuschauer erstmals sein Gesicht aus der Nähe – es ist Clint Eastwood, mit auffällig verdrecktem Antlitz. Verlust des Körpergefühls «You don’t look like no rootin’-tootin’, son-of-a-bitchin’, cold-blooded assassin», faucht ihn das Schofield Kid an. Hier kollidiert nicht nur die offensichtliche Realität mit Schofield Kids Vorstellungen von William Munny, sondern auch die filmische Realität mit dem Anspruch, den der Rezipient an die Starfigur hat; denn aufgrund seiner zahlreichen vergangenen Western- und Polizeifilme erwarten wir Clint Eastwood instinktiv als Souverän mit Colt und nicht als versagenden Schweinehirten. Das Bild eines Mannes, der seinem eigenen Körpergefühl nicht länger trauen kann, wird durch wiederholte Szenen bestätigt und zementiert, in denen der Leib William Munny den Dienst versagt. So trifft er bei Schiessübungen die Büchse aus nächster Nähe nur mit der Schrotflinte – mit dem Revolver scheiterte er zuvor noch kläglich. Auch der Aufstieg aufs Pferd erweist sich als mühselige Aktion – schon liegt er wieder auf dem Boden. Es ist so arg, dass der Betrachter den Malheuren kaum mehr zusehen mag und sich fast schon fremdschämt. Diese beim Zuschauer hervorgerufenen Gefühle sind ernst zu nehmen: Durch sie lässt sich die Wichtigkeit dieser Szenen erkennen. Sie zeigen einen Mann, der, in dem er seine ruchlose Vergangenheit als Auftragskiller zu vergessen und verdrängen sucht, den Kontakt zu seinem Körper verloren und damit dessen Funktionsfähigkeit eingebüsst hat. Erstmals muss ein Unschuldiger sterben Das Vorhaben, mit seinem alten Freund Ned Logan (Morgan Freeman) nach Jahren des gewaltlosen Farmerlebens für dringend benötigtes Geld zwei Cowboys zu töten, setzt Munny mehr zu, als dieser erwartet hätte. Er ist schwach, sein Immunsystem hält dem unablässigen Regen auf dem Weg Richtung Big Whiskey nicht stand. Er wird krank, das Fieber und eine Tracht Prügel bringen ihm fast den Tod, er muss sich mehrere Tage erholen. Nun lassen sich seine Unfähigkeit, Schweine zu treiben, auf Pferde zu steigen oder treffsicher zu schiessen, definitiv nicht länger als blosse körperliche Unbeholfenheit abtun. Denn eine physische Erkrankung ist hier auch als Folge einer angeschlagenen und unausgeglichenen Psyche zu deuten. Der Film liefert einige Hinweise, dass Munny wohl schon während seiner Jahre als brutaler Killer unter mentalen Problemen litt, doch offensichtlich hatte er sie damals mit Alkohol betäubt und sie brachten ihm während seiner Zeit als unfähiger Farmer bloss Armut, nicht Krankheit. Der Ritt nach Big Whiskey – also die Umsetzung des Plans, für Geld zu töten – ist zu belastend und bringt das Fass zum Überlaufen. Die Gesundung Munnys führt jedoch, und das vielleicht entgegen der Erwartung auf eine auf diesen Heilprozess folgende Katharsis, (noch) nicht zu einem wiedererstarkten, rachelüsternen Westerner nach genretypischem Zuschnitt. Im Gegenteil: Es folgt die monumentale Szene, in der Ned Logan, das Schofield Kid und William Munny zur ersten Tötung des Films schreiten. 50 Nichts wird in dieser überlangen Szene ausgespart. Der aus früheren Zeiten als Meisterschütze geltende Logan schafft es nicht abzudrücken und übergibt das Gewehr an Munny. Dieser zweifelt, zaudert und zögert, zielt aber dennoch – und trifft erstmal nicht. Erst beim dritten Schuss verletzt er den Cowboy mit einer Kugel in den Magen, was diesem einen langwierigen und qualvollen Tod beschert. Die moralische Rechtfertigung solcher Taten, die sich beim traditionellen Westerner situativ herstellte, will hier nicht greifen, sie verflüchtigt sich. Die Sinnlosigkeit des Mordens und die Mühe, die es Munny bereitet, sind in Eastwoods Gesicht und Körpersprache deutlich abzulesen. Er scheint den Akt des Mordens seinem instinktiv protestierenden Körper und Geist aufzuzwingen. Pikanterweise ist dies der erste Mord in Clint Eastwoods gesamtem filmischem Werk überhaupt, bei dem ein Unschuldiger sterben muss. Die Rückkehr des funktionierenden Körpers in Unforgiven bedeutet aber nicht, dass sich William Munny im abschliessenden Rachefeldzug genretypisch verhält. Er erschiesst mehr oder weniger wahllos Cowboys – ohne diesen überhaupt die Chance zu geben, nach dem Colt zu greifen; dem wehrlos am Boden liegenden Sheriff versetzt er den Gnadenschuss mitten ins Gesicht. Es ist also nur der funktionierende Körper, der als Körperentwurf gilt. Der gängige Code des Genres bleibt aussen vor, da sich William Munny um diesen auch als früherer Killer nie geschert hatte. Dadurch wird die Figur in ihrer Komplexität nicht eingeschränkt. Als Munny nach dem Massaker aus dem Saloon tritt, droht er den draussen lauernden Cowboys, ihre Frauen und Kinder zu töten und ihre ganze Existenz auszulöschen – sollten diese es wagen, auf ihn zu schiessen; er lässt also jegliche Bedenken aussen vor. Der Killer kehrt zurück Nachdem Logan erkennen musste, nicht mehr derselbe skrupellose Killer zu sein, tritt er unmittelbar die Heimreise an. Doch Sheriff Little Bill Daggett (Gene Hackman) greift ihn auf und foltert ihn zu Tode. Als dies Munny zu Ohren kommt, der den ganzen Film über daran erinnerte, nicht länger «that kind of killer» aus der eigenen Vergangenheit zu sein, findet er im Moment der Rache zu sich und seinem Körper (und dem Whisky) zurück. Er ist «back in full charge of his abilities» (Tibbetts 2007: 177), wie es Eastwood selbst beschreibt: Filme als Selbstporträts Es lässt sich kaum bezweifeln, dass Unforgiven, bei dem Eastwood gleichzeitig Regisseur war und die Hauptrolle einnahm, als spätes Erbe der Dirty Harry- und Dollar-Filme zu begreifen ist. Der Film endet denn auch mit der Widmung «Dedicated to Sergio and Don», womit die beiden Regisseure prägender Eastwood-Filme, Don Siegel (der jedoch lediglich bei Dirty Harry (1971) Regie führte) und Sergio Leone (Dollar-Filme), gemeint sind. Damit stellt Eastwood Unforgiven selbst in die Tradition dieser Filme und setzt William Munny in Bezug zu seinen Verkörperungen eines Harry Callahan oder des Man with No Name. Die Dollar-Filme markierten den Beginn von Eastwoods Status als internationaler Star. Für Eastwoods Image sind diese Filme auch rückblickend prägend – Georg Seesslen (1996: 127) empfindet «seine Western und Polizeifilme als Porträts […], als Selbstporträts». «[Munny has] thrown a switch or something and now a kind of machinery was back in action, a «machinery of violence», I guess you could say. [...] He’s back in his mode of mayhem. And he doesn’t care. He’s his old self again, at least for a moment. [...] Before, he’s been very rusty, having trouble getting on his horse; he wasn’t shooting very well. He wasn’t nailing people with the very first shot – like I would do in my earlier films! Now, when he goes on this suicidal mission, he’s all machine. He’s not going to do any of this «you draw first» stuff. He marches in to the saloon and just says, «Who owns this place?» And then, boom! He not only coldly murders Daggett at point-blank range but shoots some bystanders with no more compunction than someone swatting a fly. Munny has been protesting all the time that he’s changed, but maybe he’s been protesting too much.» (Gourlie/Engel 2007: 10) Bezeichnenderweise benutzt Eastwood die Mensch-Maschine Analogie. Diese würde er wohl auch für seine früheren Rollen als Harry Callahan in den fünf Dirty Harry-Filmen (1971-1988) sowie für seinen «Man with No Name» aus Sergio Leones drei Dollar-Filmen (1964-1966) gelten lassen. Das Körperbild, das William Munny über den grössten Teil von Unforgiven repräsentiert, ist folglich als Gegenentwurf zu diesen Rollen und der Mensch-Maschine-Metaphorologie zu verstehen. Ist das tatsächlich einer der vornehmsten Eindrücke, die wir von diesen Eastwood-Filmen haben, so wird deren Bedeutung für Eastwoods Image evident. Es bedeutete nämlich, dass man gerade bei Eastwoods stilprägenden Western und Polizeifilmen das Gefühl hätte, dass er sich selbst spiele. Als Kriterium für ein authentisches Image ist dieser Umstand von grossem Belang. Das Körperbild suggeriert das SichSelbst-Spielen und damit Authentizität, es verwischt die Grenze zwischen Werk und Image, macht sie gar nichtig. Mimik und Gestik werden zur Natur des agierenden Schauspielers selbst; es ist der Schein des Naturhaften, dem für die Imagebildung entscheidende Bedeutung zugerechnet werden muss. Genau wie William Munny eine gewaltreiche Vergangenheit hat, so hat diese auch die darstellende Starfigur Clint Eastwood. Unforgiven gibt Eastwood die Möglichkeit, nicht nur den Western ohne Verurteilung neu und integrativ zu erzählen, sondern auch sich selbst. Einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung konnte Eastwood jedoch erst herbeiführen, in dem er für Unforgiven in das Genre zurückkehrte, das ihn als Star etablierte hatte expositionen 51 und worin er als sich selbst porträtierend verstanden wird: den Western. Die Wiederaufnahme der Western-Thematik allein genügte dafür nicht, denn als Westerner trat er auch nach den Dollar-Filmen noch unzählige Male auf, zuletzt 1985 in Pale Rider. In diesem Film aber gelingt ihm das Töten noch ohne Zweifel. Es benötigte eine weitere, letzte Demythologisierung, die nur Clint Eastwood leisten konnte: «Only someone with Eastwood’s track record, his stature as an icon of the Western, could undo the mythologizing of the Western to the extent that he does in Unforgiven.» (Westbrook 2007: 44) Eastwood führt einen Westerner ein, den eine belastende Vergangenheit umtreibt, die William Munnys gegenwärtiges Leben bestimmt und aus der es keinen Ausweg gibt. Man könnte Unforgiven gar als «rekonstruierte Erinnerung» deuten, sowohl des Genres wie auch Eastwoods. Erbärmlicher Schweinehirt vs. ruchloser Killer? So ist Unforgiven eine unmögliche Erzählung (denn eine abschliessende Erzählung würde unweigerlich zu einer Bewertung des Western-Mythos und der Western-Vergangenheit führen), da sie die Möglichkeit des Westerns bestreitet und ihn paradoxerweise gleichzeitig noch ein letztes Mal realisiert. Das sieht Eastwood ähnlich: «I can say that if I was going to do just one last Western, I think Unforgiven might be the one.» (Tibbetts 2007: 178f.) Dieser Widerspruch zeigt sich in der Vereinigung zweier diametraler Körperentwürfe: Den des im Showdown maschinenähnlich massakrierenden Killers und den des im Dreck liegenden Schweinehirten. Zentral ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass Munny zum Killer ohne Moral wird, sobald er im Besitz eines funktionierenden Körpers ist; sobald er jedoch rechtens zu leben versucht, beginnt der Leib sich ihm zu widersetzen. Damit gelingt es Eastwood, sich neu zu erfinden – ohne einen möglicherweise für eine Schauspielerkarriere fatalen Bruch mit dem alten Image zu inszenieren: Weil er eben beide gleichwertigen Körperentwürfe in ihrer ganzen Tragweite zeigt und damit in Unforgiven sein eigenes Filmschaffen kritisch reflektiert, ohne es zu verurteilen. Da sich die beiden Körperbilder nicht ausschliessen, behält Clint Eastwoods Image seine Integrität und erlaubt das gleichwertige Nebeneinander der Körperentwürfe zudem eine Weiterentwicklung des Images der Starfigur auch durch komplexere Werke. Interessanterweise sind die späteren Figuren, die Eastwood entweder verkörperte oder als Regisseur spielen liess, wie in Mystic River (2003), Million Dollar Baby (2004) oder Gran Torino (2008), William Munny aus Unforgiven sehr ähnlich. Es sind Figuren, die sich trotz ihrer belastenden Vergangenheit mit der Gegenwart zu arrangieren haben. Eastwood hat den Western also hinter sich gelassen, seinen letzten Westerner aber mitgenommen. Einfühlen in kinematographische Körper Warum funktioniert der Transfer von Images über Körperbilder derart effizient? Gehen wir von der Wahrnehmung aus, die mittels eines «synthetischen Vorgang[s] [...] Image und Werk miteinander verschmelzen» und damit die Starfigur entstehen lässt (Hügel 2007: 149), so gehen wir von einem Rezipienten aus, der Bewegungen, Haltungen, Leiden und allgemein Handlungen des Körpers nachfühlen kann, auch wenn die Leiber der Schauspieler bloss kinematographische Körper bedeuten. Trotz des Wissens darum, dass Körperbilder im Film durch das Medium unweigerlich determiniert sind, empfinden wir eine Nähe zum Körper des Schauspielers; wir halten ihn – kurz gesagt – für Natur, weil der Körper das ist, was uns Menschen alle verbindet. Beat Wyss (2008: 14f) versteht den Leib als Resonanzkörper überhaupt: «Der Körper selbst ist Werkstatt des Denkens; er schafft dem Denken den Raum sinnlicher Erfahrung. Er ist Resonanzkörper, der die Welt um mich herum überhaupt erst entstehen lässt.» Damit kommen wir zurück auf eine Wahrnehmung, die den (eigenen) Körper bedingt, Bedeutung erst herstellt – und damit für die Einheit von Image und Werk sorgt. Gourlie, John; Engel, Leonard 2007: Introduction. In: Engel, Leonard (Hg.): Clint Eastwood. Actor and Director. New Perspectives. 1-23 Hügel, Hans-Otto 2007: Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und Populärer Kultur Seesslen, Georg 1996: Selbstbildnis als apokalyptischer Reiter. In: Ders.: Clint Eastwood trifft Federico Fellini. Essays zum Kino. 140-153 Tibbets, John C. 2007: The Machinery of Violence: Clint Eastwood Talks about Unforgiven. In: Engel, Leonard (Hg.): Clint Eastwood. Actor and Director. New Perspectives. 171–180 Westbrook, Brett 2007: Feminism and the Limits of Genre in Fistful of Dollars and The Outlaw Josey Wales. In: Engel, Leonard (Hg.): Clint Eastwood. Actor and Director. New Perspectives. 24-48 Wyss, Beat 2008: Den Körper im Blick. Einführung in das Thema. In: Buschhaus, Markus; Wyss, Beat (Hgg.): Den Körper im Blick. Grenzgänge zwischen Kunst, Kultur und Wissenschaft. Symposium Quadriennale 06. 13-17 Alain Gloor hat an der Universität Zürich Populäre Kulturen, Geschichte und Kunstgeschichte studiert (Bachelor) und ist nun mit dem Masterstudiengang Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH beschäftigt. Dieser Artikel beruht auf einer Seminararbeit zum Thema. 52 www.expositionen.ch Impressum „Streit im Mittelalter“ -Ringvorlesung FS 2011 redaktion hannes mangold, fermin suter, johannes willi herausgeber fachschaft germanistik uni bern druck kzub auflage hundertfünfzig preis drei sfr. gestaltung johannes willi beitragende claudia bossard, markus flück, natascha fuchs, alain gloor, fiona gunst, andreas heise, thomas kobel, ariane koch, hannes mangold, dieter meier, stefanie nydegger, julian reidy, christine saxer, aleksander milosz zielinski, adeline zumstein kontakt/inserate/beiträge expositionen@gmail.com vielen dank an unsere inserenten www.bmz.unibe.ch www.bugeno-unibe.ch © expositionen, zweitausendzehn www.expositionen.ch Behandelt werden Konstellationen, Szenarien und konkrete Beispielfälle, in denen mittelalterliche Konflikte ausgetragen wurden. Zur Sprache kommen dabei Auseinandersetzungen mit eskalierender Gewalt, aber auch Konfliktformen, die nach bestimmten Regeln ablaufen, etwa im Turnier, in der universitären Disputatio oder in der literarischen Gestaltung des Streitgedichts. Frühjahrssemester 2011, Universität Bern, Hauptgebäude Hörsaal 220, Donnerstags 17-19 Uhr einige bücher soll man schmecken, andere verschlucken und einige wenige kauen und verdauen. Francis Bacon BUCHHANDLUNG UNITOBLER 031 631 36 11
EXPO SITI ONEN Wissenskultur und Informationsaustausch / Frühling 2010 / Ausgabe 1 Impressum Redaktion Hannes Mangold, Fermin Suter, Johannes Willi Herausgeber Fachschaft Germanistik der Uni Bern Druck Kopierzentrale Uni Bern Aulage 150 Ex. Preis CHF 2.Beitragende Sanna Frischknecht, Michael Hauri, Tamara Hügli, Marie-José Kolly, Hannes Mangold, Thilo Mangold, Simon Meier, sm, Julian Reidy, Fabian Saner, Linus Schöpfer, Stefan Schröter, Ursina Wälchli Gestaltung Johannes Willi Bilder Michael Hauri Kontakt/Inserate/Beiträge expositionen@gmail.com Links www.expositionen.ch www.germanistik.jimdo.com www.michaelhauri.com www.sub.unibe.ch Berücksichtigen Sie unsere Inserenten www.cgs.unibe.ch www.bugeno-unibe.ch Copyright © Expositionen, 2010 expositionen  Editorial Geneigte Leserin, geneigter Leser In Deinen Händen hältst Du die erste Ausgabe von expositionen. Du indest hier Texte, die ein Thema behandeln oder erst umreissen, von einem Forschungsprozess berichten, einen Versuch dokumentieren, erarbeitete Informationen weitergeben wollen; sie alle gingen hervor aus irgendeiner Form wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Die präsentierten Themen sind kulturwissenschaftlich orientiert, jedoch voneinander unabhängig und folgen keiner vorgegebenen Linie, den Artikeln ist gemeinsam, dass sie fachspeziisches Wissen in kurzer und dabei verständlicher Form vermitteln sollen. Die Autoren – Studierende wie Absolventen – gehören verschiedenen Fachrichtungen an und ihre Texte stellen eine kleine Auswahl aus jenen Wissensbeständen dar, die an der Uni fortlaufend generiert, grösstenteils aber wenig beachtet werden oder unsichtbar bleiben. Mit diesem Panorama von unterschiedlichen Disziplinen, Interessen und Vorgehen möchte expositionen dazu beitragen, das Interesse an der akademischen Vielfalt zu wecken oder zu stärken und das so oft angestrebte Produkt universitären Schaffens, die Erkenntnis oder zumindest Einsicht, etwas zu verbreiten und zu bewahren. Wir danken deswegen herzlich allen, die sich in irgendeiner Form an der Entstehung dieses Magazins beteiligt haben. Die Redaktion  Inhaltsverzeichnis Wahre Artenvielfalt. Eine Ethnographie des Mensch-Wolf-Kollektivs in den Schweizer Alpen Fabian Saner Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) begreift Handlungsfähigkeit als keine rein menschliche Eigenschaft, sondern schreibt sie auch Objekten, Tieren, Planzen zu. Diese stellen, ebenso wie Menschen, „Akteure” dar und bilden mit diesen Kollektive. Ein solches Kollektiv, dasjenige von Menschen und Wölfen in den Schweizer Alpen, wird hier anhand der ANT neu beschrieben. Seite 4 Beleidigungen. Wie erklärt man die verletzende Kraft von „Worten”? Simon Meier Wie lassen sich die beleidigenden Aspekte von Sprache analysieren? Bestimmt der Code einer sozialen Gruppe, welche Worte verletzen, ist es der Kontext der Rede-Situation, oder gar beides? Diese Fragen werden hier beantwortet, indem auf die Relevanz der Gesprächsanalyse für die Beleidigungsforschung hingewiesen wird. Seite 7 Sprachinsel Jaun unter Diphthonglut. Analyse der Erhebungsmethoden der Dialektologie Marie-José Kolly Der freiburgische Dialekt Jaun wird bisweilen auch von Personen benachbarter Gebiete nicht verstanden oder mit anderen Dialekten verwechselt. Auf die lautlichen Charakteristika dieses Dialekts wird hier eine neue, zweisprachige Befragungsmethode angewandt, um die Verteilung von Mono- und Diphthongen, welche die Eigenheit des Jaundeutschen ausmacht, zu untersuchen. Seite 9 Höchste Lust (und etwas Totschlag) Linus Schöpfer Die Opernmusik Richard Wagners löste intellektuelle Erschütterungen aus, die tief ins 20. Jahrhundert nachwirkten. Die literarische Beschäftigung mit Wagner teilte sich um 1900 in einen ästhetizistischen „Wagnerismus” und einen dogmatisch-ideologischen „Wagnerianismus”. Über Thomas Mann einerseits, über Arthur Schnitzler andererseits vergleicht und kontextualisiert die vorliegende Arbeit die beiden Rezeptionsweisen. Seite 12 Ein Goldfund bei Benn. Volkswirtschaftliche Topoi in der Lyrik Gottfried Benns Hannes Mangold Die komparatistische Benn-Forschung wird dominiert durch den Fokus auf humanwissenschaftliche Theoreme; darob werden sozialgeschichtliche Aspekte wie Benns Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Diskurs der Zeit vergessen. Eine Analyse, welche das anthropologische und ökonomische Wissen Benns in ihrer Wechselwirkung beschreibt, skizziert der vorliegende Artikel. Seite 14 Des Bahnhofs neue Kleider? – Bahnhofsaufwertung seit den 1990er Jahren Sanna Frischknecht Seit den 1990er Jahren sind Bahnhöfe zunehmend Objekt von Aufwertungsstrategien. Ihr prekärer Status als sozialer Brennpunkt wird dabei umgedeutet; ökonomische und politische Proilierung soll dabei die positive Bedeutung von Bahnhöfen für den öffentlichen Raum etablieren. Seite 16 Acht Mistgabeln Österreich oder ein Pamphlet wider besseren Wissens Carte Blanche Der Autor greift zur Mistgabel und vergeht sich rücksichtslos am vorgefundenen Misthaufen Österreich und dessen Literatur, um darin zu wühlen und Wunderliches sowie Bedenkenswertes zutage zu fördern. Seite 18 expositionen  c Wagnis ohne Erkenntnis. Ein Blick auf Christian Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten” Julian Reidy Von vielen Kritikern gelobt, wird Krachts Werk gar als „der grosse Schweiz-Roman” gehandelt. Was zeichnet diesen Roman aber neben seinem souveränen Spiel mit Zitaten und seiner einnehmenden Sprache aus? Der Artikel nimmt den Anspruch, den der Text an sich selbst zu stellen scheint, ernst und sucht nach Qualitäten jenseits der glänzenden Oberläche. Seite 21 „Der Löwe besteht aus verdautem Schaf ”. Zur Antikenrezeption im Mittelalter Tamara Hügli Die Kontinuität antiker Strukturen bemühte im Mittelalter nicht nur die politische Macht zur Selbstlegitimation, auch das kulturelle „Wissen” machte sich den Status ihrer Vorgänger auf äusserst kreative und vielfältige Weise zunutze. Hier werden beide Stränge verbunden und ein Überblick über die Antike im Mittelalter gegeben. Seite 24 Ein Tempel ist wie eine Waschmaschine: Die religiöse Organisation der indischen Hindus in der Schweiz Ursina Wälchli Im Gegensatz zu den tamilischen verfügen die indischen Hindus in der Schweiz nicht nur über einen sehr niedrigen Organisationsgrad sondern auch über keinen einzigen Tempel. Über qualitative Interviews sowie die historische und soziokulturelle Kontextualisierung identiiziert die vorliegende Studie Gründe für diesen Umstand. Seite 27 Von „Grillen-” und „Bremsenreitern”. Erstaunliche Parallelen zwischen Adalbert Stifters „Waldsteig” und Christoph Martin Wielands „Don Sylvio” Stefan Schröter Die auf den ersten Blick wenig intuitive Verbindung zwischen Stifters Erzählung ,Der Waldsteig’ und Wielands Roman ,Don Sylvio’ wird hier überzeugend aufgezeigt. Zwischen den Hauptiguren, einem neurotischen Hypochonder hier, einem romantischen Schwärmer da, ergeben sich Parallelen, die als Ausgangspunkt für die Verortung der Erzählung Stifters im anthropologischen Diskurs der Zeit dienen können. Seite 30 Mehr Gewalt? Mehr Aufmerksamkeit! Eine soziologische Untersuchung im gesellschaftlichen Subsystem Fussball Thilo Mangold Gehören Fussball und Gewalt zusammen? Aus einer Serie qualitativer Interviews leitet die vorliegende Studie ab: Wo politisch und medial eine Relation polemisch negiert wird, ist, sozio-historisch betrachtet, ein Einhergehen offensichtlich, denn Gewalt und Fussball sind verknüpfte Teile eines dynamischen Kultursystems. Seite 32 zu letzt Michael Hauri Ein fotograischer Blick auf den Modernisierungsprozess in der Mongolei. Seite 34  Wahre Artenvielfalt Eine Ethnograie des Mensch-Wolf-Kollektivs in den Schweizer Alpen Fabian Saner M enschen, Objekte, Tiere und Planzen werden in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nicht als getrennte Einheiten betrachtet, sondern als Assoziationen in einer einzigen Sozialwelt begriffen. In diesen Kollektiven ist Handlungsfähigkeit keine rein menschliche Eigenschaft, sondern wird auf verschiedene „Akteure” verteilt. Dieser Beitrag versucht, ein solches Kollektiv, dasjenige von Menschen und Wölfen in den Schweizer Alpen, mit den Mitteln der ANT neu zu beschreiben. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) gilt als eine der wichtigsten Entwicklungen im Feld der neueren Gesellschaftsund Sozialtheorien. Entstanden aus der empirischen Wissenschafts- und Technikforschung, hat sie sich inzwischen als eigenständige Position etabliert, die über soziologische Betrachtungsweisen hinausgeht und sich mit Verhältnissen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen, Gesellschaft und Wissenschaft, Technik und Natur auseinandersetzt. Die Akteur-Netzwerk-Theorie fordert eine radikal veränderte Sichtweise auf diese Verhältnisse ein: Handlungsfähigkeit soll nicht mehr nur Menschen, sondern auch Artefakten zugeordnet werden können. Menschen wie nicht-menschliche Dinge sollen als soziale Akteure behandelt werden, die in Netzwerke eingebunden sind, aus denen sich ihre Handlungsfähigkeit oder Handlungsunfähigkeit erst ergibt. Die Aufteilung der Welt in abgeschlossene Sphären von Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft, Subjekt und Objekt, wird als Deutungsmuster einer immerzu dualistisch operierenden Moderne abgelehnt und zugunsten einer Vermischung und Vermengung von Menschen und nichtmenschlichen Dingen aufgegeben. Legitimation und Erklärungskraft zieht die ANT vor allem aus empirisch gewonnenen Erkenntnissen: Mittels ethnologischer teilnehmender Beobachtung lässt sich registrieren, dass die Unterscheidung zwischen (objektiven) „Tatsachen” und (subjektiven) „Werten” in der Praxis von den Akteuren immer wieder unterlaufen wird. Weder ist die Natur ein rein objektives unveränderliches Aussen noch ist die Gesellschaft ein nur auf geteilten Werten stehender Zusammenschluss freier Individuen. Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte bilden Mischwesen, techno-soziale-semiotische Hybride, die sich in dauernd der Veränderung unterworfenen Netzwerken organisieren. Die Akteur-Netzwerk-Theorie postuliert, dass Reinigungsverfahren, die diesen Realitätsmix auftrennen und daraus Kon- strukte wie „Natur”, „Ich”, „Gesellschaft” usw. herauspräparieren, nie als solche sichtbar und hinterfragbar gemacht worden sind. In der Beschreibung von Akteuren und Netzwerken sollen diese grundlegenden Trennungen ihre bisherige Selbstverständlichkeit verlieren und durch die Analyse permanent praktizierter Vermischungen, Hybridisierungen und dynamischer Verteilungen des Handelns auf unterschiedlichste und nicht nur menschliche Träger ersetzt werden. Damit wird ein ambitiöses erkenntnis- und kulturtheoretisches Programm entworfen, das sich aufgrund seiner Radikalität und seines holistischen Anspruchs in eine Reihe mit postmodernen Sozialphilosophien stellen lässt. Es sind empirische Beobachtungen, die veranschaulichen sollen, wie sich die Sozialisierung in einem „Parlament der Dinge”, einer sozialen Gemeinschaft von Menschen und nicht-menschlichen Dingen, in der Praxis vollzieht. Die Akteur-Netzwerk-Theorie betrachtet die Welt dabei aus der Laborperspektive: Das Soziale wird als Inszenieren und Bestehen von Prüfverfahren verstanden. Um Mitglieder einer „Gesellschaft” zu werden (im Sinne eines Kollektivs von Menschen und nicht-menschlichen Dingen), müssen Akteure soziale Leistungen erbringen. Das verändert zwangsläuig die Positionen derjenigen, die bereits in Netzwerke eingebunden sind und rekombiniert auch die Netzwerke selbst. Akteure und Netzwerke interagieren und „übersetzen” sich permanent, ordnen sich in Positionen und Verbindungen, die das Gefüge stabilisieren oder es auseinander fallen lassen. Kollektive werden gebildet oder aufgelöst, Akteure neu eingeführt, umdeiniert oder aus dem Netzwerk entfernt. Dabei strahlt kein Zentrum auf eine Peripherie aus – die Übersetzungsprozesse verlaufen multilateral und sind als netzwerkeigene Dynamiken zu begreifen. Anhand der Spannungen und Kontroversen, die in Ein- und Ausschlüssen sichtbar werden, lassen sich die Akteure wie die Netzwerke beschreiben. Ziel dieser Beschreibungen ist letztlich, expositionen die Subjekt-Objekt-Unterscheidung zu umgehen – zugunsten einer nicht-reduziblen Verlechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen, die immer schon da war. Vom Rotkäppchen-Wolf zum Biosphärenmanager Eine ethnograische Darstellung des Kollektivs von Menschen und Wölfen in den Schweizer Alpen soll nun kurz die Potenziale illustrieren, die diesem Ansatz eigen sind. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Wolf aus dem Kollektiv der Alpenbewohner ausgeschlossen: Real, indem er mit Gewehren und Fallen bekämpft und getötet wurde, bis er Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet war; symbolisch, indem er in tradierten Legenden und Märchen als gerissener Räuber und wichtigster natürlicher Feind menschlicher Interessen – und der Lebensgemeinschaft von Menschen und Nutztieren (v.a. Schafen) – alteriert wurde. Seit einigen Jahrzehnten erfährt dieses lange Zeit sehr stabile Kollektiv eine allmähliche Umgruppierung. Neue Verknüpfungen beginnen, mit den traditionellen zu konkurrieren: Natur- und Umweltschutz werden nicht mehr rein konservatorisch und restaurierend verstanden, sondern als aktives Management einer (auch ökonomisch produktiv zu machenden) Artenvielfalt von Fauna und Flora. Dadurch verändern sich die gegenseitigen Verschränkungen von Natur und Kultur – der Wolf wird nicht mehr ausschliesslich als (ökonomischer) Schadenstifter belangt, sondern soll auch als (ökologische) Ressource nutzbar gemacht werden: Für den Tourismus, für die „Balancierung” des ökologischen Gleichgewichts (indem er den Wildtierbestand mitreguliert), als Symbol und Garant eines neuen, „nachhaltigen” Umgangs mit der Natur bzw. der Wiedereinführung „authentischer”, „einheimischer” Fauna. Der Rotkäppchen-Wolf tritt ab zugunsten des Biosphärenmanagers Wolf. Herdenhalter und Jäger, Schafe und Gämsen werden durch diese Diskursverschiebungen gezwungen, sich neu auszurichten – dadurch entfachen sich die Kontroversen rund um die Neugruppierung der Mitglieder des Kollektivs. Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. Auf der politischen und juridischen Ebene entspinnt sich ein kompliziertes Netz von internationalen Übereinkommen, nationaler Gesetzgebung und technischen Ausführungsverordnungen, die alle Akteure in einen gemeinsamen Raum der Verhandlung zwingen – denn etwas ist bei allen Kontroversen nicht (oder kaum) mehr denkbar: Weder dürfen die Jäger und Schafzüchter zur Selbstjustiz greifen und die allmählich einwandernden Wölfe abschiessen, noch dürfen die Wölfe unkontrolliert ganze Gebiete kolonisieren. Diese ‚einfachen’ Lösungen werden ersetzt durch ein Gelecht von Entschädigungsbestimmungen (Entschädigung von Schafzüchtern bei Wolfsrissen), Präventionsmassnahmen (Schutz der Schafherden, aktive Behirtung alpiner Schafsömmerungsgebiete usw.), Abschussregimen („besonders” schadenstiftende Wölfe dürfen unter gewissen Kriterien von dazu Berechtigten abgeschossen werden) und Verboten (illegale Abschüsse gelten als Wilderei). Aber auch die Wölfe choreograieren diese politisch-juridischen Handlungsprogramme mit: Teilweise tauchen sie unter und reissen keine Schafe mehr, sobald Abschussbewilligungen vorliegen; teilweise haben sie sich an die neuen Kollektivbestimmungen bereits so afili-  iert, dass sie nur noch Wildtiere reissen und damit der ihnen zugeteilten Kollektivposition des „Biosphärenmanagers” gewissenhaft nachkommen (so etwa ein Wolf, der seit acht Jahren praktisch unsichtbar – und damit bestens ins Kollektiv integriert – in der Bündner Surselva herumstreift). Nicht nur juridisch-politisch wird das Kollektiv neu entworfen; auch wissenschaftliche Handlungsprogramme werden herangezogen und verändern gleichzeitig sich selbst wie die Mensch-Wolf-Beziehungen in den Alpen: Weil die Präsenz des Wolfs nicht mehr pauschal abgelehnt, sondern unter speziischen Umständen erduldet wenn nicht erwünscht ist, muss die Frage nach der Zahl und dem Ort geklärt werden. Wissenschaftliche Handlungsweisen und Übersetzungsprogramme helfen mit, aus weit herumstreifenden Wölfen stabile, beobachtbare und nachvollziehbare „Wolfseinheiten” zu konzipieren. Da der Wolf auf die „starken” Fragen der Menschen nach seiner Präsenz meist nur „schwache”, sicher aber uneindeutige Antworten liefert (Kot, Wolfsheulen, Spuren im Schnee, gerissene Schafe usw.), sind wissenschaftliche Assoziationsweisen geeignet, ein Übersetzungsprogramm zu liefern, das die Wölfe in einer interpretierbaren Weise zum „Sprechen” bringt und deren Anwesenheit an Orte und Räume zu binden vermag. Damit wird die Unsicherheit über die Zusammensetzung des Kollektivs gemindert. Die Wissenschafter verfolgen aber nicht nur die Spuren der Wölfe; die Wölfe assoziieren ebenso wissenschaftliche Zusammenarbeit und wissenschaftliche Methoden neu. Weil die Wölfe grenzüberschreitend herumwandern, schliessen sich Forschergruppen aus dem ganzen Alpenraum zusammen, um über ihre je unterschiedlichen Methoden der Visualisierung von Wolfsspuren zu debattieren und in einem Aushandlungsprozess diese schliesslich zu symmetrisieren. Weil die Wölfe sich im ganzen Alpenbogen bewegen, werden nicht nur die Verwaltungsgrenzen innerhalb der Schweiz neu gezogen und auf die Wanderrouten des Wolfs formatiert, sondern Italien, Frankreich und die Schweiz gleich als einheitliche geographische Zone behandelt. Weil sich die Wölfe schliesslich auch nicht an national eingeschliffene Kulturen soziobiologischer Forschungsmethodik halten, werden auch diese in kontroversen Diskussionen modiiziert. Die Wölfe mobilisieren als Akteure also ebenso die Innovationskraft mit ihnen verknüpfter Akteure wie umgekehrt. Wie zusammenleben? Die Bewegungen des Wolfs choreograieren die wissenschaftliche Interaktion, die kartographischen Praxen, die rechtlichen Setzungen, die ökonomischen und ökologischen Diskurse und die politischen Aushandlungsprozesse mit. Andererseits bestimmen bewachte oder unbewachte Schafherden, das Reservoir an Wildtieren, aufgebotene Jäger oder die Besiedlungsdichte in den Schweizer Alpen auch die Performance des Wolfs. Dies zeigt sich verdichtet im „Konzept Wolf ” des Schweizer Bundesamts für Umwelt, wo exemplarisch die multilateralen Verknüpfungen, in denen die verschiedensten Akteure ihre Existenz stabilisieren, ersichtlich werden. Dieses Papier ist die Transformationsstelle, durch das alle Akteure zirkulieren, deren Handlungsfähigkeit in diesem speziischen Mensch-Wolf-Kollektiv ausgewiesen ist.  In Form allseitiger Verbindlichkeit bildet das „Konzept Wolf ” einen Passagepunkt, den alle Interessen und Motivationen hinsichtlich des Ziels gemeinsamer Koexistenz zu durchlaufen haben und der diese festschreiben und in praktikable Handlungsroutinen überführen soll. Sobald die „Verinnerlichung” in der Handlungsroutine erreicht ist, könnte man im Sinn der Akteur-Netzwerk-Theorie von einer „stabilisierten Gesellschaft” aus Menschen und Wölfen sprechen: Ihre Interaktionsmuster entsprächen immer den ixierten Handlungsprogrammen, das Gefüge des Kollektivs wäre zu „Technik” geworden: Geschlossenen und programmierten Reaktionsschlaufen, deren Verlauf gegeben ist. Handeln wäre in voraussagbare Routine-Praxis überführt. Nun verhält sich dieses speziische Kollektiv aber nicht entlang solcher Stabilisierungspfade: Das „Konzept Wolf ” und die darin formulierten Handlungsanweisungen bieten lediglich die Szene für eine Reihe von Machtproben, deren Ergebnis die Stabilisierung der Kontroversen und die Solidität der darin eingeschriebenen Vorannahmen unter Beweis stellen soll – oder deren Verwerfung und eine damit verbundene neuerliche Deregulation der Akteure. Der Schutz des Wolfs, der Schutz der Artenvielfalt der Wildtiere, der Erhalt der traditionellen Tierhaltung in den Alpen und das Jagdrecht sollen auf gleicher Stufe verhandelt werden, obwohl sie einander diametral widersprechen. Durch die oben geschilderten Verknüpfungen werden sie auf das Ziel der gemeinsamen Koexistenz verplichtet – mit den Mitteln der Dissidenz kann aber auch jeder Akteur aus dem Kompromiss ausbrechen und seine Ziele für absolut setzen, was die Verknüpfungen wiederum destabilisiert, aulöst oder neu koniguriert. Ein kleines Gedankenspiel zeigt solche Potenziale für Dissidenz schnell an: Die Jäger können sich verselbstständigen, indem sie die Wölfe ohne Bewilligung abschiessen; die Umweltschützer, indem sie Wölfe illegal aussetzen; die Wölfe selbst, indem sie rudelweise einwandern und vor allem Schafe reissen; die Schafe, indem sie Krankheiten auf Wildtiere und Wölfe übertragen; die Wissenschafter, indem sie Aussagen über die maximale Besiedlungsdichte und „Zumutbarkeit” von Wölfen einbringen und nicht „nur” Daten liefern; die Politiker bzw. die Bürger, indem sie grosse neue Naturpärke errichten, in denen sich die „Natur” „frei” entfalten kann; die Demographie, die in gewissen Tälern durch Abwanderung neue Wildtiergebiete ohne Menschen schafft usw. Diese Aulistung zeigt mögliche zukünftige Interventionen an und veranschaulicht die Dynamik, denen eine Beschreibung unter den Prämissen der Akteur-Netzwerk-Theorie zu folgen hat. Stabile Gesellschaft indet sich erst am Ende Seit rund drei Jahrzehnten sind eine Vielzahl neuer Akteure hinzugekommen, die das Interaktionsverhältnis zwischen Menschen und Wölfen grundlegend reformiert haben: Ressourcendenken, Rote Listen, internationale Naturschutzabkommen und nationale Ausführungsgesetze, Ökosystemforschung, ökologisches Management der Natur, Balance-Metaphern, Entvölkerung der Alpen, Umweltschutzlobbys, Meinungsumfragen, soziobiologische Forschung, eine grosse Beutetierpopulation, Kompensationszahlungen usw. Eine Beschreibung unter dem Siegel der Akteur-Netzwerk-Theorie hat solche Akteure „symmetrisch” zu beschreiben, d. h. einerseits keine unterschiedlichen Vokabulare anzulegen, andererseits nicht zwischen Diskursen, Tieren, Menschen oder Dingen zu hierarchisieren. Mit dem Vokabular der ANT lassen sich Prozesse der Übersetzung, der Performanz von Handlungszusammenhängen neu und anders sichtbar machen. Das Begriffsarsenal der ANT eröffnet in seiner Widerständigkeit gegenüber eingeschliffenen sozialwissenschaftlichen Begriffsgebäuden zudem eine kritische Perspektive auf die Haltbarkeit von Erklärungsmustern, die mit einseitigen Determinismen operieren und in alten Dualismen verhaftet bleiben. Welche Akteure sich in diesem Fall gegenüber anderen durchsetzen und ob sich eine stabile Hierarchie mit festgefügten Positionen herausbildet, ist derzeit nicht absehbar. Performative Handlungen können das Mensch-WolfKollektiv jederzeit neu konigurieren. Oder in den Worten Bruno Latours, des pointiertesten und berühmtesten aller ANT-Vertreter: „Gesellschaft indet sich am Ende des kollektiven Experimentierens, nicht am Anfang, nicht bereits ix fertig vorhanden.◊ Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.) 2006: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie [Sammlung der wichtigsten empirischen und theoretischen Artikel, von Ende 70er- bis Ende 90er-Jahre] Latour, Bruno 2007: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie [Die Summa aus dreissig Jahren Forschung, empfehlenswert als Einführung] Callon, Michel 2006 (1986): Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer in der St. Brieuc-Bucht. In: Belliger/Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. 135-174 [Anwendungsorientiert] Latour, Bruno 1996: Der Pedologen-Faden von Boa Vista. Eine photo-philosophische Montage. In: ders. (Hg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. 191-248. [Latour begleitet Bodenkundler in den brasilianischen Amazonas und verfolgt die Kette der Wissensproduktion – von der Bodenprobe bis zum gefestigten Wissen in Buchform] Kneer, Georg/Schroer, Markus et al. (Hg.) 2008: Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen [Kritische Beiträge und Weiterentwicklungen der ANT] Fabian Saner hat Germanistik und Geschichte an der Universität Bern studiert (Bachelor) und studiert im Master Kulturanalyse und Sozialgeschichte an der Universität Zürich. Dieser Essay beruht auf einer Seminararbeit zum Thema. expositionen  Beleidigungen Wie erklärt man die verletzende Kraft von „Worten”? Simon Meier Z weifellos kann man mit Worten verletzen, und Beleidigungen sind hierfür das Paradebeispiel. Doch spätestens bei der Frage, wie man die verletzende Kraft von Worten erklärt, welche Variablen man berücksichtigen muss und wie man sich diesen Prozess genau vorzustellen hat, gehen die Meinungen in den Disziplinen auseinander. Der Sohn einer Terroristenhure sieht rot Es war wohl der größte Aufreger des Finales der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Berlin: In der 109. Minute streckte der französische Weltstar Zinédine Zidane seinen italienischen Gegenspieler Marco Materazzi mit einem Kopfstoß nieder und sah dafür die rote Karte. Ein schmachvoller Abgang, hatte er doch lange zuvor angekündigt, dass dieses Finale das letzte Spiel seiner glanzvollen Karriere sein sollte. Was war geschehen? Die Zeitlupen ließen erkennen, dass Materazzi Zidane nur ein wenig am Trikot gezupft hatte. Als Materazzi aber dem bereits weggehenden Zidane etwas zurief, machte dieser kehrt und streckte den Beleidiger nieder. Denn dies war die einzige Erklärung, die die Öffentlichkeit für Zidanes Verhalten inden konnte: Nur eine Beleidigung konnte einen Spieler wie ihn zu so etwas getrieben haben. Und nun begann das große Rätselraten: Was hatte Materazzi gesagt? Neben Eckdaten aus Zidanes Lebensgeschichte (denn die Beleidigung musste ihn persönlich schwer getroffen haben) wurden auch Materazzis Lippenbewegungen als Beleg für die ihm zugeschriebenen Äußerungen herangezogen. Unter Berufung auf professionelle Lippenleser berichteten kurz darauf englische Boulevardzeitungen, dass Materazzi Zidane den „Sohn einer Terroristenhure” genannt hatte. Dies schien den Aussetzer des Sohnes algerischer Einwanderer zu erklären. Und noch bevor Materazzi mit seiner Version herausrückte, veröffentlichte er selbst ein Buch „Was ich wirklich zu Zidane gesagt habe”, in dem er 249 mögliche Beleidigungen aulistete, gegen die sich im Übrigen der tatsächliche Wortlaut reichlich harmlos ausnimmt. Verletzende „Worte”? Der Fall Zidane zeigt einen Aspekt, der unseren üblichen Blick auf Beleidigungen auszeichnet, besonders deutlich: Man ist geneigt, die verletzende Kraft von Beleidigungen vornehmlich in den Worten zu suchen, „weil unsere Worte mehr als unsere Taten die Menschen erzürnen”, wie schon Jean Paul wusste. Wenn wir anderen davon erzählen, dass wir beleidigt wurden, so geben wir den Wortlaut der vermeintlichen Beleidigung wieder. Und wie Historiker bei der Untersuchung von Gerichtsakten festgestellt haben, ist es bei Beleidigungsklagen zumeist das Aussprechen von Schimpfworten, das die Kläger als das eigentliche Vergehen anprgern. Verschiedene Rechtsquellen zeigen, dass beleidigende Äußerungen sogar nach Schweregrad differenziert und mit einem ixen Strafmaß belegt wurden. Diese Umstände legen eine Theorie der Beleidigung nahe, die sich in etwa so fassen ließe: Unter Menschen mit bestimmter Gruppenzugehörigkeit gilt ein bestimmter Ehrenkodex. Dieser legt wie ein Code die Bedeutungen bestimmter Worte und Handlungen bezüglich der Ehre fest, so dass etwa unter Jugendlichen die Anrede „Alter” akzeptabel, unter sich fremden Erwachsenen hingegen eine Beleidigung wäre. Gegenüber kirchlichen Würdenträgern ist ein Handkuss eine angemessene Ehrerbietung, einer Bankangestellten würde man so wohl zu nahe treten. Eine Äußerung oder Handlung wird also dadurch zu einer Beleidigung, dass sie mit dem Ehrenkodex kollidiert und demzufolge eine ehrverletzende Bedeutung hat. Wodurch werden Worte verletzend? Nun mag es aus der Außenperspektive und aus großem zeitlichem Abstand (schließlich ist diese Theorie im Sinne einer Konzeptualisierung von Ehre als Code vor allem von Historikern vertreten worden) tatsächlich so erscheinen, als ob ein Ehrenkodex die Bedeutungen so festlegt, dass allein eine mit ihm kollidierende Äußerung diese zur Beleidigung macht. Doch wenn man die Perspektive der Beteiligten einnimmt, werden schnell zwei entscheidende Mängel dieser Theorie deutlich: Erstens gerät hier der bedeutungsprägende Einluss der Absicht sowie der Situation aus dem Blick. So ist es offenkundig ein Unterschied, ob eine Äußerung mit beleidigendem Inhalt absichtlich ausgesprochen wurde, oder ob der vermeintlich Beleidigende gar nicht wusste, dass seine Äußerung in der jeweiligen Situation eine beleidigende Bedeutung hat – ein Umstand, der aus zahlreichen Anekdoten über letztlich mit Humor genommene Missverständnisse in interkultureller Kommunikation bekannt sein dürfte. Wie sehr die verletzende Kraft von Beleidigungen von der Situation abhängt, in der sie geäußert wurde, zeigt zum Beispiel der Fall Joschka Fischer, der zum damaligen Bundestagspräsidenten Stücklen „Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch” sagte. Hier war es nicht nur die Bedeutung des Wortes  Arschloch allein, sondern vor allem die Tatsache, dass dieses Wort im Bundestag vom Rednerpult (und nicht etwa von der Zuschauertribüne) herab ausgesprochen wurde. Der Begriff des Ehrenkodexes, der die ehrbezogenen Bedeutungen von Äußerungen eindeutig und unabhängig von Absicht und Situation festlegt, erweist sich also als zu starr. Zweitens hängt es auch von den Einschätzungen und Reaktionen des Angegriffenen ab, ob das Geschehene eine Beleidigung darstellt oder nicht. So sei noch einmal an die Missverständnisse in interkultureller Kommunikation erinnert: Das unangemessene Verhalten des Fremden kann dadurch entschärft werden, dass die Einheimischen hölich über den Fauxpas hinwegsehen. Doch auch bei klar als absichtlich erkennbaren Beleidigungen gibt es die Möglichkeit, sich nichts anhaben zu lassen. „Du kannst mir gar nichts!” sagen Kinder bisweilen – und nicht nur diese: So meinte der deutsche Europaabgeordnete Martin Schulz, der vom italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi öffentlich mit einem KZ-Aufseher verglichen worden war, es gäbe Menschen, die könnten ihn gar nicht beleidigen. Umgekehrt kann es vorkommen, dass erst an der beleidigten Reaktion des Gegenübers deutlich wird, dass er eine überhaupt nicht als Angriff intendierte Äußerung dennoch als Beleidigung aufgefasst hat. Vom Reiz zur Reaktion All diese Beobachtungen, die auch Anthropologen bei verschiedenen Gesellschaften machen konnten, zeigen, dass es vor allem die Reaktion ist, die eine Äußerung zu einer Beleidigung macht. Die in der Reaktion zum Ausdruck kommende Deutung der Äußerung entscheidet darüber, ob sie in der entsprechenden Situation für die Beteiligten als Beleidigung gilt oder nicht. Wäre Zidane im WM-Finale einfach weitergegangen, so wäre Materazzis Äußerung in der Tat nur einer von solchen Sätzen gewesen, „wie sie auf einem Fußballplatz ständig zu hören sind” – so nämlich hatte sich Materazzi zunächst gerechtfertigt. Erst Zidanes heftige Reaktion hat ihn zu einer Beleidigung und als solche erkenntlich gemacht. Weniger der Ehrenkodex bestimmt also die verletzende Bedeutung von Beleidigungen als vielmehr die individuellen und in entsprechenden Reaktionen zum Ausdruck gebrachten Deutungen der Beteiligten selbst. Natürlich ist auch die Reaktion auf die Reaktion entscheidend: Reagiert der andere auf meine eigentlich harmlose Äußerung beleidigt, so kann ich ihn zu beschwichtigen versuchen, indem ich ihn darauf hinweise, er habe da etwas in den falschen Hals bekommen. Diese Gegenreaktion, in der meine Deutung der Situation zum Ausdruck kommt, kann der andere annehmen, wodurch das Gleichgewicht wiederhergestellt ist, oder zurückweisen, was weitere Klärungsversuche nach sich ziehen würde. Diese Art von Dialogen hat der Soziologe Erving Goffman als korrektiven Austausch bezeichnet und darauf hingewiesen, dass das, als was ein Ereignis für die Beteiligten selbst gilt, z.B. als peride Beleidigung oder lediglich als ungeschickter Fauxpas, durch eben solche Dialoge vermittelt wird. Es sind solche sich an Beleidigungen anschließenden Dialoge, in denen die Beteiligten ihre Deutung des Geschehens als Beleidigungen und somit auch die Ehre des Angegriffenen „aushandeln”. Darum muss auch eine linguistische Untersuchung von Beleidigungen mehr als nur die beleidigende Äußerung selbst berücksichtigen – eine Einsicht, die sich neuerdings durchzusetzen scheint, wie ein Special Issue des „Journal of Politeness Research” aus dem Jahre 2008 zeigt. Die Gesprächsanalyse, und weniger die Sprechakttheorie oder die Semantik verspricht einen adäquaten Zugriff auf das Phänomen. Ein Kopfstoß als Aushandlungsschritt Der Fall Zidane zeigt natürlich, dass die sich an Beleidigungen anschließenden „Dialoge” sehr kurz ausfallen können. Durch seinen Kopfstoß hat Zidane Materazzi, den Mitspielern und all den Zuschauern im Stadion und weltweit vor den Fernsehern unmissverständlich und unwiderrulich klar gemacht, dass er Materazzis Äußerung als Beleidigung aufgefasst hatte und diese Deutung als die ofiziell gültige verstanden wissen wollte. Allein, in dieser Situation – unter den Augen der Weltöffentlichkeit – wäre jene Äußerung ohne diesen Kopfstoß keine Beleidigung gewesen.◊ Bousield, Derek/Culpeper, Jonathan (ed.) 2008: Impoliteness. Journal of Politeness Research 4 (2008) Goffman, Erving 1974: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung Materazzi, Marco 2007: Che cosa ho detto veramente a Zidane Meier, Simon 2007: Beleidigungen. Eine Untersuchung über Ehre und Ehrverletzung in der Alltagskommunikation Peristiany, John G. (ed.) 1966: Honour and Shame. The Values of the Mediterranean Society Schreiner, Klaus/Schwerhoff, Gerd (ed.) 1995: Verletzte Ehre. Ehrkonlikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Simon Meier hat Kommunikationswissenschaft und Philosophie studiert und ist derzeit wissenschaftlicher Assistent am Institut für Germanistik der Universität Bern. Der vorliegende Text beruht auf seiner Magisterarbeit. expositionen  „ Sprachinsel Jaun unter Diphthongflut Analyse der Erhebungsmethoden der Dialektologie Marie-José Kolly Was heisst [ruǝt]?” (Jaundeutsch für ‚rot’) – oft wird der Jauner Dialekt nicht nur von Sprechern aus der Zentral- und Ostschweiz, sondern auch in den benachbarten Dialektgebieten der Kantone Freiburg und Bern nicht verstanden und bisweilen mit dem Walliserdeutschen verwechselt. Im Folgenden wird mit Hilfe empirischer Daten aufgezeigt, dass dabei vor allem lautliche Eigenheiten, insbesondere die relative Verteilung von Monophthongen (wie in ,Flut’) und Diphthongen (wie in ,Fleiss’), den individuellen Charakter dieses Dialektes ausmachen. Für die Untersuchung bewährte sich im Vergleich mit zwei traditionellen Methoden eine zweisprachige Befragungsmethode als neuer Ansatz. Sprachinsel Jaun „Jaun ging eigene Wege” (Bürgisser 1988: 179), und der Grund für die auffallende Eigenart des Jaundeutschen scheint offensichtlich: Das Dorf Jaun im Kanton Freiburg liegt nach Westen hin an der Sprachgrenze zur Romandie, nach Osten hin an der Kantons- und Konfessionsgrenze zum protestantischen Berner Oberland. In diese beiden Richtungen führen auch die einzigen befahrbaren Verkehrswege. Vom nördlich liegenden deutschsprachigen Schwarzseegebiet und vom Berner Oberland im Süden ist Jaun durch Berge abgesondert. Dieser ,Sprachinselstatus’ erlaubte dem Ortsdialekt die Entwicklung sprachlicher Eigentümlichkeiten und die Bewahrung historisch älterer sowie höchstalemannischer Phänomene (z. B. Flexion des prädikativen Adjektivs: är/sia/as isch auta/auti/auts ‚er/sie/es ist alt’; Passiv mit kommen statt werden; Bewahrung des [ʋ] in Lexemen wie [b̥laːʋɪ] ‚blaue’; fem. Pl. auf -i: [tɔ:nɪ] ‚Tannen’). Selbstverständlich weist der Jauner Dialekt auch Gemeinsamkeiten mit den Dialekten der benachbarten deutschsprachigen Regionen auf, insbesondere mit oberländerberndeutschen Sprachformen. Um die Hypothese einer ungewöhnlichen Verteilung von Mono- und Diphthongen im Jaundeutschen zu untersuchen, wurden Jauner Sprecherinnen als Gewährspersonen je mit unterschiedlichen Methoden nach der Aussprache von bestimmte Laute enthaltenden Wörtern befragt. Französisch als Weg zum Jauner Dialekt Um das ganze Diphthongparadigma des Jauner Dialektes zu erfassen und so Vollständigkeit der Resultate garantieren zu können, wurde das mittelhochdeutsche Langvokal- und Diphthongsystem als Bezugsgrösse gewählt. Mhd. Kurzvokale wurden, da sie durch ihre Kürze wenig Potential zur Diphthongierung besitzen, nicht untersucht: Von einem Langvokal kann eher erwartet werden, dass sich ein Teil seiner Länge auch qualitativ verändert. Im Ganzen wurden 14 mhd. Laute berücksichtigt: Langvokale: Diphthonge: î iu û ê œ ô æ â ie üe uo ei öu ou Die Begriffe, die in das für die Untersuchung verwendete Fragebuch aufgenommen wurden, sind aus mhd. Lexemen mit diesen Lauten entstanden. Wenn immer möglich wurde darauf geachtet, dass die betreffenden Langvokale oder Diphthonge in ’normaler’ Lautumgebung vorkommen; im Idealfall vor Obstruent oder im Auslaut, wenn immer möglich nicht vor Nasalen oder Liquiden. In der Dialektologie haben für die Erhebung von Sprachmaterial grob betrachtet drei Vorgehensweisen Tradition: • Die Gewährsperson übersetzt eine schriftliche, standarddeutsche Vorlage, etwa einen Fragebogen, in ihren Ortsdialekt. Diese indirekte Erhebungsmethode hat den Vorteil, mit minimalem Zeit- und Kostenaufwand eine hohe Ortsnetzdichte erreichen zu können; jedoch interferiert bei der Analyse schriftlicher Erhebungen die, meist von ungeschulten Gewährspersonen durchgeführte, nicht-normierte Transkription der dialektalen Formen und bedingt so, zumindest für lautliche Untersuchungen, eine beträchtliche Verzerrung der Daten. • Die Gewährsperson übersetzt eine mündliche, standarddeutsche Vorlage, die vom Explorator vorgesprochen wird. Direkte Erhebungsmethoden nehmen mehr Zeit und Geld in Anspruch, jedoch garantieren Aufnahmen und normierte Transkriptionen, dass das Sprachmaterial quasiunverfälscht analysiert werden kann. Der Haken bei dieser Vorgehensweise ist, dass die Lautung der standarddeutschen Formen im impliziten Gedächtnis der Gewährsperson diese unbewusst beeinlusst: Dieser Priming-Effekt gefährdet die Authentizität der Daten indem die standarddeutsche Lautung auf dialektale Formen abfärben kann. • Die Gewährsperson nennt den gesuchten Begriff auf Umschreibung, Teilsatzvorgabe oder Bild hin. Die Vorgehensweise ist relativ anfällig auf Missverständnisse und erfordert entsprechend viel 0 Die aus den verschiedenen Befragungsmethoden resultierenden Varianten zu jedem mhd. Laut wurden auf eventuelle Interferenzen hin verglichen. Es muss vorausgeschickt werden, dass solche selten waren und für jedes Lexem mindestens eine Form vorliegt, die mit der gemäss dem Sprachatlas der deutschen Schweiz und Karl Stuckis Werk zur Mundart von Jaun erwartbaren Form mehr oder weniger übereinstimmt. Auffallend, jedoch aufgrund der oben erläuterten Schwierigkeiten einzelner Erhebungsmethoden nicht weiter erstaunlich, ist, dass Interferenzen da auftreten, wo aus dem Standarddeutschen übersetzt wird: So nannte zum Beispiel die Person, die gross übersetzen sollte, zuerst die seltenere Jaundeutsche Form [g̊ruːs], worauf sie spontan zu [g̊ruəs] korrigierte und diese gebräuchlichere Form mehrmals wiederholte. Weitere ähnliche Beispiele scheinen die Priming-Problematik für diese Vorgehensweise empirisch zu bestätigen. Umschreibungen und Bilder sowie Teilsatzvorgaben führten meist zum erwarteten Ziel, oft aber über Umwege: So wurde eine konjugierte Verbform genannt, wo ein Ininitiv gefragt war, ein Plural für einen Singular, Mausepärchen statt der erwünschten Form Mäuse, ... Die zweisprachige Methode hat sich bewährt: Manche französische Wörter wurden zwar nicht auf Anhieb verstanden und mussten kurz erklärt oder durch eine Kontextangabe illustriert werden, Interferenzen traten hier aber keine auf. So hat diese Vorgehensweise zwei wichtige Vorteile: Die gesuchten Formen sind schneller zu Die Notwendigkeit zweisprachiger Gewährspersonen scheint auf den ersten Blick eine grosse Hürde darzustellen. Da aber Zweisprachigkeit weltweit gesehen eher die Regel als die Ausnahme darstellt, hat die hier vorgestellte Erhebungsmethode durchaus Potential, zumal lediglich passive Beherrschung der Zweitsprache vonnöten ist. Diphthonglut Die Arbeit mit drei verschiedenen Erhebungsmethoden untermauert auch die lautlichen Resultate der Untersuchung und sichert diese gleichsam dreifach ab. Folgende Tabelle unterstreicht, dass das Jaundeutsche mit zehn Diphthongen eine hohe Anzahl solcher aufweist: Nicht nur wurden in der Geschichte des Jaundeutschen keine der mhd. Diphthonge monophthongiert, auch ganze vier mhd. Monophthonge wurden in Jaun zu Diphthongen. mhd. Diphthonge Um diese zweisprachige Erhebungsmethode auf ihre Eignung hin zu prüfen, wurde sie mit zwei anderen direkten Methoden verglichen. So entstand ein dreiteiliges Fragebuch: In einem ersten Teil wurde mit Bildern, Umschreibungen und Satzergänzungen gearbeitet, im zweiten Teil wurde für die gesuchten Begriffe die standarddeutsche Entsprechung vorgesprochen und der dritte Teil bestand in der Übersetzung französischer Lexeme. Jeder der oben genannten Laute wurde bei jeder Gewährsperson mit allen drei Methoden erhoben, um Vergleichbarkeit der Resultate gewährleisten zu können. erhalten als mit Bildern oder Umschreibungen und die Authentizität der erhaltenen Sprachdaten ist gewährleistet. Gemäss dem Prinzip ’Qualität vor Quantität’ sollte die Vorgabe standarddeutscher Lexeme vermieden werden. mhd. Langvokale Gesprächszeit, dagegen bleibt die Authentizität des Materials gewahrt. Sind diese methodischen Klippen zu vermeiden? Ist es möglich, eine Befragung so durchzuführen, dass einerseits die Lautung der Gewährsperson nicht durch das Vorsprechen der gesuchten Begriffe beeinlusst wird, andererseits keine Probleme mit falsch interpretierten Umschreibungen oder Bildern entstehen? Im Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung wurde die Idee einer zweisprachigen Erhebung empirisch erprobt. Die gesuchten Begriffe sollten hierfür von der Exploratorin französisch vorgesprochen und anschliessend von der jeweiligen Gewährsperson ins Jaundeutsche übersetzt werden. Dies ist in einem Dorf wie Jaun, das an der Sprachgrenze zur Romandie liegt, durchaus realistisch. Ein solches Vorgehen gewährleistet einerseits ein höheres Mass an Präzision als Umschreibungen oder Bilder, andererseits erfolgt dadurch keine Beeinlussung der Lautung. Natürlich ist auch Übersetzen kein unverfänglicher Prozess: Für die Fragebucherstellung mussten Begriffe gewählt werden, deren französisches Pendant eine möglichst eindeutige Übersetzung ins Deutsche erlauben. Mittelhochdeutsch MMMMMMMMDDDDDD Jaundeutsch MMMDDD DMDDDDDD Mono- und Diphthongverteilung: M: Monophthong, D: Diphthong. Die Reihenfolge bezieht sich auf das oben vorgestellte mhd. Langvokal- und Diphthongparadigma. Diese vier ’zusätzlichen’ Diphthongierungen weichen auch vom schweizerischen und standarddeutschen ’Normalfall’ ab: • • • • ê > [ia], [iə], [iæ] wie in [ʃnia] ‚Schnee’, [xiərə] ‚kehren’, [riæ] ‚Reh’ œ > [yə] wie in [ʃyən] ‚schön’, [lyəsə] ‚lösen’, [b̥yəs] ‚böse’ ô > [uə] wie in [b̥ruət] ‚Brot’, [g̊ruəs] ‚gross’, [ruət] ‚rot’ æ > [iə] wie in [ʃpiətər] ‚später’, [hiəg̊lə] ‚häkeln’, [ʃtriələ] ‚kämmen’ Damit scheint evident, weshalb man „den Jauner [...] sofort an seiner Sprache [erkennt]” (Bürgisser 1988: 171). Karten des Sprachatlas der deutschen Schweiz verzeichnen für die mhd. Langvokale ê, œ, ô, æ vereinzelt auch Diphthonge im Kanton expositionen  Freiburg, im Berner Oberland, im Wallis, dem Graubünden, in der Innerschweiz und im Osten des Kantons St. Gallen – insgesamt scheinen solche aber selten konsequent aufzutreten und sich auf eine kleine Diphthonginsel im Jauntal zu konzentrieren.◊ Bürgisser, Max 1988: Die Jauner Mundart. In: Deutschfreiburger Heimatkundeverein (Hg.) 1988: Jaun im Greyerzerland. 171–182. (= Deutschfreiburger Beiträge zur Heimatkunde 55) Hotzenköcherle, Rudolf 1962: Einführung in den Sprachatlas der deutschen Schweiz. Bd. A: Zur Methodologie der Kleinraumatlanten Hotzenköcherle, Rudolf 1962–2003 : Sprachatlas der deutschen Schweiz. Bd. 1: Lautgeographie: Vokalqualität Stucki, Karl 1917: Die Mundart von Jaun im Kanton Freiburg. Lautlehre und Flexion (= Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik 10) Marie-José Kolly studiert an der Universität Bern Germanistik und Mathematik im 10. Semester. Der vorliegende Text basiert auf ihrer Hausarbeit zum Seminar „Methoden der Dialektologie und Soziolinguistik”.  Höchste Lust (und etwas Totschlag) Linus Schöpfer D ie Opermusik Richard Wagners löste intellektuelle Erschütterungen aus, die tief ins 20. Jahrhundert nachwirkten. Die literarische Beschäftigung mit Wagner splitterte sich um 1900 in einen ästhetizistischen „Wagnerismus” und einen dogmatisch-ideologischen „Wagnerianismus”. Thomas Mann einerseits also – andererseits und verblüffender: Arthur Schnitzler. Die kaum bekannte Erzählung Wälsungenblut wurde 1906 geschrieben und 1921 veröffentlicht; lange hielt Thomas Mann sein Prosastück zurück, eine Eigendynamik befürchtend, welche dieser höchst drastische Text nach der Publikation hätte entwickeln können. Tatsächlich forciert Mann in Wälsungenblut wie in keinem seiner Werke die Antagonismen „Künstlertum/Bürgertum” respektive „Ästhetizismus/Leben”, indem er die Zwillinge Siegmund und Sieglinde – antriebsschwache, hochintelligente, neurotische „Luxusgeschöpfe” (Mann) aus reich begütertem Haus – nach dem Besuch von Wagners Walküre einen Inzest aus Weltverachtung begehen lässt. Auf die Frage Sieglindes, wie sie das Ungeheuerliche ihrem künftigen Gatten erklären soll, folgt (und so beendet Mann seine Erzählung) Siegmunds unbeirrte Replik: „Dankbar soll er uns sein. Er wird ein minder triviales Dasein führen, von nun an.” Wagner, Thomas Mann und die „Décadence” Diese radikale Absage an Trivialität und Bourgeoisie zugunsten eines umfassenden Ästhetizismus kennzeichnet den „Wagnerismus”. Autoren wie Baudelaire, Mallarmé, Huysmans, später D’Annunzio oder Thomas Mann verstanden Richard Wagner als wichtige Ingredienz dekadenter Lebensart. Selbst als Wagner zum national geachteten und bürgerlich goutierten Künstler avanciert war, strömten die Bohemiens in Scharen zum Grünen Hügel nach Bayreuth. Was nur fanden all die Dandys, ruinierten Aristokraten, Femmes fatales, Muttersöhnchen und Hysteriker, kurz: Dekadenten an Wagner und seinen Opern? Neben ungekannt radikalen Darstellungen von Todessehnsucht und Sexualität war es Richard Wagners Kunst per se – eine neuartige Kunst, die herkömmliche Formen sprengte, die die Sinne umnebelte mit Opulenz und Brachialität, die eine der Hybris zustrebende „Addition von Malerei, Musik, Wort und Gebärde” (Thomas Mann) war. Opern wie Tristan und Isolde, Tannhäuser oder Die Walküre wirkten auf die Nervösen wie ein Rauschgift, ihre Rezeption kam dem Opiumkonsum ähnlich. Es war Charles Baudelaire, der Autor von Les Fleurs du Mal, welcher die rauschhafte Wirkung, die Wagners Musik auf ihn und die Seinen ausübte, als erster erörterte (Richard Wagner et ‚Tannhäuser’ à Paris, 1861). Die ständige Wiederkehr der quälend schönen Melodien liess Baudelaire süchtig nach Wagner werden im eigentlichen Sinn: „Ma volonté avait été si forte et si terrible que je ne pouvais m’empêcher d’y vouloir retourner sans cesse.” Die Relexion dieser Sucht und, damit einhergehend, die Psychologisierung von Wagners Kunst hatten ebenfalls grossen Anteil am Reiz des Wagnerismus. Als Wendepunkte für die (literarische) Wagner-Rezeption igurieren Friedrich Nietzsches späte Polemiken Der Fall Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1895). Hier wird Richard Wagner selbst der Décadence zugeordnet: Friedrich Nietzsche interpretierte Wagners Kunst als Symptom eines unvermeidlichen allgemeinen kulturellen Niedergangs, er kritisierte die Neigung des Dramatikers Wagner zum Urtümlich-Nordischen als Abweichung vom dekadenten Wesenskern. In Nietzsches Tradition stehen Thomas Manns frühe Wagner-Essays Versuch über das Theater (1903) und Auseinandersetzung mit Wagner (1911). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist jener Thomas Mann scheinbar der einzige namhafte deutschsprachige Literat, in dessen Prosa der Wagnerismus bemerkenswerten Eingang indet. Figuren wie Detlev Spinell (Tristan), Gustav von Aschenbach (Der Tod in Venedig) oder die eingangs erwähnten Siegmund und Sieglinde sind, in variierender Intensität, Verdichtungen jenes ästhetizistischen Phänomens. Funktion als Träger des Antisemitismus In dieses Mannsche Figurenkabinett hinein passte auch Georg von Wergenthin, der Protagonist des heute fast vergessenen Schnitzler-Romans Der Weg ins Freie (1908). Mit Wergenthin gelang Arthur Schnitzler eine Figur, welche viele Attribute des Wagnerismus auf sich vereint: Als Erbe eines väterlichen Vermögens auf Erwerbsarbeit nicht angewiesen, legitimiert Wergenthin sich durch gelegentliche, Wagner nacheifernde Kompositionen; die übrige Zeit verbringt er müssig tändelnd in Opernhallen und Salons. Erwartungsgemäss (man möchte beinahe sagen: selbstverständlich) kommt Wergenthin mit seinen Kompositionsversuchen nicht über ein paar Arbeitsskizzen hinaus. In seinem zaudernden Künstlertum gleicht Wergenthin durchaus einem Spinell oder Aschenbach. expositionen Doch im Gegensatz zu Mann entrückt Schnitzler seinen Dilettanten nicht, bemüht kein abgeschiedenes Sanatorium und kein Venedig, um einen Ästhetizismus in Reinkultur zu zelebrieren, sondern setzt Wergenthin in Beziehungen. Über lange Gespräche mit den jüdischen Künstlern Heinrich Bermann, Leo Golowski und Edmund Nürnberger, mit der Sozialistin Therese Golowski und mit den deutschnationalkleinbürgerlich gestimmten Josef und Anna Rosner (seine spätere Frau) gewinnt durch Georg von Wergenthin die andere, die dumpfe Seite der Wagner-Anhängerschaft Ausdruck: Der „Wagnerianismus”. Mit diesen Dialogen veranschaulicht Schnitzler, wie ein Bekenntnis zu Wagner um 1900 auch ein gesellschaftlicher Positionsbezug sein konnte. Indem Wergenthin in rechtskonservativen Salongesellschaften aufs Neue Wagner-Stücke rezitiert, verschafft er sich deren Protektion und eine Camoulage des eigenen Unvermögens. Auch kann er auf diese Weise die talentierteren Juden Bermann, Golowski und Nürnberger distanzieren. Wergenthins Idol Richard Wagner war ein Antisemit von hoher Publizität; 1850 verfasste Wagner mit Das Judentum in der Musik einen „antisemitischen Klassiker” (J.M. Fischer). Nicht zuletzt deswegen war Wagner en vogue bei Rechtskonservativen und Deutschnationalen. Mit Bedacht entwickelt Schnitzler in Der Weg ins Freie diese gesellschaftliche Problematik des Wagnerianismus: Alsbald kommt sowohl der wankelmütige Privatmann wie auch der dilettierende Musiker Georg von Wergenthin nicht mehr ohne seine zweifelhaften Gönner aus; immer mehr und bloss halb bewusst entfremdet er sich von seinen jüdischen Künstlerfreunden – er kann nicht erst den Giftmischern mit Wagner schmeicheln und dann mit den Juden lanieren! Wergenthins ästhetizistischer Wagnerismus wird so zusehends durch einen unkünstlerischen, ideologischen Wagnerianismus kontaminiert. Letzterer wird insbesondere durch Wergenthins Schwager Josef Rosner verkörpert, der Wagners Musik einzig aus antisemitischen Motiven, quasi als Vertonung der Judenfeindschaft, huldigt. Eine Figur wie Rosner, die aus plumpem Hass gegen die wirtschaftlich erfolgreichere jüdische Konkurrenz dem Wagnerianismus zuneigt, ist bei Thomas Mann kaum vorstellbar; hier sind ästhetizistische Konversationen über Wagner stets grundiert mit dem Luxus reicher Ehemänner, Eltern, Verwandter, Freunde und abgehoben von Politik und Gesellschaft. Eine Wagner-Perspektive, die Mann fehlt Doch geht es nicht um das Lob eines wie auch immer geprägten gesellschaftlichen Realismus, sondern um eine Wagner-Perspektive, welche Schnitzler hat und die Mann fehlt. Für Nietzsche implizierte Wagners Opernkunst „die drei grossen Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).” Adorno andererseits konstatiert in seinem Versuch über Wagner, dass die in einer Oper wie Parsifal propagierte „Religion der Liebe und des Mitleids nicht mehr wert” sei „als Görings Erklärungen zum Schutze von Tieren.” Das Gewalttätige, urtümelnd Rohe also als Bestandteil Wagnerscher Kunst und zumal der hierin wurzelnde Wagnerianismus bleiben in Manns WagnerErzählungen unbeachtet. Arthur Schnitzler dagegen relek-  tiert die soziale Brisanz des Wagnerianismus, ohne die grosse ästhetische Attraktivität des Wagnerismus zu missachten (wobei sich die Frage stellt, ob Schnitzlers literarischer Wagnerismus ohne Thomas Mann überhaupt denkbar ist). Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie eignet sich daher in hohem Mass für eine Wagner-Forschung, welche sich für die schillernden, an Missverständnissen reichen Verlechtungen von Wagnerismus und Wagnerianismus, von romantischer Oper und rechter Ideologie, von übersteigertem Ästhetizismus und Judenhass interessiert.◊ Adorno, Theodor W. 1952: Versuch über Wagner Fischer, Jens Malte 2000: Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik’. Eine kritische Dokumentation Nietzsche, Friedrich 1954-1982: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta Marc A. Weiner 1986: Arthur Schnitzler and the Crisis of Musical Culture Linus Schöpfer studiert an der Universität Bern Germanistik und Schweizer Geschichte im 10. Semester. Der vorliegende Text basiert auf einer Seminararbeit zum Kurs „Arthur Schnitzler. Exemplarische Lektüren” von Prof. Jutta Müller-Tamm (FU Berlin).  Ein Goldfund bei Benn Volkswirtschaftliche Topoi in der Lyrik Gottfried Benns Hannes Mangold 1 912 trat Gottfried Benn mit den Morgue-Gedichten an die Öffentlichkeit. Im Kontext all der aufgeschnittenen Körper wird die Einbindung nationalökonomischer Themen leicht übersehen – zu Unrecht, wie der vorliegende Artikel geltend macht. Material Mensch Als Gottfried Benn (1886-1956) durch den Gedichtzyklus Morgue einem breiteren literarischen Publikum bekannt wurde, waren es vor Kälte erstarrte Worte, von einem sarkastischen Pathologen zu schonungslos bitteren Kunstwerken zusammengefügt, die den Ruhm des dichtenden Berliner Arztes begründeten. Gerade im Brotberuf Benns (genauer: Haut- und Geschlechtsarzt) erkennen Viele einen möglichen Einstieg in die Interpretation seiner Gedichte – und in der Tat: Benn hat die zeitgenössische humanwissenschaftliche Diskussion sehr genau verfolgt. Ausgehend von der Lehre seines Medizinalprofessors Theodor Ziehen, der ‚Erkenntnis’ als rein materialistisch-hirnphysiologischen Prozess verstanden haben wollte, interessierte sich Benn schon früh für Psychologie und Phrenologie. Die wissenschaftliche Methode erschien dem angehenden Arzt verheissungsvoll: „[D]as Psychische, [...] das Unfaßbare schlechthin ward Fleisch [...] und konnte [...] mit naturwissenschaftlichem Handwerkszeug bearbeitet [...] werden.” (Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie: 14) Kreislauf Der einsame Backzahn einer Dirne, die unbekannt verstorben war, trug eine Goldplombe. Die übrigen waren wie auf stille Verabredung ausgegangen. Den schlug der Leichendiener sich heraus, versetzte ihn und ging für tanzen. Denn, sagte er, nur Erde solle zu Erde werden. Gottfried Benn, 1912 „Ignorabimus!” Diesem Materialismus begegnete Benn jedoch schon bald mit grosser Skepsis. „Ignorabimus!” („Wir werden es nicht wissen”) schreien die resoluten Studenten in der Szene Ithaka ihrem kleinlichen Professor entgegen, der ihnen Erkenntnis verspricht über den so abstrakten wie absurden Vergleich der „Ammonshörner der linken Hemisphäre des Großhirns [von] vierzehntägigen Ratte[n]”, „vorausgesetzt” wohlgemerkt, „daß sie alle gleich alt sind, mit Kandiszucker ernährt, täglich eine halbe Stunde mit einem Puma gespielt und bei einer Temperatur von 37,36 in den Abendstunden zweimal spontan Stuhlgang gelassen haben.” (Ithaka: 21) Der Dichter revidiert seinen materialistischen Gedächtnisbegriff indem er neben Sigmund Freud, Ernst Bloch oder Max Scheler auch Friedrich Nietzsche und Théodule Ribot liest. Ribot vertritt dabei eine geisteswissenschaftlichere Interpretation der Seelenlehre. Zur Beschreibung psychischer Prozesse entlehnt er geologisches Vokabular, das Benn übernimmt: „[D]ie Seele [ist] in Schichten entstanden und gebaut” (Der Aufbau der Persönlichkeit: 118). Gemäss Ribot lassen sich dabei ältere seelische Schichten durch Ekstase u.ä. reaktivieren, eine für Benns Menschenbild und Dichtungstheorie (Miller 1990) wegweisende Konzeption: „Ribot bildete ein Regressionsgesetz des Gedächtnisses, dessen Zerstörung er als einen Rückschritt von Neuerem zu Älterem, vom Zusammengesetzten zum Primitiven, vom Willkürlichen zum Automatischen beschrieb.” (Der Aufbau der Persönlichkeit: 118) Dieses anthropologische Hintergrundwissen Benns ist nicht zu bestreiten und wurde auch überzeugend nachgewiesen. Mit der Konzentration auf den humanwissenschaftlichen Unterbau der Texte Benns gingen in der vorliegenden Forschung die sozialwissenschaftlichen Bezugsfelder aber zusehends vergessen. Benn gilt denn auch, trotz und vielleicht gerade wegen seiner späteren Kooperation mit den Nationalsozialisten, als unpolitischer Dichter ohne jegliches Interesse an ökonomischen Themen. Dieses Urteil soll hier revidiert werden. Insbesondere für die Zeit vor der Machtergreifung, die für die Wirtschaftshistoriker ja mit der Grossen Depression nach wie vor das pièce de résistance bildet, inden sich in den Texten Benns leicht diverse Bezüge auf ökonomische Theoreme. Aufgrund der äusserst breiten zeitgenössischen Diskussion wirtschaftlicher Fragen ist dies auch einfach nachvollziehbar. Bei Benn indet sich dieser Stoff- expositionen kreis jedoch quasi schon von Anfang an, wie das Gedicht Kreislauf aus der Morgue von 1912 deutlich aufzeigt. Von Business- und Body-Cycles Kreislauf schildert eine Serie von Tauschakten: Ein Goldzahn wird „versetzt”, also zu Geld gemacht, welches seinerseits in ein Tanzvergnügen investiert wird. Auf diese Händel blicken die Lesenden im Umfeld des Leichenschauhauses: Der Blutund der Geldkreislauf kommen sich bis zur Überschneidung nahe. Diese Berührung ist natürlich nicht Neues; tatsächlich entstanden bereits Mitte des 17. Jahrhunderts erste Volkswirtschaftslehren als Analogien auf Harveys Entdeckung des Blutzyklus’. In Inversion dieser historischen Abhängigkeit wird in Kreislauf der Fluss von Geld durch das Ende der Blutzirkulation allerdings erst ausgelöst – in Benns Anatomielektion wird denn auch nicht das venöse System sondern der inanzielle Zyklus obduziert. Zu diesen ökonomischen und medizinischen Subtexten tritt zudem als Drittes ein mit einer christlichen Ethik verbundenes Kreislauf-Konzept von Leben und Tod. Im letzten Vers offenbart der Leichendiener wohl einige Bibelkenntnis, interpretiert aber das mosaische „Erde zu Erde” sehr pragmatisch: Bei den Goldimplantaten verletzt er die Unversehrtheit der Verstorbenen und „schlägt” sie für sich „heraus”. Da die verstorbene „Dirne”, ein ebenso eng mit dem Verruchten wie mit dem Gewerblichen assoziierter Beruf, explizit „unbekannt”, also ohne Erben war, handelt es sich hierbei aber nicht um einen Diebstahl. Dennoch verstösst der Leichendiener gegen die Regel des reziproken Geben und Nehmens, was nicht bedeutungslos für den provokativen Gehalt des Gedichtes ist. Durch seine Position in der Schnittmenge aus physisch-kapitalistischem und metaphysisch-soteriologischem Kreis wird die Entnahme des Edelmetalls nicht nur zur Referenz auf das für die liberalökonomische Theorie problematische Erbrecht, sondern stellt auch eine Nutzen maximierende über eine orthodoxe Lesart der heiligen Schrift. Der Leichendiener aus Gottfried Benns Morgue eignet sich also mit dem Gold der Toten auch deren „Tanz” an. Damit macht der Dichter über die Isotopie des Kreislaufs eine Opposition zwischen wirtschaftlichem und christlichem Subtext geltend. Der Hilfspathologe entpuppt sich gleichermassen als Nihilist und paradigmatischer Utilitarist – Vergnügen kommt für ihn vor Gott. In Benns Werk lassen sich durchgehend ökonomische Topoi inden, die jeweils eng mit szientistischen, und das heisst hier materialistisch-nihilistischen Strukturen assoziiert sind. Ein Blick auf den wirtschaftstheoretischen Horizont des Dichters bleibt damit für ein profundes Verständnis seiner Anthropologie unerlässlich.◊ Benn, Gottfried 1982-2006: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand Miller, Gerlinde F. 1990: Die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs für Menschenbild und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn Ribot, Theodule 1895: Die Vererbung  Hannes Mangold studiert zur Zeit an der FU Berlin Germanistik und Volkswirtschaft im 10. Semester. Der vorliegende Text basiert auf seiner Bachelorarbeit.  Des Bahnhofs neue Kleider? – Bahnhofsaufwertung seit den 1990er Jahren „Die Welt ist ein Bahnhof geworden und unser Leben ein Hasten nach dem Bahnhof.” (August Corrodi 1860) W Sanna Frischknecht ährend Bahnhöfe zu ihrer Entstehungszeit als Kathedralen verehrt wurden, verloren sie mit dem Aufkommen des Automobils an Bedeutung. Bahnhöfe wurden vernachlässigt und verkamen zu sozialen Brennpunkten, oder wie Claudia Wucherpfennig (2006) dies ausdrückt: aus Bahnhofkultur wurde Bahnhofmilieu. Seit den 1990er Jahren aber scheint dieses Verkümmernlassen der Bahnhöfe zunehmend Konzepten der Aufwertung im Zeichen der Ökonomisierung und Politisierung des öffentlichen Raums zu weichen. Neue Vermarktungsstrategien für die Bahnhöfe Die Privatisierung der Eisenbahngesellschaften in der Schweiz und in Deutschland in den 1990er Jahren und die Neuordnung des Schienenverkehrs innerhalb der EU hat zu neuen Vermarktungsstrategien des Bahnfahrens und damit verbunden, der Bahnhöfe geführt. Der Bahnhof ist nicht mehr nur Bahnhof in seiner eigentlichen Funktion als Verkehrsknotenpunkt, an dem Reisende in den Zug einsteigen oder diesen verlassen, Güter ver- oder entladen werden. Bahnhöfe werden von nun an als moderne Dienstleistungszentren – in der Schweiz unter dem Titel «RailCity» – angepriesen. Moderne urbane Architektur der Gebäude, Mobiliardesign im Innern, Wahl der Mieterinnen und Pächter, sowie ein umfassendes Konzept für Sicherheit, Sauberkeit und Service (drei-S-Strategie) bilden die Grundzüge der Aufwertungsstrategien für die Bahnhöfe des 21. Jahrhunderts (vgl. Wehrheim 2002; Wucherpfennig 2006). Aus Bahnhof wird, wenn etwa von der Deutschen Bahn AG auch nicht gerne gehört, Shopping Mall mit Gleisanschluss. Die Stadt und ihr Bahnhof – Ein Masterplan für den Berner Hauptbahnhof Nicht nur die Bahngesellschaften, die seit den 1990er Jahren proitabel wirtschaften müssen, haben die Wirkungskraft der Bahnhöfe wieder entdeckt. Auch die Städte, die zunehmend in Konkurrenz zueinander stehen und sich mehr und mehr, wie die Bahngesellschaften im Wettbewerb um Attraktivität und damit inanziellem Erfolg sehen, inden Gefallen an den zentralen Verkehrsknotenpunkten. Bei der Umgestaltung der Bahnhöfe und der Bahnhofgebiete ergeben sich nicht selten städtisch-private-Kooperationen, wie dies am Beispiel des Berner Bahnhofsprojekt Masterplan für den Bahnhof Bern aufgezeigt werden kann. So wurde in Bern in den 1990er Jahren unter dem Titel Masterplan für den Bahnhof Bern eine Kooperation von Stadt, Kanton und Privaten ins Leben gerufen, die Baustein um Baustein eine umfassende Aufwertung des Bahnhofgebietes vorsah. Während die SBB, ganz im aktuellen Trend der Bahnhofaufwertungen für rund 60 Mio. CHF ein neues modernes Dienstleistungszentrum – RailCity – baute, wurde die Aufwertung des Bahnhofumfeldes, vor allem wegen Uneinigkeiten in verkehrspolitischen Belangen auf die lange Bank geschoben. Nachdem der Schanzentunnel, der das Bahnhofgebiet vom Individualverkehr hätte befreien sollen, von der Stimmbevölkerung abgelehnt wurde, musste ein neues Konzept für das Bahnhofumfeld her. Daraus resultierte das Projekt neuer Bahnhofplatz, welches die Stadt Bern die letzten Jahre beschäftigte. Ein Gesamtkonzept für das unmittelbare Bahnhofumfeld, das neben der Sanierung des Bahnhof- und Bubenbergplatzes, sowie der Christoffelunterführung vor allem auch eine Umgestaltung zum Ziel hatte. Ein neuer Bahnhofplatz für Bern Der wahrscheinlich zentralste Ort der Stadt Bern, der Berner Hauptbahnhof, sollte ein neues Umfeld bekommen. Der städtische Plan war, mit dem neuen Platz ein Aushängeschild für die Attraktivität der Kantons- und Bundeshauptstadt zu schaffen. In grossstädtischer Manier wurde von einem das Stadtbild verändernden Projekt gesprochen. Ein Raum sollte geschaffen werden, der die Attraktivität der Stadt widerspiegelt, eine Visitenkarte, die Eingangstor zur Stadt und Verkehrsknotenpunkt in Einem ist. Der Bubenbergplatz sollte zum Boulevard, also zur urbanen Flaniermeile, werden. Die (Alt-)Stadt sollte mit dem Baldachin – seinem Namen nach eine prunkvolle, königliche, gar majestätische Überdachung – wieder ein Eingangstor bekommen. Schliesslich vervollständigt die neue attraktive städtische Geschäftspassage in der Christoffelunterführung expositionen  das Urbane und Grossstädtische. Sie bringt der Stadt zusätzlich Einnahmen aus der Verpachtung der höchst lukrativen Geschäftslächen, die ebenfalls ausgerichtet an Metropolen, von morgens früh bis abends spät, 365 Tage im Jahr geöffnet haben und damit dem umtriebigen Lebensstil der Grossstädterinnen und Grossstädter angepasst sind. Die Aufwertung des Berner Bahnhofs unter dem Titel neuer Bahnhofplatz schliesst dabei, wenn in der tatsächlichen Umsetzung auch sehr viel bescheidener als zuvor in Worten propagiert, an die Aufwertungsstrategien an, die seit den 1990er Jahren an Bahnhöfen zu beobachten sind. Die architektonische Gestaltung im Zeichen von Licht und Übersichtlichkeit sowie das Konzept der Einsehbarkeit der Räume, lässt sich am Projekt neuer Bahnhofplatz eingehend veranschaulichen. Aber auch die Idee des modernen Dienstleistungszentrums – oder Shopping Mall mit Gleisanschluss – schwappt auf die Stadt über, die nunmehr ebenfalls aus den Einnahmen der Vermietung attraktiver Geschäftslagen Proit schlagen kann. Dass nun nicht nur die Bahngesellschaften, sondern auch die Städte ihre Strategien zur Attraktivitätssteigerung am Konsum ausrichten, und die Entwicklungen an Bahnhöfen hin zu ausgedehnteren Geschäftsöffnungszeiten unterstützen, wirft dabei aber genauso Fragen auf, wie die ’aus den Augen aus dem Sinn’ Politik, die mittels Gestaltung, Strategie und Reglementierung zunehmend auch im städtischen Raum zu beobachten ist, und Personen am Rande der Gesellschaft in die Unsichtbarkeit verdrängt. Dass der Stellenwert des Bahnhofs als urbaner Raum aber nicht alleine am Grade seiner ökonomischen Attraktivität zu messen ist, verdeutlicht ein Zitat von Thomas Hengartner: „Dass der Bahnhof auch Nischen von Heimat oder wenigstens ansatzweise von Beheimatung bietet, macht ihn zum besonderen urbanen Ort” (Hengartner 1999: 313).◊ Gerkan, Meinard von (Hg.) 1996: Renaissance der Bahnhöfe. Die Stadt im 21. Jahrhundert Hengartner, Thomas 1999: Forschungsfeld Stadt: zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischen Lebens Röllin, Peter 2003: Stadtbahnhöfe behaupten sich als urbane Zentren. In: Forum Raumentwicklung 2 (2003). 25-27 Im Internet unter: http://baufachinformation.de/zeitschriftenartikel.jsp?z=03119000094 (Stand vom 21.06.2009) Wehrheim, Jan 2002: Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung (= Stadt, Raum und Gesellschaft 17) Wucherpfennig, Claudia 2006: Bahnhof – (stadt)gesellschaftlicher Mikrokosmos im Wandel Sanna Frischknecht studiert im 10. Semester Soziologie an der Uni Bern. Der vorliegende Text basiert auf ihrer Bachelorarbeit. carte blanche  Acht Mistgabeln Österreich oder ein Pamphlet wider besseren Wissens W as wächst auf dem Mist der Österreicher? Um diese und andere Fragwürdigkeiten auszuloten, verstösst der Autor des folgenden Textes gegen jene Regeln, die er eigentlich seit Jahren hätte verinnerlicht haben sollen: nicht pauschalisieren, nicht behaupten! Sei`s drum. Es ist gefährlich und dumm, nach dem nationalen Gepräge einer Literatur zu fragen. Denn Bücher sind Misthaufen und Misthaufen sind bekanntlich nicht an Grenzen gebunden. Dennoch: Mist analysiert man normalerweise nicht, sondern man stochert in ihm herum. Wohlan! Erste Mistgabel: Die Österreicher schimpfen gerne; die Literaten über die Österreicher, den Staat und die Medien – die Österreicher, der Staat und die Medien über die Literaten. Einen solchen verklebten Strohhalm legt Karl Kraus, überhaupt ein grosser Schimpfer vor dem Herrn, 1925 in seiner Zeitschrift Die Fackel frei. Mit der Parole „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!” polemisiert er gegen Imre Békessy, den angeblich korrupten Herausgeber der Boulevardzeitung Die Stunde. Kraus trat in seiner Zeitschrift Die Fackel als engagierter, polemischer Publizist auf, polternd gegen den Missbrauch der Sprache, gleichwohl trunken von deren rhetorischer Schimpf-Potenz. Geschimpft wird über vieles, auch über andere. So verschmäht Kraus den hochheiligen Hugo von Hofmannstahl als „Umdichter, der ehrwürdigen Kadavern das Fell abzieht, um fragwürdige Leichen darin zu bestatten.” Dies nur als Schmankerl. Auch Jahrzehnte später wird traditionsgemäss geschimpft. In Thomas Bernhards Stück Heldenplatz (1988) schimpft die Figur des Professor Roberts differenziert: „Der Judenhass ist die reinste die absolut unverfälschte Natur des Österreichers.” Als im Voraus einige der einschlägigen Schimpftiraden unautorisiert in der Tagespresse veröffentlicht wurden, entbrannte in Wien ein Skandal. Zweite Mistgabel: Die von den Literaten als skandalös empfundenen Zustände werden von denselben skandalös inszeniert; diese Inszenierungen wiederum werden von der Öffentlichkeit freudig als Skandal aufgenommen, womit sich - für die Literaten - erneut bestätigt, wie unerhört skandalös die österreichischen Zustände tatsächlich sind. Man nennt das auch Wiener Walzer. Wen wundert´s, dass man plötzlich Kraus´ Slogan „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!” aus dem Mund eines gewissen Jörg Haiders hört, der die Österreichische Nation durch Bernhards Machwerk beschmutzt sieht. Tanzt man diesen Walzer, wird einem schwindlig. Wie Professor Robert sagt: „Österreich selbst ist nichts als eine Bühne / auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist.” Gerne inszeniert Bernhard auf dieser Welt-Bühne, durchaus auch mit Sinn fürs Geschäft. In einem Brief vom 20. 11. 88 an seinen Verleger Siegfried Unseld freut sich Bernhard über den Publikumserfolg des Stücks, um lakonisch zu bilanzieren: „Ganz abgesehen davon, dass es auch, was meine ,künstlerische’ Arbeit betrifft, seinem Erzeuger Freude macht.” Wohl bekomm`s! Schimpfen lohnt sich. Dritte Mistgabel: Tief im Haufen, faul und vergoren, steckt der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Regime am 12. März 1938. Die Literaten graben noch tiefer und graben immer weiter. Und was sie zu Tage befördern, stinkt mächtig. „Demokratie (auf österreichisch) bedeutet: Berührungsverbot der Vergangenheit”, schliesst Josef Haslinger in seinem Essay Politik der Gefühle (1987). Gegen dieses Berührungsverbot graben die Literaten an, hemdsärmlig, ihre Mistgabeln in beiden Händen. Man denke an die Anklage aus dem Mund von Professor Robert, eine Anklage, die sich bei fast jedem von Bernhards Geistesmenschen indet, virtuos wiederholt und variiert, als ewig empörte Suada. „So waren wir im Internat [...] zuerst im Namen Adolf Hitlers zugrunde und tagtäglich zu Tode erzogen worden und dann nach dem Krieg im Namen von Jesus Christus [...]. Wohin wir schauen, wir sehen hier nichts anderes als den Katholizismus oder den Nationalsozialismus und fast in allem in dieser Stadt und Gegend einen solchen geistesstörenden und geistesverrottenden und geistestötenden katholisch-nationalsozialistischen, menschenumbringenden Zustand.” So beschreibt Bernhard in seinem autobiographischen Buch Die Ursache (1975) seine Schulzeit in Salzburg. Der Katholizismus also, eine weitere Geissel. Vierte Mistgabel: Der Katholizismus steckt in den Sedimenten des Misthaufens, in den Tiefen. Kratzt und schabt der Literat mit seiner Mistgabel daran, lassen sich Versteinerungen inden: expositionen Abdrücke von Hostien oder Knochen, halbe Skelette, Menschenschädel. Fasziniert und zugleich abgestossen von der üppigen Symbolik, dem Ritus der katholischen Kirche, wird der Katholizismus etwa bei Josef Winkler zum Nährboden für seine endzeitlich-brutalen Bildkaskaden, die im kargen Milieu des bäurischen Kärnten zu wuchern beginnen. Die Kruziixe sind blutverschmiert, die bigotten Bibelsprüchlein ein Todesröcheln und - unter dem Talar der Ministranten verbirgt sich mehr als Frömmigkeit. Die Geschichte des Doppelselbstmords des siebzehnjährigen Roberts und seines Freundes Jakob, die sich im Pfarrhausstadel mit einem Kälberstrick erhängt haben, indet man am Anfang des Buches Menschenkind (1979). Eine Geschichte, die sich wie ein ewiges Rosenkranzgebet durch Winklers Werk zieht. Nicht nur im wilden Kärnten entleibt man sich, der Selbstmord ist omnipräsent. Fünfte Mistgabel: Auch in Österreich bringt man sich um. Die Literaten sind immer kurz davor und schreiben dagegen an. Man erhängt sich an Kälberstricken, man säuft sich zu Tode, man stürzt sich von der Salzburger Pferdeschwemme oder man ersticht sich mit einer Mistgabel. „Der Tod, der muss ein Wiener sein” heisst Georg Kreislers berühmtes Wienerlied. Man bringt sich nicht nur um, sondern der Tod an sich scheint seine österreichische Apotheose zu erleben. Der Tod, das Makabere und Morbide, ja Moribunde trällert aus dem Leierkasten. Man indet ihn überall und: Wenn er einen nicht selbst zum Lachen bringt, lächelt man ihn an. Im Alltäglichen sitzt er, im Wirtshaus bei der Jause. So setzt der Wirt in Heimito von Doderers Kürzestgeschichte Der Oger (1958) ebendiesem solventen und hungrigen Oger, der nur mit Tausenderscheinen bezahlt und auch freigiebig weitere Gäste einlädt, schliesslich als alles andere verzehrt ist, seinen Ober zum Essen vor. Als der Wirt am nächsten Tag zur Leiche eines ihm Unbekannten gerufen wird, der am Vorabend überfahren worden ist, bejaht er die Frage, ob es sich beim Toten um seinen verschwundenen Ober handelt. „So kam es, dass drei Tage später fast dreissig Personen hinter dem Sarge eines Unbekannten gingen, dessen honettes Begräbnis sie bestellt hatten, um jetzt am Friedhofe bedrückt und niedergeschlagen im Leichenzuge zu wandeln, da keiner so genau wusste, ob er nicht doch und wie weit er etwa an dieser Sache beteiligt sei. Es sah ganz wie echte Trauer aus. Selbstverständlich ging auch der Wirt schwarzgekleidet mit.” Man erinnere sich an den österreichischen Demokratie-Begriff... Die Österreicher und ihr Totenbrimborium; ein Besuch im Wiener Bestattungsmuseum ist dringend empfohlen. Man schwankt - betrunken vom lautren Vogelbeer-Schnaps - zwischen dem Komischen und Tragischen, man lotet es aus, ernsthaft. Sechste Mistgabel: Der Tod ist in Österreich offenbar noch sehr lebendig.  Nun stösst man, nachdem einiger Mist weggeräumt und nachlässig verstreut worden ist, auf einen Klumpen: den österreichischen Helden! Es ist der Menschenfeind. Rappelkopf spricht in Ferdinand Raimunds Stück Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) archetypisch: „Es ist aus! Die Welt ist nichts als eine giftige Belladonna, ich habe sie gekostet und bin toll davon geworden. Ich brauch nichts von den Leuten, und sie kriegen auch nichts von mir, nichts Gutes, nichts Übles, nichts Süsses und nichts Saures. Nicht einmal meinen sauren Wein will ich ihnen mehr verkaufen.” Egomanisch und unausstehlich ist dieser Typus, versessen ist er in seinem Glauben an das Schlechte, er ist einsiedlerisch, mürrisch. Aber gerade in diesem galligen, blinden Hass auf alles und alle ist er komisch, tragisch? Bernhards nörgelnde Geistesmenschen mit ihren unerträglichen Manierismen, sind sie nicht eigentlich putzig in ihrer Kleinlichkeit, bedauernswert wie Nippes am Rande eines - Misthaufens? Es ist zum Lachen. Es ist zum Weinen. Abgrund ist es ohnehin. Obsessiv ist der österreichische Held. Reger in Bernhards Alte Meister (1985): „Auf einer xbeliebigen Seite Stifter ist so viel Kitsch, dass mehrere Generationen von poesiedurstigen Nonnen und Krankenschwestern damit befriedigt werden können.” Nicht nur diese Klientel kann er befriedigen, auch unsere; man indet nämlich - oh Wunder - noch anderes als Kitsch. Der Maler Roderer in Stifters Nachkommenschaften (1865) baut sich eigens eine Blockhütte, um ein Moor abzumalen, er will „die wirkliche Wirklichkeit darstellen” und dazu muss er „die wirkliche Wirklichkeit” immer neben sich haben. Er scheitert - man muss fast sagen - naturgemäss und verbrennt am Ende der Erzählung sein Bild. Und weht in Stifters Bunten Steinen (1853) nicht immer irgendwo sublimerweise weisse Wäsche an Schnüren? Man könnte auch an die Obsession der dicken Damen in Doderers Die Dämonen (1956) denken. Oder stürzte man dann endgültig in den Abgrund latenter Trieb-Federn einer Künstlerbiographie? Wie es die (nicht minder obsessive) Erika Kohut in Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin (1983) sagt: „[...] als entwüchse erst dem Komposthaufen der Geschlechtlichkeit das Gurkenbeet des reinen Wohllauts.” Siebente Mistgabel: Der österreichische Held ist obsessiv. Ob Hanswurst, Misanthrop oder manischer Geck, jeder hat seinen geheimen Dung, mit seinem ganz eigenen Geruch und jeder hat seine ganz eigene Weise, diesen Dung zu veräussern. Und wenn man schon beim Dung ist, ist man auch beim Essen. Essentiell ist die Mehlspeise, der Lungenbraten und die Blunzen! Zieht man Nestroys Titus Feuerfuchs aus Der Talisman (1840) an den Haaren (oder der Perücke) herbei, so wird`s gar existentiell: „In mir organisiert sich aber auch schon Misanthropisches - ja - ich hass dich, du inhumane Menschheit, ich will dich liehen, eine Einöde nehme mich auf, ganz eseliert will ich sein! - Halt, kühner Geist, solcher Entschluss ziemt dem Gesättigten, der Hungrige führt ihn nicht aus. Nein, Menschheit, du sollst mich nicht verlieren. Appetit is das zarte Band, welches mich mit dir verkettet, carte blanche 0 welches mich alle Tag` drei-, viermal mahnt, dass ich mich der Gesellschaft nicht entreissen darf.” Hat man hier einen Grund gefunden, warum man sich nicht entleibt? Dieses Mort du terroir, das sich auf unseren Mistgabeln angesammelt hat, kompensiert durch Speis und Tank du terroir, Grüner Veltliner, Zweigelt, Schilcher, na? Was ist denn diese Welt, dieses terroir? „Eine Wurst / eine kurze dicke nach innen geschissene Wurst”, sagt der Hundsmaulsepp in Werner Schwabs Stück Mein Hundemund (1991). Die Welt sitzt in den eigenen Gedärmen. Was man frisst, gibt man von sich, und düngt damit die Welt, um, was spriesst in Folge, wieder aufzufressen. Und wie steht es mit der Geselligkeit? „Das Würstel als Metapher für eine kulturelle Solidarität”, wie Jürgen in Schwabs ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM (1992) verkündet. In diesem Stück wagt sich ein schönes, städtisches Paar in den menschlichen Abyssus einer österreichischen Buschenschenke. Das entsprechend schwabisch-abgründige Personal philosophiert unter anderem über Wurst und Brot. Schweindi sagt, er brauche „das massenhafte Brotgefühl” in seinem Körper: „Brot und Wurst... grossartig, der Leib des Herrn und das Fleisch der Erde.” Doch das anwesende Paar wird von Schweindi angegriffen. Das seien doch genau solche Menschen, die sagen, „dass Brot ein Scheissdreck ist, dass Brot ein Nichts ist, dass unsereins ein Nichts ist.” Der Gemeinschaft, ohnehin erhitzt und erregt, bleibt nichts anderes übrig, als dieses Paar in corpore zu vergewaltigen und schliesslich in einer kannibalischen Orgie zu zerreissen und sich einzuverleiben. Das ist Würstelsolidarität. Auch in Peter Turrinis Sauschlachten (1972) erlebt man die österreichische Gastfreundschaft. Am Schluss des Stücks hört man die Bäuerin: „Hörst net Zwölfeläuten? Kommts essen, es is angricht. Der Schweinebraten is a schon fertig.” Das Schwein wurde vorher durch die Dorfgemeinschaft geschlachtet, es ist - notabene - der stumme Bauernsohn Valentin. Achte Mistgabel: Österreich hat eine reiche und bekömmliche Küche, guten Wein, Gastlichkeit wird hochgehalten. Sähe man hinter die Fassaden, liefe man Gefahr, sich zu verschlucken. Also bewundere man den Vordergrund. Nun ist man bei diesem frohen und unverschämten Herumstochern in besagtem Misthaufen an einem Punkt angelangt, in dem sich alles zu vermischen scheint, was man so hübsch auf dem Feld zu verteilen vermeint hat. Eine Sauerei, das! Sinnierend würde man mit der abgenutzten Mistgabel alles wieder zusammenkratzen und -schaben, schmisse alles wieder auf einen Haufen. Kontemplierend in dieser Handlung würde man - mit philosophisch gefalteter Stirn - plötzlich einsehen: man hat es nicht mit einer Kultur zu tun, sondern der Misthaufen besteht aus deren vielen: Eine Strohkultur, eine Kultur der Wärmegase, da eine dufte Kultur des Ammoniaks, etwas grösser eine Exkrementalkultur, gleich neben einer eher lachländischen Jauchenkultur, eine Strohkultur mit aufragenden Halmen, ein Heuhaus, eine Einstreustadt, hier eine mächtige Kacka-Kultur... Mannigfaltigkeit, potentielles Blühen. Und das wollte man vereinheitlichen, Mist! Letzter Mist: Österreich gibt es nicht. Oder nicht mehr. Oder erst seit kurzem. Oder schon seit langem. Alles liegt quer und kreuz. Österreich ist ein Misthaufen! ◊ Steckbrief: Der Autor studiert an der Universität Bern Deutsche Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte im Endzeitstadium. Der Text entstand vor Jahren in einem Proseminar zu Thomas Bernhard, wurde mittlerweile aber einige Male erweitert und verformt. expositionen  Wagnis ohne Erkenntnis Ein Blick auf Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten Julian Reidy C hristian Krachts neues Buch Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ist ein wirres und irres kontrafaktisches Fabulierstück. Der 1966 geborene Schweizer ersinnt einen alternativen Verlauf der Geschichte: Statt sein Exil zu verlassen, zettelt Lenin 1917 in der Schweiz eine Revolution an; die Alpenrepublik wandelt sich in der Folge zur SSR – zur Schweizer Sowjetrepublik – und verwickelt sich in einen Weltkrieg mit dem faschistischen Deutschland und dessen britischen Verbündeten. Zu Beginn der erzählten Zeit geht dieser Krieg „in sein sechsundneunzigstes Jahr”. Der namenlose Ich-Erzähler, ein „Parteikommissär in Neu-Bern”, erhält den Auftrag, den mysteriösen Oberst Brazhinsky festzunehmen, der sich ins Réduit, die gigantische Alpenfestung der SSR, gelüchtet hat. Erst nach geschickten Verzögerungen präsentiert Kracht die Lebensgeschichte des Protagonisten, eines Afrikaners, der in seiner Heimat eine von „schweizerische[n] Divisionäre[n]” geführte Militärakademie besuchte. Was folgt, ist eine in beeindruckenden Bildern erzählte Reise Richtung Oberland und Réduit, die in der Konfrontation mit Brazhinsky kulminiert und mit der Rückkehr des desillusionierten Parteikommissärs nach Afrika endet. Dabei ergeht sich Kracht nicht in platten ‚was-wäre-wenn’-Phantasien, sondern kreiert mit grossem Erindungsreichtum eine alptraumhafte Parallelwelt, in der die „Amexikaner” keine Rolle spielen, da sie mit dem „schreckliche[n] Bürgerkrieg der geiederten Schlange” beschäftigt sind, und in der Russland durch die „ungeklärt[e] [...] Tunguska-Explosion”, die sich 1908 tatsächlich ereignete, „verstrahlt[.]” und „unbewohnbar” gemacht wurde. Schönstes Deutsch Es fällt nicht leicht, Krachts Roman zu rezensieren: Der Leser läuft Gefahr, durch die unbestreitbare atmosphärische Kraft der Sprache, die brutale Konsequenz, mit der die Alternativwelt imaginiert wird, und die ilmreife und atemlose Präsentation der durchaus mitreissenden Handlung eingelullt zu werden. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten unterhält tatsächlich vorzüglich, und wem dies genügt, der wird mit diesem Buch glücklich werden. Der Text will aber offenbar mehr sein als einfache Unterhaltungslektüre, wird er doch vom Autor mit ironiefreiem und zuweilen pathetischem Gestus präsentiert und zumindest von der FAS als „[d]er grosse Schweiz-Roman” gelobt. Die kritische Frage nach den inhaltlichen Qualitäten des Werks, jenseits der glänzenden Oberläche, sei also erlaubt. Zunächst ist festzuhalten, dass diese Oberläche vielleicht auch so glänzend nicht ist – Gustav Seibt preist in der Süddeutschen Krachts Sprache als „schönste[s], eleganteste[s] Deutsch, das derzeit zu lesen ist”, was angesichts einiger grober sprachlicher Schnitzer befremden muss: So ist einmal von „das [...] Urin” die Rede, Deduktion und Induktion werden verwechselt, statt ‚phosphoreszieren’ wird „phosphorisieren`” verwendet (ein Wort, das es gar nicht gibt), und der schlimme Anglizismus ‚Sinn machen’ schleicht sich ebenfalls ein. Postkoloniale Situationen Auch Krachts kreative Leistung wirkt nicht mehr ganz so beeindruckend, wenn man sich mit den offensichtlichen Vorbildtexten auseinandersetzt, auf die im Roman vielfach verwiesen wird, und sich vergegenwärtigt, was der Autor mit diesen Einlüssen eigentlich anstellt. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten bietet besonders deutliche intertextuelle Bezüge auf Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness und Friedrich Dürrenmatts Fragment Der Winterkrieg in Tibet. Von Dürrenmatt hat Kracht das Szenario der kriegszerstörten Schweiz, wie auch die winterlichen Kämpfe in alpiner Umgebung übernommen. Dürrenmatts Ich-Erzähler hält seine Erlebnisse und Relexionen auf Höhlenwänden fest; diese spielen auch bei Kracht eine Rolle: Als Kind bewundert der Parteikommissär die „geheimnisvollen Malereien” in den „Felshöhlen am Chongoni”, an die ihn später die Reliefs zur Geschichte der Schweiz im Réduit erinnern; wie Dürrenmatt verweist auch Kracht auf Platons Höhlengleichnis, und am Ende des Romans, auf dem Weg nach Afrika, schreibt der Erzähler, wie derjenige in Dürrenmatts Text, „Wörter, Sätze, ganze Bücher in die Landschaft hinein”. Die Handlung von Krachts Roman ist dabei gleichsam an derjenigen von Conrads Novelle entlanggeführt: In beiden Fällen beschreibt ein Ich-Erzähler, wie er in einer feindseligen Umgebung eine ominöse Figur ausindig macht, die sich im ‚Herz der Finsternis’ verschanzt hat – in Conrads Novelle ist dies Mr. Kurtz in seiner Flussstation im tiefsten Dschungel, bei Kracht Brazhinsky im Réduit. Es lässt sich unschwer zeigen, dass Kracht Heart of Darkness sehr genau gelesen haben muss. Von den mannigfaltigen Verweisen auf die Novelle sei hier nur der deutlichste genannt, der den Schweizer gar zu seinem Text inspiriert haben könnte: An einer Stelle entwirft Marlow, Conrads Ich-Erzähler, ein Alternativszenario, in dem Schwarze durch England ziehen und als Kolonisten auftreten, was somit jener Umkehrung entspricht, die Kracht in seinem Roman vornimmt – hier  bewegt sich tatsächlich ein Afrikaner mit „fearful weapons” durch das Schweizer Mittelland und übt als Ofizier Autorität über einfache (weisse) Soldaten aus. Dieser Rollentausch, gekoppelt mit der sukzessiven Ablösung des Protagonisten von der schweizerischen Indoktrination und seiner nicht nur geographischen Wendung zu den afrikanischen „Brüdern” und „Ahnen”, mutet wie eine grosse postkoloniale Geste an. Der ganze Emanzipationsprozess des Erzählers, der zuerst „die Schweizer Zeit” hinter sich lässt, dann „die Masken” seiner „Ahnen” sieht und schliesslich „über das Mittelmeer hin und durch den Kanal, der nun uns Afrikanern gehören würde” in seine Heimat zurückreist, spielt sich in bester Fanonscher Manier als Rückbesinnung auf die eigene präkoloniale Vergangenheit ab, wie übrigens auch der Exodus der Afrikaner aus den von Corbusier geplanten Städten am Ende des Romans (nach eigener Aussage setzte sich Kracht während der Vorarbeiten zu Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch mit Fanons Theorien auseinander). Die eklektischen Verweise auf Fanons Befreiungstheorie sind allerdings bei genauer Betrachtung eher dekorativ und täuschen nicht darüber hinweg, dass Kracht keine realistische postkoloniale Situation darstellt, sondern eine lyrisierend-delirierende Befreiungsphantasie. Die Krux der postkolonialen Situation, namentlich die anhaltende und entmenschlichende Abhängigkeit der Kolonisierten von den Kolonisten, wird verschwiegen. Die (Selbst-)Befreiung der Kolonisierten gelingt in Krachts Text scheinbar reibungslos. Ganz anders Hans Christoph Buch in seinem Roman Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand: „Wann kommt ihr Deutschen wieder?”, wird da der Autor in den ehemaligen deutschen Kolonien Togo und Kamerun gefragt – „Soviel zur postkolonialen Situation”, resümiert Buch nicht ohne Bitterkeit. Aber schon Joseph Conrad bewies ein feines Gespür für diese Perversion des Kolonialismus: Nach seiner Ankunft in Kurtz’ Lager fragt Marlow den verwirrten Russen, den er dort antrifft, warum die Eingeborenen kurz zuvor sein Boot attackiert hätten. „They don’t want [Kurtz] to go”, lautet die lakonische Antwort, obwohl ebendieser Kurtz sich von den Afrikanern als Gott verehren lässt und sie brutal knechtet. Indes scheint ein solches Gespür Kracht, dessen Darstellung des Kolonialismus weitgehend im Dienste einer hypnotischen Sprachästhetik steht, vollkommen abzugehen. Soviel zur postkolonialen Situation. Wenn Zeichen trügen Die Komplexitätsreduktion, die Kracht in seiner Schilderung des Zusammenbruchs der Schweizer Kolonien in Afrika vornimmt, ist symptomatisch für seinen Umgang mit den Texten, auf die er immer wieder anspielt: Kracht ist stets auf der Suche nach dem mot juste, dem atmosphärischen Tableau, der wirksamen Formulierung; er kennt nur den drastischen Augenblick, die brutale Episode. So entsteht ein Text, dessen monomanische sprachliche Effekthascherei bei allen erwähnten Mängeln zu faszinieren und zu fesseln weiss, der aber letztlich den schon von Conrad und Dürrenmatt behandelten Themen nie auf den Grund zu gehen vermag und ihnen jegliche Subtilität raubt. Unter der glänzenden Oberläche indet sich bei näherer Betrachtung eben nicht viel Erwähnenswertes. Der bereits kritisierte Umgang Krachts mit der postkolonialen Situation ist dabei nur die Spitze des Eisbergs; auch andere Motive und Szenen aus Heart of Darkness werden von Kracht in simpliizierter Form übernommen, sodass sie ihre ursprüngliche Komplexität verlieren und zu blossen Versatzstücken werden. So stösst Krachts Erzähler genau wie Marlow in Conrads Novelle auf eine „armselige Hütte”, in der er überraschenderweise „Bücher in englischer Sprache” vorindet. Vor der Hütte in Heart of Darkness liegt zunächst eine schriftliche Warnung, die schwer zu verstehen und deren „signature [...] illegible” ist. Das Buch über „Seamanship”, das Marlow sodann im Innern der Hütte indet, stört das ganze semiotische Universum, in dem er sich bewegt: Es passt ganz offensichtlich nicht in seine «So entsteht ein Text, dessen monomanische sprachliche Effekthascherei bei allen erwähnten Mängeln zu faszinieren und zu fesseln weiss, der aber letztlich den schon von Conrad und Dürrenmatt behandelten Themen nie auf den Grund zu gehen vermag und ihnen jegliche Subtilität raubt.» Umgebung – „such a book being there was wonderful enough” –, und es enthält Randnotizen „in cipher”, also in einer Geheimsprache. Später stellt sich heraus, dass das Buch dem Russen in Kurtz’ Station gehört, dass die Notizen eben nicht in einer Geheimsprache, sondern in Russisch abgefasst sind, und dass derselbe Mann auch die kryptische Warnung vor der Hütte hinterlegt hatte. Bis zu dieser Erklärung aber bleibt die ganze Hüttenszene rätselhaft und ist damit programmatisch für die Poetologie in Heart of Darkness: Conrad konstruiert mit grosser Akribie eine Welt, die nicht mehr lesbar ist, in der Zeichen täuschen können oder vollkommen unverständlich sind, in der mithin die Einheit von Signiiant und Signiié nachhaltig gestört ist. Die Hüttenszene in Krachts Roman dagegen treibt einfach nur die Handlung voran. Zwar kommt es auch hier zu einer kleineren semiotischen Verwirrung – „[d]ie Titel sagten mir nichts” –, aber diese wird später nicht wieder aufgegriffen und auch nicht weiter relektiert. Eine Szene, die bei Conrad durchaus programmatische Funktion hat und trotz aller Schlichtheit mit grösster Sorgfalt umgesetzt wurde, erscheint also bei Kracht in vereinfachter und fast schon banaler Form wieder. Wenn Zeichen trügen und die Welt nicht mehr interpretierbar ist, hat das natürlich auch ethische Implikationen – diese werden wiederum bei Conrad relektiert und spielen bei Kracht keine Rolle. Es ist gerade die Dichotomie von ‚zivilisierter’ und ‚unzivilisierter’ Welt, an der die Charaktere in Heart of Darkness entweder scheitern oder aber ihre moralische Integrität beweisen: Im moralischen Vakuum des Dschungels „you must fall back upon your own innate strength, upon your own capacity for faithfulness”, und so kann man den Verlockungen der Barbarei entweder widerstehen, oder es ergeht einem wie Kurtz: „[his] nerves[] went wrong”. Dieser zentrale Kontrast, der Heart of Darkness im Grunde erst zu einem komplexen Text macht, fällt bei Kracht erneut weg expositionen – solche Feinheiten haben natürlich keinen Platz in einer Welt, die sowieso nur noch die Barbarei kennt und sich seit fast hundert Jahren im Krieg beindet, in der also die Unterscheidung zwischen ‚zivilisiertem’ und ‚unzivilisiertem’ Verhalten gar nicht mehr existiert. Diese Welt hat sich Kracht, wie bereits erwähnt, gut ausgedacht, aber besonders interessant ist sie bei näherem Hinsehen eigentlich nicht, weil ihr jegliche Kontraste und Subtilitäten abgehen. Kracht bedient sich geschickt bei Conrad, vereinfacht jedoch so stark und konzentriert sich derart auf die Realisierung eines möglichst atmosphärischen Sprachduktus, dass diese intertextuellen Verweise im Grunde blind bleiben und der Roman bei genauerer Lektüre platt, wirr und unverständlich wirkt. Kein Wagnis Dietmar Dath freut sich in seiner Rezension zu Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten diebisch über Krachts Verwendung von „Erzähltechniken der Phantastik”, mit denen es dem Autor gelänge, die „Radarfallen der öffentlich lizenzierten Literaturbetrachtung [zu] unterlieg[en]”. Das ist zuviel des Lobes. Wirklich gute Phantastik präsentiert uns Kracht nicht; sein neuer Roman ist eher eine müde Variation auf Joseph Conrads berühmtestes Werk, das er nicht ganz zu verstehen scheint oder dessen hintergründige und feinsinnige Motive ihm einfach egal sind und dessen Plot er mit einigen Dürrenmattschen Elementen anreichert. Letzten Endes ist es ganz einfach: Krachts Vorbildtexte entspringen problematischen historischen Situationen, auf die sie Antworten zu geben suchen. Dies macht die Qualität dieser Werke aus. Conrad setzte sich mit dem Kolonialismus auseinander, und Dürrenmatt schrieb seinen Winterkrieg vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges als „Versuch, mich in die Wirklichkeit, von der ich und mein Land ausgeschlossen waren, durch eine erfundene Unwirklichkeit zu integrieren, [...] indem ich nach einem Weltgleichnis suchte”. Welche Komplexe aber bearbeitet Kracht? Auf welche Fragen gibt sein Buch Antwort? „Ohne das Wagnis von Fiktionen ist der Weg zur Erkenntnis nicht begehbar”, heisst es im Winterkrieg, Dürrenmatts „Weltgleichnis” – Christian Krachts neuer Roman ist eine durchaus gewagte Fiktion, die aber ihre Vorbildtexte auf wohlfeile Anspielungsspender reduziert und sie wo immer möglich vereindeutigt und simpliiziert; eine Fiktion, die Ästhetik vor Gehalt stellt, Stil vor Substanz, und die letztlich keiner Erkenntnis den Weg bahnt. ◊ Bhabha, Homi K. 2004: Signs taken for Wonders. In: Rivkin, Julia/Ryan, Michael (Hg.): Literary Theory: An Anthology Bronner, Stefan 2009: Das offene Buch – Zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in Christian Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten”. In: Deutsche Bücher 2 (2009). 103-111 Conrad, Joseph 2002 (1899): Heart of Darkness Fanon, Frantz 1981: Die Verdammten dieser Erde Kracht, Christian 2008: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten  Julian Reidy studiert Germanistik und Anglistik im 10. Semester an der Universität Bern. Dieser Text wurde im Rahmen des Kolloquiums „Gegenwartsliteratur” verfasst.  „Der Löwe besteht aus verdautem Schaf” Zur Antikenrezeption im Mittelalter Tamara Hügli D as Mittelalter kann nicht als Bruch zur Antike gedacht werden. Vielmehr treten die Denker und Dichter der so genannten ,dunklen Zeit’ in regen Dialog mit ihren Vorgängern. Diese Konstanz wurde im Mittelalter denn auch explizit ruchbar gemacht: Nicht nur die politische Macht legitimierte sich über vielfältige Bezüge zu antiker Herrschaft, sondern auch das kulturelle ,Wissen’ benutzte diese Strategie auf äusserst kreative Weise. Zwerge auf den Schultern von Riesen Die „Antike im Mittelalter” – so das Thema der Ringvorlesung des Berner Mittelalter Zentrums im Herbstsemester 2009 – ist ein weites Feld: Aus der Antike blieb schliesslich vieles sogar bis in unsere Zeit erhalten. Was der Limes materiell veranschaulicht, behält Gültigkeit bis hin in die Bereiche des christlichen Gedankenguts, denn mit Numenius: was ist Platon anderes als Moses in attischem Dialekt? Eindrücklich wird dieses Kontinuum durch das bekannte Bild von Zwergen auf den Schultern von Riesen zum Ausdruck gebracht, das in Johannes’ von Salisbury Metalogicon zum ersten Mal auftaucht und das dessen Lehrer Bernhard von Chartres zugeschrieben wird: Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantium humeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea. (zit. nach Merton 2004: 46) Bernhard von Chartres sagte, wir seien wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, so dass wir mehr und weiter Entferntes als diese sehen können, freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder hervorragender Gestalt, sondern weil wir durch ihre riesenhafte Grösse in die Höhe getragen und emporgehoben werden. Das Bild zeigt aus der Sicht des Mittelalters das Verhältnis zwischen den zeitgenössischen Gelehrten und ihren antiken Vorgängern: Sie bezeichnen sich selbst als klein wie Zwerge, weil sie jedoch auf dem Wissen der Antike, dem Riesen, aufbauen können, können sie weiter sehen als ihre Vorgänger. Eine entscheidende Neuerung war zudem das Christentum, mit dem sie – ihrer Meinung nach – einen Vorteil gegenüber der heidnischen Antike besassen. Das Bild beinhal- tet den steilen und mühsamen Aufstieg auf den Berg dieses Wissens und es ist nicht einfach, oben zu stehen und das Gleichgewicht nicht zu verlieren, wie Merton anmerkt. Da bleibt manchem Zwerg keine Zeit, die Aussicht zu geniessen und mehr zu entdecken als der Riese unter ihm. Unmöglich wird dies sogar, wenn der Riese wankt und einstürzt. Das Bild zeigt, dass trotz aller Bescheidenheit und trotz der Verehrung ihrer Vorgänger die Menschen im Mittelalter ebendiese Vorgänger zu überbieten glaubten. Die Fortführung des Reiches Der Begriff „Mittelalter” taucht als „medium aevum” erst bei den Humanisten auf, zurückgehend auf Petrarca, der die Zeit zwischen der „aetas antiqua” und der „aetas nova” als „tenebra” („dunkel”) bezeichnet. Die Menschen im Mittelalter hingegen sahen sich nicht in der Mitte zwischen einer alten und einer neuen Zeit, sondern in eschatologischer Hinsicht in der Zeit, an deren Ende das Jüngste Gericht stattinden würde. Diese Vorstellung geht auf das 2. Kapitel des Buches Daniel im Alten Testament zurück, in dem Daniel prophezeit, dass nach dem goldenen Reich Nebukadnezars ein silbernes, ein bronzenes und ein in Eisen und Ton gespaltenes Reich folgen wird, bevor das Jüngste Gericht eintrifft. Hieronymus deutete diese vier Reiche als Babylon, Persien, Griechenland und das in West- und Ost- gespaltene Rom. Damit Daniels Prophezeiung ihre Gültigkeit nicht verlor, musste im Mittelalter nun ein Weg gefunden werden, zu erklären, weshalb das Ende der Welt nach dem Ende des Römischen Reiches nicht gekommen war. Dies war anhand des Konzeptes der ,translatio imperii’ möglich: Es wurde eine bruchlose Übernahme und Fortführung des Römischen Reiches durch die Karolinger konstruiert, so dass das vierte Reich noch immer Bestand hatte. Dieses Konzept garantierte nicht nur den Aufschub des Jüngsten Gerichts, sondern legitimierte auch den eigenen Machtanspruch. Analog zu Vergil, der mit Aeneas eine Verbindung zwischen dem zerstörten Troja und Rom herstellte, versuchten mehrere Dichter Rom mit ihrer jeweiligen Herkunft zu verknüpfen: Beispielsweise schufen Geoffrey von expositionen Monmouth und Wace mit Brutus, einem Urenkel von Aeneas, eine Verbindung zu Grossbritannien, wie Lucy Perry in ihrem Referat „The Romans in Britain and the Britons in Rome: Julius Caesar and Arthur in the Legendary Chronicle Tradition” erläuterte; und Heinrich von Veldeke stellte in seinem Eneasroman eine Verknüpfung zwischen Aeneas und dem Staufergeschlecht her, wie aus dem Vortrag „ûz Pegases urspringe: Die ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts’ am Beispiel der Aeneasromane” von Marie-Sophie Masse hervorging. Im Eneasroman wird in der so genannten „Stauferpartie” das Grab des Königssohnes Pallas, der mit Aeneas gegen Turnus kämpfte, zur Zeit Friedrich Barbarossas entdeckt und geöffnet. Eine Lampe, die seit der Beerdigung des Pallas’ vor über 2000 Jahren dank eines speziellen Dochtes brannte, erlischt gerade in diesem Augenblick, der Docht glüht jedoch noch. Dieses Feuer symbolisiert die direkte Verbindung zwischen der Antike und dem Mittelalter, zwischen dem Römischen Reich und der Stauferherrschaft. Die Fortführung des Wissens Ähnlich wie die ,translatio imperii’ funktioniert das Konzept der ,translatio studii’, d.h. der Weitergabe des Wissens: Eine Quelle aus der Antike hatte, im Gegensatz zu etwas neu Erfundenem, autoritären Charakter. Trotzdem wurden im Mittelalter die Motive der Antike nicht unverändert übernommen; die Kunst bestand darin, das schon vorhandene Material neu und überraschend zu kombinieren. Die Antike wird sozusagen „verdaut” – nach Paul Valéry: „Rien de plus original, rien de plus soi que de se nourrir des autres. Mais il faut les digérer. Le lion est fait de mouton assimilé.” (Oeuvres II: 478). Die Motive der Antike erscheinen im Mittelalter in einer neuen, christianisierten Form. Dies wurde am Referat von Daniel Dossenbach über die „Antikenrezeption in der Klostermedizin” deutlich: Die Klostermedizin im Mittelalter bezog ihr Wissen u.a. von Hippokrates, Galen, Dioskurides und Caelius Aurelius, welche Cassiodor in seinen Institutiones divinarum et saecularum litterarum seinen Mönchen im Sinne einer umfassenden Bildung zur Lektüre empfahl; ferner wurde auch die Historia naturalis Plinius’ des Älteren rezipiert. Übernommen wurde insbesondere die Humoralpathologie (Viersäftelehre), die auf Empedokles und Aristoteles zurückgeht und die Galen vollständig zusammengetragen hat. Gemäss dieser Lehre entstehen Krankheiten durch eine Dyskrasie, d.h. eine Störung im Gleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Im Mittelalter kamen zum antiken Gedankengut christliche Anschauungen hinzu: Eine Krankheit konnte als Prüfung oder Strafe Gottes für sündiges Verhalten aufgefasst werden. Der einzige Arzt, der vollständige Heilung garantieren konnte war Jesus, der Lazarus sogar vom Tode zu heilen vermochte (Joh.11). So verwundert es nicht, wenn eigentlich heidnische Heilzauber mit einer christlichen Färbung versehen wurden, wie es bei folgendem Wurmsegen der Fall ist:  Pro Nessia. Gang uz, Nesso, mit niun nessinchilinon, uz fonna marge in deo adra, vonna den adrun in daz leisk, fonna demu leiske in daz fel, fonna demo velle in diz tulli. Ter pater noster (Althochdeutsches Lesebuch. Braune/ Ebbinghaus 1994: 90) Gegen Würmer. Fahr aus, Wurm, mit neun Würmchen, heraus aus dem Mark in die Adern, aus den Adern in das Fleisch, aus dem Fleische in die Haut, von der Haut in diese Pfeilspitze/Tülle. Drei Vater Unser. Die Krankheit wird exorziert, und die dreimalige Wiederholung des Gebetes am Schluss soll Gottes Schutz garantieren. Der Begriff „Nesso” lässt sich möglicherweise auf lat. „nescio” („ich weiss nicht”) zurückführen, was nach Dossenbach die allgemeine Unsicherheit in der Bestimmung innerer Krankheiten und mit deren Umgang relektiert. Der Wurm galt gerade bei inneren Krankheiten gemeinhin als häuigste Krankheitsursache, weshalb man sich hinter dem Begriff Nesso durchaus einen Wurm vorstellen könnte. Deutlich wird hier die Notwendigkeit, das Übel bei seinem Namen zu nennen, um Kontrolle darüber zu erhalten – eine Vorstellung, die seit der Antike im Christentum wie im Judentum tief verwurzelt ist. Diese bildet letztlich auch den Kern des Märchens vom „Rumpelstilzchen” der Gebrüder Grimm. Dass man das Übel über dessen Namen nicht nur beherrschen, sondern auch herbeirufen kann, spiegelt sich beispielsweise auch in der Etymologie des Wortes „Bär” wider: Die ursprüngliche Bezeichnung für dieses Tier ist im Germanischen verloren gegangen; durch die Umschreibung „der Braune” (aus der Wurzel ie. *bher-) versuchte man ein mögliches Herbeirufen zu umgehen. Durch die treue und unrelektierte Übernahme antiker Vorlagen sind so auch viele magische Heilpraktiken in die Klostermedizin gelossen, die dann christlich umgeformt – „verdaut” – wurden. Von der Spinne zur Biene Auch im Eneasroman Heinrichs von Veldeke wurden antike Motive aufgenommen. Eines davon ist der Mythos von Arachne, die sich mit der Göttin Pallas Athene im Weben messen will und als Strafe für ihren Hochmut schliesslich in eine Spinne verwandelt wird. Nach Marie-Sophie Masse kann diese Geschichte als Metapher für eine Dichterigur verstanden werden; der Zusammenhang von „Text” und „Textilie”, also von Dichter und Weber, ist geläuig. Wenn bei Heinrich von Veldeke sowie bei seiner antiken Vorlage Ovid nun die Schülerin Arachne sich gegen die Ältere, Pallas Athene, auflehnt, kann das als Gleichnis für einen Dichter, der die Kunst der Vorgänger nicht respektiert, verstanden werden.  Masse führte dazu einen Auszug aus The Battle of the Books von Jonathan Swift an, in dem es heisst, dass die Einstellung und Arbeitsweise der Biene viel ehrenwerter als die der Spinne sei. Jene sammelt nämlich leissig bereits vorhandenes Material ein und macht daraus etwas Eigenes, analog zum selektiven Prozess der literarischen Arbeit im Mittelalter, die aus Aneignung und Verarbeitung besteht. Bei dieser Arbeit entstehen gemäss Swift Honig und Wachs, also Süssigkeit und Licht, was schöner und nützlicher ist, als Spinnweben. Dieses Plädoyer für die Arbeitsweise der Biene führt uns wieder zurück zum Anfang dieses Textes und zu Valérys Zitat: „Le lion est fait de mouton assimilé.” ◊ Dossenbach, Daniel 2008: Mit Heilzaubern und Gottes Segen. Zur Verwendung der Magie in der mittelalterlichen Klostermedizin Merton, Robert K. 2004: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. 2. Aul. Thomas, Heinz 1997: Art. ‚Translatio Imperii’. In: Lexikon des Mittelalters VIII, Sp. 944-946 Valéry, Paul 1960: Oeuvres II (Bibilothèque de la Pléiade) Tamara Hügli studiert an der Universität Bern Germanistik und Klassische Philologie im 9. Semester. Der vorliegende Text basiert auf einem Essay, den sie anlässlich der BMZ-Ringvorlesung „Antike im Mittelalter” im HS 09 geschrieben hat. expositionen  Ein Tempel ist wie eine Waschmaschine Die religiöse Organisation der indischen Hindus in der Schweiz Ursina Wälchli H eute leben in der Schweiz zwei verschiedene Gruppen hinduistischen Glaubens: Hindus aus Indien und Hindus aus Sri Lanka (Tamilen). Obwohl sich in den Heimatländern die religiöse Aktivität beider Gruppen kaum unterscheidet, besteht in der Schweizer Diaspora ein auffälliger Unterschied: Während die Tamilen aus Sri Lanka schon knapp 20 Tempel errichtet haben, gibt es keinen einzigen religiösen Bau indischer Hindus. Kein indischer Hindutempel Hindus sind keine augenfällige Minderheit – insgesamt leben rund 51`000 Personen in der Schweiz – und wenn sie einmal ins Gesichtsfeld rücken sind es zumeist die tamilischen Hindus aus Sri Lanka. Knapp ein Fünftel der Schweizer Hindus stammt aber aus Indien, vor allem aus den Bundesstaaten Bengalen, Gujarat und Maharashtra. Viele Inderinnen und Inder sind auch aus Kerala oder dem Punjab in die Schweiz gekommen, diese gehören aber meist einer christlichen Kirche oder der Sikh Gemeinschaft an. Bei rund 10`000 Gläubigen überrascht es, dass es in der Schweiz keinen einzigen Tempel gibt, der von und für indische Hindus betrieben wird. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass in Indien der Tempel und die gemeinsame religiöse Praxis, zumindest an Feiertagen, auch in eher säkular geprägten Familien eine sehr zentrale Rolle spielen. «Bei rund 10’000 Gläubigen überrascht es, dass es in der Schweiz keinen einzigen Tempel gibt, der von und für indische Hindus betrieben wird.» Zudem lehren die Diasporatheorien, dass die Religionsausübung im Exil normalerweise eher zunehmen sollte; dies weil Religion ein wichtiger Faktor der Identitätsbildung darstellt und dazu dient, eine Gruppenidentität der Migranten im fremden Land zu fördern. Sie verhilft überdies zur Bewahrung der eigenen Tradition. Religiöse Zentren in der Diaspora sind auch deswegen wichtig, weil sie in der Fremde oft zusätzliche Funktionen übernehmen. Neben ihrer religiösen Funktion bilden sie auch einen Ort des kulturellen und sozialen Austauschs und der Erziehung der Kinder. Durch einen Tempel wird die Religion der zugewanderten Gemeinschaft erst sichtbar. So wird ein Tempel als eine Selbstrepräsentation gegen innen und eine Reprä- sentation der gesamten Hindu-Gemeinschaft gegen aussen wahrgenommen. Diesen Tatsachen entspringt die Frage, aus welchen Gründen in der Schweiz kein eigener Tempel der indischen Hindu-Gemeinschaft existiert – und scheinbar auch nicht angestrebt wird. In 10 Interviews mit unterschiedlich lange in der Schweiz wohnhaften Indern konnten einige zentrale Antworten gefunden werden. Inderinnen und Inder in der Schweiz – Eine kurze Migrationsgeschichte Die Geschichte der Migration von Inderinnen und Indern in die Schweiz beginnt ab den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Damals kamen die ersten Inder als Angestellte diverser diplomatischer Organisationen mit Sitz in Genf in die Schweiz. Zugleich begannen indische Studenten an der ETH Zürich zu studieren. Diese studentischen Aufenthalte beschränkten sich meist auf wenige Monate oder Jahre, intensivierten sich aber laufend und setzen sich bis heute fort. Einige dieser Austauschstudenten heirateten Schweizerinnen und gründeten hier eine Familie. Ab den 1950er Jahren begannen Firmen wie BBC (heute ABB) oder Sulzer, für Bereiche, in welchen in der Schweiz Mangel an qualiizierten Arbeitskräften herrschte, indische Fachkräfte anzuwerben. Diese gut ausgebildeten und oft der Mittel- und Oberschicht entstammenden Inderinnen und Inder liessen sich häuig deinitiv in der Schweiz nieder und stehen heute kurz vor oder bereits im Pensionsalter. Seit den 1970er Jahren sind indische Betriebswirte, seit den 1990ern auch Finanz- und IT-Spezialistinnen und Spezialisten in der Schweiz gefragt. Diese verfügen aber meistens nur über temporäre Arbeitsverträge und bleiben eher kurzzeitig. Kurzum, die Migration in die Schweiz ist zumeist ein individuelles Unterfangen. Als Pull-Faktoren wirken die Möglichkeit einer besseren Ausbildung oder eines Arbeitsverhältnisses. Dabei sind es oft Einladungen von Unter-  nehmen oder Studieneinrichtungen, die die Immigration erst ermöglichen. Bis Heute bleibt die Schweiz für Inderinnen und Inder attraktiv, da sie Sitz diverser internationaler Organisationen ist und die englische Sprache als sehr gut etabliert gilt. Zudem bemühen sich die Schweizer Hochschulen immer intensiver um internationale Studierende. So halten sich heute an den ETHs Zürich und Lausanne je über 250 indische Studierende und Promovierende auf. In Zürich stellten Zuwandernde aus Indien im Jahre 2007 mit über 1400 Personen die zweitgrösste Gruppe von zuziehenden Ausländerinnen und Ausländern dar. Diese ,modernen Nomaden’ entsprechen dabei allerdings nicht mehr dem typischen indischen Migrantenbild: Sie kommen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten und haben, laut einer Studie, oft wenig Interesse daran, sich zu integrieren, da sie durchschnittlich nicht länger als zehn Monate in der Schweiz bleiben. Indische Organisationen in der Schweiz Die Gründe für die individuelle Migration aus Südasien inden sich vor allem in der generell besseren Verdienstmöglichkeit, im höheren Lebensstandard, der Möglichkeit zur individuellen Entfaltung und der politischen Stabilität und Sicherheit in den Industrieländern. Im Gegensatz zu den in Gruppen in ein Land eingewanderten Migrierenden sind die individuell Eingewanderten im Wesentlichen in die Schweizer Gesellschaft eingebunden. Dennoch gibt es in der Schweiz achtzehn von Inderinnen und Indern geführte Organisationen, deren Anlässe hauptsächlich von Inderinnen und Indern frequentiert werden. Neben überregionalen Gruppen, die sich im Jahre 2005 zur Dachorganisation Indian Association Switzerland zusammengeschlossen haben, gibt es auch speziisch auf eine Region oder Thematik ausgerichtete Verbände sowie schweizerische Ableger internationaler Organisationen. Die meisten Gruppen treffen sich nur wenige Male im Jahr, zu besonderen Anlässen oder Festlichkeiten, die selbst organisiert werden. Es handelt sich dabei meist um indische religiös-kulturelle Feste, die gemeinsam gefeiert werden. An diesen Anlässen kommt die Diaspora zusammen, man trifft weit entfernt wohnende Bekannte wieder und plegt die Sprache der Heimat. Alle Organisationen verstehen sich als politisch sowie religiös neutral und verfolgen auch gemeinnützige Ziele. Religion versus Region Dennoch gibt es in der Schweiz keinen Tempel der indischen Hindus. Wieso nicht? In Interviews mit zehn Schweiz-Indern wurden mögliche Antworten gefunden. Bei allen länger hier lebenden Befragten fand unmittelbar nach der Migration eine bewusste Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, Tradition und somit auch Religion statt. So veränderte sich die Wahrnehmung des eigenen indischen Hintergrundes und führte zu einem gesteigerten Interesse an Indien und dessen Geschichte. In der neuen Minderheitssituation wurden auch die Hindu-Elemente im Leben stärker wahrgenommen. Dies hatte aber nicht unbedingt eine Verstärkung der religiösen Identität zur Folge. Es verstärkte sich eher das Bewusstsein, Hindu zu sein, und weniger die religiöse Praxis. Die gemein- same Religion hat aber keine Bedeutung für eine gemeinsame Gruppenidentität. Vielmehr besitzt Religion eine persönliche Bedeutung für die einzelnen Inderinnen und Inder. Viele gehen auch nicht aus religiösen Gründen in einen Tempel, sondern um in eine südasiatische Atmosphäre einzutauchen oder um soziale Kontakte zu anderen Menschen aus Südasien zu knüpfen. Allgemein wird von den Migrierenden Identität selten mit Religion in Verbindung gebracht. Die Kategorie Hindu wird durchaus identitätsbildend verstanden, sie wird aber nicht als religiös wahrgenommen. Vielmehr wird sie als die von den Eltern weitergegebene, regionale Tradition verstanden. Die Hindu-Identität ist also weniger national sondern vielmehr regional verankert. Eine gemeinsame Identität mit anderen Indern wird im Prinzip denn auch gar nicht gesucht. Als kulturelle Treffpunkte dienen nicht religiöse Zentren, sondern die streng säkularen indischen Vereine beziehungsweise die regionalen Gruppen, wo aus westlicher Sicht religiös konnotierte Festlichkeiten als Tradition – und in diesem Sinne säkular – begangen werden. Tamilische Solidarität Im Gegensatz zur indischen Hindu-Gemeinschaft fusst die Massenimmigration der Tamilinnen und Tamilen in die Schweiz in einem Bürgerkrieg. Zwar kamen auch aus Sri Lanka zuerst nur die einzelnen Männer, diese zogen aber ihre Familien nach, sobald genug Geld vorhanden war. Von Anfang an bestand zudem eine grosse Gruppensolidarität und gemeinsame Identiikation durch die stark operationalisierte Ethnizität. Da auch die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr lange Bestand hatte, wurde die tamilische Sprache aufrecht erhalten und das religiöse Leben möglichst unverfälscht weiter praktiziert. Aus diesem Grund wurden und werden Tempel konstruiert und auch rege genutzt. Mehr als ein Glaube Da die Inderinnen und Inder im Gegenteil keine homogene Gruppe bilden, wird eine gemeinsame Repräsentation gegen aussen auch nicht gesucht. Eine grosse Anzahl der befragten Inder lebt zudem in religiös gemischten Familien. Dort wird versucht, den Kindern grundlegende Werte mitzugeben, auf deren Basis sie sich später selbst für eine Religion entscheiden sollen. Für eine solche Erziehung ist ein Tempel als Vermittlungsort der Religion nicht unbedingt notwendig. Viele der alteingesessenen indischen Migrierenden verzichten auf eine bewusste Weitergabe der praktisch-rituellen indischen Tradition an ihre Kinder. So meinte einer der Befragten, ein Tempel sei wie eine Waschmaschine, da es egal sei, welcher Marke die Maschine angehöre (also welche Gottheit im Tempel verehrt wird) - es komme nur auf die Reinigungskraft an und die sei überall gleich. Das erklärt auch, weshalb InderInnen bisweilen auch Kirchen besuchen, obwohl sie nicht christlichen Glaubens sind. Somit fehlt ein wichtiger Grund für den Tempelbau. Allerdings beindet sich die indische Diaspora der Schweiz in einem Umbruch. Der neue Trend zum temporären Aufenthalt in der Schweiz hat eine andere Form der Migration expositionen  und somit andere Voraussetzungen für den Umgang mit Religion zur Folge. Die neue Generation von immigrierenden Inderinnen und Indern scheint viel mehr Wert auf eine öffentlich sichtbare, religiöse Praxis zu legen. Frauen und Kinder werden heute auch für eine Aufenthaltsdauer von wenigen Jahren vermehrt nachgezogen und das Bedürfnis nach Weitergabe von Kultur und Religion an eine zweite Generation wächst. So entstanden seit den 1990er Jahren mehrere regional geprägte Gruppierungen, die regelmässig religiöse Feste wie Durga Puja und Ganesh Chaturthi feiern. (Noch?) Keine Nachfrage Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hauptgründe für die Etablierung eines eigenen indischen Hindu Tempels in der Schweiz bis heute fehlen. Obwohl eine vermehrte Auseinandersetzung mit Indien stattindet, existiert keine gemeinsame Identität der ansässigen Inderinnen und Inder, deren Repräsentation gegen aussen oder innen erwünscht ist und die eine bestimmte regionale oder konfessionelle Ausrichtung des Tempels rechtfertigen könnte. Zudem fehlt eine zweite Generation weitgehend und das Bedürfnis des sozialen Austausches wird in den säkularen Organisationen oder allenfalls in den vorhandenen srilankischen HinduTempeln gedeckt. Diese Situation lässt sich vor allem auf die individuelle Form der Migration zurückführen, die eine räumliche Zerstreuung und eine erhöhte Zahl an religiös gemischten Familien zur Folge hatte. So gibt es bis heute kein Bedürfnis nach einem eigenen indischen Hindu-Tempel. Da sich die Schweizer Diaspora indischer Hindus gerade jetzt in einem Wandel beindet, wäre eine Beobachtung der weiteren Entwicklung in Bezug auf die Etablierung religiöser Zentren sehr spannend. Wird in den nächsten zehn Jahren ein indischer Hindu-Tempel entstehen? Wird zugewartet bis eine regionale Gruppe die Grösse erreicht, um einen eigenen Tempel zu bauen oder können Kompromisse gefunden werden? Wie würde ein solcher Kompromiss aussehen und hätte ein solcher Tempel längerfristig Bestand? ◊ Amirtham, Arun 2008: Sixty Years of Indians in Switzerland. In: Imhasly, Bernhard (Hg.): Friendship in Diversity. Sixty Years of Indo-Swiss Relations. 104-108 Baumann, Martin/Stolz, Jörg (Hg.) 2007: Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens Jacobsen, Knut A./Kumar, P. Pratap (Hg.) 2004: South Asians in the Diaspora. Histories and Religious Traditions Ursina Wälchli hat 2009 ihr Studium der Religionswissenschaft an der Universität Bern beendet. Dieser Text basiert auf ihrer Masterarbeit. 0 Von „Grillen-” und „Bremsenreitern” Erstaunliche Parallelen zwischen Adalbert Stifters Waldsteig und Christoph Martin Wielands Don Sylvio Stefan Schröter E ine Verbindung zwischen Stifters humoristischer Erzählung ,Der Waldsteig’ und Wielands Roman ,Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva’ herzustellen, ist nicht gerade zwingend. Doch stellt man Stifters Hauptigur Tiburius Kneigt Wielands Don Sylvio gegenüber und unterzieht die beiden Protagonisten einem systematischen Vergleich, ergeben sich zwischen dem neurotischen Hypochonder und dem von Feenmärchen besessenen Schwärmer erstaunliche Übereinstimmungen. Diese bilden den Ausgangspunkt des umfassenderen Vorhabens, Stifters Erzählung sowohl literaturhistorisch als auch im anthropologischen Diskurs zu verorten. Tiburius Kneigt Der Protagonist von Adalbert Stifters erstmals 1844 erschienener Erzählung Der Waldsteig hat einen merkwürdigen Namen: Tiburius Kneigt. Der Familienname lässt englische Namen anklingen – und Engländer waren die prototypischen Reisenden der Zeit. Ein verbreiteter Stich bildet paradigmatisch den spleensüchtigen Engländer als Besucher von Badeorten ab – auch Tiburius fährt ins Bad zur Kur – was vor dem Hintergrund der humoristischen Elemente der Erzählung eine Deutung des Namens zulässt. Damit muss man sich aber noch nicht zufrieden geben: Der Name Kneigt erinnert an den englischen Begriff „Knight”, der, übersetzt man diesen wörtliche als „Ritter”, eine neue Verständnismöglichkeit des Namens anbietet. Bei einem ersten lüchtigen Blick auf die Handlung stellt sich dies nicht als vollkommen abwegig heraus: Tiburius fährt in die „Fremde”, (Stifter: 1033) wo er ein „Abenteuer” (Stifter: 1053) besteht und aus der er mit einer Frau zurückkehrt. Zudem wird er als „Grillenreiter” (Stifter 1082) bezeichnet, was zwar ebenfalls als humoristische Komponente gelesen werden kann, jedoch alles andere als von der Idee ablenkt, Tiburius tatsächlich als einen Ritter zu betrachten. Genau diese Assoziation bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung, die über Erec und Parzival zu Don Quijote und schliesslich zu Don Sylvio von Rosalva führt. Christoph Martin Wielands Roman Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva / Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht ist erstmals 1764 unter diesem Titel erschienen und gilt als eine produktive Rezeption von Cervantes Don Quijote. Stellt man nun Tiburius aus Stifters Waldsteig Wielands Don Sylvio gegenüber, ergeben sich etliche – zum Teil frappante – Übereinstimmungen. Medizinische und narratologische Fallgeschichten Die Entwicklungen der beiden Protagonisten werden als eine Krankheitsgeschichte erzählt, die sowohl die Struktur als auch den Inhalt der Texte bestimmt. Damit einher gehen die mitgeteilten Wirkungsabsichten, die sehr genau miteinander übereinstimmen. Der bei Stifter ausserhalb des Geschehens stehende Ich-Erzähler teilt die Geschichte eines Freundes mit, „zum Nuzen und zum Frommen aller derer […] die große Narren sind; vielleicht schöpfen sie einen ähnlichen Vortheil daraus, wie er [Tiburius]” und „damit ich [der Erzähler] manchem verwirrten Menschen nüzlich bin, und daß man eine Anwendung daraus ziehe” (Stifter: 1014). Im Nachbericht von Wielands Roman zieht der Erzähler, in dessen Figur sich der Herausgeber und der Autor der Geschichte überlagern, den Text sogar als Therapiemittel in Erwägung. Es wäre viel getan, wenn „die Medici in hypochondrischen und Milz-Krankheiten, in allen Arten von Vapeurs, und hysterischen Zufällen, und so gar im Podagra, ihren Patienten künftig den Don Sylvio statt einer Tisanne einzunehmen verschreiben würden” (Wieland: 12f.). Wieland geht es in seinem Werk vor allem um die therapeutische Wirkung von Komik und Ironie; eine Absicht, die sich auch in Stifters Erzählung abzeichnet. Deren Humor und didaktisch-pädagogische Funktion ist mehrfach hervorgehoben und beschrieben worden. Strukturell zeigt sich bei Stifter eine Krankheitsgeschichte indem seine Erzählung durch auktoriale Erzählerkommentare in drei Teile gegliedert ist, die Ursachen, Krankheitsbild und Heilung der Hauptigur darstellen. Wielands Roman enthält zwei Teile, wovon der erste die Beschreibung von Don Sylvios Krankheit in ihrer Genese und ihrer Symptomatik enthält, und der zweite die Heilung der Hauptigur erzählt. Auch inhaltlich sind die Übereinstimmungen bezüglich dem, was über die Kindheit und Jugend der Protagonisten zu erfahren ist und den damit in einer kausalen Relation stehenden Krankheitsbildern, erstaunlich. Sowohl Tiburius als auch Don Sylvio werden während ihrer Erziehung von einer weiblichen Bezugsperson überbehütet, ihre Bildung beschränkt sich ausschliesslich auf das Erlernen der Wissenschaften und schon als Kinder sind die beiden phantasiereich und gefühlvoll. Wie Tiburius’ sind auch Don Syl- expositionen vios Kindertage geprägt von Müssiggang und Einsamkeit. Bei den sich später zeigenden Krankheitsbildern stehen jeweils eine Fixierung der Perzeption auf einen Gegenstand und eine damit einhergehende Wahrnehmungsstörung im Zentrum. Dies erscheint bei Tiburius als eine ausschliessliche Fixierung auf das eigene Selbst. Im Zuge seiner zwanghaften Ausschliessung vor der Aussenwelt und seinem Rückzug ins Innere entwickelt er Halluzinationen und einen Verfolgungswahn. Don Sylvio ixiert seine Wahrnehmung zwar nicht ausschliesslich auf sein eigenes Selbst, dafür umso mehr auf die Feen-Märchen – er ist geradezu besessen von ihnen. Aufgrund deren übermässigen Lektüre überblendet er schliesslich die Realität mit der erlesenen Wirklichkeit. Objektiv nicht Wirkliches wird in seiner subjektiven Welt wirklich. Heilende Natur Die Heilung kann für beide Hauptiguren als eine sich verändernde Wahrnehmung der objektiven Welt beschrieben werden. Die Natur erscheint dabei in ihren verschiedenen Dimensionen sowohl bei Stifter als auch bei Wieland als Heilmittel. Auf einer praktischen Ebene führt sie durch ihr objektives Dasein und ihre natürlich-emotionale Kraft, auf einer theoretischen als eine natürlich-rationale Denkweise zur Genesung, sodass beide Protagonisten die Aussenwelt mehr und mehr wieder als das wahrnehmen, was sie tatsächlich ist. In Stifters Waldsteig zieht schon ein einfaches Naturerlebnis seine heilsame Wirkung nach sich. In ihrem objektiven Dasein macht die Natur Tiburius wieder empfänglich für Sinnesreize aus der Aussenwelt, sodass seine Sinne sich fortan nicht mehr ausschliesslich auf sein Selbst richten. In ihrer physischen Objektivität lässt die Natur ihn Schmerz erfahren, was zur Folge hat, dass er sich selber nicht mehr als krank wahrnimmt und ihm die bis anhin fremde Aussenwelt nicht mehr als fremd vorkommt. Eine physische und schmerzhafte Konfrontation mit der realen Aussenwelt führt auch bei Don Sylvio eine bedeutsame Veränderung herbei; sie lässt Don Sylvio ein erstes Mal an der Wahrhaftigkeit seiner Illusionen zweifeln. Eigentliches Schlüsselerlebnis in seiner Genesung ist aber dann seine Begegnung mit Donna Felicia. Durch sie wird die heilsame natürlich-emotionale Kraft der Natur wirksam, sodass in der Empindung für diese Frau erstmals wieder das Eingebildete mit der Realität zusammenfällt. Eine Frauenigur verändert auch Tiburius’ Wahrnehmung der Aussenwelt. Das Erdbeermädchen Maria lehrt ihn die Dinge der Aussenwelt bzw. der Natur genau zu betrachten, und als das zu erkennen, was sie tatsächlich sind. Während bei Stifter die konkrete Erfahrung der physischen Natur für eine Genesung genügt, bedarf es bei Wieland noch einer theoretischen Erkenntnis der Natur, die gemäss der Aufklärung, der sich Wieland verplichtet hat, stark gewichtet wird. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass Don Sylvio erst durch die theoretische Erkenntnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit über die Vorführung von erfundenen Geschichten und angelegten Gärten nachhaltig kuriert wird. Auch bei seiner Erfahrung der Liebe sind es letztendlich die  Naturgesetze, mit denen der Sieg der Empindung über die Schwärmerei erlangt wird. Die Frage stellt sich nun, wie diese teilweise erstaunlich genauen Übereinstimmungen zweier Hauptiguren zu interpretieren sind, die hier über eine mehrgliedrige Assoziationskette miteinander in Verbindung gebracht worden sind. Der vorliegende Artikel legt denn auch den Grundstein zu einer umfassenderen Untersuchung, die Stifters Erzählung sowohl literaturhistorisch als auch im anthropologischen Diskurs verorten und der Frage nachgehen wird, ob es Beschreibungsmuster von Krankheitsverläufen gibt, die für andere als nur für die hier beschriebenen „Grillen-” und „Bremsenreiter” (Wieland: 206) gelten. ◊ Stifter, Adalbert 2007: Der Waldsteig. In: Studien. Hg. von Ulrich Dittmann. 1014-1082 Wieland, Christoph Martin 2001: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Hg. von Sven-Aage Jørgensen Stefan Schröter studiert an der Universität Bern Germanistik und Philosophie im 9. Semester. Der vorliegende Text basiert auf einer Seminararbeit.  Mehr Gewalt? Mehr Aufmerksamkeit! Eine soziologische Untersuchung im gesellschaftlichen Subsystem Fussball Thilo Mangold G ehört Gewalt zum Fussball? Den Zusammenhang zwischen sportivem Gesellschaftsbereich und sozialer Randerscheinung erklärt eine kulturwissenschaftliche Lizentiatsarbeit. Eine Serie qualitativer Interviews ergab 2007: Wo politisch und medial oft polemisch eine Relation negiert wird, ist, sozio-historisch betrachtet, ein Einhergehen offensichtlich. Gewalt und Fussball sind verknüpfte Teile eines dynamischen Kultursystems. Probanden aus verschiedenen Teilbereichen des Gesellschafts-Subsystems Fussball deinierten die vielschichtigen Begriffe „Fussball” und „Gewalt” und stellten über persönliche Erlebnisse Verknüpfungen zwischen den beiden Bereichen her. Die themenzentrierten Leitfadeninterviews wurden in einem ersten Auswertungsschritt mittels qualitativer Inhaltsanalyse mit bestehenden Erklärungsansätzen zur Fussballgewalt verglichen. Dabei wurde die konstruktivistische These, die Fussball-Gewalt als eine von Fanszenegängern, Medien und Politik ‚geplegte’ Tradition sieht, neu eingeführt und ebenfalls anhand der Interviews geprüft. Fazit: Keine der geprüften Theorien ist über alle Zweifel erhaben. Fussball-Gewalt lässt sich nicht monotheoretisch erklären, die Wirklichkeit ist zu komplex. Es gibt keinen Regelfall für Fussball-Gewalt, an dem man die Theorien vergleichen könnte. Selbst der situative Erklärungsansatz versagt bei der Suche nach tiefer liegenden Ursachen von (Fussball-) Gewalt. Keiner Theorie kann aber gleichzeitig die Erklärungsfähigkeit gänzlich abgesprochen werden. Selbst dem als veraltet geltenden schichttheoretischen Erklärungsansatz können Probanden-Aussagen zugeordnet werden. Widersprüchliche Wahrnehmungen Mittels Codierleitfaden wurden die Gespräche im zweiten Auswertungsschritt direkt miteinander verglichen. Gegensätzliche Aussagen der Interviewten über den Themenkomplex Fussball-Gewalt halten sich mit übereinstimmenden Äusserungen in etwa die Waage. Die verschiedenen Sichtweisen, welche die Probanden auf Grund ihrer Position im Gesellschaftssystem Fussball einnehmen, wurden dabei deutlich. Eine grosse Diskrepanz zwischen den Äusserungen der Probanden ist in der grundsätzlichen Herangehensweise an die Gewalt-Thematik auszumachen. Der Fan-Sozialarbeiter und der Stadion-Sicherheitsverantwortliche – beide haben in ihrem Arbeitsalltag mit unter Umständen gewaltbereiten Personen Kontakt – machen manifeste Gewalt nicht als Problem an sich aus. „Ich erkenne keine erhöhte Gewaltbereitschaft oder mehr Gewalt, im Ge- genteil”, sagt der Sozialarbeiter. „Entsprechend etwas unternehmen, das musste ich noch nie”, gibt der Sicherheitschef zu Protokoll. Genau umgekehrt will der Journalist die Sachlage beobachtet haben: „Also es hat ja in den letzten Jahren eine Zunahme auch gegeben von diesen ganzen Fällen. Ich meine die ganze Gesellschaft ist einfach aggressiver geworden. […] Der ganze Hooliganismus ist ein kleines Krebsgeschwür der Menschheit, oder.” Der Sportjournalist und der Proispieler werten Gewalt fast diabolisierend und deinieren diese als gesamtgesellschaftliches Problem. Ökonomisierung macht Fussballgewalt zum Problem Gewalt als Teil der Gesellschaft zu anerkennen scheint aus lösungsorientierter Perspektive entscheidend. Die psychologischen Aggressionstheorien sehen das Gewaltpotential als Teil des Individuums. Aus soziologischer Sicht ist die vernetzte Denkweise unter Berücksichtigung der Komplexität der Wirklichkeit der konstruktive Ansatz. Gewalt repressiv aus der Gesellschaft verbannen zu versuchen, die Tabuisierung von Gewalt und pauschale Kriminalisierung von Gewalttätern lösen keine Probleme. Das Prinzip reaktionärer Gegengewalt ist kein adäquater Lösungsansatz. Aggressionen, denen kein Platz eingeräumt wird, tauchen in informeller Form an marginalen Orten der modernen Gesellschaft wieder auf. Fussball-Gewalt ist ein Beispiel dafür. Am Rande der repräsentativen Gesellschaft geschieht Gewalt, das schockiert und befremdet die medial beeinlusste Öffentlichkeit. Hätte der Fussball nicht eine exponentielle Ökonomisierung erfahren und hätte er somit nicht diese grosse Beachtung erlangt, die er heute aus diversen Gesellschaftsschichten und -systemen erfährt, würde womöglich auch Gewalt, die in seinem Umfeld geschieht, weniger wahrgenommen. Auch für die Probanden der Untersuchung hat der Fussball einen hohen Stellenwert, sie mögen ihn in seinem Facettenreichtum. Gewalt steht bei keinem im Zentrum seiner Fussball-Leidenschaft. ◊ expositionen  Imbusch, Peter 2005: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektive auf das 20. Jahrhundert Mäder, Ueli u.a. (Hg.) 2005: Gewalt. Ursachen, Formen, Prävention. Mayring, Philipp 2007: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken Lamnek, Siegfried 1995: Qualitative Sozialforschung. Band 2: Methoden und Techniken Thilo Mangold hat an der Uni Basel Soziologie, Medienwissenschaften und Pädagogik studiert. Er mag Härdopfelstock, kühles Bier und den FC Basel. Der Text basiert auf seiner Lizentiatsarbeit.  zu letzt expositionen  Michael Hauri ist freischaffender Fotograf aus Hannover. Er arbeitet u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung. Ausgezeichnet mit dem Canon Proifoto Förderpreis, dem Prix Mark Grosset u.a. wiederspiegeln die dokumentarischen Arbeiten des 26jährigen die Auswirkungen globaler Prozesse auf lokaler Ebene. Das Bild entstammt einer Studie, in der die Gradualität der Modernisierung in der Mongolei beleuchtet wird. www.michaelhauri.com Anzeigen Neues Masterprogramm am Center for Global Studies: Religionskulturen – Historizität und kulturelle Normativität Plagt dich globales Unbehagen? Wir sind der Ort für deine Fragen Ist Religion wohl die Antwort, ja oder nein? Könnt‘ Thema ‘ner schriftlichen Arbeit sein Global Studies („wir haben‘s erfunden!“) Ob‘s sich lohnt, musst SELBST du erkunden... Seit dem HS 2009 bietet das Center for Global Studies an der Phil.-hist. Fakultät das interdisziplinäre Masterstudienprogramm „Religionskulturen: Historizität und kulturelle Normativität“ an, in dem Themen und Fragestellungen zu globalen Religionskulturen, ihre Auswirkungen auf lokale religiöse Strukturen und deren sozio-kulturelle Netzwerke behandelt werden. Für Fragen, ein Gespräch zur Entscheidungsfindung oder eine Studienberatung könnt ihr euch jederzeit bei Prof. Jens Schlieter oder lic.phil. Sarah Werren melden (sarah.werren@relwi.unibe.ch). Oder ihr schaut euch auf unserer Website um: www.cgs.unibe.ch. einige bücher soll man schmecken, andere verschlucken und einige wenige kauen und verdauen. Francis Bacon BUCHHANDLUNG UNITOBLER 031 631 36 11
Sommer 2011 Ausgabe 3 uni raf kontrolliert autopoiesis findling arno väter akzent fremd nordkorea kleist expositionen 1 Impressum redaktion hannes mangold, fermin suter, johannes willi herausgeber fachschaft germanistik uni bern druck kzub aulage hundertfünfzig preis drei franken gestaltung johannes willi, manuel perriard bild umschlag malte wandel beitragende nadine amsler, patrick gämperle, manuela heiniger, marie-josé kolly, hannes mangold, joanna nowotny, manuel perriard, philippe saner, fermin suter, johannes willi, elias zimmermann kontakt/inserate/beiträge expositionen@gmail.com berücksichtige unsere inserenten www.bugeno-unibe.ch www.csls.unibe.ch links der ausgabe www.maltewandel.ch www.dieperspektive.ch www.expositionen.ch © expositionen zweitausendelf 2 Inhaltsverzeichnis Die Geburt der Universität. Die Universität im Übergang von einer rechtlichen Verwaltungssteuerung zu einem globalen Kennziffernregime Philippe Saner Seit den 1970er Jahren werden auch staatliche Institutionen wie die Universität vermehrt nach Kosten- und Efizienzaspekten beurteilt und schliesslich in den 90ern den Losungen des New Public Management unterworfen. Am Beispiel der Universität Bern zeigt der vorliegende Beitrag auf, wie diese Neuordnung sich vollzog. Seite 5 Berner Bibliotheksterror. Ein beinahe ofizielles RAF-Zitat in der Basisbibliothek Unitobler Hannes Mangold Bisher ist nicht aufgefallen, dass in der Basisbiliothek Unitobler in Bern ganz ofiziell ein – so nicht markiertes – Zitat aus einem Pamphlet der RAF die Besucher anregen soll. Der breiten architektonischen Würdigung, die der Unitobler-Bau erfahren hat, wird hier eine germanistische Kritik entgegengesetzt, indem der terroristischen Spur nachgegangen wird. Seite 10 Praktisch wissenschaftlich. Entwurf einer systemtheoretischen Poetik in Rainald Goetz’ Roman Kontrolliert Fermin Suter Wie kann Literatur Zeitgeschehen verarbeiten und welche Rolle spielt dabei Gesellschaftstheorie? Oder: Was hat sich der Terrorist Raspe gedacht und was hätte Niklas Luhmann dazu gesagt? Der vorliegende Beitrag zeigt, wie Rainald Goetz in seinem Roman Kontrolliert auf die Geschehnisse des Deutschen Herbst fokussiert und dabei das poetische Potential der Systemtheorie erkundet. Seite 13 Die allmähliche Verfertigung der Beobachtung zweiter Ordnung. Über Grundprinzipien intellektueller Produktion: Kleist, Luhmann und die Romantik Elias Zimmermann Der Todestag von Heinrich von Kleist (1777-1811) wird dieses Jahr zum 200sten Mal begangen. Was hat der grosse Schriftsteller mit dem nicht minder grossen Soziologen Niklas Luhmann (1927-1998) gemeinsam? Erstaunlich vieles, haben sich doch beide für grundlegende Prinzipien interessiert, die intellektueller und künstlerischer Produktion zugrunde liegen. In diesem kurzen Essay wird der Spagat zwischen System- und Literaturtheorie gewagt. Seite 17 Der Findling Heinrich von Kleist Ein wohlhabender römischer Güterhändler adoptiert aus einer spontanen Regung des Mitgefühls einen Waisenknaben. Dieser scheint zum Nachfolger prädestiniert, einzig seine brodelnden Leidenschaften trüben die neue Familienharmonie. Sex, Blut und Geld in der Papststadt bietet unser Nachdruck der im Frühling 1811 erstmals erschienenen Erzählung. Seite 21 zu letzt Manuel Perriard und Johannes Willi Die zwei enfants terribles haben sich den Text von Kleist in diesem Magazin angeschaut, eine Platte geschnitzt, fast 200jähriges Papier besorgt und ein Plakat daraus gemacht. Der schöne Schnitt, der diesem Heft als Unikat beiliegt, ist ihr Lektüreergebnis. Beilage expositionen 3 Arno Camenischs Romane Sez Ner und Hinter dem Bahnhof. Eine Doppelbesprechung Manuela Heiniger Mit seinen beiden ersten Romanen bietet Arno Camenisch der Leserschaft humorvoll abgründige Einblicke in die bündnerische Provinz. Als Doppelbesprechung weist die vorliegende Kritik auf Kontinuitäten und Brüche in der Bibliographie des Surselver Newcommers hin. Seite 27 Zeugung, Kinder und bedrohte Männlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Lesart von Wolf Haas’ Kriminalroman Der Brenner und der liebe Gott Joanna Nowotny Brenner ist im siebten Band von Wolf Haas’ Krimiserie nicht nur mit einer Entführung und mehreren Morden konfrontiert, sondern auch mit einer Armada von Vätern und solchen, die es gerne wären. Die Problematik der Elternschaft in Der Brenner und der liebe Gott wird hier als Symptom sozialer Gegebenheiten interpretiert. Seite 29 Akzent auf die Standardsprachen: Regionale Spuren im «Schweizerhochdeutsch» und «Français fédéral» Marie-José Kolly Mit ihrem fremdsprachlichen Akzent gibt eine Sprecherin ihre Herkunft preis und die meisten Deutschschweizer werden beim Sprechen des Standarddeutschen oder des Französischen als solche erkannt. Kann aber aufgrund eines Akzents in diesen Sprachen auch erkannt werden, aus welchem Dialektgebiet der betreffende Deutschschweizer stammt? Dieser Beitrag stellt eine empirische Studie zur Perzeption dialektaler Akzente vor. Seite 32 Zwischen Eigenem und Fremdem. «Chinesische Religion» in Berichten katholischer China-Missionare 1550–1700 Nadine Amsler In der Frühen Neuzeit brachten Missionare nicht nur das Christentum nach China, sondern eigneten sich auch Wissen über das Reich der Mitte an. In ihren Darstellungen beschrieben die Missionare auch «chinesische Religion». Beobachtung und Deutung traten dabei in ein komplexes Wechselverhältnis, das der vorliegende Artikel im historischen Wandel beschreibt. Seite 35 Journalismus in Nordkorea. Instrumentalisierung des Mediensystems zur Aufrechterhaltung einer Diktatur Patrick Gämperle Nordkorea rangiert notorisch auf den hintersten Rängen der von den Reportern ohne Grenzen erstellten Weltrangliste der Pressefreiheit. Auf welchen Prinzipien Journalismus in der Diktatur beruht und wie er vonstatten geht, versucht dieser Beitrag zu beleuchten. Seite 39 4 Editorial Geneigte Leserin, geneigter Leser, auch für die dritte Ausgabe von expositionen konnten wir hochstehende Beiträge aus studentischer Feder versammeln. Die Lektüre gewährt Einblicke in den breiten Rahmen und das spannungsvolle Nebeneinander von universitärem Arbeiten. Dabei ergeben sich interessante Parallelen und Schnittpunkte: Der Blick in die nordkoreanische Medienlandschaft steht neben einer linguistischen Analyse von Akzenten; zwei Artikel zeigen, wie sich die Systemtheorie aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Literaturwissenschaft anwenden lässt; ein Beitrag beleuchtet den Zusammenhang vom phil.-hist. Studium in Bern und dem bundesdeutschen Terrorismus; zwei Beiträgerinnen ergänzen sich in ihrer Aktualität, indem sie belletristische Neuerscheinungen besprechen; im gemeinsamen Rahmen einer Philosophie des Wissens stehen der religionswissenschaftlich-historische Beitrag zum europäischen China-Bild und der soziologische zur Berner Hochschulpolitik. expositionen Nummer 3 wird abgerundet vom Beitrag zweier Künstler. Im Frühjahr 1811 hatte Heinrich von Kleist den zweiten Band seiner Erzählungen veröffentlicht. Darin sah er zum ersten Mal den Text Der Findling gedruckt, eine rätselhafte Adoptionsgeschichte mit so tragischem wie blutigem Ende. Zum 200. Geburtstag von Nicolo und Piacchi, zwei der Protagonisten, sowie zum 200. Todestag des Dichters, der am 21. November 2011 begangen wird, dürfen wir unseren Lesern den Findling mitsamt einer besonderen Zugabe präsentieren. Unser Dank geht an alle Autorinnen und Autoren, sowie Unterstützer, Kritiker und Freunde. Wir wünschen eine genüssliche Lektüre. Die Redaktion expositionen 5 Die Geburt der Universität Die Universität Bern im Übergang von einer rechtlichen Verwaltungssteuerung zu einem globalen Kennziffernregime S Philippe Saner * eit den wirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre werden auch staatliche Institutionen vermehrt nach Kosten- und Efizienzaspekten beurteilt und sogenannten ‹Aufgabenüberprüfungen› oder ‹Efizienzsteigerungsprogrammen› unterworfen. In den 1990er Jahren kulminierte diese Entwicklung unter der Losung New Public Management und erfasste Amtsstellen, Spitäler, Schulen und nicht zuletzt Universitäten. Mit Hilfe der wissenssoziologischen Diskursanalyse kann exemplarisch aufgezeigt werden, wie die Neuordnung der staatlichen Steuerung am Beispiel der Universität Bern diskursiv vor sich ging. In den letzten 20 Jahren kam es parallel zu den (universitäts-) politischen Krisendiagnosen zu einem inlationären Anstieg (para-)wissenschaftlicher Publikationen über Universitäten und Hochschulsteuerungssysteme. Interessant bei dieser regelrechten Flut an Publikationen ist deren kleinster gemeinsamer Nenner: Die «Hochschulmisere», die «Krise der Universität» oder die «Idee der Universität im Umbruch» gilt in der interessierten Öffentlichkeit bis auf wenige Ausnahmen als Grundprämisse. Die meisten dieser Arbeiten blenden jedoch systematisch die Feststellung aus, dass das Operieren mit Begriffen wie Reform oder Krise eine Technik neoliberaler Gouvernementalität im Sinne Michel Foucaults darstellt. Folglich sollten diagnostizierte ‹Krisen› nicht den Ausgangspunkt, sondern die Untersuchung selbst konstituieren: ‹Krisen› sind nicht einfach da, sie müssen selbst zuallererst (diskursiv) ausgerufen und etabliert werden. Um eine totale Neu-Aufstellung der staatlichen Steuerung zu lancieren, ist überdies ein gemeinsames Krisenverständnis, ein eigentlicher Konsens in der Diagnose der ‹Krise› erforderlich. Ein Blick in die jüngste Geschichte der Universität Bern veranschaulicht dies eindrücklich. Zuerst soll jedoch in einem kurzen zeitdiagnostischen Überblick das politische Umfeld, in welchem die Reformen stattfanden, skizziert werden. Die «Kulturrevolution in der Verwaltung»: New Public Management Die wirtschaftliche Krise der 1970er Jahre führte zu lange nicht mehr gekannten Phänomenen in der Schweiz: eine drohende Massenarbeitslosigkeit, hohe Inlationsraten und ein Übergang von Budgetüberschüssen zu Haushaltsdeiziten. Im Einklang mit Entwicklungen in Grossbritannien und den USA verschaffte dieses veränderte sozioökonomische Umfeld jenen Kräften Aufschwung, welche eine Eindämmung und Überprüfung aller Staatsaufgaben forderten. Mit einem vollständigen Personalstopp ab 1974 reagierten die eidgenössischen Räte auf den Einbruch der Konjunktur. In den 1980er Jahren verlagerte sich der Fokus auf die auf allen Staatsebenen anlaufenden Aufgabenüberprüfungen, Efizienzsteigerungsprogramme oder die «GemeinkostenWert-analyse» der Unternehmensberatungsirma McKinsey. Durch das Engagement externer Beratungsunternehmen kam betriebswirtschaftliche Expertise in die Verwaltungsstellen. Ziel waren neue, efizientere Führungsstrukturen sowie Kostensenkungsmassnahmen. Ende der 1980er Jahre schienen dann die Budgets von Bund, Kantonen und Gemeinden wieder einigermassen konsolidiert. Zu Beginn des folgenden Jahrzehnts kam es zu einer erneuten Wirtschaftskrise sowie einer Verdoppelung der Staatsschulden. Diejenigen Kräfte, welche eine Reform der Verwaltung nach marktwirtschaftlichen Prinzipen forderten, setzten sich nun endgültig durch und diktierten eine rigorose Sparpolitik. Trotzdem galten die Restrukturierungsprogramme des früheren Jahrzehnts den neuen Reformern als gescheitert. Widerstände in der Verwaltung, der Beamtenstatus sowie eine zu starke Orientierung am rechnerischen Einsparungspotenzial fungierten als die massgeblichen Gründe für das Misslingen bisheriger Sparprogramme. Es war das Umfeld rund um den ehemaligen St. Galler Professor und Zürcher Regierungsrat Ernst Buschor, welches mit seiner Helvetischen Version des New Public Management (NPM) – der ‹wirkungsorientierten Verwaltungsführung› – den Reformdiskurs anführte und eine regelrechte «Kulturrevolution in der Verwaltung» ankündigte. Fortan sollten die Reformen nicht nur auf die Verwaltung beschränkt bleiben: Eine Neuordnung des gesamten politisch-administrativen Systems wurde angestrebt. Gegenüber bisherigen linearen Ausgabenkürzungen ohne entsprechende Strukturveränderungen sollte eine «Umwandlung der Verwaltung als staatlicher Vollzugsappa- 6 rat in ein kunden- und leistungsorientiertes Dienstleistungs- schaftsgerechten Wandlung der Universität». Die Erfüllung unternehmen» stattinden. jener fundamentalen Aufgabe der Universität – der «ForWie jedoch gelang es den Reformern, kritische Einwände zu schung im Sinne der Wahrheitsindung» –, so schreibt etwa unterbinden und allenthalben Konsens herzustellen? Die der Rektor der Universität 1989, «[…] sei nur in einem Umhohe Verschuldung reichte dazu nicht aus, da als politisches feld mit sehr viel Freiheit möglich. Wo Misstrauen und KonMittel gerade nicht die früher trolle vorherrschen, kann praktizierte Kahlschlagstrategie fruchtbare Forschung nicht «Die rechtliche Steuerung des eingesetzt wurde. Nach der sysstattinden». Verwaltungshandelns wurde durch tematischen Unterinanzierung Im darauf folgenden Jahr 1990 eine Steuerung durch Kennziffern, staatlicher Institutionen (bewerden dann die Bezüge und der sogenannten Governance by sonders deutlich im BildungsForderungen des Rektors konNumbers, abgelöst.» wesen) konnten angesichts zukreter. So könnten etwa nur nehmender und neuer Aufgamehr 20% der schweizerischen ben «Handlungsdruck» und «Reformstau» geortet und als Forschungsleistung durch die öffentliche Hand inanziert Lösung eine «efiziente» und «leistungsorientierte» Verwal- werden, der grösste Teil müsse über Drittmittel und von der tung präsentiert werden. Insbesondere der Sozialdemokra- privaten Industrie getragen werden. Durch Mittelverknaptie, die noch in den 1980er Jahren den damaligen Reform- pung, zunehmende Studierendenzahlen sowie die Unbeweginstrumenten kritisch bis ablehnend gegenüber stand, schien lichkeit der Fakultäten stellten sich ernsthafte Probleme. Zur eine Steuerung durch Kennziffern und Leistungsaufträge Lösung der bernischen Probleme werden dann eine «notdas wirksamste Mittel gegen einen verantwortungslosen und wendige Autonomie» und «unternehmerische Freiheit» in unkontrollierbaren Leistungsabbau im öffentlichen Sektor. den Diskurs eingeführt. Durch diese vermeintliche Entpolitisierung des Verwaltungshandelns übertrugen die Reformer die Deinitions- Am «Dies academicus» 1993 kündigt der Erziehungsdirektor macht staatlicher Aufgabenerfüllung von parlamentarischen, die Ausarbeitung einer neuen Hochschulgesetzgebung an: demokratischen Instanzen auf externe Berater und die be- Er verlangt von der Universität, Rechenschaft abzulegen und triebswirtschaftliche Finanzkontrolle. Die rechtliche Steue- den Bürgerinnen und Bürgern verständlich zu machen, «was rung des Verwaltungshandelns wurde durch eine Steuerung sie tut». Nicht zuletzt solche Forderungen stehen symptodurch Kennziffern, der sogenannten Governance by Numbers, matisch für jene Jahre, in welchen das Öffentlichkeitsprinzip abgelöst. alle Sphären des Staates zu durchdringen beginnt: Etwas zu Es war die enge Verzahnung von Betriebswirtschaft, Politik tun, reicht nicht mehr aus. Es muss Rechenschaft über das und externen Beratern, welche die Entstehung und Durch- Getane abgelegt werden, und dieses soll zusätzlich noch versetzung von Reformprojekten beförderte. Konsens kam ständlich gemacht werden. Dies jedoch stürzt eine diszipliauch insofern zustande, als dass die New Public Manager Wi- när ausdifferenzierte Universität per se in ein Dilemma: Zu derspruch als «konservativ, rückständig und unproduktiv» fragmentiert wäre das dabei entstehende Bild der Institution brandmarkten und systematisch sozialwissenschaftliche Evi- als einer organized anarchy. Entsprechend folgt die Devise bei denz zur Efizienz der Verwaltung ausblendeten. Obwohl Fuss, die Universität müsse «Ziele und Prioritäten» deinieheutzutage wieder Sparprogramme mit linearen Kürzungen ren und anstreben, bedingt durch die «Zeiten, in denen die vorgezogen werden, hat sich das NPM-Gedankengut in den inanziellen Mittel überall äusserst knapp bemessen sind». staatlichen Institutionen etabliert und wird von universitären Nur operationalisierbare, mess- und letztlich vergleichbare Kompetenzzentren und Beratungsbüros weiterbetrieben. Ziele und Prioritäten erlauben Rechenschaft und (allenfalls) Lokale und historisch gewachsene Aushandlungsprozesse Verständnis in der Bevölkerung – eine ungeöffnete univerund Konliktlösungsmechanismen werden durch quasi-wis- sitäre black box alleine kann dies nicht erfüllen. So ist die senschaftliches Wissen und Expertise abgelöst. Konstruktion von Identität eine der Hauptbedingungen von Organisationswerdung – die Anrufung eines gemeinsamen Krise und Reform: Die Geburt der Universität «Geistes» durch den Regierungsrat reicht dazu nicht (mehr) Die Begriffe Krise sowie Reform sind zentral für den allgemei- aus. nen politischen Diskurs der Schweiz zu Beginn der 1990er Im Bericht zur Staatsrechnung 1994 hält die FinanzkommisJahre und für den hochschulpolitischen Diskurs der Univer- sion des Bernischen Grossrats fest, der Kanton könne sich sität Bern im Speziellen. Die Hochschulchronik zum die heutigen Aufwendungen für die Universität nicht mehr 150-Jahr-Jubiläum 1984 belegt, dass die Frage nach dem leisten. Die Beinahe-Pleite der Kantonalbank sowie die Sinn, der Aufgabe und dem Ziel einer Universität, die Nach- Misswirtschaft bei der Lehrerinnen- und Lehrer-Pensionswuchsförderung, der Numerus clausus, der Ausbau und die kasse lassen die Schuldenlast rasant ansteigen. Die Krise ist Mitsprache über Jahrzehnte hinweg ständige Diskussions- nun endgültig da und wird von Bundesrätin Ruth Dreifuss themen bleiben. Ab Ende der 1980er Jahre häufen sich dann in ihrer akademischen Rede verallgemeinernd als «helvetidie Diagnosen von «gewissen Problemkreisen» und es stellt sches Malaise» gefasst. Die Einladung der neugewählten sich zunehmend die Frage nach «Strategien einer gesell- Bundesrätin offenbart den Wunsch nach der rettenden expositionen 7 Hand des Bundesstaates in Zeiten der Not. Steigende Anforderungen bei gleichbleibenden oder gar sinkenden Mitteln öffneten den (Spiel-)Raum für neue Lösungsansätze, so Dreifuss: gesamtschweizerisch koordinierte, strategische Planungsempfehlungen, Verzichtsplanungen und Schwerpunktbildungen. Zudem begrüsst sie die Stärkung der Entscheidungskompetenz der Universitätsleitungen – die Reform des Berner Universitätsgesetzes weise in die richtige Richtung. Die Grenzen der einzelnen Universitäten sollen neu abgesteckt, die Proile gestärkt werden. Auch dies ist Grundbedingung zur nötigen Identitätsindung der Organisation «Universität Bern». Der Rektor unterfüttert dann in ähnlichem Ton die markigen Worte der Politikerin Dreifuss und erkennt die anstehende Total-Revision des Universitätsgesetzes als langfristiges Behelfsmittel – als ‹betriebswirtschaftlichen Ausweg› aus der ‹Krise›. Die Unterstützung dafür reicht von den politischen Behörden des Kantons (Grosser Rat und Regierungsrat) bis zur Bundesrätin und somit quer durch alle politischen Parteien. Wer da noch Kritik wagt, hat entweder die Zeichen der Zeit – die vielbeschworenen ‹äusseren Rahmenbedingungen› – noch nicht erkannt oder kann durch den Verzicht auf Budgetkürzungen besänftigt werden. Ob Zufall oder nicht: Die politische Akzeptanz der universitären Krisendiagnose fällt zeitlich genau mit dem Auftauchen der ‹wirkungsorientierten Verwaltungsführung› in der Schweiz zusammen. Das Ergebnis dieser Paarung sind all die betriebswirtschaftlichen Reformprojekte staatlicher Organisations- und Aufgabenbereiche, worunter auch die indikatorengesteuerte, «wirkungsorientierte Universitätsführung» in Bern fällt. Die Reform ist folglich das Gegen-Mittel zur Krise. Im Gegensatz zur traditionellen staatlichen Steuerung geht die Reform weder mit zusätzlichen Finanzmitteln noch mit linearen Kürzungen des Budgets einher. Das total revidierte Universitätsgesetz, welches per 1. September 1997 in Kraft tritt, verwandelt die Universität Bern rechtlich betrachtet von einer Verwaltungsabteilung der Erziehungsdirektion in eine autonome Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit. Dabei wird mehr als nur der rechtliche Status geändert: Der Kanton steuert die Universität neu mittels Leistungsaufträgen und Globalbudgets – dazu muss eine autonome Organisation Universität geschaffen, ja geboren werden. Die Konstruktion dieser neuen Universität erfolgt anhand der drei Kategorien Identität, Hierarchie und Rationalität. Sie erfolgt über betriebswirtschaftliche Instrumente wie accountability (Qualitätssicherung, Evaluationen und Akkreditierung), Zieldeinitionen (Visionen, Leitbilder und Missionen), der Ausarbeitung formaler Strukturen (Ausdifferenzierung der universitären Verwaltung) sowie der Praxis des universitären Managements. Freilich, die Geburt der Universität kann nicht ohne entsprechenden Gründungsmythos vollzogen werden, auch wenn dieser durch den langjährigen Rektor Christoph Schäublin im Nachhinein konstruiert werden muss: «Diese [die Jahre 1995-2001] waren wesentlich gekennzeich- net durch die Erarbeitung, Einführung und Umsetzung des neuen Universitätsgesetzes. Indes, auch noch so heroische Gründungszeiten gelangen unweigerlich einmal an ihr Ende und münden wie von selbst in einen Zustand neuer Normalität. Was geleistet werden musste, ist geleistet. Zwar harren noch einige Lücken der Schliessung, doch insgesamt darf wohl gelten, dass die Universität Bern ihre Identität als autonome Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit gefunden hat». Die Überprüfung der Aufgaben in Zeiten des Ausnahmezustands Auf Anregung der betriebswirtschaftlichen Finanzkontrolle entscheiden die politischen Behörden des Kantons «[…] das Angebot (der Universität) in den Bereichen Lehre, Forschung und Dienstleistung hinsichtlich Notwendigkeit (Sparsamkeit) und Kosten/Nutzen (Wirtschaftlichkeit)» von externen Beratern analysieren zu lassen. Als Geburtshelfer stehen zwei durch internationale Grossunternehmen inspirierte Beratungsirmen zur Seite. Trotz gleichbleibenden Mitteln, so der Auftrag des Kantons, solle die Universität neue Wissensgebiete erschliessen; dazu bedarf es der Umlagerung von Mitteln sowie des Abbaus gewisser Aufgabenfelder. Das Engagement externer Berater erstaunt nicht: Innerhalb der Universität ist mit erheblichem Widerstand zu rechnen. Durch die (Teil-)Auslagerung dieses Entscheids von politischer Seite her macht sich diese einerseits weniger angreifbar durch organisationsinterne Kritik, während sich andererseits die Berater durch Berufung auf betriebswirtschaftliche, international akzeptierte Instrumente gegen Kritik immunisieren können. Unter dem Schattenwurf von Efizienzsteigerung und Rationalisierung verschwindet folglich das Politische aus dem Diskurs. Der betriebswirtschaftliche Mythos naturalisiert den Entscheid, während er selbst als unschuldige Rede verbleibt. «Unter dem Schattenwurf von Efizienzsteigerung und Rationalisierung verschwindet folglich das Politische aus dem Diskurs.» Diverse Äusserungen von Rektor Schäublin verweisen jedoch darauf, dass sich die Universität den Bestrebungen der Aufgabenüberprüfung widersetzte und nur auf politischen Druck hin einwilligte. Schäublin betont die konlikthaften Aushandlungsprozesse und verdeutlicht damit die politische Rolle des Beratungsprozesses – das vermeintlich verschwundene Politische tritt wieder zutage, auch wenn nun von «strategischen Segmenten» statt Disziplinen oder Professuren die Rede ist, welche auf- oder abgebaut werden sollen. Für die Universität bedeutet die Aufgabenüberprüfung in erster Linie Mehrarbeit und Zusatzbelastungen, die es in einem vertretbaren Rahmen zu halten gelte; die Prüfung müsse die Universität Bern «stärken», während die Erfüllung des 8 Grundauftrages «selbst in ausserordentlichen Zeiten» keinerlei Abstriche dulde – «und irgendeinmal dürfte auch bei uns wieder Normalität einkehren», so Schäublin im Jahr 1995. Die Diagnose der Krise hält jedoch über mehr als ein ganzes Jahrzehnt an. Überprüfungen, Reformen und deren Implementierung werden – wie Lehre und Forschung – zum Alltagsgeschäft, ‹Normalität› wird zur Ausnahme und zur Projektionsläche einer irgendwann einmal eintretenden Zukunft. Der Ausnahmezustand, so könnte man in Anlehnung an Giorgio Agamben konstatieren, wird zum gängigen Muster universitärer Beindlichkeit. «Überprüfungen, Reformen und deren Implementierung werden – wie Lehre und Forschung – zum Alltagsgeschäft, ‚Normalität‚ wird zur Ausnahme und zur Projektionsläche einer irgendwann einmal eintretenden Zukunft.» Praktiken des Managements in der total verwalteten Wissenschaft Wer sich in der Universität Bern des frühen 21. Jahrhunderts (sei es als Student oder Professorin, sei es als Projektmitarbeiter oder als Verwaltungsangestellte) bewegt, gerät unvermeidlich früher oder später mit den Praktiken des universitären Managements in Berührung. Wer nicht qua Funktion ECTS-Punkte, Räume oder Projekte managen muss, wird womöglich selbst zu einer zu managenden Einheit (v)erklärt (etwa als Kunde im Kundenmanagement, als Mitarbeiterin im Rahmen des Personalmanagement usw.). Aller Mythenbildungen zum Trotz hat dieser Zustand jedoch nichts ‹Naturgegebenes› an sich. Das universitäre Management als soziale Praxis muss vorgängig durch bestimmte zentrale Akteure diskursiv konstruiert werden. Interessant ist etwa, dass der Begriff ‹Management› in Jahresberichten, Strategiepapieren und Leistungsaufträgen nur an wenigen Stellen auftaucht. Es scheint in der universitären Selbstbeschreibung bis heute die ungeschriebene Prämisse Bestand zu haben, dass Universität und Management nicht recht zusammen passen wollen. Management wird oft durch das deutsche Wort Führung ersetzt. Bisweilen wacht gar eine Art ‹Begriffspolizei› darüber, dass Management in ofiziellen Dokumenten der Universität explizit nicht auftaucht. Erstaunen löst die Tatsache aus, dass es rund 10 Jahre dauerte, bis die in den Reformen von 1997 zu Gesetzeskraft erhobenen Prämissen des NPM ihre konkret-materiale Gestalt in Form eines universitären Dispositivs gefunden haben: Dazu zählen neben dem Universitätsgesetz die Universitätsverordnung, das Universitätsstatut, das Leitbild, die Mehrjahresplanungen, Strategiepapiere, diverse neue Reglemente sowie Leistungsaufträge und Globalbudgets – sowohl zwischen Kanton und Universität wie auch zwischen Universität und Fakultäten, Fakultäten und Instituten, Instituten und Professorinnen, Professoren und Mitarbeitenden und so fort. Um es auf die Spitze zu treiben, könnte man auf Ulrich Bröckling zurückgreifend anmerken, dass im Rahmen eines Selbstmanagements alle Universitätsangehörigen Leistungsverträge zwischen Kopf und Bauch bzw. allen anderen Organen abzuschliessen haben. Die reibungslose Zusammenarbeit aller Einzelteile kann nur dann funktionieren, wenn es nicht zu Konkurrenz und Kompetenzgerangel kommt. Die effektive Umsetzung des NPM an der Universität Bern bedurfte letztlich nicht nur dieses juristischen und technischinstrumentellen Dispositivs, sondern auch eines HumanDispositivs. Die massive Ausdifferenzierung der universitären Verwaltung bringt eine eigentliche universitäre ‹Planungs- und Kennziffernbürokratie› hervor. Der Ausbau der Universität in den letzten zwei Jahrzehnten basiert – nebst dem massiven Wachstum der Studierendenzahlen – auf einem überdurchschnittlichen Ausbau der Verwaltung: Während die Zahl der Professorinnen und Professoren von 1996 bis 2009 nur um 2,5% zunimmt, steigt die Zahl der Verwaltungsangestellten im selben Zeitraum um 77%. Beschleunigt wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch die BolognaReform in den letzten fünf Jahren. Es ist davon auszugehen, dass künftige Reformschritte stets die Interessen dieses neuen Human-Dispositivs zu berücksichtigen haben. Haupthindernis für Universitätsreformen dürften bald nicht mehr (nur) störrische Professorinnen oder Studenten, sondern neu auch Verwaltungsangestellte sein. Oder wie der Historiker Hans-Ulrich Jost lakonisch dazu anmerkt: «Damit begann deinitiv die Zeit der ‹verwalteten Wissenschaft›». Numerische und ikonische Differenz Mit dem Übergang von einer direkten politischen Steuerung durch die politischen Behörden zu einer Selbst-Regierung durch Leistungsaufträge, Indikatorensteuerung und das Management-Dispositiv kommt es auch zur Ablösung einer rhetorischen durch eine ikonische Semantik. Hundertfünfzig Seiten lange Rechenschaftsberichte bieten genug Platz zur Erklärung und Rechtfertigung und werden einem Staat abgeliefert, welcher seine Institutionen kontrollieren will. Fünfundvierzig Seiten Leitsprüche, Bilder und Statistiken richten sich hingegen an (potenzielle) Kundinnen und Investoren. Damit ist für Transparenz und Öffentlichkeit gesorgt, das Controlling besorgt die neue Universität über interne Märkte und Indikatorensteuerung selbst – den Staat braucht es dazu beim besten Willen nicht mehr. Dies lässt sich keineswegs ausschliesslich durch die enorm gestiegenen Möglichkeiten an visueller Datenverarbeitung erklären. Statistiken und Bilder besitzen eine nicht zu unterschätzende persuasive Eigenlogik: Kommunikation mittels Zahlen, Statistiken und Bildern erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Mitteilung. Quantiizierung und Visualisierung erleichtern durch ihre kommunikative Eigenwirkung die Herstellung von Akzeptanz und damit auch Konsens. Die universitäre Selbstbeschreibung betreibt eine eigentliche De-Lokalisierung der Universität, welche die Internationali- expositionen 9 sierungs- und Diversiizierungsbestrebungen der neuen Universität verdeutlicht – die Stakeholder der Universität sitzen längst nicht mehr (nur) in trüben Berner Amtsstuben. Ihr Ebenbild inden diese Bestrebungen in der globalen Diffusion von universitären Rankings und Ratings, welche zwar nicht für «strategische Überlegungen» der Universitätsleitung berücksichtigt würden, auf die aber trotzdem permanent kommunikativ reagiert werden muss. Was sich letztlich an der Universität Bern (wie an vielen anderen Universität auch) zeigt, ist die Abkoppelung zweier völlig verschiedener ‹Universitätswelten›: Gemeint ist die Trennung in den eigentlichen ‹Wissenschaftsbereich› auf der einen Seite, was gemeinhin als «Universität» bezeichnet wurde, und den ‹Führungs- und Administrationsbereich› auf der anderen Seite, der sich selbst als die Universität bezeichnet. Ein Blick auf das Organigramm der Universität Bern liefert die (optisch) klare Antwort auf die Frage nach Hierarchien im Verhältnis der beiden. «Was als ‹unternehmerische Autonomie› in den Diskurs eingeführt wurde, entpuppt sich Planbürokratie, die alles und jeden zu erfassen, kategorisieren und visualisieren versucht.» Die Universität Bern, die am 1. September 1997 geboren wurde, hat mittlerweile eine solche Grösse und Heterogenität erreicht, dass jeder Versuch zur Etablierung eines Gefühls von Zusammengehörigkeit im Rahmen einer corporate identity unweigerlich scheitert. Was über Identität nicht gelingen kann, wird deshalb über Indikatorensteuerung, Leistungsvergleiche, Märkte, ‹inszenierte Wettbewerbe› sowie den Verwaltungskörper versucht: Um Ungleiches vergleichen zu können, muss – allen Versprechen auf qualitative Indikatoren zum Trotz – auf quantitative Vergleichsmassstäbe zurückgegriffen werden. Was als ‹unternehmerische Autonomie› in den Diskurs eingeführt wurde, entpuppt sich letztlich als Neuaulage jener überwunden geglaubten Planbürokratie, die alles und jeden zu erfassen, kategorisieren und visualisieren versucht. Daneben braucht es auch den politischen Willen, im und für den – schweizerischen wie internationalen – Standortwettbewerb dieses ‹Ungleiche› zusammenzuhalten. Würden dieses Vergleichsdispositiv sowie der politische Wille zum Zusammenhalt fehlen, drohte «die Universität» ständig auseinanderzufallen, sich zu verlüchtigen – das Deleuzesche Diktum der «permanenten Metastabilität» formuliert diesen Schwebezustand sehr treffend. Um der Diffusion und Aulösung zuvorzukommen, sind oben genannte Instrumente und politische Bekenntnisse von Rektoren und Politikerinnen unabdingbar, die unaufhörlich jene Abbilder produzieren, welche die Angehörigen an die Existenz der Universität erinnern sollen. Gugerli, David 2008: Kybernetisierung der Hochschule. Zur Genese des universitären Managements. In: Hagner, Michael / Hörl, Erich (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte. 414-439 Heintz, Bettina 2008: Governance by Numbers. Zum Zusammenhang von Quantiizierung und Globalisierung am Beispiel der Hochschulpolitik. In: Schuppert, Gunnar Folke / Vosskuhle, Andreas (Hg.): Governance von und durch Wissen. 110-128 Honegger, Claudia / Jost, Hans-Ulrich / Burren, Susanne / Jurt, Pascal 2007: Konkurrierende Deutungen des Sozialen. Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft Keller, Reiner 2008: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms Münch, Richard 2007: Die akademische Elite * Philippe Saner studiert im 10. Semester Soziologie an der Universität Bern. Der Beitrag basiert auf seiner Bachelorarbeit.Der gesamte Text erscheint demnächst in der «Schriftenreihe Kultursoziologie» des Instituts für Soziologie der Universität Bern unter dem Titel Verwaltete Wissenschaft. Universitätsmanagement am Beispiel Bern. 10 Berner Bibliotheksterror Ein beinahe ofizielles RAF-Zitat in der Basisbibliothek Unitobler Hannes Mangold * B isher ist noch niemandem aufgefallen, dass in der Basisbiliothek Unitobler in Bern ganz ofiziell ein – so nicht markiertes – Zitat aus einem Pamphlet der RAF die Besucher anregen soll. Der breiten architektonischen Würdigung, die der Unitobler-Bau erfahren hat, soll hier eine germanistische Kritik entgegengesetzt werden, indem der terroristischen Spur nachgegangen wird. Im Quadrat Wer sich in der Basisbibliothek der Unitobler ein Buch ausleiht, tritt unter ein schwebendes Quadrat aus vier Betonstehlen. Auf deren Innenseiten ist jeweils ein Zitat angebracht. Im ausgebauten Zwischenraum in der Mitte der beiden alten Fabriktrakte indet sich Revolutionäres. Vis-àvis stösst der Entleihende, vielleicht als Erstes, auf Stéphane Mallarmés Satz «Toute méthode est une iction, et bonne pour la démonstration.» Wer sich von den Notes sur le langage des französischen Poeten ansprechen lässt, kann zu seiner Rechten Karl Marx’ berühmte 11. These über Feuerbach lesen: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.» – Nun ja, es geht noch weiter. Links gilt es Andy Warhols Prophezeiung aus dem Interview mit G. R. Swenson (What is Pop-Art? Answers Abbildung: Basisbibliothek Unitobler by Eight Painters, November 1963) zu bedenken: «Someday everybody will think just what they want to think and then everybody will probably be thinking alike; that seems to be what is happening.» Nur eine Innenseite präsentiert sich dem Bibliotheksbenutzer nicht bei jedem Leihvorgang. Wer die Quadratur vollbringen will, muss sich umwenden und steil nach oben sehen. Da steht geschrieben: «Ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln. Rainald Goetz» Messer im Kopf Rainald Goetz verbirgt sich da also. Bekanntheit erlangt hatte dieser mit seinem Auftritt am Ingeborg-BachmannPreislesen 1983 in Klagenfurt, wo er seinen Text Subito an expositionen 11 der Stelle «Ihr könnt mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf. In die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir das Hirn auslaufen. Ich brauche kein Hirn nicht mehr» (im Internet unter http://www.youtube.com/watch?v=_BEjgp9MAEY) mit einem beherzten Schnitt mit der Rasierklinge in und quer über seine Stirne begleitet hatte. Mit dieser blutigen Performance hatte der studierte Mediziner und Historiker Goetz seinen ersten Roman Irre, der Teile des Manuskripts enthält und kurz nach der Lesung erschien, publikumswirksam inszeniert. Aber auch mit dem verlesenen Text selbst spielte der Autor mit massenmedialen Begehren: Angriffe auf bekannte Schriftsteller («Chefpeinsäcke Böll und Grass»), wiederholtes Nennen tabuisierter Begriffe («Neger», «Scheisse») oder das Verwenden umgangssprachlicher Floskeln («geil») markieren die oppositionelle Haltung gegen das im äussersten Süden des deutschen Sprachraumes versammelte Literaturestablishment. Goetz inszenierte sich als neu, jung, anders, Punk und Pop. und politischen Ungleichheiten – hatte sich von 1970 bis 1977 zu einem gesellschaftlichen Subphänomen verselbständigt. Folgt man der These von Kontrolliert weiter, hatte der Faschismus-Vorwurf der extremen Linken an den Staat einerseits sich selbst bewahrheitet: Auf zunehmend radikale Kritik und Verweigerung am Staatswesen hatte dieses mit zunehmend restriktiven Mitteln geantwortet, wie die Debatte um die angebliche «Isolationsfolter» der ersten RAFKader beispielhaft verdeutlicht. Andererseits war im selben Zeitrahmen mit dem Traum einer fundamentalen, sozialistischen Neuorganisation der Gesellschaft für die allermeisten Westdeutschen auch die Legitimation zum Guerillakrieg und für die RAF gestorben. In Kontrolliert wendet sich der anfänglich mit den Terroristen sympathisierende Erzähler immer mehr von diesen ab und der aufkommenden New Wave-Subkultur zu. Das «Fight for your right» – in grossen roten Lettern auf den hinteren Umschlag von Kontrolliert gedruckt – wird mit den Beasty Boys entsprechend ergänzt um «[...] to party» (Kontrolliert: 144). Wirklich wahr Goetz’ Blut war echt, nicht iktiv, auch für die erstmals in der Geschichte des Literaturfestes per Fernseher zugeschalteten Zuschauer und –hörer. Text und ‹Wirklichkeit› schienen hier zu korrespondieren, der blutende Turnschuh- und Punkfrisurträger hatte es offenbar geschafft, ein Gefühl der Authentizität zu erzeugen. Dieses Gefühl interessierte Goetz. In den Räuschen der Avantgarde-Pop- und New WaveBewegung erkannte er es wieder. Und im Terrorismus. Sein zweiter umfangreicher Prosatext, Kontrolliert (1988), drehte sich entsprechend um das Thema des bewaffneten Widerstandes, um «die Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig» (Kontrolliert: 15 u.a.). Dieser «Geschichte» – im doppelten Wortsinn als historische und literarische – entstammt das Zitat in der Basisbibliothek Unitobler. Möglichst praktisch Kontrolliert führt diesen Wandel von den 68er-Unruhen zum Terrorismus und zur Popkultur auch an einem von der RAF selbst publizierten Text vor. Am 11. Mai 1971 war, in der Westberliner Untergrund-Zeitschrift Agit 883, Das Konzept Stadtguerilla erschienen, dessen Autorschaft in der Regel vor allem bei Ulrike Meinhof verortet wird. Ziel des Textes ist es, die eigene terroristische Aktivität zu legitimieren. Die Verfasser behaupten «daß die Organisation von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik [...] richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist» (Agit 883, Nr. 80: 5). Da weder Arbeiter noch Intellektuelle von selbst eine sozialistische Revolution anstossen würden, obläge es nun ihr, der RAF, diese «avantgardistische» Position einzunehmen. Wenn niemand die «Führungsrolle» übernähme, dem «Geschwätz» auch «praktisch» Nachdruck verleihen würde, dann betrachteten die Autoren des Konzept Stadtguerilla die Revolution als gescheitert. Da sie aber den «antiimperialistischen» Kampf aufgenommen hätten, bliebe der Ausgang der Geschichte offen: Fight for Your Right... Goetz’ historische «Geschichte», so auch der Untertitel von Kontrolliert, nähert sich dem Deutschen Herbst auf literarisch so innovative wie theoretisch fundierte Weise: Die Geschehnisse um die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die Rote Armee Fraktion (RAF), das Kidnapping der Lufthansa Maschine «Landshut», die Verhandlungen der Staatsvertreter mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Stammheimer Hochsicherheitstrakt, die Einsetzung von Krisenstäben und Aussetzung von konstitutionell garantierten Rechten: Kontrolliert beschreibt sie in einer Mischung von Diskursgeschichte, Systemtheorie und Erlebnisbericht; was erst noch erstaunlich gut als Literatur funktioniert (vgl. dazu den Beitrag von Fermin Suter in diesem Heft). Der Text vollzieht das Scheitern des bewaffneten Widerstandes in der BRD nach. Was sich aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit und Ohnmacht entwickelt hatte – aus der noch immer nationalsozialistisch durchtränkten NachkriegsElite in der BRD, aus dem Vietnamkrieg, aus ökonomischen «Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.» (Agit 883, Nr. 80: 10) Praktisch Unmöglich Im Kontext langer und kaum verschlüsselter RAF-Zitate übernimmt Goetz in Kontrolliert auch diese Stelle wörtlich: «Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist. Ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.» (Kontrolliert: 247) Wie geht aber Goetz’ Erzähler mit diesem Text um? 12 Retrospektiv kommentiert er: «Man hält sich für klüger, als das Leben, eine Hybris, die einem das Leben später um die Ohren haut, aber jetzt hat man alles Herrliche auf seiner Seite, Stärke, Zorn und Sinn. So also hat alles angefangen, richtig konsequent. Sieben Jahre später [...] [diktiert] das enge Gesetz des Handelns [...] jeden Schritt, nicht mehr der freie Entschluss zu Treue zu sich.» (ebd.: 247f.) Die Freiheitskämpfer haben, aus Sicht des Erzählers, die Kontrolle über ihre Entscheidungen verloren. Sie sind Teil eines Systems geworden, das ihr Agieren diktiert. Was 1970, «da es möglich war, richtig war» (ebd.: 248) – zumindest nach dem eigenen Massstab –, ist sieben Jahre später völlig falsch. Mit der Situation haben sich auch die Bewertungskriterien geändert: «Konsequenz ist die Hölle und besiegelt, daß falsch ist, was Tat um Tat falsch geworden ist» (ebd.: 248). RAF über dem Kopf Wer sich in der Basisbibliothek ein Buch ausleiht, steht im ausgebauten Zwischenraum zweier ehemaliger Fabriktrakte, der Besucher fühlt vier Plateaus voller Bücher im Nacken. Über seinem Kopf schwebt das Zitat Rainald Goetz’, das Das Konzept Stadtguerilla zitiert. Christian Probst, der heute den Theaterelch betreibt, hatte die Sätze im Hinblick auf die Eröffnungsfeier der Unitobler im Oktober 1993 ausgewählt. Mit dem Berner StudentInnentheater hatte Probst den Anlass um eine performative Aktion in der BTO bereichert, in der auch ein Text aus Rainald Goetz’ Hirn-Band vorkam. Ursprünglich waren die Beschriftungen für diesen Rahmen angebracht worden. Dass sie, offenbar aufgrund allgemeinen Gefallens, geblieben sind, freut nicht nur Probst, sondern auch den Spurensucher. Einerseits verbirgt sich das Goetz-Zitat über dem Kopf der Besucher. Andererseits verbirgt sich das RAF-Zitat hinter Goetz’ Namen. Für den RAF Text wiederum liegt keine gesicherte Autorschaft vor. Christian Probst hat seinem Arrangement im Gespräch treffend einen «konspirativer Charakter» zugesprochen. So hat diese «Kunst am Bau» während nun beinahe zwanzig Jahren wenig Aufmerksamkeit bekommen; neben Probst weiss wohl nur einer der Architekten um den doppelten Boden des Satzes. Gleichzeitig hat die Zitat-Problematik nicht an Brisanz verloren: Gehört dieser Satz Rainald Goetz? Während die Wissenschaft die Frage eher verneinen wird, müsste sie aus einem literarischen Blickpunkt wohl offen bleiben. In einem Telefonat mit dem Autor erinnert Christian Probst an «Dr.» zu Guttenberg auf der einen, an Helene Hegemann (Axolotl Roadkill) auf der anderen Seite. Interessant und wichtig bleibt die Diskussion um Ursprung, Autorschaft und Geschichte aber in jedem Fall. Mit der brisanten Wahl eines terroristisch motivierten Subtextes leistet auch die Berner Universitätsbibliothek ihren – unfreiwilligen – Beitrag dazu. Goetz, Rainald 1988: Kontrolliert. Geschichte [dazu weiterführend: Werber, Niels: Intensitäten des Politischen. In: Weimarer Beiträge 46/1 (2000). 105-120] Goetz, Rainald 1986: Subito. In: ders.: Hirn. Schriftzugabe. 9-21 [Die Aufnahmen der Klagenfurter Lesung im Internet unter http://www.youtube.com/watch?v=_ BEjgp9MAEY (Stand vom 29.3.2011)] Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla. In: Agit 883 80 (11.5.1971). Im Internet unter: http://plakat.nadir.org/883/ausgaben/agit883_80_11_05_1971. pdf (Stand vom 29.3.2011) * Hannes Mangold studiert Germanistik und VWL an der Universität Bern und liest gerne Spuren. expositionen 13 Praktisch wissenschaftlich Entwurf einer systemtheoretischen Poetik in Rainald Goetz’ Roman Kontrolliert Fermin Suter * W ie kann Literatur Zeitgeschehen verarbeiten und welche Rolle spielt dabei Gesellschaftstheorie? Oder: Was hat sich der Terrorist Raspe gedacht und was hätte Niklas Luhmann dazu gesagt? In seinem Roman Kontrolliert fokussiert Rainald Goetz auf die Geschehnisse des Deutschen Herbst und erkundet das poetische Potential der Systemtheorie. 1977 Goetz’ Roman Kontrolliert aus dem Jahr 1988 gilt als ‹Terrorismus-Roman› und erzählt aus wechselnden Perspektiven u.a. von den Gewaltereignissen des Jahres 1977: Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird ermordet, ebenso Jürgen Ponto, Sprecher der Dresdner Bank, die Lufthansa-Maschine «Landshut» wird von einem palästinensischen Terrorkommando entführt und um inhaftierte RAF-Mitglieder freizupressen wird der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer verschleppt und schliesslich umgebracht – dies nur die markantesten Wegsteine. Diese «Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig» (K 15) soll, so der Erzähler des ersten von drei Teilen, in Kontrolliert erzählt werden. Damit ist zugleich jenes Projekt der «Wirklichkeitserschliessung» (Hoeps 2001: 294) angesprochen, das Rainald Goetz seit seinen frühesten Texten umtreibt (und das er bisweilen auch auf nichtliterarischen Gebieten wie Musik und Photographie erprobt hat). Es reiht sich in seinen Texten detailversessene Beschreibung neben affektgeladenen Redeschwall, Lobreden auf genaues Beobachten neben blinde Wut und allenthalben steht eine Schreibmaschine, eine Kamera oder ein Kassettenrecorder bereit, dem Erzähler ein Garant dafür, dass ihm auch ja nichts von dem entgeht, was da passiert. Dementsprechend sind Goetz’ Texte voll, voll von Argument, Zitat, Phantasie, Wut, Relexion, Sprachmaterial. Stets präsent in seinen Erkundungen der Funktionsweise menschlichen Zusammenlebens – als das wird ‹Wirklichkeit› aufgefasst – sind grundlegende Prämissen der Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Vorneweg Luhmann In Kontrolliert ist es nun weniger eine soziologische Analyse des Zeitgeschehens, für die Luhmann Gewährsmann ist, vielmehr wird die Antwort darauf gesucht, wie ein literarisches Schreiben (über dieses Zeitgeschehen) zu funktionieren hat, das sich der grundlegendsten (systemtheoretischen) Mechanismen sozialen Verhaltens sowohl bewusst ist als sie auch anwendet. Das immense Potential der Systemtheorie hierbei liegt für Goetz (1992: 71) auf der Hand, «[d]enn Systemtheorie ist ein ultimatives Kunstwerk». Welche Art von Kunstfertigkeit damit gemeint sein könnte, wird man noch sehen. Ein zentrales Element von Luhmanns Systemtheorie ist der Formbegriff, und an Form ist – im weitesten Sinne – auch Goetz interessiert. Gemäss Luhmann (1998: 60 ff.) ist sie nicht als Essenz oder ‹Gestalt› zu begreifen, sondern als Differenz; sie ist die Selektion einer Information aus einer unendlichen Potentialität an Informationen, bezeichnet diese und setzt sie dadurch von den sie umgebenden Möglichkeiten ab, markiert also eine Grenze. Im Akt des Bezeichnens, dies eine Pointe, wird deshalb die gesamte Menge des NichtBezeichneten, die Umwelt latent mitgeführt, als ‹andere Seite› einer Differenz. Die zweite Pointe besteht darin, dass diese Differenzen nur dann vorhanden sind, wenn sie ‹gemacht› werden, also nur als Operation existieren. (Sinn-) Systeme funktionieren nun dank derart erzeugten Informationen, denn diese bilden nicht nur die bei jeder Operation in einem System verwendeten Operationselemente, sie unterscheiden auch zwischen Innen und Aussen des Systems: innen Bezeichnetes, aussen in der Umwelt Nicht-Bezeichnetes. Jegliches gesellschaftliche System vermag nur anhand solcher im Sinne des Systems beobachteter, das heisst unterschiedener und bezeichneter Elemente zu arbeiten – im Falle beispielsweise des wirtschaftlichen Systems sind nur Elemente relevant, die hinsichtlich der Relation von Kosten und Nutzen beobachtet werden, Kriterien wie Schönheit oder Wahrheit können nicht ‹verstanden› bzw. verwendet werden. Dieses Prinzip, dass ein System die für das eigene Operieren benötigten Elemente selbst produziert und insofern geschlossen ist gegen aussen, bezeichnet der Terminus Autopoisesis (vgl. dazu auch den Beitrag von Elias Zimmermann im vorliegenden Heft bzw. Luhmann 1998: 66). In Kontrolliert wird dieser Formbegriff mehrmals erstaunlich präzise reformuliert, u.a. so: «Jedes Wort schliesst nämlich ausgesprochen alle Gegenteile, die es ausschliesst, nicht nur so ausgeschlossen ein, sondern schliesst sie auch wirklich aus und beharrt auf diesem Ausschluss. Deshalb bedeutet nicht jeder Satz und jede Geste 14 immer gleichzeitig das Gegenteil, sondern umgekehrt das Gegenteil vorwiegend gerade nicht.» (K 90) Damit wird die Rezeption Luhmanns angezeigt, vor allem aber wird, wenn hier der Verdacht mitschwingt, Worte könnten «immer gleichzeitig das Gegenteil» bedeuten, dessen Formbegriff Erklärungskraft attestiert. Gerade bei Fragen nach der Wirkung der eigenen Wörter und Sätze scheint dem Erzähler ein eingehender Blick auf die Systemtheorie lohnenswert. (ebd.: 69). Der Versuch, Wirklichkeit als solche zu erfassen, muss deswegen scheitern. Das weiss auch der Erzähler: «Die Beschreibung der gegebenen Lage ist ein solcher Versuch [...], der daran scheitert, dass die Beschreibung natürlich die Lage der Lage sofort verändert» (K 236). Methode Doch ist das dem Erzähler kein Argument dafür, das Erzählprojekt als gescheitert zu sehen oder dem Leser eine perspektivisch vervielfältigte und insofern doch einigermassen umfassende Schilderung des Zeitgeschehens bieten zu wolZeitgeschichte len. Selbstrelexion, -kritik und -relativierung, wie sie obsesWie lässt sich Zeitgeschichte erzählen, die so nahe ist, dass siv den ganzen Text durchziehen, erfüllen vielmehr eine Unbefangenheit unmöglich scheint? Dem Erzähler von durchwegs methodische Funktion im Sinne der SystemtheKontrolliert stellt sich genau dieses Problem: Wollte er ur- orie. Durch das Aufdecken der Unzulänglichkeit untersprünglich den «staatlichen Gesamtgebäudebau[ ]» (K 16) schiedlicher Erzählverfahren und -instanzen werden die rekonstruieren, steht er diesem ‹blinden Flecken› des eigenen Projekt bald ohnmächtig gegenSchreibens exponiert und die «Der Beobachter ist das ausgeschlosüber. Denn einerseits «schiesst der Operationsbasis des Textes releksene Dritte seines Beobachtens. Er Staat aus den Gewehren echte tiert. Dies entspricht der Fordekann sich selbst beim Beobachten Menschen tot» (K 15), andererrung Luhmanns (1998: 1095), «die seits verdanken «den StaatsschuTheoriemittel möglichst deutlich nicht sehen.» len [...] viele vieles, ich zum beizu explizieren und sie damit der spiel alles» (K 16). Gewalttätiger Widerstand oder zivilisie- Beobachtung auszusetzen», also dass die kritische Selbstrerende Saturierung, RAF oder Staatsgläubigkeit – die lexion immer Teil der Theorie selbst sein muss. «[W]as hier Schwierigkeiten politischer Parteinahme zwingen den Er- praktisch wissenschaftlich vorgeht» (K 117) – der Text als zähler, sein Zeitgeschichte-Projekt umfassend zu relektie- Akt der «Wirklichkeitserschliessung» – stabilisiert seinen unren. sicheren Status selbst, durch die stetige Aneinanderreihung Ein mögliches Vorgehen dazu stellt Multiperspektivität dar. von Relexion und Argument und gleichzeitig exponiert es Eine erste Reaktion auf das problematische Erzählprojekt seine Schwachpunkte. So lautet ein Verdikt beispielsweise: liegt in der Identiikation mit dem Terroristen Raspe, gefan- «Was denkt der Raspe, unvorstellbar. Ich bin nicht berechgen in der Justizvollzugsanstalt Stammheim: «Der Bau heisst tigt, mir was auszudenken.» (K 16). Stammheim, ich bin Raspe» (K 16), verkündet der Erzähler. «Luhmanns endlos verschachtelte Sätze, die ungewöhnliche Doch darauf folgt: «Ich war nicht Raspe» (ebd.) und «Iden- Terminologie, die aufs Paradoxe und Tautologische versestiikation mit einem Fremden war nicht möglich, das war der sene Stilistik» – in ihr erkennt Niels Werber (2000) einen so genannte Raspe Irrweg» (K 97). So wechselt die Perspek- Grund für Goetz’ Luhmann-Faszination – ist unter anderem tive fortlaufend; eben Behauptetes wird dementiert oder als dem methodischen Diktum der Selbstimplikation geschulLüge entlarvt – die erzählerische Selbstrelexion erfolgt als det: «Alles, was gesagt wird, kann nur unter der Bedingung Selbstkritik und die so entstehenden Widersprüche, sowohl gesagt werden, dass es auch für das Sagen selbst zutrifft.» inhaltlicher Art als auch das Erzählverfahren betreffende, (Luhmann 1998: 1132). In einer Welt von Systemen, die sich werden nicht aufgelöst, sondern vielmehr gesucht und ent- von Augenblick zu Augenblick stabilisieren und reproduziefaltet. ren, deren Ordnung höchst selektiv ist und aus denen man Damit wird dem Erzählverfahren ein dynamisches Moment nie ‹heraus› auf ‹die Wirklichkeit› durchgreifen kann, gilt gegeben, das wiederum bei Luhmann seine Rechtfertigung Luhmann (1987: 166) das Normale als das eigentlich Unindet: Wenn Systeme, so Luhmann (1998: 71), aus Kommu- wahrscheinliche und Theorie hat für ihn sodann die Aufganikation bestehen und anhand von Kommunikation operie- be, «Normales für unwahrscheinlich zu erklären.» ren – wobei jedwede Operation, die Informationen mitteilt, Das methodische Diktum der Selbstimplikation ist also unKommunikation ist –, die benötigten Operationselemente mittelbar relevant für eine Beschreibung von ‹Wirklichkeit› (mitgeteilte Informationen) aber jeweils im System autopoi- und Normalität. In Kontrolliert bedeutet das: kontinuierliche etisch hervorgebracht werden müssen, so bedeutet das, dass metatextuelle Relexion der vorgenommenen Beschreibung jede Kommunikation den Zustand des Systems verändert. des Zeitgeschehens, und so erscheint es dem Erzähler keiUnd das impliziert epistemologische Konsequenzen, denn neswegs «unvernünftig, gegen die Diktate gegen mich zu es heisst auch, dass ein Beobachter sich selbst nur retrospek- revoltieren, was allerdings zu Widersprüchen führt» (K 25). tiv, nicht aber während seiner Beobachtung beobachten kann: «der Beobachter ist das ausgeschlossene Dritte seines Beob- Terroristische Literatur achtens. Er kann sich selbst beim Beobachten nicht sehen.» Seit Goetz’ Klagenfurter Auftritt (vgl. den Beitrag von Han- expositionen 15 nes Mangold in diesem Heft), der von der Kritik u.a. eine «terroristische Tat» (Peter Hanenberg) genannt wurde, hat die Forschung Gemeinsamkeiten von Goetz’ literarischen Texten und Terrorismus herausgearbeitet. Als dem terroristischen Ereignis strukturell analog wird Kontrolliert beschrieben; mit Jean Baudrillard wird von der «Gewalt des Symbolischen» gesprochen; in der «Sättigung mit Relexion und Argument» (Hoeps 2001: 13) wird ein Abglanz des faszinierend-schrecklichen Terroraktes gesehen, der ein gewaltiges Zeichen setzt, ohne damit etwas zu meinen bzw. ohne eine Deutung dazu anzubieten (Weinhauer 2008) und dadurch das Ereignis – und hier liegt die Parallele zur Literatur – inkommensurabel macht. An einer ausserliterarischen Intensität, einer ver- und zerstörenden Wirkung auf den Leser, ist in Kontrolliert aber nicht, oder nur teilweise, gelegen. Denn anders betrachtet ist solche Imitation terroristischer Wirkung lesbar als Nachvollzug des Aktionismus der RAF – und als darauf folgende Dekonstruktion deren Operationslogik. Denn Kontrolliert schildert auch, wie eine statische RAF einem organisatorisch, analytisch und operationell lexibel agierenden Staat unterliegt. Zentral dabei ist dessen Fähigkeit, Widersprüche zu sichten und sie als ‹Normalität› zu integrieren (Werber 2000b). Widersprüche Normalität des Widerspruchs – Unwahrscheinlichkeit der Normalität; dergestalt verbindet sich in Kontrolliert der Topos Terrorismus mit systemtheoretischen Prämissen. Widersprüche und Paradoxien charakterisieren aus systemtheoretischer Perspektive die Wahrnehmung von Wirklichkeit grundlegend, denn diese ist stets doppelt kontingent: Die Kontingenz einer mitgeteilten Information durch den ‹Mitteilenden› wird erst durch den ebenfalls kontingenten Akt des Verstehens durch den ‹Rezipienten› abgeschlossen. Wahrgenommen wird eine Mitteilung jedoch nur, wenn sie ‹neu› ist, d.h. sie muss dadurch irritieren, dass sie sich von ‹allem anderen› abhebt. Damit ist jeder Mitteilung immer auch die ‹Möglichkeit des Anderen› gegeben. Erläuternd zieht Luhmann (1987: 204) Goethe heran: «Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn»; Goetz schreibt in ähnlicher Weise von dem «dauernde[n] Verdacht, den sie [die Worte] gegen sich selbst, indem sie sich sagen, erheben» (K 136). Widersprüche zu registrieren, das ist dem Erzähler geradezu der Sinn der Sprache: «Zur Prüfung legt man einfach nur das Stethoskop am Körper seiner Worte an und hört da ihre Seele ab nach all den Widersprüchen, deren ordentliches Protokoll zu sein die Aufgabe der Worte ist.» (K 50). Widersprüchlichkeit, auch logische Unvereinbarkeit ist in dieser Sichtweise kein ‹Fehler› oder eine Unmöglichkeit, sondern Grundzustand der Welt, problematisch ist sie nur für den Beobachter. Die «Protokolle» die u.a. mit Hilfe der eingangs erwähnten technischen Hilfsmittel wie Schreibmaschine oder Tonbandgerät angefertigt werden, zielen denn auch darauf, sich potentiell widersprechende Kommunikationen/ Operationen zu ixieren und ein Bild davon zu zeichnen, wie sie aneinander anschliessen. Die diesbezügliche Nähe zur Systemtheorie offenbart der Erzähler in Kontrolliert in seiner Erwähnung des Zettelkastens, der quasi indexikalisch auf Luhmanns Schaffen verweist; die Arbeit mit jenem ist «ebenso logisch [...] wie absurd» (K 127) und gerade dadurch produktiv. Programm «Draussen auf der Strasse sah ich den durch eine doppelte Spiegelung der Fensterwand und eines gegenüberliegenden Wandspiegels aus dem Baader[café] raus in die Mitte der Baaderstrasse gehängten Kronleuchter hängen, der mir plötzlich sagte, ein richtig gescheiter Text müsste praktisch als Programm der Poesie der Welt einmal wirklich zwei mal in ein Buch rein schwarz auf weiss gedruckt buchstäblich wortwörtlich wiederholt erscheinen, wie so vieles echte in der Wirklichkeit der Welt.» (K 141 f./2) Wirklichkeit ist immer und ausschliesslich doppelt kontingent gegeben: Die Weltsachverhalte treten doppelt gespiegelt auf; die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist immer eine systemgebundene, deswegen ist ‹Wirklichkeit› immer eine systeminterne Appräsentation, «Welt, ins Gehirn rein geschafft» (K 94). Dies sind die Voraussetzungen für das in Kontrolliert formulierte «Programm der Poesie der Welt». Kontingenz der Welt aber wird nicht gleichgesetzt mit ihrer Unerkennbarkeit. Denn Worte sind nicht einfach mangelhafte Abbilder der Welt, sie legen vielmehr fest, was als solche gelten kann. So wird die «Unwahrscheinlichkeit der Welt» erst durch Sprache «indirekt behandelt und erfasst» (K 64). Die Widersprüche und die Kontingenz werden damit gleichsam als Eigenschaft und Operationsbasis von Sprache ausgewiesen. Die Feststellung der kontingenten Doppelung von Welt müsste nun, so das Zitat, im Text selbst ersichtlich und gleichzeitig vollzogen werden. Das funktioniert aber nur, so macht der Text es vor, als Paradoxie: Der Text selbst muss gleich zweimal wortwörtlich in ein Buch rein. Ein solches Programm muss sich gewissermassen im Akt der Formulierung selbst vollziehen, oder nochmals mit Luhmann: «Alles, was gesagt wird, kann nur unter der Bedingung gesagt werden, dass es auch für das Sagen selbst zutrifft». Diese poetologische, und das heisst hier: methodologische, Prämisse weist über Kontrolliert hinaus. Die hier angezeigte «Ereignishaftigkeit der Schrift» (Petra Gropp) bzw. ihre Medialisierung, in der Schrift gleichsam zum Zeichen ihrer selbst wird, wird Rainald Goetz in späteren Texten zu realisieren versuchen; die poetologischen Grundlagen dafür hat er, basierend auf der Verarbeitung des bundesdeutschen Terrorismus und Niklas Luhmanns Systemtheorie, in Kontrolliert formuliert. 16 Goetz, Rainald 1988: Kontrolliert. Geschichte Goetz, Rainald/Terkessidis, Mark/Werber, Niels 1992: Schlagabtausch – Über Dissidenz, Systemtheorie, Postmoderne, Beobachter mehrerer Ordnungen und Kunst. In: Texte zur Kunst 7 (1992). 57-75 Hoeps, Thomas 2001: Arbeit am Widerspruch. «Terrorismus» in deutschen Romanen und Erzählungen (1837-1992) Luhmann, Niklas 1998: Die Gesellschaft der Gesellschaft Luhmann, Niklas 1987: Soziale Systeme Weinhauer, Klaus 2008: Terrorismus und Kommunikation. Forschungsstand und -perspektiven zum bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre. In: Colin, Nicole/de Graaf, Beatrice et al. (Hg.): Der ‹Deutsche Herbst› und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven. 109-170 Werber, Niels 2000: Benjamin, remixt. Dichter mittleren Alters lasen Suhrkamp-Denker in Hamburg. Im Internet unter: http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/ niels.werber/lesung.htm (Stand vom 10.04.2011). Werber, Niels 2000b: Intensitäten des Politischen. Gestalten souveräner und normalistischer Macht bei Rainald Goetz. In: Weimarer Beiträge 1 (2000). 105-120 * Fermin Suter studiert Germanistik und Soziologie an der Universität Bern. Der vorliegende Beitrag basiert auf Teilen seiner BA-Arbeit. expositionen 17 Die allmähliche Verfertigung der Beobachtung zweiter Ordnung Über Grundprinzipien intellektueller Produktion: Kleist, Luhmann und die Romantik Elias Zimmermann * D er Todestag von Heinrich von Kleist (1777-1811) wird dieses Jahr zum 200sten Mal begangen. Was hat der grosse Schriftsteller mit dem nicht minder grossen Soziologen Niklas Luhmann (1927-1998) gemeinsam? Erstaunlich vieles, haben sich doch beide für grundlegende Prinzipien interessiert, die intellektueller und künstlerischer Produktion zugrunde liegen. In diesem kurzen Essay sei der Spagat zwischen System- und Literaturtheorie gewagt. «Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht inden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenåkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen.» (Kleist 2005: 534). In Heinrich von Kleists Schrift Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805) wird eine verblüffende Beobachtung gemacht: Wenn man jemandem ein Problem schildert, so kommt man oft schneller auf dessen Lösung, als wenn man stundenlang alleine darüber brütet. So verblüffend diese Beobachtung prima vista ist, ihr psychologischer Gehalt ist nachvollziehbar und erscheint bei Lichte betrachtet keine Jahrhundertentdeckung zu sein. Was hingegen historisch gesehen in dieser Klarheit als neuartig verblüfft, ist die Beschreibung von Gedankengängen als selbstreferentieller, d.h. selbstbezüglicher Prozess. Eine systemische Kulturtheorie Was sind die Referenzpunkte dieser Beschreibung, welches wissenschaftstheoretische Paradigma waltet in ihrem Hintergrund? Fragen, die sich die germanistische Forschung zu wenig gestellt hat, und deren skizzenhafte Beantwortung hier komparatistisch – im Grenzbereich zwischen Germanistik, Systemtheorie und Philosophie – geschehen soll. Dabei wird nicht nur Niklas Luhmanns Systemtheorie herangezogen, sondern auch Hermann Burgers Poetik-Vorlesung Die allmähliche Verfertigung der Ideen beim Schreiben. In diesem Text wendet der Schriftsteller Burger Kleists Überlegungen auf sein eigenes literarisches Schaffen an. Zum Schluss sei am Beispiel der Romantik darauf verwiesen, wie Luhmann selber seine Theorie auf die Literaturgeschichte angewandt hat. Wir bewegen uns auf drei Ebenen: der Mikroebene des Denkprozesses, wie ihn Kleist beschreibt, der ‹Zwischenebene› des einzelnen künstlerischen Prozesses, den Burger als Schaffensprinzip seines Schreibens auffasst, und der Mak- roebene autonomer autopoietischer Systeme, wie sie Luhmann – unter anderem – für Konzepte ‹moderner› Kunst formuliert. Die Beobachtung von Gedanken Kleists Prinzip ist keine Mäeutik – die ‹Hebammenkunst› – von Sokrates, in der ein Lehrer einem Schüler mit gezielten Fragen auf die Sprünge hilft, er lehnt sie sogar bewusst zugunsten autonomeren Denkens ab (Kleist 2005: 540). Es ist auch keine scholastische oder dialektische Methode, die das Fortschreiten eines Gedankens durch die Erwägung von Pro- und Kontra-Argumenten voranbringen will. Und schon gar nicht verweist Kleists Analyse auf eine analytische, sprich zergliedernde und abstrahierende, Methode des Denkens, wie sie, vereinfacht gesagt, analytisch geprägte Philosophie seit Leibniz (1646-1716) propagiert. Kleist beschreibt vielmehr ein Denken, das sich selber überrascht: «Gedanken entstehen aus Gedanken, wenn sie sich von den Vorstellungen ihres Denkers befreien.» «Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, nur von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu inden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, dass die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.» (ebd.: 535). Das erinnert weniger an einen bewussten hermeneutischen Zirkel als an die idealistische Methodik eines Barons von Münchhausen, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Gedanken entstehen aus Gedanken, wenn sie sich von den Vorstellungen ihres Denkers befreien – und gerade das tun sie, wenn der Denkende gezwungen ist, sie 18 vor einem Zuhörer (der zudem immer potentiell Einspruch erheben kann) darzulegen. Der Beobachter zweiter Ordnung Kleist ist nicht nur einer der Ersten, die in dieser Klarheit einen selbstreferentiellen Prozess als eine sich selbst vervollständigende Struktur beschreiben, er wirft auch einen neuen Blick auf menschliche Kommunikation: Da die beschriebenen Gedankengänge nichts anderes als Beobachtungen ihrer selbst sind, wird Kleist zum Beobachter seiner Beobachtungen. Ein Prinzip, das er im Text Empindungen vor Friedrichs Seelandschaft (1990: 543f.) nicht nur auf sich selber, sondern auch auf andere anwendet. In seiner kunstphilosophischen Betrachtung indet ein ‹Umbruch der Wahrnehmung› statt, aber nicht nur im Sinne eines neuen Verhältnisses des Subjekts zum ‹Erhabenen›, wie sie Christian Begemann (1990) in einem Aufsatz beschreibt, sondern auch im Verhältnis von Betrachter und Kunst allgemein. Der Betrachter wird in einem ersten Schritt zum Beobachter seiner eigenen Empindungen vis-a-vis des Gemäldes von Friedrich, um in einem zweiten Schritt die anderen Betrachter zu beobachten und ihre Reaktionen mit den eigenen zu vergleichen. Betrachten wir hierzu Luhmanns Prinzip der Beobachtung zweiter Ordnung, wie er sie in Medium der Kunst (1995: 133) beschreibt: «Ein Sozialmedium kommt nur zustande, wenn Beteiligte beobachten können (oder zumindest unterstellen, dass sie beobachten können), was andere Beteiligte beobachten kön- Abbildung: Caspar David Friedrich Der Mönch am Meer nen. Es geht also immer um ein Beobachten zweiter Ordnung, um ein Beobachten von Beobachtungen, und eben darin liegt eine Chance der Ablösung von der konkreten Bindung an das, was sich jedem Beteiligten unmittelbar als Beobachtung aufdrängt.» Autopoiesis Neben dem Begriff der Selbstreferentialität bildet die Beobachtung zweiter Ordnung eines der beiden zentralen Paradigmen in Niklas Luhmanns Überlegungen zur Autonomie der Kunst. Der Soziologe Luhmann, ohne Kleist zu erwähnen, geschweige denn die allmählige Verfertigung vor Augen zu haben, schreibt zweihundert Jahre nach ihm: «Von Selbstorganisation kann man immer dann sprechen, wenn ein operativ geschlossenes System nur die eigenen Operationen zur Verfügung hat, um Strukturen aufzubauen, die es dann wiederverwenden, ändern oder auch nicht mehr benutzen und vergessen kann» (1995: 301). ‹Autopoietische Systeme› wiederum sind Systeme, die sich dieses Prinzip zu Nutze machen, indem sie einer Eigengesetzlichkeit des Stoffes folgen. Der Begriff Autopoiesis (altgriech. autos ‹selbst› und poiein ‹schaffen›, ‹bauen›) beschreibt einen Prozess der ‹Selbsterschaffung›. Er nimmt beispielsweise eine zentrale (und umstrittene) Stellung zur der Beschreibung von Organismen in der Biologie ein, ist aber auch für Kognitionstheorien und Neurologie ausschlaggebend – eine andere, wenn auch offensichtlich nicht inkompatible Sichtweise auf das Funktionieren menschlichen Denkens. Autopoiesis als kulturelles Prinzip schliesslich ist laut Luhmann ein Phänomen, dessen expositionen 19 Relevanz in der romantischen Literatur ihre erste Klimax erreicht hat und das sich bis heute als zentrales Strukturprinzip moderner Kunst fortentwickelt. beschrieben Gedankengängen. Als Mirabeau, der Vorsitzende der französischen Nationalversammlung, sich 1789, wie Kleist schreibt, erdreistet, dem König Paroli zu bieten, hat er seine Rede nicht mehr unter Kontrolle. Vielleicht ist es ein Kritik an der Autopoiesis kleiner äusserer Reiz, der ihn unbewusst aufgestachelt hat, Die Beobachtung der Beobachtung stellt sowohl das Beob- möglich dass es «das Zucken einer Oberlippe war, oder ein achtete als auch den Beobachtenden in Frage. Immer wieder zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den relektiert Literatur und Kunst Umsturz der Ordnung der Dindie eigene Relexion – auch als ge bewirkte.» (2005: 537). Der «[D]ie Weltliteratur saugt[ ] die MenKritik an ebendieser Relexion, autopoietische Vorgang wird schen aus, um dick gebläht fortzubewie sie sich abschätzig z.B. geausgelöst: Mirabeau weist die stehen.» gen ‹l’art pour l’art› wendet. Forderung des Königs zurück, Deswegen aber hört das System die Versammlung zu räumen. nicht auf, ihre Autopoiesis vorSeine spontane Rede ist der an zu treiben, ja es ist nach Luhmann gerade diese kritische ‹Donnerkeil›, der die französische Revolution auslöst, BefreiRelexion, das Infragestellen des autopoietischen Kunstbe- ung und Terreur zugleich, von Kleist immer wieder als griffes, was wiederum zu Kunst führt. fürchterliche Naturgewalt beschrieben. In Mirabeaus GeKritischer äussert sich Hermann Burger zur Selbstreferenti- dankengang, dessen Wirkung er später gerne rückgängig alität von Kultursystemen. Ohne sich auf Luhmann, umso gemacht hätte, tritt die Wirklichkeit zugunsten der Utopie mehr sich jedoch auf Kleist beziehend, erhebt Burger (1990: zurück, die Welt, wie sie war, verschwindet, so Kleist, hinter 92) in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Die allmähliche dem Ideal menschlicher Autonomie. Verfertigung der Ideen beim Schreiben die Eigengesetzlichkeit und Autopoiesis des Stoffes zu seinem zentralen, wenn auch Eine System-Theorie romantischer Kunst nicht unproblematischen Schaffensprinzip: «Wer nun glaubt, In seinem Aufsatz Eine Redeskription ‹romantischer Kunst› erder Autor habe [...] wirklich die freie Wahl, unterschätzt die klärt Luhmann literaturhistorische Bewegungen mit Hilfe Eigengesetztlichkeit des Stoffes.» Wie aber kann überhaupt seiner – ursprünglich soziologisch motivierten – Systemtheetwas entstehen, wenn dem Autor so wenig Macht zu- orie: «Der Übergang von hierarchisch ixierten, als Natur kommt? Burger fragt sich das selber: «Woher kommt eine beschriebenen Positionsordnungen zu einem Primat der UnIdee? Ich würde nach Kleist und dem Motto meiner Vorle- terscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz gilt als sung gemäß sagen: sie wird auf dem Papier erschrieben. Ja, charakteristisches, wenn nicht als das ausschlaggebende aber erst wenn ein Ansatz da ist, ein Angelpunkt, woran man Merkmal romantischer Literatur» (1996: 360). Mit ihrer sich festhalten kann.» (1990: 25). Die Umwelt tritt in auto- Selbstreferentialität zweifeln die frühen Romantiker, nicht poietische Systeme nur als etwas Zufälliges, als ein Reiz, ein zuletzt motiviert durch erkenntnistheoretische Kritik an ‹der willkürlicher Gedankensplitter ein und verändert sie. Burger Wirklichkeit› wie sie die idealistische Philosophie geäussert beschreibt es als schwer, die Kontrolle über sein Schaffen zu hat, an der Glaubwürdigkeit des Äusseren und internalisiewahren. Figuren und Stoffe in seinen Romanen würden sei- ren deshalb Probleme des ‹Anderen›. Es gibt sie nicht mehr, nem ursprünglichen Plan nicht folgen, tanzten ihm geradezu die Natur um uns herum, was bleibt sind unsere eigenen auf der Nase herum. Gefühle und Betrachtungen dessen, was jenseits des eigenen Ichs nie gänzlich veriizierbar ist – sei es, philosophisch geDas Verschwinden der Welt sprochen, das ‹Ding an sich› Kants oder das ‹Nicht-Ich› Eine andere Schwierigkeit ist das Schreiben angesichts der Fichtes. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass Kleist Fülle des bisher Geschriebenen. Burger als schreibender in seinen Empindungen vor Friedrichs Seelandschaft von der UnGermanist fühlt sich in einem Meer von literarischen Refe- möglichkeit spricht, sich in den abgebildeten Mönch hineinrenzen, in dem er die äussere Realität zu verlieren beginnt, zuversetzen. Die vermeintliche Unmittelbarkeit seiner Lander ertrinkt in der Selbstreferentialität des Literatursystems, schaftserfahrung kann für Kleist nur eine mittelbare sein, die «die Weltliteratur saugt[ ] die Menschen aus, um dick gebläht Unfähigkeit der Kunst, uns ein ‹reales› Erlebnis zu geben, fortzubestehen» (1990: 19). Luhmann (1995: 308) beschreibt widerspiegelt die Zweifel der Philosophie an der äusseren in Die Welt der Kunst den Verlust des Äusseren als eine innere Realität und ebenso die Selbstreferentialität von Kunst per Logik, als ‹das Verschwinden der Welt in der Kunst›: se. «Es ist, als ob das Kunstwerk uns zur Welt und Selbstvergessenheit, wenn ich das so überzogen sagen darf, einladen würde: wir sollen die Welt nicht sehen. Wir sollen das Kunstwerk bewundern und vergessen, dass damit etwas verdeckt wird.» Die Gefahren der Autopoiesis lauern auch in den von Kleist Autonomie und Modernität Man darf jedoch nicht einzig die Philosophie für den Aufschwung auotopoietischer Texte verantwortlich machen. Eine nicht minder grosse Rolle spielt etwa das neue Konzept des freien Schriftstellers, der nicht nur intellektuelle, sondern auch ökonomische Freiheit von den ihn umgebenden 20 Machtstrukturen anstrebt. Aber auch naturwissenschaftliche Vorstellungen wie beispielsweise Goethes Farbenlehre, die subjektives Farbempinden über physikalische Fakten stellt, sind Teil dieser Entwicklung. Auf literarischer Ebene gebiert der Paradigmen-Wechsel etwa den Identitäts-Horror der Schwarzen Romantik bei E.T.A Hoffmann oder Schlegels Verehrung der Poesie um «Es gibt sie nicht mehr, die Natur um uns herum, was bleibt sind unsere eigenen Gefühle und Betrachtungen dessen, was jenseits des eigenen Ichs nie gänzlich veriizierbar ist.» ihrer selbst willen. Worte bilden nicht mehr Äusserliches ab, sondern können sich nur noch auf sich selber beziehen. Nirgends kommt das stärker zum Ausdruck als in Novalis’ kurzem Text Monolog (1978), in dem er der Sprache absolute Autonomie, völlige Unabhängigkeit von der äusseren Welt beimisst. Unter diesem Aspekt liesse sich nun auch Kleist als Romantiker verstehen, dessen epochenspeziische Zuteilung ansonsten schwer fällt. Aber wie wir beispielsweise anhand von Burger sehen können, ist Autopoiesis nicht primär nur ein romantisches Prinzip, sondern ein grundlegendes Paradigma autonomer intellektueller Produktion – eine Produktionsform, die oft mit dem schwierigen Begriff der Modernität versehen wird. Ich habe zum Anfang von drei Ebenen gesprochen, durch die wir das Paradigma der Autopoiesis verfolgen: Intellektuelle Mikroprozesse, Prozesse der Kunstproduktion und kulturelle Makroprozesse. Diese drei Ebenen sind weder klar voneinander abzugrenzen noch qualitativ voneinander zu unterscheiden. Der hier skizzierte Ansatz beschreibt vielmehr ein universales Konzept hinter ihnen, das ein systemisches Verständnis von Kultur eröffnet. Begemann, Christian 1990: Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer. Aspekte eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64. 89-145 Burger, Hermann 1990: Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik-Vorlesung Kleist, Heinrich von 1990: Empindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Schriften. Hrsg. von Müller Salget, Klaus. 543-544 Kleist, Heinrich von 2005: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. An R. v. L. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Schriften. Hrsg. von Müller Salget, Klaus. 534-540 Luhmann, Niklas 1995: Die Kunst der Gesellschaft Luhmann, Niklas 1996: Eine Redeskription ‹romantischer Kunst›. In: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hg.): Systemtheorie der Literatur. 325-344 Novalis 1978: Monolog. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Mähl, Hans-Joachim/Samuel, Richard. 425-439 Friedrich, Caspar David 1808-1809: Der Mönch am Meer (Wanderer am Gestade des Meeres). Im Internet unter: http://images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/ kml2462a.jpg (Stand vom 27.3.2011) * Elias Zimmermann ist Master-Student der Germanistik (Major) und Philosophie (Minor) an der Universität Bern. Sein Interesse, welchem auch dieser Text entspringt, liegt insbesondere auf der Zeit der Romantik und Schnittmengen von Philosophie und neuerer deutscher Literaturwissenschaft. Die zugrundeliegende gleichnamige Seminararbeit wurde im Sommer 2010 am Institut für deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin verfasst. expositionen 21 Der Findling Antonio Piachi, ein wohlhabender Güterhändler in Rom, war genötigt, in seinen Handelsgeschäften zuweilen große Reisen zu machen. Er pflegte dann gewöhnlich Elvire, seine junge Frau, unter dem Schutz ihrer Verwandten, daselbst zurückzulassen. Eine dieser Reisen führte ihn mit seinem Sohn Paolo, einem eilfjährigen Knaben, den ihm seine erste Frau geboren hatte, nach Ragusa. Es traf sich, daß hier eben eine pestartige Krankheit ausgebrochen war, welche die Stadt und Gegend umher in großes Schrecken setzte. Piachi, dem die Nachricht davon erst auf der Reise zu Ohren gekommen war, hielt in der Vorstadt an, um sich nach der Natur derselben zu erkundigen. Doch da er hörte, daß das Übel von Tage zu Tage bedenklicher werde, und daß man damit umgehe, die Tore zu sperren; so überwand die Sorge für seinen Sohn alle kaufmännischen Interessen: er nahm Pferde und reisete wieder ab. Er bemerkte, da er im Freien war, einen Knaben neben seinem Wagen, der, nach Art der Flehenden, die Hände zu ihm ausstreckte und in großer Gemütsbewegung zu sein schien. Piachi ließ halten; und auf die Frage: was er wolle? antwortete der Knabe in seiner Unschuld: er sei angesteckt; die Häscher verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo sein Vater und seine Mutter schon gestorben wären; er bitte um aller Heiligen willen, ihn mitzunehmen, und nicht in der Stadt umkommen zu lassen. Dabei faßte er des Alten Hand, drückte und küßte sie und weinte darauf nieder. Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in eben diesem Augenblick, seine Farbe veränderte und ohnmächtig auf den Boden niedersank, so regte sich des guten Alten Mitleid: er stieg mit seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wußte, was er mit demselben anfangen sollte. Er unterhandelte noch, in der ersten Station, mit den Wirtsleuten, über die Art und Weise, wie er seiner wieder los werden könne: als er schon auf Befehl der Polizei, welche davon Wind bekommen hatte, arretiert und unter einer Bedeckung, er, sein Sohn und Nicolo, so hieß der kranke Knabe, wieder nach Ragusa zurück transportiert ward. Alle Vorstellungen von Seiten Piachis, über die Grausamkeit dieser Maßregel, halfen zu nichts; in Ragusa angekommen, wurden nunmehr alle drei, unter Aufsicht eines Häschers, nach dem Krankenhause abgeführt, wo er zwar, Piachi, gesund blieb, und Nicolo, der Knabe, sich von dem Übel wieder erholte: sein Sohn aber, der eilfjährige Paolo, von demselben angesteckt ward, und in drei Tagen starb. Die Tore wurden nun wieder geöffnet und Piachi, nachdem er seinen Sohn begraben hatte, erhielt von der Polizei Erlaubnis, zu reisen. Er bestieg eben, sehr von Schmerz bewegt, den Wagen und nahm, bei dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer blieb, sein Schnupftuch heraus, um seine Tränen fließen zu lassen: als Nicolo, mit der Mütze in der Hand, an seinen Wagen trat und ihm eine glückliche Reise wünschte. Piachi beugte sich aus dem Schlage heraus und fragte ihn, mit einer von heftigem Schluchzen unterbrochenen Stimme: ob er mit ihm reisen wollte? Der Junge, sobald er den Alten nur verstanden hatte, nickte und sprach: o ja! sehr gern; und da die Vorsteher des Krankenhauses, auf die Frage des Güterhändlers: ob es dem Jungen wohl erlaubt wäre, einzusteigen? lächelten und versicherten: daß er Gottes Sohn wäre und niemand ihn vermissen würde; so hob ihn Piachi, in einer großen Bewegung, in den Wagen, und nahm ihn, an seines Sohnes Statt, mit sich nach Rom. Auf der Straße, vor den Toren der Stadt, sah sich der Landmäkler den Jungen erst recht an. Er war von einer besonderen, etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hingen ihm, in schlichten Spitzen, von der Stirn herab, ein Gesicht beschattend, das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte. Der Alte tat mehrere Fragen an ihn, worauf jener aber nur kurz antwortete: ungesprächig und in sich gekehrt saß er, die Hände in die Hosen gesteckt, im Winkel da, und sah sich, mit gedankenvoll scheuen Blicken, die Gegenstände an, die an dem Wagen vorüberflogen. Von Zeit zu Zeit holte er sich, mit stillen und geräuschlosen Bewegungen, eine Handvoll Nüsse aus der Tasche, die er bei sich trug, und während Piachi sich die Tränen vom Auge wischte, nahm er sie zwischen die Zähne und knackte sie auf. In Rom stellte ihn Piachi, unter einer kurzen Erzählung des Vorfalls, Elviren, seiner jungen trefflichen Gemahlin vor, welche sich zwar nicht enthalten konnte, bei dem Gedanken an Paolo, ihren kleinen Stiefsohn, den sie sehr geliebt hatte, herzlich zu weinen; gleichwohl aber den Nicolo, so fremd und steif er auch vor ihr stand, an ihre Brust drückte, ihm das Bette, worin jener geschlafen hatte, zum Lager anwies, und sämtliche Kleider desselben zum Geschenk machte. Piachi schickte ihn in die Schule, wo er Schreiben, Lesen und Rechnen lernte, und da er, auf eine leicht begreifliche Weise, den Jungen in dem Maße lieb gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen war, so adoptierte er ihn, mit Einwilligung der guten Elvire, welche von dem Alten keine Kinder mehr zu erhalten hoffen konnte, schon nach wenigen Wochen, als seinen Sohn. Er dankte späterhin einen Kommis ab, mit dem er, aus mancherlei Gründen, unzufrieden war, und hatte, da er den Nicolo, statt seiner, in dem Kontor anstellte, die Freude zu sehn, daß derselbe die weitläuftigen Geschäfte, in welchen er verwickelt war, auf das tätigste und vorteilhafteste verwaltete. Nichts hatte der Vater, der ein geschworner Feind aller Bigotterie war, an ihm auszusetzen, als den Umgang mit den Mönchen des Karmeliterklosters, die dem jungen Mann, wegen des beträchtlichen Vermögens das ihm einst, aus der Hinterlassenschaft des Alten, zufallen sollte, mit großer Gunst zugetan waren; und nichts ihrerseits die Mutter, als einen früh, wie es ihr schien, in der Brust desselben sich regenden Hang für das weibliche Geschlecht. 22 Denn schon in seinem funfzehnten Jahre, war er, bei Gelegenheit dieser Mönchsbesuche, die Beute der Verführung einer gewissen Xaviera Tartini, Beischläferin ihres Bischofs, geworden, und ob er gleich, durch die strenge Forderung des Alten genötigt, diese Verbindung zerriß, so hatte Elvire doch mancherlei Gründe zu glauben, daß seine Enthaltsamkeit auf diesem gefährlichen Felde nicht eben groß war. Doch da Nicolo sich, in seinem zwanzigsten Jahre, mit Constanza Parquet, einer jungen liebenswürdigen Genueserin, Elvirens Nichte, die unter ihrer Aufsicht in Rom erzogen wurde, vermählte, so schien wenigstens das letzte Übel damit an der Quelle verstopft; beide Eltern vereinigten sich in der Zufriedenheit mit ihm, und um ihm davon einen Beweis zu geben, ward ihm eine glänzende Ausstattung zuteil, wobei sie ihm einen beträchtlichen Teil ihres schönen und weitläuftigen Wohnhauses einräumten. Kurz, als Piachi sein sechzigstes Jahr erreicht hatte, tat er das Letzte und Äußerste, was er für ihn tun konnte: er überließ ihm, auf gerichtliche Weise, mit Ausnahme eines kleinen Kapitals, das er sich vorbehielt, das ganze Vermögen, das seinem Güterhandel zum Grunde lag, und zog sich, mit seiner treuen, trefflichen Elvire, die wenige Wünsche in der Welt hatte, in den Ruhestand zurück. Elvire hatte einen stillen Zug von Traurigkeit im Gemüt, der ihr aus einem rührenden Vorfall, aus der Geschichte ihrer Kindheit, zurückgeblieben war. Philippo Parquet, ihr Vater, ein bemittelter Tuchfärber in Genua, bewohnte ein Haus, das, wie es sein Handwerk erforderte, mit der hinteren Seite hart an den, mit Quadersteinen eingefaßten, Rand des Meeres stieß; große, am Giebel eingefugte Balken, an welchen die gefärbten Tücher aufgehängt wurden, liefen, mehrere Ellen weit, über die See hinaus. Einst, in einer unglücklichen Nacht, da Feuer das Haus ergriff, und gleich, als ob es von Pech und Schwefel erbaut wäre, zu gleicher Zeit in allen Gemächern, aus welchen es zusammengesetzt war, emporknitterte, flüchtete sich, überall von Flammen geschreckt, die dreizehnjährige Elvire von Treppe zu Treppe, und befand sich, sie wußte selbst nicht wie, auf einem dieser Balken. Das arme Kind wußte, zwischen Himmel und Erde schwebend, gar nicht, wie es sich retten sollte; hinter ihr der brennende Giebel, dessen Glut, vom Winde gepeitscht, schon den Balken angefressen hatte, und unter ihr die weite, öde, entsetzliche See. Schon wollte sie sich allen Heiligen empfehlen und unter zwei Übeln das kleinere wählend, in die Fluten hinabspringen; als plötzlich ein junger Genueser, vom Geschlecht der Patrizier, am Eingang erschien, seinen Mantel über den Balken warf, sie umfaßte, und sich, mit eben so viel Mut als Gewandtheit, an einem der feuchten Tücher, die von dem Balken niederhingen, in die See mit ihr herabließ. Hier griffen Gondeln, die auf dem Hafen schwammen, sie auf, und brachten sie, unter vielem Jauchzen des Volks, ans Ufer; doch es fand sich, daß der junge Held, schon beim Durchgang durch das Haus, durch einen vom Gesims desselben herabfallenden Stein, eine schwere Wunde am Kopf empfangen hatte, die ihn auch bald, seiner Sinne nicht mächtig, am Boden niederstreckte. Der Marquis, sein Vater, in dessen Hotel er gebracht ward, rief, da seine Wiederherstellung sich in die Länge zog, Ärzte aus allen Gegenden Italiens herbei, die ihn zu verschiedenen Malen trepanierten und ihm mehrere Knochen aus dem Gehirn nahmen; doch alle Kunst war, durch eine unbegreifliche Schickung des Himmels, vergeblich: er erstand nur selten an der Hand Elvirens, die seine Mutter zu seiner Pflege herbeigerufen hatte, und nach einem dreijährigen höchst schmerzenvollen Krankenlager, während dessen das Mädchen nicht von seiner Seite wich, reichte er ihr noch einmal freundlich die Hand und verschied. Piachi, der mit dem Hause dieses Herrn in Handelsverbindungen stand, und Elviren eben dort, da sie ihn pflegte, kennen gelernt und zwei Jahre darauf geheiratet hatte, hütete sich sehr, seinen Namen vor ihr zu nennen, oder sie sonst an ihn zu erinnern, weil er wußte, daß es ihr schönes und empfindliches Gemüt auf das heftigste bewegte. Die mindeste Veranlassung, die sie auch nur von fern an die Zeit erinnerte, da der Jüngling für sie litt und starb, rührte sie immer bis zu Tränen, und alsdann gab es keinen Trost und keine Beruhigung für sie; sie brach, wo sie auch sein mochte, auf, und keiner folgte ihr, weil man schon erprobt hatte, daß jedes andere Mittel vergeblich war, als sie still für sich, in der Einsamkeit, ihren Schmerz ausweinen zu lassen. Niemand, außer Piachi, kannte die Ursache dieser sonderbaren und häufigen Erschütterungen, denn niemals, so lange sie lebte, war ein Wort, jene Begebenheit betreffend, über ihre Lippen gekommen. Man war gewohnt, sie auf Rechnung eines überreizten Nervensystems zu setzen, das ihr aus einem hitzigen Fieber, in welches sie gleich nach ihrer Verheiratung verfiel, zurückgeblieben war, und somit allen Nachforschungen über die Veranlassung derselben ein Ende zu machen. Einstmals war Nicolo, mit jener Xaviera Tartini, mit welcher er, trotz des Verbots des Vaters, die Verbindung nie ganz aufgegeben hatte, heimlich, und ohne Vorwissen seiner Gemahlin, unter der Vorspiegelung, daß er bei einem Freund eingeladen sei, auf dem Karneval gewesen und kam, in der Maske eines genuesischen Ritters, die er zufällig gewählt hatte, spät in der Nacht, da schon alles schlief, in sein Haus zurück. Es traf sich, daß dem Alten plötzlich eine Unpäßlichkeit zugestoßen war, und Elvire, um ihm zu helfen, in Ermangelung der Mägde, aufgestanden, und in den Speisesaal gegangen war, um ihm eine Flasche mit Essig zu holen. Eben hatte sie einen Schrank, der in dem Winkel stand, geöffnet, und suchte, auf der Kante eines Stuhles stehend, unter den Gläsern und Caravinen umher: als Nicolo die Tür sacht öffnete, und mit einem Licht, das er sich auf dem Flur angesteckt hatte, mit Federhut, Mantel und Degen, durch den Saal ging. Harmlos, ohne Elviren zu sehen, trat er an die Tür, die in sein Schlafgemach führte, und bemerkte eben mit Bestürzung, daß sie verschlossen war: als Elvire hinter ihm, mit Flaschen und Gläsern, die sie in der Hand hielt, wie durch einen unsichtbaren Blitz getroffen, bei seinem Anblick von dem Schemel, auf welchem sie stand, auf das Getäfel des Bodens niederfiel. Nicolo, von Schrecken bleich, wandte sich um und wollte der Unglücklichen beispringen; doch da das Geräusch, das expositionen 23 sie gemacht hatte, notwendig den Alten herbeiziehen mußte, so unterdrückte die Besorgnis, einen Verweis von ihm zu erhalten, alle andere Rücksichten: er riß ihr, mit verstörter Beeiferung, ein Bund Schlüssel von der Hüfte, das sie bei sich trug, und einen gefunden, der paßte, warf er den Bund in den Saal zurück und verschwand. Bald darauf, da Piachi, krank wie er war, aus dem Bette gesprungen war, und sie aufgehoben hatte, und auch Bediente und Mägde, von ihm zusammengeklingelt, mit Licht erschienen waren, kam auch Nicolo in seinem Schlafrock, und fragte, was vorgefallen sei; doch da Elvire, starr vor Entsetzen, wie ihre Zunge war, nicht sprechen konnte, und außer ihr nur er selbst noch Auskunft auf diese Frage geben konnte, so blieb der Zusammenhang der Sache in ein ewiges Geheimnis gehüllt; man trug Elviren, die an allen Gliedern zitterte, zu Bett, wo sie mehrere Tage lang an einem heftigen Fieber darniederlag, gleichwohl aber durch die natürliche Kraft ihrer Gesundheit den Zufall überwand, und bis auf eine sonderbare Schwermut, die ihr zurückblieb, sich ziemlich wieder erholte. So verfloß ein Jahr, als Constanze, Nicolos Gemahlin, niederkam, und samt dem Kinde, das sie geboren hatte, in den Wochen starb. Dieser Vorfall, bedauernswürdig an sich, weil ein tugendhaftes und wohlerzogenes Wesen verloren ging, war es doppelt, weil er den beiden Leidenschaften Nicolos, seiner Bigotterie und seinem Hange zu den Weibern, wieder Tor und Tür öffnete. Ganze Tage lang trieb er sich wieder, unter dem Vorwand, sich zu trösten, in den Zellen der Karmelitermönche umher, und gleichwohl wußte man, daß er während der Lebzeiten seiner Frau, nur mit geringer Liebe und Treue an ihr gehangen hatte. Ja, Constanze war noch nicht unter der Erde, als Elvire schon zur Abendzeit, in Geschäften des bevorstehenden Begräbnisses in sein Zimmer tretend, ein Mädchen bei ihm fand, das, geschürzt und geschminkt, ihr als die Zofe der Xaviera Tartini nur zu wohl bekannt war. Elvire schlug bei diesem Anblick die Augen nieder, kehrte sich, ohne ein Wort zu sagen, um, und verließ das Zimmer; weder Piachi, noch sonst jemand, erfuhr ein Wort von diesem Vorfall, sie begnügte sich, mit betrübtem Herzen bei der Leiche Constanzens, die den Nicolo sehr geliebt hatte, niederzuknieen und zu weinen. Zufällig aber traf es sich, daß Piachi, der in der Stadt gewesen war, beim Eintritt in sein Haus dem Mädchen begegnete, und da er wohl merkte, was sie hier zu schaffen gehabt hatte, sie heftig anging und ihr halb mit List, halb mit Gewalt, den Brief, den sie bei sich trug, abgewann. Er ging auf sein Zimmer, um ihn zu lesen, und fand, was er vorausgesehen hatte, eine dringende Bitte Nicolos an Xaviera, ihm, behufs einer Zusammenkunft, nach der er sich sehne, gefälligst Ort und Stunde zu bestimmen. Piachi setzte sich nieder und antwortete, mit verstellter Schrift, im Namen Xavieras: „gleich, noch vor Nacht, in der Magdalenenkirche.“ siegelte diesen Zettel mit einem fremden Wappen zu, und ließ ihn, gleich als ob er von der Dame käme, in Nicolos Zimmer abgeben. Die List glückte vollkommen; Nicolo nahm augenblicklich seinen Mantel, und begab sich in Vergessenheit Constanzens, die im Sarg ausgestellt war, aus dem Hause. Hierauf bestellte Piachi, tief entwürdigt, das feierliche, für den kommenden Tag festgesetzte Leichenbegräbnis ab, ließ die Leiche, so wie sie ausgesetzt war, von einigen Trägern aufheben, und bloß von Elviren, ihm und einigen Verwandten begleitet, ganz in der Stille in dem Gewölbe der Magdalenenkirche, das für sie bereitet war, beisetzen. Nicolo, der in dem Mantel gehüllt, unter den Hallen der Kirche stand, und zu seinem Erstaunen einen ihm wohlbekannten Leichenzug herannahen sah, fragte den Alten, der dem Sarge folgte: was dies bedeute? und wen man herantrüge? Doch dieser, das Gebetbuch in der Hand, ohne das Haupt zu erheben, antwortete bloß: Xaviera Tartini: - worauf die Leiche, als ob Nicolo gar nicht gegenwärtig wäre, noch einmal entdeckelt, durch die Anwesenden gesegnet, und alsdann versenkt und in dem Gewölbe verschlossen ward. Dieser Vorfall, der ihn tief beschämte, erweckte in der Brust des Unglücklichen einen brennenden Haß gegen Elviren; denn ihr glaubte er den Schimpf, den ihm der Alte vor allem Volk angetan hatte, zu verdanken zu haben. Mehrere Tage lang sprach Piachi kein Wort mit ihm; und da er gleichwohl, wegen der Hinterlassenschaft Constanzens, seiner Geneigtheit und Gefälligkeit bedurfte: so sah er sich genötigt, an einem Abend des Alten Hand zu ergreifen und ihm mit der Miene der Reue, unverzüglich und auf immerdar, die Verabschiedung der Xaviera anzugeloben. Aber dies Versprechen war er wenig gesonnen zu halten; vielmehr schärfte der Widerstand, den man ihm entgegen setzte, nur seinen Trotz, und übte ihn in der Kunst, die Aufmerksamkeit des redlichen Alten zu umgehen. Zugleich war ihm Elvire niemals schöner vorgekommen, als in dem Augenblick, da sie, zu seiner Vernichtung, das Zimmer, in welchem sich das Mädchen befand, öffnete und wieder schloß. Der Unwille, der sich mit sanfter Glut auf ihren Wangen entzündete, goß einen unendlichen Reiz über ihr mildes, von Affekten nur selten bewegtes Antlitz; es schien ihm unglaublich, daß sie, bei soviel Lockungen dazu, nicht selbst zuweilen auf dem Wege wandeln sollte, dessen Blumen zu brechen er eben so schmählich von ihr gestraft worden war. Er glühte vor Begierde, ihr, falls dies der Fall sein sollte, bei dem Alten denselben Dienst zu erweisen, als sie ihm, und bedurfte und suchte nichts, als die Gelegenheit, diesen Vorsatz ins Werk zu richten. Einst ging er, zu einer Zeit, da gerade Piachi außer dem Hause war, an Elvirens Zimmer vorbei, und hörte, zu seinem Befremden, daß man darin sprach. Von raschen, heimtückischen Hoffnungen durchzuckt, beugte er sich mit Augen und Ohren gegen das Schloß nieder, und - Himmel! was erblickte er? Da lag sie, in der Stellung der Verzückung, zu jemandes Füßen, und ob er gleich die Person nicht erkennen konnte, so vernahm er doch ganz deutlich, recht mit dem Akzent der Liebe ausgesprochen, das geflüsterte Wort: Colino. Er legte sich mit klopfendem Herzen in das Fenster des Korridors, von wo aus er, ohne seine Absicht zu verraten, den Eingang des Zimmers beobachten konnte; und schon glaubte er, bei einem Geräusch, das sich ganz leise am Riegel erhob, den unschätzbaren Augenblick, da er die Scheinheilige entlarven könne, gekommen: 24 als, statt des Unbekannten den er erwartete, Elvire selbst, ohne irgend eine Begleitung, mit einem ganz gleichgültigen und ruhigen Blick, den sie aus der Ferne auf ihn warf, aus dem Zimmer hervortrat. Sie hatte ein Stück selbstgewebter Leinwand unter dem Arm; und nachdem sie das Gemach, mit einem Schlüssel, den sie sich von der Hüfte nahm, verschlossen hatte, stieg sie ganz ruhig, die Hand ans Geländer gelehnt, die Treppe hinab. Diese Verstellung, diese scheinbare Gleichgültigkeit, schien ihm der Gipfel der Frechheit und Arglist, und kaum war sie ihm aus dem Gesicht, als er schon lief, einen Hauptschlüssel herbeizuholen, und nachdem er die Umringung, mit scheuen Blicken, ein wenig geprüft hatte, heimlich die Tür des Gemachs öffnete. Aber wie erstaunte er, als er alles leer fand, und in allen vier Winkeln, die er durchspähte, nichts, das einem Menschen auch nur ähnlich war, entdeckte: außer dem Bild eines jungen Ritters in Lebensgröße, das in einer Nische der Wand, hinter einem rotseidenen Vorhang, von einem besondern Lichte bestrahlt, aufgestellt war. Nicolo erschrak, er wußte selbst nicht warum: und eine Menge Gedanken fuhren ihm, den großen Augen des Bildes, das ihn starr ansah, gegenüber, durch die Brust: doch ehe er sie noch gesammelt und geordnet hatte, ergriff ihn schon Furcht, von Elviren entdeckt und gestraft zu werden; er schloß, in nicht geringer Verwirrung, die Tür wieder zu, und entfernte sich. Je mehr er über diesen sonderbaren Vorfall nachdachte, je wichtiger ward ihm das Bild, das er entdeckt hatte, und je peinlicher und brennender war die Neugierde in ihm, zu wissen, wer damit gemeint sei. Denn er hatte sie, im ganzen Umriß ihrer Stellung auf Knieen liegen gesehen, und es war nur zu gewiß, daß derjenige, vor dem dies geschehen war, die Gestalt des jungen Ritters auf der Leinwand war. In der Unruhe des Gemüts, die sich seiner bemeisterte, ging er zu Xaviera Tartini, und erzählte ihr die wunderbare Begebenheit, die er erlebt hatte. Diese, die in dem Interesse, Elviren zu stürzen, mit ihm zusammentraf, indem alle Schwierigkeiten, die sie in ihrem Umgang fanden, von ihr herrührten, äußerte den Wunsch, das Bild, das in dem Zimmer derselben aufgestellt war, einmal zu sehen. Denn einer ausgebreiteten Bekanntschaft unter den Edelleuten Italiens konnte sie sich rühmen, und falls derjenige, der hier in Rede stand, nur irgend einmal in Rom gewesen und von einiger Bedeutung war, so durfte sie hoffen, ihn zu kennen. Es fügte sich auch bald, daß die beiden Eheleute Piachi, da sie einen Verwandten besuchen wollten, an einem Sonntag auf das Land reiseten, und kaum wußte Nicolo auf diese Weise das Feld rein, als er schon zu Xavieren eilte, und diese mit einer kleinen Tochter, die sie von dem Kardinal hatte, unter dem Vorwande, Gemälde und Stickereien zu besehen, als eine fremde Dame in Elvirens Zimmer führte. Doch wie betroffen war Nicolo, als die kleine Klara (so hieß die Tochter), sobald er nur den Vorhang erhoben hatte, ausrief: „Gott, mein Vater! Signor Nicolo, wer ist das anders, als Sie?“ - Xaviera verstummte. Das Bild, in der Tat, je länger sie es ansah, hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit ihm: besonders wenn sie sich ihn, wie ihrem Gedächtnis gar wohl möglich war, in dem ritterlichen Aufzug dachte, in welchem er, vor wenigen Monaten, heimlich mit ihr auf dem Karneval gewesen war. Nocolo versuchte ein plötzliches Erröten, das sich über seine Wangen ergoß, wegzuspotten; er sagte, indem er die Kleine küßte: wahrhaftig, liebste Klara, das Bild gleicht mir, wie du demjenigen, der sich deinen Vater glaubt! - Doch Xaviera, in deren Brust das bittere Gefühl der Eifersucht rege geworden war, warf einen Blick auf ihn; sie sagte, indem sie vor den Spiegel trat, zuletzt sei es gleichgültig, wer die Person sei; empfahl sich ihm ziemlich kalt und verließ das Zimmer. Nicolo verfiel, sobald Xaviera sich entfernt hatte, in die lebhafteste Bewegung über diesen Auftritt. Er erinnerte sich, mit vieler Freude, der sonderbaren und lebhaften Erschütterung, in welche er, durch die phantastische Erscheinung jener Nacht, Elviren versetzt hatte. Der Gedanke, die Leidenschaft dieser, als ein Muster der Tugend umwandelnden Frau erweckt zu haben, schmeichelte ihn fast eben so sehr, als die Begierde, sich an ihr zu rächen; und da sich ihm die Aussicht eröffnete, mit einem und demselben Schlage beide, das eine Gelüst, wie das andere, zu befriedigen, so erwartete er mit vieler Ungeduld Elvirens Wiederkunft, und die Stunde, da ein Blick in ihr Auge seine schwankende Überzeugung krönen würde. Nichts störte ihn in dem Taumel, der ihn ergriffen hatte, als die bestimmte Erinnerung, daß Elvire das Bild, vor dem sie auf Knieen lag, damals, als er sie durch das Schlüsselloch belauschte: Colino, genannt hatte; doch auch in dem Klang dieses, im Lande nicht eben gebräuchlichen Namens, lag mancherlei, das sein Herz, er wußte nicht warum, in süße Träume wiegte, und in der Alternative, einem von beiden Sinnen, seinem Auge oder seinem Ohr zu mißtrauen, neigte er sich, wie natürlich, zu demjenigen hinüber, der seiner Begierde am lebhaftesten schmeichelte. Inzwischen kam Elvire erst nach Verlauf mehrer Tage von dem Lande zurück, und da sie aus dem Hause des Vetters, den sie besucht hatte, eine junge Verwandte mitbrachte, die sich in Rom umzusehen wünschte, so warf sie, mit Artigkeiten gegen diese beschäftigt, auf Nicolo, der sie sehr freundlich aus dem Wagen hob, nur einen flüchtigen nichtsbedeutenden Blick. Mehrere Wochen, der Gastfreundin, die man bewirtete, aufgeopfert, vergingen in einer dem Hause ungewöhnlichen Unruhe; man besuchte, in- und außerhalb der Stadt, was einem Mädchen, jung und lebensfroh, wie sie war, merkwürdig sein mochte; und Nicolo, seiner Geschäfte im Kontor halber, zu allen diesen kleinen Fahrten nicht eingeladen, fiel wieder, in Bezug auf Elviren, in die übelste Laune zurück. Er begann wieder, mit den bittersten und quälendsten Gefühlen, an den Unbekannten zurück zu denken, den sie in heimlicher Ergebung vergötterte; und dies Gefühl zerriß besonders am Abend der längst mit Sehnsucht erharrten Abreise jener jungen Verwandten sein verwildertes Herz, da Elvire, statt nun mit ihm zu sprechen, schweigend, während einer ganzen Stunde, mit einer kleinen, weiblichen Arbeit beschäftigt, am Speisetisch saß. Es traf sich, daß Piachi, wenige Tage zuvor, nach einer Schachtel mit kleinen, elfenbeinernen Buchstaben gefragt hatte, vermittelst welcher Nicolo in seiner Kindheit unterrichtet worden, und die dem Alten expositionen 25 nun, weil sie niemand mehr brauchte, in den Sinn gekommen war, an ein kleines Kind in der Nachbarschaft zu verschenken. Die Magd, der man aufgegeben hatte, sie, unter vielen anderen, alten Sachen, aufzusuchen, hatte inzwischen nicht mehr gefunden, als die sechs, die den Namen: Nicolo ausmachen; wahrscheinlich weil die andern, ihrer geringeren Beziehung auf den Knaben wegen, minder in Acht genommen und, bei welcher Gelegenheit es sei, verschleudert worden waren. Da nun Nicolo die Lettern, welche seit mehreren Tagen auf dem Tisch lagen, in die Hand nahm, und während er, mit dem Arm auf die Platte gestützt, in trüben Gedanken brütete, damit spielte, fand er - zufällig, in der Tat, selbst, denn er erstaunte darüber, wie er noch in seinem Leben nicht getan - die Verbindung heraus, welche den Namen: Colino bildet. Nicolo, dem diese logogriphische Eigenschaft seines Namens fremd war, warf, von rasenden Hoffnungen von neuem getroffen, einen ungewissen und scheuen Blick auf die ihm zur Seite sitzende Elvire. Die Übereinstimmung, die sich zwischen beiden Wörtern angeordnet fand, schien ihm mehr als ein bloßer Zufall, er erwog, in unterdrückter Freude, den Umfang dieser sonderbaren Entdeckung, und harrte, die Hände vom Tisch genommen, mit klopfendem Herzen des Augenblicks, da Elvire aufsehen und den Namen, der offen da lag, erblicken würde. Die Erwartung, in der er stand, täuschte ihn auch keineswegs; denn kaum hatte Elvire, in einem müßigen Moment, die Aufstellung der Buchstaben bemerkt, und harmlos und gedankenlos, weil sie ein wenig kurzsichtig war, sich näher darüber hingebeugt, um sie zu lesen: als sie schon Nicolos Antlitz, der in scheinbarer Gleichgültigkeit darauf niedersah, mit einem sonderbar beklommenen Blick überflog, ihre Arbeit, mit einer Wehmut, die man nicht beschreiben kann, wieder aufnahm, und, unbemerkt wie sie sich glaubte, eine Träne nach der anderen, unter sanftem Erröten, auf ihren Schoß fallen ließ. Nicolo, der alle diese innerlichen Bewegungen, ohne sie anzusehen, beobachtete, zweifelte gar nicht mehr, daß sie unter dieser Versetzung der Buchstaben nur seinen eignen Namen verberge. Er sah sie die Buchstaben mit einemmal sanft übereinander schieben, und seine wilden Hoffnungen erreichten den Gipfel der Zuversicht, als sie aufstand, ihre Handarbeit weglegte und in ihr Schlafzimmer verschwand. Schon wollte er aufstehen und ihr dahin folgen: als Piachi eintrat, und von einer Hausmagd, auf die Frage, wo Elvire sei? zur Antwort erhielt: „daß sie sich nicht wohl befinde und sich auf das Bett gelegt habe.“ Piachi, ohne eben große Bestürzung zu zeigen, wandte sich um, und ging, um zu sehen, was sie mache; und da er nach einer Viertelstunde, mit der Nachricht, daß sie nicht zu Tische kommen würde, wiederkehrte und weiter kein Wort darüber verlor: so glaubte Nicolo den Schlüssel zu allen rätselhaften Auftritten dieser Art, die er erlebt hatte, gefunden zu haben. Am andern Morgen, da er, in seiner schändlichen Freude, beschäftigt war, den Nutzen, den er aus dieser Entdeckung zu ziehen hoffte, zu überlegen, erhielt er ein Billet von Xavieren, worin sie ihn bat, zu ihr zu kommen, indem sie ihm, Elviren betreffend, etwas, das ihm interessant sein würde, zu eröffnen hätte. Xaviera stand, durch den Bischof, der sie unterhielt, in der engsten Verbindung mit den Mönchen des Karmeliterklosters; und da seine Mutter in diesem Kloster zur Beichte ging, so zweifelte er nicht, daß es jener möglich gewesen wäre, über die geheime Geschichte ihrer Empfindungen Nachrichten, die seine unnatürlichen Hoffnungen bestätigen konnten, einzuziehen. Aber wie unangenehm, nach einer sonderbaren schalkhaften Begrüßung Xavierens, ward er aus der Wiege genommen, als sie ihn lächelnd auf den Diwan, auf welchem sie saß, niederzog, und ihm sagte: sie müsse ihm nur eröffnen, daß der Gegenstand von Elvirens Liebe ein, schon seit zwölf Jahren, im Grabe schlummernder Toter sei. - Aloysius, Marquis von Montferrat, dem ein Oheim zu Paris, bei dem er erzogen worden war, den Zunamen Collin, späterhin in Italien scherzhafter Weise in Colino umgewandelt, gegeben hatte, war das Original des Bildes, das er in der Nische, hinter dem rotseidenen Vorhang, in Elvirens Zimmer entdeckt hatte; der junge, genuesische Ritter, der sie, in ihrer Kindheit, auf so edelmütige Weise aus dem Feuer gerettet und an den Wunden, die er dabei empfangen hatte, gestorben war. - Sie setzte hinzu, daß sie ihn nur bitte, von diesem Geheimnis weiter keinen Gebrauch zu machen, indem es ihr, unter dem Siegel der äußersten Verschwiegenheit, von einer Person, die selbst kein eigentliches Recht darüber habe, im Karmeliterkloster anvertraut worden sei. Nicolo versicherte, indem Blässe und Röte auf seinem Gesicht wechselten, daß sie nichts zu befürchten habe; und gänzlich außer Stand, wie er war, Xavierens schelmischen Blicken gegenüber, die Verlegenheit, in welche ihn diese Eröffnung gestürzt hatte, zu verbergen, schützte er ein Geschäft vor, das ihn abrufe, nahm, unter einem häßlichen Zucken seiner Oberlippe, seinen Hut, empfahl sich und ging ab. Beschämung, Wollust und Rache vereinigten sich jetzt, um die abscheulichste Tat, die je verübt worden ist, auszubrüten. Er fühlte wohl, daß Elvirens reiner Seele nur durch einen Betrug beizukommen sei; und kaum hatte ihm Piachi, der auf einige Tage aufs Land ging, das Feld geräumt, als er auch schon Anstalten traf, den satanischen Plan, den er sich ausgedacht hatte, ins Werk zu richten. Er besorgte sich genau denselben Anzug wieder, in welchem er, vor wenig Monaten, da er zur Nachtzeit heimlich vom Karneval zurückkehrte, Elviren erschienen war; und Mantel, Kollett und Federhut, genuesischen Zuschnitts, genau so, wie sie das Bild trug, umgeworfen, schlich er sich, kurz vor dem Schlafengehen, in Elvirens Zimmer, hing ein schwarzes Tuch über das in der Nische stehende Bild, und wartete, einen Stab in der Hand, ganz in der Stellung des gemalten jungen Patriziers, Elvirens Vergötterung ab. Er hatte auch, im Scharfsinn seiner schändlichen Leidenschaft, ganz richtig gerechnet; denn kaum hatte Elvire, die bald darauf eintrat, nach einer stillen und ruhigen Entkleidung, wie sie gewöhnlich zu tun pflegte, den seidnen Vorhang, der die Nische bedeckte, eröffnet und ihn erblickt: als sie schon: Colino! Mein Geliebter! rief und ohnmächtig auf das Getäfel des Bodens niedersank. Nicolo trat aus der Nische hervor; er stand einen Augenblick, im Anschauen ihrer Reize versunken, und betrachtete ihre zarte, unter dem Kuß des Todes plötzlich 26 erblassende Gestalt: hob sie aber bald, da keine Zeit zu verlieren war, in seinen Armen auf, und trug sie, indem er das schwarze Tuch von dem Bild herabriß, auf das im Winkel des Zimmers stehende Bett. Dies abgetan, ging er, die Tür zu verriegeln, fand aber, daß sie schon verschlossen war; und sicher, daß sie auch nach Wiederkehr ihrer verstörten Sinne, seiner phantastischen, dem Ansehen nach überirdischen Erscheinung keinen Widerstand leisten würde, kehrte er jetzt zu dem Lager zurück, bemüht, sie mit heißen Küssen auf Brust und Lippen aufzuwecken. Aber die Nemesis, die dem Frevel auf dem Fuß folgt, wollte, daß Piachi, den der Elende noch auf mehrere Tage entfernt glaubte, unvermutet, in eben dieser Stunde, in seine Wohnung zurückkehren mußte; leise, da er Elviren schon schlafen glaubte, schlich er durch den Korridor heran, und da er immer den Schlüssel bei sich trug, so gelang es ihm, plötzlich, ohne daß irgend ein Geräusch ihn angekündigt hätte, in das Zimmer einzutreten. Nicolo stand wie vom Donner gerührt; er warf sich, da seine Büberei auf keine Weise zu bemänteln war, dem Alten zu Füßen, und bat ihn, unter der Beteurung, den Blick nie wieder zu seiner Frau zu erheben, um Vergebung. Und in der Tat war der Alte auch geneigt, die Sache still abzumachen; sprachlos, wie ihn einige Worte Elvirens gemacht hatten, die sich von seinen Armen umfaßt, mit einem entsetzlichen Blick, den sie auf den Elenden warf, erholt hatte, nahm er bloß, indem er die Vorhänge des Bettes, auf welchem sie ruhte, zuzog, die Peitsche von der Wand, öffnete ihm die Tür und zeigte ihm den Weg, den er unmittelbar wandern sollte. Doch dieser, eines Tartüffe völlig würdig, sah nicht sobald, daß auf diesem Wege nichts auszurichten war, als er plötzlich vom Fußboden erstand und erklärte: an ihm, dem Alten, sei es, das Haus zu räumen, denn er durch vollgültige Dokumente eingesetzt, sei der Besitzer und werde sein Recht, gegen wen immer auf der Welt es sei, zu behaupten wissen! - Piachi traute seinen Sinnen nicht; durch diese unerhörte Frechheit wie entwaffnet, legte er die Peitsche weg, nahm Hut und Stock, lief augenblicklich zu seinem alten Rechtsfreund, dem Doktor Valerio, klingelte eine Magd heraus, die ihm öffnete, und fiel, da er sein Zimmer erreicht hatte, bewußtlos, noch ehe er ein Wort vorgebracht hatte, an seinem Bette nieder. Der Doktor, der ihn und späterhin auch Elviren in seinem Hause aufnahm, eilte gleich am andern Morgen, die Festsetzung des höllischen Bösewichts, der mancherlei Vorteile für sich hatte, auszuwirken; doch während Piachi seine machtlosen Hebel ansetzte, ihn aus den Besitzungen, die ihm einmal zugeschrieben waren, wieder zu verdrängen, flog jener schon mit einer Verschreibung über den ganzen Inbegriff derselben, zu den Karmelitermönchen, seinen Freunden, und forderte sie auf, ihn gegen den alten Narren, er ihn daraus vertreiben wolle, zu beschützen. Kurz, da er Xavieren, welche der Bischof los zu sein wünschte, zu heiraten willigte, siegte die Bosheit, und die Regierung erließ, auf Vermittelung dieses geistlichen Herrn, ein Dekret, in welchem Nicolo in den Besitz bestätigt und dem Piachi aufgegeben ward, ihn nicht darin zu belästigen. Piachi hatte gerade Tags zuvor die unglückliche Elvire begraben, die an den Folgen eines hitzigen Fiebers, das ihr jener Vorfall zugezogen hatte, gestorben war. Durch diesen doppelten Schmerz gereizt, ging er, das Dekret in der Tasche, in das Haus, und stark, wie die Wut ihn machte, warf er den von Natur schwächeren Nicolo nieder und drückte ihm das Gehirn an der Wand ein. Die Leute die im Hause waren, bemerkten ihn nicht eher, als bis die Tat geschehen war; sie fanden ihn noch, da er den Nicolo zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den Mund stopfte. Dies abgemacht, stand er, indem er alle seine Waffen abgab, auf; ward ins Gefängnis gesetzt, verhört und verurteilt, mit dem Strange vom Leben zum Tode gebracht zu werden. In dem Kirchenstaat herrscht ein Gesetz, nach welchem kein Verbrecher zum Tode geführt werden kann, bevor er die Absolution empfangen. Piachi, als ihm der Stab gebrochen war, verweigerte sich hartnäckig der Absolution. Nachdem man vergebens alles, was die Religion an die Hand gab, versucht hatte, ihm die Strafwürdigkeit seiner Handlung fühlbar zu machen, hoffte man, ihn durch den Anblick des Todes, der seiner wartete, in das Gefühl der Reue hineinzuschrecken, und führte ihn nach dem Galgen hinaus. Hier stand ein Priester und schilderte ihm, mit der Lunge der letzten Posaune, alle Schrecknisse der Hölle, in die seine Seele hinabzufahren im Begriff war; dort ein anderer, den Leib des Herrn, das heilige Entsühnungsmittel in der Hand, und pries ihm die Wohnungen des ewigen Friedens. - „Willst du der Wohltat der Erlösung teilhaftig werden?“ fragten ihn beide. „Willst du das Abendmahl empfangen?“ - Nein, antwortete Piachi. - „Warum nicht?“ - Ich will nicht selig sein. Ich will in den untersten Grund der Hölle hinabfahren. Ich will den Nicolo, der nicht im Himmel sein wird, wiederfinden, und meine Rache, die ich hier nur unvollständig befriedigen konnte, wieder aufnehmen! - Und damit bestieg er die Leiter und forderte den Nachrichter auf, sein Amt zu tun. Kurz, man sah sich genötigt, mit der Hinrichtung einzuhalten, und den Unglücklichen, den das Gesetz in Schutz nahm, wieder in das Gefängnis zurückzuführen. Drei hinter einander folgende Tage machte man dieselben Versuche und immer mit demselben Erfolg. Als er am dritten Tage wieder, ohne an den Galgen geknüpft zu werden, die Leiter herabsteigen mußte: hob er, mit einer grimmigen Gebärde, die Hände empor, das unmenschliche Gesetz verfluchend, das ihn nicht zur Hölle fahren lassen wolle. Er rief die ganze Schar der Teufel herbei, ihn zu holen, verschwor sich, sein einziger Wunsch sei, gerichtet und verdammt zu werden, und versicherte, er würde noch dem ersten, besten Priester an den Hals kommen, um des Nicolo in der Hölle wieder habhaft zu werden! - Als man dem Papst dies meldete, befahl er, ihn ohne Absolution hinzurichten; kein Priester begleitete ihn, man knüpfte ihn, ganz in der Stille, auf dem Platz del popolo auf. Heinrich von Kleist (* 10.10.1777; † 21.11.1811) expositionen 27 «Auf den Frost ist Verlass» Arno Camenischs Romane Sez Ner und Hinter dem Bahnhof – Eine Doppelbesprechung Manuela Heiniger * M it seinen beiden ersten Romanen bietet Arno Camenisch der Leserschaft humorvoll abgründige Einblicke in die bündnerische Provinz. Als Doppelbesprechung weist die vorliegende Kritik auf Kontinuitäten und Brüche in der Bibliographie des Surselver Newcommers hin. Gefeierter Jungautor Arno Camenisch, geboren 1978 in Tavanasa in Graubünden, indet in seinem Erstlingsroman Sez Ner, den er auf Deutsch und Romanisch (Sursilvan) geschrieben hat, einen eigenen Rhythmus und erreicht damit zahlreiche Leser. Er hielt bereits über 100 Lesungen von Salamanca bis Budapest, wird eifrig übersetzt, rezensiert, gekauft – die fünfte Aulage ging gerade in Druck – und prämiert. Arno Camenisch, der im Herbst 2010 sein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel abgeschlossen hat, hat für Sez Ner den ZKB Schillerpreis 2010 und den Berner Literaturpreis 2010 erhalten und war auf der Shortlist des Rauriser Literaturpreises 2010. Vollständige Übersetzungen liegen vor in Französisch, Italienisch und Rumänisch. In Verhandlung sind Übersetzungen ins Ungarische, Spanische, Litauische; auszugsweise ist Sez Ner ins Spanische, Englische, Chinesische, Ungarische und Litauische übertragen worden. Ebenfalls liegt ein vom Autor selbst gelesenes zweisprachiges Hörbuch zu Sez Ner vor – dasjenige zu Hinter dem Bahnhof erscheint im Herbst 2011 – und im Februar dieses Jahres wurde Sez Ner in Chur auf der Bühne uraufgeführt. Sez Ner – Nähe und Distanz Ein Senn, ein Zusenn, ein Kuhhirte und ein Schweinehirt sind die Hauptprotagonisten von Sez Ner, diesem eindrücklichen Bild eines Sommers auf einer Alp, wo einzig die mächtigen Berge, die pfeifenden Murmeltiere und die kreisenden Bussarde eine Idylle und Romantik suggerieren. Ansonsten herrscht ein raues Klima; Touristen erfrieren fast, gegessen wird mitunter hartes, schimmliges Brot und auch vor den Maden im Käse wird nicht zurückgeschreckt. Unter den Älplern herrscht eine klare Hierarchie, festzumachen etwa an der Sitzordnung im Auto, oder daran, dass der Senn dem Schweinehirten versichert, er werde es nie zu einem Senn bringen, denn «als Senn fällt man nicht vom Himmel, als Senn wird man geboren. Als Schweinehirte auch.» Die Hauptbeschäftigung des Senns liegt denn auch darin, Schnaps zu trinken und seine Hände in den Hosentaschen zu verstecken, damit sie in der Kälte nicht aufreissen. Er wird immer dicker und beschränkt sich darauf, den Käse im Käsekeller zu zählen – seinen ganzen Stolz. Arbeiten tun vorwiegend die anderen. Mit lakonischer Sprache, einfachen Hauptsätzen, eingestreuten Sentenzen und episodenhaften Sprüngen gelingt es Camenisch, Koinzidenzen zu schaffen, einzelne Episoden ohne kausalen Zusammenhang, die auch alleine für sich stehen könnten. Einzig das Personal und die Chronologie dieses Alpsommers halten das Geschehen zusammen. Dennoch schafft es Camenisch, ein stimmiges Gesamtbild zu zeichnen. So wird der Leser in einem Zug von kastrierten Hunden zu ins Bett pinkelnden Ziegen geführt, von Musik hörenden Kühen zu den immer wieder mit Ironie bedachten, fotograierenden, achtlosen Touristen und von einem Gleitschirmlug zu verdorbenem Käse. Dieses scheinbar absichtslose Nebeneinander von Episoden, die Verbindung von scheinbar Unvereinbarem, überträgt sich auch auf die Sprache selbst, nicht zuletzt in der Verwendung von Zeugmata: «Der Wind kommt auf und die Herde runter» oder «Der Regen putzt die Alp durch und den dreckigen Justy ab». Kommentarlos und vordergründig emotionslos wird erzählt, wie Hühner geköpft werden, einer Kuh der Gnadenschuss erteilt wird, der Zusenn mit der Hirtin im Heu verschwindet, Zähne ohne Betäubung gezogen oder Menschen im Dorf einfach überfahren werden. Doch durch die Liebe zum Detail wird ein Stimmungsbild geschaffen, welches einen zu berühren vermag. Alltägliches erscheint wertvoll und wichtig: wie die Hirtin die Wäsche auswindet, der Senn seine orangen Handschuhe aufbläst, die zwei Eigelbe eines einzigen Eis sich in der Bratpfanne vermischen, wie die nassen Socken in den Stiefeln «gluntschen». Camenisch hat eine Ausdrucksweise gefunden, eine mündliche Schriftlichkeit, die zum einfachen Leben und der Einsilbigkeit dieser Älper passt. Sätze wie «Die aufgeschürften Fingerknöchel brennen und das Kinn auch» oder die immer wieder eingestreuten Dialektausdrücke bringen dem Leser das Leben auf der Alp trotz grosser narrativer Distanz erstaunlich nah und die durch die sprunghafte Szenenhaftigkeit verursachte enorme Erzählgeschwindigkeit und die intensive Bildlichkeit lassen vergessen, dass hier eigentlich kein Plot, im Sinne einer kausal zusammenhängenden Geschichte, vorhanden ist. 28 Hinter dem Bahnhof – Idiome und Mängel In Sez Ner stehen das Romanische und das Deutsche noch nebeneinander, doch ist hier nicht einfach eine unidirektionale Übertragung vorhanden. Die Zweisprachigkeit erfüllt weitere Zwecke. Es geht um ein Miteinander, einen Austausch. Wie ein Echo in den Bergen hallt das Deutsche dem Romanischen entgegen und umgekehrt. In Hinter dem Bahnhof, Camenischs zweitem Erzählband, werden die beiden Idiome vermischt. Mit Begriffen wie «Svotsch», «Schnudderlumpe», «Coffertori», «Rövosch» und durch die Romanisierung von deutschen Wörtern durch den Plural-s wie etwa bei «Cätisägas» wird einem die tatsächliche Sprachenvielfalt und Vermischung am bündnerischen Schauplatz der Handlung näher gebracht. Wie im ersten Roman sind die Sätze auch hier unmittelbar und einfach, umso mehr, als der Ich-Erzähler in Hinter dem Bahnhof ein Kind ist. Der kindliche und unvoreingenommene Blick bietet aber auch Raum für Überraschendes, so wird beispielsweise der Inhalt des Urinbeutels im Spital zu Holundersirup. Die «Huaralümmels», der namenlose Erzähler und sein Bruder, machen einen «Seich» nach dem anderen, spielen Fangis im «Vögeli», zeichnen mit Nägeln Bilder in Autotüren, schwingen an Lampen durch die Stuben oder schmieren Ketchup in anderer Leute Schuhe. Camenischs zweiter Roman führt die Arbeit des Erstlings konsequent fort. Zwar steht jeder Text für sich, und doch gehören sie zusammen. Etliche Motive und ganze Geschehnisse tauchen wieder auf, die gleichen Situationen werden von einer anderen Seite beleuchtet und teilweise ausgeführt. Ein Wermutstropfen dabei: Das überraschende Element fehlt im zweiten Roman, das Schema ist etwas zu offensichtlich, der Text dem ersten Roman, dessen besondere Wirkung gerade in der überraschenden Bildhaftigkeit und Sprache lag, zu ähnlich. In Hinter dem Bahnhof wird ein analoger Stil gewählt: schnelles Erzähltempo, episodenhafte Darstellung, nüchterne Erzählweise. Auch inhaltlich bieten sich zahlreiche Vergleiche mit Sez Ner an. In beiden Texten spielen Tiere eine Hauptrolle, in beiden wird ein Jubiläum mit Musik gefeiert und in beiden wird sehr viel geraucht. In Sez Ner kommt ein «Natel» vor so gross wie ein Ruchbrot, in Hinter dem Bahnhof ein Kind so gross wie ein Weissbrot, dort erhält eine Kuh einen Gnadenschuss, hier der Fido. Hinter dem Bahnhof spielt im Dorf am Fusse der Alp aus Sez Ner, was dadurch deutlich wir, dass dieselbe Ziege, welche den Stall nie verlassen darf, wieder auftaucht, ebenso wie Lucas, der im Dorf überfahren wird. In beiden Texten geht es um das Verhältnis von Alp und Dorf, Oberländer und Unterländer, Früher und Heute und nicht zuletzt sind beide Romane dominiert von Deformationen und Mängeln. Der Zusenn hat nur acht Finger, der Grossvater gar nur siebeneinhalb. Die Beine der Grossmutter sind nicht gleich lang, sie braucht ein Hörgerät und sie trinkt, wie der Senn, gerne Schnaps. Der Rico hat zu viele Zähne, dem Lezi fehlt ein Daumen. Dem Jungen werden die Zähne auf die gleiche Weise und mit den gleichen Worten gezogen wie dem Kuhhirten in Sez Ner. In beiden Erzählungen fehlt der «Caretta» ein Arm, in beiden sind die Antennen an den Radios entweder geknickt oder abgebrochen und schliesslich fehlt dem Jesus am Kruziix weiterhin seine rechte Hand. Witz und Lakonie Es sind auch der Witz und die Lakonie – während einer Lesung von Camenisch noch viel deutlicher spürbar als beim stillen Lesen –, die beide Texte lesenswert machen, das Spielen mit der Sprache, die Eröffnung einer alltäglichen in sich geschlossenen Welt. In Hinter dem Bahnhof ist es zudem die Kindesperspektive auf eine Heimat, welche dem Text trotz einigem Schrecken eine gewisse Leichtigkeit verleiht. Etwas, was Camenisch in seinem zweiten Roman nicht weniger gelungen ist als in seinem melancholischeren Debüt, diesem Bild eines Alpsommers, in welchem einzig auf den Frost Verlass ist. Arno Camenisch, Sez Ner. Romanisch und Deutsch, Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2009, gebunden, 215 S., 36.– CHF Arno Camenisch, Sez Ner. Romanisch und Deutsch, Engeler Verlag, Holderbank 2010, Taschenbuch, 215. S., 19.– CHF Arno Camenisch, Hinter dem Bahnhoft, Engeler Verlag, Holderbank 2010, gebunden, 96 S., 25.– CHF http://www.arnocamenisch.ch * Manuela Heiniger hat Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Bern studiert und arbeitet zur Zeit ebenda als Doktorandin im Editionsprojekt der HKG Jeremias Gotthelf. expositionen 29 Zeugung, Kinder und bedrohte Männlichkeit Eine kulturwissenschaftliche Lesart von Wolf Haas’ Kriminalroman Der Brenner und der liebe Gott Joanna Nowotny * B renner ist im siebten Band von Wolf Haas’ Krimiserie nicht nur mit einer Entführung und mehreren Morden konfrontiert, sondern auch mit einer Armada von Vätern und solchen, die es gerne wären. Die Problematik rund um Zeugung und Elternschaft in Der Brenner und der liebe Gott wird hier als Symptom sozialer Gegebenheiten interpretiert. Eine Entführung und sieben Tote Herr Simon, so Brenners neuer Name, hat eine Stelle gefunden, die ihm zusagt. Der Ex-Polizist arbeitet als Chauffeur für das Ehepaar Kressdorf, einen österreichischen Bauunternehmer mit Geschäftssitz in München, und dessen Frau, die in Wien eine Abtreibungsklinik leitet. Gewissenhaft und dank seines Tablettenkonsums seelisch ausgeglichen kutschiert er deren dreijährige Tochter Helena zwischen München, Wien und einer Almhütte in Kitzbühel hin und her. Doch dann passiert das Unglück. Als er Helena im Auto allein lässt, um im Tankstellenshop umständlich eine Schokoladentafel auszuwählen, kommt sie ihm abhanden. Die Verwicklungen, die folgen, werden von Haas’ notorischem Erzähler auf gewohnt unterhaltsame Weise ausgebreitet: Brenner wird der Entführung bezichtigt, verliert seine Stelle und macht sich auf, den Täter selbst zur Strecke zu bringen. Er begegnet dem ihm wenig sympathischen Polizisten Peinhaupt, dem Bankdirektor Reinhard, der «Südtirolerin» Monika und einer Vielzahl anderer Personen. Die Meisten überleben die 200 Buchseiten nicht: Sieben Tote hat der siebte Brenner-Krimi zu verzeichnen. Versagende Väter In zweifacher Weise ist das Versagen eines Mannes als Vater – und so das Thema der Vaterschaft überhaupt – in Der Brenner und der liebe Gott zentral. Der Auslöser der Geschehnisse im Kriminalroman ist im Grunde, dass Brenner in den Augen einer Frau in seiner Rolle als Ersatzvater von Helena kläglich scheitert. Das Versagen eines Mannes als Vater ist auf einer zweiten Ebene für den Fall wesentlich: Ein genarrter Vater (dessen Name hier ausgespart bleiben soll), selbst zeugungsunfähig, wird zum Mörder, um «sich mit Gewalt wieder zum Vater zu machen» und «seine Tochter nicht nur als Person, sondern auch mit Haut und Haar zurück [zubekommen], quasi genmäßig.» Die Verbrechen in Der Brenner und der liebe Gott sind also das Ergebnis eines männlichen Feldzugs, genauer noch eines Versuchs, sich als Vater zu reetablieren, indem das Wissen um die eigene Zeugungsunfähigkeit und den Betrug der Ehefrau aus der Welt geschafft wird. Vaterschaft als Geschlechterkampf Schon die Vorbedingung der Vaterschaft, die Zeugung, entpuppt sich in Der Brenner und der liebe Gott als problematisch. In den Fällen, in denen sie gelingt, haben oft weder Väter noch Mütter besondere Freude an ihrem Resultat. Dass die Abtreibungsklinik von Frau Dr. Kressdorf als eines der lokalen und auch thematischen Zentren des Romans fungiert, ist bezeichnend: Es wimmelt im Text nur so von unerwünschten Kindern, häuig Produkt von Beziehungen, in denen zumindest die Männer nur sexuelle Befriedigung gesucht hatten. Vor allem diese ‹leiden› denn auch nicht zuletzt unter dem inanziellen Risiko, Vater zu werden; so zum Beispiel Brenner selbst, aber auch Reinhard und Peinhaupt, wobei Letzterer für nicht weniger als vier Kinder Alimente zu zahlen hat. Der ‹Störfaktor› Kind (Hilfsausdruck) wird am radikalsten in einer Urszene verbildlicht, in der Helena den Geschlechtsverkehr zwischen der Südtirolerin und Brenner stört. Die Frage nach der Vaterschaft wird zum hart umkämpften Territorium. Während Reinhard etwa die drohende Vaterschaft zu verhindern sucht, will der Mörder ihr vermeintlich biologisches Produkt an sich reissen; während Peinhaupt die Etablierung als Erzeuger und aus ihr erwachsende Verantwortlichkeiten meidet, strebt der Mörder sie wild entschlossen an. Der Kampf um die Vaterschaft nimmt dabei in Wolf Haas’ Krimi eine ganz besondere Form an. Er manifestiert sich deutlich als Kampf zwischen den Geschlechtern. Unzweifelhafte leibliche Vaterschaften sind in Der Brenner und der liebe Gott selten. Frauen setzen diese Fraglichkeit ein, um Männer vor allem inanziell zu manipulieren. Es scheint fast schon an der Tagesordnung, dass Mitglieder des ‹schwachen› Geschlechts den Männern Kuckuckskinder unterjubeln. Johanna zum Beispiel, eine Ex-Freundin von Brenner, lässt den Ermittler für die Alimente eines Kindes aufkommen, bis sie im «Grazer Finanzdirektor» eine weit bessere Quelle indet. Johanna spielt, so vermutet zumindest Brenner, sogar doppelt falsch. Nicht nur hat sie ihn selbst im Glauben gelassen, der Vater eines Kindes zu sein, das ein anderer gezeugt hat: «Hansi» – bezeichnenderweise eine männlich konnotierte Kurzform – hat es sogar geschafft, 30 von zwei Männern gleichzeitig Geld für ein Kind zu kassieren. Ein zweiter genarrter Vater indet den Tod, weil er beim Bergsteigen, also bei einer Tätigkeit, die mit der Zelebrierung von Männlichkeit in Verbindung gebracht werden kann, abstürzt, zudem ausgerechnet am «Matterhorn», einem ‹prominenten› Männlichkeitssymbol. Krisenhafte Männlichkeit Wer Vater ist und wer nicht, entscheiden in Der Brenner und der liebe Gott ausschliesslich die Frauen. Was dadurch zumindest auch verhandelt wird, ist eine Krise der Männlichkeit, wie sie in den letzten Jahrzehnten in der Forschung diskutiert wurde. Mit dem Niedergang der bürgerlichen, patriarchalisch strukturierten Kleinfamilie und der Emanzipation der Frau wurde der Status des Vaters in unserem Kulturraum unsicher. Nicht nur wird und wurde die männliche Ernährerposition zunehmend in Frage gestellt; die sexuelle Befreiung und die Aulösung traditioneller, auch religiös fundierter Bindungsmuster resultierten in alternativen Familienstrukturen, in denen der Mann als Vater nur mehr eine marginale oder jedenfalls nicht mehr die Hauptrolle einnimmt. Treffer zu sein. Im zweiten Kapitel versucht der «umgekehrte Adam» Peinhaupt erfolglos, diesem Umstand entgegenzuwirken und mittels Sterilisation wieder Eintritt ins Paradies der reproduktionsfreien Geschlechtlichkeit zu gewinnen. Die Erfolgsquote der Zeugung, wie sie für Peinhaupt, aber auch für andere haas’sche Männer typisch ist, steht in auffälligem Gegensatz zu heutigen Verhütungsmethoden, die es im Speziellen den Frauen erlauben, eine bis anhin unerreichte Kontrolle über die Fortplanzung auszuüben und eine unerwünschte Empfängnis zu verhindern. Diese neue weibliche Beherrschung der Domäne der Reproduktion kann als ein Aspekt der Krise der Männlichkeit verstanden werden. Zudem kontrastiert die eigentlich oft zu mühelose Reproduktion der haas’schen Männer mit der medial gut belegbaren Diskussion um die abnehmende männliche Fruchtbarkeit. Mit der Ernährerrolle hat auch die Erzeugerrolle des Mannes nicht nur an Wichtigkeit verloren, sondern, wenn man(n) die Debatten ernst nimmt, auch an Effektivität. Als Reaktion auf die ‹Krise› der Männer gibt es Bewegungen, die sich gegen eine von ihnen postulierte ‹Misandrie› in der heutigen Gesellschaft wenden. Es erstaunt denn auch nicht, dass in verschiedenen Ländern, zum Beispiel in Deutschland, der Schweiz und in Österreich, also Haas’ Heimatland, «Männerparteien» gegründet wurden, welche die Rechte der Männer vertreten, die sich hier als Opfer einer weiblich dominierten Gesellschaft verstehen. Ein Kernthema bildet dabei stets die Unsicherheit der Vaterschaft. Deutliche Worte indet zum Beispiel die Parteiführung der Wiener Sektion der Männerpartei, wenn sie unter ihren «Forderungen» als zweiten Punkt einen «Vaterschaftstest für Alle [sic!]» aulistet: «damit soll der Betrug der ahnungslosen Väter mit untergeschobenen Kuckuckskindern ein Ende haben.» Wenn in Der Brenner und der liebe Gott Männer als Spielbälle von Frauen präsentiert werden, die ihre Macht in Fragen der Fortplanzung schamlos ausnutzen, kann dies als Symptom männlicher Aversionen gegen die veränderten sozialen Bedingungen gewertet werden und entspricht Vorurteilen gegenüber Frauen, wie sie weit verbreitet sind. Nikotin und Hormone Zwei immer wieder genannte Faktoren, die die Spermienqualität anscheinend beeinträchtigen können, werden in Der Brenner und der liebe Gott eigens erwähnt. So weist Brenner in einer Szene einen «Baustellenbewacher» und Handlanger des Mörders darauf hin, «dass jahrzehntelanges Rauchen die Spermienqualität mindert», was der Angesprochene mit einem unverblümten Angriff auf Brenners Männlichkeit quittiert, indem er ihm einen Schlag zwischen die Beine versetzt. Des Weiteren wird die hormonelle ‹Verweiblichung› von Männern durch den Erzähler angesprochen, der sich fragt, «warum die Bierbauchmänner immer so eine hohe Stimme haben, angeblich die weiblichen Hormone im Hopfen, und dann kriegst du einen Busen und eine hohe Stimme als Mann […].» Aus den Medien allgemein bekannt ist die These, nach der weibliche Hormone vor allem im Trinkwasser eine Ursache für die nachlassende Spermienqualität sind. Konsequenzen scheint die Abnahme der männlichen Fortplanzungsfähigkeit trotz ihrer expliziten Erwähnung im Detektivroman nur sehr selten zu zeitigen, genauer noch nur in einem einzigen Fall – ein Umstand, der sich als Verdrängung der bedrohten Männlichkeit interpretieren lässt. Die Mühelosigkeit der Reproduktion wird an einer Stelle direkt thematisch, und zwar erneut dort, wo «das Kind [Helena] schon da» ist, noch bevor Brenner beim Verkehr mit Monika «richtig in Schwung» kommt. Es wirkt wie eine ironische Verbildlichung der tatsächlichen Gegebenheiten in Sachen Reproduktion im Text, wenn ein Kind sogar schon vor Abschluss des sexuellen Akts in einer Art Freudschen Urszene in das Zimmer des kopulierenden Paars stürmt. Hohe Erfolgsquote In Der Brenner und der liebe Gott wird die bedrohte Männlichkeit nicht nur verhandelt, indem sie als solche dargestellt wird; es lassen sich ebenso Anzeichen ihrer Verdrängung inden. Peinhaupt zum Beispiel ist ein erstaunlich erfolgreicher ‹Zeuger› – sozusagen jeder seiner Schüsse scheint ein (Sehr) kleine Männer Nicht nur Elemente der Handlungsebene lassen sich in das Paradigma der krisenhaften Männlichkeit einordnen; auch auf der Darstellungsebene indet sich reichlich Material, das in diesem Kontext von Interesse ist. Auffällig und relevant für den Themenkomplex rund um die Elternschaft ist zum «Wer Vater ist und wer nicht, entscheiden in Der Brenner und der liebe Gott ausschliesslich die Frauen.» expositionen 31 Beispiel die Art, in der Männer im Krimi verkleinert werden. Besonders Brenner wird in verschiedenen Lebenslagen als «kleines Kind», «Neugeborene[s]» oder «Embryo» beschrieben. Die infantilen Züge, die Brenner so anhaften, scheinen sich auch in seinem Verhältnis zu Frauen zu manifestieren. Der Ex-Detektiv beindet sich Mitgliedern des weiblichen Geschlechts gegenüber immer wieder in der Lage eines Kinds oder eben eines «Neugeborenen» und wird von ihnen bemuttert oder sexuell überrumpelt, wobei das eine auch unvermittelt in das andere umschlagen kann. Eine Metaphorik der Verkleinerung respektive Vergrösserung ist auch in der Wortwahl des Romans verankert: Das «Riesenland» ist ein ins schiefe Licht geratenes Bauprojekt Kressdorfs, um das sich die ganze Handlung dreht; die «Liliputbahn» ist ein Spielparadies für Kinder mit angegliedertem, äusserst zwielichtigem Café. Immer wieder wird mit dem Antagonismus der beiden Komposita gespielt, so zum Beispiel, wenn von den «Riesenland-Zwerge[n]» die Rede ist. Eine Entführung als Befruchtung Die Schlüsselmetaphorik des Texts bedient sich abermals aus dem Themenkreis rund um Schwangerschaft und Elternschaft. Die Entstehung neuen Lebens spielt eine den Detektivroman durch und durch strukturierende Rolle. Das ganze Verbrechen wird in Der Brenner und der liebe Gott bildlich mit einer Schwangerschaft gleichgesetzt, oder, um genauer zu sein, mit dem Beginn derselben. Die Handlung ist sorgfältig inszeniert; ihr Verlauf entspricht den hundert Stunden, nach denen die «Zone der Durchsichtigkeit» zerreist – Letztere ist die gläserne Haut der Eizelle, in der sich «Das Verbrechen wird bildlich mit einer Schwangerschaft gleichgesetzt.» der Samen bei der Befruchtung festsetzt. Das Bild der «Zone der Durchsichtigkeit» wird immer wieder im Kontext der Stundenzählung heraufbeschworen, die in die Katastrophe mit sieben Toten mündet. Die Metaphorik erfüllt offensichtlich den Zweck, auf witzige, wenn auch moralisch grenzwertige Weise zwei Themenkomplexe zu verbinden und die ‹Entführung› von Helena als Schwangerschaft zu imaginieren, die sozusagen durch einen Abort beendet werden muss. Man kann sich aber jenseits einer auf der Autorintention basierenden Deutung fragen, wieso die vorliegende Bildlichkeit dem Erzähler überhaupt zur Verfügung steht. Lässt sich die negative Konnotation von Schwangerschaft und Elternschaft, die sich in einer Vielzahl anderer, hier aussen vor gelassener Passagen des Romans ebenso nachweisen lässt, kulturwissenschaftlich fruchtbar machen? Ja, denn man kann sie als Widerspiegelung sozialer Tatsachen lesen. Eine Bildlichkeit, wie sie Wolf Haas verwendet, fusst auf einem Interpretationsspielraum, der sich erst in neuerer Zeit ergeben hat. Ihre Voraussetzung ist eine Sichtweise der Eltern- schaft als optionaler Lebensentwurf. Heute ist es für jedes Individuum unseres Kulturraums möglich geworden, die Elternschaft als nachteilig zu bewerten und mit diversen Hilfsmitteln zu vermeiden. Erst auf dieser Grundlage ist es denkbar, den Themenkreis auf derart verquere Weise zu behandeln oder, wenn man so will, zu verschandeln. Auf dieser Basis kann man behaupten, dass die sehr negative Darstellung des Themenkomplexes rund um Zeugung und Elternschaft in Der Brenner und der liebe Gott symptomatisch dafür ist, wie sich heutige Männer zur Familiengründung stellen können. „Forderungen der Männerpartei“ in der Sektion „Männerpartei“ auf „Wien – konkret“, im Internet unter: http://www.wien-konkret.at/politik/ maennerpartei/ (Stand vom 13.03.2011) Connell, Robert W. 2000: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten Haas, Wolf 2009: Der Brenner und der liebe Gott Hollstein, Walter 2008: Was vom Manne übrig blieb. Krise und Zukunft des starken Geschlechts Koschorke, Albrecht 2001: Die heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch * Joanna Nowotny studiert Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie im 10. Semester an den Universitäten Bern und Wien. Der vorliegende Text basiert auf einer Arbeit, die im Rahmen des Seminars Gegenwartsliteratur im Herbstsemester 2010 an der Universität Bern verfasst wurde. 32 Akzent auf die Standardsprachen Regionale Spuren in «Schweizerhochdeutsch» und «Français fédéral» M Marie-José Kolly * it ihrem fremdsprachlichen Akzent gibt eine Sprecherin ihre Herkunft, ihre Muttersprache preis. So werden die meisten Deutschschweizer beim Sprechen des Standarddeutschen oder des Französischen als solche erkannt. Kann aber aufgrund eines Akzents in diesen Sprachen auch erkannt werden, aus welchem Dialektgebiet der betreffende Deutschschweizer stammt? Dieser Beitrag stellt eine empirische Studie zur Perzeption dialektaler Akzente vor. «Klingt alles ziemlich nach: français fédérale [sic; Français fédéral bezeichnet im Alltagsgebrauch ein von Deutschschweizern gesprochenes, fehlerbehaftetes und/oder akzentbeladenes Französisch]». Diese spontane Äusserung eines Probanden erfolgte beim Anhören von Tonaufnahmen, auf welchen Schweizer Dialektsprecher Französisch sprechen. Zum einen wird damit ausgedrückt, dass die meisten Sprachproben einen dialektalen Akzent durchscheinen lassen; zum anderen lässt die Relativierung der Aussage durch ziemlich vermuten, dass es dabei Abstufungen gibt – sowohl in der Intensität, als auch in der Qualität der Akzente. Sprachen und insbesondere Zweit- sowie Fremdspracherwerb sind Element unserer Diskussion sowohl auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, als auch Thema am Kaffee-, Familien- oder Stammtisch. Wer mit offenen Ohren durch die Schweiz läuft, wird einer Vielzahl von verschiedenen Akzenten begegnen. Das Deutsch eines italienischsprachigen Tessiners hört sich ganz anders an als das eines Romands – spricht auch eine Bündner Dialektsprecherin ein anderes Standarddeutsch als eine Zürcherin? Bestimmen also die vielen unterschiedlichen Deutschschweizer Dialekte, die Muttersprache der Mehrheit der Schweizer, unseren Akzent in der Schweizer Variante des Standarddeutschen, dem Schweizerhochdeutschen, mit? Für die meisten Dialektsprecher ist die deutsche Standardsprache nicht gerade eine Fremdsprache, aber doch eine Art Zweitsprache, eine «erweiterte» (Häcki Buhofer/Burger 1998: 137) Form ihrer Muttersprache. Wie steht es mit der ersten Fremdsprache, welche die meisten Deutschschweizer lernen, dem Französischen? Hat ein Westschweizer Dialektsprecher, so wie es das Zitat oben erwarten lässt, eine andere Aussprache, spricht er eine andere Variante des Français fédéral, als ein Ostschweizer? Einen Ansatz zur Beantwortung solcher Fragen können Perzeptionsexperimente leisten. Dafür wurden acht Sprecher aus zwei Schweizer Dialektgebieten, Stadtberner und StadtSt.-Galler, auf Standarddeutsch und Französisch aufgenom- men. Beide Sprachen wurden von allen Sprechern in der Schule gelernt und regelmässig gesprochen. Diese Tonaufnahmen wurden in einem Experiment 60 deutschsprachigen und 20 frankophonen Probanden vorgespielt, welche die jeweiligen Sprachproben nach Akzentstärke und dialektaler Herkunft der Sprecher beurteilen sollten. Akzent – woraus besteht er und was verrät er? Die Stärke eines Akzents in der Fremdsprache hängt von vielen Faktoren ab; erheblichen Einluss scheinen nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen affektive Variablen wie die Einstellung zur Fremdsprache, subjektive Identitätsgefühle und Konzepte wie die ego permeability auszuüben. «Bouffer à gogo – Buffet à gogo?» Der globale Hörereindruck eines fremdsprachlichen Akzents entsteht durch das Zusammenwirken segmentaler, silbischer und prosodischer Abweichungen von der Zielaussprache, mitbewirkt durch negativen Transfer aus der Muttersprache. Segmentale Abweichungen entstehen beim Ersetzen eines Lauts durch einen anderen; suprasegmentale schliessen Fehler beim Setzen von Wort- und Satzakzenten, bei der Silbenreduktion, der Realisierung von Sprachrhythmus und Intonationsmustern sowie weitere Aspekte mit ein und können die Verständlichkeit einer Äusserung gelegentlich stark beeinträchtigen. So wurde die Verfasserin des vorliegenden Beitrags beim Besuch eines asiatischen Restaurants in Fribourg durch die Frage der Bedienung, ob das Essen so in Ordnung sei, oder ob «bouffer à gogo» (frz.: ‹fressen nach Belieben›) bevorzugt würde, einigermassen verblüfft. Dieser stilistische Fehlgriff scheint in einem Kontext, wo der Ausdruck «manger à discrétion» erwartet wird, grotesk bis respektlos – und umso erstaunlicher, da die Sprecherin ansonsten liessend Französisch spricht. Gemeint war vermutlich «buffet à gogo» (frz.: ‹Buffet nach Belieben›); die expositionen 33 unglückliche Fehldeutung erfolgt aufgrund der Aussprache von buffet [byfε] als [bufe], möglicherweise gekoppelt an prosodische Abweichungen von der Zieläusserung. Auch für Schweizer Sprecherinnen kann davon ausgegangen werden, dass bei der Aussprache der deutschen und französischen Standardsprache dialektale Interferenzen auftreten. Das Berndeutsche enthält im Gegensatz zum Standarddeutschen vermehrt offene Vokale, im St. Galler Dialekt werden die Vokale dagegen eher geschlossen, vereinzelt sogar geschlossener als in der standarddeutschen Lautung gesprochen. Das Phonem /a/ wird in Bern hinten im Vokaltrakt realisiert, im Standarddeutschen in der Mitte des Vokaltrakts und in St. Gallen vorne. Auch für den /r/-Laut sind Unterschiede zu erwarten, da er in Bern alveolar, in St. Gallen uvular oder als Approximant gesprochen wird (vgl. Siebenhaar 1994). Leemann/Siebenhaar (2008: 524) stellen prosodische Unterschiede zwischen dem Bern- und dem Zürichdeutschen fest; solche Unterschiede können folglich auch zwischen dem Berner und dem St. Galler Dialekt erwartet werden. Weiter ist davon auszugehen, dass sich die hier nur exemplarisch genannten Unterschiede ebenso auf die Aussprache des Französischen auswirken. Schweizerhochdeutsch ist nicht gleich Schweizerhochdeutsch «Ich muss immer wieder die Sprache, die ich rede, verlassen, um eine Sprache zu inden, die ich nicht reden kann, denn wenn ich Deutsch rede, rede ich es mit einem berndeutschen Akzent, so wie ein Wiener Deutsch mit einem wienerischen Akzent spricht oder ein Münchner mit einem bayrischen Akzent. Ich rede langsam. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, und die Bauern reden auch langsam. Mein Akzent stört mich nicht. Ich bin in guter Gesellschaft.» Dürrenmatt (1967/1998: 123) Wo die etwas ältere Forschung für die Identiizierbarkeit eines Akzents die segmentale Information wichtiger einstufte als prosodische Aspekte, wird in aktuelleren Publikationen die Schlüsselrolle der Prosodie betont. Insbesondere weist eine Studie von Leemann/Siebenhaar (2008) nach, dass Dialektsprecher aus Bern, Zürich und dem Wallis rein aufgrund ihrer Prosodie identiiziert werden können. Ebenso gibt es Evidenz dafür, dass native speakers eines Schweizer Dialekts über mentale und visuelle Repräsentationen der lautlichen Charakteristika ihrer Nachbardialekte verfügen (vgl. z. B. Berthele 2010: 254–262). Dies führt zur folgenden, oben schon angedeuteten HYPOTHESE: Wenn ein Deutschschweizer Standarddeutsch (Schweizerhochdeutsch) oder Französisch spricht, kann ein native speaker eines Schweizer Dialekts hören, aus welcher Dialektregion der Sprecher stammt. Insbesondere können so Sprecher aus zwei verschiedenen Dialektregionen rein aufgrund ihres Akzents im Standarddeutschen oder Französischen unterschieden werden. Dürrenmatts Zitat antizipiert die Resultate des oben beschriebenen Perzeptionsexperiments: Der berndeutsche sowie der St. Galler Akzent in den standarddeutschen Sprachproben konnten im Durchschnitt jeweils von etwa 50% der Probandinnen erkannt werden. Die Frage nach der regionalen Herkunft der Sprecher war frei gestellt worden, akzeptiert wurden aufgrund der Lautstrukturen der Schweizer Dialektlandschaft die Antworten Bern, Solothurn, Freiburg bzw. St. Gallen, Thurgau, Schaffhausen, Appenzell, (Nord )Ostschweiz. Interessanterweise wurden die Berner Sprecher meist als Berner erkannt, die St. Galler jedoch mehrheitlich als Ostschweizer – dieses Resultat deckt sich mit Christens (2010: 277–278) Untersuchung, die den speziellen Status der Kategorie Ostschweiz, welche als Dialektbenennung in ähnlicher Weise wie Kantonsbezeichnungen und sehr viel häuiger als andere Namen von Landesteilen (Westschweiz, Nordschweiz usw.) verwendet wird, bestätigt. Aufgrund der französischen Sprachproben ergibt sich eine Identiikationsrate von 30%; diese Resultate von 50% bzw. 30% dürfen im Vergleich zu vorausgehenden Perzeptionsstudien als sehr positiv gewertet werden und bestätigen die oben formulierte Hypothese zumindest fürs Standarddeutsche, da die Frage nach der dialektalen Herkunft der Sprecher hier frei gestellt wurde – vergleichbare Untersuchungen «Dialektale Akzente werden in den französischen Sprachproben weniger differenziert wahrgenommen als in den standarddeutschen.» erzielen durchschnittliche Identiikationsraten von 36% (Einordnung nach Himmelsrichtung, regionale Akzente, vgl. Bauvois 1996) oder über 50% (multiple-choice-Aufgabe, genuin fremdsprachliche Akzente, vgl. Boula de Mareuïl 2008). Dass letzteres Untersuchungsdesign höhere Erkennungsraten generiert als eine offene Frage, ist offensichtlich. Die Kategorisierung der freien Antworten nach einem globaleren West/Ost-Gegensatz fördert eine durchschnittliche Identiikationsrate von fast 60% der standarddeutschen Sprachproben zu Tage. Beim Französisch sprechen konnten die Sprecherinnen von rund 40% der Probanden als Westbzw. Ostschweizer erkannt werden. Dies unterstreicht die Wahrnehmbarkeit eines dialektalen Akzents, der ‹hinter› dem Standarddeutschen und Französischen vieler Schweizer Dialektsprecher hindurchscheint. Die Probanden sind mit Französisch sprechenden Deutschschweizerinnen weniger vertraut als mit Standarddeutsch sprechenden; so werden die Akzente in den französischen Sprachproben auch weniger differenziert wahrgenommen: «[I]n der französischen Schweiz gibt es viele Deutschschweizer, die so reden, wie ich rede, vor allem viele, die so französisch reden, wie ich französisch rede, rede ich französisch» (Dürrenmatt 1967/1998: 120). 34 Bauvois, Cécile 1996: Parle-moi, et je te dirai peut-être d’où tu es. In: Revue de Phonétique Appliquée 121. 291–309 Berthele, Raphael 2010: Der Laienblick auf sprachliche Varietäten. Metalinguistische Vorstellungswelten in den Köpfen der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer. In: Anders, Christina Ada/ Hundt, Markus/Lasch, Alexander (Hg.): «Perceptual dialectology». Neue Wege der Dialektologie. 245–267 Boula de Mareuïl, Philippe u. a. 2008: Accents étrangers et régionaux en français. Caractérisation et identiication. In: Traitement Automatique des Langues 49/3. 135–163 Christen, Helen 2010: Was Dialektbezeichnungen und Dialektattribuierungen über alltagsweltliche Konzeptualisierungen sprachlicher Heterogenität verraten. In: Anders, Christina Ada/Hundt, Markus/ Lasch, Alexander (Hg.): «Perceptual dialectology». Neue Wege der Dialektologie. 269–290 Dürrenmatt, Friedrich 1967/1998: Persönliches über Sprache. In: ders.: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden Häcki Buhofer, Annelies/Burger, Harald 1998: Wie Deutschschweizer Kinder Hochdeutsch lernen. Der ungesteuerte Erwerb des gesprochenen Hochdeutschen durch Deutschschweizer Kinder zwischen sechs und acht Jahren Hove, Ingrid 2002: Die Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz Leemann, Adrian/Siebenhaar, Beat 2008: Perception of Dialectal Prosody. In: Proceedings of Interspeech 2008, Brisbane 22.–26.9.2008. 524–527 Siebenhaar, Beat 1994: Regionale Varietäten des Schweizerhochdeutschen. Zur Aussprache des Schweizerhochdeutschen in Bern, Zürich und St. Gallen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Lingustik 61/1 (1994). 31–65 * Marie-José Kolly hat an der Universität Bern Germanistik und Mathematik studiert. Zurzeit ist sie am Institut für Germanistik beschäftigt. Der vorliegende Text basiert auf einem Teil ihrer Masterarbeit. expositionen 35 Zwischen Eigenem und Fremdem «Chinesische Religion» in Berichten katholischer China-Missionare, 1550–1700 I Nadine Amsler * n der Frühen Neuzeit brachten die Patres der katholischen China-Mission nicht nur das Christentum nach China, sondern eigneten sich auch Wissen über das Reich der Mitte an. In ihren ChinaDarstellungen, die für eine entstehende Leseöffentlichkeit in Europa publiziert wurden, beschrieben die Missionare auch «chinesische Religion». Beobachtung und Deutung traten dabei in ein komplexes Wechselverhältnis; im Kontext von sich wandelndem europäischem Wissen und Urteilen über China veränderten sich auch missionarische Beschreibungen «chinesischer Religion». Die katholischen Missionare, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts China erreichten, betrachteten dieses als einen grossen «Rebgarten Gottes». Für die römische Kirche, die in Europa viele Seelen an die «Häresie» des Protestantismus verloren hatte, wollten sie hier eine reiche «Christen-Ernte» einbringen. Doch die Missionare, die den verheissungsvollen Garten betraten, verliessen damit auch die wohlgeordnete Welt der christianitas: China war zwar, darin war man sich im Europa der Frühen Neuzeit einig, ein wohlhabendes und zivilisiertes Reich; es war aber auch Heimstatt des Aberglaubens (superstitio) und des Götzendiensts (idolatria). Die Missionare kämpften nicht nur gegen diese falschen Religionen (falsae religiones), sondern versuchten auch, sich Wissen darüber anzueignen, sie zu beschreiben und zu ordnen. Sie berichteten darüber in ihren China-Darstellungen (Relationen), die in Europa als Werbung für die China-Mission publiziert wurden und an eine religiöse und gelehrte Leseöffentlichkeit adressiert waren. Der Rahmen, innerhalb dessen die Missionare mit «chinesischer Religion» in Kontakt kamen, veränderte sich zwischen 1550 und 1700. In einer ersten Phase nahmen Missionare von der südchinesischen Küste aus an kurzen Handels-Exkursionen ins Innere Chinas teil. Sie versuchten dabei erfolglos Niederlassungen zu gründen. Dies änderte sich um 1600, als es einigen Jesuiten dank ihrer Strategie der Anpassung an Sprache, Kleidung und Lebensstil gelang, sich fest in China zu etablieren. Die Gesellschaft Jesu dominierte im Verlauf des 17. Jahrhunderts die katholische China-Mission. Gleichzeitig geriet aber die jesuitische Strategie der Adaption unter Druck: Gegner der Jesuiten befürchteten, dass sich dadurch idolatrische Bräuche ins chinesische Christentum einschleichen würden. Aus diesen Vorwürfen entwickelte sich der chinesische Ritenstreit, der in Europa um 1700 in zahlreichen Druckschriften ausgefochten wurde. Mit dem sich wandelnden Rahmen der Mission änderten sich, wie dieser Beitrag aufzeigen will, auch die Beschreibungen von «chinesischer Religion» in den Relationen von Mis- sionaren. Was überhaupt unter die Kategorie «Religion» iel, war dabei nicht von Anfang an klar: Die Missionare mussten erst Phänomene der chinesischen Gesellschaft als dem Bereich der Religion (religio) zugehörig identiizieren. Dieser von den Missionaren deinierte Bereich wird hier mit dem Begriff «chinesische Religion» gefasst. Wie aber wurde diese in den Relationen zu verschiedenen Zeiten diskursiviert? Wie wurde Wissen über das «Fremde» in das eigene Weltbild integriert bzw. zwischen Eigenem und Fremdem vermittelt? Um diese Fragen schlaglichtartig zu beleuchten, werden einander drei Fallstudien gegenübergestellt: Die frühen Relationen zwischen 1550 und 1600, die vor der Institutionalisierung der China-Mission entstanden, die Relation des Jesuiten Matteo Ricci (1615), die als Grundlage vieler späterer Berichte diente, sowie die China-Darstellungen, die im Zuge des Ritenstreits zwischen 1650 und 1700 entstanden. «Da Cruz deutete die Statue des Bodhisattvas Guanyin als Mariendarstellung.» Verwirrende Vielfalt und der Apostel Thomas in Südchina Aus den ersten China-Beschreibungen der frühneuzeitlichen China-Mission spricht die Verwirrung über die vielfältigen Praktiken und Institutionen, die die Missionare während ihrer kurzen Aufenthalte in Südchina als «religiös» identiizierten und die zu systematisieren ihnen Schwierigkeiten bereitete. Der einzige Orientierungspunkt, anhand dessen die Missionare die religiöse Landschaft Chinas ordneten, war ihre eigene religiöse Tradition: So sah etwa der Dominikaner Caspar Da Cruz, der 1556 einige Wochen in Kanton weilte, im buddhistischen Bodhisattva Guanyin (Avalokitesvara) die Spur einer verlorengegangenen christlichen Tradition. Er deutete die Statue des Bodhisattvas, der in China oft als Frau 36 mit einem Kind auf dem Arm abgebildet wird, als Marien- (xishi) die chinesischen Beamten dazu gebracht, seinen Aufdarstellung: «Dies mag vielleicht das Bildnis unserer Mutter- enthalt im Reich zu tolerieren. Der Jesuit orientierte sich im gottes sein, gemacht von den frühen Christen, die der Apo- Rahmen seiner Anpassungsstrategie an der gesellschaftlistel Thomas dort zurückliess.» (Boxer 1967: 213, Übers. chen Schicht der konfuzianischen Gelehrten und Beamten. N.A.) Nebst deren Kleidung und Sprache übernahm er auch deren Vom Apostel Thomas glaubte man, dass er den Glauben Perspektive auf die religiöse Ordnung Chinas. Im China der seinerzeit bis nach Indien getragen habe. Mit der Erweite- späten Ming-Zeit wurde in gelehrten Kreisen viel über das rung der Weltkarte in der Frühen Neuzeit stellte sich für das Verhältnis der «drei Lehren» (sanjiao) debattiert: der konfuzichristliche Europa aber die Frage, ob der Apostel nicht auch anischen (rujiao), der buddhistischen (fojiao) und der daoistiviel weiter gereist sein könnte: bis nach Amerika zum Bei- schen Lehre (daojiao). Dieses Konzept nahm Ricci auf und spiel – oder eben bis nach China. Dies mutmasste auch der berichtete in seiner Relation De Christiana Expeditione apud Augustiner Martin De Rada, der 1575 an einer Expedition Sinas suscepta (1615) über drei «Sekten» (religiöse Gemeinnach Fuzhou teilnahm. In seiner Relation berichtete er vom schaften), die es in China gebe. Er bezeichnete die buddhischinesischen Brauch, den Himmel (tian) zu verehren: Er tische und daoistische Lehre nach deren Gründern «Sekte deutete dies als Hinweis auf die Verehrung eines monothe- des Laozi» (setta di Laozu) und «Sekte des [Buddha] Shakyaistischen Gottes. Die vielen anderen chinesischen Gotthei- muni» (setta di Sciequia). Die konfuzianische Lehre aber beten betrachtete er als eine Art Äquivalent zu den katholi- nannte er nach ihren Trägern, den konfuzianischen Gelehrschen Heiligen: Sie seien nichts als «Fürbitter, durch welche ten und Beamten als «Sekte der Gelehrten» (setta de’ letterati). [die Chinesen] zum Himmel beMit dem Konzept der «Drei ten.» (Boxer 1967: 304, Übers. Lehren» beschrieb Ricci «chine«Ricci übernahm von chinesischen N.A.) sische Religion» erstmals anGelehrten das Konzept der ‹Drei De Radas Konzeption der chihand einer chinesischen OrdLehren›.» nesischen Gottheiten als «Heilinung, die ihn wegführte von ge» bzw. «Mittler» zwischen den gänzlich christlichen DeuMensch und Gott lässt sich datungen «chinesischer Religion» durch erklären, dass im traditionellen China die Distanz zwi- bei Autoren wie Da Cruz oder De Rada: Das «Andere» wurschen Menschen und Gottheiten im Vergleich zum Chris- de zum ersten Mal anhand einer Systematik der «Anderen» tentum relativ gering war: Nach chinesischer Vorstellung geordnet. konnten Menschen nach dem Tod «vergöttlicht» werden; Allerdings war Riccis Konzeption der «Drei Lehren» nicht Götter konnten menschliche Eigenschaften haben. Dieses ganz frei von christlichen Deutungshintergründen. So konvom Christentum abweichende Verhältnis zwischen Men- zeptualisierte er die Lehren etwa als Religionen mit klaren schen und Göttern beobachtete auch Da Cruz. Die «Göt- Zugehörigkeitsgrenzen: «[G]anz China ist in diese drei [Lehzen», bemerkte er, genössen in China wenig Achtung und ren] unterteilt» (D’Elia 1942: 115; Hervorhebung N.A.). Dawürden mitunter auch bestraft. Da Cruz sah darin einen mit entging ihm, dass die chinesischen Lehren anders als das Vorteil für die Mission, die aus seiner Sicht eine bessere Al- Christentum keine exklusive, klar deinierte Zugehörigkeiten ternative zu den wenig respektierten chinesischen Göttern kannten und dass die Grenzen zwischen den einzelnen Lehbieten konnte. ren weniger eindeutig gezogen waren als zwischen christliDass Da Cruz und De Rada in den chinesischen religiösen chen Konfessionen bzw. Christentum und «Häresie». ZuPraktiken und Institutionen keine genuine Ordnung erkann- dem ist das System der «Drei Lehren» keine allein- und allten, ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sie sich je- gemeingültige chinesische Ordnung von Religion: Vielmehr weils nur für kurze Zeit und ohne Sprachkenntnisse in süd- übernahm der Missionar damit die Perspektive einer gelehrchinesischen Städten aufhielten. Zum anderen dürfte für sie ten Elite, die sich vor allem für die kanonisierten, textbasierdas Urteil, dass Religion in China «unsystematisch» war, na- ten «Lehren» (jiao) interessierte. Auf diese Weise blendete er heliegend gewesen sein, waren doch Aberglauben und Göt- die vielfältigen Formen volksreligiöser Praktiken aus, deren zenverehrung nach christlicher Vorstellung an und für sich eindeutige Zuordnung zu einer der drei Traditionen oft nicht etwas «Unordentliches». Beide Autoren versuchten, Chinas möglich war und deren Systematisierung bereits den frühekomplexe Welt lokaler religiöser Bräuche und Gottheiten in ren China-Missionaren Schwierigkeiten bereitet hatte. ein einfaches, wohlbekanntes Ordnungsschema einzubetten Die Elite-Perspektive Riccis auf «chinesische Religion» zeigt – jenes des katholischen Universums. sich auch an anderer Stelle. Ricci interessierte sich nämlich in seiner Relation ganz besonders für die konfuzianische Lehre, die «Sekte der Gelehrten». Wie Da Cruz und De Rada Matteo Ricci und die «Drei Lehren» 1583 gelang es dem Jesuiten Matteo Ricci, sich in China nie- suchte auch Ricci nach Spuren der «Wahren Religion» in Chiderzulassen. Er lebte bis zu seinem Tod 1610 in China, die na. Anders als seine Vorgänger beherrschte er aber die chiletzten neun Jahre davon in Peking. Ricci hatte die chinesi- nesische Schriftsprache und las die chinesischen «Klassiker», sche Sprache sowie die Sitten und Gebräuche des Landes die alten Schriften der konfuzianischen Tradition. Darin erlernt und mit seinem Auftreten als «westlicher Gelehrter» fand er Hinweise auf die antikchinesische Verehrung eines expositionen 37 Hochgottes: «[M]an liest in ihren Büchern, dass sie immer eine höchste und einzige Gottheit verehrten, die sie König des Himmels oder Himmel und Erde nannten.» (D’Elia 1942: 108) Daraus leitete er ab, dass in der konfuzianischen Lehre Spuren einer «natürlichen Gottesverehrung» (legge naturale) vorhanden seien, die den Menschen des chinesischen Altertums durch das Licht ihres Verstandes (lumen naturale) zugänglich gewesen sei. Diese Idee einer natürlichen Gottesverehrung steht in Zusammenhang mit der Diskussion um das thomistische Naturrecht, die mit der europäischen Expansion wieder an Wichtigkeit gewann. Danach ist für alle Menschen kraft ihres Verstandes zumindest eine verschwommene Vorstellung von Gott möglich – auch ohne Kenntnis des Evangeliums. Diese Idee wurde nun für Matteo Ricci zum zentralen Anknüpfungspunkt der China-Mission: Nicht mehr die greifbaren Relikte der Apostel Thomas standen im Fokus der missionarischen Spurensuche nach dem Eigenen, sondern die abstraktere Idee eines «Lichts der Vernunft». China im Lichte der natürlichen Vernunft Das Ordnungsprinzip der «Drei Lehren» setzte sich nach Ricci als bevorzugtes Schema «chinesischer Religion» durch. In zahllosen Relationen wurde die religiöse Landschaft Chinas während des 17. Jahrhunderts entlang dieser Systematisierung beschrieben. Riccis Bericht wurde dabei von seinen Nachfolgern vielfach als Vorlage für ihre Relationen benutzt, seine Ideen ergänzt und umgeschrieben. Seine Gedanken über eine natürliche Gottesverehrung in China wurden dabei teilweise aufgegriffen, standen jedoch bei vielen Autoren nicht im Zentrum des Interesses. Dies änderte sich mit der Zuspitzung des chinesischen Ritenstreits. Darin stand zwar die Frage der chinesischen Ahnenverehrung im Zentrum. Gleichzeitig rückte aber auch die von den Jesuiten so gepriesene «Sekte der Gelehrten», von der die chinesische Ahnenverehrung ausging, in den Fokus der Debatte. Gegner der Jesuiten warfen diesen vor, dass ihr Bild von der «Sekte der Gelehrten», das sie sich seit Ricci anhand klassischer chinesischer Texte gemacht hatten, weit von der chinesischen Realität entfernt sei. So etwa der Dominikaner Domingo Navarrete in seinen 1676 veröffentlichten Tratados […] de la Monarchia de China: Mit Rückgriff auf Beobachtungen der lokalen religiösen Landschaft (die für den textorientierten Ricci keine Rolle gespielt hatte) beschrieb er die vielen Götter, die von den konfuzianischen Gelehrten angebetet würden. Die Literati besuchten nicht nur Ahnen- und Konfuziustempel, erklärte Navarrete, sondern auch die Tempel des Stadtgottes, des Literaturgottes, des Kriegsgottes und viele andere: Von einer solchen Sekte konnte nicht behauptet werden, dass sie im «Lichte der natürlichen Vernunft» stand. Genau dies versuchten nun aber die Jesuiten, die sich gegen diese Vorwürfe verteidigten, zu belegen. Sie stellten den Beobachtungen lokaler Religiosität ihrer Gegner die chinesischen Klassiker und die jesuitische Deutung derselben gegenüber. Dabei gingen sie in der Deutung des chinesischen Altertums viel weiter, als dies ein Jahrhundert zuvor Matteo Ricci getan hatte: So behauptete etwa Louis Le Comte in seinen 1696 veröffentlichten Nouveaux Mémoires sur […] la Chine, dass die Menschen im chinesischen Altertum «fast zweitausend Jahre die Kenntnis des wahrhaftigen Gottes bewahrt und ihn verehrt» hätten – und dies in einer Zeit, da «Europa und fast der ganze Rest der Welt dem Irrtum und dem Niedergang verfallen war.» (Le Comte 1696: 141, 146) Solch gewagte Aussagen waren aber nach der Meinung der katholischer Zensoren einem europäischen Lesepublikum nicht zuzumuten. Le Comtes Abhandlungen wurden 1700, auf der Höhe des Ritenstreits, von den Theologen der Pariser Sorbonne verboten. Zwischen Eigenem und Fremdem Auch wenn sich die Inhalte des missionarischen Schreibens über «chinesische Religion» zwischen 1550 und 1700 stark gewandelt hatten, setzten sich doch alle Autoren mit demselben Grundproblem auseinander: der Frage, wie das Wissen über eine ihnen fremde Lebenswelt in bekannte Wissenssysteme eingeordnet werden konnte. Die Missionare verwendeten unterschiedliche Strategien, anhand derer das Fremde in das eigene Weltbild integriert wurde. Während Da Cruz in Guanyin-Statuen eine Spur des Apostels Thomas zu entdecken glaubte, fand Ricci in den chinesischen Klassikern Spuren einer natürlichen Gottesverehrung; während De Rada in der chinesischen Götterwelt eine katholische Ordnung mit einem höchsten Gott und Heiligen erkannte, ordneten die Missionare des 17. Jahrhunderts «chinesische Religion» nach dem Prinzip der «Drei Lehren». In Europa avancierte Riccis Idee einer natürlichen Gottesverehrung im Zuge des Ritenstreits zum meistdiskutierten Aspekt «chinesischer Religion». Langfristig entfaltete aber vor allem seine Einteilung der religiösen Landschaft Chinas in «Drei Lehren» in europäischen Diskursen eine starke Wirkung: Riccis «drei Sekten» werden heute die «drei Religionen» Chinas genannt: Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus. Die Ricci’sche Ordnung «chinesischer Religion» lebt darin fort – mit allen Stärken und Schwächen, welche sie für die Erforschung der religiösen Landschaft Chinas in sich birgt. 38 Quellen: Boxer, Charles 1967: South China in the Sixteenth Century. Being the Narratives of Galeote Pereira, Fr. Gaspar da Cruz, O.P., Fr. Martín de Rada, O.E.S.A. D’Elia, Pasquale M. 1942: Fonti Ricciane. Storia dell’introduzione del Cristianesimo in Cina, Bd. 1 Le Comte, Louis 1696: Nouveaux mémoires sur l’état présent de la Chine, Bd. 2 Literatur: Brockey, Liam Matthew 2007: Journey to the East. The Jesuit Mission to China, 1579–1724 Feil, Ernst 1986-2001: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs, 3 Bde. Jensen, Lionel M. 1997: Manufacturing Confucianism. Chinese Traditions and Universal Civilization Paper, Jordan 1995: The Spirits are Drunk. Comparative Approaches to Chinese Religion * Nadine Amsler hat Religionswissenschaft, Geschichte und Chinesisch in Bern, Berlin, Paris und Peking studiert. Sie arbeitet zurzeit an einem Dissertationsprojekt zu Geschlechternormen und -praktiken in den chinesisch-christlichen Gemeinden des 17. Jahrhunderts. Dieser Beitrag beruht auf ihrer Masterarbeit. expositionen 39 Journalismus in Nordkorea Instrumentalisierung des Mediensystems zur Aufrechterhaltung einer Diktatur Patrick Gämperle * N ordkorea wird in westlichen Breiten als eine kommunistische Diktatur wahrgenommen, die isoliert ist wie kein anderer Staat. In der von den Reportern ohne Grenzen herausgegebenen Weltrangliste der Pressefreiheit rangierte Nordkorea schon immer auf den hintersten Plätzen. Auf welchen Prinzipien Journalismus in einem solchen Land beruht und wie er vonstatten geht, versucht dieser Beitrag zu beleuchten. Sozialismus, Personenkult und Juché Die von Christoph Moeskes (2004) erwähnten drei Merkwürdigkeiten, unter denen die nordkoreanische Bevölkerung zu leben hat, sind grundlegend für das Verständnis des politischen und gesellschaftlichen Systems Nordkoreas: die sozialistische Verfassung, der Personenkult um Kim Jong-Il bzw. dessen Vater Kim Il-Sung und die Juché-Ideologie. Der sozialistischen Verfassung zufolge ist in Nordkorea nur die Partei der Arbeit Koreas (PdAK) zugelassen. Im EinParteien-Staat ist seit Jahrzehnten praktisch die gesamte Industrie verstaatlicht. Der Personenkult um den Staatsführer Kim Jong-Il und dessen verstorbenen Vater und Vorgänger Kim Il-Sung ist das zweite Charakteristika und hat in Nordkorea ein Ausmass erreicht, wie es auf der Welt wohl einzigartig ist. So wird der 1994 verstorbene Kim Il-Sung weiterhin als «Vater der Nation», «grossartigster Mann des Jahrhunderts» oder «Sonne der Nation» verehrt. Dessen seit 1994 die Macht innehabender Sohn Kim Jong-Il lässt sich als «geliebter Führer» titulieren. Beim nordkoreanischen Personenkult wird insbesondere auch die Nähe zur Religion deutlich, da den Verehrten übernatürliche, in jedem Falle extraordinäre Eigenschaften zugeschrieben werden, welche als Legitimation für eine aussergewöhnliche Machtfülle fungieren. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Orte und Gegenstände – durch Berührung oder Anwesenheit des Führers – geweiht und zu einer Art Reliquie werden oder das Grab von Kim Il-Sung als heiliger Wallfahrtsort gilt. Die Verherrlichung der beiden Kims nimmt bisweilen auch bizarre Züge an: So muss in jedem Schulzimmer von Nordkorea ein Portrait von Kim Il-Sung hängen. Zeitungen, in denen ein Foto von ihm oder seinem Sohn Kim Jong-Il abgebildet ist, dürfen niemals weggeworfen werden. Als dritte Merkwürdigkeit kann die Juché-Ideologie bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um eine philosophische Weltanschauung, in deren Mittelpunkt der Autarkiegedanke steht. Der Versuch, die Juché-Ideologie klarer zu erläutern stellt sich als schwieriges Unterfangen heraus. Sie kann als eine Mischung von Marxismus-Leninismus, Nationalismus, christlicher Heilserwartung und hierarchischen Vorstellungen bezeichnet werden. Die Ideologie geht auf Kim Il-Sung zurück und gilt in Nordkorea als sakrosankt. Zu seinen Ehren wurde nach seinem Tod gar eine neue Zeitrechnung eingeführt. Demnach beginnt der neue Kalender im Jahre 1912, dem Geburtsjahr des «ewigen Präsidenten», mit dem JuchéJahr 1. Journalistischer Alltag Die drei erläuterten Merkwürdigkeiten beeinlussen den journalistischen Alltag wesentlich. An der Journalistenschule der – wie könnte sie auch anders heissen – Kim Il-SungUniversität in Pjöngjang lernen Studierende, einen ‹Informationsplan› zu befolgen. Dieser schreibt eine strikte Hierarchie für die Themenwahl in der Berichterstattung vor. Geschrieben werden darf nur über folgende Themenbereiche: Höchste Priorität hat erstens die Propagierung der Grösse Kim Il-Sungs und seines Sohns Kim Jong-Il. Zweitens muss die Überlegenheit des nordkoreanischen Sozialismus aufgezeigt werden. Als dritter Punkt wird den angehenden Medienschaffenden vermittelt, dass sie die imperialistische und bourgeoise Korruption westlicher Nationen anprangern sollen. Viertens schliesslich ist Kritik an der Invasionspolitik der ‹imperialistischen› Grossmächte einschliesslich Japan Plicht. Journalisten müssen ihre Arbeit auf der Basis dieser Kriterien organisieren und bekommen von ihren Vorgesetzten jeweils die Vorgaben, wie viele Berichte sie innerhalb welcher Kategorie zu schreiben haben. Medienschaffende dürfen sich dabei ohne Genehmigung nicht frei im Land bewegen, sind allesamt Mitglieder der Partei und werden vom Zentralkomitee der Partei gewählt. Zudem werden alle geschriebenen Artikel vor der Veröffentlichung von einer zentralen Zensurbehörde noch einmal durchgesehen. Bei den kleinsten Fehlern drohen harte Bestrafungen. Presse: Bedienung von Zielgruppen In Nordkorea sind sämtliche Zeitungen in der Hand des Regimes. Dieses hat längst die Möglichkeiten der politischen Erziehung durch die Presse erkannt und instrumentalisiert 40 diese, um mit ihren Botschaften ganz bestimmte Zielgruppen zu erreichen. In der Regel ist es nur hohen Parteifunktionären gestattet, individuell ein Zeitungsabonnement zu besitzen. Die staatliche Post, Fabriken und andere Einrichtungen hingegen werden mit Zeitungen auf der Basis von Kollektiv-Abonnementen beliefert. Die Rodong Sinmun ist die einzige schriftliche Informationsquelle, die allen frei zugänglich und nicht ausschliesslich auf der Basis von Kollektiv- «In der Regel ist es nur hohen Parteifunktionären gestattet, individuell ein Zeitungsabonnement zu besitzen.» Abonnementen erhältlich ist. Bei der Rodong Sinmun handelt es sich nicht um eine Zeitung nach unserem Verständnis. Sie umfasst nur wenige Seiten, wovon die ersten rund zwei Seiten Loblieder auf die nordkoreanische Führung anstimmen. Es folgt in der Regel eine Seite Wirtschaft mit verfälschten Zahlen, um der Leserschaft wirtschaftliche Prosperität vorzugaukeln. Im Mittelteil kommen die Machtinhaber sozialistisch regierter Länder zu Wort. Die Leserinnen und Leser können dort nachlesen, dass das nordkoreanische System auch im Ausland als vorbildlich wahrgenommen wird. In den abschliessenden zwei Seiten Auslandsnachrichten spielen hauptsächlich Parolen gegen kapitalistische Länder wie die USA oder Japan eine Rolle. Dieses Ressort führt den Leserinnen und Lesern in erster Linie die negativen Folgen des Kapitalismus vor Augen, indem beispielsweise über Demonstrationen, Arbeitslosigkeit und Kriminalität berichtet wird. Auf Befehl Kim Jong-Ils wurden von 2007 bis 2009 publizistische Angriffe auf Südkorea immer seltener, da Südkoreas Aussenpolitik eine Versöhnung mit dem Norden anstrebt(e) und offenbar auch die nordkoreanische Seite eine Wiedervereinigung nicht prinzipiell ausschloss. Seit 2009 haben sich die Beziehungen aber wieder massiv verschlechtert und im Herbst 2010 einen vorläuigen Tiefpunkt erreicht. Fernsehen und Kino: Gelegentliche Berieselung mit Propaganda Nur etwa einer von zwanzig Haushalten in Nordkorea besitzt ein Fernsehgerät. Das Fernsehen ist dennoch unter strikter Kontrolle des Staates: Sämtliche Fernsehgeräte sind manipuliert und es können nur die einheimischen Sender empfangen werden. In Nordkorea gibt es lediglich drei Kanäle, die jedoch nur abends senden. Die Aufgabe des staatlichen Fernsehen ist klar: Es geht um die Verbreitung von Kim Il-Sungs Gedankengut. Die Nachrichten erinnern an im Sprechgesang vorgetragene Loblieder auf Kim Jong-Il. Verschiedene Musikshows, Kultursendungen, Dokumentationen und Interviews mit Kriegsveteranen aus dem Koreakrieg runden das Programm ab. Selbstverständlich verfügt auch Nordkorea über eine Filmindustrie. Produziert werden nur Filme für den heimischen Markt, welche zudem vom Propagandaapparat des Regimes bestellt werden müssen. Dabei kann Kim Jong-Ils Mitwirken an den Filmen im Prinzip als Regiearbeit bezeichnet werden: Er dirigiert die staatliche Filmindustrie schon seit Jahrzehnten und hat überdies eine eigene Filmschule gegründet. Angeblich soll es kaum ein Werk geben, bei dem Kim Jong-Il nicht Regie geführt hat. Bei nordkoreanischen Kinoilmen handelt es sich um Propagandawerke mit den immergleichen Inhalten, da ausschliesslich die üblichen Botschaften wie beispielsweise die kriegerische Bekämpfung der japanischen Kolonialherrschaft oder Lobeshymnen auf die sozialistische Gesellschaft eine Rolle spielen. Auch die Verantwortlichen in den Trickilmstudios verschweigen nicht, dass es in den Produktionen um die Verteidigung des Landes und die Propagierung des Sozialismus geht. So rollen schon in Animationsilmen für Kleinkinder die Panzer gegen Japan. «Der südkoreanische Präsident wird als Verräter beschimpft, seine Regierung ins Lächerliche gezogen oder in Anführungs- und Schlusszeichen als ‹government› bezeichnet.» Radio: Flüchtlingsradios versus plombierte Radiogeräte In Nordkorea gibt es rund dreimal so viele Radio- wie Fernsehgeräte. Wie die Fernsehgeräte sind auch die Radios plombiert, wodurch nur die ofiziellen Frequenzen des Landes empfangen werden. Hinzu kommt, dass jedes Radiogerät bei der Polizei angemeldet sein muss. Im Radiobereich gibt es jedoch – illegale – Möglichkeiten, ausländische Radiosender zu hören. So lassen Menschenrechtsaktivisten und christliche Missionare nahe der hermetisch abgeriegelten Grenze von Südkorea aus an Luftballons befestigte Mini-Radiogeräte in die Luft steigen, die bei günstigen Windbedingungen in die stalinistische Diktatur getragen werden. Mit etwas technischem Flair ist es zudem möglich, sich selbst einen Empfänger zu bauen. Dem nordkoreanischen Regime ist dabei insbesondere das von der südkoreanischen Hauptstadt Seoul sendende Flüchtlingsradio Free North Korea ein Dorn im Auge. Es setzt mittels Störsendern alles daran, dem kritisch berichtenden Flüchtlingssender das Leben schwer zu machen, was Free North Korea dazu zwingt, über ständig wechselnde Frequenzen zu senden. Medieninhalte konkret: eine Inhaltsanalyse Die Korean Central News Agency (KCNA) ist mit Abstand die wichtigste Nachrichtenagentur Nordkoreas. Es wird davon ausgegangen, dass die gesamte nordkoreanische Medienlandschaft ausschliesslich von der KCNA mit (propagandistischen) Nachrichten versorgt wird. Um ein Bild der Medieninhalte Nordkoreas zu zeichnen, lag es im Rahmen einer empirischen Facharbeit auf der Hand, die online abrufbaren Agenturmeldungen der KCNA (www.kcna.co.jp) zu konsultieren und einer Inhaltsanalyse zu unterziehen. Zu diesem Zweck habe ich eine Zufallsstichprobe aus allen expositionen 41 Meldungen gezogen, welche in englischer Sprache zwischen Berichterstattung über die Kims: Anhand des Datenma2005 und 2009 auf der Homepage der KCNA veröffentlicht terials ergibt sich tatsächlich der Eindruck, dass jeder Schritt worden sind. In einer quantitativen Inhaltsanalyse erhob ich von Kim Jong-Il von der KCNA verfolgt wird. Da über den insgesamt 678 Agenturmeldungen und zählte sie nach Ka- verstorbenen Kim Il-Sung solche ‹alltäglichen› Berichte nicht tegorien aus. Für die Zuordnung zu einer Kategorie spielte mehr in Frage kommen, erstaunt der ausgesprochen hohe jeweils nur der Titel und der Lead-Text eine Rolle. Im Fol- Anteil an positiven bzw. verherrlichenden Erinnerungen und genden werden ausgewählte Ergebnisse dieser Inhaltsanaly- Lobpreisungen in seinem Fall natürlich nicht. Folgende Mese skizziert. dienmitteilung zeigt, wie der verstorbene Kim Il-Sung noch 1) immer verehrt wird: Auslandberichterstattung: Die Auslandberichterstattung «Kim Il Sung Praised as Greatest Man in S. Korea: The viceist nicht nur im Falle der nahe stehenden Länder China und chairman of the Central Committee of the Anti-Imperialist Russland neutral oder wohlwollend. Interessant ist, dass National Democratic Front issued a statement on July 8, the westliche Industrienationen mit 12th anniversary of demise of Ausnahme der USA, Südkorea President Kim Il Sung, (…). und Japan praktisch ausschliessThe statement said that Kim Il «Orte und Gegenstände werden lich im Zusammenhang mit ofSung is the distinguished leader durch Berührung oder Anwesenheit iziellen Treffen, Gratulationsunprecedented in history and Kim Jong-Ils geweiht und zu einer schreiben, pro-nordkoreanithe great revolutionary, outArt Reliquie.» schen Bündnissen und standing statesman and peerkommunistischen Parteien erlessly great sage who enjoyed wähnt werden. Über Ereignisse profound respect and praises in solchen Ländern wird nicht berichtet. Die USA, Südkorea from all people for his feats and high prestige» (KCNA-Meund Japan gelten Nordkorea gegenüber als verfeindet. Mehr dienmitteilung vom 10. Juli 2006). als jede vierte (!) publizierte Medienmitteilung zieht über ei- Zusammenfassend ergibt die Analyse der Agenturmeldunnes dieser drei Länder her, berichtet ausgesprochen zynisch gen, dass die nordkoreanische Berichterstattung aussergeoder verurteilt den Imperialismus. Aufgrund der sich ver- wöhnliche Eigenheiten aufweist. Die wichtigsten Charakteschlechternden Beziehungen zu Südkorea häuften sich im ristika nordkoreanischer Berichterstattung sind der PersoJahre 2009 die Agenturmeldungen, die den südkoreanischen nenkult um die beiden Kims, die angeblich positive Präsidenten Lee Myung Bak anklagen bzw. als Verräter be- Rezeption Nordkoreas im Ausland, die Wiedervereinigungsschimpfen, die südkoreanische Regierung als Marionettenre- frage, der hohe Stellenwert der Armee aufgrund der Bedrogierung der USA ins Lächerliche ziehen oder sie in Anfüh- hungslage und der Anti-Imperialismus. Um diese Themen rungs- und Schlusszeichen als «government» bezeichnen. dreht sich die Berichterstattung immer und immer wieder. Ein bevorstehender militärischer Angriff durch die USA Von einer Berichterstattung im Sinne westlicher Nachrichoder Südkorea kommt bei mehr als jeder zwanzigsten Agen- tenagenturen kann keine Rede sein. In dieser abschliessenturmeldung zur Sprache. Folgendes Beispiel illustriert die den Medienmitteilung sind alle Charakteristika der KCNAnegative Berichterstattung über die USA: Medienmitteilungen – und somit der nordkoreanischen «U.S., Kingpin of International Terrorism: The history of Berichterstattung generell – vereint: the U.S. is that of crimes stained with plot-breeding and «Solidarity with Korean People Expressed in Peru: A meeterrorism as well as that of aggression and plunder, says ting, a photo exhibition and a ilm show took place on June Rodong Sinmun Thursday in a signed article. It goes on» 24 on the occasion of the sixth anniversary of the June 15 (KCNA-Medienmitteilung vom 12. Mai 2006). North-South Joint Declaration and the month of anti-U.S. joint struggle. They were cosponsored by the Peruvian-Ko2) rean Institute of Culture and Friendship and the Peruvian Die Wiedervereinigungsfrage: In einem krassen Gegen- Committee for Supporting the Independent and Peaceful satz zur eben erläuterten negativen Berichterstattung steht Reuniication of Korea. Displayed in the venues of the die Wiedervereinigungsfrage. Die Meldungen der KCNA functions were works of President Kim Il Sung and Kim stehen einer möglichen Wiedervereinigung klar positiv ge- Jong Il, Korean books and photos showing the invincible genüber – obwohl sie die südkoreanische Regierung zeit- might of the heroic Korean People’s Army» (KCNA-Mediengleich diffamiert und deren Kapitalismus verurteilt. Dass in mitteilung vom 8. Juli 2006). mehr als jeder achten Meldung die Rede von der Wiedervereinigung ist, zeugt vom enormen Stellenwert dieser Frage. Die ambivalente Beziehung zu Südkorea zeigt sich allerdings darin, dass zwar ständig von einer Wiedervereinigung die Rede ist – Südkorea als Staat in diesem Zusammenhang aber kaum je explizit erwähnt wird. 3) 42 Brossel, Vincent 2004: North Korea – Journalism in the service of a totalitarian dictatorship. Gunaratne, Shelton A./Shin Dong, Kim 2000: North Korea. In: dies. (Hg.): Handbook of the media in Asia. 586-611 Maierbrugger, Arno 2007: Nordkorea-Handbuch. Unterwegs in einem geheimnisvollen Land Moeskes, Christoph 2007: Einleitung. In: ders. (Hg.): Nordkorea. Einblicke in ein rätselhaftes Land. 9-36 * Patrick Gämperle studierte Erziehungswissenschaft im Major und Kommunikations- und Medienwissenschaft im Minor an der Universität Bern. Der vorliegende Text basiert auf einer RechercheSeminararbeit (2007) und einer empirischen Facharbeit (2010).
Frühling/Sommer 2012 Ausgabe 4 PRINCESS HIJAB KÖRPERGRENZEN PARASITEN HÄRTEFALL AUSLÄNDER BILDER SICHTBARKEIT POLIZEICOMPUTER TATORT SMELSER STRAHLIMAA FRISCH expositionen 1 Editorial Geneigte Leserin, geneigter Leser wir freuen uns, Dir in der vierten Ausgabe von Expositionen erneut eine hochwertige Auswahl an Texten präsentieren zu können, die in sehr unterschiedlichen Disziplinen entstanden sind und sich gleichwohl durch Gemeinsamkeiten auszeichnen. Zwei Texte inden sich in ihrem Fokus auf den menschlichen Körper, einmal als bildwissenschaftlich angelegte Studie zur entblössenden performativen Kraft verschleiernder Grafiti-Kunst, einmal als vergleichende Diskursanalyse im Hinblick auf die Produktion gefährlicher Menschenkörper. Aus sehr verschiedenen Warten, nämlich theoretisch-philosophisch und handfest volksswirtschaftlich, werden zwei Schlaglichter auf den Arbeitsmarkt geworfen – dazwischen indet sich eine Analyse der gouvernementalen Praxis der Härtefall-Regelung bei Schweizer Sans-Papiers. Ein anderer Beitrag gilt den Techniken zur Herstellung von Visualität von Bildarchiven: historisch gewachsene und ebenso aktuelle Verfahren. Dass Bilder und die Analyse von Bildlichkeit nach wie vor Konjunktur haben, lässt sich auch am interdisziplinären wissenschaftlichen Disput ablesen, wie der Artikel zum Studium von Text-Bild-Relationen anhand verschiedener Beispiele aufzeigt. Anlässlich des Besuchs des renommierten Soziologen Neil J. Smelser wird eine Bestandsaufnahme der Disziplin Soziologie gewagt – und es wird kritisch aber auch verhalten optimistisch bilanziert. Nur scheinbar gemächlich geht es schliesslich zweimal ums Fernsehen und den Krimi: hier um die sprachlich bedingten konzeptuellen Probleme des Schweizer Tatorts, da ums deutsche BKA, seine Rechneranlagen und das Ende Columbos. Abgerundet wird diese Ausgabe durch einen Kommentar in Bildform in Sachen AKW. Als Beilage gibt es diesmal eine Koproduktion mit den Zürcher Denkbildern. Im Rückblick auf das vielbeschworene Max Frisch-Jahr 2011 haben wir jungen Autorinnen und Autoren eine Plattform geboten, sich jenseits von Jubiläumsanlässen mit dem Berühmten auseinanderzusetzen. Der Dank gilt allen AutorInnen, KritikerInnen, PromoterInnen und in jedwedem Sinne UnerstützerInnen, wir wünschen eine bereichernde Lektüre. Die Redaktion 2 Inhaltsverzeichnis I’m a Visual Terrorist. Zur Darstellung des Geschlechtlichen, des Religiösen und der Performanz in der GrafitiKunst von Princess Hijab Lisa Skwirblies Der Schleier, zum Symbol für die erstarkende Sichtbarkeit des Islam in westlichen Öffentlichkeiten geworden, positioniert sich an der Schwelle zwischen Verhüllen und Zeigen, zwischen erhöhter Sichtbarkeit und intendierter Unsichtbarkeit. Die Grafiti-Künstlerin Princess Hijab öffnet in einem Akt «visuellen Terrorismus» den semiotischen Faltenwurf des Schleiers und problematisiert den vermeintlich eindeutigen Zeichenstatus muslimischer Verschleierung bezüglich geschlechtlicher und religiöser Intelligibilität. Seite 4 Radargrenzen, Körpergrenzen. Von der «closed-world» zum «closed-self» Alain Gloor Der Historiker Paul N. Edwards hat gezeigt, dass die Zeit des Kalten Krieges in den USA geprägt war von einem Diskurs der «closed-world». Als dessen vibrierendes Zentrum hat der US-Amerikaner den SAGE-Radarcomputer beschrieben. Nach 9/11 hat sich dieser Diskurs verdichtet auf das «closed-self» – mit dem internationalen Flughafen-Checkpoint als Technologie im Mittelpunkt, der gefährliche Körper produziert. Seite 8 Parasiten im Paradies? Freiwillige Arbeitslosigkeit und das bedingungslose Grundeinkommen Elias Zimmermann Stellen Sie sich vor, in einer Gesellschaft bekommt jeder denselben Betrag, welcher ihm die Grundlage zu einem würdevollen Leben sichert. Ist es gerecht, dass der Eine weiterarbeitet und sich etwas dazu verdient, zugleich jedoch den Lebensunterhalt des Anderen inanziert, der lieber den ganzen Tag seiner Lieblingsbeschäftigung nachkommt? Eine Rechtfertigung. Seite 13 Verordnete Mentalität der Härte. Die neoliberale Praxis der Härtefall-Regelung für Sans-Papiers Elango Kanakasundaram Die Härtefall-Regelung stellt für die rund 100‘000 Sans-Papiers in der Schweiz die Möglichkeit dar, ihren Status zu legalisieren. Der Beitrag zeigt, wie die Härtefall-Regelung als Bestandteil einer neoliberalen Praxis verstehbar ist, und wie gouvernementalen Techniken dabei von Bedeutung sind. Seite 17 Nehmen uns die Ausländer die Arbeitsplätze weg? Zum Einluss ausländischer Arbeitskräfte auf den einheimischen Arbeitsmarkt und den Effekten auf die Qualiikationsstruktur Christoph Thommen Wie wirkte sich die Einführung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU 2002 auf den schweizerischen Arbeitsmarkt aus? Der vorliegende Artikel führt in die Arbeitsmarktökonomie ein und weist auf mögliche Gewinner und Verlierer der Zuwanderung hin. Während die Volkswirtschaft als Ganzes proitiert, zeichnen sich insbesondere für die Geringstqualiizierten auch negative Folgen ab. Seite 21 wi(e)der Frisch AutorInnenkollektiv 16 Sätze aus dem Zitatenschatz des Altmeisters. Seite 25 expositionen 3 Bilder lesen Jörg Klenk Die Text-Bild-Forschung erlebte in den 1950er-Jahren eine Renaissance. Obwohl sie seither wiederholt Gegenstand ideologischer Grabenkämpfe war, konnte sich eine lebhafte Forschung entwickeln, die Erkenntnisse für alle beteiligten Wissenschaften lieferte. Folgender Text soll anhand eines kurzen historischen Abrisses sowie einer exemplarischen Analyse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Einblicke in dieses Forschungsfeld gewähren. Seite 26 Die Kommerzialisierung der Sichtbarkeit. Kulturtechniken der Fotoarchivierung und -verwaltung im 20. (21.) Jahrhundert. Mirco Melone Die «Bildwirtschaft» ist massgeblich an der Hervorbringung und Konturierung von Visualität beteiligt. Das Milliardengeschäft basiert in seinen Verwaltungs- und Verwertungstechniken auf historisch gewachsenen Strukturen, deren Überreste heute als riesige Bildbestände in öffentlichen Archiven oder bei privaten Anbietern lagern. Rasant anwachsende Bildkonvolute führten dazu, dass die Archivierung und Verwaltung der Bilder zu grundlegenden ökonomischen Axiomen wurden. Das heutige Erscheinungsbild gewerblicher Fotoarchive ist das Resultat verschiedenster Techniken und Diskurse, deren Geschichte das Verständnis der visuellen Kultur massgeblich prägt. Seite 30 Polizeicomputer. Zur ersten Rechenanlage im BKA und iktiven Fahndern von Columbo bis CSI Hannes Mangold Das Bundeskriminalamt stellte in den 1970er Jahren auf EDV um. Die Computerisierung der Polizei iel damit in die Zeit des eskalierenden Linksterrorismus. Diverse Romane und Spielilme haben diese historischen Polizeicomputer iktionalisiert. Dabei hat sich die Darstellung ab 1988 verändert – ein Befund, der auch im Blick auf die Entwicklung populärer Krimiserien aufschlussreich ist. Seite 35 Ein Ding der Unmöglichkeit? Der Schweizer Tatort im Konlikt mit der sprachlichen Situation der Schweiz und dem Tatort-Konzept Franziska Zihlmann Der Tatort ist ein Fernsehklassiker, dessen Format sich durch regionale Einlüsse und realistische Darstellung auszeichnet. Doch eben diese Eigenschaften scheinen dem Schweizer Tatort Mühe zu bereiten. Eine Untersuchung des Schweizer Tatorts im Hinblick auf das Konzept der Fernsehkrimiserie und die sprachliche Situation in der Schweiz. Seite 39 Von ambivalenter Interdisziplinarität zur soziologischen Regeneration? Eine Odyssee mit dem Soziologen Neil J. Smelser an der Universität Bern Désirée Waibel und Markus Unternährer Anlässlich des Besuchs von Neil Smelser in Bern wird die Frage nach einer synthetischen Sichtweise auf die sich zunehmend fragmentierende Disziplin der Soziologie gestellt. Wie skizziert ein undogmatischer Feldkenner wie Smelser eine mögliche Regeneration der Soziologie, und welche Aussichten hätte ein solches Projekt tatsächlich? Seite 42 zuletzt Roland Reichen Strahlimaa Seite 47 4 I’m a Visual Terrorist Zur Darstellung des Geschlechtlichen, des Religiösen und der Performanz in der Grafiti-Kunst von Princess Hijab D Lisa Skwirblies * er Schleier, zum Symbol für die erstarkende Sichtbarkeit des Islam in westlichen Öffentlichkeiten geworden, positioniert sich an der Schwelle zwischen Verhüllen und Zeigen, zwischen erhöhter Sichtbarkeit und intendierter Unsichtbarkeit. Die Grafiti-Künstlerin Princess Hijab öffnet in einem Akt von «visuellem Terrorismus» den semiotischen Faltenwurf des Schleiers und problematisiert den vermeintlich eindeutigen Zeichenstatus muslimischer Verschleierung bezüglich geschlechtlicher und religiöser Intelligibilität. «With the veil, things become well-deined and ordered. The Algerian woman, in the eyes of the observer, is unmistakably ‹she who hides behind the veil›» (Fanon 1959: 163). Grafiti-Künstlerin aus Paris ihr sprühendes Treiben. Ihr Name, ganz ihrer Kunst verplichtet: Princess Hijab. Ihre Identität, ganz der Tradition der Streetart verplichtet: weitestgehend ungeklärt. Selbst nicht in Erscheinung Zweimal fünf Augenpaare – durch die schmalen Schlitze tretend, lässt sie mit ihren Grafitis die schwarzen Hijabs schwarzer Grafiti-Schleier starrend. Durch die Glasscheibe Einzug in den öffentlichen Raum der Pariser Metroeines Werbeschaukastens den Blick selbstbewusst Stationen halten. geradeaus gerichtet, irgendwo im Nirgendwo des Pariser Die Sprühdosen-Hijabs der Princess-under-cover reihen sich ein Metro-Untergrunds. Zehn Augenpaare – den Blick der in die (häuig polemisch geführten) Debatten der letzten Betrachterin erwidernd. Eine Jahre rund um den Komplex Betrachterin, die auf ihrem von «Kopftuch tragen» oder «Ist es wirklich unmissverständlich Weg durch die Gewölbe der «Kopftuch ertragen» und in sie hinter dem Schleier?» Metro-Stationen an diesem die Reihe von Relexionen Werk in alltäglicher Routine zur erstarkenden Sichtbarkeit vorbeiläuft und lediglich einen religiös-kultureller Zeichen lüchtigen Blick auf die allzu bekannten Werbeschaukästen im allgemeineren Sinne. Im Falle der Praxis muslimischer wirft, wird wahrscheinlich eine Gruppe verschleierter Verschleierung ist es aber nicht allein der Schleier als Muslima zu sehen glauben. Objekt, an dem ‹Bilder› religiöser Differenz sichtbar werden Die Ordnung, die Franz Fanon in dem eingangs angeführten können, sondern der verschleierte ‹weibliche› Körper. Es Zitat dem Schleier als Funktion zuspricht, bezöge sich ist ‹die› Schleierträgerin, so meine grundlegende These, in diesem Fall auf eine Geschlechterordnung. Auf die die in metonymischer Manier diese neue Sichtbarkeit in selbstverständliche Annahme, sie hinter den gesprayten europäischen Öffentlichkeiten garantiert, gefangen in Schleiern zu erwarten. Würde es der ein oder andere der paradoxen Struktur der Gleichzeitigkeit von sowohl Passant wagen, einen zweiten Blick auf die ungewöhnliche erhöhter Sichtbarkeit als auch intendierter Unsichtbarkeit. Untergrund-Werbetafel zu werfen, müsste er sich mit Dabei wird immer wieder die Forderung laut, diese Fanon die Frage stellen: Ist es wirklich unmissverständlich Auseinandersetzungen auch innerhalb des europäischen sie hinter dem Schleier? feministischen Projekts zu führen. Auf theoretischDas Bild, von dem hier die Rede ist und das ursprünglich analytischer Ebene könnte dies unter einem bisher als Unterwäsche-Werbung von Dolce&Gabbana eher stiefmütterlich behandelten differenztheoretischen in die Metro-Katakomben von Paris gelangt ist, Ansatz umgesetzt werden: mit der Intersektionalität zeigte in seiner Originalversion die italienische von gender und religion. Während das Zusammenwirken Nationalschwimmmannschaft vor historisch-römischer der Differenzkategorie race, class, gender in der Schwimmhallenkulisse. Die wohltrainierten Körper der Geschlechterforschung (und durchaus auch darüber hinaus) Proisportler sind in der hier betrachteten Version der zum methodischen Grundinventar gehört, gilt dies für das Werbetafel bereits dem Akt des Hijabizing zum Opfer Hinzufügen der Differenzkategorie religion nur eingeschränkt, gefallen. Hijabizing – so nennt die im Untergrund arbeitende wie es vor allem postkoloniale Theoretikerinnen kritisch expositionen 5 angemerkt haben (vgl. Mahmood 2005; Mohanty 2003; Ahmed 1992). An diese Feststellung lässt sich die Frage nach der Herausforderung anschließen, die die Praxis der Verschleierung für einen westlichen Feminismus mit sich zu bringen scheint. Um dieser Herausforderung sich annähern zu können, bedarf es einer vertieften Auseinandersetzung, die über das reine Aburteilen und Stigmatisieren der Verschleierung als Instrument von Unterdrückung oder seiner schlicht euphorischen Verteidigung von Seiten der Multikulturalisten hinausgehen muss. Religion (gemeint ist hier ‹der› Islam) soll im Folgenden ebenso wie gender als machtvolle Form der Grenzziehung und der Verstärkung einer Gruppenzugehörigkeit gelesen werden. Dieser differenztheoretische Ansatz soll der Vorstellung von einem universalen Subjekt ‹Frau› den Boden entziehen und die Forderung eines universellen feministischen Diskurses (global sisterhood) problematisieren. Die so genannte ‹Frauenfrage› dient und diente immer wieder als Terrain für politische und kulturelle Auseinandersetzungen der westlichen Welt mit ‹dem› Islam. So hat sie sich im Kolonialismus als treue Komplizin erwiesen und taucht auch in der Rhetorik des Afghanistan-Krieges der letzten Jahre wieder auf. Ein (für diesen Beitrag) interessanter Punkt hinsichtlich Fragen zur Intersektionalität (in diesem Fall gender und religion) ist, dass im Zuge einer Analyse auf eine der beiden Kategorien ein stärkerer Fokus gelegt werden kann. Wird also der Fokus auf religion als Differenzkategorie gelegt, könnte gender aus dem Fokus des Interesses geraten, d.h., dass stattdessen die Gemeinsamkeiten zwischen Männern und Frauen einer Gruppe betont werden in Abgrenzung zu dem ‹religiös› bzw. ‹kulturell Anderen›. Selbstverständlich überschreibt diese Betonung dabei nicht die Geschlechterdifferenz innerhalb dieser Gruppe. Es ist eher eine Art des Stummstellens denn des Auslöschens, oder um bei der Figur der Sichtbarkeit zu bleiben: Eine Differenzkategorie wird sichtbarer als die andere. Wie also problematisiert die Verschleierung einer italienischen Nationalschwimmmannschaft diese Fragen von global sisterhood, geschlechtlicher und religiöser Intelligibilität und der Komplizenschaft von Schleier und ‹weiblichem› Körper? Und wo liegt genau der «Terrorismus», den die Künstlerin sich in ihrer Selbstbeschreibung («I’m a visual terrorist») zuschreibt? Was wird für die Betrachtenden sichtbarer, was bleibt trotz freier Sicht auf behaarte Männerbeine unsichtbar? Hijabizing – Ein Akt «kreativer Zerstörung» Eben diese muskulösen Schwimmerwaden lenken die Aufmerksamkeit der Betrachterin auf die Geschlechterdifferenz, die sich unter dem Grafiti-Schleier bemerkbar macht. Und das, was sich dort bemerkbar macht, ist nicht das, was der religiösen Grenzfunktion des Hijabs dienlich wäre. Es scheint also nicht nur, mit Fanon, die Geschlechterordnung in ihrer Lesbarkeit erschüttert, 6 sondern ebenso die Symbol-Funktion des Schleiers für eine bestimmte religiöse Gruppenidentität problematisiert. Indem die selbsternannte «visuelle Terroristin» die ‹falschen› Körper verschleiert, werden die verschleierten Körper von ihrer Zeichenhaftigkeit, von ihrer Funktion sowohl als Grenze, die den Islam deiniert und absichert, als auch als Grenze, die die Geschlechter-Differenz eindeutig markiert und damit die soziale Intelligibilität garantiert, befreit. Ihr Akt «kreativer Zerstörung» kann als eine Zerstörung gelesen werden, die ebenfalls zu einem Bild, zu einem MetaBild wird: «Das Metabild ist eine Art beweglicher kultureller Apparat, der eine marginale Rolle als illustratives Werkzeug oder eine zentrale Rolle als eine Art bildliche Summe spielen kann, als das, was ich ein ‹Hyperikon› genannt habe, als etwas, das eine ganze Episteme, eine Theorie des Wissens, in sich enthält.» (Mitchell 2008: 190) Diskursive Hyperikons, wie Mitchell die Camera obscura, tabula rasa oder die platonische Höhle bezeichnet, führten die zentrale Position vor, so Mitchell, die diese Technologien der visuellen Repräsentation in dem Wissen von anderen und sich selbst einzunehmen vermögen. Was Mitchell an Metabildern fasziniert, ist ihr Potenzial, Theorie zu verbildlichen («(to) picture theory»). Sie sind demnach als mehr als bloße Illustrationen, als bloße epistemologische Modelle zu verstehen. Vielmehr sind sie «ethische, politische «Der Schleier öffnet seinen semiotischen Faltenwurf und wird zum offenen Zeichen: Er wird formal.» und ästhetische ‹Assemblagen›, die uns gestatten, den Beobachter zu beobachten» (Mitchell 2008: 190). Princess Hijab ‹zerstört› das Werbebild demnach nicht, indem sie bestimmte Körper unsichtbar und andere dadurch sichtbar werden lässt (nackte Körper vs. verschleierte Körper), sondern durch den Bedeutungsverlust der Zeichen Schleier und Geschlechtskörper wird der Inszenierung einer stabilen und eindeutigen Geschlechts- und religösen/ kulturellen Identität der semiotische Boden entzogen. Die Körper sind de-essentialisiert und können nicht mehr wahrgenommen werden als deinierbar anhand ixierbarer Identitätsmerkmale, die in einer Beziehung zu der sichtbaren Erscheinung eines so genannten materiellen Körpers stehen. Es geht demnach um das Entschleiern der bereits diskutierten Position der Technologien visueller Repräsentation im Wissen um ‹das Selbst› und ‹den Anderen› (vgl. Mitchell 2008: 190), wenn Princess Hijab von «visuellem Terrorismus» spricht. Für Judith Butler ist das Konzept von drag eine Möglichkeit, um zu versinnbildlichen, wie reality-effects in Bezug auf Geschlechterkonstruktion durch die performative Wiederholung ihrer ‹Aufführung› hergestellt werden. Dabei geht es ihr nicht so sehr darum, drag als die Möglichkeit zur Subversion von Geschlechternormen zu beleuchten, als vielmehr mit drag diese sich stetig wiederholende Produktion von reality-effects im sozialen Alltag lesbar werden zu lassen: «Most important was the idea that ‹reality› is given to certain kinds of gender appearances over others, and that those who are transgendered are regularly debased and pathologized for ‹not being real›» (Butler 2006: 282). Das Spiel mit diesen reality-effects ist auch in der GrafitiIntervention der Princess Hijab zu inden. Es geht bei dem Akt des Hijabizing demnach nicht um eine simple Verwirrung der Geschlechterordnung, sondern um das Entschleiern, das Lesbar- und Sichtbarmachen der Operationen dieser butlerschen reality-effects, wie sie an der alltäglichen Aufführung von Geschlecht beteiligt sind. Nicht um Subversion oder Widerstand geht es dabei, sondern um die Sichtbarmachung dieser Effekte eines alltäglichen «visuellen Terrorismus», um die Technologien visueller Repräsentation per se. Anzumerken ist hier, dass gerade in Bezug auf die Verschleierung und drag ein speziischeres Feld der Verwerfung bestimmter geschlechtlicher Darstellung aufgerufen wird. Ein Topos in Bezug auf den Diskurs über die Notwendigkeit, verschleierte Frauen entschleiern zu müssen, ist immer wieder das Unwissen über das, was darunter liegt. Dass die ‹männlichen› Körper in dem betrachteten Beispiel sichtbar unter dem Schleier hervorgucken, spielt deutlich auf diese Angst vor der Möglichkeit mit an, unter dem Schleier keine ‹Frau› vorzuinden. Hyperikon – Das Bild als Doppelagent Das Meta-Bild, das durch den Akt der kreativen Zerstörung entsteht, führt in das Territorium der Bildhaftigkeit des Körpers, in den Diskurs der Geschlechterdifferenz und zu den Fragen nach den (Un-)Sichtbarkeiten in der sozialen Ordnung überhaupt. Der Schleier, der in der westlichen Öffentlichkeit besonders nach 9/11 zum kleinsten gemeinsamen Nenner innerhalb eines Diskurses über ‹den› Islam avanciert und somit zu einem geschlossenen Zeichen geworden ist, über das sich sowohl Islamkritiker als auch die Kritiker der Islamkritiker verständigen können, öffnet nun seinen semiotischen Faltenwurf und wird unter der Feder Princess Hijabs zu einem offenen Zeichen: Er wird formal. Vieles kann nun an (politischer) Bedeutung in seine neue Zeichenhaftigkeit hineingelegt werden: Kritik am westlichen Schönheitsdiktat, eine Reformulierung der Ikonographie westlichen Lebensstils, Einschreibung in die Deutungshoheit über Körper und Macht im öffentlichen Raum etc. Als abschließender Schritt ließe sich die Frage aufwerfen, ob ‹der› Schleier nicht auch als ein Hyperikon im Sinne Mitchells fungieren kann. Während die Figur der Sichtbarkeit auf die Ebene dessen verweist, was wir tatsächlich sehen können (den Schleier als Objekt und den verhüllten Körper darunter), verweist ‹der› Schleier als Hyperikon auf das Sehen selbst. Die expositionen 7 sonst selbst so unsichtbare Visualität indet in der Kunst von Princess Hijab ein Mittel der Darstellung und wird sichtbar. Durch diese Verhandlung der Figur der (Un-)Sichtbarkeit anhand des Phänomens Verschleierung lässt sich auch eine kritische Hinterfragung der vermeintlichen Eindeutigkeiten anschließen, die unser Sehen immer schon bestimmen. Hier kann exemplarisch aufgezeigt werden, wie erfolgreich ‹Bilder› als Doppelagenten zwischen Verhüllen und Zeigen an der Konstruktion sozialer Realität mitarbeiten. Fragen nach der Unsichtbarkeit von Visualität generell lassen sich in diesem Kontext lancieren, nach kultureller Blindheit in heutigen pluralistischen Gesellschaften und nach dem nicht immer unproblematischen Bestreben, (politische) Sichtbarkeit zu erzeugen. Ahmed, Leila 1992: Women and Gender in Islam. Historical Roots of a Modern Debate Butler, Judith 2006: Afterword. In: Armour, Ellen / St. Ville, Susan M. (Hg.): Bodily Citations. Religion and Judith Butler. 276–292 Crenshaw, Kimberle 1991: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color. In: Stanford Law Review 43. 1241– 1299 Fanon, Frantz 1959: Algeria Unveiled. Im Internet unter: http://www.scribd.com/doc/ 36055427/Algeria-Unveiled-Fanon (Stand vom 11.11.2011) Mitchell, William J. T. 2008: Bildtheorie Mahmood, Saba 2005: Politics of Piety. The Islamic Revival and the Feminist Subject Mohanty, Chandra T. 2003: Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourse. In: Lewis, Reina / Mills, Sara (Hg.): Feminist Postcolonial Theory. A Reader Bildquelle: www.princesshijab.org * Lisa Skwirblies lebt, schreibt und forscht derzeit in Amsterdam und Warwick. Sie hat Theaterwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München studiert und der vorliegende Artikel ist aus ihrer Magisterarbeit entstanden. Diese erscheint 2012 im Tectum-Verlag unter dem Titel: «Performing the Veil. Zur Darstellung ‹muslimischer› Verschleierung und ‹weiblichem› Körper in den visuellen Künsten nach 9/11». 8 Radargrenzen, Körpergrenzen Von der «closed-world» zum «closed-self» Alain Gloor * D er Historiker Paul N. Edwards hat gezeigt, dass die Zeit des Kalten Krieges in den USA geprägt war von einem Diskurs der «closed-world». Als dessen vibrierendes Zentrum hat der USAmerikaner den SAGE-Radarcomputer beschrieben. Nach 9/11 hat sich dieser Diskurs verdichtet auf das «closed-self» – mit dem internationalen Flughafen-Checkpoint als Technologie im Mittelpunkt, der gefährliche Körper produziert. Mein Ziel ist es, die Diskurse zweier Epochen miteinander in Verbindung zu bringen. Nicht, um deren Parallelität zu postulieren oder einen historischen Vergleich mit letzter Konsequenz zu wagen – muss doch in beiden Fällen von jeweils differenten und bedeutsamen, singulären Vorbedingungen ausgegangen werden –, sondern in der Hoffnung, versuchsartig einen sich im neuen Jahrtausend bildenden Diskurs zu verstehen und greifbar zu machen: Von der Epoche des Kalten Krieges kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass sie ihr Ende gefunden hat. Wenn nicht 1989, so spätestens am 11. September 2001. Der Tag kann als Ausgangspunkt einer nächsten Zeitspanne betrachtet werden, die hier in Bezug zum Kalten Krieg gesetzt werden soll – die Phase des «War on Terror». Die Zerstörungskraft der Atombombe und die Zerstörungswut der in die Attentate von 9/11 involvierten Terroristen führten schon bei Zeitgenossen zur Bewusstwerdung, Zeugen eines einschneidenden Umbruchs zu sein: Beide Geschehnisse und Orte mit realen Zeiten und wirklichen Koordinaten öffneten zugleich abstrakte Räume, beide tragen sie dieselbe Bezeichnung: «Ground Zero». Der Historiker Karl Schlögel begreift den Raum des Bodennullpunktes in Manhattan folgendermassen: meine Hauptthese – an den Umrissen von Ländern und in den Verfassungen von Regierungen sichtbar werden. In Schlögels imaginären Raum tritt der Körper. Der Körper des modernen und mobilen Menschen selbst ist der Ort, wo Grenzen und Souveränitäten aufscheinen und sich zugleich im psychischen Selbst verankern. In diesem Sinne deute ich die Intensivierung der Passagierkontrollen an internationalen Flughäfen nach 9/11 und die dabei unter anderem eingesetzten Technologien des Körperscannings und des biometrischen Reisepasses als speziische soziotechnische Systeme des neuen Jahrtausends. Das heisst auch, sie als Technologien zu beschreiben, in deren Produktion und Verwendung Ängste und Hoffnungen der jüngsten Dekade eingelossen sind (und dies noch immer tun) und die bedeutsame Bilder für unser Weltverständnis generieren und dieses zugleich formen. Der FlughafenCheckpoint ruft damit einen Diskurs hervor, der nicht aus dem Nichts kommt, sondern eine Geschichte hat: Er steht in Korrelation zum vom Historiker Paul N. Edwards (1996) beschriebenen und in der Zeit des Kalten Krieges vorherrschenden Diskurs der «closed-world» und stellt eine Verdichtung desselben dar. Frei nach Edwards bezeichne ich ihn als «closed-self»-Diskurs. «Die Karte erfasst nicht nur einen physischen Ort, sondern Stillstand und Aussetzen der Selbstverständlichkeiten [...], und sie zeigt das Ende der Routinen, auf deren stillschweigenden Funktionieren unserer Zivilisation beruht. Ground Zero ist der Punkt [...], von dem aus die Welt neu vermessen wird. Darin spielen Fronten und Grabenkämpfe, nationale Grenzen und nationale Souveränitäten kaum eine Rolle, um so mehr aber imaginäre Räume [...].» (Schlögel 2003: S. 31) Airworld als Kernort der Moderne Ob Pearl Harbor, Hiroshima oder Manhattan: Das Unheil brach aus dem Himmel über die Menschen herein. Oder mit Annette Vowinckel gesprochen: aus der Airworld (2011). «Ground Zero» und der Luftraum sind Ausgangspunkte meiner Überlegungen. Das Böse kam von oben; zugleich steht die Airworld für eine speziische Virtualität, welche Bilder produzierte, die prägend für die Epoche des Kalten Krieges respektive der Dekade des «War on Terror» sein sollten: Hochkomplexe Computer sorgten einerseits für Radarbilder von Flugkörpern, Sicherheitsscanner für Bilder durchleuchteter Körper von Flugreisenden. Vowinckel sieht im Terrorismus der Al-Qaida – und insbesondere im Anschlag aufs World Trade Center – einen Angriff auf die moderne, westliche Gesellschaft schlechthin. Um hier Schlögels Argumentation eigenmächtig weiterzudenken, möchte ich betonen, dass diese neuartige Imagination vom Nullpunkt aus betreffend Grenzen und Souveränitäten sehr wohl eine Rolle spielt. Nur genügt es nach 9/11 nicht länger, dass diese – und das ist zugleich expositionen 9 Da Menschen, die sich im Luftraum aufhalten, «geradezu prototypisch den lexiblen, mobilen, kosmopolitischen Menschen des 20. Jahrhunderts verkörpern». Ein Typ Mensch, der gemeinhin ein transnational Reisender ist, in der «Airworld, die längst zu einem symbolischen Kernort der Moderne geworden ist» (S. 7). Die westlichen Nationen müssen somit nicht länger vorrangig vor feindlichen Flugkörpern beschützt werden, sondern vor liegenden Menschenkörpern, die sich mitten unter uns beinden, die wir selbst sein könnten. Bipolare Welten Edwards beschreibt, welch grosse Hoffnung die USA während des Kalten Krieges in die neueste Technologie zur Abwehr ihres vermeintlich unberechenbaren Gegenspielers UdSSR legten: «Beginning with SAGE, the hope of enclosing the awesome chaos of modern warfare [...] within the bubble worlds of automatic, rationalized systems spread rapidly throughout the military, as the shift to high-technology armed forces took hold in earnest.» (S. 110) Um diesem «chaos of modern warfare» zu entkommen, musste, und zwar noch bevor entsprechende Sicherheitstechnologien entwickelt werden konnten, ein Diskurs einer bipolaren Welt geschaffen werden – das Benennen eines bedrohlichen Anderen, vor dem es sich zu verschliessen ziemt. Das Radarsystem des SAGE hat diese Grenzen zur UdSSR deiniert. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 iel die USA in das Proklamieren einer ähnlichen Dualität zurück: Der damalige US-Vizepräsident Dick Cheney rechtfertigte die Invasion Afghanistans, indem er Pearl Harbor heraufbeschwor und die japanische Überraschungsattacke mit den jüngsten Angriffen verglich – ein neuer «just war» sei entbrannt. Über den Rückgriff auf die Rhetorik aus dem Zweiten Weltkrieg vollzieht sich im neuen Jahrtausend erneut eine Trennung der Welt in Gut und Böse, in Hell und Dunkel – wobei in beiden Fällen «weapons of mass destruction» eine wichtige Rolle spielen. Es ist die Rede von einer «axis of evil» und von «rogue states». «Containment» Sowohl die Zeit des Kalten Krieges wie die Zeit nach 9/11 waren von der Idee beherrscht, das Undenkbare denken zu müssen, um gegen die sich abzeichnenden, neuen Gefahren gewappnet zu sein. Das Nachdenken über den Atomkrieg geschah indes im virtuellen Raum: «Nuclear war existed only as a simulation, a game, a computer model.» (Edwards 1996: S. 120) Mit 9/11 kommt es zum Einbruch des Realen in die virtuelle Hyperrealität: Opportunistische kriegerische Massnahmen scheinen kurz nach dem Einsturz des World Trade Centers Actionilmen entlehnt; so zeigte sich die US-Regierung beispielsweise bereit, ein Passagierlugzeug abzuschiessen, sollte es unmissverständlich in Richtung des Weissen Hauses oder des Capitols unterwegs sein. Die damalige Senatorin Hillary Clinton sagte: «In desperate times like these, you have to think the unthinkable. And I, for one, would not have second-guessed that decision.» Die besonderen Umstände sorgen für eine Verwischung und ein Verschwinden des Bezuges zur Realität. Es waren schockartige Erfahrungen: Der Terroranschlag von 9/11 und die Feststellung vonseiten der USA, dass die UdSSR bereits 1949 im Besitz der Atombombe gewesen war – und sie also nicht länger im Hintertreffen lag, sondern sich auf Augenhöhe mit dem Konkurrenten aus dem Westen befand. Diese einschneidenden Momente sorgten in den USA für eine Neuauslegung des nationalen Verteidigungsrespektive Sicherheitskonzeptes und der Aussenpolitik. Sie führten zu einem Überdenken der bisherigen Methoden und einer Neueinschätzung technologischer Mittel. In den 1950er wie in den 2000er Jahren haben diese Ausnahmezustände die Durchsetzung eiliger Gesetzesbeschlüsse zur Folge. Neuartige überwachende und disziplinierende Sicherheitstechnologien setzen sich im Atomzeitalter wie in der Gesellschaft nach 9/11 durch. Beide Phasen waren geprägt von einem übergreifenden Diskurs des «containments»; wobei sich die sicherheitstechnischen Bemühungen nach dem 11. September 2001 in Beziehung zu den verteidigungstechnischen Avancen während der Zeit des Kalten Krieges setzen lassen: «To understand how efforts to contain other(ed) bodies unfolded after 9/11, we need to consider post-World War II efforts at containment. These previous efforts have undoubtedly informed the new ones. [...] Although the essence of a war against terrorism may differ substantially from other wars, it is our contention that the ideological components of the War on Terror resemble, very closely, the ideological components of the Cold War, including its military component and its emphasis on identifying threats to both the security of the country and the fabric of society.» (Bloodsworth-Lugo/Lugo-Lugo 2010: S. 10) Die politischen Entscheide der Zeit nach 9/11 stehen in direkter Abhängigkeit zur Eindämmungspolitik im Kalten Krieg. In beiden Fällen konnte sich die politische (und gesellschaftliche) Ausrichtung dank der propagierten und in der Vereinfachung eindeutigen vorherrschenden Feindbilder durchsetzen: einerseits die UdSSR, andererseits «der Terrorist». Ground Zero 2.0 Der Oxford English Dictionary verweist unter «ground zero» auf einen Artikel der New York Times von 1946, in dem diese Bezeichnung für die zerstörte Stadt Hiroshimas benutzt worden war. Das Wörterbuch deiniert den Begriff als «that part of the ground situated immediately under an exploding bomb, especially an atomic one». Es 10 handelte sich dabei zuerst um einen neutralen Terminus der Militärsprache, der später zwar vereinzelt wieder auftauchte (sei es nach Atombomben-Tests oder nach der Katastrophe in Tschernobyl 1986), nie wieder aber so prominent wie nach 9/11. Die New York Times benutzte die Bezeichnung in diesem Zusammenhang erstmals am 16. September 2001. Was hat diese Appropriation zu bedeuten? Natürlich spielte die Verwendung von «Ground Zero» eine Rolle im weiter oben beschriebenen diskursiven Rückgriff auf den Zweiten Weltkrieg durch die US-Regierung. Aber laut dem Kulturtheoretiker Gene Ray verweist die Wiederkehr dieser Bezeichnung auch indirekt auf ein nicht überwundenes, nationales Trauma – nämlich die Atomangriffe auf Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945. Damit lässt sich eine Spur von Hiroshima nach Manhattan im kollektiven Gedächtnis nachzeichnen, und deren unweigerliche Einwirkung auf das körperliche und mentale Dispositiv des einzelnen US-Bürgers behaupten. Paul N. Edwards «closed-world»-Diskurs Edwards geht im Kapitel «SAGE» (1996: S. 75–111) dem Projekt Whirlwind nach, «[that] started out as an analog computer designed to be part of a control system. It metamorphosed into a digital machine», und zwar «[into] the SAGE computerized air defense system» (ebd.: S. 75). Diese Maschine, erdacht 1944 als Flugsimulator und im Einsatz ab den frühen 1960er Jahren als Radar-Abwehrsystem, beschreibt der Historiker als soziotechnisches System. Über die Umschreibung der Entstehung des Semi-Automatic Ground Environment (SAGE) befühlt Edwards den Puls der damaligen Zeit und zeichnet überzeugend nach, dass «SAGE represented both a contribution and a visionary response to the emergence of a closed world» und «SAGE was far more than a weapons system. It was a dream, a myth, a metaphor for total defense, a technology of closed-world discourse» (1996: S. 110–111). Dieser Ansatz lässt sich nahtlos weiterdenken, in die Zeit nach dem 11. September überführen und für ein anderes, nicht weniger prägendes soziotechnisches System postulieren. Der Flughafen-Checkpoint als Technologie des Diskurses eines «closed-self» Der hochtechnologisierte Flughafen-Checkpoint steht in der Hinsicht in der Tradition des SAGE, als der Radarcomputer während des Kalten Krieges in ähnlicher Weise Diskurse formierte und einen semiotischen Raum bediente, wie es die technische Überprüfung von Flugreisenden in der zurückliegenden Dekade getan hat und weiterhin tut. Der SAGE ist sozusagen der vibrierende, faktische Mittelpunkt, der die sich spinnenden Diskurse der Zeit in sich vereint und festzurrt: «This is why the Cold War can be best understood in terms of discourses that connect technology, strategy, and culture: it was quite literally fought inside a quintessentially semiotic space, existing in models, language, iconography, and metaphor, embodied in technologies that lent to these semiotic dimensions their heavy inertial mass.» (Edwards 1996: S. 120) Die Körperscanner und biometrischen Identiikationspapiere (sowie weitere Sicherheitsmassnahmen) tragen einen entscheidenden Teil zu einem neuen Diskurs bei, den ich «closed-self»-Diskurs nenne. Dieser funktioniert unter anderem über Bilder von durchleuchteten Körpern – sie sind die neue «visionary response» zur Erscheinung des «closed-self»-Diskurses. Ganz so, wie sich der von Edwards beschriebene «closed-world»-Diskurs durch SAGEproduzierte Radarbilder äusserte. Mit dem SAGE teilt der Flughafen-Checkpoint die Eigenschaft, dass er Gefahren abwenden soll. Er nährt die Hoffnung, dass es möglich ist, sich vor gefährlichen Körpern zu schützen. Dabei muss auf einen entscheidenden Unterschied hingewiesen werden: Nach 9/11 wird die westliche Welt (oder die USA) nicht länger als «closed world protected by high technology» (ebd.: S. 96) gesehen, wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Vielmehr wird die globale Vorherrschaft der USA, noch stets legitimiert durch die Doktrin des amerikanischen Exzeptionalismus, als höchst verletzbar dargestellt. In Kürze: Welten oder Nationen können nicht mehr hermetisch abgeriegelt und gesichert werden – die «closed-world» ist Geschichte. Wohl aber die Körper einzelner Menschen. Auch die Hysterie um SARS und H1N1 und Hollywood-Filme wie Contagion (2011) passen zu diesem Denkmuster: Der einzelne Körper wird durch Erreger gefährlich und muss – zur allgemeinen Sicherheit – in die Quarantäne. Körper als Grenze Edwards schreibt, dass «[i]n the centralized digital command-control systems of the 1950s computers [...] embodied the discourse of ‹containment› and technological closure – its paradoxes and failures as well as its ideals» (ebd.: S. 113). Auch der Diskurs des neuen Jahrtausends ist, wie bereits beschrieben, ein Diskurs «of ‹containment› and technological closure». Und zwar mittels «the intersection of war efforts and rhetorical techniques within the United States, both of which have served to render particular bodies as American or un-American. As much as a military or public policy position, the rhetoric surrounding the War on Terror during the G. W. Bush administration was used to reinforce the boundaries of (American) citizenship. Bodies deemed un-American were construed as being in need of strict containment. As a political project, containment proved to be a complicated, pervasive, and effective strategy of social (hegemonic) control.» (Bloodsworth-Lugo/Lugo-Lugo 2010: S. 3) Der Checkpoint am Flughafen wird zum «site of biopower that represents the shift from a paradigm of ‹national defense› to ‹national security›» (Parks 2007: S. 186). Diese expositionen 11 Verschiebung vollzieht sich über die anvisierte Kontrolle von Körpern. Das Scannen und Zeigen von durchleuchteten Körpern legt eine neue Grenze fest. Eine Grenze, die sich nicht länger über das Radarnetz und den Flugraum deiniert, sondern die an den Flughäfen selbst in Erscheinung tritt: Der Checkpoint wird zur Spitze des security regimes. David Lyon spricht von einer «delocalization of the border»: «[Borders] themselves become ‹delocalized› as efforts are made to check travellers before they reach physical borders of ports of entry. Images and information circulate through different departments, looping back and forth in commercial, policing, and government networks. Surveillance records, once kept in ixed illing cabinets and dealing in data focused on persons in speciic places, are now luid, lowing and global. These consequences are properly ‹globalized› in the sense that they signal new patterns of social activity and novel social arrangements, which are less constrained by geography. The ‹delocalized border› is a prime example of globalized surveillance.» (Lyon 2003: S. 110) Verliert die Grenze ihre Geographie, so wird der Körper von Bürgern deren neuer Raum. Das fällt zusammen mit folgender Erkenntnis: «[C]itizenship has become synonymous with nationality [...]. Within this construction, a threat to one (citizenship) becomes a threat to the other (the nation), and vice versa» (Bloodsworth-Lugo/Lugo-Lugo 2010: S. 59). Der Körper des Staatsbürgers wird als Ort der Nation konstruiert, und damit auch zu deren Grenze. Diese imaginierte Grenze beisst sich folglich fest im Körper des Staatsbürgers (respektive Staatslosen) und macht jeden Passagier zum potentiellen Terroristen: «It becomes clear that current terrorism scenarios coalesce around the presupposition that terrorist attack is imminent, in our midst and catastrophic. This imagination of an omnipresent enemy who could be anywhere, strike at anytime and who in fact could be ‹among us›, [is what] fosters a ‹productive economy of fear›.» (De Goede 2008: S. 162) In dieser «productive economy of fear» vollzieht sich zunächst eine Globalisierung in dem Sinne, als die Gefahr von überall her kommen kann, aus dem Innersten wie dem Äussersten; eine globale Öffnung, die letztlich das einzelne Subjekt umfängt, für eine diskursive Wiederbelebung des gläsernen Menschen sorgt und den einzelnen Körper gefährlich werden lässt. Virtualisierung des Körpers Die Gefahr lauert überall: Dieser Umstand legitimiert das Sammeln unzähliger Daten. Leben werden übersetzt in die binäre Sprache des elektronischen Codes, Körper durchleuchtet und entblösst. Diese Transformation physischer Körper in Informationen, virtuelle Bilder und Daten fügt sich nahtlos ein in den Diskurs des Cyberwars, des Netzwerkkriegs. Die RAND Corporation beschäftigt sich seit 9/11 damit, den Netzkrieg zu visualisieren und konzeptualisiert damit einen unkonventionellen Gegner, der sich modernster Kommunikationsmittel bedient. Der Computer ist für die Kriegsführung weiterhin überaus bestimmend – wechselseitig bedingt durch die Technologie, die Anwendung und die vorherrschenden Diskurse, von denen er geprägt ist und die er prägt. Computer sind heute, im Gegensatz zur Zeit des Kalten Krieges, keine riesigen Ungetüme mehr. Sie sind handlich geworden, wir tragen sie mit uns mit. Der Computer (respektive das Mobiltelefon oder iPad) ist zu einer, nach Adam Gopnik, internalisierten Erweiterung des Körpers geworden. Gopnik beschreibt in seinem Essay «The information. How the Internet Gets Inside Us» das typische Subjekt im Zeitalter des Vernetztseins als «inverted self»: «[...] things that were once external and subject to the social rules of caution and embarrassment [...] are now easily internalized, made to feel like mere workings of the id left on its own.» (Gopnik 2011) Die virtuelle Welt führt in eine endlose Schlaufe der Selbstreferentialität. Darin sehe ich eine weitere Entsprechung zum «closed-self»-Diskurs. Konklusion Der US-amerikanische Historiker John W. Dower untersucht in seiner umfassenden Studie Cultures of War. Pearl Harbor / Hiroshima /9-11 / Iraq die Parallelen zwischen den genannten historischen Stationen. Er kommt zu folgendem Schluss: «Like Pearl Harbor, ‹Hiroshima› is code of a sort for placing 9-11 in historical perspective. Among Americans, both the surprise attack of December 7, 1941, and the ensuing war’s cataclysmic end with the birth of the nuclear age in August 1945 seemed to be compressed, merged, resurrected in the hellire that raged in Manhattan and mesmerized the world. Even the post-Cold War superpower was suddenly exposed as being vulnerable to weapons of mass destruction – not in the hands of another great power, but in the possession of ragtag fanatics. The connection between September 11 and Hiroshima was locked in place when politicians and the media almost immediately baptized the ravaged site of the World Trade Center’s twin towers ‹Ground Zero›.» (2010: S. 151–152) Ich habe nachzuweisen versucht, dass die Epochen des Kalten Krieges und des «War on Terror» nach 9/11, die beide ihren Ursprung bei einem Ort namens «Ground Zero» haben, mit einer gewissen Rechtmässigkeit vergleichbar sind. Weil die Invasion Afghanistans und Iraks mit einem Rückgriff auf die Rhetorik des Zweiten Weltkrieges legitimiert worden war, und weil die Vergangenheit stets neu gelesen und interpretiert wird. Nach dem Angriff auf das World Trade Center ist der Blick zurück nach Hiroshima und Nagasaki ein anderer. 12 Mein Hauptanliegen war es aber, über die Verbindung dieser beiden Ären zu zeigen, dass der Diskurs einer «closed-world», der für die Zeit des Kalten Krieges seine Gültigkeit hatte und als dessen soziotechnische Verkörperung der SAGE interpretiert werden kann, seine Nachfolge im «closedself»-Diskurs gefunden hat. Der Flughafen-Checkpoint und insbesondere das Scannen von Körpern produzieren ikonische Bilder unserer Zeit, die den Schwerpunkt nicht auf die Verteidigung des Staates, sondern auf Sicherheit und die Überwachung einzelner, gefährlicher Körper legt. Wie keine andere Technologie scheint der Flughafen-Checkpoint für die Ängste und Sorgen in einer unsicheren Zeit der Bedrohung durch den Terror eine technische Lösung zu bieten. Darüber hinaus ist der Flughafen-Checkpoint aber nicht bloss technisch-deterministisch zu deuten. Er steht, wie gesagt, im Zentrum eines somatischen Raumes, eines Diskurses des «closed-self», der die Kultur und Gesellschaft nach 9/11 widerspiegelt. Es handelt sich um einen Diskurs und eine Technologie, die zugleich symbolische Zuschreibungen in sich aufnehmen und generieren, und die kulturelle Bedeutung ausstossen wie absorbieren. Bloodsworth-Lugo, Mary K./Lugo-Lugo, Carmen R. 2010: Containing (Un)American Bodies. Race, Sexuality and Post-9/11 Constructions of Citizenship De Goede, Marieke 2008: Beyond Risk: Premediation and the Post-9/11 Security Imagination. In: Security Dialogue 39/2-3 ( 2008), 155–176 Dower, John W. 2010: Cultures of War. Pearl Harbor / Hiroshima / 9-11 / Iraq Edwards, Paul N. 1996: The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America Gopnik, Adam 2011: The Information. How the Internet Gets Inside Us. Im Internet unter: http://www.newyorker.com/arts/critics/ atlarge/2011/02/14/110214crat_atlarge_gopnik? currentPage=all (Stand vom 6.08.2011) Lyon, David 2003: Surveillance after September 11 Parks, Lisa 2007: Points of Departure: The Culture of US Airport Screening. In: Journal of Visual Culture 6/2 (2007), 183–200 Ray, Gene 2005: Terror and the Sublime in Art and Critical Theory. From Auschwitz to Hiroshima to September 11 and Beyond Schlögel, Karl 2003: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik Vowinckel, Annette 2011: Flugzeugentführungen. Eine Kulturgeschichte * Alain Gloor aus Basel hat an der Universität Zürich Populäre Kulturen, Geschichte und Kunstgeschichte Studiert (Bachelor) studiert und ist nun mit dem Masterstudiengang «Geschichte und Philosophie des Wissens» an der ETH beschäftigt. Dieser Artikel beruht auf einer Seminararbeit zum Thema. expositionen 13 Parasiten im Paradies? Freiwillige Arbeitslosigkeit und das bedingungslose Grundeinkommen Elias Zimmermann * S tellen Sie sich vor, in einer Gesellschaft bekommt jeder denselben Betrag, welcher ihm die Grundlage zu einem würdevollen Leben sichert. Ist es gerecht, dass der Eine weiterarbeitet und sich etwas dazu verdient, zugleich jedoch den Lebensunterhalt des Anderen inanziert, der lieber den ganzen Tag seiner Lieblingsbeschäftigung nachkommt? Eine Rechtfertigung. Ein bedingungsloses Grundeinkommen bedeutet, dass der Staat einem jeden – unabhängig von seinem Vermögen oder seiner Arbeitsstelle – ein Einkommen bezahlt. Es soll die Gesellschaft von marktwirtschaftlichen Zwängen befreien und mehr Freiraum für die Erfüllung persönlicher Projekte und Lebensvorstellungen gewähren. Die Menschen würden weiterhin einen Lohn für ihre Arbeit erhalten und weiterhin grosse Anreize haben zu arbeiten. Die Sorge um die Sicherung der eigenen Existenz wäre durch ein Grundeinkommen getilgt. «Harte und unangenehme Arbeit muss höher entlohnt werden, weil die Bereitschaft sinkt, solche Arbeit zu einem kleinen Lohn zu verrichten.» Das Grundeinkommen im Diskurs Was derart utopisch und schwer umsetzbar klingt, ist längst ein heiss diskutiertes Politikum, für das sich nicht nur Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften, sondern auch die politische Philosophie interessiert. Einer der massgeblichen Vordenker und Verteidiger des bedingungslosen Grundeinkommens (englisch: basic income) ist der holländische Philosoph Philippe Van Parijs. Die Vorteile, welche er und seine Mitstreiter immer wieder hervorheben, sind mannigfaltig (Van Parijs 2000): Die Abkopplung der Finanzierung eines würdigen Lebens vom wirtschaftlichen Druck soll sicherstellen, dass unwürdige Arbeitsbedingungen von den sozial Benachteiligten nicht mehr in Kauf genommen werden müssen. Harte und unangenehme Arbeit muss höher entlohnt werden, weil die Bereitschaft sinkt, solche Arbeit zu einem kleinen Lohn zu verrichten, der den Betrag des Grundeinkommens nur unwesentlich erhöht. Damit wird der inanzielle und soziale Status von ungelernten Arbeitskräften verbessert, aber auch der Status von denjenigen, die von Geldern des Staates leben müssen, würde sich verändern. Während der Gang zum Sozial- oder Arbeitsamt heute oft als entwürdigend wahrgenommen wird, braucht sich mit dem Grundeinkommen niemand mehr für seine Arbeitslosigkeit zu rechtfertigen – dem Teufelskreis der Verschuldung wird ebenso entgegengetreten wie dem Problem der sozialen Isolation und Ausgrenzung. Schliesslich soll ein Grundeinkommen den gesellschaftlichen Wert von Arbeit verändern: Wer es vorzieht, einer wenig lukrativen, dafür kreativen oder gemeinnützigen Arbeit nachzukommen, erhält dazu die Möglichkeit, ohne wirtschaftlichem Druck ausgesetzt zu sein. Dass zu viele Menschen gar nicht mehr arbeiten würden, wird von Vertretern des Grundeinkommens zurückgewiesen. In Umfragen geben neunzig Prozent der Befragten an, dass sie weiterhin einer Arbeit nachgehen würden – obschon sie davon überzeugt sind, dass der grösste Teil der Bevölkerung zu ‹Schmarotzern› würde (Fritz 2009). Das Auseinanderdriften von Fremd- und Eigenwahrnehmung spricht wohl für die Befürworter. Dagegen gibt es eine Vielzahl ernstzunehmender Einwände gegen das Grundeinkommen oder zumindest seine Bedingungslosigkeit. Auf die andernorts breit diskutierten praktisch-wirtschaftlichen Probleme, wie die störende Wirkung des Binnenhandels sowie der Teuerung und der Regelung des Grundeinkommens im Falle starker Immigration, soll hier nicht eingegangen werden. Dringlicher aus philosophischer Sicht ist nicht die Frage nach der Machbarkeit, sondern die Frage nach der ethischen Rechtfertigung. Eine Diskussion dreht sich dabei um das Problem der Arbeitsunwilligen: Ist die bedingungslose Unterstützung auch dann noch gerecht, wenn sie Menschen zu gute kommt, die nicht arbeiten wollen, obschon sie arbeiten könnten? Sind sie – wie einst ein amerikanischer Senator Hippies genannt hat, die vom Sozialstaat leben – «parasites in paradise»? Das Surfer-Problem In seinem Aufsatz «Why Surfers Should be Fed» (Van Parijs 1991) plädiert Philippe Van Parijs für die bedingungslose Unterstützung von ‹Arbeitsunwilligen›, seien es nun ‹welfare Hippies› oder Surfer an der Küste von Malibu. Letzteres Beispiel entspringt der Feder des grossen politischen 14 Philosophen John Rawls, der sich, unabhängig von der gerecht verteilt sein. Wollen nicht alle das ihnen zustehende Grundeinkommensdiskussion, dezidiert dagegen ausspricht, Land selber beplanzen, so dürfen sie das Anrecht daran auch Arbeitsunwillige in den vollen Genuss staatlicher anderen ‹vermieten›. Da die Agrikultur heute eine geringe Unterstützung kommen zu lassen (Rawls 1988). Van Parijs, Rolle in der Generierung des Lebensunterhalts in der im weitesten Sinne ein Rawlsianer, verwendet Rawls‘ eigene westlichen Welt spielt, schlägt Van Parijs stattdessen vor, Theorie gegen dessen Argumentation. Er will zeigen, dass das Recht auf eine Arbeitsstelle als gerecht zu verteilende Rawls‘ Gerechtigkeitsbegriff auch die Unterstützung des Ressource zu betrachten. ‹Surfers› durch ein Grundeinkommen unterstützt. In einer Gesellschaft herrscht also laut Van Parijs nicht die Eine kurze, unvollständige Einführung in Rawls‘ Plicht zu arbeiten, um im Gegenzug vom Staat im Falle Konzeption einer gerechten Gesellschaft ist unentbehrlich, von Arbeitslosigkeit unterstützt zu werden. Umgekehrt: Es um dem Disput der beiden Denker folgen zu können. herrscht ein Recht auf Arbeit und wer von diesem keinen Rawls‘ kontraktualistische Gebrauch machen will, kann es Position (von Kontrakt = anderen abtreten, wofür er durch «Es herrscht ein Recht auf Arbeit [Gesellschafts-]Vertrag) basiert die Gemeinschaft ausgezahlt und wer von diesem keinen Geauf der Vorstellung, dass soziale wird. Dieser Auffassung liegt brauch machen will, kann es anderen Gerechtigkeit eine Form von der Gedanke zugrunde, dass in vermieten.» Fairness ist (Rawls 1999 [erstv. einer Dienstleistungsgesellschaft, 1970]). Auf diese könnten in der durch die steigende sich alle Teilnehmer einer Gesellschaft einigen, wenn Technologisierung immer weniger Arbeit vorhanden sie die Gestaltung aller sozialen Institutionen aus einer ist, der Arbeitsmarkt nicht mehr fähig ist, ein natürliches hypothetischen ‹blinden› Situation heraus bestimmen Gleichgewicht zu erlangen. Das Grundeinkommen würden, in der sie nicht wissen, welche Position sie in der will diesem gestörten Gleichgewicht nicht durch die Gesellschaft einnehmen würden. Eines der Prinzipien, auf (künstliche) Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern durch die sich laut Rawls alle einigen würden, ist der Gedanke, dass die Vermietung von Arbeitsstellen entgegentreten. Der den Wenigst-Bevorteilten die grösstmögliche Unterstützung Malibu Surfer wäre darin gerechtfertigt, nicht zu arbeiten. zukommen muss (das difference-principle). Am wenigsten Er verzichtet freiwillig auf eine gemeine Ressource, einen bevorteilt sind diejenigen, die über den kleinsten Anteil der Arbeitsplatz, die ihm als Mitglied der Gesellschaft zustehen lebenswichtigen Güter einer Gesellschaft (‹primary goods›) würde. Er verzichtet auf ein weitaus luxuriöseres Leben verfügen. zugunsten grösstmöglicher Freiheit und macht Platz für all Auf den ersten Blick scheint das difference principle Rawls’ diejenigen, die arbeiten wollen. den Gedanken eines bedingungslosen Grundeinkommens zu unterstützen: Die meisten Arbeitsunwilligen gehören Ethische Einwände gegen Van Parijs denjenigen an, die über die wenigsten primären Güter Van Parijs scheint es zwar zu gelingen, Rawls‘ Bedenken verfügen – der Wille, diese zu Erlangen, ist in seinem Modell einer wirtschaftlichen Ungerechtigkeit des Surfer-Problems keine Grundbedingung, um sie in ihren Genuss kommen zurückzuweisen. Der amerikanische Philosoph Eugene zu lassen. In einem Aufsatz von 1988 überarbeitet Rawls V. Torisky (Torisky 1993) weist diese Argumentation jedoch seine Konzeption der ‹primary goods› dahingehend, jedoch zurück, indem er das Surfer-Problem nicht als dass auch Freizeit zu ihnen zu zählen ist (Rawls 1988). Wer Frage der gerechten Verteilung, sondern der ethischen also, wie ‹die Surfer›, freiwillig auf Arbeit verzichtet, um den Schädlichkeit verortet: Die tieferliegende Ungerechtigkeit ganzen Tag seiner Freizeitbeschäftigng nachzukommen, eines parasitären Verhaltens, das gegen unser intuitives besitzt unverhältnismässig viel von einem bestimmten Gerechtigkeitsverständnis verstösst, stehe im Zentrum. primären Gut und fällt somit nicht unter die Kategorie der Unabhängig davon, wie die Verteilung des Grundeinkommens Wenigst-Bevorteilten. Die Surfer von Malibu gehen leer aus. begründet werde, verhalte sich der Surfer so, dass er seinen Plichten als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft Employment Rents nicht nachkomme. Damit untergrabe er nicht nur einen Van Parijs argumentiert gegen diese Auffassung von hypothetischen Gesellschaftsvertrag, sondern auch den primären Gütern. Ein Wille zur Arbeit sei kaum objektiv eigenen Selbstrespekt. Die Verweigerung zu arbeiten in ein System der Güter(um)verteilung zu integrieren. widerspreche dem liberalen und sozialen Prinzip, aufgrund Ab wann ist jemand arbeitsunwillig und wie soll das dessen die Verweigerung erst möglich gemacht werde. Es gemessen werden? Anstatt Rawls‘ Ansatz einer schwer mit sei gewissermassen ein unsolidarisches Ausnützen der aus anderen Gütern aufwiegbaren Ressource (wieviel Wert hat Solidarität angebotenen Freiheit. Zugleich entmündige ein Zeit?), schlägt er eine gerechte Verteilung von externen Grundeinkommens-Staat seine Mitglieder, indem es ihnen Ressourcen vor. Er greift damit einen Gedanke von Roland die Verantwortung für ihren Lebensunterhalt wegnimmt. Dworkin auf (Dworkin 1981): In einer Gesellschaft gibt es Dieses Problem könne nur gelöst werden, indem zum Gemeingüter (‹commons›), wie das Land, aus dem wir unsere Beispiel mit Hilfe von gemeinnütziger Arbeit der Status Lebensgrundlage schöpfen (Agrikultur), und diese müssen des Surfers als gerechtfertigtes Mitglied der Gesellschaft expositionen 15 wiederhergestellt wird. Das Grundeinkommen wäre nicht länger bedingungslos. Toriskys Kritik gipfelt in der Unterstellung, dass dem Arbeitsunwilligen ermöglicht werde, ein invasives Verhalten zu zeigen: Er schränke die Freiheit anderer zugunsten der eigenen Freiheit ein, indem er auf etwas verzichtet, was andere in Kauf nehmen müssen, um ihn zu unterstützen. Torisky vergleicht den Surfer mit einem Sektenguru, der seine Anhänger zum eigenen Wohl missbraucht. Im Folgenden werden Toriskys Vorwürfe mit einem Argumentarium zurückgewiesen, das nicht auf der Tradition von Rawls‘ Gerechtigkeitsbegriff aufbaut, sondern dafür plädiert, den Wert der Freiheit und der sorgenfreien Existenz zu überdenken. Berechtigt sind Toriskys Vorwürfe insbesondere, weil sie zwei ‹common senses› (weit verbreitete, intuitiven Annahmen) zu entspringen scheinen. Der erste common sense besagt, dass die externe Übernahme von gewissen Verantwortungen zu einer schlechten Form von Entmündigung führen kann. Der zweite besagt, dass Leistung ohne Gegenleistung in einer Gesellschaft nicht akzeptiert werden kann. Die abschliessenden Überlegungen hinterfragen, ob diese Annahmen im Falle des Grundeinkommens zutreffen, und falls ja, ob sie zu relativieren oder gar zurückzuweisen sind. respektiert und gefördert wird. Diese Entfaltung bringt im Gegenzug der Gesellschaft einen beträchtlichen Nutzen, weil durch sie gratis wertvolle soziale Strukturen aufgebaut werden können, seien dies nun Lesezirkel, Kunstkollektive jenseits des Kunstmarktes oder alternative Kinder-, Altenund Behindertenbetreungsmodelle. Der Arbeitsunwillige ‹verlernt› nicht, die Verantwortung für seine Existenzgrundlage zu tragen: Die vollumfängliche Verantwortung hat er bereits ohne Grundeinkommen nie tragen können (es sei denn, sein Leben wäre völlig autark auf Selbstversorgung ausgerichtet gewesen). Der Verzicht auf Arbeit geht auch mit dem Grundeinkommen mit Einschränkungen in der Lebensführung einher, die in Kauf zu nehmen für die meisten unangenehmer sind, als eine einfache Arbeit anzunehmen, für die es nicht viel ‹Erlerntes› bedarf. Invasivität und der Wert der sorgenfreien Existenz Invasivität, als parasitäres Verhalten, das andere einschränkt, ist in unserer Gesellschaft nicht nur weit verbreitet, sondern wird auch weitgehend akzeptiert. Betrachten wir das Verhalten eines Grossaktionärs, der seinen Lebensunterhalt (und wohl weit mehr als das) durch die grösstmögliche Rendite seiner Anlagen erzielt. Einen grösstmöglichen Gewinn erhält er etwa durch Senkungen der Löhne Entmündigung und der Wert der Freiheit und durch Verschärfung der Arbeitsbedingungen derer, Unser Begriff der gefährlichen die durch die wirtschaftlichen Entmündigung entspringt dem Umstände dazu gezwungen sind, «Die Verantwortung für eine würdige in ‹seiner› Firma zu arbeiten. Gedanken, dass Hilfe dann Existenzgrundlage ist schon heute schädlich sein kann, wenn Zwar wird diese Form der sie zur Unfähigkeit führt, das Invasivität in ihren schlimmsten eine gesellschaftliche.» selber zu tun, was der Helfende Auswüchsen durch das Gesetz für uns tut – in diesem Fall eingegrenzt – es gibt jedoch die Verantwortung für eine keinen breit abgestützten Willen, sorgenfreie Existenzgrundlage zu tragen. Doch lastet diese Invasivität durch Besitzverhältnisse zu unterbinden. Verantwortung tatsächlich auf uns? Ist es nicht vielmehr so, In einer Grundeinkommens-Gesellschaft wird dieser dass wir bereits heute in einem komplexen Wirtschaftssystem Mechanismus einfacher zu bekämpfen sein, aber nicht leben, indem niemand diese Verantwortung für sich selber gänzlich verschwinden, denn sie ist grundsätzlich mit einem tragen kann, weil er als Arbeitnehmer die Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftssystem vereinbar. zur Gewinnung seines Lebensunterhaltes nur sehr bedingt Die Investition von Besitz selber als ‹Leistung› zu zu steuern fähig ist? Die Verantwortung für eine würdige betrachten, welche als ‹Gegenleistung› verschlechterte Existenzgrundlage ist schon heute eine gesellschaftliche. Arbeitsbedingungen nach sich ziehen darf, ist fragwürdig. Der Schweizer Bauer, dessen Lebensunterhalt erst Im Gegenteil: Die gesteigerte Leistung der Arbeitsnehmer durch Subventionen ermöglicht wird, fühlt sich nicht wird durch den Aktionär nicht mit einer entsprechenden durch die Subventionen, sondern vielmehr durch die Gegenleistung belohnt. Das enttarnt die Anwendung des daran geknüpften Bedingungen bevormundet. Um eine eingangs erwähnten common sense (‹keine Leistung ohne gefährliche Entmündigung handelt es sich dabei kaum, Gegenleistung›) als heuchlerisch und allzu vereinfachend. hilft sie ihm doch dabei, das zu tun, was er und die Zur Gewährleistung eines bedingungslosen GrundeinGesellschaft für notwendig halten. Die Verteilung eines kommens müssen Arbeitende den wirtschaftlichen Druck Grundeinkommens setzt den radikaleren kollektiven Willen des Arbeitsmarktes auf sich nehmen und ermöglichen voraus, die maximal mögliche Freiheit jedes Einzelnen als dadurch anderen, die nicht bereit sind zu arbeiten, diesem notwendig zu erachten. Es handelt sich dabei also primär Druck zu entgehen. Zwar wird durch das Grundeinkommen nicht um Entmündigung, sondern um Ermächtigung. Hat der wirtschaftliche Druck auf den Arbeitnehmer eine Gesellschaft den erwähnten Willen, so kann man kaum verkleinert, völlig verschwinden wird er jedoch nicht. Der mehr von einer Untergrabung des Selbstrespektes sprechen, Arbeitsunwillige lebt, wie der Aktionär, von der Arbeit weil auch die persönliche Entfaltung jenseits der Arbeitswelt anderer. Im Gegensatz zum Aktionär hat er kein Geld 16 investiert, das seine Existenzsicherung marktwirtschaftlich rechtfertigen würde. Sein Wert im sozialen System entspringt lediglich seiner Existenz als Mensch. So, wie der Wille vorhanden sein muss, den Wert der persönlichen Freiheit neu zu gewichten, so verlangt das Grundeinkommen auch eine höhere Bewertung des sorgenfreien Lebens seiner Mitglieder: Die eigene Existenz ist das ‹Kapital›, das jeden zum Grundeinkommen – und damit zur Sorgenfreiheit bezüglich der Lebenserhaltung – bemächtigt. Ein funktionierendes Grundeinkommens-System proitiert «Im Idealfall proitieren also alle von den ‚Parasiten im Paradies‘, denn sie leisten etwas, indem sie nichts leisten.» davon, wenn Menschen freiwillig auf Arbeit verzichten, weil so der Arbeitsmarkt zugunsten der Arbeitnehmer gestaltet wird. Im Idealfall proitieren also alle von den ‹Parasiten im Paradies›, denn sie leisten etwas, indem sie nichts leisten. Funktioniert das Grundeinkommens-System jedoch nicht reibungslos, so wird es durch Arbeitsunwillige belastet – dies muss die Grundeinkommens-Gesellschaft in Kauf nehmen, will sie den skizzierten ethischen Richtlinien folgen. Ich argumentiere hier dafür, dass der Surfer durch sein Verhalten zwar gerechtfertigte moralische Kritik verdienen mag – nämlich dann, wenn er das System mehr belastet, als ihm nützt –, dies jedoch kein Grund ist, die Freiheit im System, welches sein Verhalten ermöglicht, einzuschränken. Invasivität als solche ist ethisch nicht rechtfertigbar, bleibt aber unvermeidbar in einem gerechten System, wenn, wie hier, die ethischen Werte, die sie zulassen, ihre Schädlichkeit überwiegen. Das Diktum der ‹Parasiten im Paradies› wirft eine Frage auf, die über die Probleme des Grundeinkommens hinaus verweist: Wenn es denn tatsächlich möglich wäre, so etwas wie ein Paradies auf Erden zu schaffen – und so hoch ist das Ziel des Grundeinkommens bei weitem nicht gesetzt –, wer hätte dann die Berechtigung, in ihm zu leben? Die hier untersuchten ethischen Werte legen nahe, dass es auch für vermeintliche ‹Parasiten› Platz geben muss. Dworkin, Ronald 1981: What Is Equality? Part 2: Equality of Resources. In: Philosophy & Public Affairs 11/4. 283-345. Fritz, Bianca 2009: Ein Grundeinkommen für alle. Im Internet unter: http://www.badische-zeitung.de/ basel/ein-grundeinkommen-fuer-alle.html. (Stand vom 21.10.2011). Rawls, John 1999 [Erstausgabe 1970]: A Theory of Justice. Revised Edition. Rawls, John 1988: The Priority of Right and Ideas of the Good. In: Philosophy & Public Affairs 17/4. 251-276. Torisky, Eugene V. 1993: Van Parijs, Rawls and Unconditional Basic Income. In: Analysis 53/4. 289-297. Van Parijs, Philippe 1991: Why Surfers Should be Fed: The Liberal Case for an Unconditional Basic Income. In: Philosophy & Public Affairs 20/2. 101-131. Van Parijs, Philippe 2000: Basic Income: A Simple and Powerful Idea for the 21st Century. Basic Income European Network VIIIth International Congress, Berlin, 6-7 October 2000. Im Internet unter: http:// www.basicincome.org/bien/pdf/2000VanParijs.pdf. (Stand vom 21.10.2011). * Elias Zimmermann studiert im 10. Semester Germanistik und Philosophie. Die vorliegende Arbeit aus dem Bereich der Ethik und der politischen Philosophie entspringt seiner abschliessenden Projektarbeit. expositionen 17 Verordnete Mentalität der Härte Die neoliberale Praxis der Härtefall-Regelung für Sans-Papiers D Elango Kanakasundaram * ie über 100 000 Sans-Papiers in der Schweiz arbeiten grösstenteils unter prekären Bedingungen, da sie aufgrund der ständigen Angst, von den Behörden entdeckt zu werden, kaum ihre Rechte beanspruchen können. Die HärtefallRegelung stellt für sie die einzige Möglichkeit dar, sich aus ihrer Situation der Entrechtung und Marginalisierung zu befreien, da durch diese ihr Aufenthaltsstatus legalisiert werden kann. Im Folgenden wird im Anschluss an Foucaults Gouvernementalitäts-Begriff und darauf aufbauende Arbeiten gezeigt, dass die Härtefall-Regelung Bestandteil der in der Schweiz herrschenden neoliberalen Praxis ist, und sie infolgedessen äusserst restriktiv ausgeübt wird. Neoliberalismus: künstlich arrangierte Freiheit nach ökonomischer Maxime Der «Neoliberalismus» ist ein politisches Projekt, das darauf abzielt, «eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt» (Bröckling et al. 2000: 9). Diese soziale Realität würde entgegen der Programmatik des neoliberalen Projekts nicht das Ende des Staates bedeuten, sondern eine Transformation in einen neoliberalen Staat. Ein solcher Staat ist dem Prinzip des Marktes unterstellt. Der neoliberale Staat arbeitet mit Möglichkeitsfeldern: Mit unterschiedlichen Massnahmen schafft er Bedingungen, unter denen die Subjekte frei sein können, er produziert die Freiheit. Die Produktion der Freiheit gelingt durch die «Führung». Einerseits geschieht die «Führung» mit Hilfe von Herrschaftstechnologien, die die Subjekte im Sinne der Herrschaftszwecke lenkt, andererseits mit Hilfe von Selbsttechnologien. Selbsttechnologien sind Selbstentwürfe, die der neoliberale Staat den Subjekten vorgibt. Der neoliberale Selbstentwurf zeichnet sich durch Flexibilität, Mobilität, Dynamik, Initiative und Anpassungsfähigkeit aus. Schlagwörter wie Selbstbestimmung, Verantwortung oder Wahlfreiheit sind im neoliberalen Projekt Instrumente, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst zu verändern. Durch den Abbau des Wohlfahrtstaates wird die Schaffung eines neoliberalen Subjekttyps gefördert. So werden die Aufgaben des Staates an das «verantwortliche», «umsichtige» und rationale Subjekt delegiert. Risiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit werden auf das Subjekt übertragen. Das entworfene Subjekt verfügt über eine Moral, deren Qualität über die Fähigkeit bestimmt wird, Kosten/Nutzen-Kalkulationen von Handlungsalternativen vorzunehmen. Selbstverantwortlich handelnde Subjekte sind weitaus ökonomischer als solche, welche mit Herrschaftstechnologien gelenkt werden müssen. Dabei wird die Eigenschaft der Selbstverantwortlichkeit an betriebswirtschaftlichen Efizienzkriterien gemessen. Das Subjekt indet sich folglich in einer «künstlich arrangierten Freiheit» wieder, in der vorwiegend das unternehmerische Verhalten des ökonomisch-rationalen Individuums gefördert wird. Im folgenden Kapitel wird aufgezeigt, dass der neoliberale Subjektentwurf auch bei MigrantInnen seine Anwendung indet. Migration als rationaler Entscheid In einer neoliberalen Denkweise erlangt die Migration eine scheinbare Natürlichkeit; dass oftmals Assoziationen zu Wasser hergestellt werden und von «Migrationsströmen» oder «Migrationslut» gesprochen wird, ist nur ein Beispiel «Das Subjekt indet sich in einer ‹künstlich arrangierten Freiheit› wieder, in der vorwiegend das unternehmerische Verhalten des ökonomischrationalen Individuums gefördert wird.» dafür. Migration basiert dabei auf einem rationalen Akteur, dem Homo Oeconomicus, dessen Handlungen von Eigeninteresse und Restriktionen bestimmt werden. Das Ziel dabei ist die Maximierung der eigenen Interessen. Aus neoliberaler Sicht ist Migration ein «natürlicher» Vorgang, der als rationale, nutzenmaximierende Handlung beschrieben wird. In diesem Licht wird die Migration zu einer wirtschaftlichen Tätigkeit, nämlich zu einer Investition: Ein Auswanderer versucht, gleich einem Unternehmer, zu agieren, indem er in sich selbst investiert, um seinen Gewinn zu maximieren – ein Selbst-Unternehmen. Als Investitionen können dabei die Aneignung von Sprachen oder die 18 Erschliessung neuer ökonomischer Möglichkeiten gelten. MigrantInnen werden durch das neoliberale Regieren als wirtschaftliche Akteure subjektiviert und erhalten ein neues Antlitz als Humankapital. Die Überlegung, dass die Entscheide des Akteurs auf rationalen Handlungsoptionen gründen, ist massgebend für die Lenkung der Migration – es wird versucht, diese Optionen zu beeinlussen. Um die ökonomische Färbung dieser Sichtweise zu verdeutlichen, wird im Folgenden mit «Management» ein Begriff verwendet, der aus dem ökonomischen Bereich stammt. Standort befördern wollen. Migration ist zwar aus neoliberaler Sicht eine rationale, weil auf wirtschaftlichen Argumenten basierende Entscheidung, verliert aber an Rationalität, wenn trotz gescheiterter Migration (Ablehnung des Asyl- bzw. Arbeitgesuches) an diesem Entscheid festgehalten wird. Personen, die sich nicht nach dem rationalen Handlungsentwurf der Behörden richten, handeln irrational. Es wird durch die Rückkehrberatungsstruktur und durch die Wegweisungsverfügung Wert darauf gelegt, dass die Betroffenen vollständig informiert werden. Der Glaube, welcher dahinter steckt, ist der, dass die Auszuschaffenden sich in Besitz des Wissens aller Handlungsalternativen für die freiwillige Rückkehr entscheiden. Der Begriff der «Rückführung» verdeutlicht dabei, dass der Lenkungsaspekt hervorgehoben wird. Migrationsmanagement am Beispiel von Ausschaffung Aufgrund arbeitsmarktlicher, kultureller und sozialer Bedenken auf der einen Seite und dem Bedarf an ausländischen Arbeitskräften auf der anderen, versucht das Migrationsmanagement die «Migrationsströme» zu lenken. Härtefall-Regelung Als Beispiel für das neoliberale Migrationsmanagement Ausschaffung ist nicht zwangsläuig der Endpunkt jeder soll an dieser Stelle die Ausschaffungspraxis der Schweiz «irregulären Migration». Die Härtefall-Regelung gibt thematisiert werden: Falls Sans-Papiers das Land nicht den kantonalen Migrationsämtern und dem BFM die freiwillig verlassen, droht ihnen die Zwangsausschaffung. Möglichkeit, AusländerInnen bzw. Asylsuchenden eine Insgesamt gibt es vier Levels an Zwangsausschaffungen, von Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, obwohl diese die denen momentan drei effektiv zum Einsatz kommen. Die Kriterien der Zulassung zum schweizerischen Arbeitsmarkt Person wird zunächst durch bzw. des Asylverfahrens die Polizei zum Linienlug nicht erfüllen. Sie können als begleitet. Die Ausschaffung schwerwiegende Härtefälle «Die Überlegung, dass die Entscheiindet ohne Fesselung und eingestuft werden. Besonders de des Akteurs auf rationalen Handpolizeiliche Begleitung statt schwerwiegend ist der Härtefall lungsoptionen gründen, ist massge(Level 1). Falls sich die Person für Sans-Papiers, wenn ihre bend für die neoliberale Lenkung der weigert, die «Rückreise» Integration in der Schweiz Migration – es wird versucht, diese anzutreten, wird sie im nächsten weit vorangeschritten ist. Optionen zu beeinlussen.» Ausschaffungsversuch gefesselt (Abgewiesene) Asylsuchende und via Linienlug in der müssen sich zusätzlich seit der Begleitung zweier Polizisten zurückgeführt (Level 2). Der Einreichung des Asylgesuches mindestens fünf Jahre in der dritten und letzten Zwangsausschaffung per Sonderlug und Schweiz aufgehalten haben. Zudem muss der Aufenthaltsort mit Ganzkörper-Fesselung können sich die Betroffenen der betroffenen Person den Behörden jederzeit bekannt nicht mehr entziehen (Level 4). gewesen sein. Des Weiteren gibt es für alle Sans-Papiers Die abgestufte Ausschaffung auf verschiedenen Levels folgende Bedingungen: 1. Respektierung der Rechtsordnung (1, 2 und 4) wird folgendermassen begründet: Für das durch die Gesuchstellerin oder den Gesuchsteller, 2. die Bundesamt für Migration (BFM) bzw. für die kantonalen Familienverhältnisse, insbesondere der Zeitpunkt der Migrationsämter ist es kostengünstiger, wenn die Einschulung und die Dauer des Schulbesuchs der Kinder, 3. Auszuschaffenden «freiwillig» das Land verlassen. Es die inanziellen Verhältnisse sowie der Wille zur Teilhabe am handelt sich dabei um eine bedingte Freiwilligkeit, denn Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung, 4. die Dauer der zwangsweise Vollzug der Ausschaffung mit Sonderlug der Anwesenheit in der Schweiz, 5. der Gesundheitszustand (Level 4) schwebt wie ein Damoklesschwert über dem ganzen und 6. die Möglichkeiten für eine Wiedereingliederung im Ausschaffungsverfahren und fördert eine vorhergehende Herkunftsstaat. Diese sechs Bedingungen sind nur auf «freiwillige» Rückkehr. Der Handlungsspielraum der Verordnungsebene festgeschrieben und können von den Betroffenen wird mit diversen Massnahmen (u.a. kantonalen Migrationsämtern unterschiedlich interpretiert Ausschaffungshaft) so gestaltet, dass es für die Behörden bzw. gewichtet werden. Das kantonale Migrationsamt auf die kostengünstigste Handlungsalternative hinausläuft. prüft die Härtefall-Gesuche als erste Instanz – es ist jedoch Die Behörden verwenden den Begriff der «Rückführung», nicht dazu verplichtet. Sowie im AusländerInnen- als auch obwohl selbst im Ausländergesetz von «Ausschaffung» im Asylgesetz ist die Härtefall-Regelung bloss als «Kanndie Rede ist. Der erste Begriff betont jedoch den Zielort Bestimmung» aufgeführt. Falls das kantonale Migrationsamt beziehungsweise das Heimatland des Auszuschaffenden nicht auf das Gesuch eintritt bzw. dieses negativ und beinhaltet damit die Bedeutung, dass die Behörden mit beantwortet, kann die betroffene Person keinen Rekurs der Rückführung eine «Sache» wieder an ihren eigentlichen einlegen. Wird das Gesuch vom Kanton angenommen, expositionen 19 wird es an die nächste Instanz, das Bundesamt für Migration weitergeleitet. Der zweitinstanzliche Entscheid kann rekurriert werden. Oftmals scheitert das Härtefall-Gesuch erstinstanzlich. Um die Praxis bzw. die Denkweise hinter dieser restriktiven Praxis zu erforschen, wurden im Rahmen der hier präsentierten Arbeit Interviews unter anderem mit Verantwortlichen in den Migrationsbehörden geführt und Antworten auf Gesuche ausgewertet. Ein Teil der Resultate sind im folgenden Kapitel zu inden. in der Schweiz immer noch in einem liessenden Zustand beziehungsweise in Bewegung beinden, können diese umgelenkt werden, ohne dass ihnen dabei besondere Härte widerfahre. Die Behörden betonen fast durchgehend die noch existierende Verbindung zur Quelle des Flusses, indem sie auf verwandtschaftliche Beziehungen im Herkunftsland hinweisen. Ein weiterer Bestandteil der Begründung des abgewiesenen Härtefall-Gesuchs sind die bereits geschöpften Renditen, die durch die Investition der Migration erzielt wurden, wie Verordnete Mentalität der Härte zum Beispiel Deutschkenntnisse, beruliche Fähigkeiten Der Kanton hat eine ähnliche Funktionsweise wie ein und Erfahrungen. Diese haben positive Auswirkungen Unternehmen und versucht anfallende Kosten bestmöglich auf die Wiedereingliederung im Herkunftsland. Für eine zu minimieren. Diese betriebswirtschaftliche Rationalität solche Wiedereingliederung sprechen auch die Nachweise, lässt sich in der Praxis der Härtefall-Regelung wiederinden. die den betroffenen Personen eine sehr gute Integration Das Härtefall-Verfahren führt vor allem dann zu einer attestieren. Diese werden von den Verantwortlichen der Regularisierung der betroffenen Person, wenn die Migrationsbehörden nämlich umgedeutet und umgekehrt Verantwortlichen der Migrationsbehörden überzeugt werden, angewendet zur Feststellung, dass sich die betroffenen dass es sich bei GesuchstellerInnen um selbstverantwortliche Personen mit den nachgewiesenen Integrationsfähigkeiten Personen handelt. Selbstverantwortung bedeutet beim problemlos im Herkunftsland reintegrieren können. Das Migrationsdienst des Kantons Bern in erster Linie, Bild, welches in der Praxis der Härtefall-Regelung der inanziell unabhängig für den Lebensunterhalt aufkommen Assoziation mit liessendem Wasser entgegengestellt wird, zu können. Diese inanzielle ist das des Baumes, der in der Unabhängigkeit nachzuweisen, Schweiz Wurzeln geschlagen ist für Asylsuchende jedoch ein hat. Häuig wird der negative «Der zwangsweise Vollzug der schwieriges Unterfangen, da das Entscheid im HärtefallAusschaffung mit Sonderlug und Prinzip des Inländervorrangs Verfahren durch die fehlende Ganzkörperfesselung schwebt wie zur Anwendung kommt. Das Verwurzelung begründet. ein Damoklesschwert über dem heisst, die ArbeitgeberInnen Das neoliberale Regieren ganzen Ausschaffungsverfahren und können nur Asylsuchende basiert einerseits auf dem fördert eine vorhergehende ‹freiwillieinstellen, falls sie keine Kosten/Nutzen-K alkül, ge› Rückkehr.» einheimischen Arbeitskräfte andererseits gibt es unter (inklusive Personen mit B anderem in den HärtefallBewilligung und solche aus Entscheiden den MigrantInnen dem EU/EFTA-Raum) für die entsprechende Arbeitsstelle den Entwurf eines neoliberalen Subjektes vor, nach dem inden. Fast ein Ding der Unmöglichkeit ist es für sie ihr Verhalten ausrichten sollen. Das neoliberale Projekt abgewiesene Asylsuchende den Nachweis der inanziellen zielt darauf ab, «eine soziale Realität herzustellen, die es Unabhängigkeit zu erbringen, wenn sie einem Arbeitsverbot zugleich als bereits existierend voraussetzt» (Bröckling et unterliegen. al. 2000: 9). Dabei wird verdeckt, welche Härte es für die Zur Legitimierung der restriktiven Handhabung der betroffenen Personen wirklich darstellt, wenn sie die in Härtefall-Regelung bei (abgewiesenen) Asylsuchenden der Schweiz aufgebaute Existenz aufgeben müssen, kaum dient der oben beschriebene neoliberale Diskurs, gemäss Reintegrationschancen im Herkunftsland haben oder sich dem die Migration eine rationale Handlung ist. Diese dort sogar in Bedrohungssituationen wiederinden. Sichtweise reduziert die Komplexität in der Beschreibung Auch den Sans-Papiers, die nicht über den Asylweg in des Migrationsphänomens auf eine einzige Deutung die Schweiz gekommen sind, den Behörden also nicht und unterstellt den (abgewiesenen) Asylsuchenden zur bekannt sind, werden unüberwindbare Hürden aufgestellt. gleichen Zeit, dass sie nicht vor einer Verfolgung oder einer Einerseits stellen sie aufgrund der restriktiven Handhabung anderen Bedrohungslage gelüchtet sind. Ein negativer der Härtefall-Regelung kaum Gesuche, da das Risiko hoch Härtefall-Entscheid hat gemäss dieser Argumentation ist, einen negativen Entscheid zu erhalten und somit ihre keine Konsequenzen, denn abgewiesene Personen könnten ganze Existenz aufs Spiel zu setzen, andererseits müssen ohne Probleme in ihr Herkunftsland zurückkehren und sie oftmals ihre ehemaligen ArbeitgeberInnen offen beinden sich dadurch nicht in einer Notlage. Auch in der legen. Da die meisten Sans-Papiers loyal gegenüber ihren Argumentation der Migrationsbehörden inden sich die ArbeitgeberInnen sind, wird kaum auf deren Kosten ein genannten Wasser-Assoziationen zur Beschreibung von Gesuch gestellt. MigrantInnen: Wie ein Fluss haben sich die MigrantInnen Diese restriktive Auslegung der Härtefall-Regelung verordnet den Weg in die Schweiz gebahnt. Weil sich die MigrantInnen den Sans-Papiers eine Mentalität der Härte, mit welcher sie 20 sich das Leben durch die Schweizer Gesellschaft bahnen, ohne grosse Unterstützung der sozialen Institutionen, aber mit der Furcht als ständige Wegbegleiterin, jederzeit aufzuliegen und ausgeschafft zu werden. Der neoliberale Subjektentwurf indet in den Sans-Papiers ein fast perfektes Abbild in der Realität. Bröckling, Ulrich et al. 2000: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Bröckling, Ulrich et al. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. 7–40 Foucault, Michel 2003: Die «Gouvernementalität». In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. III: 1976-1979. 796–825 Lemke, Thomas 2000: Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies. In: Politische Vierteljahreszeitschrift 41.1. 31–47 Meyer, Katrin / Purtschert, Patrica 2008: Migrationsmanagement und die Sicherheit der Bevölkerung. In: Purtschert, Patricia et al. (Hg.): Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault. 149–172 * Elango Kanakasundaram, Soziologe, hat an der Universität Bern studiert, seine Lizentiatsarbeit trägt den Titel «Verordnete Mentalität der Härte. Die Härtefall-Regelung für Sans-Papiers als gouvernementale Praxis». Er ist Mitglied beim Bleiberecht-Kollektiv und bei augenauf Bern. expositionen 21 Nehmen uns die Ausländer die Arbeitsplätze weg? Zum Einluss ausländischer Arbeitskräfte auf den einheimischen Arbeitsmarkt und den Effekten auf die Qualiikationsstruktur Christoph Thommen * W ie wirkte sich die Einführung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU 2002 auf den schweizerischen Arbeitsmarkt aus? Der vorliegende Artikel führt in die Arbeitsmarktökonomie ein und weist auf mögliche Gewinner und Verlierer der Zuwanderung hin. Während die Volkswirtschaft als Ganzes proitiert, zeichnen sich insbesondere für die Geringstqualiizierten auch negative Folgen ab. Kommen ausländische Arbeiter in die Schweiz, stellt sich mit dem Schritt über die Grenze die Frage nach den Konsequenzen für die einheimischen Arbeitskräfte. Obwohl nur circa die Hälfte aller Einwanderer zum Zweck der Erwerbstätigkeit in die Schweiz kommt (vgl. SECO 2008, 29), sorgen sich viele Einheimische, von tiefer entlohnten Einwanderern aus dem Arbeitsmarkt gedrängt zu werden, oder Lohneinbussen in Kauf nehmen zu müssen. Sind diese Befürchtungen aus volkswirtschaftlicher Sicht begründet? Für die Schweiz als wohlhabende, kleine Volkswirtschaft mit einem offenen Arbeitsmarkt spielte die Zuwanderung schon seit Beginn des letzten Jahrhunderts eine wichtige Rolle. So lag der Ausländeranteil bereits vor dem Ersten Weltkrieg bei 15 Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Migration zur Ankurbelung der schweizerischen Industrie benutzt, wobei auch strukturschwache Branchen dank tief entlohnten Einwanderern am Leben erhalten wurden. Ab den siebziger Jahren hat sich die Ausländerpolitik dann in einer Reihe von durch Überfremdungsängsten geprägten Debatten in die Politik eingebracht. Im Jahre 2002 wurde schliesslich mit der Einführung des Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU/EFTA, nach einer planwirtschaftlich geprägten Phase, wieder einer Politik Platz gemacht, welche von der wirtschaftlichen Nachfrage nach Arbeitskräften ausgeht. Dennoch wird die Zuwanderung spätestens seit dem deinitiven Ende der Vollbeschäftigung zu Beginn der neunziger Jahre als Bedrohung für die einheimischen Arbeitskräfte wahrgenommen. Wanderungsentscheid Nach der neoklassischen Theorie verschieben sich Arbeitskräfte solange, bis sich die Löhne überall angeglichen haben und der Einzelne sein Einkommen durch Migration nicht mehr erhöhen kann. Unter der Annahme vollkommener Information erfolgt die Entscheidung über eine Ein- oder Auswanderung anhand der erwarteten Gewinne im Zielland, sowie der Wanderungs- und sonstiger monetärer und nicht-monetärer Kosten. Natürlich bedeutet dies nur eine Annäherung an die Realität; Migration wird durch sehr vielseitige Einlüsse bedingt und ihre Kosten sind nur schwer zu quantiizieren. Entsprechend ist noch kein allgemeingültiges Modell zur Erklärung der Auswanderungsentscheidung beschrieben worden. Fokussiert man auf die Qualiikationsstruktur von Migranten, kann ein Modell, welches den Reallohnunterschied als einziges Kriterium für den Wanderentscheid darstellt, gut nachvollziehbare Ergebnisse produzieren. Demnach haben, bei einer breiteren Reallohnverteilung im Zielland, Leistungsfähigere aus der Auswanderungsregion einen grösseren Anreiz auszuwandern, während weniger leistungsfähige Personen eher in der Heimatregion verbleiben. Aus der Sicht der Zielregion kommt es in diesem Fall zu einer positiven Selektion von leistungsfähigen Arbeitskräften. Arbeitsnachfrage Betrachtet man alle Arbeitskräfte als gleichartige Produktionsfaktoren, impliziert dies eine Auswechselbarkeit oder Substitutionsbeziehung zwischen ausländischen und einheimischen Arbeitskräften. In einem einfachen statischen Arbeitsmarktmodell lässt sich die Zuwanderung entsprechend mit der Ausweitung des Arbeitsangebots darstellen. Geht man allerdings in der kurzen Frist von starren Reallöhnen aus, kommt es zu einer Anpassung über die Erwerbstätigen, das heisst, es entsteht Arbeitslosigkeit. Langfristig ist mit einer Angleichung, also einer Senkung der Reallöhne, zu rechnen. Demnach treten die Beschäftigungseffekte eher kurzfristig zu Tage, während Lohneffekte vor allem mittel- bis langfristig wirken. Im statischen Modell wird ferner nicht berücksichtigt, dass durch das gestiegene Arbeitsangebot auch die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage ansteigt und es in Folge dessen zu Wirtschaftswachstum kommt, was wiederum zu einer erhöhten Arbeitsnachfrage führt. Durch ein genügend grosses Arbeitsangebot wird auch 22 Lohnschüben und damit Produktionskostensteigerungen Einhalt gewährt, was sich, zum Vorteil der Konsumenten, in tieferen Preisen und einer höheren Güternachfrage niederschlägt. Weiter kann bei spezialisierten, hochqualiizierten ausländischen Arbeitskräften eher von einem Komplementaritätsverhältnis gegenüber den ansässigen Arbeitskräften ausgegangen werden. Dies bedeutet, dass eine Ausweitung der beschäftigten Arbeitskräfte die Nachfrage nach denselben zusätzlich verstärkt. Für Geringqualiizierte weist Jorgenson (1986) darauf hin, dass deren Einsatz in unterdurchschnittlich produktiven Aktivitäten in wachstumsschwachen Branchen eine Verlangsamung des Strukturwandels bewirken kann. Investitionen in Sachkapital, wie beispielsweise Automatisierungen in der Produktion, sind mit einer erhöhten Nachfrage nach hochqualiizierten Arbeitskräften verbunden, wogegen eine Unternehmung mit weniger automatisierten Prozessen eher Geringqualiizierte benötigt. Daraus folgend stehen diese Investitionen innerhalb des Produktionsprozess in einem Substitutionsverhältnis zu geringqualiizierten Arbeitskräften. Bei guter Verfügbarkeit von Geringqualiizierten werden deshalb Investitionen in Sachkapital unterdrückt und damit neue Technologien verhindert, welche die Produktivität und auch den Bedarf an Hochqualiizierten steigern würden (so genannte bildungsintensive Investitionen). Konkurrierende Forschungsansätze Die ansteigenden Zuwanderungszahlen in den USA während den Neunziger Jahren haben insbesondere vor dem Hintergrund stagnierender Löhne die Aufmerksamkeit der ökonomischen Fachwelt auf die Frage der Auswirkungen der Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt gelenkt. Die meisten Studien haben dabei den Spatial CorrelationsAnsatz angewandt. Hierbei wird der Zusammenhang der Reallohnveränderung mit der Veränderung der Anzahl Migranten auf einen als geschlossen angenommenen Arbeitsmarkt geschätzt. Dabei werden die Auswirkungen der Immigration auf den Arbeitsmarkt mit denjenigen eines nicht-betroffenen Gebiets verglichen. Um eine hinreichende Varianz zu erreichen, wird die Ballung der Einwanderer in speziischen Ansiedlungssorten ausgenutzt,. Unter Anwendung dieser Methode wurde meist ein minimaler oder gar kein signiikanter Effekt der Zuwanderung auf den Reallohn evaluiert. In einem wegweisenden Artikel erklärt Borjas (2003) diesen Ansatz für überholt, da Immigranten nicht zufällig verteilt seien und sich die Substituierbarkeit verschieden qualiizierter Arbeitskräfte unterscheide. Würden sich demnach Einwanderer nur in wirtschaftlich starken Regionen niederlassen, käme es zu einer unechten Korrelation (Spurrious Correlation) zwischen Migration und Reallohn. Zudem kann nicht von geschlossenen Arbeitsmärkten ausgegangen werden. Entsprechend reagieren Einheimische möglicherweise auf den Strom von Einwanderern mit der Verschiebung von Arbeit oder Kapital in andere Regionen. Borjas trägt diesem Umstand Rechnung, indem er nationale Erhebungen anstelle der auf Teilstaaten begrenzten Daten heranzieht. Beim sogenannten Factor Proportions-Ansatz unterteilt er die Untersuchungsgruppen nicht nur nach ihrem Bildungsstand, sondern auch nach ihrer Berufserfahrung. Dies weil die Einwanderer nicht in allen Untergruppen gleich verteilt sind und sich die Berufserfahrungsstruktur innerhalb der Bildungsgruppen mit der Zeit verändert. Mit der damit erreichten Varianz lassen sich die Ergebnisse leichter interpretieren. Borjas Resultate zeigen durchschnittliche Reallohnsenkungen von 3.2 Prozent bei einer Erhöhung des Arbeitsangebots um zehn Prozent auf. Mit den gleichen Zahlen erhält Borjas mit der Spatial Correlations-Methode Rückgänge von nur 1.3 Prozent. Erstaunlicherweise indet er in allen Qualiikationsgruppen Reallohnsenkungen, die auf einem erheblich höheren Niveau als bei den bis anhin wichtigsten Studien liegen. Ottaviano und Peri (2006) haben im Folgenden die Daten von Borjas in ihrer Arbeit auf einen Allgemeinen GleichgewichtAnsatz angewandt. Sie resümieren, dass Einwanderer und Einheimische keine Substitute innerhalb der gleichen Berufserfahrung/Bildungs-Gruppe darstellen. Demnach gehen ausländische Arbeitskräfte anderen Arbeiten nach, besitzen im Allgemeinen nicht die gleichen Fähigkeiten wie Einheimische, wodurch sich komparative Kostenvorteile zwischen Einheimischen und Einwanderern bemerkbar machen. Zudem berücksichtigen sie auch die Anpassung Tabelle 1: Reallohnelastizitäte Reallohnelastizität Merky und Thommen (2010) Küng (2005) Sheldon (2000) Borjas (2003) 0.189 -0.016 -0.120* und 0.140** -0.419 * nur Berücksichtigung von Ausländern mit Jahresaufenthaltsbewilligung. **nur Berücksichtigung von Ausländern mit Daueraufenthaltsbewilligung. expositionen 23 Tabelle 2: Reallohnelastizitäten nach Quali-ikationskategorie in Merky und Thommen (2010) Obligatorischer Schulabschluss Lehrabschluss Tertiärer Bildungsabschluss -0.094* 0.317* 0.220* *Die Resultate sind auf dem 5% Niveau nicht signiikant. des physischen Kapitals an den veränderten Bestand an Arbeit, welche bisher als statisch betrachtet wurde. Ihre Ergebnisse zeigen einen positiven Reallohneffekt auf Einheimische aller Bildungsgruppen, mit Ausnahme der Geringstqualiizierten. Zusammengefasst schliessen viele Beiträge darauf, dass hochqualiizierte Arbeitskräfte untereinander und zum Kapital komplementär wirken. Im Gegensatz dazu werden geringqualiizierte Arbeitskräfte als substituierend innerhalb der gleichen Kategorie und auch zum Kapital betrachtet. Erkenntnisse für die Schweiz In der Schweiz haben sich nur wenige Forscher mit dem Gegenstand auseinandergesetzt. Da der Arbeitsmarkt der Schweiz nicht mit demjenigen der USA verglichen werden kann, spielt die Grösse der untersuchten Einheit nur eine untergeordnete Rolle. Küng (2005) erzielt mit Paneldaten der Neunzigerjahre aus der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) leicht negative Werte (vgl. Tabelle 1). Er vernachlässigt jedoch, dass sich Einwanderer eher in Teilmärkten niederlassen, die sich durch gute Arbeitsbedingungen auszeichnen. Dadurch erscheint eine Korrelation zwischen der Veränderung bei der Beschäftigung und dem Anteil von Einwanderern, die die erhoffte Kausalität nicht wiedergibt. Sheldon (2000) untersucht die Beziehung zwischen eingewanderten und einheimischen Arbeitskräften für die Schweiz mit dem Factor Proportions-Ansatz. Er benutzt Zeitreihendaten für die Periode zwischen 1951 und 1986, sowie Paneldaten bis 1998. Seine Resultate schätzen ausländische Arbeitskräfte teilweise als faktorsparend und damit als Substitute gegenüber dem Kapital sowie einheimischen Arbeitern ein. Die Analyse von Merky und Thommen (2010) repliziert Teile der Studie von Borjas (2003) für die Schweiz. Dabei werden gepoolte Querschnittdaten mit Panel-Charakteristiken für die Jahre 1992 bis 2008 verwendet, wobei neben dem durchschnittlichen Reallohn und der Arbeitszeit auch die jeweilige Berufserfahrung und die Qualiikation ausgewiesen wird. Letztere wird in die Kategorien «obligatorischer Schulabschluss», «Berufsbildungsabschluss» und «Tertiärer Bildungsabschluss» unterteilt. Wie Tabelle 1 zeigt, kann über alle Kategorien ein positiver Effekt der Einwanderung auf die Reallohnelastizität festgestellt werden. Das heisst, dass bei einer einprozentigen Erhöhung des Arbeitsangebots der Reallohn um 0.189 Prozent steigt. Die nach Qualiikationskategorie separat durchgeführte Analyse ergibt keine signiikante Resultate (siehe Tabelle 2). Dennoch wird ersichtlich, dass die Zuwanderung auf die Löhne der Geringqualiizierten eher negative Effekte hervorbringt, während Hochqualiizierte davon proitieren. Diese Ergebnisse betten sich ausgezeichnet in die theoretischen und empirischen Erkenntnisse ein. Schlussfolgerungen für die Personenfreizügigkeit Mit empirischen Erkenntnissen aufgrund der meist länger zurückliegenden Zuwanderung, sowie mit Ergebnissen aus anderen Ländern, lassen sich die tatsächlichen Effekte der Einwanderung auf den Schweizer Arbeitsmarkt nur erahnen. In der wissenschaftlichen Debatte besteht jedoch einerseits ein Konsens, dass geringqualiizierte Einwanderer grösstenteils als Substitute sowohl zu Hoch-, wie auch zu einheimischen Geringqualiizierten und zum Sachkapital zu sehen sind. Andererseits kommen die bekanntesten Studien im Bezug auf die hochqualiizierten Migranten zu positiven Ergebnissen. Weiter kann angenommen werden, dass Geringqualiizierte mit einer tieferen Produktivität produzieren und damit einhergehend bei einem hohen Anteil an geringqualiizierten Einwanderern eine Verlangsamung des technischen Fortschritts eingeleitet werden kann. Dies lässt sich mit Blick auf die Zuwanderung in der Schweiz bis zu Beginn der 1990er Jahre gut nachvollziehen. Bei der Betrachtung der Qualiikationsstruktur der einwandernden Bevölkerung aus der EU und den bisher erhobenen Daten seit der Inkraftsetzung des Personenfreizügigkeitsabkommens kann insgesamt grösstenteils ein positiver Effekt auf den Arbeitsmarkt beobachtet werden. Vor allem bei hochqualiizierten Stellen werden ausländische Arbeitskräfte rekrutiert, womit dem Lohndruck Vorschub geleistet werden kann. Die damit verbundene Ausdehnung der Produktion führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dass sich die Einwanderer aus der EU vorzugsweise in Branchen ansiedeln, die ihrerseits ein Wachstum bei den einheimischen Beschäftigten aufweisen, ist weiter ein klares Indiz dafür, dass die Einwanderung seit 2002 hauptsächlich Nachfrage determiniert ist und sich die Migration weniger durch die Bedingungen im jeweiligen Ausgangsland ableiten. Die ansteigende Nachfrage nach höher qualiizierten Arbeitskräften legt zudem einen Mangel an Hochqualiizierten vor dem Beginn der Personenfreizügigkeit offen (SECO 2008). Auf der anderen Seite kann in der Entwicklung seit dem Beginn des Personenfreizügigkeitsabkommen trotz solidem Wachstum für die Jahre 2005 und 2006 nur ein geringer Rückgang der Arbeitslosigkeit festgestellt werden 24 (von 3.9 Prozent im dritten Quartal 2004 auf 3.1 Prozent Ende 2006). Diese Verringerung erscheint insbesondere in Anbetracht der vorherigen Wachstumsperiode zwischen 1997 und 2001, in welcher ein Absinken von 5.2 Prozent auf 1.7 Prozent beobachtet werden konnte, als unterdurchschnittlich. Ob die Arbeitslosigkeit ohne das Abkommen schneller gesunken wäre, ist schwierig nachzuprüfen. Jedoch gilt es zu beachten, dass die Unternehmen durch die Einwanderung rascher in der Lage waren, auf der Höhe ihres Potentials zu produzieren und somit auch indirekt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beigetragen haben. Zusammengefasst kann der nachteilige Effekt zuwandernder Arbeitskräfte auf den einheimischen Arbeitsmarkt als relativ gering quantiiziert werden, da der Anteil der Arbeitskräfte mit der geringsten Qualiikation vergleichsweise klein ist. Während die Produzenten zu den Gewinnern durch die Zuwanderung gehören, muss nichtsdestotrotz auch die Frage gestellt werden, wer die Kosten zu tragen hat. Neben der Verteilungsfrage bedarf dabei auch die Problematik der Anreizverträglichkeit im Hinblick auf die Sozialwerke einer tiefergehenden Analyse. Für die Beurteilung der aktuellen Migrationspolitik muss dafür letztendlich eine längere Frist abgewartet werden. Borjas, G. J. 2003: The Labor Demand Curve is Downward Sloping: Reexamining the Impact of Immigration on the Labor Market. In: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 118. 1335-1374 Jorgenson, D. 1986: Econometric Methods of Modeling Producer Behavior. In: Griliger, Z.; Intriligator, M. (Hgs.): Handbook of Econometrics, Vol. 3 Küng, L. 2005: The Impact of Immigration on Swiss Wages: A Fixes Effects Two Stage Least Square Analysis Ottaviano, G.; Peri, G. 2006: Rethinking the Effects of Immigration on Wages. NBER Working Paper, No. 12497 SECO, BFM, BFS und BSV 2008: Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Schweizer Arbeitsmarkt, 4. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz–EU für die Periode vom 1. Juni 2002–31. Dezember 2007 Sheldon, G. 2000: The Impact of Foreign Labor on Relative Wages and Growth in Switzerland, Labor Market and Industrial Organization Research Unit (FAI), Universität Basel Merky N.; Thommen C. 2010: The Impact of Immigration on Labour Market in Switzerland * Christoph Thommen hat an der Universität Bern Volkswirtschaftslehre studiert. Der vorliegende Beitrag basiert auf seiner Bachelorarbeit (2009) und einer Seminararbeit (2010). expositionen 25 wi(e)der Frisch AutorInnenkollektiv Aus dem Zitatenschatz des Altmeisters, zusammengestellt exklusiv für expositionen. «Auf der Welt sein: im Licht sein. Irgendwo (wie der Alte neulich in Korinth) Esel treiben, unser Beruf! – aber vor allem: standhalten dem Licht [...] Ewig sein: gewesen sein.» (Homo faber) «Riesenmuschelbläue» (Jürg Reinhart, Stiller) «Es heißt [heute] überhaupt nichts mehr, Schwertische gesehen zu haben, eine Mulattin geliebt zu haben, all dies kann auch in einer Kulturilm-Matinee geschehen sein [...].“ (Stiller) «Einmal muß man es wagen, die Tat oder der Tod [...]» (Antwort aus der Stille) «[...] wie soll sie begreifen, daß sie ihn mit dem besten Willen nie erfüllen wird [...] und daß es für ihn kein Abstehen gibt in der Liebe, kein Genugsein, sondern immer wieder ein Weitermüssen in die männliche Untreue oder in die männliche Tat!» (Antwort aus der Stille) «Warum soll die Frau, die man liebt, nicht andere Männer haben? Es liegt in der Natur der Sache.» (Mein Name sei Gantenbein) «Daß es anders nicht geht, daß der Mann immer ein Welträtsel daraus macht, wenn er einer Frau nicht mehr genügt!» (Die Schwierigen) «Sind Sie stolz darauf, Vater zu sein? [...] Wenn Sie mit einer anderen Frau ins Bett gehen, empinden Sie sich dann als Vater?» (Tagebuch 1966–1971) «Möchten Sie von einer Frau ausgehalten werden: a. durch ihre Erbschaft? b. durch ihre Berufsarbeit?» (Tagebuch 1966–1971) «Jede Frau, die von ihrem Geliebten nicht unterdrückt wird, leidet schließlich an der Angst, überlegen zu sein – an der Angst, daß er kein wirklicher Mann sei.» (Die Schwierigen) «[...] die Sehnsucht der Frau nach der Gewalt, nach der verlorenen Peitsche» (Die Schwierigen) «Du sollst dir kein Bildnis machen [...]» (Tagebuch 1946–1949) «Das Weib ist schauspielerisch von Natur.» (Tagebuch 1946–1949) «Die interpretierende Kunst ist immer näher beim Weiblichen.» (Tagebuch 1946–1949) «Ein Schauspieler, der eines Tages nicht mehr auftritt, macht den Eindruck eines Gescheiterten – durchaus nicht die Frau, die eines Tages genug hat und sich ihren Kindern widmet. Für den Mann war es Beruf; sie spricht von ihren Rollen wie von Hochzeitsreisen.» (Tagebuch 1946–1949) «Der Mann, wenn er sich in Kostüme hüllt, hat er nicht immer einen Stich ins Verkehrte, ins Weibische, ins Widermännliche?» (Tagebuch 1946–1949) 26 Bilder lesen Jörg Klenk * D ie Text-Bild-Forschung erlebte in den 1950er-Jahren eine Renaissance. Obwohl sie seither wiederholt Gegenstand ideologischer Grabenkämpfe war, konnte sich eine lebhafte Forschung entwickeln, die Erkenntnisse für alle beteiligten Wissenschaften lieferte. Folgender Text soll anhand eines kurzen historischen Abrisses sowie einer exemplarischen Analyse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Einblicke in dieses Forschungsfeld gewähren. Verhärtete Fronten Bei der Beschäftigung mit der historischen Entwicklung der Text-Bild-Forschung stösst man bald auf Vorbehalte zwischen den beiden primär beteiligten Fachrichtungen, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft. Dem forschenden Nachwuchs können Aussagen wie die folgenden zu denken geben, insbesondere in Anbetracht der allerorten beschworenen Interdisziplinarität: «Die europäische Literatur [hat] eine autonome Struktur [...], die von der bildenden Kunst wesensverschieden ist. Schon deswegen, weil Literatur, abgesehen von allem anderen, Träger von Gedanken ist, die Kunst nicht. [...] Da die Literaturwissenschaft es mit Texten zu tun hat, ist sie ohne Philologie hillos. Keine Intuition und ‹Kunstwissenschaft› kann diesen Mangel ersetzen. Die ‹Kunstwissenschaft› hat es leichter. Sie arbeitet mit Bildern – und Lichtbildern. Da gibt es nichts Unverständliches. Pindars Gedichte zu verstehen, kostet Kopfzerbrechen; der Parthenonfries nicht. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Dante und den Kathedralen, usw. Die Bilderwissenschaft ist mühelos verglichen mit der Bücherwissenschaft» (Curtius: 22). Dieses Zitat von Ernst Robert Curtius erschien erstmals 1947 im Merkur und wurde 1948 als erstes Kapitel von «Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter» erneut abgedruckt. Von Seiten der «Kunstwissenschaftler» klang es noch in den 60er-Jahren ähnlich; zwar weniger wortreich aber nichtsdestoweniger pointiert, wie Michael Curschmann von einer Begegnung mit Erwin Panofsky berichtet: «Ich fragte ihn, vorwitzig, warum es eigentlich am Institute for Advanced Study, an dem er selbst seit 1935 bestallt war, keinen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft gebe, und er antwortete: ‹That is because we have a method and you don’t›» (Curschmann 2007b: 638). Einem unvoreingenommenen Betrachter erscheinen heutzutage beide Voten befremdlich, insbesondere vor dem mittlerweile regen Austausch der beiden Disziplinen. Sie dürften aber vor dem Hintergrund von sich weiterhin ausdifferenzierenden Geisteswissenschaften verstanden werden: Curtius ging es weniger darum, die «Kunstwissenschaften» zu diffamieren, als vielmehr darum, seinen Kollegen ins Gewissen zu reden, damit diese endlich eigene Methoden entwickeln und so ihr Fach fruchtbar vorantreiben können. Panofskys Aussage dürfte denn auch eine spöttische Wiederaufnahme dieses Anliegens sein. 1400 Jahre Bilderstreit Die Konfrontation zwischen Text und Bild sowie den Befürwortern des einen oder anderen Mediums reicht darüber hinaus mindestens 2000 Jahre zurück, bis zum horazischen Diktum des «ut pictura poesis» (Curschmann 2007a: 460). An dieser Stelle soll nur bis ins Jahr 600 zurückgegangen werden, als sich Papst Gregor I. (der Grosse), Kirchenvater und früher Verteidiger der Bildkunst im klerikalen Raum, sich in einem Brief gegen den ikonoklastischen Bischof Serenus von Marseille wandte. In diesem wies er ihn an, von seiner Bilderstürmerei abzusehen, da «hoc idiotis [...] in ipsa legunt, qui litteras nesciunt», also (recht frei übersetzt) dass jene Laien, die die Buchstaben nicht kennen, in ihnen, den Kirchenmalereien, lesen. Gregor verstand Bilder somit als Bücher der Laien, pictura laicorum literatura. Bilder, so die implizite Aussage, können gelesen werden, Bilder können erzählen, und dies offensichtlich nicht erst seit der Erindung der bewegten Bilder durch William K. L. Dickson, bzw. die Brüder Lumière im letzten Jahrzehnt des 19. Jh. Die grundsätzliche Nähe von Schrift und Bild als Transportmöglichkeit von Inhalten war auch in der Volkssprache bekannt. So nahm Thomasin von Zerklaere Gregors Diktum in seinen Wälschen Gast auf (vgl. V. 1099–1106). Auf sprachlicher Ebene zeigt sie sich noch unmittelbarer im synonymen Gebrauch der Verben «schrîben» und «malen». Welchem der beiden Medien der Vorrang zu geben sei, war auch für das Mittelalter nicht zweifelsfrei geklärt: Gestand Gregor I. in der Spätantike den Bildern nur eine unterstützende Funktion zu und postulierte weiterhin den Vorrang der Schrift vor dem Bild, gab es im 13. Jh. auch Stimmen, die dem Bild den Vorrang vor schriftlich ixiertem Wissen gaben. Bischof Durandus von Mende (um 1230–1290) argumentierte dabei mit dem Rezeptionsvorgang: expositionen 27 «Anscheinend wird die Seele mehr durch das Bild als durch die Schrift bewegt. Durch das Bild wird ein historisches Geschehen vor die Augen gestellt, als ob es im gegenwärtigen Augenblick geschehe, aber durch die Schrift wird das historische Geschehen gleichsam durch das Gehör, das die Seele weniger bewegt, in Erinnerung gebracht. Daran liegt es, dass wir in der Kirche den Büchern nicht soviel Aufmerksamkeit erweisen wie den Darstellungen/ Skulpturen und den Bildern» (zit. n. Wenzel: 298). Bilder fanden somit aus unterschiedlichen Gründen prominente Unterstützung, weiterhin wären zumindest Thomas von Aquin und Boethius (beide im 13. Jh.) zu erwähnen, die sich ihrerseits auf Johannes von Damaskus (7./8. Jh.) beriefen. Deinitionsversuche des Narrativen Jahrhunderte später brach der alte Widerspruch wieder auf. Ein anschauliches Beispiel liefert das in der Reformation schwer demolierte Berner Münster, ganz zu schweigen von Calvins legendärer dreitägiger Demontage der Kathedrale St. Peter in Genf. Lagen die Ursachen hier in religionsideologischen Gründen, versuchte Lessing in seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie von 1766 auf wissenschaftlicher Grundlage Unterschiede zwischen bildenden Künsten und Literatur herauszuarbeiten. Indem er den Ersten die Möglichkeit absprach, Träger einer Erzählung zu sein, legte er einen weiteren Grundstein für oben angesprochenen Zwist zwischen Kunst- und Literaturwissenschaft. Lessing argumentierte, dass Werke der bildenden Künste nur Synchronität darstellen können, schriftlich Fixiertes dagegen auch Diachronität. Narratologen deinieren den «Situationswechsel», also das Vorhandensein einer «zeitliche[n] Dimension» als einen «prototypischen» Zug dessen, was sich «Narrativ» nennen darf (Manuwald: 39 f.). Daraus folgt, dass ein Gemälde oder eine Skulptur nicht Träger einer Erzählung sein können, da sie nur eine Momentaufnahme abbilden. Einzelne Wissenschaftler, wie etwa Michael Titzmann, folgen Lessings Argumentation, indem laut Titzmann ein Gemälde «‹nur synchrone Zustandshaftigkeit›» abzubilden vermag und diesem somit «‹keine Temporalisierung und deshalb auch keine Narrativierung möglich›» ist (ebd.: 38), während Roland Barthes auch dem «‹stehende[n] Bild›» zugesteht, «‹Träger der Erzählung›» sein zu können (ebd.). Um Barthes zuzustimmen, muss über das Kunstwerk an sich hinausgegangen und das Vorwissen des Rezipienten bemüht werden, oder wie es Henrike Manuwald formuliert: «Auch der Kontext und die kognitiven Vorprägungen des Rezipienten [spielen] ein Rolle dafür [...], was als narrativ empfunden wird» (ebd.: 39). Wie gross aber muss dieses Vorwissen sein? Betrachtet man Michelangelos ‹David›, mag es nützlich sein, die Geschichte von David und Goliath zu kennen, um die Dramatik des Dargestellten zu würdigen und mit Durandus seine Seele stärker bewegen zu lassen. Doch auch ohne diesen Hintergrund identiizieren Haltung, Blick, Stein und Schleuder den Abgebildeten als einen massnehmenden Krieger kurz vor dem Angriff. Dass Michelangelo hier Lessings «fruchtbaren Augenblick» eingefangen hat, dürfte dessen strikte Einteilung umso stärker unterminieren, wie auch Manuwald feststellt: «Nur unter der Annahme, dass Bilder es vermögen, eine Handlung, ihre Ursachen oder deren weiteren Verlauf erraten zu lassen, kann Lessing in seine Lehre vom ‹fruchtbaren Augenblick›, den der Künstler zur Darstellung bringen solle, mit einschliessen, dass nicht der dramatische Höhepunkt einer Handlung, sondern der Moment knapp davor besonders wirkungsvoll sei» (ebd.: 41). Ob ein erzählerisches Moment vorliegt, muss also nach oben Dargelegtem sowohl vom Kunstwerk selbst wie auch vom Rezipienten ausgehend beurteilt werden. Nachdem bereits eine kurze Analyse anhand des ‹David› ausgeführt wurde, soll hier ein weiteres Bildzeugnis vorgestellt werden, um die Valenz des oben Gesagten zu prüfen. Die Verkündigungsdarstellung des Codex Ms. hist. helv. X 50 (Burgerbibliothek Bern) Die folgende Analyse berücksichtigt nur einen Bruchteil dessen, was ich an anderer Stelle in Darstellung und Text untersucht habe. Zu beginnen ist aber auch hier mit einer (stark gekürzten) Bildbeschreibung; die Anmerkungen in Klammern verweisen auf die Bibelstellen, auf denen die einzelnen Bildelemente aufbauen. Als zentrales Element sitzt die nimbierte Maria mit gefalteten Händen in einem Hortus conclusus (Hld 4,2), ein nimbiertes Einhorn stützt seine beiden Vorderläufe in ihrem Schoss ab. Es wird von vier Hunden gejagt, die als iustitia, pax, veritas und misericordia gekennzeichnet sind, und die ihrerseits vom nimbierten Erzengel Gabriel an einer Leine gehalten werden. Der Garten ist von einer Mauer mit vier Toren umgeben, die als porta ezechielis, porta area [sic!], porta paradisi und porta claussa (Ez 44,1–3) bezeichnet werden. An zentraler Stelle zwischen Maria und Gabriel steht die urna area [sic!], die goldene, mit Manna gefüllte Urne (Hebr 9,4), die von einem Spruchband umgeben ist. Dieses enthält von Maria ausgehend die Worte ecce ancilla d(o)m(ini) iat mi? und von Gabriel ausgehend und diesen als solchen identiizierend die Worte ave gracia plena d(omi)n(u)s. Die anzitierten Stellen geben den Beginn und das Ende der Verkündigung an Maria wieder. Gabriels Begrüssung der heiligen Jungfrau in Lc 1,28 lautet: «28et ingressus angelus ad eam dixit / have gratia plena Dominus tecum benedicta tu in mulieribus» (Lk 1,28: «28Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüsst, Du Begnadete, der Herr ist mit dir»), Marias Akzeptanz in Lc 1,38: «38dixit autem Maria / ecce ancilla Domini iat mihi secundum verbum tuum / et discessit ab illa angelus» (Lk 1,38: «38Da sagte Maria: Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast. Danach verliess sie der Engel»). Die Darstellung weicht stark von sonstigen Verkündigungsdarstellungen ab, die zumeist den hier nur in den Spruchbändern anzitierten Teil des Lukasevangeliums 28 verbildlichen. Im (Spät-)Mittelalter, dem die Darstellung entstammt, konnte davon ausgegangen werden, dass sie verstanden wurde. Ein heutiger Betrachter muss sich das benötigte Vorwissen dagegen erst aneignen. Ein Schlüssel zum Verständnis indet sich in dem der Darstellung korrespondierenden Text, wo es heisst: bennedixisti d(omi)ne / terram tuam her du hast din / ertterich geheilget. Diese Bibelstelle ist nicht zufällig gewählt – Ps 84, dem die Worte entstammen, bzw. Ps 84,11 ist für die Illustration zentral. Dort heisst es: «11misericordia et veritas obiaverunt ÷ sibi: / iustitia et pax osculatae sunt» (Ps 85,11: «11Es begegnen einander Huld und Treue; / Gerechtigkeit und Friede küssen einander»). Misericordia, veritas, iustitia, pax – die genannten göttlichen Tugenden inden sich in den Namen der Jagdhunde in BM 125 wieder, und tatsächlich bildet Ps 84,11 über Umwege eine der Grundlagen des hier verwendeten Verkündigungsmotivs. Gemeint ist der sogenannte Streit der vier Schwestern (die litigatio sororum), ein Motiv das wohl «nicht lange vor 1400 [mit dem Jagdmotiv (venatio)] zum neuen Motivkomplex der Gabrielsjagd verschmolz[ ]» (Einhorn: 292). In der «seit dem 12. Jahrhundert bekannte[n] Szene der litigatio sororum» streiten die in Ps 84,11 genannten vier Tugenden, «wie angesichts des Sündenfalls die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit Gottes miteinander in Einklang zu bringen seien», wobei «[d]ie Erlösung [...] Gottes Sohn selber wirken [wird]» (ebd.). Als Beispiel neben vielen führt Jürgen Werinhard Einhorn eine durch Stammler edierte «Kurzfassung [...] aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts» an, in welcher «der Streit mit dem Auftrag Gottes an Gabriel [endet], die Empfängnis Christi anzukündigen» (ebd.: 293). Eine weitere Quelle, die der Entstehung des Motivs zuträglich gewesen sein dürfte, indet sich in der Jagd (zweite Hälfte 14. Jahrhundert) Hadamars von Laber (ca. 1300–nach 1354), «[seit] der es geläuig [war], dass man Tugenden und Empindungen beim Liebeswerben als Jagdhunde auffasste» (ebd.). Damit wären in aller Kürze die wesentlichen Elemente zusammengetragen, welche die Gabrielsjagd als Motiv begründen. Wie steht es nun aber um den narrativen Gehalt der Darstellung? Möchte man die Illustration als narrativ vor dem Hintergrund einer diachronen Dimension verstehen, muss das Spruchband vor allem als Bildelement verstanden werden, da dieses über die Anfangs- und Schlussverse des Dialogs den dazwischen beindlichen Zeitraum konstruiert, in welchem die Verkündigung stattindet. Aber auch ohne Hilfskonstruktion erzählt die Darstellung mit den vom Jäger Gabriel geführten Hunden und dem sich im Schoss Marias bergenden Einhorn von einer Jagd, deren Endpunkt in der Illustration wiedergegeben ist und die sich letztlich als Verkündigungsdarstellung identiizieren lässt. Diese Erzählung ergibt sich nicht aus einem eben nicht dargestellten Zeitraum, sondern aus dem Vorwissen des Rezipienten. Wie Verkündigungsdarstellung des Codex Ms. hist. helv. X50, S. 125 (Burgerbibliothek Bern) expositionen 29 wichtig dieses ist, sollte hier exemplarisch dargelegt werden, da die Illustration einerseits nur dann verständlich wird, wenn der religiöse Überbau identiiziert werden kann, aus dieser Identiikation sich aber andererseits ein wesentlich höherer narrativer Gehalt zu erkennen gibt. Ohne das Vorwissen sieht man lediglich eine Jagdszene, in der sich ein von vier Hunden und einem Jäger gehetztes Einhorn in den Schoss einer Frau lüchtet. Weiss man um die litigatio sororum und darum, dass das Einhorn als Symbol Christi verwendet wurde, erkennt man, auch ohne den erklärenden Text zu lesen, dass es sich bei dem Einhorn um Christus handeln muss, der sich, von den göttlichen Tugenden gedrängt, in den Schoss von Maria lüchtet. Da der Erzengel am Ende der litigatio von Gott gesandt wurde, um das Heil zu verkünden, kann man diesen als den Jäger identiizieren und somit die gesamte Abbildung als Verkündigungsdarstellung, welche ihrerseits die Geschichte der Verkündigung an sich evoziert. Lessings strenge Unterteilung ist also mit Nachdruck zu hinterfragen. Zwar wäre ihm dahingehend zuzustimmen, dass ein Einzelbild immer nur Momentaufnahme bleibt und er rein technisch gesehen recht behält. Sobald dieses Einzelbild aber auf einen Rezipienten trifft, beginnt dieser aufgrund seines Wissens, den Moment auszudehnen und sich die diachrone Dimension dazuzudenken. Die Situation erinnert an das Problem mit dem berühmten fallenden Baum im Wald, und letztlich dürfte es in den meisten Fällen vielmehr vom Betrachtenden als vom Betrachteten abhängen, wieviel Geschichte letzterem innewohnt. Bern, Burgerbibliothek, Mss. h. h. X 50 Biblia sacra. Iuxta Vulgatam versionem. Hrsg. v. Robert Weber u. Roger Gryson 1975. 2 Bde. Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Deutsch hrsg. v. Alfons Deissler u. Anton Vögtle i. Verb. m. Johannes M. Nützel 1992 Curtius, Ernst Robert 1948: Europäische Literatur und lateinisches Mittelaler Lessing, Gotthold Ephraim 1859: Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. v. Heinrich Rückert 1965 Curschmann, Michael 2007a, Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse. In: Ders.: Wort – Bild – Text. Studien zur Medialität des Literarischen im Hochmittelalter und früher Neuzeit (Saecula Spiritalia 43). Bd. 1, S. 253–281 Ders. 2007b: Wolfgang Stammler und die Folgen. In: Ders.: Wort – Bild – Text. Studien zur Medialität des Literarischen im Hochmittelalter und früher Neuzeit (Saecula Spiritalia 44). Bd. 2, S. 636–659 Einhorn, Jürgen Werinhard 1998: Spiritalis Unicornis. Das Einhorn in Literatur und Kunst des Mittelalters Manuwald, Henrike 2008: Medialer Dialog. Die ‹Grosse Bilderhandschrift› des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte (Bibliotheca Germanica 52) Wenzel, Horst 1995: Hören und Sehen – Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter * Jörg Klenk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand bei einem an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Teilprojekt des Parzival-Projekts (www.parzivalunibe.ch), der vorliegende Text stellt einen Auszug aus seiner an der Universität Bern eingereichten Masterarbeit dar. 30 Die Kommerzialisierung der Sichtbarkeit Kulturtechniken der Fotoarchivierung und -verwaltung im 20. (21.) Jahrhundert D Mirco Melone * ie «Bildwirtschaft» ist massgeblich an der Hervorbringung und Konturierung von Visualität beteiligt. Das Milliardengeschäft basiert in seinen Verwaltungsund Verwertungstechniken auf historisch gewachsenen Strukturen, deren Überreste heute als riesige Bildbestände in öffentlichen Archiven oder bei privaten Anbietern lagern. Rasant anwachsende Bildkonvolute führten dazu, dass die Archivierung und Verwaltung der Bilder zu grundlegenden ökonomischen Axiomen wurden. Das heutige Erscheinungsbild gewerblicher Fotoarchive ist das Resultat verschiedenster Techniken und Diskurse, deren Geschichte das Verständnis der visuellen Kultur massgeblich prägt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ermöglichten neue drucktechnische Verfahren erstmals die Verwendung von Fotograien in einem industriellen Massstab. Gleichzeitig bedingten technologische und verkehrsinfrastrukturelle Neuerungen eine raumzeitliche Kompression, die bestehende Märkte vernetzte und neue kreierte. Diese Verschränkung bildete sowohl eine papierene, als auch eine visuelle Öffentlichkeit mit neuen Wahrnehmungsbedingungen aus. Das optische Medium Fotograie bedingte dabei – zusammen mit Film und Ton – die von Jonathan Crary diagnostizierten neuen Formen von Aufmerksamkeit. Im Zuge dieser mediengeschichtlichen Zäsur hat sich eine eigene Branche von Bildproduzenten, -anbietern und -verwaltern etabliert: die kommerziell ausgerichteten Fotoagenturen des 20. Jahrhunderts. Diese legten für die Strukturierung der neu entstandenen (massen)medialen Visualität nachfrageorientiert Bildbestände und Organisationsstrukturen an. Entsprechend ihrem Entstehungszeitraum weist das Erscheinungsbild der Fotoarchive eine grosse Heterogenität bezüglich Ordnungen, Klassiikationen und Logiken auf. Diesem Auftreten sind Prozesse und Praktiken eingeschrieben, die die Kommerzialisierung der Sichtbarkeit seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts offenbaren. Die Bildarchivmaschine Eine Analyse der historischen Genese wirft unweigerlich die Frage nach dem roten Faden in der Ökonomisierungsgeschichte der Bildverwaltung und -archivierung auf. Das materielle Patchwork, das sich in den Beständen durch archivisch-kommerzielle Fotoverwertungstechniken sedimentiert hat, verdeutlicht einen Anpassungsprozess an die jeweils herrschenden Nachfragemuster. Gleichzeitig spiegelt sich darin ein Efizienz- und Effektivitätsdenken, das Fotos über Filterung, Sortierung, Klassiizierung und Ablage systematisch aufbereitete. Diese Prozesse gehorchten zudem einer fortlaufenden Standardisierung und Normierung, die das mengenorientierte Bildkonzept überhaupt erst ermöglichten und sukzessive systematisierten. Dadurch wurden Aspekte wie eine breite Angebotspalette an Bildmotiven, rasche Zugriffs- und Lieferzeiten, innovative Illustrationsideen und tagesaktuelle Bilder, sowie klare Urheberrechtssituationen und unkomplizierte Abrechnungen zu zentralen Qualitätsstandards der Fotoagenturen. Die in den Bildnetzen prozessierten Tätigkeiten des Versands und der Lagerung, der (Re)Produktion, der Archivierung und Administrierung bildeten die Bestandteile der sich ausbildenden Kulturtechniken der Bildlogistik, -archivierung und -verwaltung. Als deren institutionelle Pendants wurden die Bilderdienste und -agenturen zu Instanzen der bildlichen Übertragung und Speicherung. Ihre «visuelle Produktivität» (Bruhn) schuf ein industrielles Bildangebot, dessen Zugriff durch die Agenturen vorstrukturiert wurde. Denn die Visualität der Archive – die Zeig- und Sichtbarkeit im Sinne Foucaults – entfaltete sich gleichsam als Folge logistischer und archivischer Logiken. Bildliche Vorstellungen von Gesellschaft, Alltag, Politik und Kultur standen dabei in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis zu den Herstellungs- und Verwertungsprozessen der Agenturen. Methodisch-konzeptuell konstituierte das Zusammenspiel von techno-ökonomischen Anpassungsprozessen, maschinell-materiellen Systematisierungsvorgängen und speziischem Bildwissen von Fotografen, Redakteuren und Archivmitarbeitern die Einheit ‹Agentur›: Sie funktionierte als Summe verschiedener «Black Boxes» (Latour). Die expositionen 31 Abb 1: Prag ist frei! (‹A.T.P. Spezialdienst - Associated Press Photos›), StAAG/ RBA10, Tschechien 1945. Agentur institutionalisierte die Idee eines Apparates, der eine scheinbar beliebige Abfolge von Zeichen aufnehmen, prozessieren und speichern konnte. Was einem einzelnen Menschen oder technischen Gerät unmöglich war, konnte die soziotechnische Bildmaschine leisten. Sie war fähig, alle erdenklichen Motive und Sujets auf einen einzigen «Äquivalenzcode» zu reduzieren – und damit zu standardisieren (Sekula). Indem Fotos in den Verwaltungsapparat des Archivs integriert wurden, stabilisierte sich zusätzlich zur bereits bestehenden optischen Konsistenz die Kontingenz des Fotograischen. Denn das archivische Zusammenspiel von Mensch und Material ermöglichte schliesslich die Taxonomie, durch die Bilder erst kommerzialisierbar gemacht wurden: das Fotoarchiv als relationales Datenverwaltungsmodell (Abb. 1). Die Fähigkeit der Massenmedien, eine visuelle Öffentlichkeit auszugestalten, beruhte zu einem erheblichen Teil auf den maschinellen Vorzügen der Bilderdienste und ihrer Archive. Der Bildhandel als logistisches Netzwerk Über das Archiv hinaus bildeten die logistischen Bildschleifen eine Bild-Netz-Topographie aus, deren Räume gleichzeitig durch den Waren- und Informationsluss bestimmt wurden. Entscheidend waren diejenigen Prozesse und Akteure, die Fotos physisch herstellten und für ihre räumliche Verschiebung sorgten – sie also sowohl als «materielle Substrate» (Ernst), als auch in ihrer archivischen Einbettung deinierten. Das so aufgespannte Feld umfasst mehrere logistische Bildnetze, die neben-, mit- und ineinander existierten. Durch die jeweiligen Kommunikations- und Logistikkanäle zirkulierten Fotos und Datenströme zwischen freien Fotografen, Agenturen, Bildredaktionen von Zeitungen und Zeitschriften, sowie Werbebüros. Die Ausbeutung von Fotos als Raum-Zeit-kompressierte Aufmerksamkeitswaren bedingte Bildschleifen, in denen Bewegungen sowohl zum Archiv hin, als auch via Vertrieb wieder aus dem Archiv hinaus verliefen. Der externen Bildproduktion durch Fotografen oder andere Dienste standen agenturintern zeitaufwendige Entwicklungs- und Bearbeitungsschritte im Archiv gegenüber. Eingebunden in die zunehmend globalisierten Bildnetze spiegelten die Fotoarchive der Agenturen in ihren unterschiedlichen Materialitäten (Glas- und Cellulosenegative, Farbdias, Papierabzüge) und Formaten die Vielfalt der Akteure, die sich in den Zirkulationsströmen des weltweiten Fotohandels beteiligten. Bildlogistik relektiert daher auch die Verbindungen zwischen der Bildzeichen- und der Bildökonomie-Ebene. Komplementär zum visuellen bestand ein materieller und informationeller Datenluss. Er hatte durch seine normierenden und standardisierenden Effekte grossen Anteil am Bild-Werden der Fotos. Symbole wie Stempel und Captions, Zensurvermerke, Abrechnungsnummern, aber auch Adressen und Vermerke wurden auf den Fotos angebracht (Abb. 2). Sie setzten das Foto in einen rechtlichen, raumzeitlichen, autoritativen Rahmen und deinierten seinen Gebrauchswert. Agenturtexte, die das Bild kontextualisierten, wurden an die Versandabzüge angeklebt, später dann via Bildtelegraphie quasi im Bild immatrikuliert übermittelt. Telefonate, Faxe und Couverts mit Lieferscheinen, Rechnungen und Materialaulistungen begleiteten verschickte und eintreffende Fotos. Sie regelten die administrative Verwaltung des Bildmaterials, das auf Kommission oder im Abonnement an Kunden versandt wurde. Diese Vorgänge waren, ebenso wie der visuelle Inhalt, für die Kommerzialisierung der Fotos massgeblich. Abb 2: Teil des Fotoarchivs im RiBiDi, StAAG/RBA4-3, ca. 1960er Jahre. 32 Vom Foto zum Multi-Objekt Die nicht-visuellen Datenströme bestanden also aus zwei verschiedenen Ebenen: symbiotische, mit dem Bild vergesellschaftete, und getrennt vom Bild zirkulierende Informationen und Materialien. Mit ihrer Hilfe konnten die visuellen Rohstoffe – wie im Archiv auch – in hybride Artefakte und Vermittler transformiert werden. Fotos wurden so zu bildlich-materiell-informationellen, diskursiven, mehrschichtigen Multi-Objekten. Die für den Bildhandel nötige Überbrückung des Raums verfolgte das Ziel, Übertragung und Datenaustausch möglichst efizient zu gestalten. Oberstes Gebot war daher, Abb 3: 500-Jahrfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs (Specter, Online-Vorschau mit digitalem Wasserzeichen und Keywords), screenshot, Aarau 06.08.2011. sie zugunsten einer grösstmöglichen Zeitverfügbarkeit asymptotisch an die Echtzeit heran zu führen. Dafür wurden technologische Vermittler, sowie Institutionen ausserhalb der Agentur genutzt. Es formierte sich ein Allianzenverbund einerseits zwischen Agenturen und Post, Bahn, Flugliefer- und Kurierdiensten, andererseits wurden auch technologische Assistenten wie Telegraie, Rohrpostsysteme, Telefon und Bildfunk eingebunden. Dieses Konglomerat bestimmte nicht nur die räumliche Nähe der Agenturen zu Verkehrsknotenpunkten und Infrastrukturen, sondern zusammen mit Produktions- bzw. Reproduktionstechniken auch die Formate und Materialien der Ware ‹Fotograie›. Das Archiv als intellektuell-materielle Transformation Die vielschichtigen materiellen Ablagerungen von Bildproduktion und -logistik sedimentierten im Archiv. Dessen Aufgabe bestand darin, aus Bildern ein tausch- und daher verwertbares Handelsgut herzustellen. Die archivische Performanz von Selektion, Verschlagwortung, Einlagerung und Verwaltung – das Kerngeschäft der Agenturen – war also der Ausgangspunkt für die Herstellung eines formalisierten, verwertbaren Contents. Zugleich war dem Archiv eine Performativität eigen, welche die Archivierungsprozesse und die beteiligten Akteure erst als ein Netzwerk konturierten. Als moderne Topoi haben sich die Prämissen von Organisation, System und Klassiizierung mit der im industriellen Massstab hergestellten Ware ‹Fotograie› verschränkt. Dabei bildeten sich kognitive Fähigkeiten und mechanische Techniken der Archivierung aus. Als archivisches Dispositiv legten sie durch die Isolierung und Umwandlung von Dingen in Dokumente deren Repräsentationsfunktion fest. Die bei der Verarbeitung dieser Bildmassen entstandene Notwendigkeit von Ablage- und Klassiikationssystemen führte zur Übernahme existenter Bürotechniken wie Schreibmaschine, Hängeregister, Karteikarten und Indexlisten mit Schlagworten. Deren Funktionalitäten wurden dabei gemäss den Anforderungen der zu administrierenden Ware ‹Fotograie› adaptiert. Dies ermöglichte die Umwandlung von individualisiertem BildArchiv-Wissen in materiell ixierte, abrufbare Strukturen – quasi eine intellektuell-materielle Transformation. Die Ordnung der Bilder Die Ordnung der Bilder war auf mehreren räumlichen Ebenen organisiert. Die oberste bestand aus Regalen, Kästen und Schränken. Dieser Lagerungsraum spiegelte ökonomischlogistische Bildnetze, die Produktionsketten und -orte, ebenso die materiellen Speziika der Verwertungspraxis. Die Topographie sowohl von Regalen und Schränken, als auch die Anordnung von Bürozimmern war der gebaute, ‹verräumlichte› Aktenplan: Die räumliche Anordnung des Bildmaterials korrespondierte mit der Organisation der Agentur, die so symbolisch zu Alan Delgados «enormeous ile» wurde. Innerhalb der Schränke und Kästen wurde der Raum durch Schubladen und Hängeregister weiter untergliedert. Diese zweite Ebene, deren materielle Apparaturen den Innenraum des Bildarchivs strukturierten, wurde, wie die Möbel und Regale selbst, ebenfalls zu einem Instrument von Wissen und Ordnung. Es wirkte dialektisch auf die Praktiken der Bildarchivierung, -verwaltung und -verwertung zurück. Im Laufe der Zeit wurden ältere, bestehende Archivformen durch neue Systeme wie elektronische Lektriver und moderne Kompaktusanlagen ersetzt, die den Raum zusätzlich komprimierten. Schränke und Kästen wurden damit zu «Ordnungsmöbeln» und zu «Mikroräumen der Verwaltung» (Vismann). Die innerhalb der Schubladen eingegliederten Reitersysteme bildeten die dritte Ordnungsebene. Ihre Untergliederung basierte, je nach Logik und Aufbau der Fotobestände, auf alphabetisch-thematischen, numerischen und geographischen Kriterien. Sie standen als quasi-transzendente (Bild-)Ordnung vor dem Akt der Archivierung und wiesen jedem Foto seinen Bezugsrahmen zu. Als Ordnungsmechanismen waren die Reitersysteme auch Teil des ökonomischen Archivwerts. Denn nicht das Vorhandensein, sondern die Aufindbarkeit und Einordnung der Fotos deinierten ihren Wert. Die Reiter hielten zudem die Masse des Materials in seinen diversen Inhalten kohärent: Die ordnenden Strukturen garantierten expositionen 33 den Zusammenhalt des Schaltkreises ‹Lesen-ZeichenReferent›. Als unterste Ordnungsstufe des Archivs stellten die archivierten Dossiers das kleinräumigste Bildnetz dar. Über die Verschlagwortung und die damit verbundene Klassiikation der inkorporierten Bilder wurden die Dossiers semantisch bedeutet und so archivisch adressierbar gemacht. Innerhalb der Dossiers verwiesen die Fotoserien aufeinander, setzten sich zu Bildunterschriften und/ oder Agenturtexten in Beziehung und wurden durch die vorgelagerten Dossierinformationen, sowie -signaturen registriert. Eine in Schriftzeichen übersetzte Bildlichkeit verkürzte jedoch die visuelle Vielfalt zugunsten von Flexibilität und Prozessierbarkeit der Daten. Der Raum des Archivs kreierte so in einem mehrstuigen Prozess einen hybriden, normierenden Informationsträger. Das Lagerungsprinzip des Archivspeichersystems beruhte dabei auf Umgruppierungen und Neuordnungen von Dossiers. Dies wurde durch die lose Einlagerung nicht nur ermöglicht, sondern aufgrund der funktionalen Überlegenheit auch gefördert. Die Verpackung und Archivierung der Fotos als Dossiers in Papierumschlägen und Hängeregistern fasste die amorphe Bildmasse in handhabbare Einheiten, die in ihrer Gesamtheit das Archiv zum organisationellen Speicher werden liessen. Bildaufschreibetechniken wie Stift, Schreibmaschine, später Datenbank und Strichcode, garantierten Prozessierbarkeit und Normierung innerhalb der verästelten und vielfältig aufeinander verweisenden Archivablagen. Die Einordnung von Fotograien in die Bildnetze des Archivs formierte so die (massenmediale) Realität. Das Wissen um Wirklichkeit wurde zur Funktion ihrer Klassiikation (Ernst). Vom Auszugsschrank zur Festplatte: Bildhandel im 21. Jahrhundert Mit der in den 1990er Jahren in der Fotograie einsetzenden digitalen Revolution veränderte sich auch der Bildermarkt. Die sich wandelnden Bildkreisläufe bedingten neue Angebotsmöglichkeiten für die digitalen Bilder. Der Zugriff wurde nun übers Internet weltweit und etwaig zu jeder Zeit an jedem Ort möglich. Speicherung und Archivierung waren nun nahezu unbegrenzt. Den über Jahrzehnte ausdifferenzierten Archivstrukturen, Ablageund Verwaltungstechniken steht heute die quasi unendlich potenzierte Verarbeitungsleistung der digitalen Systeme gegenüber. Das physische Archiv, mit dessen Hilfe die visuelle Datenmenge der Fotos einst handhabbar und damit ökonomisch verwertbar gemacht wurde, ist obsolet geworden. Das Bildwissen, das auf logistischen Kompetenzen, Kenntnissen von Archivstrukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen aufbaute, wurde in eine neue digitale Ebene transferiert und abstrahiert. Quer über das gesamte Foto eingeplanzte Wasserzeichen akzentuieren heute, zusammen mit Kundenlogins, tiefer Bildaulösung und Transferprotokollen, die digitale Adaption der bereits seit Jahrzehnten bestehenden Wertschöpfungstechniken und -mechanismen (Abb. 3). Die Digitalisierung der Fotos führte zudem zu einer Art Verdoppelung des Bildarchivs. Obwohl sich physische und digitale Archivsysteme aufeinander beziehen, entkoppelten sie sich gleichermassen. Neue Formen, Logistiken und Materialitäten des digitalen Archivs deinieren nun den Bildhandel. Die technologische Zäsur markiert hier zugleich einen Bruch und eine speziische Abb 4: Thumbnail-Übersicht zur Datenbankabfrage ‹Swissair› (Specter, online), screenshot, Aarau 06.08.2011. 34 Kontinuität. Der Raum des Archivs schrumpfte auf die Grösse einer Festplatte. Die analoge Bildlichkeit der Fotos – unter anderem geprägt von Körnigkeit, Kontrast, Formen und Linien – wurde durch einen Quantisierungsprozess in eine inite Sequenz von diskreten Elementen, nämlich 0 und 1, überführt. Sie hat ihre Materialität und Eigenheit nicht einfach verloren, sondern lediglich in eine neue Form transferiert. Auf logistischer Ebene haben sich die Fotobewegungen ins Archiv hinein und wieder hinaus, sowie die ebenfalls einkommende und ausgehende Übermittlung von Daten synchronisiert. Mit dem zeitlichen ineinander Fallen der zuvor disparaten Zirkulationsströme wird der Raum der Bildnetze fast komplett ausser Kraft gesetzt, respektive ins virtuelle verschoben. Seine Zeit ist auf Millionstel Sekunden verdichtet, daher tendenziell inexistent. Diesbezüglich scheint Virilios «dromologischer Stillstand» tatsächlich nur noch durch die physischen Beschränkungen und Fähigkeiten der menschlichen Aufmerksamkeit aufgehalten zu werden. Durch die neuen Bilddatenbanken, in denen die Fotos quasi strukturlos in einer eingeebneten Hierarchie zueinander in Beziehung stehen, bedeutet jeder Suchbefehl die Zusammenstellung eines potenziell neuen Dossiers. Bilder, die zuvor nie gemeinsam gelagert wurden, sind nun aufgrund einer ähnlichen oder partiell gleichen Klassiikation in einer gemeinsamen Bildstrecke angeordnet (Abb. 4). Das analoge Millionenkonvolut des 20. Jahrhunderts ist dem individuell erfragten Archiv des 21. Jahrhunderts gewichen. Der physisch begehbarer Raum, in dem die Fotos erst auf der untersten Ordnungsstufe als bildliche Erscheinungen sichtbar wurden, ist zum rein virtuell-visuellen Archiv geworden. Darin eingebettet liegt ein Höchstmass an Entropie. Eine Entropie, die zugleich als Horrorvorstellung und Wunschtraum der analogen Fotoarchivierung wirksam ist, hier aber nicht zuletzt ein Maximum an ökonomischer Verwertbarkeit darstellt. Blaschke, Estelle 2009: Du fonds photographique à la banque d›images. L›exploitation commerciale du visuel via la photographie: Le Fonds Bettmann et Corbis. In: Études photographiques 24 (2009). 150–181 Bruhn, Matthias 2003: Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit Ernst, Wolfgang 2002: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung Sekula, Allan 2003: Der Körper und das Archiv. In: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotograie. Fotokritik am Ende des fotograischen Zeitalters. 269–334 Vismann, Cornelia 2000: Akten. Medientechnik und Recht * Mirco Melone hat bis 2011 an der Universität Basel Geschichte und Geographie studiert. Der vorliegende Beitrag basiert auf seiner Masterarbeit zu Kulturtechniken der Fotoarchivierung. Der Autor forscht aktuell im Rahmen des NFS Bildkritik (eikones) zu den Transformationen fotograischer Archive im Digitalzeitalter. expositionen 35 Polizeicomputer Zur ersten Rechenanlage im BKA und iktionalen Fahnder-Figuren von Columbo bis CSI Hannes Mangold * D as Bundeskriminalamt stellte in den 1970er Jahren auf EDV um. Die Computerisierung der Polizei iel damit in die Zeit des eskalierenden Linksterrorismus. Diverse Romane und Spielilme haben diese historischen Polizeicomputer iktionalisiert. Dabei hat sich die Darstellung ab 1988 verändert – ein Befund, der auch im Blick auf die Entwicklung populärer Krimiserien aufschlussreich ist. «Just one more thing» «Just one more thing»: Mit diesem Sätzchen beliebt Lieutenant Columbo seine eigentlich schon vollzogenen Abgänge zu widerrufen, unerwartet noch einmal einzutreten und seine Verdächtigen mit spitzindigen Nachfragen zu verunsichern. Es ist – neben dem geschickten Marketing – auch die kauzige Art der von Peter Falk gespielten Hauptigur, die der Serie Columbo zu Kultstatus verholfen hat. Der verwirrt wirkende, stets im verilzten Trenchcoat auftretende Ermittler löst Mordfälle, über deren Hergang die Zuschauer jeweils bereits zu Beginn der Episoden aufgeklärt werden. Nicht die Frage nach dem Täter, sondern die Frage nach der Art und Weise der Aufklärung evoziert in Columbo Spannung. Ähnlich wie die Falk-Fans wussten auch die historischen Fahnder im Bundeskriminalamt (BKA) der 1970er Jahre, welche Personen sie für linksextremistischen Terror verantwortlich zu machen hatten, konnten diese aber nicht fassen. Mit Strategien des ‹Untertauchens›, der möglichst spurenlosen und unauffälligen Lebensführung im Untergrund, entzogen die Terrorverdächtigen sich dem polizeilichen Zugriff. Anders als bei Columbo, wo der herausragende persönliche Intellekt des Fahnders ausreicht, um die Täter dingfest zu machen, setzte das BKA auf die aufstrebende Technologie der elektronischen Datenverarbeitung (EDV). In Wiesbaden, dem Hauptsitzt des BKA, entstand ab 1971 eine leistungsfähige Rechenanlage, deren Anwendungen die Polizeiarbeit grundlegend reformieren sollte. Die negative Rasterfahndung Exemplarisch für das innovative Potential der Computerisierung der Polizei steht die sogenannte ‹negative Rasterfahndung›. Wie diese funktioniert, kann die Festnahme Rolf Heißlers im Juni 1979 illustrieren: Um den untergetauchten RAF-Terroristen aufzuspüren, hatte das BKA in einem ersten Schritt ein Magnetband der Elektrizitätswerke der Stadt Frankfurt am Main beschlagnahmt, das sämtliche Kunden der Unternehmung erfasste. Von diesem Speicher löschten die Fahnder alle Einträge, bei denen den Elektrizitätswerken eine Bankverbindung bekannt war. Die verbleibenden, rund 18 000 Einträge zu barzahlenden Kunden wurden daraufhin mit weiteren Datensätzen abgeglichen, unter anderem mit jenen des Einwohnermeldeamts und des PKWHalterregisters, so dass möglichst umfassend Personen gelöscht werden konnten, deren Namen als legale Namen feststanden. Am Ende blieben in der Datei der Polizei nur zwei Einträge übrig, die als Decknamen in Frage kamen: Einer davon führte zu einem Drogendealer, der andere zum RAF-Mitglied Heißler. Das Informationssystem der Polizei Der Entwicklung massenstatistisch- und computerbasierter Ermittlungstechnologien wie der Rasterfahndung ging der Aufbau von polizeilichen Dateisystemen voran. Unter dem umtriebigen Präsidenten Horst Herold wurde das Informationssystem der Polizei (INPOL) aufgebaut, das unter anderem einen Zentralen Personen Index (ZPI), das System Daktyloskopie und die Datei Personen, Institutionen, Objekte, Sachen (PIOS) enthielt. 1979 betrachtete Der Spiegel INPOL als das «elaborierteste polizeiliche Informationssystem der Welt» und als «grössten EDV-Verbund der BRD». Das ZPI enthielt die Daten zu landesweit allen gesuchten und inhaftierten Personen, die über das INPOL-Netzwerk zum ersten Mal in der Geschichte in Sekundenschnelle und laufend aktualisiert abgerufen werden konnten. Das System Daktyloskopie stellte seinerseits eine besonders elaborierte Form der Digitalisierung dar: Es gelang den BKA-Entwicklern, die Papillarlinien mithilfe der Kurvendiskussion als mathematische Formeln darzustellen. Durch diese Übersetzung liessen sich in verhältnismässig geringer Zeit riesige Bestände von Fingerabdrücken elektronisch zuverlässig abgleichen. Die daktyloskopische Untersuchung trat damit an den Beginn einer Ermittlung – während sie beim TV-Lieutenant Columbo noch von blossem Auge durchgeführt werden musste und demgemäss erst bei einem 36 bereits stark eingegrenzten Kreis von Verdächtigen zum Einsatz kommen konnte. Fingerabdruckkarten von 2,1 Millionen und Lichtbilder von 1,9 Millionen Personen zugeführt. Den politischen Rückhalt, den dieser Prozess genoss, illustriert das kontinuierliche Die kybernetische Suchmaschine Ansteigen des BKA-Budgets: Von 20 Millionen Mark im Das Kernstück von INPOL bildeten die PIOS-Dateien. Jahr 1970 explodierte es geradezu auf 144 Millionen Mark Als Untergruppe hatte das BKA in den 1970er Jahren im Jahr 1980. die Datei PIOS/Terrorismus erstellt, die im Januar 1979 Zur anfänglichen Euphorie rund um «Kommissar Angaben zu über 135 000 Personen, 5500 Institutionen, Computer» gesellten sich aber bald auch zweifelnde 115 000 Objekten und 74 000 Sachen enthielt, die Stimmen. Je grösser das Computersystem der Polizei wurde, mit dem Linksterrorismus in Verbindung gebracht je näher das «Orwell Jahr 1984» (Der Spiegel) rückte, desto wurden. Die Einträge konnten die Beamten mithilfe von skeptischer betrachtete eine kritische Öffentlichkeit die Junktoren wie UND, ODER, NICHT befragen, was die «Datensammlungswut» des BKA. Die Behörde erschien systematische Verknüpfung von Daten ermöglichte. Für die einerseits als die weltweit modernste Polizei, andererseits als Polizeibeamten war es mit PIOS möglich geworden, ohne «Big Brother» und Verkörperung des Überwachungsstaats. übermässigen Aufwand ein Dossier zu erstellen mit «alle[n] Die Spannung zwischen diesen beiden Lesarten wurde verheirateten Schlosser[n], die über 1,80 Meter groß sind, durch die Eskalation linksextremer Gewalt zusätzlich schwäbische Mundart sprechen verschärft. Den Resonanzraum, und Diebstähle in Kirchen der sich im Konlikt «Je näher das ‹Orwell Jahr 1984› bevorzugen», so Herold. Diese zwischen Bevölkerungs- und rückte, desto skeptischer betrachtete Methode erscheint heute, mit Datenschutz öffnet, loten bis eine kritische Öffentlichkeit die ‹Dadem alltäglichen Einsatz von heute diverse literarische und Internetsuchmaschinen, wenig ilmische Produkte aus. Mit tensammlungswut› des BKA.» aufregend, zur fraglichen einem Korpus, der mit Heinrich Zeit bedeutete sie jedoch Bölls Erzählung Die verlorene eine spektakuläre Neuerung. Noch Bahnbrechenderes Ehre der Katharina Blum (1974) beginnen und mit Andres als die verknüpfende Suche erwartete Herold von der Veiels Spielilm Wer wenn nicht wir (2011) enden könnte, liesse computergestützten massenstatistischen Auswertung der sich die Entwicklung der künstlerischen Bezugnahmen auf Daten. die historische Lage im Allgemeinen nachzeichnen (s. dazu Auf massenstatistisch produzierten Erkenntnissen Tremel 2006). Welchen Transformationen die Darstellung beruhte auch das Gesamtkonzept, das Herold mit der ersten Rechenanlage im BKA im Speziellen unterlegen der Computerisierung des BKA verfolgte. Zur ist, habe ich in meiner Masterarbeit aufzuzeigen versucht. Efizienzsteigerung hatte er seit seinem Amtsantritt 1971 das BKA nach den Prinzipien der Kybernetik restrukturiert. Disziplinar- und Kontrollgesellschaft Die Organisation der Polizei sollte über Feedback-Schlaufen In Romanen und Spielilmen zum Linksterrorismus laufend den neuesten Erkenntnissen angepasst werden: der 1970er Jahre, die vor 1988 erschienen sind, werden Durch die statistische Auswertung von Straftatendaten nach die Computer des BKA stets verwendet, um eine Ort und Zeit sollten beispielsweise «die starren Streifenzeiten ordnungsdienstliche Disziplinartechnologie darzustellen. [...] von einem schwerpunktmäßig ausgerichteten Einsatz Als eine Art ‚Hardware des Überwachungsstaats‘ abgelöst [werden], der die Polizeikräfte an den Ort zu symbolisieren die Polizeicomputer den Übergriff des der Zeit lenkt, an dem und zu der sie gebraucht werden» Staatsapparats auf die informationelle Selbstbestimmung (Herold 1968, 46). Die EDV der Polizei ermöglichte seiner Bürgerinnen und Bürger. Für 1988 ist ein Bruch in nicht nur das Abfragen riesiger Datenbestände und der narrativen Funktion des Polizeicomputers feststellbar, das systematische Verknüpfen von Einträgen, sondern der sich auch innerhalb eines einzelnen Romans nachweisen sollte schliesslich auch helfen, Verbrechen präventiv zu lässt. bekämpfen: Polizeieinheiten sollten schliesslich aufgrund In Rainald Goetz’ Kontrolliert erscheint der Computer der laufend aktualisierten statistischen Einsichten «an den zunächst ebenfalls als ein Medium der Überwachung. Ort zu der Zeit» geschickt werden, wo die Verbrechen Der Text schildert, wie die Körperfunktionen des erst noch begangen werden sollten. So weit zumindest die komatösen Andy Warhols auf einer Intensivstation durch Vision im linksliberalen, technokratischen Milieu der frühen «Elektronenhirne» kontrolliert werden. Dabei wird die 1970er Jahre. hierarchische Konstellation zwischen Beobachter und Beobachtetem allerdings aufgebrochen; es stellt sich heraus, Bevölkerungs- und Datenschutz dass die «Elektronenhirne» ihrerseits überwacht werden: Damit die computerisierte und kybernetisierte Polizei Menschen werden von Computern überwacht, diese erfolgreich arbeiten konnte, musste auf eine ausreichende wiederum durch «Überwacherwächter[ ]» «kontrolliert», Datenlage zurückgegriffen werden können. Insgesamt welche ihrerseits von einem übergeordneten System hatte man der EDV beispielsweise 4,7 Millionen Namen, überprüft werden, «und so weiter» (Kontrolliert 210). Der expositionen 37 Körper des Künstlers ist, in einem Schaltkreis mit dem Computer verbunden, zu einem Cybernetic Organism (Cyborg) geworden. Damit erweist sich die hierarchische Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem als durchbrochen; über die Figur der Beobachtung zweiter Ordnung ist dem Text damit eine als systemisch gedachte erkenntnistheoretische Ebene eingeschrieben. Die Polizeicomputer operieren in Kontrolliert auf dieselbe Weise. Durch das Verwenden der EDV erreichen die Beamten im Bundeskriminalamt einen epistemologisch übergeordneten Standpunkt: Sie können sowohl die RAF als auch die politische Führungsriege beim Beobachten der Lage beobachten. In Goetz’ Roman führt dies dazu, dass Herolds Behörde die Dramaturgie des Deutschen Herbsts diktiert. Die Polizeicomputer funktionieren nicht mehr als Disziplinartechnologie, sondern müssen unter einem «postsouveränen» Paradigma verstanden werden, wie es etwa Gilles Deleuze im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (1993) beschreibt. In Kontrolliert, dessen Poetik mit Deleuzes und Guattaris Metapher des Rhizoms beschrieben werden kann, wird Macht nicht einfach einer Institution zugeschrieben, sondern die mithilfe von Computern erfolgende Machtausübung des BKA erscheint als kybernetische, lexible, vernetzte und anpassungsfähige Kontrollform innerhalb eines nicht-hierarchischen Systems. Der Polizeicomputer produziert den dafür nötigen Erkenntnisvorsprung. Elektronisch erkennen Auch in Friedrich Christian Delius’ 1992 publiziertem Roman Himmelfahrt eines Staatsfeindes ist die Funktion der Polizeicomputer in einem erkenntnistheoretischen Kontext zu verorten. Unter Bezug auf Jean Baudrillards Theorem des ‚Simulakrum‘ erscheinen Rechner als Technologie, die eine virtuelle Realität produzieren. Delius’ iktiver BKA-«Chef» wird als Nerd gezeichnet, dessen einziger Kommunikationskanal zur Welt ausserhalb des Amts von seinem Computer bereitgestellt wird. Entsprechend hat der «Chef» nur «das Gefühl», den «Herzschlag der Gesellschaft» zu fühlen: Seine computerbasierte ist eine computersimulierte Erkenntnis. Mit Baudrillard gesprochen produzieren die Polizeicomputer in Himmelfahrt eines Staatsfeindes eine ‚virtuelle‘ Realität, die sich von den ‚realen‘ Ereignissen als durch ein komplexes technisches und organisatorisch-soziales System abgeschottet erweist. Als Erkennungstechnologie inszeniert auch Uli Edels Doku-Fiktion Der Baader Meinhof Komplex (2008) die Rechenanlage im BKA. Sobald der Grossrechner in Herolds Behörde installiert ist – so suggeriert es der Film – können die TerroristInnen festgenommen werden. Hielten sich diese zuvor in einer «schier unübersehbare[n] Sympathisantenszene» versteckt, ist es unter Anwendung einer mithilfe der EDV durchgeführten negativen Rasterfahndung ein Leichtes, die Untergetauchten aus der «unübersehbare[n]» Datenmasse herauszuiltern. Der sich historisch detailgetreu und «so authentisch wie möglich» (Edel) gebende Film nimmt dafür einerseits diverse Anachronismen in Kauf, unterstützt das Bild des leistungsfähigen Rechners andererseits durch die offensichtliche Modernisierung des Computerraums gegenüber dem historischen Vorbild. Der Blockbuster schliesst, anders als Goetz und Delius, die Computertechnologie dabei nicht mit einer epistemologischen Fragestellung kurz. Vielmehr rückt der iktive User Herold auf der Ebene des Plots gegenüber seiner Technologie in den Hintergrund: Während die Rechenanlage effektiv die richtigen Daten erkennt, was in der Story zu Festnahmen führt, bleibt die für Verständnis plädierende, sozialkritische Position der Fahnder-Figur isoliert und wirkungslos: Edel zeichnet sie als unverständliche und überkomplexe Sprechakte eines verschrobenen Intellektuellen. «Als Erkennungstechnologie inszeniert auch Uli Edels Doku-Fiktion Der Baader Meinhof Komplex die Rechenanlage im BKA.» Columbo/CSI Im Hinblick auf die populärsten iktionalen Darstellungen von Fahnder-Figuren ist diese kleine Kulturgeschichte der ersten BKA-Rechenanlage aufschlussreich. Die aufgezeigte Abwertung des Polizeicomputers als Technologie des Überwachungsstaates und die Transformation zu einer Informationstechnologie im weitesten Sinne blieben nicht ohne Relevanz für das althergebrachte Bild des Ermittler-Individuums. Während in den späten 1970er Jahren der dezente Columbo die Zuschauer massenweise vor den Bildschirm lockte, dürfen die Staffeln der CSI: Crime Scene Investigation-Reihe seit 2006 regelmässig die weltweit höchsten Zuschauerzahlen für sich reklamieren (Golden Nymphs Awards Listing, s. auch Gugerli 2007); der hochintelligente Einzelgänger wurde von einem hochtechnisierten und -spezialisierten Expertenteam aus der Primetime verdrängt. Während die individuellen Charaktere in CSI nicht weiter ausgearbeitet werden, bürgen schnelle Schnittfolgen und starke Farbilter auf der formalen Ebene für die Arbeitsteilung und Vernetzung auf der inhaltlichen Ebene. Die Fahnderiguren sind nur mehr als «Akteure» (Callon/Latour 2006) beschreibbar, wenn ihre Arbeit als die eines Netzwerks analysiert wird. Als eine deren zentraler Komponenten agieren Rechenmaschinen. Kurzum: Der Detektiv ist zum Cyborg geworden. Callon, Michel & Latour, Bruno: Die Demontage des großen Leviathan. Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen. In: David J. Krieger & Andréa Belliger (Hgs.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, 75–102 38 Gugerli, David: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank. Frankfurt a.M. 2009 ders.: Die Welt als Datenbank. Zur Relation von Softwareentwicklung, Abfragetechnik und Deutungsautonomie. In: ders. usw. (Hgs.): Daten. Zürich 2007, 11–36 Herold, Horst: Kriminalgeographie. Ermittlung und Untersuchung der Beziehung zwischen Raum und Kriminalität. In: Polizei-Institut Hiltrup (Hg.): 19. Arbeitstagung für Kriminalistik und Kriminologie. Hiltrup 1968, o.S. ders.: Kybernetik und Polizei-Organisation. In: Die Polizei. Zentralorgan für das Sicherheits- und Ordnungswesen. Polizei-Wissenschaft, -Recht, -Praxis 61/2 (1970), 33–37 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1977. Tremel, Luise: Literrorisierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2. Hamburg 2006, 1117–1153 * Hannes Mangold ist seit kurzem Master of Arts in German Studies. Der vorliegende Text beruht auf seiner Masterarbeit «Polizeicomputer im Deutschen Herbst». expositionen 39 Ein Ding der Unmöglichkeit? Der Schweizer Tatort im Konlikt mit der sprachlichen Situation der Schweiz und dem TatortKonzept Franziska Zihlmann * D er Tatort ist ein Fernsehklassiker, dessen Format sich durch regionale Einlüsse und realistische Darstellung auszeichnet. Doch eben diese Eigenschaften scheinen dem Schweizer Tatort Mühe zu bereiten. Eine Untersuchung des Schweizer Tatorts im Hinblick auf das Konzept der Fernsehkrimiserie und die sprachliche Situation in der Schweiz. Mit Howalds Fall trat das Schweizer Fernsehen 1990 in kommen Redewendungen hinzu, die aus dem Deutschen die langjährige Tradition des Fernsehklassikers Tatort ein. übernommen werden, jedoch in der Schweiz keine Ursprünglich wurde die Krimiserie in Schweizerdeutsch Verwendung inden. Denn in der Schweiz gibt es weder gedreht und für das deutsche und österreichische einen «Keks» noch die Redewendung «Mein Freund ist mir Publikum synchronisiert. Die zweisprachige Produktion ganz schön auf den Keks gegangen». Gemäss Häusermann war für das Schweizer Fernsehen jedoch inanziell zu wird jedoch «nicht nur eine neue Sprachform eingeführt, aufwändig und so wurde bereits nach einigen Folgen nur sondern auch eine Funktion, die es so in der Schweiz nicht noch auf Hochdeutsch produziert. Trotzdem blieben gibt» (2000: 229). Mit Laszlo I. Kish als Kommissar von dem Tatort Publikum zunächst einige schweizerdeutsche Burg hält ein Bühnendeutsch Einzug, das sich klar vom Wörter und Redewendungen erhalten. So begrüssten dialektal gefärbten Hochdeutsch der Laiendarsteller und sich beispielsweise die Polizisten am Tatort mit «Sali» und -darstellerinnen abhebt und so eine soziale Differenzierung «Grüezi» oder verwendeten Redewendungen, die aus dem über dialektalen Sprachgebrauch evoziert. Eine Funktion, Schweizerdeutschen ins Hochdeutsche transferiert wurden. die wir im schweizerischen Alltag nicht kennen und die Solche schweizerdeutschen vielmehr an die Sprachsituation Wörter oder Redewendungen in Deutschland erinnert. «Ab 1995 sind die meisten pragwurden jedoch zunehmend All diese Anpassungen und matischen Ausdrücke, die Ausrufe, seltener, da die Drehbücher Erklärungen bewirken gemäss Grussformeln und Redensarten an von einer Redakteurin bei Häusermann, dass sich die den hochdeutschen Sprachgebrauch Radio Bremen auf Helvetismen schweizerischen «TATORTe angeglichen.» überprüft wurden. Ab dem deutschen Zuschauer als 1995 wurden die meisten deutsche Filme präsentieren, pragmatischen Ausdrücke, die Ausrufe, Grussformeln für den Schweizer Zuschauer aber um so deutlicher den und Redensarten an den hochdeutschen Sprachgebrauch Charakter eines synchronisierten Ereignisses haben» (2000: angeglichen. Darauf folgen sechs weitere Tatort Folgen 230). Im weiteren Sinne entsteht durch die Veränderungen in reinem Hochdeutsch, bevor 2001 der Schweizer Tatort des Sprachgebrauchs eine Spannung zwischen der Tatortzugunsten der Produktion von Schweizer Dialektilmen Realität und der Schweizer Realität. abgesetzt wurde. Divergierende Welten Synchronisierte Heimat Häusermann spricht in seinem Text «Synchronisierte Heimat» Für Jürg Häusermann wird der Schweizer Tatort durch einen sehr wichtigen und signiikanten Punkt des Schweizer die Angleichung an den hochdeutschen Sprachgebrauch Tatorts an. Denn mit dem Anspruch, länderübergreifend zu einem synchronisierten Ereignis. Der eigene Charakter verständlich zu sein, entfernt sich der Schweizer Tatort des Schweizer Tatorts ist zwar noch spürbar, wird jedoch zunehmend von der ihm zugrunde liegenden Realität. für das deutsche und österreichische Publikum mit Der Schweizer Tatort ist nicht mehr länger ein Abbild des zusätzlichen Erklärungen ergänzt. Insbesondere auf der Schweizer Alltags, sondern eine verständlich gemachte, sprachlichen Ebene ist dieser Vorgang für Häusermann zu synchronisierte Schweizer Realität. Das Publikum sieht eine beobachten: «Da lassen wir uns gar nicht in gleicher Weise Welt, in der Ermittlungen und Verhöre auf Hochdeutsch ansprechen. Da gibt es Sätze, die sich direkt an ihn [den geführt werden und Redewendungen vorkommen, die vom deutschen Zuschauer, F.Z.] wenden» (2000: 227). Zusätzlich schweizerischen Publikum zwar verstanden werden, jedoch zur Angleichung an den hochdeutschen Sprachgebrauch im Alltag keine Verwendung inden. 40 Der Schweizer Tatort divergiert von einem Schweizer Alltag, in welchem nur in Ausnahmesituationen in Standardsprache gesprochen wird und wirkt damit unrealistisch. Doch gemäss Thomas Koebner sollte mit dem Tatort eine KriminalilmReihe beginnen, die sich durch ihre realistische Darstellung und regionalen Einlüssen auszeichnet. Folglich entfernt sich der Schweizer Tatort nicht nur zunehmend vom Schweizer Alltag, sondern damit verbunden auch von dem ihm zugrunde liegenden Tatort-Konzept. Mit dem Neustart der Schweizer Tatort-Reihe im Jahr 2011 wollte sich das Schweizer Fernsehen möglicherweise auf die beiden Charakteristika des Tatorts (realistische Darstellung, regionale Einlüsse) besinnen. So wurde «Der Schweizer Tatort ist nicht mehr länger ein Abbild des Schweizer Alltags, sondern eine verständlich gemachte, synchronisierte Schweizer Realität.» «Wunschdenken» wiederum in Schweizerdeutsch gedreht und auf Hochdeutsch synchronisiert. Doch auch dem auf Schweizerdeutsch gedrehten Tatort fehlte es laut der Kulturchein des Schweizer Fernsehens, Nathalie Wappler, an «Witz, Spannung und Lokalkolorit». Aus diesem Grund wurde der Tatort denn auch vorzeitig zurückgezogen und überarbeitet, bevor er am Sonntag 14. August 2011 im Fernsehen ausgestrahlt wurde. In Anbetracht dieser Entscheidung stellt sich die Frage, warum ein Schweizer Tatort, der in Schweizerdeutsch produziert wurde und somit der sprachlichen Realität der Schweiz entspricht, immer noch zu wenig Lokalkolorit aufweist. Hierfür sollen zwei mögliche Erklärungsansätze präsentiert werden. Problematik der medialen Diglossie Eine mögliche Antwort indet sich in der besonderen Sprachsituation der deutschsprachigen Schweiz. Denn keine ihrer gesellschaftlichen Gruppen hat die Hochsprache zu ihrer gesprochenen Alltagssprache gewählt. So wird laut Walter Haas «in allen gesprochenen Domänen von allen Angehörigen aller Schichten Dialekt gesprochen, während der Standardsprache alle schriftlichen Domänen überlassen bleiben» (1992: 312). Diese spezielle Sprachsituation beschreibt Gottfried Kolde als «mediale Diglossie» (1981: 65 ff.). Je nach Art des Mediums (Gesprochen vs. Geschrieben) wird in Dialekt oder Standardsprache gesprochen beziehungsweise geschrieben, wobei hier angemerkt werden muss, dass es auch für diese Regelung Ausnahmen gibt, wie der Schweizer Alltag beweist. Da der Tatort auf einem schriftlichen Drehbuch basiert, besteht ein sprachlicher Konlikt zwischen schriftlicher Grundlage und dem Sprachgebrauch im Film. Geschrieben wird in Standardsprache, gesprochen in Mundart. Folglich muss ein Schauspieler oder eine Schauspielerin den Drehbuchtext für den Film in den jeweiligen Dialekt übersetzen. Dabei besteht die Gefahr, dass hochdeutsche Wörter und Redewendungen im dialektalen Sprachgebrauch beibehalten werden und sich somit eine so genannte interlanguage ausbildet (Bsp.: «Mer müend s Vorgehe koordiniere»). Diese durch die mediale Diglossie erzeugte Sprachsituation im Tatort widerspricht wiederum der sprachlichen Realität in der deutschen Schweiz und entzieht sich folglich auch dem Tatort-Konzept. Problematik der Publikumserwartung Hinzu kommt, dass die Rezeptionshaltung des Schweizer Publikums eine andere ist. Trotz der Tatsache, dass der schweizerdeutsche Tatort der sprachlichen Realität der Schweiz entspricht, wird dieser Tatort befremdend auf die Zuschauerinnen und Zuschauer wirken. Denn laut Haas, stellt das Fernsehen eine feste Domäne dar, in welcher mehrheitlich hochdeutsch gesprochen wird. Die Untersuchungen von Walter Haas liegen jedoch schon mehrere Jahre zurück, weshalb der vermehrte Dialektgebrauch im Fernsehen in den vergangenen Jahren nicht berücksichtigt wurde. Forschungsergebnisse explizit zum Sprachgebrauch in Krimiserien liegen keine vor. Im Schweizer Fernsehen werden jedoch gemäss der Serienliste im Internet mit einer Ausnahme (Hunkeler) einzig Krimiserien in Standardsprache gesendet (Ein Fall für zwei, CSI: Miami, Tatort, Der Alte, Der Kriminalist, Der letzte Zeuge, Derrick, Der Staatsanwalt, Kommissar Stolberg,). Folglich sind Zuschauer und Zuschauerinnen des Schweizer Fernsehens Krimiserien in Schweizerdeutsch nicht gewohnt und treten mit einer klaren Erwartungshaltung an einen Krimi heran, die der Schweizer Tatort nicht erfüllt. «Es scheint fast ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, einen Schweizer Tatort zu produzieren, der allen Ansprüchen gerecht wird.» Ein Ding der Unmöglichkeit? Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Schweizer Tatort mit dem Sprachgebrauch Mühe bekundet. Er sucht nach einer Ausdrucksmöglichkeit, die international verständlich ist, jedoch der sprachlichen Realität in der deutschen Schweiz und damit verbunden dem Tatort-Konzept entspricht. So changiert der Schweizer Tatort zwischen dialektalem, dialektal gefärbtem und hochdeutschem Sprachgebrauch. Immer wieder kommt er dabei in den Konlikt mit der sprachlichen Realität der deutschen Schweiz oder widerspricht der Rezeptionshaltung des schweizerischen Krimipublikums. Es scheint fast ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, einen Schweizer Tatort zu produzieren, der allen Ansprüchen gerecht wird. expositionen 41 Doch Rezeptionshaltungen sind variabel und so kann auch ein Krimipublikum Krimiserien in Dialekt schätzen lernen. Auch in der Musikbranche musste sich der Schweizer Rap durchsetzen und in der Literaturbranche hatte die Mundartliteratur gegen Vorurteile zu kämpfen. Haas, Walter 1992: Mundart und Standardsprache in der deutschen Schweiz. In: van Leuvensteijn, J.A., Berns, J.B. (Hg.): Dialect an Standard Language - Dialekt und Standardsprache in the English, Dutch, German and Norwegian Language Areas. Amsterdam. 312–331 Häusermann, Jürg 2000: Synchronisierte Heimat. Die Deutsche Schweiz als Bundesland der ARD. In: Wenzel Eike (Hg.): Ermittlungen in Sachen Tatort: Recherchen und Verhöre, Protokolle und Beweisfotos. 225–234 Koebner, Thomas 1990: Tatort – Zu Geschichte und Geist einer Kriminalilm-Reihe. In: Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 9 (1990). 7–31 Kolde, Gottfried 1981: Sprachkontakte in gemischtsprachigen Städten. Vergleichende Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen sprachlicher Interaktion verschiedensprachiger Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/Bienne und Fribourg/Freiburg * Franziska Zihlmann studiert im 9. Semester Germanistik und Theaterwissenschaft an der Universität Bern und ist heimliche Tatort-Liebhaberin. Der Beitrag basiert auf einer Seminararbeit in Theaterwissenschaft. 42 Von ambivalenter Interdisziplinarität zur soziologischen Regeneration? Eine Odyssee mit dem Soziologen Neil J. Smelser an der Universität Bern Désirée Waibel und Markus Unternährer * A nlässlich des Besuchs von Neil Smelser in Bern wird die Frage nach einer synthetischen Sichtweise auf die sich zunehmend fragmentierende Disziplin der Soziologie gestellt. Wie skizziert ein undogmatischer Feldkenner wie Smelser eine mögliche Regeneration der Soziologie, und welche Aussichten hätte ein solches Projekt tatsächlich? «[The Odyssey] is a inite period of disengagement from the routines of life and immersion into a simpler, transitory, often collective, usually intense period of involvement that culminates in some kind of regeneration» (Smelser, 2009, xi). Suche nach dem roten Faden Im frühen 19. Jahrhundert gab der französische Philosoph Auguste Comte der Soziologie ihren Namen und proklamierte ihren Status als ‹Königsdisziplin›. Nach Comte sollte diese ganz unbescheiden als Schiedsrichterin auf allen Gebieten des Wissens fungieren – ein Anspruch, der Comtes Schüler in Übersee dazu anstiftete, den Präsidenten der Brown University aufzufordern, alle Abteilungen der Universität neu zu organisieren und der Soziologie zu unterstellen. Rund 100 Jahre später gab der Jubiläumskongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt den Medien Anlass, die gegenwärtige Verfassung des Faches zu evaluieren. Konstatiert wurde eine «Friedlichkeit des Nebeneinanders», eine Verhaltensweise, derentwegen diese Wissenschaft für die Öffentlichkeit von minderem Interesse sei. Was von der Königsdisziplin bleibe, sei ein multiperspektivisches «Labyrinth unterschiedlichster Sektionen», innerhalb dessen ein roter Faden nicht auszumachen sei (Süddeutsche Zeitung v. 15.10.2010, Die Welt v. 12.10.2010). Die Frage nach dem roten Faden, der die Wissenschaft in ihrem Themenspektrum zusammenhalten soll, wird indes als Desiderat an die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit herangetragen. Im Gegensatz zum innerwissenschaftlichen Treiben, kann über den Verlauf eines roten Fadens auch aus der Aussenperspektive relektiert werden – wodurch eine Evaluation des Apparats erst möglich wird. Beim Berichten über das 100-jährige Bestehen der Soziologie war man sich im vorletzten Jahr über die gegenwärtige Verfassung des Fachs weitgehend einig: Die Fragmentierung und Spezialisierung, die die Professionalisierung der Soziologie forcierte, verunmögliche heute jenen speziisch soziologischen Blick. Dieser Verlust bringe es mit sich, dass die Soziologie von der Gesellschaft nicht mehr zu Rate gezogen werden könne, wenn es um die grösseren Zusammenhänge gesellschaftspolitischer Dynamiken bzw. um deren Veränderung und Verbesserung gehe. Ob diese Fremdbeschreibungen zur (In-)Existenz eines roten Fadens sowie einer auch in pragmatischer Hinsicht tauglichen wissenschaftlichen Vogelperspektive in der Selbstbeschreibung bejaht und gutgeheissen werden können oder nicht: Für eine wissenschaftliche Disziplin stellt sich auf jeden Fall die Frage nach ihrer Vermittlung. Um diese Frage erst in den Blick zu bekommen, benötigt es etwas Ungewöhnliches, Odysseeisches, was die Überlegungen von den eigenen gedanklichen Baustellen und den damit verbundenen Lehrpersonen und Lektüren und schliesslich den benötigten Credit-Points im richtigen Modul auf eine höhere Stufe hebt: «Was studieren wir hier eigentlich, und wie?» Zu einer solchen Odyssee lud der emeritierte Soziologe Neil Joseph Smelser, Schüler und Kollege von Talcott Parsons, die Studierenden im Rahmen eines einwöchigen Seminars an die Universität Bern. Sein Gastgeber Prof. Dr. Christian Joppke war Schüler Smelsers und hat heute den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie in Bern inne. Rarität der ‹Feldkenner› Der Seminartitel Key Topics in Sociology klingt provokativ, da er einen Gegenstand voraussetzt, dessen Beschreibung den HörerInnen wohl weder aufs Geratewohl noch in stiller Ausarbeitung gelingen würde. Das Seminar, angekündigt als «an exercise in relecting on the development of 20 and 21st century sociology through intellectual biography» versprach eine Synthetisierung des Faches, eben nicht nur aufgrund des Titels, sondern wegen des Dozenten: Seit über sechzig Jahren ist Neil Smelser derart aktiv im Feld engagiert, dass unter den Studierenden gemunkelt wurde, dies sei einer, «der das Feld noch kennt». Ein ‹Feldkenner› ist aus der Warte der Studierenden jemand, der sich nicht nur durch enzyklopädisches Wissen auszeichnet, sondern expositionen 43 auch mitbeobachtet hat, wie und in welchem Kontext dieses Wissen produziert und positioniert wurde; er kennt und kannte die Vertreter der verschiedenen Stränge noch persönlich und fungiert als Mediator zwischen den Klassikern und den StudentInnen. Dabei handelt es sich um Autoren, deren Klassizität zu Studienbeginn unhinterfragt bleibt. So machen zwölf – wenn auch alternierende – Klassiker den von den Präferenzen der Heimuniversität gezeichneten Apparat aus, da das Semester nun mal zwölf Wochen dauert. Die interaktive Entstehung dieser Wissenschaft – wobei der jeweilige Zeitgeist, die innerwissenschaftlichen Intrigen und Querelen sowie charismatischen Sonderlichkeiten das Denken der ‹Klassiker› mitgeprägt hat – erscheint heute als in PDF verdinglichte Materie, als expandierende Matrix an Theorien, die den Studierenden als Werkzeug dienen soll. Mit Blick auf die soziologische Hinterbühne hat Smelser anhand des Begriffs der Ambivalenz den Motor der Werkzeug-Produktion dieses Faches schon problematisiert: «There is almost no facet of our existence as sociologists about which we do not show ambivalence and its derivative, dividing into groups or quasi-groups of advocacy and counter-advocacy» (Smelser, 1998: 10). Klar ist, dass ein grosser Teil des Studiums darin besteht, den Werkzeugkasten und seine exorbitante Ausstattung an sich kennenzulernen – oder zumindest seine Gebrauchsanweisung. Die Fülle an Handbüchern der Soziologie ist Zeuge der alphabetischen oder chronologischen Archivierungsmanie(r) des Faches. Betreffend der Vermittlung dieses evolutiven Gedankengebäudes liegt die Vermutung nahe, dass die Soziologie entlang ihres theoretischen, kampfsportlichen Wechselspiels gelehrt und memoriert werden kann. Eine sinnvolle Anwendung dieser synthetisierenden Lehrweise dürfte mit zunehmenden Alter bzw. zunehmender innerer Differenzierung des vergleichsweise jungen Fachs immer unwahrscheinlicher werden. Feldkenner sind demnach jene Dozenten, die das Feld als work-in-progress darzustellen vermögen und damit jene Kenntnisse vermitteln, die für die Studierenden Voraussetzung sind, um am zeitgenössischen soziologischen Wissensgebäude mitbauen zu können. Angesichts der bausteinartigen Materie erstaunt nicht, dass man sich von einem Feldkenner gerade die Preisgabe des Wissens um die Prozesse auf der Hinterbühne erhofft – denen die Handbücher ihre Inhalte zwar massgeblich zu verdanken haben, jedoch in diesen Büchern kaum erwähnt werden. Wanderlust Neil Smelsers soziologische Karriere ist steil und begann früh, was ihn zur Koketterie verleitet, dafür retroperspektiv glückliche Zufälle verantwortlich zu machen, die ihn immer wieder ins Zentrum der aktuellen Geschehnisse stellten. Die Länge der Zeitspanne, seit Smelser durch die Zusammenarbeit mit Talcott Parsons im Feld bekannt wurde, wird unterdessen im Witz veranschaulicht, wonach auf die Ankündigung seiner Teilnahme an wissenschaftlichen Veranstaltungen mit der Frage reagiert wird «Ist der nicht schon tot?» Dies verwundert nicht, war Smelser im Erscheinungsjahr 1956 von Economy and Society gerade mal 26 Jahre alt. Wie stark das Zusammentreffen mit Parsons wirklich bloss dem von ihm schelmisch behaupteten Zufall zuzuschreiben ist oder vielleicht nicht doch Smelsers Aufwachsen im intellektuellem Umfeld, seinem Studium an den Eliteuniversitäten Harvard und Oxford und seiner persönlichen Ambition, sei vorläuig dahingestellt. Nach seiner Dissertation über das Thema Social Change in the Industrial Revolution: An Application of Theory to the British Cotton Industry (1959) – eine Anwendung und Erweiterung des strukturfunktionalistischen Ansatzes seines Doktorvaters – widmete er sich der Theory of collective Behavior (1962), welches er als sein einlussreichstes Werk bezeichnet. Seine Arbeiten sind stets eine Vermengung von Soziologie, Geschichts-, Wirtschafts-, Religionswissenschaft, Politologie und Psychologie. Interdisziplinarität stellt ein Leitmotiv seiner intellektuellen Tätigkeit dar; ein Weg, der schon zu Beginn seines Studiums und entgegen Ratschlägen von Studienberatern von ihm eingeschlagen wurde. Gerade die Soziologie beindet sich damals wie heute in Konkurrenz zu anderen – heute vielleicht vermehrt – interdisziplinären Studienrichtungen, die auf StudienbeginnerInnen vielfach eindeutiger, aktueller und im Hinblick auf das Berufsleben pragmatischer wirken. Smelsers undogmatisches Verständnis von Fachgrenzen zeigt sich am stärksten in seiner Entscheidung für eine psychoanalytische Ausbildung. Entgegen der üblichen Distanzierung der beiden Fächer, versuchte er, kritisch beäugt von seinen Fachkollegen, menschliches Verhalten nicht nur durch sozialstrukturelle, sondern auch psychoanalytische bzw. sozialpsychologische Faktoren zu erklären. Diese Schaffensperiode kulminierte 1999 in der Aufsatzsammlung The Social Edges of Psychoanalysis. Bezeichnenderweise beschreibt Smelser Interdisziplinarität als «disease of my life» (folgende Zitate Smelsers entstammen dem Seminar und anschliessenden Gesprächen), die ihn stets vor Langeweile geschützt habe und ihm erlaubte, von Thema zu Thema zu gehen. Interdisziplinäre «Wanderlust» bewahrte Smelser vor den quasi institutionalisierten Dynamiken der Wissensproduktion: Scheinbar hat er sich nie auf Grabenkämpfe zur Verteidigung des Legitimitätsoder Superioritätsanspruches ambitiöser Subdisziplinen oder Denkschulen eingelassen, die manchmal den Anschein von kultischen Gemeinschaften evozieren können. Auch hier liegt die Vermutung nahe, dies sei eine Lehre aus der Erfahrung mit Parsons, der sich verbissen weigerte, sein Modell des Strukturfunktionalismus hinsichtlich geäusserter Kritikpunkte zu adaptieren. Trotz dieser Missachtung von disziplinären Labels («in some aspects I don’t really consider myself a sociologist») könnten zahlreiche der von ihm bekleideten Ämter soziologischer nicht sein: In den Sechziger Jahren wurde er «due to two further lucky coincidences» erst Redakteur der American Sociological Review und später Vorsitzender des Behavioral and Social Science Survey – was ihn sozusagen zum Wortführer der Disziplin machte. 44 Nicht zuletzt war Smelser der 88. Präsident der American Sociological Association; solche Labels lassen sich nicht mehr so leicht abschütteln. Unromantische Vermittlerpositionen Dem im Titel der Veranstaltung anklingenden Versprechen einer Übersicht über die Disziplin entlang ihrer ‹Schlüsselthemen› ist natürlich kaum gerecht zu werden – auch nach 60 Jahren Studium und Mitgestaltung der Soziologie nicht. Um nicht in Rechtfertigungen zur Dominanz bestimmter Teilgebiete zu geraten, liess Smelser sich von seinen Themen leiten, deren Wurzeln er aber in ihren Ursprüngen und Verzweigungen zurückverfolgte, um zumindest ein einigermassen kohärentes Bild der jeweiligen Subdisziplinen zu zeichnen. So zeigte er die Entwicklung des Strukturfunktionalismus (an der er massgeblich beteiligt war), seine Forschung zu sozialen Bewegungen, rekapitulierte die Essenzen der Forschungsmethoden in den Sozialwissenschaften und argumentierte für die Wichtigkeit einer Wiederentdeckung der ‹Mesosoziologie›. Seine Expertise in Wirtschaft war nicht nur in den Vorträgen über die neuere und ältere Wirtschaftssoziologie erkennbar, sondern färbte als Fokus auch auf die anderen ‹Schlüsselthemen› ab. In jedem dieser Felder wies sich Smelser als kritischer Vermittler aus, indem er jeweils die Vor- und Nachteile der extremeren Positionen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Perspektive und Rezeption gegeneinander abwog. Diese Strategie der «somewhat unromantic» vermittelnden Positionierung verfolgt Smelser auch in dem in Kürze erscheinenden Buch Usable Social Science: Zwischen simpliizierendem, instrumentellem «social-engineering by formula» und einer Soziologie als l’art pour l’art versuchen er und sein Ko-Autor, der Banker John Reed, eine pragmatische Position in Bezug auf die Verwendung soziologischen Wissens einzunehmen. Smelser ist nicht nur ein Vermittler im Kampf der Theorien, sondern auch ein Vermittler zwischen Studenten und Universität, wo er in den unruhigen Zeiten des freespeech-movement in Berkeley als Kommunikator zwischen den Fronten tätig war, sowie ein begnadeter Vermittler von (soziologischem) Wissen, worauf Jeffrey Alexander gerne eine Laudatio singt (Alexander/Marx 2005). Dieses Einnehmen von «accomodating middle positions» ist letztlich auch deshalb unromantisch, weil es so kein Leichtes ist, Smelser zu fassen, geschweige denn, eindeutig einer bestimmten Position zuzuordnen (so wurde in der Pause spekuliert, welche politische Gesinnung er in seine oft sehr politikafinen Ämter wohl hineintrug). Im Gegensatz zu Parsons – Smelsers wichtigstem Mentor –, der sein Leben lang an seinem Paradigma festgehalten hat, ohne es stark zu verändern, bewährte es sich für Smelser, sich nicht mit Haut und Haaren einer theoretischen oder methodischen Position zu verschreiben. Es sei schade um die Zeit, die in eine Verfestigung und Verteidigung einer einschlägigen Position investiert werden müsse und verderbe jegliche Wanderlust. Für Smelser ist dies wohl deshalb ein wichtiger Ratschlag an die Studierenden, weil er sehr jung bekannt und in der ‹Schublade› Strukturfunktionalismus versorgt wurde – eine Einordnung, der er sich vehement widersetzen musste. Altes in Neuaulage Nichtsdestotrotz hat Smelser theoretische Eigenleistungen zu verbuchen, insbesondere sein Werk über soziale Bewegungen Theory of Collective Behavior, das 1962 erschienen ist und 2011 neuaufgelegt wurde. Die darin entwickelte Value-Added-Theory postuliert sechs Faktoren, deren Kumulation das Entstehen von kollektivem Handeln in Form von Paniken, Booms oder sozialen Bewegungen wahrscheinlich machen. Die Theorie behielt in den 50 Jahren seit der Veröffentlichung ihre Erklärungskraft – was in der Diskussion anhand des aktuellen Phänomens der occupy-Bewegung erprobt wurde. Als ersten Faktor nennt Smelser structural conduciveness, womit eine grundlegende strukturelle Förderung gemeint ist: Beispielsweise ist für eine Börsenpanik elementar, dass Wertpapiere und dergleichen schnell gekauft und auch wieder abgestossen werden können. Strukturelle Belastung (z.B. allgemeine Verunsicherung), die aber in ein Programm zur Adressierung eines genau deinierten Problems (generalized beliefs) übersetzt werden muss, ist ein zweiter Faktor, dessen Nichterfüllung im Falle der occupyBewegung viele KommentatorInnen veranlasst, dieser nur eine kurze Lebensdauer in Aussicht zu stellen. Eine soziale Bewegung muss sich laufend durch Ereignisse aktualisieren (precipitating factors), die die allgemeine Unzufriedenheit mit konkreten Situationen verbinden. So stellt der neuerliche Spekulationsskandal der UBS eine Konkretisierung bzw. Verdichtung der allgemeinen Unzufriedenheit mit inanzmarktlichen Praktiken und Systemlogiken dar, was schliesslich die Mobilisierung von FinanzmarktgegnerInnen in Form der (schweizer) occupy-Bewegung begünstigte. Die Besonderheit in diesem aktuellen Beispiel besteht allerdings gerade darin, dass die Bewegung nicht von einer charismatischen Person geführt wird, sondern sich dieser Führung kategorisch verweigert. Der letzte ausschlaggebende Faktor ist das Versagen sozialer Kontrolle bzw. in Bezug auf die occupy-Bewegung die behördliche Duldung, solange die Bewegung friedlich bleibt oder deren Repression, was im Falle des New Yorker Segments zu einer Verschärfung und zur weiteren Mobilisierung geführt hat. Diese strukturfunktionalistisch informierte Arbeit grenzte sich explizit von vorgängigen Arbeiten zum Thema ab, in welchen collective behavior vor allem unter dem Gesichtspunkt der Irrationalität untersucht wurde. Obwohl in Smelsers Buch gemäss eigener Aussage der Begriff der Irrationalität nie auftaucht (jedoch etwas ungeschickte Formulierungen wie «short-circuited ideology» oder «collective behavior as action of impatience»), wurde das Buch von Kritikern in die Tradition von Le Bon und Freud gestellt und gar als «handbook of crowd control» gelesen. Smelser wehrt sich zwar gegen solche Lesarten und das Entgleiten der expositionen 45 Kontrolle über sein Werk. Gleichzeitig warnt er vor einem aufreibenden und aussichtlosen Kampf um «korrekte» Rezeption. Die Rezeption und Kritik von Smelsers Theorie im Lichte früherer Theorien verweist auf ein kennzeichnendes Phänomen der Geisteswissenschaften: Zusätzlich zu einer neophilen Wissensakkumulation, die in modernen Wissenschaften als normal gelten dürfte, leiden die Sozialwissenschaften gleichzeitig unter einer Amnesiophobie. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, in denen ‹altes› und falsiiziertes Wissen dem Vergessen anheim fällt, wird hier höchstens vergessen, dass neues Wissen schon einmal alt war. Wissen wird immer wieder neuinterpretiert und positioniert; auch analytische Tools werden stets neu zusammengesetzt oder modern eingekleidet wieder aufgenommen (beispielsweise wollten die Studierenden Smelsers ambitionierteste ‹Eigenleistung› – die Odyssee als «universial form […] that may have roots in deeper features of the human condition» – nicht so recht anerkennen; das liesse sich doch schon bei Simmel inden). Akkumulation von Wissen erfolgt dadurch nicht im Sinne eines kontinuierlichen Aufbaus, sondern der Werkzeugkasten differenziert sich entlang der kampfsportlichen Auseinandersetzung – und wird dabei nie ausgemistet. Es scheint derweilen, dass jegliche Ausmistversuche sogar weitere Bausteine in den Werkzeugkasten füllen. Aus der Aussenperspektive wird paradoxerweise gerade die kennzeichnende ‹Angst vor dem Vergessen› bei gleichzeitiger Neophilie als Grund für das Fehlen des roten Fadens diagnostiziert und dadurch das Vergessen der Öffentlichkeit um die Disziplin erklärt. Soziologische Regeneration Welche Qualitäten machen aus einem normalen Seminar eine Odyssee in Smelserschem Sinne? Wie soll ein Seminar die Studierenden den alltäglichen universitären Strukturen entbetten, transformieren und regeneriert wieder in den Alltag zurückwerfen? Die Rarität des im Seminartitel anklingenden Versprechens, einmal die Synthese einer unüberblickbaren Disziplin zu bieten, lässt die Hoffnung aufkeimen, endlich zu erfahren, was die Disziplin zusammenhält und wie ihre moderne Identität in Kontrast zu jener ihrer Entstehung verfasst ist. Solches aus dem Munde eines Feldkenners zu vernehmen ist da elementar, wo Fragestellungen oder Untersuchungsgegenstände sowie Herangehensweisen an diese den Zusammenhalt der Disziplin nicht mehr gewährleisten. Vielleicht können Geschichten über die Entstehung des Faches und deren Theorien, über Kämpfe und Beziehungen zwischen prominenten Vertretern sowie persönliche Einsichten in die Funktionsweise des Feldes anstelle des Lamentierens um den fehlenden roten Faden treten und tatsächlich soziologische Regeneration einleiten. Eine solche Vermittlungsweise ist indes ebenso rar wie das Syntheseversprechen – und tendenziell da im Verschwinden begriffen, wo die medientechnische Revolution der wissenschaftlichen Reproduktion neue Formen und Möglichkeiten bietet. So treibt Smelsers Wanderlust ihn als nächstes zum Thema der Grenzverwischungen durch die Produktion von ‹Quasi-Soziologien› an den BusinessSchools. Natürlich sind auch die Vermittlungspraktiken in der Ära der Massenuniversität Probleme, die wiederholt auftauchen, meint Smelser, und erinnert sich an den vehementen Aufstand, als in Berkeley versucht wurde, die Lehre über Fernsehübertragungen an die expandierende Studentenschaft zu bringen. Seine Aktualität unter Beweis stellend, hält Smelser eine Untersuchung der aufkommenden Proitstrukturen in Wissenschaftsorganisationen für dringend nötig, wozu Zertiizierungen zur Vergabe von akademischen Graden ausschliesslich über Fernkorrespondenz Anlass geben, wie sie kürzlich die University of Phoenix (E-campus) eingeführt hat. Zusammenrücken in Zeiten der Konkurrenz Neil Smelser nahm das Studium der Soziologie in einer Zeit auf, als zwei Hauptargumente der Legitimierung des Fachs dienten: Ihre Wissenschaftlichkeit (im Gegensatz zu anderen Untersuchungsformen des Sozialen) sowie ihr Vermögen, auf legitimierter Basis Formeln zu liefern, deren Bedarf in der Blütezeit der Sozialreformen – in welche die Soziologie zumindest in der amerikanischen Perspektive hineingeboren wurde – entsprechend hoch war. Die Progressivität der Sozialreformbewegungen animierte damals zur Wahl des Fachs, da es versprach, aus der Wissenschaft heraus in der Gesellschaft «etwas zu bewirken». Smelser deiniert die Soziologie in ihren frühen Stadien als «a kind of idealistic movement», in der die Grenze zum Marxismus und zur wohlfahrtsstaatlichen Sozialarbeit dezidiert aufrecht zu erhalten versucht wurde. Während nach Smelser das reformerische Motiv und die Fremdbeobachtung der Soziologie als Agentin «under the veil of the left wing» bis heute persistiert, hat jedoch die Arbeit an einer generelleren theoretischen Basis zugunsten spezialisierter Studien von Ungleichheiten stark abgenommen. Er hält seinem Fach vor, es würde all das ‹Theorie› genannt, was eigentlich pointierte empirische Befunde sind, die ohne deren Studienkontext zugleich ihre theoretische Bedeutung verlieren. Schon viel zu lange habe die Amerikanische Soziologie generelles theoretisches Nachdenken über die Gesellschaft Leuten wie Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann überlassen. Da Smelser bei der Aufdeckung von sozialen Aspekten (dies etwa als Professioneller im Rahmen einer Untersuchungskommission der amerikanischen Regierung zur Evaluation der Terroranschläge von 11. September 2001) immer an grösseren Zusammenhängen interessiert ist, lautet seine Antwort auf die Frage, ob er heutzutage nochmals Soziologie wählen würde: «probably so, but with less enthusiasm». Der Blick auf die heutigen Soziologiestudierenden lässt eben nicht die Vermutung aufkommen, diese seien politisch engagierter als andere – das Macherische, Aufklärerische erwartet man eher aus den Reihen der Fachhochschulen für Umweltwissenschaften oder der Sozialarbeit. In Konkurrenz mit der Armada der 46 interdisziplinären Studiengänge muss sich die Allgemeine Soziologie als jenes Fach behaupten, das nicht nur diese Expansion nicht unhinterfragt lässt, sondern auch das Aufinden und Beschreiben übergeordneter Probleme der Gesellschaft nicht aufgibt – auch wenn aufklärerischer Enthusiasmus durch hohe Komplexität gedämpft wird. Dann wäre ihre Leistung gerade die, das Verhältnis der Wissenschaft als Anbieterin und der Gesellschaft als Nachfragerin kritisch zu beleuchten. Dafür muss die Soziologie aber im Stande sein, die Gründe für die Unordnung ihres Werkzeugkastens zu erklären, ohne dabei zugunsten einer «Friedlichkeit des Nebeneinanders» gegenüber ihren Theorien konservativ zu sein. Wie einleitend erwähnt, hat Smelser die schismatischen Tendenzen der Wissenschaft in Anwendung des Konzepts der Ambivalenz zu erklären versucht. Die Etablierung dieses zwischen rational choiceAnsatz und anti-rationalistischen Gegentendenzen (Smelser 1998) vermittelnden Supplements ist nur ein Beispiel, wie sich die Soziologie als inner-relektiert und vermittlungsfähig beweist – wobei sie einen weiteren Baustein in den Werkzeugkasten ablegt. Die Forderung nach einem roten Fadens kann aus der Innenperspektive vielleicht nur als idealistische Vorstellung der Soziologie als Beraterin der Gesellschaft diagnostiziert werden. Aber gerade dieses Fordern kann sie zur regenerierenden Auseinandersetzung mit den Fragen ihrer Vermittlung drängen. Etwas Idealismus ist dabei zu begrüssen – denn sie muss damit rechnen, dass die (angehenden) Studierenden die Frage; «Was studieren wir hier eigentlich, und wie?» sich insbesondere in Bezug auf das expandierende interdisziplinäre Angebot stellen. Alexander, Jeffrey C. / Marx, Gary T. 2005: Neil Smelser. In: G. Ritzer (Hg.): Encyclopedia of Social Theory II. 708–712 Smelser, Neil J. 1959: Social Change in the Industrial Revolution: An Application of Theory to the British Cotton Industry Smelser, Neil J. 1962: Theory of Collective Behavior Smelser, Neil J. 1991: Social Paralysis and Social Change: British Working-Class Education in the Nineteenth Century Smelser, Neil J. 1998: The Rational and the Ambivalent in the Social Sciences. 1997 Presidential Adress. In: American Sociological Review 63. 1–16 Smelser, Neil J. 1999: The Social Edges of Psychoanalysis Smelser, Neil J. 2009: The Odyssey Experience * Désirée Waibel studiert im dritten Semester Soziologie M.A. an der Universität Luzern. Markus Unternährer studiert im neunten Semester Soziologie B.A. an der Universität Bern. Die Autoren haben zurzeit eine Hilfsassistenz am Institut für Soziologie an der Universität Bern inne, wo sie als Übungsleiter der Einführung in die Soziologie von den Studierenden mit der Frage nach dem roten Faden konfrontiert werden. Der vorliegende Beitrag wurde im Rahmen eines Blockseminars vom 24–29.10.2011 des Gastdozenten Neil J. Smelser verfasst. expositionen 47 Strahlimaa Roland Reichen * 48 * Von Roland Reichen liegt der Roman Aufgrochsen (Bilgerverlag 2007) vor. Sein zweites Buch erscheint in Bälde. impressum redaktion johanna hilari hannes mangold joanna nowotny manuel perriard thibault schiemann fermin suter johannes willi herausgeber fachschaft germanistik uni bern druck kzub aulage hundertachtzig preis zwei franken gestaltung manuel perriard johannes willi bild umschlag fotoarchiv im RiBiDi, ca.1960er Jahre, © StAAG/RBA4-3 beitragende alain gloor elango kanakasundaram jörg klenk hannes mangold mirco melone roland reichen lisa skwirblies christoph thommen markus unternährer désirée waibel franziska zihlmann elias zimmermann kontakt/inserate/beiträge expositionen@gmail.com www.expositionen.ch Anzeigen einige bücher soll man schmecken, andere verschlucken und einige wenige kauen und verdauen. Francis Bacon BUCHHANDLUNG UNITOBLER BUCHHANDLUNG UNI-HAUPTGEBÄUDE BUCHHANDLUNG FÜR MEDIZIN 031 631 36 11 031 631 82 37 031 631 48 10 Center for Cultural Studies MA Editionsphilologie Was ist Editionsphilologie? Editionsphilologie umfasst Theorie und Praxis der philologischen Grundlagenarbeiten (Erschliessung der Überlieferungszeugen, Textkritik und Kommentar). Sie beschäftigt sich auf breiter Basis mit der Sicherung, Dokumentation, Konstitution und Vermittlung der Textgrundlagen geisteswissenschaftlicher Forschung. Paris, Bibliothèque Nationale, MS fr. 9198, fol. 19r Inhaltliche Schwerpunkte © expositionen zweitausendzwölf • • • • • • Geschichte, Theorie und Methoden der Editionswissenschaft Handschriftenkunde, Textgenetik, Textkonstitution Aufgaben, Konzeptionen, Inhalte und Funktion der Kommentierung Literarisches Archiv, Arbeit mit dichterischen Nachlässen Computerphilologie und elektronische Edition kulturwissenschaftliche Dimensionen der Editionsphilologie Qualiikationen Das MA-Studium in Editionsphilologie qualiiziert für eine Tätigkeit in den Bereichen wissenschaftliche Edition, Archiv, Digital Humanities. Masterprogramm mit Praktikum Zu dem Masterprogramm gehört ein einsemestriges Praktikum. Dieses kann in einem der angeschlossenen Editionsprojekte oder bei externen Praktikumsanbietern wie literarischen Archiven absolviert werden. Beginn: Herbstsemester 2011 Weitere Informationen: www.edition.unibe.ch