SMS ı Ruhm ı Kalenter ı Leere ı Licht ı Globalität ı Parallelen ı Kampf ı Scham ı Prekär ı Frauen ı Väter ı Costner ı Eastwood
Winter
2010
Ausgabe
2
expositionen
1
Editorial
Geneigte Leserin, geneigter Leser
Wie viel Engagement steckt in dreissig Seiten Seminararbeit? Wie viel Erkenntnis? Eine allgemeingültige Antwort wäre:
Nicht viel – aber auch nicht wenig. Eine konkrete Antwort liefert die zweite Ausgabe von expositionen.
Studentische Arbeiten behandeln eine Vielzahl an Themen mit einer Fülle von Methoden. Daraus versammelt das vorliegende Magazin einen wilden Querschnitt. In expositionen fliessen Informationen zusammen, nicht nur über die Darstellung
von weiblichem Terrorismus, Clint Eastwood oder einen beinahe vergessenen Soziologen. Sondern auch über das «Studieren»: Was interessiert (Mit-)Studierende und wie beantworten sie ihre Fragen?
expositionen pflegt eine Kultur von Wissen, nicht nur über das Mahnmal zur Bücherverbrennung, die «Väterliteratur» oder
die Finanzkrise. Sondern auch über die «Vielfalt»: Wie sieht das Wissen aus, das im Umfeld der Uni entsteht, aber seinen
Weg aus dem privaten Kreis andernorts nicht findet?
Allen, die ihre Arbeit und Gedanken hier offenlegen oder sich sonst mit Kritik und Unterstützung um expositionen bemühen, gilt unser Dank.
Wir wünschen eine ereignisreiche Lektüre.
Die Redaktion
2
Inhaltsverzeichnis
«Wi schribt me daas?» (Berndeutsch-)Rechtschreibung im Spannungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft und
Linguistik
Thomas Kobel
Rechtschreibung im Berndeutschen – ein knifliges Thema. Dieser Beitrag liefert keine Anleitung für eine korrekte Orthographie beim nächsten
SMS, aber möglicherweise einen kleinen Einblick in Grundsätze und Geschichte der Schreibung. Denn wenn es ums Schreiben geht, zerren
verschiedene Prinzipien in unterschiedliche Richtungen – und am Ende mischt auch die Politik noch mit.
Seite 4
«Da hast du Ruhm!» oder vom Verstehen ohne Sprache. Donald Davidsons Argument gegen die Standardtheorie
der Sprache
Andreas Heise
Brauchen wir eine Sprache, um die Äusserungen eines anderen Menschen zu verstehen? Ja, lautet die landläuige Antwort. Nein, meint der
Sprachphilosoph Donald Davidson, denn wir können scheinbar unverständliche Äusserungen wie Malapropismen verstehen. Wie dieser Umstand
mit der herkömmlichen Idee von Sprache zu vereinen ist, klärt der vorliegende Text.
Seite 7
Tageschronist mit scharfer Feder. Der Nachlass von Ossip Kalenter (1900-1976)
Natascha Fuchs
Wie gestaltete sich das Leben eines exilierten Schriftstellers und welche Bedeutung kam dabei dem «PEN-Club Deutscher Autoren im Ausland»
zu? Die Sichtung des Nachlasses von Ossip Kalenter beleuchtet diese Fragen und skizziert gleichzeitig das Bild eines Lebensabschnitts.
Seite 11
Eine leere Architektur. Micha Ullmans Mahnmal Die Bibliothek
Claudia Bossard
Die überwältigende Leere, die das Bücherverbrennungsmahnmal in Berlin auszeichnet, verlangt nach einer Deutung: Semiologische, ästhetische
und architekturgeschichtliche Ansätze verorten hierbei das Mahnmal in einer speziisch deutschen Tradition der Arbeit an der Vergangenheit.
Seite 14
Die Bedeutung des Lichts in der christlichen Liturgie und Architektur
Adeline Zumstein
Der zentrale Stellenwert des Lichts für sakrale Bauten und Riten ist unbestritten. Doch woraus speist sich diese Tradition der Lichtmetaphorik,
Lichtverehrung und Lichtgestalten?
Seite 18
Enteuropäisierung der Menschenrechte. Von der Universalität zur Globalität – Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung
Christine Saxer
Die Menschenrechte sind aus einer christlich geprägten Kultur entstanden. Dennoch werden sie heute auf der ganzen Welt eingefordert. Am
Beispiel China wird hier aufgezeigt, wie Rechtssysteme kulturspeziisch geprägt sind. Wie müssen Menschenrechte konzipiert sein, damit sie
global gelten können?
Seite 20
Wo Parallelen sich begegnen. Wie kann neues Wissen entstehen? Zwei Antworten anhand von J. M. Keynes`
General heory
Hannes Mangold
Michel Foucault und Thomas S. Kuhn haben beide wissenschaftssoziologische Thesen zur Entstehung von neuem Wissen formuliert. Ihre Ansätze werden hier vorgestellt und auf John Maynard Keynes General Theory angewendet.
Seite 23
expositionen
3
Tarde vs. Durkheim. Der Kampf um die «richtige» Soziologie in Frankreich um 1900
Aleksander Milosz Zielinski
Um die vorletzte Jahrhundertwende war Gabriel Tarde ein einlussreicher französischer Sozialtheoretiker. Den vorliegenden Text interessiert
neben Tardes Theorie der Nachahmung und dessen Entwurf der Disziplin «Soziologie» insbesondere auch eine kulturgeschichtliche Verortung
derselben.
Seite 27
Ja schämt ihr euch denn nicht? Scham, Entdifferenzierung und die Finanzkrise
Dieter Meier
Unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Veränderungen und ihrer gruppenspeziischen Auswirkungen wird ein Blick auf die Handlungseinstellung jener geworfen, die scheinbar die Finanzkrise verschuldet haben.
Seite 31
Ein soziologisches Porträt zu Arbeits- und Lebensbedingungen von Verkäuferinnen. Eine Studie zur Prekarität
im Detailhandel in Zeiten des inanzgetriebenen Akkumulationsregimes
Markus Flück
Prekarität als neue Form sozialer Ungleichheit muss stärker beachtet werden. Das «soziologische Porträt» zeigt hier exemplarisch auf, welche
Anforderungen ein prekäres Arbeitsverhältnis stellt – und wie damit umgegangen wird.
Seite 34
Frauen und bewaffneter Kampf. Eine literarische Auseinandersetzung
Stefanie Nydegger
Wie wird weiblicher Terrorismus in Judith Kuckarts Roman Wahl der Waffen dargestellt? Anhand des medialen Diskurses zur weiblichen
Tatbeteiligung in den 1970er Jahren wird diese Frage hier beantwortet. Ebenso wird gezeigt, wie Kuckart die existentielle Seite des Terrorismus
mit der existentiellen Seite von literarischem Schaffen verbindet.
Seite 38
«Väterliteratur» als literaturgeschichtlicher Problemfall. Eine sehr kurze Übersicht
Julian Reidy
Das Genre der «Väterliteratur» wurde bisher als Auseinandersetzung mit den Vätern als Vertreter der Macht konzipiert. Hier wird ein solches
Kriterium anhand von zentralen, zu dieser Kategorie gezählten Texten hinterfragt. Mit dem Terminus «Vertrauenskrise» wird ein alternatives
Unterscheidungsmerkmal entwickelt.
Seite 41
«On a knight’s errand». Fremderfahrung und Selbstindung in Kevin Costners Dances With Wolves
Fiona Gunst
In Kevin Costners Dances With Wolves (1990) wird die Erfahrung des Weissen an der Frontier – ein konventionelles Motiv des Westernilms
– mit der Annäherung an das Fremde, einen Indianerstamm, enggeführt. Das Muster von John J. Dunbars Transformation zu Dances With
Wolves wird hier als Übergangsritus erzählt.
Seite 46
Ruchloser Killer oder erbärmlicher Schweinehirt? Wie Clint Eastwood in Unforgiven über Körperdarstellungen ein
Imagewandel gelingt
Alain Gloor
Heute wird Clint Eastwood (*1930) für seine Darstellung vielschichtiger Charaktere gepriesen. Dem war nicht immer so. Für den Imagewandel
weg vom einfältigen Actionschauspieler sorgte Eastwood als Regisseur und Schauspieler in Unforgiven (1992) gleich selbst – über zwei diametrale Körperentwürfe, wie hier gezeigt wird.
Seite 49
zu letzt
Ariane Koch
Wirft in ihrem Bildbeitrag Fragen der Wahrnehmung auf.
Beitrag in der Heftmitte
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«Wi schribt me daas?»
(Berndeutsch-)Rechtschreibung im Spannungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft und Linguistik
Thomas Kobel
R
echtschreibung im Berndeutschen – ein knifliges Thema. Dieser Beitrag liefert keine Anleitung
für eine korrekte Orthographie beim nächsten SMS, aber möglicherweise einen kleinen Einblick
in Grundsätze und Geschichte der Schreibung. Denn wenn es ums Schreiben (und ums möglichst
leichte Lesen) geht, zerren verschiedene Prinzipien in unterschiedliche Richtungen – und am
Ende mischt auch die Politik noch mit.
Die grundsätzlichen Fragen
«Wi schribt me daas?» – Wer hat diese Frage nicht schon
gestellt, während er oder sie entnervt vor dem PC an einer
Seminararbeit oder vor einem Blatt Papier an einem Aufsatz
schrieb. Die Rechtschreibung im Standarddeutschen ist
manchmal schon verzwickt genug. Wer aber gerne «korrektes» Berndeutsch schreiben möchte, stösst sehr bald auf
noch viel grundsätzlichere Fragen und Probleme, weil es
keine allgemein gültige oder anerkannte Norm gibt. Trotzdem wird heute sehr intensiv berndeutsch geschrieben, ohne
dass dies in einem babylonischen Chaos enden würde. Offenbar sind wir uns in den wesentlichsten Punkten doch einig, was wie zu schreiben ist – sonst würden wir uns auf
Berndeutsch schriftlich gar nicht verständigen können. In
den Detailfragen hat sich aber bis heute keine einheitliche
Handhabung durchgesetzt.
Fangen wir ganz, ganz vorne an: Was tun wir eigentlich,
wenn wir schreiben? Modellhaft gesagt fixieren wir Sprache,
die es zunächst nur mündlich (oder in Gedankenform) gab.
Um das tun zu können, machen wir uns unsere Segmentierung des Sprachflusses bewusst, also die Isolation von Wörtern und Lauten, die immer wieder vorkommen. Das erlaubt
es uns, mit einer begrenzten Anzahl von Zeichen eine unbegrenzte Anzahl von möglichen Äusserungen festzuhalten.
Ein Zeichensystem wie unser Alphabet nennt man phonographisch – es hat also ein Zeichen (Graphem) für jeden
Laut (Phonem). Das ist nur eine von verschiedenen Möglichkeiten, so gibt es auch logographische Systeme (in denen
ein Zeichen für ein Wort steht, z.B. Chinesisch) oder solche,
die für jede Silbe ein Zeichen bereit stellen.
Für jeden Laut ein Zeichen und umgekehrt – ist doch gar
nicht so schwierig? Leider ist es nicht so einfach: Weil unser
Alphabet fürs Lateinische entstanden ist, gibt es nicht für
jeden Laut einen Buchstaben. Manchmal wird deswegen der
gleiche Buchstabe verschieden ausgesprochen (etwa in Ruhe
und Ruck – einmal wird das /u/ geschlossen und lang, ein-
mal offen und kurz gesprochen, aber wir haben nur einen
Buchstaben dafür). Manchmal wird der gleiche Laut verschieden geschrieben (weise, Waise: /ei/ und /ai/ für denselben Zwielaut). Die Beziehung zwischen Phonem und Graphem ist also nicht eine umkehrbar eindeutige. Das heisst,
dass man weder von der Aussprache eindeutig auf die
Schreibung schliessen kann, noch umgekehrt.
Nichts leichter, als dieses Problem zu lösen, könnte man
einwenden: Wozu gibt es denn das Internationale Phonetische Alphabet? Dort gibt es für jeden menschlichen Laut ein
eindeutiges Zeichen. Ein interessanter Einwand, nur bringt
er uns nicht weiter. Erstens würde ein solches System viel
schwerfälliger und komplizierter. Und zweitens werden die
gleichen Wörter nicht überall gleich ausgesprochen. Das
heisst, dass man mit einer Rechtschreibung gleichzeitig eine
Recht-Sprechung definieren würde. Die andere Variante,
dass dann halt einfach jeder jedes Wort so schreibt, wie er es
ausspricht, ist auch nicht praktikabel. Schliesslich lesen geübte Leser nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern erfassen
ein Wort als Ganzes. Wenn aber die Orthographie der Wörter nicht konstant bleibt (wie es bei einer individuell lautgetreuen Schreibung der Fall wäre), funktioniert das WortLesen nicht mehr. Wer schon mal versucht hat, einen Mundart-Text aus einer anderen Sprachregion laut vorzulesen,
weiss, wie es ist, plötzlich wieder in den Buchstabier-Modus
zurückzufallen. Wir sind also immer noch gleich weit wie am
Anfang: Ohne einen minimalen Konsens bezüglich Rechtschreibung geht es nicht.
Sprache als Spielball politischer Interessen
Um nicht alles von Grund auf neu entwickeln zu müssen,
ist es naheliegend, für eine Verschriftung ein bereits bestehendes System einer mehr oder weniger verwandten Sprache
zu adaptieren. Im Fall von Berndeutsch ist dies natürlich das
Standarddeutsch. An diesem misst sich implizit, in Abgrenzung oder Anlehnung, jeder Berndeutsch-Rechtschreibevorschlag. Weil Sprache aber kein für sich isoliertes Phänomen
expositionen
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ist, sondern intensiv mit der persönlichen Identität, damit
auch mit der Gesellschaft und ergo politischen Interessen
zusammenhängt, können Anleihen bei anderen Sprachen zu
Konflikten und (Verlust-)Ängsten führen. Dass die Mundart
als von der Standardsprache bedroht wahrgenommen wird,
ist kein neues Phänomen. So schrieb der Zürcher Romanist
Heinrich Morf schon im Jahr 1901: «In absehbarer Zeit wird
die Verkehrssprache in Städten wie Basel und Zürich hochdeutsch [sic] sein.»
Die Diskussion um die Bedrohung der Mundart ist auch
heute noch hochaktuell. Das zeigt etwa die aktuelle politische Debatte um Standarddeutsch im Kindergarten und
Schulunterricht, oder das Dossier zur «Mundart-Debatte»
auf tagesanzeiger.ch. Dort generierten diverse Artikel jeweils
mehrere Hundert Kommentare (u.a. Beiträge von Peter von
Matt: Der Dialekt als Sprache des Herzens? Pardon, das ist Kitsch!,
oder Iwar Werlen: «Bereits 1875 glaubte man, Schweizerdeutsch
stürbe aus»).
Für eine Norm «fehlen jegliche institutionellen und sprachpolitischen
Voraussetzungen».
Einer Sprache zu einer Schriftform zu verhelfen, hat also
auch einen politischen Hintergrund. Der Spruch «a language
is a dialect with an army and a navy» besagt, dass eine Sprache dann als Sprache gilt, wenn ihre Sprechergemeinschaft
über genügend (politischen, militärischen) Einfluss verfügt.
Wenn man das umdreht, könnte man auch sagen, dass, wer
eine eigene Sprache hat, auch eine legitime und ernstzunehmende Nation ist. Eine Voraussetzung dafür, dass eine Sprache als (Ausbau-)Sprache und nicht lediglich als Dialekt gilt,
ist, dass es sich um eine Schriftsprache handelt. Denkt man
die Ängste mit, dass die Schweizer Dialekte durch das Standarddeutsche vereinnahmt würden, erstaunt es wenig, dass
es in der (Deutsch-)Schweiz – gerade in den 1930er Jahren
– sprachpflegerische Strömungen gab, die teils auch eine
Rechtschreibenorm zum Ziel hatten. Wer die eigene Sprache
mit einer Schriftform stärkt, grenzt sich ab und stärkt die
eigene Nation.
Radikal: Emil Baer und die «gemeinschweizerische
Sprache»
Heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist der Normierungsversuch von Emil Baer. Der Pfarrer und Sprachwissenschaftler wollte 1937 eine šwizer folchsšrift («Schweizer Volksschrift») schaffen. Wie radikal er dabei vorging, zeigt sich
bereits im Titel: Einerseits setzte er auf konsequente Kleinschreibung, andererseits wollte er nach dem Prinzip «ein
Buchstabe für jeden Laut» neue Buchstaben einführen und
andere weglassen. So würde eben statt <sch> neu <š> ge-
schrieben oder statt <ng> <ŋ>. Statt <qu> steht <kw>,
und <c>, <v>, <x> und <y> sollen nur noch in «wissenschaftlichen Fremdwörtern» gebraucht werden. Dies, damit
die Hochsprache auch als Wissenschaftssprache taugt. Baer
hatte tatsächlich eine Ausbausprache vor Augen: Im Anhang
seines Werkes liefert er Beispieltexte für Geschäftskorrespondenz, private Briefe, einen Nekrolog, einen Schulaufsatz,
Vereinsstatuten oder Zeitungsannoncen. Selbst die Namen
wollte er nach der Lautung schreiben. Hansjakob Gutknecht
hätte also neu mit <Hansjokeb Guetchnächt> unterschrieben.
Dass sich Baers Vorschlag nicht durchsetzte, hatte verschiedene Gründe. Es liegt beispielsweise auf der Hand, dass eine
solche Schriftsprache den Austausch mit dem deutschsprachigen Ausland erheblich erschwert hätte. Ausserdem wollte
Baer (1937: 31) die Unterschiede zwischen den Dialekten
verwischen. Sein Ziel war ein «Gemeinalemannisch»: «Nienen uf der wält šribt es folch si šproch uf die art, das es
ietwederem frei gštelt wär d wort eso z šribe, wien är s na
siner ortsmundart oder šprächgwonet zuefelig seit.» («Nirgends auf der Welt schreibt ein Volk seine Sprache auf die
Art, dass es jedem freigestellt wäre, die Wörter so zu schreiben, wie er sie in seiner Ortsmundart oder nach seiner
Sprechgewohnheit zufällig sagt.»)
Das Gegenstück: Eugen Dieths Dialäktschrit
Ein weitaus grösserer Erfolg war der Dialäktschrift von Eugen Dieth beschieden, die 1938 fast gleichzeitig wie Baers
Regelvorschlag herausgegeben wurde. Die Dialäktschrift ist
bis heute bekannt und ein unverzichtbares Referenzwerk.
Allerdings hatte sie gerade beim Berndeutsch Mühe, sich
durchzusetzen (vgl. unten). Dieth verfolgt im Vergleich zu
Baer einen diametral entgegengesetzten Ansatz: Ihm geht es
darum, die Eigenheiten und Unterschiede eines jeden Dialekts möglichst lautgetreu wiedergeben zu können. Auch
Sprechende anderer Dialekte sollen aufgrund des Schriftbildes ableiten können, «wie es tönt». Wer Dialekt schreibe,
solle in erster Linie seinem Gehör folgen. «Eine feste, einheitliche Norm, wie die hochdeutsche Schreibnorm, ist weder angestrebt noch erwünscht.» (Dieth 1986: 21)
Eines der wichtigsten Merkmale der Dieth-Schreibung ist
die Kennzeichnung der Vokallänge durch Verdoppelungen.
Andere Dehnungsmarkierungen (etwa <h>) sind nicht zulässig. Das hat zur Folge, dass das Schriftbild auch bei eigentlich identischen Lexemen von jenem des Standarddeutschen
sehr oft abweicht und damit gewöhnungsbedürftiger wird.
Der Mittelweg (und Berner Königsweg): Werner Martis
Bärndütschi Schrybwys
Der in Bern bekannte Ansatz Werner Martis unterscheidet
sich in verschiedener Hinsicht von jenen Baers und Dieths.
Erstens ist er jüngeren Datums (Erstauflage 1972), zweitens
beschränkt er sich aufs Berndeutsche und beansprucht nicht
Geltung für sämtliche deutschschweizer Dialekte. Und drit-
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tens wählt er einen Mittelweg: Marti will weder eine neue
(Schrift-)Sprache kreieren noch zur lautgetreuen Schrift umgewöhnen, sondern sich im Interesse des Leseflusses wo
immer möglich an der Standard-Orthographie orientieren.
Zuviel Lauttreue sei nicht sinnvoll, denn erstens behindere
sie den Lesefluss, und zweitens sei es ohnehin eine Illusion,
dass jemand aus einer anderen Sprachregion «solche Texte
wirklich ‹richtig› (vor)lesen kann, welche Schreibweise man
auch immer anwendet.» (Marti 1985: 29) Von der StandardOrthographie soll da abgewichen werden, wo sie zu lautlichen Verfälschungen führe. Das Dehnungs-h bleibt also
beispielsweise erlaubt. Obwohl dieser Ansatz zu einem
schwer überschaubaren Dickicht von Einzel- und Sonderregeln führt, hat sich im berndeutschen Sprachraum Martis
Regelwerk noch am ehesten etabliert, während im Rest der
Deutschschweiz oft auf Dieth rekurriert wird. Dies liegt unter anderem an einer grossen Berndeutsch-Tradition in der
Literatur, die sich zunächst sehr stark am Standard orientiert
hat. Martis Regelwerk führt hier nicht zu einem Bruch, oder
wie er selbst sagt: «Der Schriftsteller selbst müsste sich völlig
umgewöhnen, und das will er (meistens) nicht.» (Marti 1985:
25)
Den Berndeutsch Schreibenden auf den Griffel geschaut
Vom geschichtlichen Rückblick zur (Schreib-)Gegenwart:
Ein exemplarischer Blick in Texte von Berndeutsch-Autoren
zeigt sehr schnell, dass die Spannweite der angewandten
Konventionen sehr gross ist. Beispiel Kennzeichnung der
Vokallänge: Der Sprachwissenschaftler Christian Schmid
verdoppelt lange Vokale in seiner Berndeutsch-Kolumne im
kleinen Bund (2009) konsequent und folgt damit Dieth. Der
Schriftsteller Pedro Lenz (2008: Plötzlech hets di am Füdle)
kennzeichnet manche Längen und andere nicht, ohne dass
sich ein dahinter verborgenes System erschliessen lassen
würde. Trotzdem ist bei ihm die Sensibilität viel höher als im
CD-Booklet von Züri West (2008: haubi Songs), in dem Längen manchmal durch Verdoppelung oder Dehnungs-h gekennzeichnet werden und manchmal gar nicht. Erstaunlich
ist, dass es bei Züri West sogar zu falschen Längenkennzeichnungen kommt, sei es durch Verdoppelung (wohl in
Anlehnung an Zürichdeutsch: Ziit) oder durch eine falsche
Analogie zum Standard (schiele, liegsch). Auch Patent Ochsner (2008: The Rimini Flashdown) arbeitet mit Verdoppelungen, Dehnungs-h und <ie> oder ohne Kennzeichnung.
Noch um einiges weniger regelhaft als in diesen öffentlichen
Texten ist die Schreibung in privaten Texten, wozu insbesondere die leicht zu untersuchenden Chats zählen. In entsprechenden Studien ist von «normfreier» geschriebener Dialektsprache die Rede. Trotz der daraus resultierenden Variabilität
scheinen sich die Chattenden relativ gut zu verstehen – Verständigung kann also auch ohne Norm funktionieren.
Normlos glücklich?
Die Frage, «wi me daas schribt», lässt sich also vorderhand
fürs Berndeutsche nicht beantworten. Vor allem bei den Vo-
kalen bleiben viele Fragen offen: Soll man das «me» («man»)
mit <e> oder <ä> verschriften? Hier würden zwar alle Regelwerke für ein <e> plädieren, trotzdem liest man oft <ä>.
Soll man die Länge in «daas» verschriften, oder doch lieber
nur <a> schreiben? Oder wäre es vielleicht sogar der Sprachrealität angemessener, von einem silbischen <ds> auszugehen? Solche Fragen müssen Berndeutsch-Schreibende vorderhand individuell für sich beantworten – und sie werden
es auch in absehbarer Zukunft tun müssen; für eine Norm
fehlen schliesslich «jegliche institutionellen und sprachpolitischen Voraussetzungen» (Lötscher 1990: 202). Wir sind
also wieder bei der Verbindung von Sprache und Politik:
Ohne politische Macht etwa in Form einer amtlichen Rechtschreibung wird sich kaum eine Norm durchsetzen, wie sie
für das Standarddeutsche bekannt ist.
Baer, Emil; Baur, Arthur 1937: Šribed wien er reded!
Ifüerig id Šwizer Folchsšrift
Dieth, Eugen 1986: Schwyzertütschi Dialäktschrift.
Dieth-Schreibung (2. Aufl., bearbeitet und hg. von
Christian Schmid-Cadalbert)
Fuhrhop, Nanna 2006: Orthografie
Marti, Werner 1985: Bärndütschi Schrybwys. Ein
Wegweiser zum Aufschreiben in berndeutscher Sprache
(2., überarbeitete Auflage)
Lötscher, Andreas 1990: Zum Problem der
Normalisierung der Mundartschreibung im
Schweizerdeutschen. In: Philipp, Marthe (Hg.):
Alemannische Dialektologie im Computer-Zeitalter.
191-207
Dossier «Die Mundart-Debatte». Im Internet unter:
http://www.tagesanzeiger.ch/dossiers/kultur/dossier2.
html?dossier_id=548 (Stand vom 5. 11. 2010)
Thomas Kobel studiert im 9. Semester Germanistik und Philosophie.
Der vorliegende Text basiert auf seiner Bachelor-Arbeit.
expositionen
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«Da hast du Ruhm!» oder vom Verstehen ohne Sprache
Donald Davidsons Argument gegen die Standardtheorie der Sprache
Andreas Heise
rauchen wir eine Sprache, um die Äusserungen eines anderen Menschen zu verstehen? Ja, lautet die
landläuige Antwort. Nein, meint der Sprachphilosoph Donald Davidson, denn wir können scheinbar
unverständliche Äusserungen wie Malapropismen verstehen. Dieser Umstand ist unvereinbar mit der
herkömmlichen Idee einer Sprache.
B
Hannah studiert Geschichte und sitzt mit Stefan am Tisch
bei einer Flasche Wein. Sie rekonstruieren ein gemeinsames
Erlebnis, das fünf Jahre her ist. «Schau her, die Geschichtsstudentin betreibt die Hysterografie des eigenen Lebens»,
bringt Stefan mittendrin leicht lallend hervor. «Du meinst
eher Historiograie», sagt darauf Hannah.
Stefan unterläuft ein Malapropismus. Malapropismen sind
verfehlte Verwendungen von Wörtern, häufig Fremdwörtern. Eine philosophisch spannende Frage lautet: Sind Malapropismen sprachliche Fehler? Der amerikanische Philosoph
Donald Davidson hat sich dieser Frage angenommen und
gibt zur Antwort: «Ja, aber in einem uninteressanten Sinn.»
Wenn Stefan den sprachlichen Ausdruck «Hysterografie»
braucht, wenn er den Begriff der Historiograie meint, dann
stimmt dieser Gebrauch nicht damit überein, was in einem
guten Wörterbuch steht oder was eine Befragung erlesener
Expertinnen ergeben würde. Dies ist für Davidson jedoch
bloss eine «seichte Konzeption» des richtigen Sprachgebrauchs. Nach ihm brauchen wir einen «tieferen Begriff»
dessen, was die im Kontext geäusserten Wörter bedeuten.
Für Davidson soll dieser tiefere Begriff insbesondere einen
Unterschied ermöglichen zwischen dem, was die Sprecherin
bei einer bestimmten Gelegenheit meint oder implikiert, also
die Sprecherbedeutung im Sinne des Sprachphilosophen Paul
Grice, und dem, was ihre Wörter bedeuten, also die buchstäbliche oder wörtliche Bedeutung. Diese Unterscheidung
ist jedoch bedroht durch Malapropismen. Denn hier scheint
es, als träte die beabsichtigte Bedeutung an die Stelle der
wörtlichen. Um diesem Problem zu begegnen, entwickelt
Davidson den Begriff der Erstbedeutung.
Davidsons Begriff der Erstbedeutung
Die Absichten, die einer sprachlichen Äusserung zugrunde
liegen, sind in der Regel in Zweck-Mittel-Relationen geordnet. Wenn beispielsweise Diogenes gegenüber Alexander die
Worte spricht «Würdest du mir aus der Sonne gehen?», dann
geschieht dies in der Absicht (A1), eine Äusserung zu machen, die von Alexander als wahr interpretiert wird immer
dann und nur dann, wenn er Diogenes aus der Sonne gehen
würde. In (A2), Alexander darum zu bitten, ihm aus der Sonne zu gehen (die Illokution im Sinne John L. Austins). In
(A3), dass sich Alexander von dem Platz vor der Sonne wegbewegt (die Perlokution in Austins Sinne). Und in der Absicht (A4), der Nachwelt eine gute Anekdote zu hinterlassen.
Zu diesen Absichten kommen die Grice’schen Absichten
dazu, wonach Diogenes einige dieser Zwecke verfolgt, indem er Alexander einige der beteiligten Absichten erkennen
lässt. Eine solche relexive Absicht ist gegeben bei der Absicht, in einer bestimmten Weise interpretiert zu werden
(A1), sowie bei der Absicht, Alexander zu bitten, ihm aus der
Sonne zu gehen (A2). Die Erstbedeutung wird nun festgelegt
durch die erste Absicht in einer solchen Kette von Absichten, die einer Grice’schen reflexiven Absicht bedarf.
Der Begriff der Erstbedeutung nun ist in seiner vorläufigen
Bestimmung nicht auf sprachliche Zeichen, sprich Wörter
einer natürlichen Sprache beschränkt. Er umfasst ebenso
nichtsprachliche Zeichen, die nichtnatürlich bedeuten, beispielsweise ein absichtliches Zwinkern, mit welchem man zu
verstehen geben kann, dass man jemanden mag. Damit entspricht der Begriff der Erstbedeutung bis auf weiteres demjenigen der nichtnatürlichen Bedeutung bei Grice. Was muss
zu diesem Begriff hinzukommen, wenn die Erstbedeutung
auf eine linguistische oder sprachliche Bedeutung im engeren
Sinn beschränkt werden soll?
Sprachliche Bedeutung und die Standardtheorie
Auf diese Frage, die Frage nach dem Wesen der Sprache
sozusagen, gibt Davidson zunächst die Antwort, die seines
Erachtens die landläufige ist. Eine Sprache ist demnach ein
System, das der Sprecherin und Hörerin gemeinsam ist und
das die Artikulation logischer Beziehungen zwischen Äusserungen ermöglicht sowie die Fähigkeit erklärt, bisher unbekannte Äusserungen in geordneter Weise zu interpretieren.
Diese Auffassung sei die Standardtheorie der Sprache. Gemäss
der Standardtheorie ist die wörtliche Bedeutung oder Erstbedeutung durch folgende drei Prinzipien gekennzeichnet:
(P1) Erstbedeutung ist systematisch: Eine kompetente Sprecherin
oder Interpretin ist in der Lage, Äusserungen aufgrund der
semantischen Eigenschaften der in der jeweiligen Äusserung
enthaltenen Bestandteile oder Wörter sowie aufgrund der
Struktur dieser Äusserung zu interpretieren. Damit dies
möglich ist, müssen zwischen den Bedeutungen verschiede-
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ner Äusserungen systematische Beziehungen bestehen.
(P2) Erstbedeutungen sind etwas Gemeinschaftliches: Damit Sprecherin und Interpretin erfolgreich und regelmässig miteinander kommunizieren können, muss ihnen eine Interpretationsmethode der unter (P1) beschrieben Art gemeinsam
sein.
(P3) Erstbedeutungen werden durch erlernte Konventionen oder Regelmässigkeiten bestimmt: Die systematische Kenntnis oder Kompetenz von Sprecherin oder Interpretin ist erlernt, ehe sich
Gelegenheiten der Interpretation ergeben, und sie ist durch
Konventionen bestimmt.
Das Argument gegen die Standardtheorie
Davidson legt es darauf an zu zeigen, dass Phänomene des
Bedeutungswechsels wie Malapropismen die Standardtheorie der Sprache widerlegen. Um seinen Punkt zu machen,
trifft Davidson folgende Annahme:
(PM1) Phänomene des Bedeutungswechsels wie Malapropismen beeinträchtigen das wörtliche Verstehen nicht notwendigerweise.
Für Davidson weist sich in der Folge, dass die Standardtheorie dem in (PM1) ausgedrückten Umstand nicht Rechnung
tragen kann. Ob man jedoch geneigt ist, Davidson (PM1)
einzuräumen, hängt an der Überzeugungskraft von Beispielen wie das von Hannah und Stefan. Um des Arguments
willen, werde ich Davidson (PM1) zugestehen. Allerdings ist
es angebracht zu bemerken, dass Malapropismen die Verständigung mindestens erschweren können. Wenn sie Verständigung aber nicht in jedem Fall zum Scheitern bringen,
dann trifft (PM1) zu. Der entscheidende Punkt ist dann, wie
man erklären soll, dass Malapropismen die Verständigung
mitunter nicht beeinträchtigen. Wie könnte man mit der
Standardtheorie eine Rekonstruktion dessen liefern, dass
Verstehen bei Bedeutungswechseln möglich ist?
Man versteht eine Person nicht
deshalb, weil ihre Äusserung diese
und diese Bedeutung hat, sondern
ihre Äusserung hat diese und diese
Bedeutung, weil man sie so versteht.
Eine Rekonstruktion des wörtlichen Verstehens für unseren
Beispielfall könnte wie folgt aussehen: Hannah hat Stefan
nur und genau deswegen verstanden, weil …
(a) Hannah über den Begriff Historiograie verfügt und
(b) entweder (b1) oder (b2) der Fall ist:
(b1) Hannah kennt die Bedeutung von «Hysterografie». Aufgrund des Gesprächsverlaufs, der Unterstellung von Stefans
Rationalität und des Kontextes schliesst sie, dass Stefan
nicht von einer röntgenologischen Untersuchung der Ge-
bärmutter sprechen wollte, sondern von Geschichtsschreibung. Also meinte Stefan nicht Hysterograie, sondern Historiograie.
(b2) Hannah kennt die Bedeutung von «Hysterografie»
nicht. Sie erkennt aber den ähnlichen Klang zu «Historiografie». Aufgrund des Gesprächsverlauf, der Unterstellung
von Stefans Rationalität, des Kontextes (Stefan ist angetrunken) und dem Wissen um die generelle menschliche
Fehleranfälligkeit sowie um die spezielle menschliche Fehleranfälligkeit bei Alkoholeinfluss schliesst sie, dass Stefan
von Geschichtsschreibung sprechen wollte. Also meinte
Stefan Historiograie.
Erstens muss um des Arguments willen festgesetzt werden,
dass Stefan wirklich einen Malapropismus beging. Stefan
machte kein absichtliches Wortspiel, sonach liegt keine implikierte Sprecherbedeutung vor. Dass Malapropismen keine
Implikaturen sind, ist einer der springende Punkte für Davidson, zumal Implikaturen nicht allein auf der Ebene der
Erstbedeutung operieren, sondern weitere Grice’sche Absichten involvieren. Malapropsimen sind für Davidson jedoch Phänomene, die nur die Ebene der Erstbedeutung
betreffen. Zweitens ist es wichtig, Bedingung (a) hervorzuheben. (a) ist nämlich eine entscheidende Voraussetzung für
Davidsons Argument, und zwar insofern, als dass damit Fragen der Interpretation und des Spracherwerbs entkoppelt
werden. Davidson setzt mit einem Wort voraus, dass die Interpretin selbst bereits über «eine Sprache» verfügt, sprich
über ein ausgebildetes Arsenal von Begriffen, welches insbesondere «Historiografie» einschliesst.
Das Problem der Ähnlichkeit
Wenn man unter Davidsons Voraussetzungen weiterhin für
eine standardtheoretische Auffassung argumentieren will, so
müsste man zeigen, dass bei der vorgebrachten Rekonstruktion Regeln oder Konventionen ins Spiel kommen. Nun ist
gemäss der Standardtheorie per Konvention geregelt, dass
dem sprachlichen Ausdruck «Hysterografie» die Bedeutung
Hysterograie zukommt sowie dem sprachlichen Ausdruck
«Historiografie» die Bedeutung Historiograie. Wenn es möglich ist, dass der sprachliche Ausdruck «Hysterografie» in der
Bedeutung von Historiografie aufgefasst werden kann, dann
müsste dieser Bedeutungswechsel des sprachlichen Ausdrucks «Hysterografie» durch Konventionen erklärt werden,
wenn der konventionelle Charakter dieser Zuordnung gewahrt werden soll. Es müsste eine Regel geben, über die
Hannah bereits vor Stefans Äusserung verfügt, und die sie
lediglich anzuwenden braucht.
Gibt es aber eine solche Regel, der Hannah in dieser Rekonstruktion folgt? Man könnte sagen, dass die Regel sich irgendwie auf die klangliche Ähnlichkeit der beiden sprachlichen Ausdrücke bezieht. Hier stellen sich indes zwei Probleme. Erstens müsste man die Relation der Ähnlichkeit
genauer beschreiben und in eine Regel fassen können. Dies
dürfte sich schwierig gestalten, weil Ähnlichkeit eine graduelle und ungenaue Relation ist. «Alles ähnelt allem in irgend-
expositionen
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einer Weise», behauptet Davidson gar zugespitzt. Selbst
wenn dieses standardtheoretische Unterfangen gelänge, verfügt Davidson noch über einen zusätzlichen, gewichtigeren
Einwand. Demgemäss sind Malapropismen nicht die einzigen Fälle von Bedeutungswechseln.
Bedeutungswechsel mit Zusatzinformation
Es ist auch möglich, dass zwischen sprachlichem Ausdruck
und beabsichtigter Erstbedeutung keine klangliche Ähnlichkeit besteht, und die Sprecherin trotzdem «durchkommt»,
die Interpretin also die beabsichtigte Erstbedeutung erfasst.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn uns die Sprecherin
im Zuge der Äusserung selbst mit Informationen versieht,
die uns helfen, die Äusserung zu verstehen. Das klassische
Beispiel dazu liefert Lewis Carrolls Through the Looking Glass:
Humpty Dumpty versucht Alice von den Vorteilen zu überzeugen, den Nichtgeburtstag zu feiern anstatt den Geburtstag, und beendet seine Ausführungen mit: «Da hast du
Ruhm!» Darauf erwidert Alice, dass sie nicht wisse, was
Humpty Dumpty mit «Ruhm» meine. «Natürlich nicht –»,
antwortet Humpty Dumpty,
«bis ich es dir sage. Ich meinte: Da hast du ein schön
zwingendes Argument!»
Alles ähnelt allem
Weise.
Wenn wir Humpty Dumpty
unterstellen, dass er vernünftig ist, dann können wir gemäss Davidson seine Äusserung «Da hast du Ruhm» wörtlich so verstehen wie «Da hast
du ein schön zwingendes Argument», und zwar weil wir die
Zusatzinformation haben, dass er «Ruhm» so verwendet
wissen will. An diesem Punkt sind viele geneigt, Davidsons
Ansatz zu verabschieden. Zu offensichtlich absurd scheint
dieser Schluss. Indes, es gilt die Annahme der Rationalität zu
berücksichtigen. Humpty Dumpty kann nur solange mit seinem eigentümlichen Wortgebrauch durchkommen, wie wir
Anlass haben zur Vermutung, er verhalte sich sonst im
Grossen und Ganzen rational.
Der systematische Punkt der Zusatzinformationen ist dieser:
Wenn eine Sprecherin, die einen Bedeutungswechsel vornimmt, verstanden werden kann, auch ohne dass eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Äusserung und der beabsichtigten Interpretation besteht, dann scheint die Zahl der
Möglichkeiten, wie die Sprecherin Verständigung sicherzustellen vermag, theoretisch unendlich. Dies trifft zu, da Verständnis in gewissen Fällen allein aufgrund von Zusatzinformationen entsteht, von denen die Sprecherin vernünftigerweise annehmen kann, dass sie der Interpretin zur Verfügung
stehen. Wie diese zahllosen Möglichkeiten von Bedeutungswechseln systematisiert, in Regelform gebracht und von einer Interpretin mit endlichem Verstand hätten erlernt werden können, erscheint damit fragwürdig. (P3) wäre sonach
verletzt und die Standardtheorie aufzugeben.
Davidsons Wende: von der Bedeutung zur Verständigung
Die Standardtheorie vermag laut Davidson keinen Begriff
der Erstbedeutung zu liefern, der erklären könnte, weshalb
wir in der Lage sind Bedeutungswechsel zu verstehen. Aus
dem Problem der Bedeutungswechsel zieht Davidson jedoch nicht allein den negativen Schluss, die Standardtheorie
bachab zu schicken, sondern einen weiteren, der zu einer
grundlegenden Neuausrichtung in der Sprachphilosophie
führt: Es ist nicht die Erstbedeutung einer Äusserung, die
zur Verständigung führt, sondern es ist Verständigung, die
die Erstbedeutung einer Äusserung erst festlegt. Für Davidson ist Erstbedeutung mit anderen Worten derivativ gegenüber Verständigung – und nicht umgekehrt, wie es häufig
konstruiert wird. Man versteht eine Person wie Stefan nicht
deshalb, weil seine Äusserung wörtlich diese und diese Bedeutung hat, sondern die Äusserung von Stefan bedeutet
wörtlich dies und das, weil man sie so versteht.
«Meaning […] gets its life from those situations in which
someone intends (or assumes or expects) that his
words will be understood in
a
certain way, and they are. In
in irgendeiner
such cases we can say without hesitation: how he intended to be understood,
and was understood, is what
he, and his words, literally
meant on that occasion. There are many other interpretations we give to the notion of (literal, verbal) meaning, but
the rest are parasitic on this. […] Where understanding matches intent we can, if we please, speak of ‹the› meaning; but
it is understanding that gives life to meaning, not the other
way round.» (Davidson 1994: 11f.)
Davidsons sprachphilosophische Wende zieht indes Probleme nach sich. Zwei davon möchte ich abschliessend beleuchten:
1. Kann man nicht sagen, jemand meine etwas mit seiner
Äusserung, selbst dann, wenn diese Äusserung nicht verstanden wird? 2. Was aber ist das Kriterium dafür, ob eine
Äusserung richtig verstanden wird? Schliesslich besteht die
Möglichkeit von Missverständnissen.
Zu 1.: Es bietet sich an, mindestens zwei Fälle zu unterscheiden, in denen die Äusserung einer Sprecherin nicht verstanden wird. Einerseits sind Fälle denkbar, in denen beispielsweise eine vorbeifahrende S-Bahn die Sprecherin schlicht
übertönt und ihre Äusserung deswegen nicht verstehbar ist.
Solche Störquellen sind kontingent. Solange die semantische
Absicht der Sprecherin rational ist, kann Davidson diesen
Fällen Rechnung tragen:
«So if a speaker reasonably believes he will be interpreted in
a certain way, and speaks with the intention of being so
10
understood, we may choose to say he means what (in the
primary sense) he would have meant if he had been understood as he expected and intended. Reasonable belief is itself such a flexible concept that we may want to add that
there must be people who would understand the speaker as
he intends, and the speaker reasonably believes he is speaking
to such a person.» (Davidson 1994: 12f.)
Mit dem Begriff der vernünftigen Überzeugung («rational
beflief») ist zugleich die zweite Art von Fällen charakterisiert,
in denen Äusserungen nicht verstanden werden, wenn sie
nämlich nicht rational sind. Hier schweben Davidson vermutlich pathologische Fälle vor. Wenn tatsächlich kein Anlass besteht, einem Menschen Rationalität zu unterstellen,
dann können wir den Äusserungen dieses Menschen letztlich keinen Sinn abgewinnen, und umgekehrt. Ein Mensch
meint dann eben nichts mit seiner Äusserung. Humpty
Dumpty ist in dieser Hinsicht ein Grenzfall.
Zu 2.: Missverständnisse setzen Verständnis voraus, so sieht
eine saloppe Antwort mit Davidson aus. Davidson hat bei
seinen Analysen stets konkrete raum-zeitliche Interpretationssituationen vor Augen. Ein Missverständnis liesse sich
sonach charakterisieren als ein Verständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt, welches ein zeitlich früheres Verständnis uminterpretiert. Für nahezu jede Interpretation einer
Äusserung besteht die Möglichkeit, dass wir sie zu einem
späteren Zeitpunkt revidieren. Dies gesteht Davidson zu.
Aber erst dann, wenn die Revision erfolgt, kann – im Rückblick – von einem Missverständnis die Rede sein. Es ergibt
mit anderen Worten keinen Sinn Folgendes zu behaupten:
«Diese Deine Äusserung missverstehe ich jetzt gerade.» Verständigung, wörtliches Verstehen als Erfassen der Erstbedeutung, ist für Davidson der grundlegende Begriff einer
Theorie der Kommunikation. Hinter diesen kann man nicht
weiter zurückgehen.
Bruderer, Urs 1997: Verstehen ohne Sprache.
Zu Donald Davidsons Szenario der radikalen
Interpretation
Davidson, Donald 1986: A Nice Derangement
of Epitaphs. In: LePore, Ernest (Hg.): Truth and
Interpretation: Perspectives on the Philosophy of
Donald Davidson. 433-446
Davidson, Donald 1994: The Social Aspect of
Language. In: McGuinness, Brian et al. (Hgg.): The
Philosophy of Michael Dummett. 1-16
Davidson, Donald 2001: Communication and
Convention. In: Ders.: Inquiries into Truth and
Interpretation. 265-280
Simpson, David 2003: Interpretation and Skill: On
Passing Theory. In: Preyer, Gerhard et al. (Hgg.):
Concepts of Meaning. Framing an Integrated Theory
of Linguistic Behavior. 251-266
Andreas Heise studierte Philosophie und Kommunikationswissenschaft
an den Universitäten Bern, Wien und Zürich. Der Text basiert auf
einem Kapitel seiner Lizentiatsarbeit Literarische Sprache und
Donald Davidson und Literarische Sprache. Die Arbeit
versucht Davidsons Theorie der Sprache und der Interpretation
fruchtbar zu machen für literaturwissenschaftliche Probleme wie
den impliziten Autor und erzählerische Unzuverlässigkeit. Die
Verwendung von Anführungszeichen und Kursivsetzung folgt den
Konventionen in der Philosophie.
expositionen
11
Tageschronist mit scharfer Feder
Der Nachlass von Ossip Kalenter (1900-1976)
Natascha Fuchs
D
er vor allem in Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Präsident des Exil-PEN erwähnte Feuilletonist Ossip Kalenter hat einen umfangreichen Nachlass hinterlassen. Was aber macht man mit
dem Nachlass eines vergessenen Schriftstellers? Man sichtet ihn. Und hofft auf Funde, die grössere
Zusammenhänge eröffnen.
Auf 42 Archivschachteln mit Briefen, Manuskripten, Typoskripten, Druckfahnen, Tagebüchern, Notizen, Zeitungsausschnitten und weiteren Materialien ist Ossip Kalenters
Nachlass, der ursprünglich in Koffern und einer Holzkiste
gelagert war, mittlerweile verteilt, und noch warten viele
Konvolute auf eine gründliche Sichtung. Die Vielzahl unterschiedlicher Dokumente ist charakteristisch für die breite
Tätigkeit des Feuilletonisten, Reiseerzählers und Publizisten
Kalenter. Geboren 1900 in Dresden, sprach er in Anspielung auf Heinrich Heine von sich als einem «der ersten Männer seines Jahrhunderts». Seinen bürgerlichen Namen Johannes Burkhardt streifte er früh zu Gunsten des Pseudonyms Ossip Kalenter ab, um zu Beginn der Zwanziger Jahre
in den wichtigen Feuilletons der «Frankfurter Zeitung», des
«Berliner Tageblatt» oder der «Basler Nachrichten» unter
ebendiesem ‹nom de plume› zu veröffentlichen. Zu seinen
frühesten Förderern gehörte auch Hugo Marti vom Berner
«Bund». 1934 verlegte Kalenter seinen festen Wohnsitz von
Italien, wo er seit 1924 lebte, nach Prag, um dort von 19371939 das Feuilleton des angesehenen «Prager Tagblatt» zu
redigieren. Beim Einmarsch der Deutschen in Prag flüchtete
er mit tschechoslowakischen Papieren nach Zürich, wo er
zwar als politischer Flüchtling anerkannt, aber auch mit einem sieben Jahre währenden Arbeitsverbot belegt wurde,
das erst 1947 vollständig aufgehoben wurde. Der Nachlass,
der vor allem Dokumente aus der Zeit nach 1945 beinhaltet,
liefert reichlich Anschauungsmaterial zu Kalenters Anstrengungen, sich nach dem langen Arbeitsverbot wieder eine
Existenz aufzubauen.
Im Exil
Die unterschiedlich umfangreichen Korrespondenzen mit
über vierhundert Briefpartnern, darunter – um nur einige
wenige zu nennen – Max Brod, Albert Ehrenstein, Claire
Goll, Richard Katz oder Wilhelm Sternfeld, dokumentieren
neben Kalenters vielfältigen Bemühungen, die über die ganze Welt verstreute Exilgemeinde deutschsprachiger Schriftsteller zu unterstützen, auch das Bemühen eines emigrierten
Autors, sich nach dem Krieg den Lebensunterhalt zu sichern. Eine bedeutende Rolle kommt hierbei der Exilzeitschrift «Aufbau» zu, die unter der Leitung von Manfred
George zu einem der wichtigsten Foren deutschsprachiger
Exilanten geworden war. Ende 1945 erhielt Kalenter von der
kantonalen Fremdenpolizei die Genehmigung, für den «Aufbau» zu schreiben, und verfasste regelmässig längere und
kürzere Beiträge sowohl für das politische Ressort wie auch
für das Feuilleton. Unermüdlich rief er als Tageschronist mit
scharfer Feder die Verbrechen zahlloser Nazi-Anhänger wieder und wieder ins Bewusstsein. Er berichtete von den
Nürnberger Prozessen, verfasste Geburtstagsreden, erinnerte an Verstorbene, informierte über das schweizerische
Rechtswesen, besprach Neuerscheinungen und Theateraufführungen. Als sein Arbeitsverbot 1947 vollständig aufgehoben wurde, veröffentlichte Kalenter nebst seinen Berichten
für den «Aufbau» nach New York vermehrt auch wieder in
Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. 1950 schliesslich
war der finanzielle Druck so gross, dass er sich auch wieder
um Publikationen in deutschen Feuilletons bemühte. Er bat
seinen Kollegen Hellmut Schlien in einem Brief vom 4. Oktober 1950 um eine Übersicht über deutsche Zeitungen: «Ich
muss, muss, muss das Deutschland-Geschäft aktivieren,
denn hier ist in Anbetracht der Preise und der seit 1920 nicht
erhöhten Honorare einfach nicht mehr zu leben.» Bereits
einen Monat später schrieb er an Schlien, dass erste deutsche
Blätter seine Feuilleton-Beiträge angenommen hätten. Kalenters Prosa-Miniaturen vermeiden polemische Schärfe –
im Gegensatz zu seiner angriffigen Berichterstattung zur
Tagespolitik für den «Aufbau», wo er sich nicht scheut, politisch brisante Debatten anzustossen. Auch seine ab 1950
wieder einsetzenden Buchpublikationen mit anmutigen Titeln wie Von irdischen Engeln und himmlischen Landschaften
(1955), Die Liebschaften der Colombina (1957) oder Olivenland
(1960) sind Zusammenstellungen von komischen und zuweilen frivolen oder märchenhaften Geschichten und Reisebeschreibungen, die ohne politische Untertöne auskommen.
Ebenso gewissenhaft wie Kalenter seine privaten Briefwechsel aufbewahrte, sammelte er auch seine Korrespondenz mit
verschiedenen Schweizer Behörden. Diese Konvolute beleuchten exemplarisch die schwierigen Existenzbedingungen, unter denen sich deutsche, österreichische oder tsche-
12
choslowakische Schriftsteller im Schweizer Exil während
und nach dem Zweiten Weltkrieg zurechtfinden mussten. In
regelmässigen Abständen erhielt Kalenter zwischen 1939
und 1945 die Aufforderung zur Ausreise, und wie so viele
andere Emigranten musste auch er immer wieder seine Bemühungen um die Weiterreise in ein anderes Land nachweisen, damit seine Aufenthaltsgenehmigung um wenige Monate verlängert wurde. Wie sehr ihn diese Unsicherheit während den Kriegsjahren mitnahm, vertraute er seiner
Bekannten Ingeborg Kemkes in einem Brief vom 5. Februar 1948 an: «Ich fand mich nur mühselig wieder ins Leben
zurück und stehe auch heute noch nicht wieder so darin wie
einst. Es war zu viel.» Nach Kriegsende gründete Kalenter
zusammen mit weiteren Exilanten in Zürich den «Schutzverband Deutscher Schriftsteller» (SDS) mit dem Ziel, deutsche
Exilanten nach Jahren der behördlichen Zurückweisung zu
unterstützen. Konkret bestanden die Aufgaben des SDS in
der Organisation von Vortragsabenden, im Prüfen von Manuskripten, in der Herausgabe eines Mitteilungsblattes, der
Organisation von Rechtsbeistand bei urheberrechtlichen
Streitfällen und in der Erteilung von Ratschlägen an hilfesuchende Kollegen. Im Nachlass Kalenters befindet sich ein
mehr als dreihundert Seiten umfassendes Manuskript, das
Beiträge von über vierzig deutschsprachigen Schriftstellern
im Schweizer Exil enthält. Kalenter, der vom SDS mit der
Redaktion der Anthologie betraut worden war und sehr viel
Zeit in die Auswahl und Zusammenstellung des Manuskriptes investiert hatte, bemühte sich vergeblich, die Anthologie
Sei still Gewalt ... Deutsche Dichtung in der Schweizer Emigration
herauszugeben. Das Projekt scheiterte schliesslich an den
Bedingungen, die der Europa-Verlag an eine Veröffentlichung knüpfte.
Der Nachlass gibt nicht nur Aufschluss über die vielfältigen
Tätigkeiten des Exilanten, der 1956 das Schweizer Bürgerrecht erhielt, sondern gewährt auch Einblicke in persönliche
Freuden und Leiden. 1950 arbeitete Kalenter an einem Band
mit Briefen von Rainer Maria Rilke an Mathilde Vollmoeller,
die ihm von Hans Purrmann, dem späteren Ehemann von
M. Vollmoeller, zur Sichtung und allfälligen Veröffentlichung überlassen worden waren. Als ihm die Erben von
Rainer Maria Rilke die Publikation des fertiggestellten kommentierten Bandes unter Androhung gerichtlicher Schritte
untersagten, zitierte er klammheimlich in einer seiner nächsten Veröffentlichung Von irdischen Engeln und himmlischen
Landschaften einige Zeilen aus einem Brief von Rilke an M.
Vollmoeller – der Insel-Verlag, der die Rechte von Rilkes
Erben verwaltete, reagierte nie. Kalenter konnte seine Freude über diesen Streich, wie aus brieflichen Zeugnissen hervorgeht, nicht verhehlen und amüsierte sich diebisch darüber.
Der PEN-Club Deutscher Autoren im Ausland
1957 wurde Ossip Kalenter zum Präsidenten des «PENCentre of German Writers Abroad» gewählt. Es handelte
sich hierbei um die Nachfolgeorganisation des 1934 neu ge-
gründeten deutschen PEN-Clubs, dessen erster Vorsitzender Heinrich Mann gewesen war. Zu dieser Neugründung
im Exil kam es in Folge der ‹Gleichschaltung› des deutschen
PEN-Zentrums durch die Nationalsozialisten kurz nach der
Machtergreifung Hitlers und der ersten grossen Emigrationswelle deutscher Schriftsteller. Der deutsche PEN-Club
im Exil wurde vom Internationalen PEN-Club offiziell anerkannt und versammelte deutschsprachige Schriftsteller aus
der ganzen Welt bis zur Wiedereinrichtung eines deutschen
PEN-Clubs 1948. Danach wurde er umbenannt in «PENClub Deutscher Autoren im Ausland, Sitz London» und bestand weiterhin, um die Anliegen deutscher und deutsch-
«Ich fand mich nur mühselig wieder
ins Leben zurück und stehe auch
heute noch nicht wieder so darin wie
einst. Es war zu viel.»
schreibender Autoren, die nicht nach Deutschland zurückkehren wollten oder konnten, zu vertreten. Kalenter hatte
die Diskussion um die Neugründung eines deutschen PENClubs als Sonderberichterstatter für die «United-Press» am
Internationen PEN-Kongress in Zürich 1947 engagiert mitverfolgt und war auch am Internationalen PEN-Kongress in
Kopenhagen 1948, an dem die Wiederzulassung eines PENZentrums in Deutschland beschlossen wurde, anwesend,
diesmal als Mitglied des Exil-PENs in London. Er stand
zudem in regelmässigem Briefkontakt mit Mitgliedern des
Vorstandes und wurde insbesondere bei der Aufnahme neuer Mitglieder um seine Meinung gefragt und bemühte sich
auch selbst, neue Mitglieder für den PEN-Club Deutscher
Autoren im Ausland anzuwerben. An Richard Katz schrieb
er am 21. Oktober 1948: «[W]ir möchten die Gruppe der
deutschen Autoren im Ausland (die also nicht identisch ist
mit der innerdeutschen PEN-Gruppe) möglichst repräsentativ ausbauen; darf ich fragen, ob Sie dem PEN angehören,
früher angehörten oder heute anzugehören Neigung hätten?
Ich werde von London dauernd um Vorschläge und Namen
gebeten und würde mich sehr, sehr freuen, Sie vorschlagen
zu dürfen». Seine breite Vernetzung und sein Engagement
machten Kalenter schliesslich zum Kandidaten für das Amt
des Präsidenten. Er selbst erklärte seine Wahl zum Präsidenten des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland in einem Brief an Rudolf Frank vom 29. Januar 1958
jedoch mit anderen Argumenten: «Dass meine Wahl eine
Verlegenheitslösung war, brauche ich Ihnen wohl kaum zu
erklären. Die Verlegenheit bestand darin, dass kaum einer
aus dem Londoner Kreis mit seinen in der letzten Zeit ver-
expositionen
13
öffentlichten Büchern, sofern er überhaupt welche veröffentlichte, das Echo fand, das mir, zu meiner eigenen Verwunderung, zuteil wurde. Dazu kamen lokale Gereiztheiten,
denen ich – lokal wie real, d.h. ihrer Substanz nach – fern
stehe. Es war ähnlich wie bei der Wahl Heinrichs VII. von
Luxemburg. Jetzt muss ich nur acht geben, dass ich nicht
auch noch wie dieser mit der vergifteten Hostie umgebracht
werde.» Trotz der seiner Meinung nach eher zufälligen Wahl
zum Präsidenten hielt Kalenter dieses Amt zehn Jahre lang
inne und wurde 1967 zum zweiten Ehrenpräsidenten nach
Thomas Mann ernannt. Durch die Sichtung, Ordnung und
Inventarisierung der von Ossip Kalenter selbst angelegten
Dossiers zum PEN mit Korrespondenzen, Zeitungsausschnitten und Dokumentationen wird die Geschichte des
«PEN-Centre of German Writers Abroad» für die Forschung zugänglich.
Ossip Kalenter gehört nicht zu den ‹bekannten› Namen, die
bei der Beschäftigung mit der deutschsprachigen Exilliteratur immer wieder genannt werden. Sein Nachlass macht aber
deutlich, wie wichtig neben der Beleuchtung von Einzelschicksalen der Blick auf Institutionen und Organisationen
für die Exil-Thematik ist.
Natascha Fuchs studiert Germanistik und Politikwissenschaft an der
Universität Bern und arbeitet als Stipendiatin im Archiv des Robert
Walser-Zentrums an der Inventarisierung des Nachlasses von Ossip
Kalenter. Das Stipendium wurde ihr von der Christoph Geiser Stiftung
zugesprochen, die den Zweck hat, Archive von Schriftstellerinnen und
Schriftstellern nach wissenschaftlichen Kriterien zu erschliessen und sie
in geeigneter Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Weitere
Informationen unter www.cgst.ch / info@cgst.ch
14
Eine leere Architektur
Micha Ullmans Mahnmal Die Bibliothek
Claudia Bossard
M
icha Ullmans Mahnmal Die Bibliothek ist eine Versinnbildlichung von Leere und Abwesenheit. Das wirkt auf den ersten Blick irritierend, motiviert aber im selben Moment zu
Sprache, weil es das Bedürfnis auslöst diese Leere irgendwie greifbar zu machen. Hier wird
gezeigt, dass «Erinnerung» immer mit Kommunikation und Interaktion verbunden ist. Bricht
diese ab oder verschwindet sie, ist Vergessen die Folge.
«Gräbt man ein Loch, erweitert man den Himmel»
(Micha Ullman)
Ein Blick nach innen
Die Bibliothek von Micha Ullman unter dem Bebelplatz in
Berlin-Mitte ist tagsüber nur zufällig zu entdecken. Ohne das
Wissen, dass in der Mitte des grossen Platzes, umrahmt von
der Deutschen Staatsoper, der St.-Hedwigs-Kathedrale und
der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität ein
Mahnmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung vom
10. Mai 1933 errichtet worden ist, käme man nicht auf die
Idee, den Boden genauer zu betrachten. Denn beim Betreten
des Bebelplatzes fällt der Blick (wenn der Platz nicht gerade
zu Werbezwecken von der Stadt Berlin vermietet wurde) auf
eine Gebäudekulisse hinter einer großen, leeren, mit Kopfstein gepflasterten Fläche, in deren Mitte häufig einzelne
Menschen stehen und auf den Boden starren. Aus der Ferne
entsteht der Eindruck, die Besucher würden eine Art Kunstwerk darstellen. Aber dem ist nicht so: Stattdessen ist es
Micha Ullmans Mahnmal, das einen Blick in die Tiefe und in
das Innere des historisch bedeutsamen Platzes fordert. Seine
Skulptur liegt unter der Erde und besteht aus einem abgeschlossenen Raum von sieben mal sieben Metern Grundfläche und fünf Metern Höhe, der nur von oben durch eine
Glasplatte einsehbar ist. Ausgestattet ist die unterirdische
Kammer mit leeren weißen Regalen aus Beton, in denen
rund 20’000 Bücher Platz finden könnten – ungefähr so viele, wie vor 77 Jahren öffentlich verbrannt worden sind.
Nachts wird der Raum beleuchtet und ein Lichtstrahl aus der
gläsernen Öffnung geworfen, der sich weit über die Leere
des Platzes verstreut und die Skulptur sichtbar erstrahlen
lässt. Die Bibliothek erweckt beim Betreten der Glasplatte ein
Gefühl des Unbehagens und der Angst. Die Leere der Grube erzeugt Sprachlosigkeit beim Betrachter und den Eindruck, ins Nichts zu fallen. Eine rätselhafte Arbeit, die nicht
gegen den Himmel ragt.
Paradoxerweise verkörperte der Bebelplatz unter Friedrich
II. im 18. Jahrhundert das Zentrum des «Forum Fridericianum» und symbolisierte mit dem Bauensemble programmatische Ideen der Aufklärung wie Toleranz, Freiheit und Kultur. In der Mitte desselben Platzes verbrannten die deutsche
Studentenschaft, die Hitlerjugend sowie NS-Mitglieder am
10. Mai 1933 tausende Bücher jüdischer, marxistischer und
regimekritischer Autoren. Der symbolische Gewaltakt wurde, unterstützt von den propagandistischen Worten Joseph
Goebbels und bejubelt von der Menschenmenge, als Spektakel gefeiert. Es war, mit Heinrich Heines Worten aus der
Almansor-Tragödie, «ein Vorspiel nur, [denn] dort wo man
Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.»
Anlässlich des 60. Jahrestages der Bücherverbrennung wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, um für den Bebelplatz
ein zeitgemäßes Denkmal zu finden. Ullman überzeugte die
Jury mit seinem Entwurf einer unterirdischen Bibliothek.
Der Grund dafür liegt zum einen in der künstlerischen Qualität und ästhetischen Klarheit seiner Arbeit, die verschiedene Deutungsansätze zulässt, zum anderen aber auch in der
eindrucksvollen Integration der historischen architektonischen Umgebung in das Gesamtbild der Skulptur (Endlich
2003: 253).
Micha Ullman hat sein Mahnmal bewusst verschlüsselt angelegt (ebd.: 452). «Es soll für sich und aus sich heraus sprechen. Nur wenn die Skulptur autonom funktioniert, kann sie
ihre totale Wirkung entfalten.» (Ullman zit. nach Endlich
1995: 158).
Jan Mukarovský, der Ästhetiker und Mitbegründer der «Prager Schule», weist in seinem Vortrag Die Kunst als semiologisches
Faktum auf die Notwendigkeit hin, Kunst semiologisch zu
betrachten. Zentral in Mukarovský Theorie ist die Unterscheidung zwischen der autonomen und der kommunikativen Funktion des Kunstwerks. Sein ästhetisches Gehalt
(nach Mukarovský: die ästhetische Funktion) verleiht einem
Kunstwerk Autonomie und ermöglicht der Kunst so, den
Fokus auf seine ihm eigene Wirklichkeit, Ausdrucksmöglichkeit und Gestaltungsweise zu lenken. Kunst besitzt immer eine autonome Funktion aber nicht zwingend eine kommunikative. Diese ist nur dann vorhanden, wenn ein Kunstobjekt ein spezifisches Sujet (Thema, Inhalt), das von einem
Betrachter auch als solches wahrgenommen wird, behandelt.
Zwischen der kommunikativen und autonomen Funktion
besteht eine Dialektik, die ein kontinuierliches «Pendelschwingungsverhältnis» zwischen dem Kunstwerk und der
Wirklichkeit erzeugt (Mukarovský 1970: 147).
expositionen
15
Die Bibliothek ist als Auftragskunst zu verstehen, weil sie in
Form eines Wettbewerbs ausgeschrieben wurde und ein
konkretes Thema behandelt. Sie besitzt daher die autonome
und kommunikative Funktion. Die Darstellung und Wirkung der Skulptur von Ullman kann autonom erfasst werden. Was außerhalb ihrer eigenen Existenz und Materialität
vor sich geht, kann sie nicht berühren. Sie ist vor dem
menschlichen Eingriff geschützt. Wenn die Leere des Bebelplatzes aber durch kommerzielle Nutzung gefüllt wird, ist
dies für das Mahnmal eine gewaltsame Störung, weil die Leere des Platzes ein wichtiger Bestandteil der Skulptur ist und
mit der leeren Bibliothek kommuniziert. Sie verstärkt die
Abwesenheit der Bücher und darf nicht ‹gefüllt› werden,
sonst verliert das gesamte Bild an Kraft, denn die Stärke der
kommunikativen Funktion der Bibliothek liegt
gerade in ihrer Ruhe und Stille. Ihre Ästhetik
zwingt dem Betrachter keine Antworten und
Anweisungen auf, sondern erzeugt eine
Sprachlosigkeit und Fragen, die im Nachhinein
zum Dialog motivieren.
Eine Semiologie der Leere
Die materielle Beschaffenheit der Bibliothek
ist bescheiden und einfach gehalten: Ohne Details und Schnörkel bleibt sie auch in ihrer Ausgestaltung rudimentär und leer. In der Grube
sind Büchergestelle angebracht, deren Inhalt
– die Bücher – aber abwesend ist. So entsteht
der Eindruck, als sei diese Arbeit nicht vollendet worden – als fehle noch etwas.
Das materielle Artefakt der Bibliothek ist ein
Loch im Boden, welches mit einer Glasplatte
zur Oberfläche hin versiegelt ist. Was bedeutet
nun diese von den Materialien erzeugte Leere
und was insinuiert die Leere im Kollektivbewusstsein?
Wenn wir versuchen, den abstrakten Begriff
«Leere» semiologisch greifbar zu machen, so
fehlt das physisch greifbare Referenzobjekt, da
«Leere» immer auf einen fehlenden Inhalt verweist. Ein Zeichen kann zur Sache, die es bezeichnet, auch einen indirekten, metaphorischen Bezug herstellen. In diesem Sinne verweist die Darstellungsform der «Leere» auf
Abwesenheit oder Verlust. Die Suche nach einer visualisierten Leere und Abwesenheit ist
für Micha Ullmans Arbeiten charakteristisch:
«In der Bildhauerei hat mich immer die Frage
fasziniert, wie man mit dem Fehlenden, dem
nicht Existierenden arbeitet, mit dem ‹Nichts›.
Ein Loch ist eine Grundform, eine Urform, die beides umfasst, Werk und Werkstoff, und letztlich kommt man zu einem
bildnerischen Ergebnis, dessen Essenz die Abwesenheit ist.»
(Ullman zit. nach Endlich 2003: 450)
Interessant ist, dass die Konzeption der Bibliothek nicht nur
die Überlegung beinhaltet, wie Leere dargestellt werden
kann, sondern die Materialität auch Leere hervorhebt und
damit eine bildhafte «Essenz der Abwesenheit» schafft. Das
materielle Artefakt der Bibliothek erzeugt visuelle Leere und
kennzeichnet gleichzeitig seine Interpretation in Bezug auf
das Thema Bücherverbrennung: als einen symbolischen Gewaltakt, um Kultur zu vernichten und Leere oder ein Vakuum zu erzeugen, und so Platz für neue Inhalte zu schaffen.
Wenn die Bücherverbrennung als Versuch verstanden wird,
«Geist» zu vernichten, ist dieses Vorhaben zum Scheitern
verurteilt, da dieser, im Unterschied zu Papier und Büchern,
durch Feuer nicht zu zerstören ist. So schrieb Heinrich Mann
zur Bücherverbrennung:
Abbildung 1: Thomas Kobel
«Der Bücherverbrennung soll man gedenken – um der Ohnmacht willen, die sich erdreistete, Scheiterhaufen zu errichten für Geisteswerke: als ob Geisteswerke nicht feuerfest
wären.» (Mann 1936: 772)
16
Über den Geist und seinen unzerstörbaren Charakter lässt sich
eine Analogie zur Leere, zum Nichts und zur Luft herstellen.
Die von Ullman gewählten Materialen sind ebenfalls feuerfest. Er hat ein sichtbares Vakuum aus Beton, Luft und Leere geschaffen. Die Metaphorik der Leere ist mannigfach: Sie
kann mit dem Geist in Verbindung gebracht werden, aber
auch mit der Abwesenheit, dem Nicht-mehr-vorhanden-sein
und dem Tod. Ein Zustand der Leere versetzt den Menschen
in Unsicherheit und Angst. Es sind dieselben Gefühle, die
ein Betrachter erfährt, wenn er für kurze Zeit die Glasplatte
der Skulptur betritt: das Gefühl, ins Nichts zu fallen.
Camera obscura
Micha Ullman beschreibt das architektonische Prinzip seiner
Skulptur als Camera obscura, eine Kamera mit der Glasplatte als Film (Ullman 2006: 84). Eine Camera obscura ist ein
dunkler Behälter oder Raum, in den durch ein kleines Loch
Licht hineinfallen kann. Auf der gegenüberliegenden Seite
entsteht dadurch ein auf dem Kopf stehendes Abbild. Die
Farben und Perspektiven des so hineinprojizierten primären
Bildes werden in seiner Ursprünglichkeit bewahrt. Je kleiner
die Öffnung, desto schärfer wird die Abbildung und umgekehrt. Da die Bibliothek selbst die Camera obscura darstellt,
ist sie der eigentliche Beobachter, der den Bebelplatz und
somit auch uns – den Betrachter – sieht. Der Blick entspringt
der Tiefe und es ist also entscheidend, was aus dem Inneren
der Bibliothek herausdringt. Das die architektonische Funktionsweise der Methode der Camera obscura entspricht, bestätigt erneut den autonomen Charakter der Skulptur. Sie
verwaltet sich in ihrer Abgeschlossenheit selbst und hält an
ihrer Gestaltungsweise (der Leere) fest. Die Bibliothek gewährt dem Betrachter sowie sämtlichen Geräuschkulissen
des Bebelplatzes und der Karl-Liebknecht-Strasse keinen
Einlass. Sie kann ihre Ruhe bewahren, obwohl das Aussen
ständig auf die Glasplatte treffen und einzudringen versuchen. Doch selbst Veränderungen des Lichteinfalls sind für
den Innenraum der Bibliothek nicht entscheidend. Nur die
Abbildung 2: © www.art-in-berlin.de
Spiegelung des Betrachters ändert sich je nach Wetterbedingungen und Lichtverhältnis, nicht aber das Bild, das die Bibliothek abgibt: Ihr Blick nach aussen bleibt stets derselbe.
Das Auge funktioniert nach demselben Prinzip wie eine Camera obscura, dementsprechend kann die Bibliothek in Analogie des menschlichen Auges gesehen werden. Auf der
Glasplatte spiegeln sich die Spitzen aller Gebäude, die den
Bebelplatz säumen, die die Bücherverbrennung von 1933
miterlebten und noch jetzt von dieser Vergangenheit zeugen.
Jeder Besucher findet sich selbst, durch seine Spiegelung
oder seinen Schatten, in der Grube wieder. Indem er durch
sein Abbild hindurch die leeren weissen Regale sieht, wird er
gemahnt an die mögliche eigene Gefährdung durch und
Teilhabe an Ideologie und Mitläufertum. Wenn Wolken sich
in der Grube spiegeln wird auf der spiegelnden Glasplatte
ein gleissendes Licht erzeugt, das die Vorstellung von Feuer
evoziert. Das Projizieren eines Bildes auf den leeren Film,
also das Hinzufügen der Bücher, geschieht ohne Willen und
Bewusstseinsanstrengung automatisch in den Köpfen der
Betrachter. Die Bücher sind so abwesend, wie sie präsent
sind.
Gegen die Erinnerung
Micha Ullmans Skulptur ist als Mahnmal zu begreifen und
nicht als Denkmal. Zwischen den beiden Begriffen existiert
zwar keine exakte Differenzierung, in den Wortstämmen
lässt sich jedoch ein wesentlicher Unterschied feststellen.
Das «Mahnen» birgt Warnung oder Gefahr in sich. Die Mahnung appelliert an ein «nie wieder», spricht aus einer negativen Erfahrung heraus und will einen bestimmten Sachverhalt bewusst in Erinnerung rufen. «Denken» hingegen verweist weniger auf ein negatives Ereignis und bietet einen
freieren, individuelleren Assoziationsraum für Erinnerungen, Begriffe und Vorstellungen. Ein Mahnmal orientiert
sich in seiner Ästhetik und Gestaltungsweise an den historischen Örtlichkeiten und bezieht diese Räumlichkeiten aktiv
mit ein; Häufig sind sie staatlich finanzierte Denkmäler, die
bewusst für eine Öffentlichkeit gebaut werden,
um auf ein einschneidendes Geschehnis in der
Vergangenheit aufmerksam zu machen. Aleida
Assmann hält in ihrem Buch Erinnerungsräume
fest, dass gerade authentische historische Orte
ein grosses Potential an Wirkungskraft für die
Konstruktion kultureller Erinnerungsräume besitzen: Erinnerungsorten wohnt eine sonderbare
Verflechtung aus Raum und Zeit inne, die «Präsenz mit Absenz, sinnliche Gegenwart mit historischer Vergangenheit verschränkt.» (Assmann
1999: 338)
Denkmäler und Mahnmale stellen, weil sie Träger von Erinnerungen sind, eine besondere
Form der Architektur dar. Sie geben Aufschluss
darüber, wie eine Gesellschaft ihre Vergangenheit gewichtet, interpretiert, wie viel Raum sie
ihr zukommen lässt und was sie den zukünftigen
expositionen
17
Generationen an Erinnerungsorientierung hinterlassen will.
Zugleich legen sie Zeugnis darüber ab, in welchem Moment
der historischen Verarbeitung sich eine Gesellschaft befindet
oder sich situieren will. James E. Young hat in seiner umfangreichen Studie Formen des Erinnerns festgehalten, wie
Holocaust-Gedenkstätten an einen jeweiligen nationalen Erinnerungskodex angebunden werden. Dass gerade für
Deutschland der Einbezug des Zweiten Weltkrieges in seine
Erinnerungslandschaft ein höchst problematisches, quälendes und schwieriges Unterfangen darstellt, liegt – so Young
– vor allem daran, dass die Mahnmale in Deutschland, im
Unterschied zu anderen Ländern wie Polen und Israel, immer auch Monumente eines Täters sind, der seinen Opfern
gedenkt. Eine derart komplizierte Basis fordere einen Bruch
mit der nationalen Erinnerungskultur, und die Gegenwartskünstler Deutschlands antworteten auf die heikle Denkmalfrage mit der Errichtung von sogenannten «Gegen-Monumenten». Der Kerngedanke liegt in der Frage, ob ein Monument nicht eher Hindernis denn Anstoss für das öffentliche
Erinnern sei (Young 1993: 57). Skeptisch gegenüber der Ästhetik und den Ideen der traditionellen, positiv geprägten
Erinnerungsfiguren, waren sich Künstler wie Horst Hoheisel (Aschrottbrunnen in Kassel), Jochen Gerz und Esther
Shalev-Gerz (Monument gegen Faschismus in Hamburg)
einig: Um sich von der Generation der Täter loszulösen,
müssen sie in ihrer bildlichen und figurativen Ausdrucksweise neue Formen des Erinnerns finden (ebd.: 57). So wird in
den Darstellungsformen von Gegenmonumenten der Begriff «Erinnern» ausgelotet, sowohl die Notwendigkeit des
Erinnerns als auch sein Unvermögen finden darin Platz. Die
Materialität tritt hinter den Einbezug des Betrachters zurück.
Ziel ist es nicht, Trost-Gefühle oder andere ‹Inhalte› zu
spenden, sondern mit Hilfe von künstlerischen Provokationen die gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen offen
zu legen und zu enttabuisieren. Der Prämisse folgend, dass
Wiedergutmachung und Schuldabarbeitung weder real noch
symbolisch möglich sind, soll der Betrachter aus seiner
(Selbst-)Zufriedenheit herausgerissen werden. Die Bibliothek
von Micha Ullman ist damit ein Gegenmonument, weil die
Deutung dem Betrachter überlassen wird und die Skulptur
so zu Dialogen und Gesprächen aufruft.
Das bedeutendste deutsche Mahnmal ist nach James E.
Young weniger ein bestimmtes einzelnes Werk, als der laufend geführte Diskurs zu den Fragen, wie erinnert werden
soll, in wessen Namen und zu welchem Zwecke (ebd.: 52).
Die Bibliothek versinnbildlicht die Abwesenheit von Büchern
und somit auch von Sprache, motiviert aber im selben Zuge
zum Sprechen, weil ihre Leere und somit ihr Verständnis nur
durch Dialoge bewältigt werden können.
Die Sprachlosigkeit und das Gefühl des Unbehagens, die
sich beim Betreten der Glasplatte einstellen, entsprechen
dem «Pendelschwingungsverhältnis» nach Mukarovský, es
ist das Changieren zwischen der autonomen Wirklichkeit des
Kunstwerks und der heutigen Realität. Die Bücherverbrennung von 1933 ist als ein Höhepunkt symbolischer Gewalt
zu verstehen und kündigte gleichzeitig Ende und Anfang an.
Micha Ullman legt sein Kunstwerk genauso symbolisch an.
Die Bibliothek ist real, sie steht zur Benutzung bereit, aber
dennoch bleibt sie leer und metaphorisiert die kulturelle
Leerstelle, welche mit der Bücherverbrennung angestrebt
wurde: Die Bibliothek ist eine Grabstätte für Bücher, und
kann auch als eine solche für das «Volk des Buches» gelesen
werden. Das Nicht-Vorhandensein der Bücher verweist auf
die Abwesenheit der Ermordeten und das Licht beleuchtet
diesen Verlust und lässt ihn ewig bestehen.
Assmann, Aleida 1999: Erinnerungsräume. Formen
und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses
Endlich, Stefanie 1999: Denkmal Bücherverbrennung.
In: dies. (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des
Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. 104-105
(Bd. II)
Endlich, Stefanie 1995: Der Blick nach Innen. In:
Architektenkammer Berlin (Hg.): Architektur in Berlin.
Jahrbuch 1995. 156-159
Endlich, Stefanie 2003: Erinnerungszeichen
und Denkmäler für die Bücherverbrennung.
In: Benz, Wolfgang (Hg.): Zeitschrift für die
Geschichtswissenschaft 51 (2003). 447-455
Endlich, Stefanie 2006: USA und Deutschland –
Anmerkungen zum Vergleich der Erinnerungskulturen
mit Blick auf das World Trade Center Memorial. In:
Schlusche, Günter (Hg.): Architektur der Erinnerung.
NS-Verbrechen in der europäischen Gedenkkultur.
24-31
Mann, Heinrich 1936: Die Bücherverbrennung. In: Die
Neue Weltbühne 32 (1936). 772-775
Mukarovský, Jan 1970: Kapitel aus der Ästhetik. Aus
dem Tschechischen übersetzt von Walter Schamschula
Ullman, Micha 2006: Architektur und Erinnerung. In:
Schlusche, Günter (Hg.): Architektur der Erinnerung.
NS-Verbrechen in der europäischen Gedenkkultur.
82-85
Young, James E. 2000: At Memory’s Edge. AfterImages of the Holocaust in Contemporary Art and
Architecture
Young, James E. 1993: The Texture of Memory.
Holocaust Memorials and Meaning
Claudia Bossard studiert an der Universität Bern Germanistik
und Theaterwissenschaften. Der vorliegende Text basiert auf einer
Seminararbeit zur Veranstaltung Berlin – Die Stadt als Text.
18
Die Bedeutung des Lichts in der christlichen Liturgie und Architektur
I
Adeline Zumstein
m November 2010 stehe ich in der grossen und sagenumwobenen Hagia Sophia in Istanbul:
Sie ist überwältigend. Zugegeben, ein sehr subjektives Urteil. Und dennoch stimmen etliche Geschichtsschreiber seit tausendfünfhundert Jahren denselben Ton an – Das Innere der Hagia Sophia ist erfüllt von einem sphärischen, magischen und atemberaubenden Licht, das die Kühnheit
der Architektur noch um ein Vielfaches verstärkt. Die Hauptkirche des oströmischen Reiches ist
in der Forschung ein prominentes Beispiel dafür, wie Licht innerhalb der christlichen Architektur
beziehungsweise Liturgie seinen Einluss ausübt(e). Doch warum ist die Lichtinszenierung im
Christentum scheinbar so wichtig?
Funktion und Ästhetik in der Architektur
Der christliche Sakralbau als Versammlungsraum und als
Ort, an dem der Gläubige Christus und Gott durch Gebete
und Eucharistie begegnet, verlangt seit jeher nach einer Architektur, die Funktion und Ästhetik auf einer monumentalen Ebene miteinander verbindet. Dabei drängt sich dem
Betrachter nicht selten die Frage auf, ob sich die Form den
liturgischen Anforderungen anzupassen hat oder ob das monumentale Erscheinungsbild der Architektur doch vorrangig
ist. Herausragende Beispiele christlicher Sakralbauten wie
etwa die Hagia Sophia in Istanbul oder die gotische Kathedrale von Saint-Denis lassen uns heute vermuten, dass sowohl der Funktionalität als auch dem religiös-ästhetischen
Empfinden Beachtung geschenkt wurde. Dabei sollten jedoch nicht die jeweils stiltypischen Bauformen, sondern vor
allem das Licht zur verbindenden Kraft werden.
Licht bedeutet…
Welche Bedeutung kommt dem Licht im Christentum zu?
Eine Frage, die scheinbar einfach und schliesslich doch so
vielschichtig ist. Licht erhellt die Dunkelheit, Licht birgt das
Gute in sich, Licht bringt Frieden. Diese Konnotationen des
Lichts sind aber keinesfalls ausschliesslich typisch christlich.
Tatsächlich reichen die Wurzeln der christlichen Lichtbedeutung – die sich später sogar zu einer Lichtmetaphysik entwickelt hat – bis in die frühgriechische Dichtung und Philosophie.
Bereits einige Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung trat in Texten der Begriff «Licht» als Stellvertreter für
erhabene und ehrenvolle Ausdrücke auf. Diese Zuordnung
zwischen dem Symbol, also dem «Licht», und dem Symbolisierten, zum Beispiel «Ruhm», geschah willkürlich und man
kann heute keine eindeutigen Hinweise darauf finden, nach
welchen Kriterien einzelnen Ausdrücken der Begriff «Licht»
als Repräsentant zugeordnet wurde. Diese Tendenz verdichtete sich innerhalb der Literatur soweit, dass auch Götter
und Göttererscheinungen (Epiphanien) mit Licht in Verbindung gebracht wurden. Das Licht diente somit nicht mehr
bloss als Mittel zum Erkennen, Wahrnehmen und im weitesten Sinne als Mittel zur Ehrung, sondern man begann, das
Licht zu spiritualisieren, das heisst, das sinnlich wahrnehmbare Licht wurde zum intelligiblen, zum philosophischen
und rein geistigen Licht. Eine zentrale Rolle spielte dabei
Platon, bei dem das Licht nicht mehr nur die Stellvertreterfunktion für sinnlich nicht Wahrnehmbares einnahm, sondern auch für ‹das Wahre› selbst stand.
Lichtgestalten der Antike
Der Idee des intelligiblen Lichts folgte bald eine in alle Gesellschaftsschichten übergreifende Sonnengottanbetung.
Dieser Ritus wurde, wie andere auch, von der römischen
Kultur übernommen und weiterentwickelt. So äusserte sich
der Sonnengottkult in einer erweiterten Sonnenverehrung,
die sich nicht nur auf der religiösen, sondern auch auf der
politischen Ebene manifestierte. Der so genannte «sol invictus» – die «unbesiegbare Sonne» – stand im römischen Imperium für den politisch-ideologischen Herrscher und als
Garant des inneren und äusseren Zusammenhalts. Die Anbetung des Lichts in Form der Sonne galt nicht mehr nur
einer Gottheit, sondern auch dem Kaiser selbst. Von nun an
wurde es üblich, diese «Lichtgestalten» mit einem Nimbus
darzustellen. Der berühmte «christliche Heiligenschein» war
geboren.
«Und Christus, deine Sonne, geht für dich auf»
Als sich die junge Christengemeinde nach dem Toleranzedikt von 313 von einer Untergrundbewegung allmählich zur
Staatsreligion entwickelte, hatte man sich schon längst einzelner Riten des Sonnengottkults bedient und diese in die
eigene, sich immer stärker entwickelnde Tradition eingebunden. Obwohl die Institution Kirche von Anfang an eine Exklusivität im Bezug auf ihren Gott und ihren Glauben pflegte, war man gezwungen, jahrhundertealte heidnische Rituale,
die in der Bevölkerung fest verankert waren, in die eigene
Religion mit einzubeziehen. Ein Beispiel dafür nennt Plinius
der Jüngere in einem Bericht aus dem 2. Jahrhundert, in dem
expositionen
19
er bekundet, dass schon das frühe Christentum auf besondere Weise die allgemeine Sonnenverehrung teilte: «Die
Christen kommen an einem bestimmten Tag vor dem Aufgang des Lichts zusammen, um Christus wie einem Gott ein
Lied zu singen.»
Die frühen Christen lebten eingebunden im Glauben an die
Überlieferung und an den Mensch gewordenen Sohn Gottes. Sowohl die Taufe als auch das Abendmahl – damals
noch gleichbedeutend mit einem gemeinsamen Sättigungsmahl – wurden mit Hilfe von Licht inszeniert und zelebriert,
mit einer religiösen Erleuchtung gleichgesetzt, und fanden
dabei ihren Höhepunkt im Osterfest. Aber nicht nur zu Ostern, sondern auch im täglichen Vespergottesdienst nahm
das Licht eine visuelle und theologisch bedeutende Stellung
ein. Auf der religiösen Ebene sah man Christus als das wahre Licht:
«In allem Geschaffenen war er das Leben, und für die Menschen war er das Licht. Das Licht strahlt in der Finsternis,
und die Finsternis hat es nicht auslöschen können.» (Johannes 1,4-5)
Daneben empfand man auf der Ebene des ästhetischen und
emotionalen Lichterlebnisses den erhellten Versammlungsraum als ein Symbol für Sittlichkeit und gottesfürchtiges
Leben:
«Auch ihr wart einst im Dunkeln, aber jetzt seid ihr im Licht,
weil ihr mit dem Herrn verbunden seid. Lebt nun auch als
Menschen, die im Licht stehen! Aus dem Licht erwächst als
Frucht jede Art von Güte, Rechtschaffenheit und Treue. […]
Was aber ans Licht kommt, wird selbst Licht. Darum singen
wir: ‹Wach auf du Schläfer! Steh auf vom Tod! Und Christus,
deine Sonne, geht für dich auf.» (Epheser 5,8-14)
Die Lichtmetaphysik des Dionysius Areopagita
Zu Beginn des 6. Jahrhunderts verfasste ein Anhänger des
Neuplatonikers Proklos im griechischsprachigen Raum die
vier Schriften Über die göttlichen Namen (De divinis nominibus),
Über mystische Theologie (De mystica theologia), Über die himmlische
Hierarchie (De caelesti hierarchia) und Über die kirchliche Hierarchie
(De ecclesiastica hierarchia). Diese Abhandlungen gehörten seit
deren Übersetzung im 9. Jahrhundert durch Johannes Eriugena zu den bedeutendsten Texten des Mittelalters. Trotz
der enormen Berühmtheit der Schriften ist die wahre Identität des Autors unbekannt. Der womöglich am Anfang des
6. Jahrhunderts verstorbene Neuplatoniker gab sich als derjenige Dionysius aus, der von Paulus auf dem Athener Areopag bekehrt wurde. Diese Illusion verschaffte innerhalb
kürzester Zeit sowohl dem Verfasser als auch den Schriften
im Osten und Westen ein hohes Ansehen.
Der sogenannte Dionysius Areopagita (auch bekannt als
Pseudo-Dionysius) befasste sich in den besagten Schriften
mit der neuplatonischen Lehre, wobei er den Geist als dem
Körper vorrangig definierte. Die himmlischen Wesen, Engel
und Teufel erklärte er für reine Geister und ordnete diese in
Hierarchien ein. Zentral bei seiner Lehre war dabei immer
die Anwesenheit des «Einen», des «Vaters der Lichter», des
«Gottes», der nicht nur alles geschaffen hat, sondern auch
alles zusammenhält. Daneben scheint für den Menschen, der
sich auf der untersten, fast völlig materiellen Ebene befindet, die rein intelligible Sphäre nahezu unerreichbar. Indem
sich jedoch der Mensch der Schönheit und dem Glanz des
Materiellen hingibt, kann er förmlich in die höheren Sphären
Gottes emporgehoben werden. Das heisst: Durch das Betrachten des sinnlich wahrnehmbaren Lichtes (in all seinen
Formen) kann der Gläubige zum wahren, intelligiblen Licht
und somit zu Christus und Gott hingeführt werden.
Der corpus areopagiticum propagierte eine Lehre, die die Bedeutung des Lichts im christlichen Glauben endgültig in eine
weit verbreitete Lichtmetaphysik verwandelte. Licht war
nicht nur Gott selber, sondern zugleich auch ein Weg zu
Gott und in den Himmel.
Architektonische Lichtkonzepte?
Auf welche Weise sich diese Lehre im christlichen Sakralbau
im Einzelnen niederschlug, kann an dieser Stelle nicht weiter
ausgeführt werden. Dass monumentale Fensteröffnungen,
riesige Öllampen und sanfter Kerzenschein nicht nur auf
der funktionellen Ebene ihre Dienste erfüll(t)en, darf jedoch
mit ruhigem Gewissen angenommen werden. So steht in
den Türen von Saint-Denis geschrieben:
«Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das da edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so dass sie durch wahre
Lichter zu dem wahren Licht gelangen, wo Christus die wahre Tür ist.»
Sämtliche im Text genannten Zitate sind Übersetzungen aus folgenden Editionen:
Onasch, Konrad 1993: Lichthöhle und Sternenhaus.
Licht und Materie im spätantik-christlichen und frühbyzantinischen Sakralbau
Flasch, Kurt 2006, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli
Abt Suger von Saint-Denis 2000: Ausgewählte Schriften. Ordinatio, De consecratione, De administratione.
Hg. von Andreas Speer und Günther Binding
Adeline Zumstein studierte an der Universität Bern Kunstgeschichte
und Denkmalplege. Der vorliegende Text basiert auf ihrer Bachelorarbeit.
20
Enteuropäisierung der Menschenrechte
Von der Universalität zur Globalität – Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung
Christine Saxer
D
ie Menschenrechte entstanden aus einer christlich geprägten Kultur. Dennoch werden sie heute auf
der ganzen Welt eingefordert. Der Konlikt zwischen Universalität und Kulturrelativismus der
Menschenrechte wird hier zwar nicht gelöst. Am Beispiel China soll aber aufgezeigt werden, wie ein
jedes Rechtssystem kulturspeziisch geprägt ist. Wie können Menschenrechte global gelten?
Menschenrechte und die Vereinten Nationen
Von wenigen Ausnahmen (wie der Genfer Konvention von
1864 und dem Abkommen zur Unterdrückung von Sklaverei
und Zwangsarbeit von 1926) abgesehen, war es nach dem
zweiten Weltkrieg, als die ersten internationalen Abkommen
vereinbart wurden, die heute als Menschenrechte bekannt
sind. So stellt die Charta der Vereinten Nationen (1945) den
Beginn einer Entwicklung dar, die sowohl die Universalität
wie auch die Institutionalisierung der Idee von Menschenrechten zwischenstaatlich etablierte. Jedoch fehlt es den Vereinten Nationen bis heute an Durchsetzungskraft, da die
Charta durch die Wahrung der staatlichen Souveränität jede
Einmischung in innere Angelegenheiten verbietet. Im Rahmen der Vereinten Nationen entstand 1948 auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, welcher trotz ihres unverbindlichen Charakters eine hohe moralische Bedeutung zugeschrieben wird.
Die UNO-Pakte I und II (1966) sind dagegen klar verpflichtend. In der Sekundärliteratur wird betont, dass in diesen
beiden Abkommen dem Selbstbestimmungsrecht (Kollektivrechte) eines Staates – über den souveränen politischen
Status sowie die souveräne wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung – ein zeitlicher, wenn auch nicht inhaltlicher Vorrang vor den individuellen Menschenrechten gegeben wird.
Renaissance des Naturrechts
In der Rechtsphilosophie spricht man in diesem Zusammenhang für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von einer
«Renaissance des Naturrechts», welches zur Bewältigung des
nationalsozialistischen Unrechtsregimes heran gezogen wurde. Eine naturrechtliche Begründung geht davon aus, dass
dem Menschen aufgrund seines Mensch-Seins, aufgrund
seiner Natur, bestimmte unveräusserliche Rechte zugesprochen werden. Diese Rechte sind vorstaatlich, d.h. unabhängig von einer gesetzten Rechtsordnung und müssen deshalb
vom Staat gewährleistet und schliesslich in juristischen Rechten (Grundrechten) konkretisiert werden. Da die erwähnten
UN-Dokumente in diesem Kontext entstanden, liegt die
Schlussfolgerung auf der Hand: Die Menschenrechte sind
naturrechtlich begründet. Dabei ist kritisch zu hinterfragen,
was die kulturellen Bedingungen dieses Naturrechts in der
westlich-europäischen und angelsächsischen Welt ausmacht.
Antike Ursprünge
Bereits in der Antike wurde das Naturrecht kontrovers diskutiert. Von der Antiken Mythologie über das Polisdenken
bis zur Tragödiendichtung wurde das gesetzte Recht (Nomos) als Ausdruck der göttlichen Ordnung (der Natur, Physis) angesehen. Dieses Einheitsdenken durchbrachen die
Sophisten, indem sie einen Werterelativismus vertraten.
Demnach konnte das Naturrecht keine absolute Gültigkeit
mehr beanspruchen. Unter anderen Sokrates, Platon und
Aristoteles wendeten sich in der Folge gegen die Sophisten,
indem sie eine absolute Wertsetzung erneut verteidigten.
Insbesondere die Stoa übte in der Folge einen ausgeprägten
Einfluss auf die Naturrechtslehre aus, insofern, dass der Logos (der Ursprung hinter der Wirklichkeit) zur Grundlage
der späteren metaphysischen Auffassung von allgemeingültigen Menschenrechten wurde. Dabei ist der Logos von den
Stoikern als ein göttlicher Ursprung, der die Einheit der Welt
begründet und der Welt das Gesetz, den Nomos gibt, konzipiert worden. Die Welt entspricht somit einer vernünftigen
Ordnung – dem Logos –, welche der Mensch, durch den
Funken des göttlichen Urfeuers, den er in sich trägt, zu erkennen vermag. Damit sind zwei der drei Kernelemente einer Naturrechtstheorie beisammen: Die Existenz einer ewig
gleichen Sollensanordnung und die Intelligibilität, also das
Vermögen kraft menschlicher Vernunft das Naturrecht erkennen und befolgen zu können. Als dritter Grundbaustein
ist schliesslich die Derogation (Ausserkraftsetzung) des positiven Rechts durch das Naturrecht zu ergänzen.
Kontinuität im christlichen Mittelalter
In der Stoa ist der Logos alleiniger Gotteswille und nicht
mehr nur Abbild der göttlichen Ordnung. Die christliche
Philosophie wandte sich erst mit Thomas von Aquin von der
heilsgeschichtlichen Rechtsdogmatik ab und wieder dem
Menschen als vernunftbegabtes Wesen zu. Indem Thomas
von Aquin das Naturrecht als durch die menschliche Vernunft erkennbar und zugleich als Widerspiegelung des gött-
expositionen
21
lichen Rechts konzipierte, war seine Naturrechtslehre eine
Variante des Gottesebenbildlichkeits-Arguments des Menschen. Das Gewissen des Einzelnen war somit der Ausdruck
des Göttlichen in jedem Menschen, das Moralsystem religiös
legitimiert.
Übernahmen in der Neuzeit
Dokumente wie die Virginia Bill of Rights (1776) oder die
französische Déclaration (1789), welche als erste menschenrechtliche Verfassungen gelten, gehören jedoch erst in die
Zeit der Aufklärung. Diese zeichnet sich durch ein Denken
aus, welches die Welt nicht mehr mit Hilfe einer göttlichen
Ordnung, sondern nur noch aus sich selbst heraus erklärt.
Das Naturrecht wurde in diesem Sinne zum säkularen Recht,
rational be- und auf individuellen Rechtsansprüchen gegründet. Roy Porter bemerkt in seiner Kleinen Geschichte der
Aufklärung (1991), dass die Aufklärer die Auffassung vertraten, die menschliche Natur und somit alle Menschen hätten
im Grunde die gleichen Eigenschaften und Bedürfnisse. Somit könne es nur einen allgemeingültigen Standard der Ge-
Die Welt wird aus sich selbst heraus
erklärt.
rechtigkeit geben. Aber da die Aufklärung jegliche metaphysische Erklärung aufgegeben hatte, konnte sie für die Legitimierung von allgemein gültigen Menschenrechten, wie sie
in der Virginia Bill of Rights oder der Déclaration gefordert
sind, nicht einen im Kosmos liegenden Logos herbeiziehen,
wie im Naturrecht bis anhin. Diese Lücke wurde durch die
feine aber wichtige Umschreibung behoben, dass der
menschlichen Natur per se ein aus der Vernunft begründeter
Anspruch auf Freiheit und Individualität zugeschrieben
wurde.
Die Gegenposition der Naturrechtslehre ist der «Rechtspositivismus», der selbst diese aufgeklärte Form des Naturrechts ablehnt. Im Gegensatz zum Naturrecht, das von der
Verbindung von Moral und Recht ausgeht, vertreten die
meisten Theorien des Rechtspositivismus die Trennungsthese: Recht ist Recht aufgrund seiner formalen Kriterien und
nicht aufgrund seines Inhaltes.
Die Menschenrechte sind sowohl als juristische Dokumente,
wie auch in ihrer philosophischen Begründung ein Ausdruck
der westlich-europäischen und angelsächsischen Kulturentwicklung. Dabei sind sie eng mit der Entstehung der demokratischen Staatsformen verbunden. Das Naturrecht, ob
nun mit einer transzendentalen oder auch säkularen Letztbegründung, wurde als Legitimierungsfaktor der Menschenrechte nie in Frage gestellt. Selbst die aufgeklärte, moderne
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Natio-
nen, entstand in einer Phase der Wiederentdeckung des Naturrechts.
Religionsfreiheit in China
Das öffentliche Bild von China hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Neben der ökonomischen Euphorie bestimmt heute die menschenrechtliche Anklage den
Ton der Auseinandersetzung. Am Beispiel der Religionsfreiheit lässt sich gut aufzeigen, welche anderen kulturellen Bezugspunkte Menschenrechte haben können. Nicht nur die
kommunistische politische, sondern auch ältere sozio-kulturelle Traditionen prägen die Politik Chinas, die auf gesamtgesellschaftliche Harmonie und Stabilität ausgerichtet ist.
Die Legitimität der Parteipolitik beruht daher auf der Balance zwischen Toleranz (sozio-ökonomischer Autonomie) und
politischer Kontrolle (politische Loyalität) im Volk. Das
Aufkommen von Religion wird als Störfaktor angesehen,
weil zu starke Kontrolle die Toleranz der Parteipolitik und
dadurch ihre Legitimität untergraben könnte. Zudem werden der Religion revolutionäre Kräfte zugeschrieben, die als
eine Gefahr für die paternalistische Ideologie der kommunistischen Partei angesehen werden, denn auch die Geschichte Chinas ist von religiös motivierten Kriegen und
Umstürzen geprägt.
Davon sind die Uiguren sowie die Tibeter doppelt betroffen:
Religiös-ethnische Minderheiten werden seit dem 11. September 2001 von der Regierung als Terroristen stigmatisiert
und ihre Bekämpfung als Beitrag am weltweiten Kampf gegen den internationalen Terrorismus verstanden. Dieser
Denkweise folgend ist es zum Wohle aller legitim die Religionsfreiheit einzuschränken. Oder allgemeiner gesprochen:
Die Individualrechte sind hier dem Gemeinwohl unterzuordnen.
Auch in europäischen Staaten, in denen Individualrechte
eine stärkere inhaltliche Bedeutung haben, werden aus Angst
vor dem Verlust des ideologisch christlichen Machtanspruchs
Minderheitenreligionen (Sekten mit eingeschlossen) mit
rechtlichen und staatlichen Massnahmen zurückgedrängt.
Als Beispiele können hier die in den 80er Jahren europaweit
als gefährliche Sekte eingestuften Hare Krishna oder das berüchtigte Minarettverbot in der Schweiz erwähnt werden.
Menschenrecht nach dem Gemeinwohl
Verletzungen individueller Rechte werden demnach mit kollektiven Ansprüchen gerechtfertigt, vor allem in Bezug auf
die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Volksrepublik. Genau dieser Vorrang von kollektiven über individuelle
Rechte ist auch in der Präambel der UNO-Pakte verankert.
Ohne das totalitäre Regime Chinas zu verharmlosen kann
gesagt werden, dass die chinesische Regierung rein formell
betrachtet, mit ihrer Unterdrückung von bestimmten Religionen, nicht zwingend gegen die UNO-Pakte verstösst.
Kritik der Universalität
In einer Zeit, in der die Interaktion zwischen den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Gruppen in ihrer
22
Dichte und Geschwindigkeit zunimmt, ist es unausweichlich
grenzüberschreitende Debatten über allgemeine Werte zu
führen. Dabei scheint es von grösster Wichtigkeit, dass der
europäisch-westliche Anspruch auf Universalität «seiner»
Menschenrechte hinterfragt wird. Denn es gibt keine Monokultur oder «Monowerte», die unabhängig von anderen Kulturen oder von intrakultureller Kritik gegeben sind. Die
Menschenrechte im europäisch-westlichen und angelsächsischen Raum haben sich in einem Prozess entwickelt, der
über Jahrzehnte und Jahrhunderte dauerte und noch immer
andauert. Dass sich auch in anderen Kulturen und Gesellschaften davon abweichende «Menschenrechte» konzeptionalisieren, darf nicht ausgeschlossen werden.
Chance der Globalität
In der Literatur zu den Menschenrechten wird ein interkultureller Ansatz diskutiert, aus dem ein minimaler Menschenrechtskatalog hervorgehen könnte. Dieser wird dadurch legitimiert, dass er in jeder Kultur selbst begründet wird und
sich in einem interkulturellen Dialog entwickelt. Zentraler
Punkt dieses Dialoges ist die Voraussetzung der Gleichwertigkeit der Partner und somit die kritische Hinterfragung der
westlich-europäischen und angelsächsischen Dominanz.
Wie Karl-Heinz Pohl (2008: 11) darlegt, wurden die Menschenrechte «zum säkularen Transzendenten, zu unserem
letzten absoluten, quasi-religiösen Bezugspunkt», nachdem
sich das westliche Moralsystem, wie das Beispiel des Naturrechts aufzeigt, von seiner religiösen Fundierung gelöst hatte.
Der Begriff der «Universalität» sollte durch den der «Globalität» der Menschenrechte ersetzt werden. Vom Ziel, Rechte
– darunter auch die Menschenrechte – auf ewig und für alle
in Stein zu meisseln, sollte Abstand genommen werden.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass auch und gerade das
Recht ein veränderlicher Kulturaspekt darstellt, der immer
wieder neu ausgehandelt werden muss, innerhalb eines Landes, einer Kultur – und zusehends auch global.
Picht, Georg 1980: Zum geistesgeschichtlichen
Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten. In:
Picht, Georg (Hg.): Hier und jetzt: Philosophieren nach
Auschwitz. 116-133
Pohl, Karl-Heinz 2002: Zwischen Universalismus und
Relativismus. Menschenrechte und interkultureller
Dialog mit China. In: Occasional Papers 5 (2002). 1-31
Porter, Roy 1991: Kleine Geschichte der Aufklärung
Seiwert, Hubert 2004: Angst vor Religionen.
Ein Versuch über Deutschland und China. In:
Zeitdiagnosen, Religionsfreiheit und Konformismus,
über Minderheiten und die Macht der Mehrheit
(=Zeitdiagnosen 8). 77-92
Christine Saxer studiert Religionswissenschaft, Politikwissenschaft
und Recht im 10 Semester. Die dem Artikel zugrunde liegende
Arbeit entstand im Frühjahrsemester 2010 in einem Seminar zu den
Grundzüge einer globalen Religionsgeschichte.
expositionen
23
Wo Parallelen sich begegnen
Wie kann neues Wissen entstehen? Zwei Antworten anhand von J. M. Keynes’ General Theory
Hannes Mangold
M
ichel Foucault und Thomas S. Kuhn haben beide Thesen zur Entstehung von neuem Wissen
formuliert. Sie gehen dabei nicht vom Erindungsreichtum eines Individuums, sondern von dem
der Forschungsgemeinschaft aus. Ihre Ansätze werden hier ausgeführt und am Beispiel der General Theory von John Maynard Keynes geprüft.
Krise der Erkenntnis
1916 wurde das physikalische Universum ein anderes. Albert
Einstein hatte mit Kollegen die Grundlagen der allgemeine
Relativitätstheorie veröffentlicht, die Zeit wurde zur geometrischen Grösse, der Raum krümmte sich, Parallelen berührten sich, Newton lag falsch. 1916 stand man auch im dritten
Jahr jenes «Grossen Krieges», der durch seine räumliche
Ausdehnung, seine nie gesehene Zerstörungskraft und seine
hoch technisierte Führung weite Teile der Welt erschütterte.
– Das Erleben einer anonym und maschinell gewordenen,
todbringenden angewandten Wissenschaft «Krieg», sowie
die fundamentale Neuschreibung der szientifistischen «Königin Physik» durch Einstein, bilden zwei zentrale Katalysatoren für eine erkenntnistheoretische Krise, die das westliche
Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfasste.
Mit einem revidierten, skeptizistischen Blick nahm in Frankreich beispielsweise Gaston Bachelard in der Bildung des wissenschaftlichen Geistes (fr. 1938) das Vorgehen der Wissenschaften in den Blick. Fast zeitgleich erschien im damaligen
Deutschland Ludwik Flecks zunächst wenig beachtete
Schrift Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), deren Argumentation ein allzu positivistisches
Verständnis von Erkennen und Erkenntnis ebenfalls unterlief.
Krise der Wirtschaft
Als vielleicht besonders dogmatische Wissenschaftler beschäftigten sich die Ökonomen der Zeit nicht gerade intensiv mit dieser Erkenntniskritik. Auch möglich, dass ein spezifisches Problem ihrer noch jungen Disziplin sie davon
abhielt. In England hatte 1925 mit der Wiedereinführung
des Goldstandards (zu alter Parität) ein starker wirtschaftlicher Rückgang eingesetzt, der sich spätestens nach dem
New Yorker Börsenkrach von 1929 zur massivsten «Weltwirtschaftskrise» des Jahrhunderts ausweitete. Die zeitgenössisch tonangebende liberale Theorie konnte weder Dauer noch Intensität – je nach Nation folgten Arbeitslosenraten
im zweistelligen Bereich während mehr als zehn Jahren –
dieser Depression erklären. In der Annahme von systeminhärenten Selbstheilungskräften wurde, über Anpassungsmechanismen in Löhnen und Preisen, die Rückkehr zu Vollbeschäftigung prognostiziert. Diese kam und kam aber nicht.
Keynes vs. Klassik
In diesem Umfeld veröffentlichte John Maynard Keynes
1936 seine General Theory of Employment, Interest and Money.
Dazu veranlasst sah sich Keynes durch jene Erklärungsschwäche der, von ihm so genannten, «klassischen» Volkswirtschaftslehre bezüglich der Grossen Depression. Keynes
konzipierte seine Allgemeine Theorie explizit als Gegenthese zu David Ricardo und dessen Nachfolgern. Wozu der
sendungsbewusste Cambridger übrigens sämtliche Ökonomen vor und ausser ihm zählte.
Was grenzte die General Theory nun von anderen ökonomischen Lehren ab? Keynes stellte seine allgemeine Theorie in
der Tat auf ein völlig neues Fundament. Unter anderem
räumte er der Unsicherheit eine wesentliche Rolle bei ökonomischen Entscheiden ein, wies auf die Bedeutung der
Nachfrage hin und formulierte als einer der Ersten makroökonomische, auf gesamtwirtschaftlich aggregierte Grössen
bezogene Formeln. Insbesondere aber wies Keynes auf die
Relevanz des Geldes für die Realwirtschaft hin, nicht von
ungefähr nannte er seine Konzeption eine «monetäre Theorie der Produktion». (Diese schlagwortartige Zusammenfassung lässt sich, wo das lesenswerte Original nicht bereit liegt,
gegebenenfalls durch eine Vielzahl an Sekundärliteratur ergänzen; vgl. bspw. Caspari 2009.) Von diesem neuen theoretischen Fundament ausgehend konnte Keynes’ FunktionenSystem Phänomene wie die «Liquiditätsfalle» oder die unfreiwillige Arbeitslosigkeit erklären, vor denen die klassische
Lehre kapituliert hatte.
Auch der Wirtschaftspolitik gab die General Theory gänzlich
neue Impulse: Während beispielsweise Friedrich August von
Hayek in den 1930er Jahren eine Erhöhung der Sparquote
als Aufschwungsmittel propagierte, verwies Keynes diametral entgegengesetzt auf eine Erhöhung des Konsums, und
meinte damit neben den privaten Haushalten auch den
Staat.
Friedman vs. Keynes
Ob mit den massiven Rüstungsinvestitionen am Vorabend
des Zweiten Weltkrieges oder den teilweise keynesianisch
begründeten staatlichen Programmen wie dem «New Deal»:
Fast zeitgleich mit dem Erscheinen der General Theory wurde
die Weltwirtschaftskrise zur Vergangenheit. Dennoch und
24
wohl auch gerade aufgrund dieser Unklarheit prägt das Buch
die ökonomische Dogmengeschichte seither. In den 1940er
und 50er Jahren verwalteten eigentliche Schüler von Keynes
die Lehren des «Meisters» ziemlich erfolgreich; bedeutend
war im Besonderen Paul Samuelsons Economics-Lehrbuch (ab
1948). Indem diese in der so genannten «neoklassischen Synthese» die Situation der Vollbeschäftigung als Regel- und
diejenige der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit als Spezialfall
modulierten, gingen sie allerdings den genau umgekehrten
Weg als es die General Theory getan hatte.
Mit dem Ölschock von 1973 und der damit einhergehenden
Stagflation war es dann das Modell der neoklassischen Synthese, das ein Erklärungsdefizit aufwies. Unter der publizistischen Führung von Milton Friedman übernahm die monetaristische Schule in den 1970ern eine doktrinäre Vorrangstellung innerhalb der Ökonomie. In der Liberalisierung, der
gezielten Verringerung der staatlichen Eingriffe und dem
Vertrauen auf die «Kräfte» des Marktes wurde wieder, wie
schon vor Keynes, das massgebliche Instrument der Wohlfahrtssteigerung identifiziert.
Noch in der Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise seit
2007 bildet das Schlagwort «Keynes» ein Scheitelpunkt der
Diskussion: Analog zu Liberalen wie Edward Prescott, die
sich von «Keynes» distanzieren, versuchen «New Keynesians» wie Paul Krugman durch Erweiterungen des Samuelsonschen Modells eine staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik zu restituieren.
Assoziation wird sich hier insofern als nützlich erweisen, als
sich in der fraglichen Krise gerade die Kritik an der Vorstellung eines stetig sich akkumulierenden Wissensstands und
eines kontinuierlichen Erkenntnisfortschritts artikuliert hat.
Zunächst aber zur Frage: Wie lässt sich das Aufkommen von
neuem Wissen beschreiben?
Archäologie und Revolution
Dieser allzu kurze Einblick in die von Keynes formulierten
Neuerungen und diese viel zu knappe Doktrin-Geschichte
können hier nicht weiter ausgeführt werden. Vielmehr kehren wir zurück zur Erkenntniskrise nach dem Ersten Weltkrieg: Wie gesehen wurden in den 1930er Jahren Versuche
einer skeptischen Wissenschaftsgeschichte formuliert. Rund
drei Dekaden später waren es neben anderen Michel Foucault und Thomas S. Kuhn, die diese Arbeit fortführten.
Beide interessierten sich für alternative Lösungen der Frage,
wie neues Wissen entstehen kann, suchten also Antworten,
die nicht von spezifischen und kreativen Schöpfungsakten
von «genialen» Wissenschaftlern ausgingen – sondern die
Gemeinschaft der Forschenden in den Vordergrund stellten.
Im Rahmen seiner Methodenstudie Archäologie des Wissens
(dt. 1981) öffnete Foucault den Blick für Neu- und Umschreibungen in der diskursiven Struktur von Erkenntnissen
über Begriffe wie «Transformation» oder «Bruch». Dem –
wenn auch nur sehr oberflächlich – entsprechend prägte
Kuhn in The Structure of Scientiic Revolutions (1970) die Metapher vom «Paradigmenwechsel», um die Ablösung einer wissenschaftlichen Doktrin durch eine andere zu bezeichnen.
Bemerkenswert ist, dass sich ersterer auf Gaston Bachelard
– er hatte den «epistemologischen Bruch» konzipiert –, letzterer auf Ludwik Fleck beruft, und damit beide im weiteren
Einzugsfeld der oben genannten «Krise der Erkenntnis» verortbar werden (vgl. Rheinberger 2008: 35-37 u.a.). Diese
den, erscheint als Aufgabe dieser populären Form der Wissenschaftsgeschichte; ihr Thema sei in der Trias «Genese,
Kontinuität, Totalisierung» (ebd.: 197) gegeben. Die «Archäologie» dagegen interessiert sich für «Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken» (ebd.: 198), also für die
Bedingungen, die eine spezifische Formulierung eines Sachverhaltes erst möglich machen.
Die Formation von Wissen beschreibt Foucault anhand der
vier «Schwellen» der Positivität, Epistemologisierung, Wissenschaftlichkeit und Formalisierung (ebd.: 265-269). Die
Ideengeschichte konzentriert sich nach Foucault fast ausschliesslich auf die Letzte, analysiert also voraussetzungsreiche Wissensformationen, die institutionalisiert sind und nur
mit einem hohen Mass an Vorwissen und Axiomen funktionieren. Die Archäologie ihrerseits fasst vor allem die ersten
beiden Stufen ins Auge. Sie untersucht auf einem oberflächlich weniger sichtbaren Feld, wie sich bestimmte Aussagen
zu einem Feld mit zunehmender Autonomie verdichten und
wie die in einem solchen Feld gemachten Aussagen zunehmend gewissen kohärenten Mustern folgen müssen. Dieser
Fokus führt dazu, dass nicht mehr die Aussagen an sich,
sondern die Formationsregeln von Aussagen in einem spezifischen Gebiet, das keineswegs den Grenzen der akademischen Disziplinen folgt, beschrieben werden können. «Die
Archäologie definiert die Formationsregeln einer Gesamtheit von Aussagen.» (ebd.: 238) Zeichnet sich eine Veränderung in dieser Struktur ab, kann von einem «Bruch» gesprochen werden.
Was ist ein «Bruch»?
«Bruch» nennt Foucault (1981: 252) «Transformationen [...],
die sich auf das allgemeine System einer oder mehrerer diskursiver Formationen auswirken». Diese Definition wird
verständlicher, wenn man Foucaults Zurückweisung der traditionellen Ideengeschichte mit in den Blick nimmt. Die
Einflüsse und langen Linien nachzuzeichnen, welche die Voraussetzung für die Formulierung neuer Erkenntnisse bil-
Brüche sind Transformationen, die sich auf das System
diskursiver Formationen auswirken.
expositionen
25
Was ist ein «Paradigmenwechsel»?
Wie Foucault sieht auch der Physiker Kuhn die wissenschaftliche Entwicklung weder als Resultat von individuellen Erfindungen noch als Fortschritt durch kontinuierliche Falsifikation, wie etwa Karl Popper. Ausgehend von der Gemeinschaft der Forschenden prägt Kuhn den etwas ungenauen
Begriff des «Paradigmas». Damit meint er grob eine etablierte und institutionalisierte wissenschaftliche Errungenschaft,
die in Bezug auf ein spezifisches Problemfeld erfolgsversprechend genug ist, um eine grössere Zahl an Anhängern
zu gewinnen und Lösungen auszuarbeiten. Wissenschaft, die
innerhalb eines solchen Paradigmas ausgeführt wird, beschreibt Kuhn mit der Metapher des «puzzle-solving».
Auch diese so genannte «normal science» löst jedoch nicht
alle ihre Probleme zufriedenstellend. In der Regel fällt dies
nicht weiter ins Gewicht, es kommt aber vor, dass sich eine
«Anomalie» als schwerwiegend erweist. Dann konzentriert
sich die Forschung zunehmend auf diese, das Paradigma gerät in eine «Krise». Gelingt es nicht, eine Lösung zu erarbeiten, besteht die Möglichkeit einer «scientific revolution».
Eine solche erfolgt, wenn ein neuer wissenschaftlicher Ansatz die Anomalie beseitigen kann ohne dabei wesentlich an
Auch die «normal science» kann nicht
alle Probleme befriedigend lösen.
Erklärungskraft gegenüber dem alten Paradigma einzubüssen.
In einem «Paradigmenwechsel» wird also an die Stelle eines
alten Systems der Wissensproduktion ein neues gesetzt, wie
Kuhn anhand der Einführung der Relativitätstheorie durch
Einstein beispielhaft illustriert. Eine «reconstruction of the
field from new fundamentals» (Kuhn 1970: 85) ist dabei als
sozialpsychologische Funktion innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft zu verstehen. Das neue Paradigma ist weder
besser noch schlechter als sein Vorgänger, bedeutet also keinen Fortschritt, sondern operiert schlicht entlang neuer Parameter.
Spuren eines Bruchs in der General heory
Kann nun Keynes’ General Theory auf einen diskursgeschichtlichen Bruch bezogen werden? Die Antwort, die der hier
ausgebreitete Kontext nahelegt, lautet ja. Schliesslich hängt
die Erkenntniskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht
nur mit den epistemologischen Texten zusammen, die ebenso als Einflüsse Foucaults und Kuhns wie als Ausdruck eines
Wandels der Erkenntnistheorie genannt worden sind. Beispielsweise durchliefen auch Psychologie und Biologie eine
Neuformulierung, und auch die Literaturgeschichte kann an
der Vielzahl der neuen Strömungen der Zeit (Expressionismus, Symbolismus, fin de siècle, Neue Sachlichkeit usw.) eine
ähnlichen Bewegung ausmachen. Kurzum, «die Möglichkeit
neuer Aussagen» (Foucault 1981: 238) bestand. Auch ohne
ausführlichere Beschreibung der diskursiven Formationen
lässt sich damit auf ein «Feld diskursiver Ereignisse» (ebd.:
42) schliessen, in dem die General Theory zu verorten ist.
Keynes Text macht seine Partizipation am wissenschaftskritischen Diskurs der Zeit auch selbst explizit. Schon der Titel
weist auf diese Einordnung hin – indem er Einsteins General
Theory of Relativity ziemlich unverblümt zitiert. Aber auch an
anderer Stelle artikuliert Keynes’ General Theory diesen Bezug:
«The classical economic theorists resemble Euclidean geometers in a non-Euclidian world who, discovering that in
experience straight lines apparently parallel often meet, rebuke the lines for not keeping straight […]. Yet, in truth,
there is no remedy except to throw over the axiom of parallels and to work out a non-Euclidean geometry. Something
similar is required in to-day economics.» (Keynes 1997: 16)
Keynes parallelisiert an dieser Stelle seine Arbeit mit derjenigen von Bernhard Riemann, der mit seiner nicht-euklidischen Geometrie die Grundlage für die Relativitätstheorie
geschaffen und die Mathematik fundamental erneuert hatte.
Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit und den Nutzen einer
basalen Neuschreibung einer Wissenschaft legitimiert Keynes einerseits seine Arbeit. Andererseits erweist sich die Passage damit aber auch als – vielleicht peripheren – Ausdruck
jener «Transformation» in den «Formationsregeln einer Gesamtheit von Aussagen», die in der Zwischenkriegszeit an
der Kritik der Wahrheit von wissenschaftlichen Axiomen
abzulesen ist.
Kein Paradigmenwechsel in der Ökonomie
Die Frage bleibt: Wenn sich Keynes’ Aussagen auf gewisse
neue Regeln und damit auf einen interdisziplinären «Bruch»
beziehen lassen – wie steht das in Zusammenhang mit der
intradisziplinären Entwicklung der Ökonomie? Um 1900
hatte sich diese im akademischen Betrieb etabliert, spezifische Methoden und Probleme identifiziert; funktionierte
nach Kuhn also als «normal science». Folglich ist das lange
Anhalten der hohen Arbeitslosenraten in der Grossen Depression als Stadium der «Krise» interpretierbar, da die klassische Volkswirtschaftslehre keine langfristigen Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt beschreiben konnte. In der Tat
hatte also «nature [...] somehow violated the paradigm-induced expectations» (Kuhn 1970: 52).
Löste die General Theory aber eine «wissenschaftliche Revolution» aus? Als Erneuerung «not [of] the superstructure [...]
but [of] the premisses» der Ökonomie hatte Keynes (1997:
ix) dieses Ziel ja explizit verfolgt. Aber selbst wenn man mit
der weiten Definition Kuhns (1970: 85) arbeitet, die eine
wissenschaftliche Revolution beschreibt als «reconstruction
of the field from new fundamentals», kann man diese Sicht
nicht übernehmen. Denn gerade in der anschliessenden Entwicklung der Ökonomie waren, wie gesehen, grundlegende
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Theoreme der General Theory von der Gemeinschaft der
Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nicht
übernommen worden.
Als Spezialfall der kurzen Frist wurde beispielsweise Keynes’
Modulation der Arbeitslosigkeit zwar in die «neoklassische
Synthese» integriert. Schon das widersprach aber diametral
der Ansicht des Cambridgers, der die Situation der Vollbeschäftigung als Ausnahme Spezialfall seiner Theorie konzipiert hatte. Mit dem Aufkommen des Monetarismus wurden
dann selbst solche Zugeständnisse weiter zurückgedrängt.
Empirisch ging mit diesem Prozess die wirtschaftliche Erholung kurz vor und die lange Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg einher.
«[D]espite the despair of those who have seen it as the end
of an existing paradigm» (Kuhn 1970: 84) gelang es der
«normalen» oder «klassischen» Ökonomie also im Falle von
Keynes «to handle the crisis-provoking problem». Dem entsprechend kann für die durchaus revolutionäre Theorie von
Keynes kein Paradigmenwechsel im Sinne von Kuhn postuliert werden. Höchstens als Ausdruck einer «Krise», auf die
freilich die Rückkehr zu den bewährten Forschungsstrategien folgte, ist die General Theory lesbar.
Statische Ökonomie
Während sich in Aussagesystemen wie der Physik, der Erkenntnistheorie, der Psychologie oder der «schönen» Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vergleichbare Transformation nachweisen lässt, ist die Volkswirtschaftslehre
vergleichsweise statisch geblieben. Für letztere können daraus mindestens die zwei folgenden Schlüsse abgeleitet werden: Entweder stellen die Wirtschaftswissenschaften eine
überdurchschnittlich dogmatische Disziplin dar, die schon
von ihrem Kern her als liberaler Entwurf angelegt ist und die
mit dem Terminus der «politischen Ökonomie» vielleicht am
treffendsten beschrieben wird. Oder: Die auf Adam Smith
und David Ricardo zurückgehenden Grundannahmen ebendieses liberalen Weltbildes bieten in der Tat das trefflichste
Analyseinstrumentarium für den Untersuchungsgegenstand
des Reichtums – auch in einem wissenssoziologischen Sinn.
Welcher dieser Auffassung man folgen will? Wer kritische
Debatten als wünschenswert erachtet, empfiehlt Ökonominnen erstere, Geisteswissenschaftlern aber letztere.
Caspari, Volker 2009: John Maynard Keynes. In: Kurz,
Heinz D. (Hg.): Klassiker des ökonomischen Denkens
2. Von Vilfredo Pareto bis Amartya Sen. 161-186
Foucault, Michel 1981: Archäologie des Wissens
Keynes, John Maynard 1997: The General Theory of
Employment, Interest and Money
Kuhn, Thomas S. 1970: The Structure of Scientific
Revolutions
Rheinberger, Hans-Jörg 2008: Historische
Epistemologie zur Einführung
Hannes Mangold studiert Germanistik und Volkswirtschaft im 11.
Semester an der Universität Bern. Die hier präsentierten Ergebnisse
entstanden in Folge der Lektüre einiger Texte zur Historischen
Epistemologie, die durch einen Kurs zur Literatur der klassischen
Moderne an der Freien Universität Berlin angeregt worden sind.
expositionen
27
Tarde vs. Durkheim
Der Kampf um die «richtige» Soziologie in Frankreich um 1900
Aleksander Milosz Zielinski
U
m die vorletzte Jahrhundertwende war Gabriel Tarde ein einlussreicher französischer
Sozialtheoretiker. Tardes Theorie der Nachahmung und Entwurf der Disziplin «Soziologie»
werden hier kurz vorgestellt. Wieso sich diese nicht durchgesetzt haben, zeigt der folgende
Text anhand der Debatte zwischen Tarde und Durkheim, die wiederum auf die zunehmende
Virtualisierung von Lebenswelt und Wissenschaft im 20. Jahrhundert bezogen wird.
Gabriel Tardes Soziologie der Nachahmung
In meiner Lizentiatsarbeit habe ich mich ausführlich mit Leben und Werk von Gabriel (de) Tarde beschäftigt. Tarde?
Noch nie gehört!, werden sich wohl viele von Euch denken,
darunter bestimmt auch einige Soziologen und Soziologinnen. Vor hundert Jahren wäre dies sehr unwahrscheinlich
gewesen, nicht nur in Frankreich: Tarde (geb. 1843) war bis
zu seinem frühen Tod 1904 Inhaber des renommierten
Lehrstuhls für Philosophie am Collège de France (den er
vergeblich in einen Lehrstuhl für Soziologie umzubenennen
versuchte) und einer der meist gelesenen Autoren der damaligen Zeit. Besnard (1995: 221) bezeichnet ihn sogar als damals bekanntesten Soziologen Frankreichs. Dagegen war
der heute berühmtere Émile Durkheim, sein deutlich jüngerer Kontrahent, bis zu Tardes Tod (noch) ohne eigenen
Lehrstuhl.
Im Folgenden wird es darum gehen, anhand einer chronologischen Übersicht zu zeigen, wie die Auseinandersetzung
zwischen Tarde und Durkheim verlief. Bevor ich aber zum
Einblick in die Debatte zwischen den Beiden komme, möchte ich gerne in einigen Sätzen die wichtigsten Bausteine von
Tardes «Nachahmungstheorie» präsentieren. Wie der Name
schon sagt (sein Hauptwerk hiess entsprechend Gesetze der
Nachahmung), handelt es sich um eine soziologische Theorie,
die dem Phänomen der Nachahmung eine zentrale Rolle
beimisst. Dabei beinhaltet dieser Begriff bei Tarde sowohl
bewusste als auch unbewusste Formen der Nachahmung.
Aus Platzgründen kann ich hier weder auf die Epistemologie Tardes (vgl. Monadologie und Soziologie) noch auf sein Wissenschaftsverständnis (vgl. Die sozialen Gesetze) eingehen. Mit
Bezug auf das letztere möchte ich trotzdem festhalten, dass
für Tarde die Erforschung der Gesetze der Wiederholung,
des Gegensatzes und der Adaptation die Aufgabe jeder Wissenschaft war. Im Gegenstandsbereich der Soziologie handelt es sich bei den zu untersuchenden Wiederholungen
eben um Nachahmungen.
Nachahmungen alleine genügen jedoch nicht, um die Mannigfaltigkeit des Sozialen erklären zu können. Damit etwas
nachgeahmt werden kann, muss es zuerst erfunden respektive entdeckt werden. Es ist also die Dialektik aus Erfindung
und Nachahmung, die nach Tarde den Motor des Sozialen
ausmacht. Dabei ist die Nachahmung die wesentlich häufigere Tätigkeit, während Erfindungen relativ selten vorkommen. Tarde entwickelt eine Typologie der unterschiedlichen
Formen der Nachahmung und versucht Gesetze zu entwickeln, die erklären sollen, warum beim Aufeinanderprallen
von zwei Erfindungen sich die eine und nicht die andere
durchsetzt. So bizarr das aus dem heutigen Wissenschaftsverständnis heraus auch anmuten mag, so korrekt waren
seine Einsichten zum Teil: So funktioniert die S-Kurve der
Nachahmung in der Innovationsforschung bis heute als Erklärungsansatz für die Diffusion von Neuerungen und entspricht damit Tardes Ansatz.
Auseinandersetzung zwischen Tarde und Durkheim
Damit komme ich zur Darstellung der Auseinandersetzung
zwischen Gabriel Tarde und Émile Durkheim über das richtige Verständnis der Soziologie und ihre Begründung als
eigenständige Wissenschaft. Für die nachfolgende Rekonstruktion konnte ich auf einige zuverlässige Quellen zurückgreifen, welche diese ausführlich behandeln (Lukes 1973,
Besnard 1995 u.a.). Die Soziologie hatte sich in den 1890er
Jahren noch nicht als eigenständige Disziplin etabliert, und
es war nicht abzusehen, ob sie eines Tages eher einer «psychologie sociale» gleichen würde, wie dies Tarde vorschwebte, oder sich als Wissenschaft sui generis mit den «faits sociaux» (den sozialen Tatsachen) als Untersuchungsgegenstand
würde etablieren können, wie dies Durkheim anstrebte. Besnard macht darauf aufmerksam, dass Tarde dank seiner prosaischen Sprache auch bei den jüngeren Forschern einige
Sympathisanten hatte. Zudem war er nicht der einzige, der
Durkheims Vorstellung der sozialen Tatsachen kritisierte.
Im Wesentlichen drehte sich die Auseinandersetzung zwischen Tarde und Durkheim um die zentralen Begriffe des
jeweiligen Kontrahenten und ihre Berechtigung. Durkheim
kritisierte von Beginn an die inflationäre Verwendung des
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Begriffes der Nachahmung bei Tarde und hielt ihm vor, die
Bedeutung dieses Terminus so weit ausgedehnt zu haben,
dass er alles und nichts bedeute. Andererseits hielt Tarde
Durkheim vor, dass sein zentraler Begriff der sozialen Tatsache so definiert sei, dass er das bereits voraussetze (die
Gesellschaft, das Soziale), was die Soziologie eigentlich erklären müsse.
Undifferenziertheit vs. Ontologie
1890 publizierte Gabriel Tarde Les lois de l’imitation, ein Buch,
das auch über akademische Kreise hinaus Beachtung fand.
Durkheim, der in seinen früheren Publikation Tarde kaum
Beachtung geschenkt hatte (ausser einer lobenden Erwähnung seiner kriminalistischen Aufsätze) griff die Hauptthesen dieses Buches erstmals in seiner Habilitation De la division du travail social (1893) auf und an (Tarde ist einer der meistzitierten Autoren in diesem Werk): «l’imitation ne peut rien
expliquer à elle seule» (1902 [1893]: 368).
Tardes Replik erscheint in den Questions sociales (Tarde 1895).
Trotz zum Teil lobenswerten Erwähnungen, (z.B. «remarquable et profonde étude»; 1895: 141), fällt sein abschliessendes Urteil vernichtend aus:
«M. Durkheim, rêveur tenace et tranquillement outrancier,
logicien imperturbable, plus profond que juste, captieux au
point de s’abuser lui-même et de se démontrer que ses constructions à priori sont des vérités d’observation, imagine
aisément au dehors la continuité de déroulement logique et
de développement paisible qu’il sent en lui même.» (Tarde
1895: 137).
1894 erscheint dann Durkheims bis heute vielzitierter Aufsatz Les règles de la méthode sociologique, in dem er zu Beginn den
Terminus «soziale Tatsache» ins Spiel bringt und so definiert,
dass dem Leser sofort klar wird, dass er sich von Tardes
Konzeption der Soziologie abgrenzt: Er betont dabei vor
allem, dass die Allgemeinheit eines Phänomens nicht ausreiche, um es zum Gegenstand der Soziologie zu machen.
Gleichzeitig macht er schon hier darauf aufmerksam, dass
der von Tarde vorgeschlagene Begriff der Nachahmung als
das zentrale soziale Phänomen unbrauchbar sei, da man darunter vollkommen verschiedene Dinge verstehe, die nicht
miteinander verwechselt werden dürften.
Im Gegensatz zur ein Jahr zuvor erschienen Habilitation
Durkheims hat dieser Aufsatz heftige Attacken seitens Tardes zur Folge. Dieser veröffentlicht nicht weniger als fünf
Texte, in denen er Durkheim scharf kritisiert. Allen voran
der Abdruck eines im Oktober 1894 am 1. Internationalen
Kongress für Soziologie gehaltenen Vortrages, in dem er
soweit geht, Durkheims Ausführungen als «fantasmagorie
ontologique» zu betiteln.
1987 erscheint Durkheims berühmtestes Werk, die Untersuchung zum Selbstmord als sozialem Phänomen (Le suicide.
Étude de sociologie), in dem sich der Verfasser noch deutlicher
gegen Tarde und seine Soziologie wendet. Er greift dabei
erneut das Argument auf, bei der Nachahmung handle es
sich um drei verschiedene Phänomene, die nicht miteinander
verwechselt werden dürften. Sein Argumentationsstrang
läuft darauf hinaus, nur eine dieser Nachahmungsarten als
«wahre» Nachahmung zu akzeptieren, Tardes Nachahmung
jegliche Gemeinsamkeit mit dieser abzusprechen und zu demonstrieren, dass Tardes Theorie der Nachahmung als Ganzes unbrauchbar sei. Wie Besnard (1995: 231ff.) überzeugend darlegt, gelingt ihm eine strikte Trennung zwischen den
drei Arten der Nachahmung jedoch nur bedingt. Was noch
schwerer wiegt, ist dann aber, dass er selbst die Trennung
vernachlässigen muss, um die reduzierte Nachahmung von
Tarde zu widerlegen. Auch wenn dies selbstverständlich
nicht bedeutet, dass seine Kritik unberechtigt ist, so zeigen
die Schwierigkeiten in der Argumentation doch deutlich den
polemischen Charakter von Durkheims Attacke.
Trotz Durkheims explizitem Wunsch, den Konflikt mit Tarde irgendwann als abgeschlossen zu betrachten, zog sich die
Debatte bis zu Tardes Tod hin. Allerdings war es in den
Jahren nach dem Erscheinen des Suicide vor allem Durkheim,
der immer wieder eine Gelegenheit fand, um die Theorie
(und die Person) Tardes zu kritisieren – Tarde selbst äusserte sich in diesen Jahren kaum noch explizit zu seinem grössten Widersacher.
Kein Ende des Konlikts
Wie Besnard und Borlandi (2000) kürzlich gezeigt haben,
darf das Fehlen von Publikationen Tardes zu diesem Thema
allerdings nicht als Einverständnis mit Durkheims Kritik im
Suicide verstanden werden. Vielmehr arbeitete er lange Zeit
an einer passenden Replik, die er jedoch nie fertig stellte,
geschweige denn publizierte. Besnard und Borlandi veröffentlichten das vorhandene Manuskript anlässlich einer Aufsatzsammlung zum 100. Jubiläum des Suicide und argumentieren überzeugend, dass es Tarde nicht wirklich gelungen
sei, die Schwachstellen in Durkheims Werk dezidiert zu benennen und zu einem Gegenschlag auszuholen, was die
Nicht-Veröffentlichung dieses Aufsatzes zu Lebzeiten erklären dürfte.
In den Jahren 1903 bis 1904 kam es schliesslich zum eigentlichen Showdown anlässlich einer Vortragsreihe an der École des Hautes Etudes Sociales, in der Tarde und Durkheim
jeweils zum Thema «Soziologie und Sozialwissenschaften»
referierten, bevor es beim dritten Treffen zu einer direkten
Debatte kam. Allerdings brachte auch dieses keine Annäherung der beiden Positionen, die Fronten blieben bis zum
Schluss verhärtet: Tarde schloss (erneut) mit dem Vorwurf
der Ontologie (während er sich selbst als Nominalisten bezeichnete), und Durkheim weigerte sich, auf diese Diskussion einzugehen, da sie für ihn am Thema vorbeiging (Lukes
1973: 312f.).
Erst 1915, elf Jahre nach dem Tod von Tarde, liess sich
Durkheim bei der Gelegenheit einer kurzen Geschichte der
Soziologie in Frankreich ein positives Urteil über seinen
Gegner entlocken: «Tarde entendait (...) faire et fit, en effet,
oeuvre de sociologue» (Durkheim 1915: 12).
Abschliessend ist noch auf einige Gemeinsamkeiten der gegenseitigen Attacken zu verweisen (vgl. Besnard 1995: 230):
expositionen
29
Beide Autoren warfen einerseits dem anderen vor, in Metaphysik und Mystizismus zu verfallen. Beide sahen sich andererseits als Fortsetzer der soziologischen Tradition, während
sie dem jeweiligen Kontrahenten Untreue gegenüber deren
Prinzipien unterstellten. Vermutlich hatten beide Autoren
ein Stück weit Recht mit ihrer Kritik an Methode und am
begrifflichen Instrumentarium des jeweiligen Kontrahenten.
Tardes Verschwinden aus dem soziologischen Diskurs
Die üblichen Erklärungsansätze für die Tatsache, dass sich
eine auf Émile Durkheim zurückgehende Art und Weise,
Soziologie zu betreiben, durchsetzen konnte, lassen sich im
Wesentlichen auf institutionelle Ursachen zurückführen: Im
Gegensatz zu Tarde, der eher ein Einzelgänger war, und dem
es – trotz seiner Beliebtheit bei der Pariser Leserschaft vor
allem in den 1890er Jahren – nicht gelungen war, auch nur
einen Schüler nachzuziehen, der seinen Ansatz weiterverfolgt hätte, hinterliess Durkheim nicht nur eine ganze «Schule» (Marcel Mauss und Maurice Halbwachs gehören zu den
bekanntesten Forschern), sondern gründete zudem eine
über Frankreich hinaus bekannte Fachzeitschrift, die Année
Sociologique. Aus dieser Perspektive erscheint es nahe liegend,
dass sich Durkheims Ideen (wie die Fundierung der Soziologie auf sozialen Tatsachen) vor allem in Frankreich durchsetzen konnten und Nachahmer fanden (bei dieser Antwort
sehen wir übrigens das Tarde’sche Erklärungsmuster am
Werk!).
Trotzdem vermag dieser Erklärungsversuch nicht ganz zu
befriedigen. Er hilft uns nämlich nicht weiter zu bestimmen,
warum die Werke von Durkheim oder seinen Schülern für
heutige Leser weitgehend nachvollziehbar sind (auch wenn
man Anstoss an bestimmten Begriffen oder Erklärungen
nehmen kann), während es schwierig ist den teilweise wirren
Ausführungen von Tarde zu folgen. Dafür spricht auch die
Tatsache, dass heutige Theoretiker, die sich auf Tarde berufen, diesen nicht aus sich heraus erklären, sondern – mehr
oder weniger gelungen – versuchen, zeitgenössische Theorien hineinzulesen, sei es Bruno Latour (2001) mit seiner
Akteur-Netzwerk-Theorie oder, allen voran, Gilles Deleuze
mit seinen Vorstellungen von Differenz und Wiederholung
(1967).
Von der modernen zur virtuellen Episteme
In meinen Augen erscheint es vielversprechender das Verschwinden Tardes aus dem soziologischen Diskurs unter
Rückgriff auf den Begriff der «Episteme» zu erklären. Episteme meint dabei quasi den Rahmen, in dem sich das Denken einer Epoche bewegt. Geprägt hat den Begriff Michel
Foucault, insbesondere in Die Ordnung der Dinge (orig. 1966).
Dort beschreibt er minutiös die Eigenschaften zuerst der
klassischen und anschliessend der modernen Episteme. Diese präsentiert er vor dem Hintergrund der auf Analogien
respektive Ähnlichkeiten basierenden und stark magischabergläubische Züge aufweisenden Episteme der Renaissance. Das Zeitalter der Repräsentation, die klassische Epi-
steme, kann durch «das gegliederte System einer mathesis,
einer taxinomia und einer genetischen Analyse definiert werden»
(Foucault 1974: 111), während das moderne Zeitalter die
Beziehung der Repräsentation selbst problematisiert. Der
Unterschied kann auch prägnant mit folgender Gegenüberstellung auf den Punkt gebracht werden: «Man kann nicht
die Substanzen erkennen, sondern die Phänomene; nicht die
Essenzen, sondern die Gesetze; nicht die Wesen, sondern
ihre Regelmässigkeiten» (ebd.: 302).
Meine These lautet nun, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Übergang beobachten lässt von der modernen
zur virtuellen Episteme. Worin besteht dieser Bruch? Im
Gegensatz nicht nur zur modernen sondern auch zu allen
vorangehenden Epistemen verschiebt sich das Denken –
und seine Systematisierung in den Wissenschaften – vom
Konkreten zum Abstrakten respektive vom Materiellen zum
Virtuellen hin. Ich möchte dies aus Platzgründen an einem
einzigen Beispiel illustrieren, Gödels Unvollständigkeitstheorem in der Mathematik. Andere prominente Beispiele wären Einsteins Relativitätstheorie oder die Quantenphysik.
Der Gödelsche Beweis und eine Soziologie des Virtuellen
Der Gödelsche Beweis demonstriert, dass hinreichend starke formale Systeme grundsätzlich unvollständig sind, d.h.
dass Aussagen existieren, die sich innerhalb eines solchen
Systems weder widerlegen noch beweisen lassen. Ausserdem
ist es nicht möglich, allgemeine Entscheidungsverfahren zu
identifizieren, die es erlauben würden, für beliebige Aussagen des Systems zu entscheiden, ob sie beweisbar sind oder
nicht. Nicht einmal die Widerspruchsfreiheit eines formalen
Systems kann innerhalb dieses Systems bewiesen werden.
Damit wird David Hilberts Idee, dass nur das als wahr gelten
kann, was beweisbar ist – ein zentrales Axiom des Materialismus, der in der modernen Episteme seinen Höhepunkt
erreicht –, widerlegt. Wahrheit lässt sich nicht mathematisch
auf Beweisbarkeit zurückführen. Oft wird Gödels Satz als
Beleg für die Beschränktheit der Mathematik interpretiert.
Ich sehe darin dagegen ein Zeichen dafür, dass die materialistische Mathematik nicht nur an ihre Grenzen gestossen
sondern über sie hinausgewachsen ist, indem sie den Raum
ihrer Repräsentation auf das Virtuelle hin geöffnet hat. Ein
Indiz dafür ist nicht zuletzt die Rehabilitierung der imaginären Zahlen als feste Bestandteile der heutigen Mathematik.
Was bedeutet meine These, wenn man sie auf die Auseinandersetzung zwischen Gabriel Tarde und Émile Durkheim
überträgt? Ich möchte dies an einem Beispiel illustrieren,
und zwar jenem der Verwendung der statistischen Methode
bei den hier interessierenden Soziologen. In beiden Theorien nimmt sie nämlich eine wichtige Stellung ein. Allerdings
ist das Statistik-Verständnis ein grundsätzlich Unterschiedliches: Während Tarde von den Nachahmungsströmen ausgeht, also von der Summe der jeweiligen Nachahmungen,
interessieren Durkheim statistische Kategorien als soziale
Tatsachen, d.h. als abstrakte Entitäten, die die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Handlung erhöhen oder senken.
30
Es überrascht also nicht, dass ihm Tarde, der offensichtlich
nicht in der Lage war die Ebene des Konkreten zu verlassen,
Ontologie vorwarf, also, dass er mit den sozialen Tatsachen
die Existenz einer neuen Klasse von Gegenständen postulierte. Umso verständlicher ist dann auch, warum Durkheim
einen so grossen Einfluss auf das – vor allem französische
– soziologische Denken des 20. Jahrhunderts hatte: Als Erster hatte er es verstanden, den Raum des Virtuellen für diese
neue Disziplin fruchtbar zu machen – nur so können nämlich seine zentralen Begriffe wie das «kollektive Bewusstsein»
oder die «sozialen Tatsachen» verständlich gemacht werden
– als Befreiung des Denkens von der zunehmenden Komplexität der konkreten Phänomene.
Fazit
Auch wenn es nach diesen Ausführungen schwierig erscheint, dafür zu argumentieren, dass Gabriel Tarde für heutige Soziologen relevant sein könnte, möchte ich trotzdem
betonen, dass die Lektüre seiner Bücher (insbes. die erst
kürzlich auf deutsch erschienenen Monadologie und Soziologie
2009 und Die Gesetze der Nachahmung 2003) für mich ein Vergnügen war und mir manchen Impuls für mein eigenes Denken gab. Zudem begegnete ich einer Reihe von Beispielen,
die zeigten, dass Tarde durchaus auch in der Lage war Entwicklungen korrekt zu prognostizieren, auch wenn es für
uns heute nicht immer nachvollziehbar bleibt, auf welcher
Grundlage diese Prognosen zustande kamen. Als Fazit bleibt
festzuhalten: Gabriel Tarde verdient es, (mit Vorbehalten,)
in den Status eines Klassikers der Soziologie gehievt zu werden, man sollte aber Vorsicht walten lassen, wenn man ihm
Konzepte und Denkmuster zuschreiben will, die erst in den
letzten Jahrzehnten denkbar wurden. Möchte man sich zudem besser mit der Art und Weise vertraut machen, wie im
ausgehenden 19. Jahrhundert Geschichtsphilosophie betrieben wurde und welche anderen Versuche, die Soziologie als
eigenständige Disziplin zu begründen, existierten, so lohnt
sich eine Lektüre der Bücher Tardes erst recht.
Besnard, Philippe 1995: Durkheim critique de Tarde:
Des Règles au Suicide. In: Borlandi, Massimo; Mucchielli, Laurent (Hgg.): La sociologie et sa méthode. Les
Règles de Durkheim un siècle après. 221-243
Besnard, Philippe; Borlandi, Massimo 2000: Contre
Durkheim à propos de son Suicide. Texte inédit de
Gabriel Tarde. In: Borlandi, Massimo; Cherkaoui, Mohamed (Hgg.): Le suicide un siècle après Durkheim.
219-255
Deleuze, Gilles 1967: Différence et répétition
Durkheim, Émile 1902 [1893]: De la division du travail
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In: Textes. Éléments d’une théorie sociale. 109-118
Foucault, Michel 1974 [1966]: Die Ordnung der Dinge.
Eine Archäologie der Humanwissenschaften
Latour, Bruno 2001: Gabriel Tarde and the End of the
Social. Im Internet unter: http://www.bruno-latour.fr/
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Lukes, Steven 1973: Emile Durkheim. His Life and
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Tarde, Gabriel 1895: Questions socials. In: Ders.: Essais et mélanges sociologiques. 132-158
Tarde, Gabriel 2003: Die Gesetze der Nachahmung
Tarde, Gabriel 2009: Monadologie und Soziologie
Aleksander Milosz Zielinski hat im Herbst 2009 sein Studium in
Soziologie und Philosophie an der Universität Bern mit einer Arbeit
zu Gabriel Tarde abgeschlossen. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie in Bern und in diversen Bereichen der
elektronischen Musik aktiv.
expositionen
31
Arbeits- und Lebensbedingungen von Verkäuferinnen
– Ein soziologisches Porträt
Eine Studie zur Prekarität im Detailhandel in Zeiten des finanzgetriebenen Akkumulationsregimes
Markus Flück
G
erade in der Schweiz scheint eine Diskussion um die Prekarisierung der Arbeitnehmenden dringend
notwendig, wird doch Prekarisierung als Form der sozialen Ungerechtigkeit bisher oft tabuisiert. In
welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen Erwerbsarbeit im Detailhandel als prekär zu
bezeichnen ist, und wie die Betroffenen mit ihrer Situation umgehen, wird hier beleuchtet.
Prekarität
«Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden,
wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard
definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Und prekär ist
Erwerbsarbeit auch, sofern sie subjektiv mit Sinnverlusten,
Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheiten in einem Ausmass verbunden ist, das gesellschaftliche Standards
deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert.» (Brinkmann et al. 2006: 17)
Forschungsmethode
Das Ziel meiner Bachelorarbeit war es, ein Bild davon zu
skizzieren, wie subjektive lebensweltliche «Mikrokosmen»
(Magnin 2005: 58) von Verkäuferinnen kapitalistische Makrostrukturen widerspiegeln.
Meine Fragestellung lautete: Mit welchen Unsicherheiten
und Unzufriedenheiten sehen sich Verkäuferinnen aufgrund
ihrer beruflichen Lebenspraxis konfrontiert?
Ich habe mich durchweg für Frauen als Interviewpartnerinnen entschieden, da diese im Detailhandel weit über die
Hälfte aller Beschäftigten in tieferen Positionen stellen und
sich exemplarisch zeigen lässt, wieso Frauen weiterhin stärker als Männer von Prekarisierung betroffen sind. Ich habe
darauf geachtet, dass der Schwerpunkt der Interviews auf
Stundenlöhnerinnen (die im Detailhandel relativ verbreitet
sind) lag. Ansonsten war mir eine gewisse Streuung zentraler
Merkmale (vor allem Familienkonstellation, aber auch gewerkschaftliche Aktivität und Alter) wichtig. Der Zugang
zum Feld gestaltete sich schwierig, da ich keine direkten
Kontakte besass. Über eine Gewerkschaft gelang es mir, einen ersten Gesprächstermin zu vereinbaren. Im Anschluss
an das Gespräch konnte mir die Interviewpartnerin zwei
weitere Gesprächspartnerinnen vermitteln (gemäss Schneeballprinzip, vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 72 f.). Auf
der Suche nach einem maximalen Kontrast (jung, ledig, ohne
Kinder, Schweizerin, finanziell unabhängig, vollzeitbeschäftigt) habe ich mich schliesslich selber in die Kaufhäuser begeben und so Kontakt zur vierten Interviewpartnerin aufnehmen können.
Den Einstieg in die Interviews bildete ein «Wochenstundenplan», welchen ich den Interviewten vorlegte, mit der Bitte,
diesen doch kommentierend auszufüllen. Im Anschluss habe
ich versucht, auf die Ergebnisse des Ausfüllens vertieft einzugehen, unter anderem mit Fragen nach der Doppelbelastung von (Teilzeit-)Erwerbsarbeitarbeit und Familien- und
Hausarbeit sowie der Rückfrage nach den Arbeitsbedingungen (z.B. Arbeitsklima) im Allgemeinen. Die weiteren Fragen zielten primär auf die Art und Weise der sozialen Einbettung (Familie, Freundeskreis, Vereinstätigkeiten etc.) sowie den Verlauf der Erwerbsbiografie (Ausbildung,
Weiterbildung etc.). Zum Schluss fragte ich jeweils nach den
persönlichen Zukunftsaussichten. Die Auswertung erfolgte
dann in zwei Schritten: Einerseits Darstellung mittels «Soziologischem Porträt», andererseits vergleichende Diskussion der (Interview-)Ergebnisse im Kontext.
Ursprünglich hätte ich gerne eigene Typisierungen vorgenommen, aufgrund der kleinen Fallzahl war dies aber (leider)
nicht möglich. So habe ich mich entschieden, «Soziologische
Porträts» zu erstellen. Robert Nisbet (1976) positioniert diese in seinem Buch Sociology as an Art Form analog zur Porträtmalerei. Dabei sollen sowohl die einzelne Persönlichkeit, als
auch deren soziale Kontextualisierung herausgearbeitet werden.
«Porträts, die vom Künstler angefertigt werden, betonen
eher die individuellen Charakterzüge, also die Eigenschaften
eines ganz bestimmten einzigartigen Menschen, während
Porträts aus der Soziologie eher Merkmale hervorheben,
welche eine grosse Zahl von Individuen in einer bestimmten
Klasse oder Berufsgruppe normalerweise aufweisen.» (Nisbet 1976: 69, in: Honegger et al. 2010: 27)
Meine Absicht war es, durch die Darstellung von «Gesichtern» die Konturen der Prekarität offenzulegen. Dabei war
es mir wichtig, immer wieder Rückkoppelungen zur Prekarisierungstheorie herzustellen und mit weiterem empirischem Material zu ergänzen. Im Folgenden wird eines von
insgesamt vier Porträts in voller Länge wiedergegeben.
Melek Esen – ein soziologisches Porträt
Melek Esen ist 39 Jahre alt, Ende der 1990er Jahre flüchtete
32
sie mit ihrem damaligen Mann aus politischen Gründen aus
der Türkei in die Schweiz. Es folgte ein zweijähriges Asylverfahren, darauf hin erhielt die Familie eine Aufenthaltsbewilligung. Nach drei Jahren in der Schweiz, im Jahr 2000,
erfolgte die Trennung, seitdem ist Melek alleinerziehende
Mutter von zwei Söhnen, wobei der ältere dreizehn und der
jüngere zehn Jahre alt ist. Melek Esen hat neben mehreren
Deutschkursen ein sechsmonatiges Beschäftigungsprogramm absolviert und ein Jahr Betriebswirtschaftslehre an
einer Fachhochschule in der Schweiz studiert. In der Türkei
war sie langjährig als Buchhalterin tätig.
Melek Esen arbeitet im Stundenlohnverhältnis – sie betont
die Unregelmässigkeit ihrer Arbeitseinsätze. Falls es möglich
ist, versucht Melek am Montag- und Dienstagnachmittag
sowie am Mittwoch den ganzen Tag nicht eingeteilt zu werden. Über die Weihnachtszeit arbeitet sie vierzig Stunden
pro Woche, im Durchschnitt sind es zwanzig bis fünfundzwanzig Stunden, «aber das ist unterschiedlich.» Am Montag- und Dienstagnachmittag «ich bin zu Hause, aber das ist
einkaufen, waschen und putzen, Rechnungen bezahlen oder
Arzttermine, aber für mich ich habe keinen Zeitteil (lacht).»
Am Mittwoch geht Melek Esen den beiden Jungen beim
Fussball spielen zuschauen. Gerne würde Melek «zum Beispiel ein Fitness machen oder so, ja mit den Kollegen treffen
einen Kaffee trinken, oder so, etwas unterhalten, aber im
Moment für mich ist sehr schwierig.» Finanziell ist die Familie «sehr eng» drin, das Geld des durchschnittlich fünfzigprozentigen Arbeitspensums reicht nicht aus und da der Vater,
wenn überhaupt, nur wenig Alimente bezahlt, ist Melek
Esen von finanziellen Leistungen der Sozialhilfe abhängig:
«Wenn ich 100 Prozent arbeiten würde, ich kann nicht das
Sozialhilfebudget erreichen.» – Die Armutsgrenze für eine
alleinerziehende Person mit 2 Kindern liegt laut SKOSRichtlinien bei 3800 Franken pro Monat. Sozialhilfe zu beziehen heisst für Melek Esen, über jeden ausgegebenen und
eingenommenen Franken Rechenschaft ablegen zu müssen:
«Sie machen Budget so: drei Personen, wie viel Kalorien
brauchen diese am Tag und wieviel Brot essen sie zum Beispiel und wie viel WC-Papier brauchen sie am Tag. Sie können so rechnen und dann eine Budget machen, das geht ja
nicht so für das Leben, wir sind sehr eng.» Die Situation wird
noch zusätzlich dadurch verschärft, dass Melek Esen keine
Familienangehörigen in der Schweiz hat, die sie unterstützen
könnten: «[B]ei den anderen helfen vielleicht Familie oder
Bekannte, aber ich hab nur die Kollegen oder so. Ich hab
keine Familie in der Schweiz. Ich muss alles selber erledigen.» Ein bisschen Entlastung bringt einzig die türkische
Tagesmutter, die während Meleks Arbeitszeit zu den Kindern schaut. «Ich bezahle einfach so, das ist so wegen dem
Essen, Mahlzeiten bezahle ich, den Rest bezahlt die Sozialhilfe. Ja, sonst geht es ja nicht (lacht).» Die Koordination zwischen dem Vater, der die Kinder manchmal am Wochenende
zu sich nimmt, aber öfters mal kurzfristig absagt, der Tagesmutter, die dann einspringen sollte, aber vielleicht schon
andere terminliche Verpflichtungen eingegangen ist, und
Melek, die arbeiten muss, gestaltet sich schwierig. «Mhm,
mhm ja meine Tagesmutter weiss es ja auch schon, ich habe
ihr gesagt bitte, Freitag du kannst frei halten für nicht Termine und Besuche und so. Man weiss ja nicht ob der Vater
die Kinder abholt oder nicht, sie akzeptiert mich bis jetzt
schon, aber ab und zu ja nicht, oder.» Melek hat ein Jahr an
der Fachhochschule studiert und hätte das Studium gerne
abgeschlossen, aber «meine Sozialarbeiterin hat mir gesagt,
dass ich arbeiten müsse und daneben studieren und eh ich
habe es probiert, aber das ist nicht gegangen. Arbeit, Kinder,
Schule, Haushalt und so, alles zusammen. Und alles war sehr
anstrengend, ich hatte gesundheitliche Probleme auf dem
Magen und mein Arzt hat mir gesagt, du kannst entscheiden,
entweder Schule oder Arbeit.» Weil sie von der Sozialarbei-
«einkaufen, waschen und putzen,
Rechnungen bezahlen oder Arzttermine, aber für mich ich habe
keinen Zeitteil (lacht).»
terin die Auflage bekommen hat, arbeiten zu müssen und
aus gesundheitlichen Gründen beides nicht möglich war,
blieb Melek nichts anderes übrig, als sich für die Arbeit zu
entscheiden. Nun möchte Melek auf dem Weiterbildungsweg die nötigen Diplome für «das Büro» nachholen, damit
sie mehr verdienen kann: «Ich will eine Weiterbildung in der
Buchhaltung, oder im Büro arbeiten. Ich will nicht bis an
mein Lebensende beim Grossverteiler XY arbeiten, weil
man nicht so gut verdient, ja ich habe es ja auch gesagt,
Gastgewerbe und so man verdient ganz wenig. Ich will Weiterbildung machen.» Um etwas mehr zeitlichen Spielraum zu
erhalten, hat sich Melek vor kurzem bei einer Detailhandelsfiliale in ihrer Nähe beworben. Sie hätte dadurch täglich eine
Stunde Arbeitsweg sparen können. Weil die Schule der Kinder um 8.20 Uhr anfängt, hat sie den Chef beim Bewerbungsgespräch gefragt, ob sie erst um 8.15 Uhr anfangen
könnte, der Chef hat das aber abgelehnt mit der Begründung: «die anderen Mütter arbeiten auch schon und wir können die Öffnungszeiten nicht verändern.» Wenn es um die
Betreuung der Kinder geht, will Melek Esen keine Kompromisse eingehen: «zum Beispiel wenn meine Kinder krank
sind, ich rufe ja an, meine Kinder die ganze Nacht erbrochen
oder so und eh eine Magendarmgrippe, oder Fieber hat, ich
kann nicht gehen, wenn sie wollen, sollen sie mir Kündigung
geben, spielt keine Rolle für mich, für mich ist das Wichtigste meine Kinder Gesundheit, seine Psychologie, das ist Zufriedenheit, für mich ist sehr, sehr wichtig, während er krank
und ich nicht dabei bin, das geht ja nicht für die Kinder.» Die
Fürsorge gegenüber den Kindern illustriert auch schön die
folgende Aussage : «Die Kinder sind, wie kann man sagen,
wie Blumen so, man muss Wasser giessen und die Erde auch
die pflegen, so kann man grösser werden, wachsen oder.
Wenn man nicht gut zu den Blumen schaut, nicht Wasser
expositionen
33
giesst, oder Erde, oder keine Sonne, das wachst ja nicht oder.
Ich denke die Kinder sind auch wie Blumen so (lacht), wie
Pflanzen.» Und so versucht Melek, das Beste aus der Situation zu machen und hofft, wenn die Kinder etwas älter sind
sich von der Abhängigkeit der Sozialhilfe zu befreien, aber:
«Das ist sehr schwierige Situation, ich kenne schon, aber
man kann manchmal nicht verändern, aber leider ist so
(lacht).»
Brinkmann, Ulrich; Dörre, Klaus:Röbenack, Silke 2006:
Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und
politische Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse
Honegger, Claudia; Neckel, Sighard;Magnin, Chantal
2010: Einleitung. In: Dies. (Hg.) 2010: Strukturierte
Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt
Magnin, Chantal 2005: Prekäre Integration. Die Folgen
unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. In: Reihe Soziologie 73. 1-64
Nisbet, Robert 1976: Sociology as an Art Form
Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika 2009: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch
Markus Flück studiert zurzeit im Master Soziologie an der Universität Bern. Die Porträts entstanden im Rahmen seiner Bachelorarbeit.
Seine Interessensschwerpunkte liegen in der Arbeits-, Kultur- und
Wirtschaftssoziologie.
34
Ja schämt ihr euch denn nicht?
Scham, Entdifferenzierung und die Finanzkrise
Dieter Meier
D
as Zustandekommen und der Ablauf der weltweiten Finanzkrise lassen sich mittlerweile gut rekonstruieren. Bei den meisten Ansätzen geht es aber nur um die harten Fakten. Welche Rolle dabei der
Mensch – also beispielsweise durch seine Emotionen und Affekte – spielt, wurde bisher nur wenig
beachtet. Dies soll in dem hier vorliegenden Essay untersucht werden.
Was im Sommer 2007 als Krise des US-Immobilienmarkts
begann, weitete sich zur globalen Banken- und Finanzkrise
aus. Nicht nur deren Ausmass und die Höhe der vernichteten Werte erstaunten die Öffentlichkeit. Ebenso verwunderte, dass allfällige Vorboten nicht oder falsch gedeutet wurden. Man blickte fragend zu den Wirtschaftswissenschaften,
schliesslich gibt es weltweit rund eine Million ausgebildeter
Ökonomen – keiner von ihnen schien das Platzen der Blase
sowie die Folgen vorausgesehen zu haben. Und wer sich
Der Hauptschuldige in diesem
Drama mit mehreren Akten war
schnell gefunden: Der Banker.
zuvor kritisch zu den Vorgängen in der Finanzbranche geäussert hatte, der wurde belächelt – sofern man ihn überhaupt beachtete. Selten habe eine Wissenschaft spektakulärer versagt, schrieb Rolf Dobelli in der NZZ Ende Juni 2010
dazu, denn fast keine Disziplin könne auf einen solchen Datenpool zurückgreifen wie die Ökonomie, von den zur Verfügung stehenden Mitteln ganz zu schweigen.
Trotzdem wurden nicht in erster Linie die Wirtschaftswissenschaften an den Pranger gestellt. Der Hauptschuldige in
diesem Drama mit mehreren Akten war schnell gefunden:
Der Banker. Gierig, weltfremd, arrogant – eine schnell wachsende Menge von wenig schmeichelhaften Adjektiven wurde
verwendet, um den Charakter dieses Wesens zu beschreiben.
Und auch sonst schallte dem Banker wenig Freundliches
entgegen.
Ihr ekelt uns an! Schämt euch!
«Ihr ekelt uns an», war zum Beispiel zu vernehmen, was ja
durchaus originell ist, um jemandem seinen Unmut mitzuteilen: Wovor man sich ekelt, wird durch die Sozialisation
festgelegt. Hier ist zwar ein bemerkenswert vielfältiges Spektrum möglich, bei den meisten Menschen erregen aber nur
ganz spezifische Dinge Ekel. Und es ist doch eher schwer
vorstellbar, dass jemand dahingehend sozialisiert wird, dass
er beim Anblick von Bankern Ekel verspürt.
Dem Banker wurde aber nicht nur mitgeteilt, welche Gefühlsregungen sein Verhalten auslöste. Gleichzeitig wurden
auch Emotionen seinerseits verlangt. «Schämt euch!», hiess
es nicht selten. Genau, schämen sollten sie sich, diese Kerle!
Umso empörender, dass sie nicht im Geringsten daran dachten. Schliesslich hatte ihre Branche eine Wirtschaftskrise
globalen Ausmasses ausgelöst: Astronomisch hohe Vermögenswerte wurden ebenso vernichtet wie tausende von Arbeitsplätzen, einzelne Staaten gingen fast bankrott und andere mussten riesige Summen für Konjunkturprogramme
aufwerfen. Bloss wegen den gierigen Bankern! Und nun
wollten sich die nicht einmal schämen. Wie lässt sich dies
erklären? Dazu muss etwas ausgeholt werden: Was ist Scham
eigentlich, wie funktioniert sie?
Schamgefühle
Für das Schamgefühl sind zwei Faktoren notwendig: Eine
Norm, gegen die man verstossen kann, sowie ein Gegenüber, welches diesen Verstoss mitbekommt. Normen sind
gesellschaftliche Regeln, die das Zusammenleben festlegen.
Sie sind eine Art Vorschriften, die uns sagen, wie wir uns in
bestimmten Situationen zu verhalten haben, damit es dem
gesellschaftlichen Zusammenleben angemessen ist. Verstösst man gegen eine soziale Norm, so wird dies von der
Gesellschaft sanktioniert. Dies heisst nun nicht zwingend,
dass man diese Normen auch anerkennen muss, und auch
hinterfragen macht nicht immer Sinn (wir erinnern uns:
«Weil ich deine Mutter bin, darum!»).
«Soziale Norm», «Gesellschaft» und «Sanktion» sollen nun
aber nicht den Eindruck erwecken, dass nur bezüglich einer
Gesamtgesellschaft gegen allgemein gültige Verhaltensnormen verstossen werden kann. Dies ist auch im kleinen Kreis
möglich, ja es reicht sogar eine einzelne anwesende Person,
solange diese den Verstoss feststellt. Und dies deutet auf den
zweiten Aspekt hin, der für die Scham notwendig ist: Das
Gegenüber. Solange niemand den Verstoss gegen eine soziale Norm mitbekommt, sind auch keine Sanktionen zu befürchten. Ist dies aber der Fall, so wird man sich schämen,
da man die Perspektive des Gegenübers einnimmt, und so
den eigenen Verstoss feststellt. Der soziale Bezug des
expositionen
35
Schamgefühls wird hier deutlich: man schämt sich vor jemandem.
Der Verstoss gegen eine Norm, von deren Existenz man
wusste, wird einem also bewusst. Darin ist die Scham reflexiv. Hat man jemandem Schaden zugefügt, so wird man sich
wegen des Verstosses gegen die Norm, niemanden zu schädigen, und nicht wegen der Schädigung der anderen Person
Der soziale Status wird nicht
mehr ausschliesslich an der
Leistung, sondern zunehmend
am Erfolg gemessen.
schämen. Dies wäre ein Schuldgefühl, welches eintritt, wenn
man eine Handlung zu verantworten hat, durch deren Auswirkungen eine andere Person Schaden erlitten hat. Die
Scham zielt also nicht auf den Schaden ab, sondern auf das
Verhalten, welches den Schaden verursacht hat. Aber nicht
nur darin unterscheiden sich diese beiden Emotionen, denn
im Gegensatz zur Schuld kann die Scham nicht dauerhaft
sein. Ganz trennen lassen sie sich aber trotzdem nicht; und
zusammen spielen beide eine wichtige Rolle in der Sozialisation, indem sie mit der Durchsetzung von Normen und der
Orientierung an Idealen gesellschaftskonformes Verhalten
erzwingen.
Schamlos
Nun lässt sich ein weiteres Phänomen beobachten: Nicht
alle Leute reagieren mit Scham, wenn sie gegen eine soziale
Norm verstossen. Gerade die jüngste Generation fällt regelmässig durch als schamlos bezeichnetes Verhalten auf. Die
Jugend hat weder Respekt noch Anstand! Die Beschuldigten
reagieren nicht selten ratlos auf solche Vorwürfe. Das mag
durch unterschiedliche Sozialisation erklärbar sein, hängt
aber auch damit zusammen, dass soziale Normen einem
Wandel unterliegen und Verhaltensweisen normal werden,
die vor kurzem noch kaum denkbar waren – leider, mag man
da denken, wenn man schon einmal im vollbesetzten Zug
geführte ‹Geh-zum-Teufel-Gespräche› mitgehört hat.
Interessant ist, dass sich die Leute für gewisse Verhaltensweisen nur vor bestimmten Personen schämen. Das sind
zum Beispiel Leute aus derselben Umgebung oder derselben
(Sub-)Kultur, wenn diese eigene Verhaltensnormen hervorgebracht hat. Zudem lässt sich beobachten, dass man sich
für ein bestimmtes Verhalten nur vor Personen schämt, die
– hier sind verschiedene Rangordnungen denkbar – höher
gestellt sind als man selbst.
Schämen? Nur bedingt
Knüpfen wir hier an, um zum Thema zurückzukehren, denn
eigentlich geht’s ja um Banker und deren Verhalten, respek-
tive Nicht-Verhalten, denn schämen tun sie sich für den angerichteten Schaden ja nicht. Nicht gerade einfach, sowas
plausibel zu machen. Aber ein Versuch lohnt sich.
Die Differenzierung der Gesellschaft hat sich über die Zeit
mehrfach verändert, heute leben wir in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Eines ihrer Grundprinzipien ist
die neutrale Haltung gegenüber der Herkunft, der Status einer Person innerhalb der Gesellschaft hängt also von der
von ihr erbrachten Leistung ab. Eine so funktionierende Gesellschaft ist zwar durchaus in der Lage, Ungleichheiten in
den Teilsystemen zu erzeugen und auch zu tolerieren, betrachtet dies aber nicht als gravierend, da diese Ungleichheit
als temporärer Zustand gesehen wird, der sich jederzeit wieder ändern kann.
Hier lässt sich ein Wandel beobachten: Das meritokratische
Ideal verschwindet zunehmend: der soziale Status wird nicht
mehr ausschliesslich an der Leistung, sondern zunehmend
am Erfolg gemessen. Leistung kann zwar auch zu Erfolg
führen, umgekehrt setzt aber Erfolg nicht mehr zwingend
Leistung voraus. Ein leistungsbedingter Status wird erarbeitet, wodurch der materielle Status und mit ihm die Anerkennung steigt. Die auf Kultur- und Sozialkapital beruhende
Leistung führt so zur Stellung innerhalb der Gesellschaft.
Anders beim Erfolg: Dieser ist meistens kurzfristig, oft einmalig und wird entsprechend hoch prämiert. Um Erfolg zu
haben, sind bequeme Polster auf den Konten von Kulturund Sozialkapital sicher hilfreich, jedoch nicht notwendig.
Mindestens so wichtig sind Rücksichtslosigkeit und ein beachtliches Mass an Selbstbewusstsein. Es dürfte zudem
nützlich sein, wenn man als erfolgsorientierter Mensch allgemein gültigen Verhaltens-, ja wahrscheinlich auch Rechtsnormen, eine nicht allzu grosse Bedeutung beimisst beziehungsweise diese zu ignorieren weiss.
Eine zunehmende Wichtigkeit von Erfolg lässt sich in allen
gesellschaftlichen Teilbereichen beobachten, am offensichtlichsten wohl in der Unterhaltungskultur – Big Brother &
Co. lassen grüssen. Aber auch in der Wirtschaft, am deutlichsten im Finanzsektor, liegt der Fokus zunehmend auf
dem Erfolg. Hier sind Gewinne möglich, die nicht nur
schnell und einmalig eingestrichen werden können. Sie sind
zudem enorm hoch, und werden mehrheitlich von jungen
Männern erzielt. Diese arbeiten viel, hart und lange. Anstelle der früher üblichen Beförderung und der damit einhergehenden Umstufung in eine höhere Lohnklasse führt dieser
Einsatz aber heute – zumindest in der ‹richtigen› Branche –
direkt zu hohen Verdiensten und Boni, sodass mancher bereits im Alter von 30 Jahren in Frührente gehen kann.
Dass hohe Gewinne – und damit Erfolg – mittlerweile möglich sind, ohne jahrelang darauf hinzuarbeiten, hat nicht nur
für die soziale Rangordnung, sondern auch für die Moral
einer Gesellschaft Folgen. Die Spieltheorie belegt dies eindrücklich, und wer schon einmal an einem entsprechenden
Experiment teilgenommen hat, der weiss, dass einmalig
durchgeführte Transaktionen keine Verhaltensnormen hervorbringen, sondern durch Egoismus geleitet werden. Man
schaut für sich selbst, und dem Rest der Gesellschaft fühlt
36
man sich nicht mehr verpflichtet. Wieso auch? Man trifft
sich kaum ein zweites Mal, man macht viel Geld, und Geld
macht vieles möglich.
Das Verschwinden des normativen Rahmens der meritokratischen Leistungsgesellschaft, in dem bisher die Plätze innerhalb der sozialen Rangordnung ausgehandelt wurden, hat
weitreichende Konsequenzen. Unterstützt durch eine immer
weiter getriebene Individualisierung, einen schnellen technischen Fortschritt sowie die Globalisierung nahm der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt ab, und die Integration
der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme wurde marode:
Einige wurden bedeutender und einflussreicher als andere,
zuoberst die Wirtschaft, wovon wiederum die Finanzbranche am meisten profitiert hat. Hängt nun der soziale Status
Scham zielt also nicht auf den
Schaden ab, sondern auf das
Verhalten, welches den Schaden
verursacht hat.
von Erfolg und nicht mehr von Leistung ab, so wirkt sich
dies auch auf die Sozialstruktur aus. Hohes soziales und kulturelles Kapital garantieren nicht mehr einen entsprechenden sozialen Status, wodurch sich dieser zunehmend auf
zugrunde liegende ökonomische Merkmale wie Einkommen
und wirtschaftlichen Erfolg stützt. Die Folgen für die Gesellschaft, allen voran der Statusverlust der Erwerbsarbeit,
sind gravierend, teilweise wird gar eine neue Primärdifferenzierung behauptet: dass die heutige funktionale Differenzierung – also die Unterteilung in Teilbereiche wie Wirtschaft,
Recht oder Kultur – abgelöst wird durch eine neue Unterteilung in geborene Gewinner und Verlierer. Das mag dramatisch tönen, ist aber keineswegs weit hergeholt angesichts
der jährlich vererbten Vermögenswerte.
Marode Integration der Teilsysteme + Erfolgskultur =
Schamlosigkeit?
Wie hängt das alles nun zusammen? Eigentlich sollte es ja
um schamlose Banker gehen. Tut es auch, dazu muss man
aber noch einiges zusammenfügen: Auf der einen Seite steht
die Scham, das heisst eine Norm, gegen die man verstossen
kann, sowie ein Gegenüber, das diesen Verstoss feststellen
kann, auf der anderen Seite die Ablösung der Leistungsdurch die Erfolgsgesellschaft, wobei hier die Entwicklungen
im Finanzsektor von speziellem Interesse sind.
Für einige Sachen schämt man sich immer, für andere nur
innerhalb einer bestimmten Bezugsgruppe; Die zunehmende Erosion des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts
verstärkt diesen Gruppenbezug entsprechend. Man konzentriert sich zunehmend auf sich selbst, und da wird der Kreis
an Personen, deren Meinung einem wichtig ist, bald einmal
kleiner. So schämt man sich denn auch nur, wenn der Verstoss im dafür notwendigen Umfeld geschieht. Für den
Künstler sind nur die Kritiken derjenigen von Bedeutung,
die etwas von Kunst verstehen, und je angesehener der Kritiker, desto mehr Wert wird auf seine Meinung gelegt. Für
den Wissenschaftler zählt auch in erster Linie der wissenschaftliche Diskurs, wobei die Kritik des renommierten Professors stärker gewichtet wird als der Beitrag eines unbekannten Verfassers. Und so wird es – grob gesprochen –
auch im Finanzsektor sein.
Was versteht der Laie denn schon von Anlagestrategien, Devisengeschäften und Ähnlichem? Warum sollte auf seine
Meinung gehört werden? Die Leute ausserhalb der Finanzbranche sind nicht so wichtig, wenn es darum geht, das eigene Handeln zu rechtfertigen. Dies, verbunden mit dem
Streben nach schnellem Erfolg und den vorhandenen Möglichkeiten, immunisiert zunehmend gegen externe Kritik,
ergo verhallen auch die Appelle an das Schamgefühl zunehmend im Leeren. Die zunehmende Arbeitsteilung wird dem
Rest des noch vorhandenen Verantwortungsgefühls den Todesstoss versetzen, denn: Man ist ja nicht für die Krise oder
den Schaden verantwortlich, sondern hat nur seinen Job getan.
Auch der zweite Aspekt der Scham, die Norm, ist differenziert zu betrachten. Der Übergang von der Leistungs- zur
Erfolgsgesellschaft bringt zahlreiche Folgen mit sich. Wenn
die Erwerbsarbeit tatsächlich von einem zunehmenden Bedeutungsverlust betroffen ist, dann verschwindet die Leistungsgerechtigkeit zunehmend weil damit der zentrale Aspekt dieser Gerechtigkeit verloren geht. Forderungen nach
angemessener Teilnahme am Gerechitigkeitsprinzip müssen
deswegen ins Leere laufen. Es entstehen neue Normen, teilweise auch nur innerhalb der Teilsysteme, bestehende verschwinden. Und wer auf der Erfolgsseite steht, der hat es
immer weniger nötig, sich um den Rest der Gesellschaft und
deren Verhaltensregeln zu kümmern. Warum auch, wer keinen Erfolg hat, ist ein Verlierer: Der Erfolg gibt dem Gewinner recht.
Und nun?
Heute lässt sich das Zustandekommen der Finanzkrise ‹technisch› erklären, und mittlerweile gibt es auch Erklärungen
oder Erklärungsversuche, die den Faktor Mensch ebenfalls
mit einbeziehen. Aber auch wenn man sich mittlerweile ein
Bild der Vorgänge machen kann, so bleibt doch nach wie vor
eine gewisse Ratlosigkeit: Wie soll es weitergehen? Den
meisten scheint irgendwie klar zu sein, dass man so nicht
weitermachen könne. Gleichzeitig lässt sich aber auch beobachten, dass den markigen Worten, die Finanzbranche an die
kurze Leine zu legen, nur sehr selten auch entsprechende
Taten gefolgt sind.
Und die Banker? Es scheint mir etwas einfach, die ganze
Schuld auf die Banker zu schieben. Vieles, wahrscheinlich zu
vieles, war und ist abhängig von regelmässigen, hohen Netto-Renditen; wurden diese angeboten, dann wurde auch zugegriffen. Und das führt wieder einmal mehr zu der Frage,
expositionen
37
ob sich die Nachfrage ein Angebot schafft oder ob es dank
einem Angebot zur Nachfrage kommt. Blickt da überhaupt
noch jemand durch? Oder muss man schlussendlich gar Dobelli recht geben, wenn er schreibt, dass wir uns eine Welt
geschaffen haben, die so komplex ist, dass wir sie nicht mehr
verstehen?
Und ist es nicht etwas simpel zu glauben, mit Bankern und
Politikern die Schuldigen gefunden zu haben? Schliesslich
gibt es immer jemanden, der auch diesen einen Auftrag erteilt. Es hätte wohl einiges mehr an öffentlichem Druck und
genauem Hinschauen gebraucht, damit sich in dieser Sache
etwas bewegt hätte. Gerade das genaue Hinschauen wird ja
oft und gerne vernachlässigt, solange alles glatt läuft. Als die
UBS-Portfolios einem regelmässig zum Jahresende eine
traumhafte Rendite aufs Konto gespült haben, hat auch niemand nach deren Zustandekommen gefragt – oder haben
Sie? Nein? Schämen Sie sich!
Honegger, Claudia;Neckel, Sighard;Magnin, Chantal
2010: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte
aus der Bankenwelt.
Neckel, Sighard 1991: Status und Scham: Zur
symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit.
Dobelli, Rolf: Im Wunderland – wir haben eine
kognitive Grenze überschritten. In: Neue Zürcher
Zeitung 23.06.2010.
Dieter Meier studiert Soziologie im Master an der Uni Bern. Der
vorliegende Text basiert auf einer Arbeit im Rahmen des Seminars
Ökonomische Affekte.
38
Frauen und bewaffneter Kampf
Eine literarische Auseinandersetzung
W
Stefanie Nydegger
ie wird weiblicher Terrorismus in Judith Kuckarts Roman Wahl der Waffen dargestellt? Massgebend für die Erstellung der Romanigur Jette Kindermanns, Mitglied der Bewegung 2. Juni, ist der in den 1970er Jahren geführte
mediale Diskurs zur weiblichen Tatbeteiligung. Die historisch-politische Dimension des Linksterrorismus tritt in Kuckarts Werk dabei in den Hintergrund. Dagegen rückt die existentielle Seite des Terrorismus ins Zentrum, die
eng gekoppelt ist an die existentielle Seite literarischen Schaffens.
Mit ihrem ersten Roman Wahl der Waffen wurde Judith Kuckart 1990 als Schriftstellerin bekannt. Kuckarts Intention ist
es, das gesellschaftliche Schweigen gegenüber dem deutschen Terrorismus zu brechen, das Ende der 1980er Jahre
immer noch spürbar ist. Sie schreibt, dass die Geschichte der
Protagonistin Jette Kindermann nicht erfunden und eng mit
ihrem eigenen Leben verbunden ist. Die Bedeutung der Realisierung des Wegs in den Untergrund als politische Kämpferin, vorgeführt an der Romanfigur Jette Kindermann, die
sich in das Gedächtnis des Kindes Katia, die für die Nachgeborenengeneration steht, als Verheissung für die eigenen
spätere Lebensführung festgesetzt hat, wird, so Kuckart, in
der Öffentlichkeit nicht thematisiert.
Mit Jette verbindet Katia eine gemeinsame Zeit in deren
Kindheit; Jette war Katias Kindermädchen und weibliches
Vorbild. Die Beiden trennen zwei verschiedene Lebensführungen: Jette wird in den Unruhen der 1960er Jahre politisiert und entscheidet sich für ein Leben im Untergrund als
aktiv kämpfendes Mitglied in der Bewegung 2. Juni, Katia,
die Nachgeborene, verlässt Deutschland und wird Journalistin. Der Tod Jette Kindermanns im Kampf auf der Seite der
Palästinenser, von dem Katia durch eine Zeitungsmeldung
erfährt, vereint die beiden Frauen erneut. Katia begibt sich
auf die Suche nach den hinterlassenen Spuren Jettes, angetrieben von Faszination und Ablehnung gegenüber der
weiblichen Tatbeteiligung am bundesdeutschen Terrorismus.
Die Medien: Konstruktions- und Reproduktionsmacht
Zum Thema bundesdeutscher Terrorismus ist seit den
1970er Jahren zahlreiche Belletristik erschienen. Die literarischen Beiträge werden in der Forschung als gesellschaftliche
Reaktion auf den Linksterrorismus gewertet. Luise Tremel
konstatiert in ihrem Aufsatz Literrorisierung für den Beginn
der 90er Jahre eine Wende in der Literatur über die RAF
(Rote Armee Fraktion), auf die sich auch Kuckarts Roman
beziehen lässt: Die Historisierung des bewaffneten Kampfes,
d.h. der Perspektivenwechsel, der den Wandel der RAF von
einer politischen Kraft zu einem historischen Phänomen begleitet hat, beginnt um 1990, also um das Jahr, in dem auch
Kuckarts Werk erschienen ist. Die Psyche und die Persönlichkeit der einzelnen Terroristin rücken in den Fokus des
Interesses, die historisch-politische Ebene wird marginalisiert. Kuckart befasst sich mit der Lebensführung einer
weiblichen Revolutionärin, deren figurale Darstellung zentrale Bedeutung für den Blick auf die weibliche Tatbeteiligung am Terrorismus hat.
Die Öffentlichkeit, d.h. der mediale Umgang mit den weiblichen Aktivistinnen, nimmt eine massgebende Position ein,
da den Medien – als für die Öffentlichkeit bestimmt – hohe
Konstruktions- und Reproduktionsmacht in der Darstellung
der weiblichen Mitglieder der Bewegung 2. Juni und der
RAF zukommt und somit zu grossen Teilen das kulturelle
Gedächtnis der Gesellschaft prägen und mitbestimmen.
Wolfgang Kraushaar und Gisela Diewald-Kerkmanns Beiträge zur Konstruktion und Reproduktion der weiblichen
Darstellung anhand von Medienbeiträgen zur Bewegung 2.
Juni dienen in der Folge dem Vergleich mit der Darstellung
der fiktiven Figur Jette Kindermann aus Wahl der Waffen, die
sich, so meine These, auf die reale Ingrid Siepmann zurückführen lässt.
Die Darstellung von Frauen im Untergrund
Zwei Textbeispiele aus dem Roman verdeutlichen den medial gesteuerten Diskurs, der sich zwischen den Polen von
Zuschreibung und Entwertung bewegt:
«[Jette] verkleidet als Mann, weil sie als Junge gelten will.
Vergeblich, die Fahndung hält nach zwei jungen Männern
und einer Frau Ausschau. […]
Die eigene Bedeutung wächst mit der Gefährlichkeit, die einem zugeschrieben.» (Kuckart 2008: 91)
Der Erzähler vermittelt, dass Jette als Mann wahrgenommen
werden möchte. Es handelt sich hier dementsprechend nicht
expositionen
39
um eine Selbstaussage der Figur Jette, d.h. es wird etwas
angenommen, das Jette nicht selbst intendiert hat. Diese verkleidet sich ja als Mann, um nicht als Frau erkannt zu werden. Die Aussage des Erzählers ist jedoch eine andere: Er
suggeriert, dass eine Frau in der Illegalität wie ein Mann ist
oder zumindest sein möchte, d.h. im von aussen ersichtlichen Verhalten und Erscheinen sowie im Innern, im Denken
und Fühlen. Kuckarts Roman nimmt hier und an anderen
Textstellen eine Art der Darstellung von Frauen im bewaffneten Untergrund auf, die insbesondere in der zeitgenössischen Presse und Justiz kursierten. Diese Beschreibungen
basierten dabei auf Vorstellungen und Vermutungen, die
nicht auf Fakten und Selbstaussagen beruhten und vermittelten der Öffentlichkeit ein verfälschtes Bild der Täterinnen.
Die Wiedergabe solcher Aussagemuster in Wahl der Waffen
kann als Kritik am sensationalistischen und abwertenden
Umgang mit den weiblichen Mitgliedern von RAF oder der
Bewegung 2. Juni aufgefasst werden. Diese tendenziöse Zuschreibung von Merkmalen durch die Medien verdeutlicht
ein weiterer Textauszug:
«Etwas fehlt. Die Halbglatze sieht die Story in Fettbuchstaben […]. Er schreibt den prickelndsten Fortsetzungsroman,
den sich das Blatt wünschen kann. […] Jette erregt ihn, er
will sie in seine Sprache zwängen, bis sie hinausschreit aus
ihrer Unwegsamkeit.
Gewalttätig und weiblich. Er schwitzt.
Doch etwas fehlt ihm. Ein Taschentuch?
Etwas fehlt. Der Sex.
‹Lächelnd tarnt die Banklady mit Manieren eines Cowboys
ihre Pläne› oder ‹Bankraub mit falschen Haaren und echter
Pistole›.» (Kuckart 2008: 144ff.)
Es scheint, als fühle sich der Journalist von Jette provoziert,
da sie nicht in das bürgerlich-traditionelle Frauenbild passt.
Dieser Eindruck entsteht durch die nebeneinander stehenden Attribute «weiblich» und «gewalttätig», die den Mann aus
Angst oder Überforderung mit der Thematik zum Schwitzen bringen. Einerseits erregt ihn Jette, auf der anderen Seite möchte er sie zähmen und verfälschen, d.h. so zurecht
stutzen, dass von ihr ein negatives und realitätsfernes Bild
entsteht, das auf Schlagworte wie «gewalttätig» und «weiblich» reduziert werden kann. Dass Jette diese Zuschreibung
zum «Schreien», ja sogar in die «Unwegsamkeit» bringen soll,
spricht für die absichtlich gewollte Abwertung Jette Kindermanns in der Öffentlichkeit durch den Journalisten.
Sex & Crime
Nach den beiden bereits erwähnten Kategorien der Weiblichkeit und Gewalttätigkeit öffnet sich dem Journalisten in
assoziativem Verfahren eine weitere Verbindung zur Terroristin: der Sex. Der Journalist geht den einfachsten Weg um
eine Erfolgsstory zu lancieren und drängt Jette in den Bereich des Sex & Crime, macht sie zu einer «Banklady» mit
männlichen Attributen. Die Gefährlichkeit Jettes wird durch
die Verwendung des Verbs «tarnen», das Lächeln als Mittel
zum Zweck, die Verwandlung der Person durch die falschen
Haare und die schussbereite Pistole untermauert. Diese iktionale Szene zeigt, wie nahe terroristisches Handeln und sexuelle Potenz sich in Medienberichten stehen. Sie kann
durchaus als exemplarische Wiedergabe der faktischen Berichterstattung geltend gemacht werden. Ein Banküberfall,
an dem eine Frau mit dem Namen Jette Kindermann beteiligt war, wird in den Medien zum Krimi: Die beteiligte Frau
wird zum Hauptereignis, während die männlichen Täter unerwähnt bleiben. Kuckarts Text kritisiert diesen Umgang,
indem der Erzähler das Fehlen eines Taschentuchs (das in
seinem Gebrauch doppeldeutig gesehen werden kann, nämlich sowohl zum Abwischen von Schweiss als auch von Sperma) betont und den Journalisten als Sensationslüstling und
Lügner hinstellt.
«Bankraub mit falschen Haaren und echter Pistole» lautet die
Überschrift in der Bild-Zeitung vom 6. August 1973, zum
Überfall an dem Ingrid Siepmann beteiligt war. Kuckart kritisiert die Art und Weise der faktischen Berichterstattung,
setzt aber dem medialen faktischen Bild der weiblichen Terroristin keine fiktive Darstellung entgegen. Wie der Presse
so unterläuft auch Kuckart der Fehler, dass sie bestehende
Bilder der Terroristin wiedergibt und diese dadurch reifiziert. Ihre Darstellung der Protagonistin erinnert schliesslich
doch an das Bild der weiblichen Tatbeteiligten aus dem Mediendiskurs der 1970er Jahre. Dieses hat sich offenbar im
kulturellen Gedächtnis festgesetzt und in dieser Weise Eingang in die Literatur gefunden. Kuckarts Selbstanspruch auf
eine Verarbeitungsfunktion ihres Textes wird hier also
höchstens mangelhaft erfüllt.
Eine Frau unter Männern
Die Journalistin Katia rekonstruiert das Leben Jettes über
deren Ex-Männer. Kindermann ist in ihren Jugendjahren der
theoretisch-politische Mentor, gibt sich Jette intellektuell
überlegen und lässt ihr kaum Raum sich sprachlich zu artikulieren. An vielen Stellen im Roman drückt sich Jette mimisch und gestisch aus und bedient sich somit der non-verbalen Körpersprache. Mit Jacob lernt Jette ihren Körper
kennen, den sie anfänglich, aufgrund der protestantischen
Zucht, die im Elternhaus herrschte, als hässlich empfindet.
Jette erfährt in sexuellen Handlungen mit Jacob Befreiung,
die der Text in die Nähe der Befreiung des Menschen durch
den bewaffneten Kampf rückt, da die Sprache der Liebe und
die des Kampfes Ähnlichkeit besitzen. Durch diese Verbindung öffnet sich dem Leser eine gängige Vermutung aus den
1970er Jahren, die besagt, dass der Griff zur Waffe für die
Frau mit Befreiung gleichzusetzen ist (Günther Nollau). Jette ist jedoch, und das zeigt der Text sehr deutlich, keine
Kämpferin im Dienste der Frauenbewegung, sondern Revolutionärin. Der Roman verbindet Sex und Gewalt und versucht auf diese Weise, auf Jettes spätere Liebe zum Kampf
zu verweisen.
Der Text wertet Jette des Weiteren als schlechte Mutter, die
ihr Kind Konrad verwahrlosen lässt und ihren Sohn im Untergrund vergisst, hingegen wird der Vater Konrads mit kei-
40
ner Silbe kritisiert, obwohl er seinen väterlichen Pflichten
nicht nachkommt. Jettes Handlungsunfähigkeit betreffend
der Entziehung des Kindes, steht in starkem Kontrast zu
den späteren Aktionen in der Bewegung 2. Juni, wo Jette ihr
Leben für den Kampf bewusst aufs Spiel setzt. Mit Neumann startet Jette die ersten illegalen Aktionen. Er fühlt sich
zu Jette auf der sexuellen Ebene hingezogen, an Jettes Person hat er wenig Interesse. Jette löst sich von Neumann
durch den Gang in die Illegalität, der symbolisch mit der
Beherrschung von Schusswaffen manifestiert wird. Die Waffe wird durch den Text als Indikator zur Abgrenzung Jettes
von den anderen Frauen verwendet, die dem bürgerlichen
Leben verhaftet bleiben. In der Beziehung Jettes zu Philipp
kann eine hohe ideologische Ausgangsüberzeugung und die
Identifikation der Figur Jette mit der Aufgabe als Revolutionärin konstatiert werden. In ihr wird sie vermehrt in jener
Konstellation als vermännlichte Frau dargestellt, gerade
auch im Kontrast zum biologisch männlichen Part, der als
zärtlich und einfühlsam beschrieben wird. Im Text wird die
weibliche Figur Jette unter einer Vielzahl von Männern isoliert. Sie gibt aufgrund dessen ihre Weiblichkeit kontinuierlich auf und erscheint zusehends als vermännlichte, harte,
gewaltbereite Frau.
Schreibtischtäterin
Kuckart schreibt gegen die Tabuisierung einer Vorbildrolle
der Terroristin für die Nachgeborenen an. Nachgeboren bedeutet: «Neidisch dabeistehen, wenn die anderen aufbrechen, nur Zeitungen, zerlesene, Bücher, Socken zurücklassen. Nachgeboren, das klingt überreif, faul. Nicht getrödelt,
und doch zu spät gekommen, um dabeizusein, mitzudrehen
am Rad, bevor es schwer wieder einrastet.» (Kuckart 2008:
41) Den Wunsch, dabei gewesen zu sein in der Bewegung 2.
Juni, verarbeitet Kuckart im Bereich der Literatur. Wolfgang
Kraushaar weist genau darauf hin: Die Bewunderungshaltung, die Anbetung des Mythischen, könne fast nur noch im
Bereich der Fiktion, also von Schriftstellern, Theater- und
Filmemachern, geäussert und diskutiert werden. In einem
politischen Kontext sind solche Äusserungen dagegen zum
Tabu geworden.
Die Vergegenwärtigung der Bedeutung des revolutionären
Aktivismus’ Jette Kindermanns für die Nachgeborenengeneration, zu der sich die Autorin Judith Kuckart zählt, rückt
die Frage nach einer authentischen, unangepassten Lebensweise in den Vordergrund. Thomas Hoeps stellt im Zusammenhang mit Kuckarts Werk die Frage, welche Themenblöcke die Literatur in Zukunft zum bundesdeutschen Terrorismus tradieren wird. Vom Beispiel Kuckarts ausgehend lässt
sich die Vermutung anstellen, dass keine Auseinandersetzung mit politischen Gründen für die Beteiligung am Terrorismus stattfinden wird, sondern vor allem der Weg in die
Illegalität als radikale und totale Negierung «bürgerlicher»
Lebensweisen zum zentralen tradierten Thema avanciert.
Katia interessiert sich für die Entscheidung Jettes, die in den
Untergrund führt und sieht in dieser Entscheidung eben deren «Wahl der Waffe».
Katia «wählt» am Ende des Romans dagegen das Schreiben
als ihre «Waffe». Die Rebellion Jettes als Existenzform rückt
im Roman demnach in die Nähe von Katias Suche nach ihrer Identität als «Schreibtischtäterin», d.h. der Konzeption
von Schreiben als Existenzform. «Dies ist die Geschichte
einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden,
nachträglich. ‹Ich› bleibt ein unanständiges Wort» (Kuckart
2008: 10), schreibt Kuckart. Katias Identität entwickelt sich
im Schreiben über Jette, dieses führt Katia am Ende des
Romans im fiktiven Gespräch mit Jette zur Fähigkeit, als
Person, Frau und Autorin «Ich» sagen zu können ohne sich
zu schämen.
Das Schreiben wird zur Tat, so wie Jette ihre Moralvorstellungen in Handlung überführt hat. Durch die Fokussierung
auf die existentielle Seite des Terrorismus wird gleichzeitig
die existentielle Seite des literarischen Schaffens thematisiert
und eine allgemeine Antwort auf die Frage nach einer selbständigen und selbstbewussten Lebensweise, abgekoppelt
von Angepasstheit an gesellschaftliche Konventionen, gegeben.
Diewald-Kerkmann, Gisela 2009: Frauen, Terrorismus
und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der
RAF und der Bewegung 2. Juni
Hoeps, Thomas 2000: Arbeit am Widerspruch.
«Terrorismus» in deutschen Romanen und Erzählungen
(1837-1992)
Kraushaar, Wolfgang 2006: Mythos RAF. Im
Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung
und populistischer Bedrohungsphantasie. In: Ders.
(Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. 11861210
Kuckart, Judith 2008: Wahl der Waffen (Neuauflage)
Tremel, Luise 2006: Literrorisierung. Die RAF in der
deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004. In:
Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke
Terrorismus. Bd. 2. 1117-1154
Stefanie Nydegger studiert Germanistik und Erziehungswissenschaften
im 9. Semester an der Universität Bern. Im vorliegenden Text
präsentiert sie einen Ausschnitt ihrer BA-Arbeit.
expositionen
41
«Väterliteratur» als literaturgeschichtlicher Problemfall
Eine sehr kurze Übersicht
Julian Reidy
D
as Genre der «Väterliteratur» wurde bisher als Auseinandersetzung mit den Vätern als Vertreter
der Macht konzipiert. Hier wird ein solches Kriterium anhand von zentralen, zu dieser Kategorie
gezählten Texten hinterfragt. Mit dem Terminus «Vertrauenskrise» wird ein alternatives Unterscheidungsmerkmal vorgeschlagen.
Widersprüche und fehlende Mütter
Die in den 1970er Jahren angeblich aufkommende «Väterliteratur» ist schnell erklärt. Im Rahmen eines relativ überschaubaren Textkorpus werde, so die germanistische Forschung, «Kritik am Vater als dem symbolischen Vertreter der
Macht und des Gesetzes» (Venske 1992: 272) geübt; es handle sich um ein «genre» (Kosta 2001: 230), in dem «sons and
daughters» mittels «autobiography/biography [...] probe[]
their fathers’ involvement in the Third Reich while creating
a literary mirror for self-reflection» (ebd.: 220). Trotz dieser
im Grunde simplen Definition begegnen in der Sekundärliteratur zu den «Väterbüchern» überraschende Widersprüche; eine einheitliche Definition des angeblichen Genres der
«Väterliteratur» liegt nicht vor. Allein über die zeitliche Einordnung der «Väterliteratur» herrscht Uneinigkeit, spricht
doch Konrad Kenkel (1993: 186) von den «späten siebziger
Jahren», Susan Figge (1993: 193) von den «early 1970s» und
Aleida Assmann (2010: 193) von den «1970er und 1980er
Jahre[n]». Zuweilen bleiben sogar wichtige Prämissen des
Genres gänzlich unerfüllt, beispielsweise diejenige, wonach
die «Väterbücher» stets eine Auseinandersetzung mit der
Nazivergangenheit des Vaters darstellen sollten (so zum Beispiel in Jutta Schuttings Der Vater und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe), ganz zu schweigen von der äusserst problematischen Grundannahme, dass die Mütter in der «Väterliteratur» keine oder nur eine «peripherale» (Schlant 1999: 88)
Rolle spielen.
Heterogenität und Genre-Bildung
Ausserdem scheint sich die Forschung nicht im Klaren darüber zu sein, ob die Texte der «Väterliteratur» als Werke der
sogenannten Neuen Subjektivität zu gelten haben und damit
eine weitgehend entpolitisierte, jedoch auf jeden Fall subjektive und individuelle Innensicht zur Darstellung bringen,
oder ob sie für ein eminent politisches, gar polemisches autobiographisches Schreiben stehen. Diese Ambivalenz
kommt nicht von ungefähr: In den «Väterbüchern» tritt den
Rezipienten ein breites Spektrum an Reaktionen auf und
Konfrontationen mit Vätern entgegen, wobei Privates und
Subjektives mit politischen Reflexionen kollidiert.
Die Frage, ob eine Gruppierung derart heterogener Werke
unter geteilte Überbegriffe sinnvoll ist, stellt sich dabei von
selbst. Wer es auf sich nimmt, die einzelnen «Väterbücher»
zu vergleichen, konstatiert eine irritierende Heterogenität,
die allein schon dem geteilten Genrebegriff Hohn spricht
und bereits bei den geschilderten Vätern anfängt. Da stösst
man nicht nur auf die grösstmögliche Variation in Bezug auf
soziale Herkunft – vom adligen Gutsbesitzer bei Elisabeth
Plessen über den Kriegsfotografen bei Peter Henisch und
den protestantischen Pfarrer bei Ruth Rehmann bis hin zum
proletarischen und katholischen blue-collar-worker bei Günter Seuren sind so gut wie alle Klassen und Hintergründe
vertreten –, auch die ideologischen Vorzeichen könnten bei
den diversen Vätern nicht unterschiedlicher sein: sie reichen
von fanatischer und unbelehrbarer Befürwortung des Nationalsozialismus (beispielsweise bei Vesper und Gauch) über
unreflektiertes Mitläufertum (bei Henisch) bis zu apolitischer Indifferenz (bei Schutting) oder gar einer gewissen
kritischen Distanz zum Regime (bei Härtling).
Der Tod der Väter
Wer wie Schlant (1999: 85) davon ausgeht, dass unter solchen Vorzeichen formal und inhaltlich einheitliche «formula
novels» geschrieben werden, die man allesamt leicht in dasselbe Genre und denselben literarhistorischen Kontext einordnen kann, der irrt. Sogar die angeblichen Grundkonstanten des Genres werden von Text zu Text äusserst different
gestaltet oder fehlen gar ganz. Beispielsweise behauptet Hinrich Seeba (1991: 181), die in den «Väterbüchern» geschilderten Auseinandersetzungen fänden «immer nur», in gleichsam «monologischer» Manier, nach dem Tod der jeweiligen
Väter statt. Beide angeblichen Grundtendenzen der «Väterliteratur» – der Tod des Vaters als Schreibimpuls und die
«monologische» Anlage der Texte – sind in Wirklichkeit keine: Es gibt durchaus «Väterbücher», die von Disputen und
Auseinandersetzungen zehren, welche sich zutrugen, als die
jeweiligen Väter noch lebten (bei Vesper, Henisch und Plessen). Wir stellen hier einen ganz markanten Unterschied
zwischen den verschiedenen Schreibsituationen fest, die in
der «Väterliteratur» anzutreffen sind. Je nachdem, ob sich die
42
Autorin oder der Autor noch vor dem Tod des Vaters mit
dessen konkreter und ideologischer Autorität kritisch auseinandergesetzt hat, entstehen ganz verschiedene Kommunikationssituationen; das angebliche Genre basiert also keineswegs auf einheitlichen produktionsästhetischen Prämissen.
Ein fuzzy concept und die «Vertrauenskrise»
«Väterliteratur» ist offenbar ein unzureichend definierter Begriff; wir haben es gleichsam mit einem «fuzzy concept» zu
tun. Dass dieser Umstand der Germanistik bisher weitgehend entgangen ist, liegt vor allem darin begründet, dass die
meisten Forschungsbeiträge zum Thema nur eine kleine
Auswahl an Primärliteratur in den Blick nehmen und auf
dieser Basis enorm weitreichende Schlüsse ziehen. Wir wollen daher in der Folge zu den meisten Texten im Korpus der
«Väterliteratur» in wenigen Sätzen Stellung nehmen und auf
die Probleme verweisen, die sich bei einer Analyse dieser
Werke für das angebliche Genre stellen. Dabei gehen wir
davon aus, dass das wichtigste Charakteristikum dieser Werke nicht ein irgendwie gearteter Konflikt zwischen Vätern
und Söhnen oder Töchtern ist, sondern eine übergeordnete
«Vertrauenskrise», die sich im familiären Raum angesichts
der mangelhaft verarbeiteten Vergangenheit konstituiert und
auf weitere Lebensbereiche übergreift. Die Texte entstehen
mithin aus einer gesellschaftlichen Situation, in der die «Inanspruchnahme [...] jeglicher Autorität durch die ältere Generation [...] für die jüngere mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit [...] nicht länger akzeptabel [war]»
(Mauelshagen 1995: 39).
Das wichtigste Charakteristikum
dieser Werke ist nicht ein Konflikt zwischen Vätern und Söhnen oder Töchtern, sondern eine
übergeordnete «Vertrauenskrise».
Historiographie und Literatur
Aus unserer Betrachtung der verschiedenen «Väterbücher»
ergibt sich ausserdem, dass sich in der «Väterliteratur» neben
einer «Vertrauenskrise» auch eine besondere Form literarischer Historiographie manifestiert: In solcher literarischer
Produktion, die ein «Scharnier zwischen dem Familiengedächtnis und der Aussenwelt» (Assmann 2010: 213) bildet,
sind Fiktionen und Tatsachen nicht mehr klar zu scheiden,
verschwindet mithin auch die Trennlinie zwischen Literatur
und Geschichtsschreibung. Wir postulieren also, dass es sich
bei der «Väterliteratur» um eine Form von historischer Forschung handelt, die womöglich «on the personal level» Erkenntnisse über «national history» (Bushell 2004: 100) erarbeiten kann – somit weist die «Väterliteratur» eine politisch-
historiographische Grundierung auf, die einer Einordnung
des Genres in das Umfeld der Neuen Subjektivität widerspricht. Wir plädieren deshalb im Folgenden für eine Anerkennung der uneinholbaren Heterogenität, welche diesen
Werken eignet.
Es handelt sich hier um individuell verschiedene Reaktionen
auf Problemstellungen, die paradoxerweise zugleich einzigartig und allgemeingültig sind; sie entspringen einer «Vertrauenskrise» und sind als Hybride von Geschichtsschreibung und Literatur zu betrachten, die zwischen Fiktionalität
und Faktualität, zwischen einer Kontemplation des Subjektiven und einem dezidierten politischen Impetus oszillieren.
Zu betonen ist, dass vergleichende Analysen der «Väterbücher» nicht rundweg abzulehnen sind; schliesslich unternehme ich in meinem Dissertationsprojekt einen ähnlichen Versuch. Kritisiert wird nur die Konstitution eines konsistenten
und homogenen Genres auf zweifelhafter und widersprüchlicher Basis, welches die Rezeption gerne im Kontext der
Neuen Subjektivität ansiedelt. Die einzelnen Texte weisen
aber sehr wohl Gemeinsamkeiten auf, für deren Verständnis
scheinen allerdings weitmaschigere Begriffe wie derjenige
der «Vertrauenskrise» adäquater.
Ein kritischer und sehr kurzer Überblick über die «Väterbücher»
Bernward Vesper, Die Reise
In der Forschung zur «Väterliteratur» wird zumeist Bernward Vespers «Romanessay» Die Reise (1977) als «Prototyp
der Gattung» (Assmann 2010: 206) ausgemacht. Die meisten
Interpreten lesen den Text als Auseinandersetzung mit dem
Nazi-Vater Will Vesper und als Zeitdokument der Umwälzungen von 1968, wobei einige Vesper auch eine ideologische Nähe zum damals aufkommenden Linksterrorismus
der RAF vorwerfen. Eine eingehende Analyse der Reise zeigt
aber, dass Vespers Mutter fast so prominent im Text figuriert
wie der Vater, diesem in ihrer Brutalität und ideologischen
Verblendung in nichts nachsteht und dass Vespers kritische
Reflexionen nicht bei der Figur des Vaters Halt machen.
Vielmehr analysiert er (unter dem Einfluss von Wilhelm
Reich und Herbert Marcuse) die soziale Institution der Familie überhaupt, welche er – im Zuge der oben definierten
«Vertrauenskrise» – in einer fundamental schuldgeprägten
und faschistoiden Gesellschaft situiert. Der zwischen 1969
und 1971 verfasste Text, der posthum 1977 erschien, fokussiert somit keineswegs nur den Vater und weist einen eminent politischen Impetus auf. Also ist er weder in eine «Väterliteratur» noch in das Umfeld einer entpolitisierten Neuen
Subjektivität einzuordnen.
Es lässt sich auch zeigen, dass der Verdacht der Terrorismusund Gewaltverherrlichung in Bezug auf Die Reise unberechtigt ist: Im Kern des Buches steht nicht etwa terroristische
Propaganda, sondern Vespers Versuch, auf der Basis der
Postulate der New Left (u. a. von C. Wright Mills) und der
Theorien der Kommune 2 (Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums) seine Identität als «Kind von Mittelklasseeltern» (Vesper 2009: 238) neu zu verhandeln und ein ge-
expositionen
43
nuin revolutionäres Bewusstsein zu konstituieren.
Eine Einordnung der Reise in den Kontext der «Väterliteratur» ist mithin aus inhaltlichen Gründen abzulehnen – die
«Vertrauenskrise», die der Text behandelt, erfasst die ganze
Gesellschaft und ihre Institutionen, nicht nur den Vater, und
Vespers kritisches Anliegen ist ein sehr politisches und zeittypisches; in den vielen essayistischen und theoretischen
Passagen konstatieren wir zudem den erwähnten historiographischen Gestus, dem bisher in der Forschung kaum Bedeutung zugemessen wurde. Anzumerken ist auch, dass Die
Reise hitzige Diskussionen des Autors mit seinem Vater protokolliert – zwar war Will Vesper zum Zeitpunkt der Niederschrift des Textes tatsächlich bereits gestorben, aber man
kann nicht behaupten, dass es sich hier um eine monologische Auseinandersetzung mit einem «immer nur» (Seeba
1991: 181) oder immer schon toten Vater handelt.
Christoph Meckel, Suchbild. Über meinen Vater
Ebenso zu kritisieren ist der bisherige germanistische Umgang mit Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater
(1980): Der Text wird durch den Roman Suchbild. Meine Mutter (2002) ergänzt; beide Werke bilden laut dem Autor ein
«Diptychon[]» (Meckel 2005: 128) – wer in Bezug auf Mekkel von «Väterliteratur» spricht, ignoriert also willentlich einen Teil dieses Diptychons. Auch bei Meckel konstatieren
wir eine weit über den Vater hinausreichende analytische
Geste: Die «Vertrauenskrise» setzt ein, als der Autor das
Kriegstagebuch seines Vaters entdeckt; seine kritischen Reflexionen erfassen sodann aber Vater und Mutter, die Familie
als solche. In meiner Arbeit schlage ich in diesem Zusammenhang Brücken zu Albrecht Koschorkes Thesen über das
Nachleben des biblischen Modells der Heiligen Familie und
zu Wilhelm Riehls traditionalistischen und im 19. Jahrhundert vielgelesenen Ausführungen über Die Familie (1855).
Auch Meckels Vorgehen ist im Übrigen von einem nahezu
geschichtswissenschaftlichen Impetus getragen; beispielsweise nutzt er das Kriegstagebuch des Vaters als ergiebige
Primärquelle. Der Begriff einer «Väterliteratur» greift also
auch hier zu kurz. Meckels Erkenntnisinteresse umfasst
mehr als nur die Person des Vaters oder einen irgendwie
gearteten Generationenkonflikt.
Peter Henisch, Die kleine Figur meines Vaters
Dasselbe gilt für Peter Henischs Roman Die kleine Figur meines
Vaters (1975): Auch hier findet sich, entgegen den Prämissen
der «Väterliteratur», eine gleichsam «dialogische» Struktur,
denn der Text stützt sich auf Debatten und Gespräche mit
dem Vater. Bei Henisch machen transkribierte Tonbandinterviews mit dem Vater, dem Kriegs- und Propagandafotografen Walter Henisch, sogar einen Grossteil des Romans aus;
der Text hat mithin die Anlage einer «oral history». Es lässt
sich leicht zeigen, dass Henischs Anliegen nicht die Enttarnung oder die Anklage des Vaters ist (im Gegenteil, sein Verhältnis zum Vater ist im Vergleich zu den anderen «Väterliteraten» geradezu innig und liebevoll), vielmehr stellt der Text
gleichsam ein geschichtswissenschaftliches Projekt dar.
Dass die nationalsozialistische
Vergangenheit systematisch verdrängt wird, löst eine Krise des
Vertrauens in das öffentliche Geschichtsbewusstsein aus.
Analysiert wird, grob ausgedrückt, das Phänomen des Mitläufertums, wobei der Vater nur als Beispiel dient und die
Erkenntnisse objektiviert werden (eine verallgemeinerte Anfälligkeit des Künstlers für ideologische Verlockungen ortet
Peter Henisch selbstkritisch auch bei sich selbst). Der Anstoss für die Niederschrift des Romans ist, wie gesagt, nicht
etwa ein Generationenkonflikt, sondern die Beobachtung
des Autors, dass die nationalsozialistische Vergangenheit in
der Öffentlichkeit systematisch verdrängt wird. Diese Feststellung löst eine Krise des Vertrauens in das öffentliche
Geschichtsbewusstsein aus, die mit der Aufarbeitung der
beispielhaften Biographie des Vaters beigelegt wird. Die politische Grundierung des Textes und das nahezu wissenschaftlich anmutende Vorgehen des Autors lassen eine Einordnung von Peter Henisch in den Kontext einer «Väterliteratur» abstrus erscheinen.
Elisabeth Plessen, Mitteilung an den Adel
Der Dialog mit dem Vater spielt sich auch in Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel (1976) im Kontext eines «Forschungsprojekts» ab: Plessens Vater, im Buch nur C. A. genannt, war Adliger und Mitläufer im Dritten Reich. Die
Tatsache, dass er sich von den Nazis instrumentalisieren
liess, löst bei der Tochter eine «Vertrauenskrise» aus, die
nicht nur den Vater erfasst, sondern die gesellschaftliche Institution des Adels: Am Beispiel des Vaters und anhand der
fruchtlosen Debatten, die sie mit ihm führte, analysiert Plessen akribisch die Dispositionen, welche den Adelsstand für
die ideologischen Angebote der Nationalsozialisten anfällig
machten. Die Autorin bringt mithin eine historiographische
Institutionskritik mit politischer Sprengkraft vor, die durch
Dialoge mit einem exemplarischen Mitläufer analytisch gefestigt ist; auch hier liegt der Fokus keineswegs nur auf einem spezifischen Vater oder der für die neue Subjektivität
typischen privaten Innerlichkeit.
Ruth Rehmann, Mann auf der Kanzel
Ein institutionskritisches Projekt verfolgt auch Ruth Rehmann, die im Mann auf der Kanzel (1979) anhand ihres Vaters
– ein 1940 verstorbener protestantischer Pfarrer, der kein
Nazi war, aber das Regime aus theologisch-staatstragenden
Gründen mittrug – beispielhaft zeigt, wie sich grosse Teile
der protestantischen Geistlichkeit aufgrund ihrer staatstreuen theologischen Haltung von den Nazis vereinnahmen liessen. Auch sie interviewt Zeitzeugen und geht mit einem
44
sorgfältigen Forschergestus vor. Ihr eigener Sohn Jan Rehmann, seines Zeichens Historiker, nutzte die Untersuchungen seiner Mutter später gar als Quelle für seine wissenschaftliche Studie über Kirchen im NS-Staat. In Bezug auf
diesen institutionskritischen Text, der das Private als politisch relevant versteht, greift der Terminus «Väterliteratur»
zu kurz, und sicherlich haben wir es nicht mit einem Beispiel
für Neue Subjektivität zu tun.
E. A. Rauter, Brief an meine Erzieher
Einen etwas erratischen und in der Sekundärliteratur bislang
kaum beachteten Fall stellt E. A. Rauters Brief an meine Erzieher (1979) dar. Er bringt eine «Vertrauenskrise» zur Darstellung, die so allumfassend und hasserfüllt ist wie ansonsten nur bei Vesper; dabei bricht auch er mit den meisten
Prämissen der «Väterliteratur»: Es handelt sich um einen
Brief an meine Erzieher, nicht um einen (um mit Kafka zu
sprechen) «Brief an den Vater». Rauters Hass richtet sich vor
allem gegen seine Pflegeeltern – auch und gerade gegen die
Pflegemutter. Ausgerechnet seinen leiblichen Vater aber bezeichnet der Autor als «Traumvater» (Rauter 1979: 68). Auch
Rauters Zorn ist kein rein privater, im Raum der Neuen Subjektivität anzusiedelnder: Nach seiner traumatischen Kindheit bei den brutalen Pflegeeltern und im Erziehungsheim
wird Rauter zum Randständigen, zum Kleinkriminellen und
potenziellen Politterroristen. Rauter schreibt im Korpus der
«Väterliteratur» als einziger Autor aus einer genuin und konstant «unbürgerlichen» und unterprivilegierten Perspektive,
und aufgrund des im Brief an meine Erzieher formulierten
Hasses, der sich keineswegs gegen den Vater richtet, wohl
aber gegen die Gesamtgesellschaft und ihre Institutionen –
der also auch eine politische Komponente aufweist –, kann
man auch in Bezug auf Rauter nicht von «Väterliteratur»
sprechen.
Brigitte Schwaiger, Günter Seuren, Sigfrid Gauch
Für Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit (1980) gilt sodann,
dass in dieser Aufarbeitung des Vatertraumas auch die Mutter eine ganz gewichtige Rolle spielt, was bislang nur Aleida
Assmann (2010: 208f.) bemerkt hat, die der Autorin mit einigem Recht einen Elektrakomplex attestiert. Wer in Schwaigers Buch nur eine Auseinandersetzung mit dem Vater sieht,
ignoriert zudem die sprachkritischen Reflexionen der Autorin über das lange Nachleben antisemitischen Denkens und
nationalsozialistischer Indoktrination – beides konstatiert sie
mit Schrecken noch bei sich selbst, und ihre Ausführungen
über die sich hartnäckig haltenden Denk- und Sprachmuster
verleihen auch diesem Text schliesslich eine historiographisch-politische, über den Vater hinausweisende Dimension.
Zu Günter Seurens Abschied von einem Mörder (1980) und Sigfrid Gauchs Vaterspuren (1979) ist anzumerken, dass die beiden Texte wahrscheinlich eine spezielle Unterkategorie der
«Väterliteratur» darstellen, da es sich hier um die einzigen
Werke handelt, in denen waschechte Täter und Kriegsverbrecher geschildert werden. Allein dadurch erhalten die Tex-
te meines Erachtens einen Sonderstatus, der sie eher in die
Nähe der beispielsweise von Dan Bar-On und Peter Sichrovsky unternommenen geschichtswissenschaftlichen und psychologischen Auseinandersetzungen mit den Nachkommen
von Tätern rückt als in das Umfeld einer irgendwie gearteten
«Väterliteratur».
Jutta Schutting, Peter Härtling
Vollkommen aus dem Rahmen fallen schliesslich die Bücher
von Jutta Schutting und Peter Härtling. In Schuttings Erzählung Der Vater (1980) wird in apolitischer Weise eine idiosynkratische Form der Trauerarbeit betrieben; der Text wird
zudem ergänzt durch den Roman Der Tod meiner Mutter
(1997) – von «Vertrauenskrise» oder historiographischem
Interesse keine Spur. Ähnliches gilt für Härtlings Roman
Nachgetragene Liebe: Hier ist die Grundsituation der «Väterliteratur» invertiert, denn es war der Sohn, der (im Teenageralter) zu den Nazis abdriftete, während der Vater weitgehend
standhaft blieb, als Anwalt noch lange jüdische Klienten verteidigte, und schliesslich in russischer Kriegsgefangenschaft
starb. Dem Buch fehlt ebenfalls jegliche politische Färbung;
eine «Vertrauenskrise» kommt nicht zur Darstellung, denn
der Gestus ist primär ein entschuldigender. Nachgetragene Liebe (1980) ist somit der einzige Text aus dem Korpus der
«Väterliteratur», den wir tatsächlich in das Umfeld der Neuen Subjektivität einordnen würden.
Was tun mit der «Väterliteratur»? Ein Ausblick
Wir dürfen festhalten, dass die einzelnen Werke die ohnehin
widersprüchlichen Prämissen der «Väterliteratur» nicht erfüllen. In jedem angeblichen «Väterbuch» begegnet ein Erkenntnisinteresse, das viel mehr erfasst als nur die Person
des Vaters: Mal fungiert die Mutter als zentrale Figur neben
Das Anliegen vieler Autoren ist
ein historiographisches: Historische Tatsachen sollen aufgearbeitet und über das Medium der Literatur vermittelt werden.
dem Vater, mal gelten die analytischen Bemühungen der Autorinnen und Autoren der Familie als solcher oder der Gesamtgesellschaft, und in vielen Fällen beginnt die Auseinandersetzung mit den Vätern keineswegs erst nach deren Ableben. Das Anliegen sehr vieler Autoren ist zudem, wie wir
zeigen konnten, ein historiographisches; es sollen historische Tatsachen aufgearbeitet und über das Medium der Literatur vermittelt werden. Diesem Vorgehen wohnt ein politischer Impetus und ein Bemühen um Öffentlichkeit inne,
sodass von Neuer Subjektivität in Bezug auf diese Texte
nicht die Rede sein kann.
expositionen
45
Die «Väterliteratur» ist also nicht nur ein Genre, das oberflächlich und widersprüchlich definiert wurde: Auch die Texte, die es angeblich umfasst, entsprechen diesen Definitionen nur selten. Aus diesen Erkenntnissen folgt, dass ein
Vergleich der fraglichen Werke nur fruchtbar sein kann,
wenn man von homogenisierenden und vereinfachenden
Begrifflichkeiten Abstand nimmt. Für alle «Väterbücher» ist
die bereits erwähnte Heterogenität charakteristisch, die nicht
zuletzt aus ihrer autobiographischen Spezifität erwächst. Wir
halten es demnach für vermessen, sie allesamt demselben
Genre zuzuordnen, und lehnen den myopischen und unzureichend definierten Begriff der «Väterliteratur» ab. Angemessener scheint uns eine Annäherung an diese facettenreichen Texte über den neu geschöpften Terminus «Vertrauenskrise» – im Bewusstsein der historiographischen und
politischen Dimension der «Väterbücher».
Assmann, Aleida 2010: Hilflose Despoten. Väter in der
deutschen Gegenwartsliteratur. In: Thomä, Dieter
(Hg.): Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer
fixen Idee. 198-214
Bushell, Anthony 2004: Family History as National
History: Peter Henisch’s Novel «Die kleine Figur meines Vaters» and the Issue of Memory in Austria’s Second Republic. In: Orbis Litterarum 59 (2004). 100-113
Figge, Susan G. 1993: Fathers, Daughters, and the Nazi
Past. Father Literature and its (Resisting) Readers. In:
Martin, Elaine (Hg.): Gender, Patriarchy and Fascism in
the Third Reich. The Response of Women Writers.
274-302
Kenkel, Konrad 1993: Der lange Weg nach innen. Väter-Romane der 70er und 80er Jahre. Christoph Meckel
«Suchbild: Über meinen Vater» (1980), Elisabeth Plessen «Mitteilungen [sic!] an den Adel» (1976) und Peter
Härtling «Nachgetragene Liebe» (1980). In: Brauneck,
Manfred (Hg.): Der Deutsche Roman nach 1945. 167187
Kosta, Barbara 2001: Väterliteratur, Masculinity, and
History. In: Jerome, Roy (Hg.): Conceptions of Postwar
German Masculinity. 219-241
Mauelshagen, Claudia 1995: Der Schatten des Vaters.
Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre
Seeba, Hinrich C. 1991: Erfundene Vergangenheit. Zur
Fiktionalität historischer Identitätsbildung in den Väter-Geschichten der Gegenwart. In: Germanic Review
66.4 (1991). 176-182
Schlant, Ernestine 1999: The Language of Silence.
West German Literature and the Holocaust
Venske, Regula 1992: Frauenliteratur – Literatur von
Frauen. In: Briegleb, Klaus; Weigel, Sigrid (Hgg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. 245-278
Der vorliegende Artikel ist eine leicht abgewandelte Version eines
Vortrags, den Julian Reidy am 16. Oktober 2010 an der University
of Cincinnati im Rahmen der alljährlichen Tagung Focus on
German Studies hielt. Julian ermutigt mit diesem Beitrag hiesige
GermanistInnen zum Focus-Jahrbuch beizutragen oder nächstes
Jahr an der Tagung teilzunehmen. Mehr Informationen unter:
http://www.artsci.uc.edu/collegedepts/german/focus/
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«On a knight’s errand»
Fremderfahrung und Selbstfindung in Kevin Costners Dances With Wolves
Fiona Gunst
I
n Kevin Costners mehrfach preisgekröntem Film Dances With Wolves (1990) wird die (Selbst-)
Erfahrung des Weissen an der Grenze – ein konventionelles Motiv des Westernilms – mit der Annäherung
an das Fremde, einen Indianerstamm, enggeführt. Das Muster, nach dem John J. Dunbars Transformation
zu Dances With Wolves erzählt wird, ist das eines Übergangsritus’.
Dances with Wolves beginnt mit einer Szene aus dem nordamerikanischen Bürgerkrieg. Dunbar ist verletzt und beschliesst
seinem Leiden mit einem Kamikazeritt zwischen den Fronten ein Ende zu machen. Dadurch wird er ungewollt zum
Helden und darf sich an einen Ort seiner Wahl versetzen
lassen. Er entscheidet sich für den Westen: «I’ve always wanted to see the frontier […] before it’s gone». Die Disposition
Dunbars präsentiert sich in diametralem Abstand zu der des
Majors, der ihm den Passierschein für die Reise zum «furthermost outpost of the realm» ausstellt. Dieser fragt Dunbar, ob er ein «Indian-fighter» sei, worauf der Lieutenant
irritiert reagiert. Der Major qualifiziert die indianische Kultur damit wie fast alle anderen Weissen im Film als «NichtKultur» (Lotman) ab, gegen die die «Kultur» aggressiv vorzugehen habe. Statt die Grenze der weissen Welt als Ort der
Gefahr und Möglichkeit zur Selbstbehauptung im Kampf
gegen die Indianer zu begreifen, scheint sie Dunbar dagegen
einfach zu faszinieren.
Dass diese Grenze eine menschgemachte, arbiträre und virtuelle ist, wird bei Dunbars Eintreffen im Fort offenbar:
Statt eines befestigten, mit Palisaden umgebenen Grenzpostens erwarten Dunbar zerfallene, verlassene Hütten. Der
äusserste Punkt des von den Weissen eroberten Gebiets ist
zerstört. Die «Grenze» existiert nur in den Köpfen der Siedler und behauptet sich nicht in der Wirklichkeit. Das Fort ist
damit ein liminaler Ort, einer, an dem Gegensätze sich aufheben und Grenzen nicht weiter existieren.
Liminalität und Fremdheit
Der «Limen» meint in Zusammenhang mit den «rites de passages», deren Bedingungen Victor Turner im Anschluss an
Arnold Van Gennep untersucht hat, die Zeit und den Ort
des Übergangs. Echte Übergangsriten sind für Turner an
Stammesgemeinschaften gebunden und dienen dazu, ein
Individuum von einer sozialen Position in eine andere zu
überführen. Im Limen sind die «Grenzgänger» («liminaries»)
«betwixt-and-between» allen Normen, Werten, sowie Identitäten als Wahlmöglichkeiten ausgesetzt; was davor war, gilt
nicht mehr. Um seinen postliminalen Status zu erlangen,
wählt der Grenzgänger nach und nach aus den angebotenen
Möglichkeiten. Dabei macht er die existenzielle Erfahrung,
dass das, was in der präliminalen Phase unhinterfragt als
richtig wahrgenommen wurde, keine allgemeine Gültigkeit
besitzt. Diese Erkenntnis ist eine, die sowohl im Limen als
auch in der Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit
gemacht wird.
Fremdheit ist – wie Liminalität – ein Zustand spezifischer
«Beweglichkeit» (Simmel); der Fremde kommt mit den Elementen der neuen Umgebung in Berührung, ist aber mit
keinem dieser Elemente «organisch verbunden» und so zugleich nah und fern. Mit der räumlichen Isolation von der
Ausgangskultur wird seine ursprüngliche soziale und politische Identität wie diejenige des Grenzgängers bedeutungslos. Im «Exil» sind nach Turk zwei Paradigmen leitend: das
der «unendlichen Approximation» und das der «aufhebbaren
Entfremdung». Für die nie abschliessbare Annäherung an
eine neue Kultur ist die nie vollständige Entfremdung von
der alten aber stets Voraussetzung, Approximation und Absonderung sind damit Varianten derselben Bewegung. Im
Zuge der Annäherung entdeckt der Fremde, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen graduell, nicht absolut sind.
Annäherung und liminale Vorgänge
In Dances With Wolves deutet die filmischen Erzählinstanz die
strukturelle Gleichheit von Indianer und Weissem schon
früh an: Kicking Bird, der Dunbars bester Freund werden
wird, erscheint vor der ersten Begegnung der beiden in der
Nähe des Forts im Bild, wo er mit der Hand durch die vom
Wind bewegten Gräser streicht. In derselben Pose wird auch
Dunbar gezeigt, bevor er das Fort erreicht. Bis diese Ähnlichkeit allerdings auch von ihnen selbst erkannt wird, sind
verschiedene Zwischenschritte nötig.
Als ihn eine kleine Gruppe Sioux im Fort besucht, versucht
Dunbar einen Büffel darzustellen. Die Indianer verstehen jedoch nicht, was hier nachgeahmt wird und halten den Weissen
für verrückt. Bezeichnenderweise erkennt schliesslich Kicking
Bird, was Dunbar meint und nennt ihm das Lakota-Wort für
Büffel, «Tatanka». Dieser erste Baustein der Annäherung verschafft Dunbar später den Respekt der Indianer. Dass er diese
Anerkennung in einem szenischen Vorgang erhält, verknüpft
die Erfahrung von Fremdheit mit dem Konzept der Liminalität: Wie Erika Fischer-Lichte zeigte, lassen sich auch Theateraufführungen als liminale Vorgänge lesen; und schon Turner
hatte auf das kreative Potential der Liminalität hingewiesen.
expositionen
47
Der nächste Schritt der Annäherung erfolgt wieder während
eines liminalen Vorgangs. Um die bislang ausgebliebenen
Büffelherden heranzubeschwören, vollziehen die Indianer
ein Ritual. Die Szene spielt sich nachts ab, während einer
Tageszeit also, die Gegensätze grundsätzlich einebnet. Dunbar, der die heranziehenden Büffel bemerkt hat, platzt, «Buffalos» schreiend, in die Zeremonie. Ihm schlägt pure Aggression entgegen, er wird vom Pferd gezerrt und fast verprügelt, bis ihm das kürzlich gelernte Wort einfällt: «Tatanka».
Abrupt schlägt die Stimmung der Indianer in ausgelassene
Freude um, Dunbar wird gefeiert. Er darf daraufhin gleichberechtigt mit den wichtigsten Männern des Stammes zur
Jagd voranreiten.
An den Festivitäten nach der erfolgreichen Jagd tauscht
Dunbar zwei Kleidungsstücke gegen indianische Utensilien:
seine Soldatenjacke gegen einen hölzernen Brustschmuck
und den Hut gegen einen Dolch. Damit gibt er deutlich Teile seiner sozialen und politischen Identität auf, der eines Lieutenants der amerikanischen Armee, und streift sich gleichzeitig Teile einer neuen indianischen Identität über. Die
durch die räumliche Trennung von seiner früheren Kultur
obsolet gewordenen Insignien werden als Zeichen der Anerkennung des liminalen Status aufgegeben.
Communitas und Entfremdung
Im Limen, so Turner, schliessen sich Grenzgänger zu spontanen Gruppen zusammen, sogenannten «Communitas».
Als solche lässt sich die Beziehung zwischen Dunbar und
Stands With A Fist verstehen. Stands With A Fist überlebte
als Kind weisser Siedler einen Anschlag der Pawnee und
wurde daraufhin von den Sioux aufgenommen. Sie ist fast
vollständig assimiliert, bleibt mit ihrer Hautfarbe unter den
Indianern jedoch immer eine Andere und damit bei aller
Nähe stets eine Grenzgängerin. Im Austausch mit Dunbar
kann sie sich bruchstückhaft an die englische Sprache erinnern, wird ihm zur Dolmetscherin und lehrt ihn Lakota.
Anders als mit den anderen Indianern kann Dunbar mit
Stands With A Fist schon früh kommunizieren, eine Eigenschaft, die spontane Communitas auszeichnet. Zwischen
den beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte.
Nach der Eheschliessung, bei der Dunbar bereits auf seinen
Indianernamen Dances With Wolves hört, hält er sich dauerhaft bei den Sioux auf. Er spricht nun fliessend Lakota, trägt
Indianerkleidung und Federn im langen Haar. Alle Unterschiede zu den Indianern scheinen aufgehoben. Vor dem
Abritt der Sioux ins Winterlager erinnert sich Dunbar jedoch
an sein Tagebuch, Teil des «identity kit» aus der Zeit, als er
noch der beobachtende Fremde war. Er will es aus dem Fort
holen, damit es allfällig nachrückenden Weissen nicht den
Ort verrate, an dem sich die Sioux aufhalten.
Dances With Wolves findet das Fort wiederhergestellt und
von zahlreichen Militärs besetzt. In seiner Kleidung wird er
von den Angehörigen seiner früheren Kultur für einen Indianer gehalten, sein Pferd wird niedergeschossen und er gefangen genommen. In Gefangenschaft verweigert sich Dances With Wolves den Weissen, indem er nur Lakota spricht.
Dunbar hat aus den im Limen zur Verfügung stehenden
Werten gewählt – und sich für die der neuen Kultur entschieden. Der alten gehört er, auch in der Anschauung der
Militär, nicht mehr zu. Es ist der Moment der maximalen
Annäherung an die Sioux und zugleich der maximalen Entfremdung von seiner früheren Kultur.
Fremderfahrung und Selbstindung
Dances With Wolves kann befreit werden, entschliesst sich
dann aber, die Indianer gemeinsam mit seiner Frau zu verlassen, weil er glaubt, er würde von den Weissen gejagt. Beim
Abschied erhält er sein Tagebuch zurück, das ein Indianerjunge gefunden hatte. Damit wird an die präliminale Phase
angeschlossen. Dunbar erlangt einen Teil seines früheren
identity kit zurück, wodurch die Entfremdung von der eigenen Kultur, beziehungsweise von der früheren Identität teilweise rückgängig gemacht wird. Dasselbe widerfuhr Stands
With A Fist, die durch den Kontakt mit Dunbar die englische Sprache zurückerhielt. Der Austritt der beiden aus dem
Limen als nun normative Communitas ist auch eine Rückkehr zur Ausgangskultur: Die sich hier verabschieden, sind
Weisse, ein Ehepaar in Erwartung eines Kindes, und damit
bis auf die Indianerkleidung eine prototypische amerikanische Familie. Kleidung, Werte und Namen mögen sich im
Der Gral, der in der Fremde gefunden wird, ist nicht das Fremde,
sondern die eigene Identität.
Limen geändert haben, aber an dessen Endpunkt steht wieder die alte Kultur.
Die Annäherung an das Fremde ist damit tatsächlich so etwas wie eine Gralssuche; der Major, der Dunbar den Passierschein ausgestellt hatte, tat das mit den Worten: «I am sending you on a knight’s errand.» Die Faszination Dunbars für
die Frontier, für das Fremde, wird als uneinholbare Phantasie apostrophiert. Stattdessen kommt es in der realen Fremderfahrung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. So ist der emotional am stärksten aufgeladene Moment
des Films jener nach einer gewonnen Schlacht der Sioux gegen die Pawnee, als Dunbar/Dances With Wolves minutenlang in Grossaufnahme gezeigt wird und dazu spricht: «I’d
never really known who John Dunbar was. Perhaps the name
itself had no meaning. But as I heard my Sioux name being
called over and over, I knew for the first time who I really
was.» Es ist genau jene Begegnung mit dem Eigenen, die das
Erzählen von Dunbars Transformation zu Dances With
Wolves nach dem Muster eines Übergangsritus sinnvoll
macht. Der Gral, der in der Fremde gefunden wird, ist nicht
das Fremde, sondern die eigene Identität.
48
Costner, Kevin 1990: Dances With Wolves
Simmel, Georg 2002: Exkurs über den Fremden.
In: Merz-Benz, Peter-Ulrich; Wagner, Gerhard
(Hgg.): Der Fremde als sozialer Typus. Klassische
soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen.
47-53
Turk, Horst 22001: Alienität und Alterität als
Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik. Zum
Fremdheitsbegriff der Übersetzungsforschung.
In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema
Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder
kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. 172-197
Turner, Victor 1977: Variations on a Theme of
Liminality. In: Moore, Sally F.; Myerhoff, Barbara G.
(Hgg.): Secular Ritual. 36-52
Turner, Victor 22003: Liminalität und Communitas.
In: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hgg.):
Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. 251-262
Fiona Gunst studiert Germanistik und Theaterwissenschaft an der
Universität Bern im 11. Semester. Der vorliegende Text entstand nach
einem Seminar zu Fremdbildern in Theater, Film und Fernsehen.
expositionen
49
Ruchloser Killer oder erbärmlicher Schweinehirt?
Wie Clint Eastwood in Unforgiven über Körperdarstellungen ein Imagewandel gelingt
H
Alain Gloor
eute wird Clint Eastwood (*1930) für seine Darstellung vielschichtiger Charaktere
in Filmen wie Million Dollar Baby (2004) oder Gran Torino (2008) gepriesen.
Dem war nicht immer so. Für den Imagewandel vom einfältigen Actionschauspieler
aus Dirty Harry (1971) oder Sergio Leones Dollar-Filmen sorgte Eastwood als
Regisseur und Schauspieler in Unforgiven (1992) gleich selbst. Entscheidend waren
dabei zwei diametrale Körperentwürfe, die er in der Rolle des William Munny in
sich vereinte.
Unforgiven beginnt mit dem Bild eines Mannes, der ein Grab
aushebt und einigen einleitenden Sätzen, die den Auftakt zu
einer weiteren klassischen Interpretation des Western-Genres zu geben scheinen. Doch dieser Eindruck wird zerbrochen – spätestens als wir William Munny einige Minuten
später zum ersten Mal ins Antlitz sehen. Kurz zuvor erblicken wir einen Mann, der auf seiner erbärmlichen Farm,
unter den Augen seiner zwei Kinder, daran scheitert, kranke
von gesunden Schweinen zu trennen. Es ist ein Körper zu
sehen, dem alles zu schnell zu gehen scheint, der sich unbeholfen um die Tiere bemüht, der sich windet und hinfällt. Er
rappelt sich auf und schaut in Richtung des Schofield Kids
(Jaimz Woolvett) und zeigt dem Zuschauer erstmals sein Gesicht aus der Nähe – es ist Clint Eastwood, mit auffällig
verdrecktem Antlitz.
Verlust des Körpergefühls
«You don’t look like no rootin’-tootin’, son-of-a-bitchin’,
cold-blooded assassin», faucht ihn das Schofield Kid an.
Hier kollidiert nicht nur die offensichtliche Realität mit
Schofield Kids Vorstellungen von William Munny, sondern
auch die filmische Realität mit dem Anspruch, den der Rezipient an die Starfigur hat; denn aufgrund seiner zahlreichen
vergangenen Western- und Polizeifilme erwarten wir Clint
Eastwood instinktiv als Souverän mit Colt und nicht als versagenden Schweinehirten. Das Bild eines Mannes, der seinem eigenen Körpergefühl nicht länger trauen kann, wird
durch wiederholte Szenen bestätigt und zementiert, in denen
der Leib William Munny den Dienst versagt. So trifft er bei
Schiessübungen die Büchse aus nächster Nähe nur mit der
Schrotflinte – mit dem Revolver scheiterte er zuvor noch
kläglich. Auch der Aufstieg aufs Pferd erweist sich als mühselige Aktion – schon liegt er wieder auf dem Boden. Es ist
so arg, dass der Betrachter den Malheuren kaum mehr zusehen mag und sich fast schon fremdschämt.
Diese beim Zuschauer hervorgerufenen Gefühle sind ernst
zu nehmen: Durch sie lässt sich die Wichtigkeit dieser Szenen erkennen. Sie zeigen einen Mann, der, in dem er seine
ruchlose Vergangenheit als Auftragskiller zu vergessen und
verdrängen sucht, den Kontakt zu seinem Körper verloren
und damit dessen Funktionsfähigkeit eingebüsst hat.
Erstmals muss ein Unschuldiger sterben
Das Vorhaben, mit seinem alten Freund Ned Logan (Morgan Freeman) nach Jahren des gewaltlosen Farmerlebens für
dringend benötigtes Geld zwei Cowboys zu töten, setzt
Munny mehr zu, als dieser erwartet hätte. Er ist schwach,
sein Immunsystem hält dem unablässigen Regen auf dem
Weg Richtung Big Whiskey nicht stand. Er wird krank, das
Fieber und eine Tracht Prügel bringen ihm fast den Tod, er
muss sich mehrere Tage erholen. Nun lassen sich seine Unfähigkeit, Schweine zu treiben, auf Pferde zu steigen oder
treffsicher zu schiessen, definitiv nicht länger als blosse körperliche Unbeholfenheit abtun. Denn eine physische Erkrankung ist hier auch als Folge einer angeschlagenen und
unausgeglichenen Psyche zu deuten.
Der Film liefert einige Hinweise, dass Munny wohl schon
während seiner Jahre als brutaler Killer unter mentalen Problemen litt, doch offensichtlich hatte er sie damals mit Alkohol betäubt und sie brachten ihm während seiner Zeit als
unfähiger Farmer bloss Armut, nicht Krankheit. Der Ritt
nach Big Whiskey – also die Umsetzung des Plans, für Geld
zu töten – ist zu belastend und bringt das Fass zum Überlaufen. Die Gesundung Munnys führt jedoch, und das vielleicht entgegen der Erwartung auf eine auf diesen Heilprozess folgende Katharsis, (noch) nicht zu einem wiedererstarkten, rachelüsternen Westerner nach genretypischem
Zuschnitt. Im Gegenteil: Es folgt die monumentale Szene,
in der Ned Logan, das Schofield Kid und William Munny
zur ersten Tötung des Films schreiten.
50
Nichts wird in dieser überlangen Szene ausgespart. Der aus
früheren Zeiten als Meisterschütze geltende Logan schafft
es nicht abzudrücken und übergibt das Gewehr an Munny.
Dieser zweifelt, zaudert und zögert, zielt aber dennoch –
und trifft erstmal nicht. Erst beim dritten Schuss verletzt er
den Cowboy mit einer Kugel in den Magen, was diesem einen langwierigen und qualvollen Tod beschert. Die moralische Rechtfertigung solcher Taten, die sich beim traditionellen Westerner situativ herstellte, will hier nicht greifen, sie
verflüchtigt sich. Die Sinnlosigkeit des Mordens und die
Mühe, die es Munny bereitet, sind in Eastwoods Gesicht und
Körpersprache deutlich abzulesen. Er scheint den Akt des
Mordens seinem instinktiv protestierenden Körper und
Geist aufzuzwingen. Pikanterweise ist dies der erste Mord in
Clint Eastwoods gesamtem filmischem Werk überhaupt, bei
dem ein Unschuldiger sterben muss.
Die Rückkehr des funktionierenden Körpers in Unforgiven
bedeutet aber nicht, dass sich William Munny im abschliessenden Rachefeldzug genretypisch verhält. Er erschiesst
mehr oder weniger wahllos Cowboys – ohne diesen überhaupt die Chance zu geben, nach dem Colt zu greifen; dem
wehrlos am Boden liegenden Sheriff versetzt er den Gnadenschuss mitten ins Gesicht. Es ist also nur der funktionierende Körper, der als Körperentwurf gilt. Der gängige Code
des Genres bleibt aussen vor, da sich William Munny um
diesen auch als früherer Killer nie geschert hatte. Dadurch
wird die Figur in ihrer Komplexität nicht eingeschränkt. Als
Munny nach dem Massaker aus dem Saloon tritt, droht er
den draussen lauernden Cowboys, ihre Frauen und Kinder
zu töten und ihre ganze Existenz auszulöschen – sollten diese es wagen, auf ihn zu schiessen; er lässt also jegliche Bedenken aussen vor.
Der Killer kehrt zurück
Nachdem Logan erkennen musste, nicht mehr derselbe
skrupellose Killer zu sein, tritt er unmittelbar die Heimreise
an. Doch Sheriff Little Bill Daggett (Gene Hackman) greift
ihn auf und foltert ihn zu Tode. Als dies Munny zu Ohren
kommt, der den ganzen Film über daran erinnerte, nicht
länger «that kind of killer» aus der eigenen Vergangenheit zu
sein, findet er im Moment der Rache zu sich und seinem
Körper (und dem Whisky) zurück. Er ist «back in full charge
of his abilities» (Tibbetts 2007: 177), wie es Eastwood selbst
beschreibt:
Filme als Selbstporträts
Es lässt sich kaum bezweifeln, dass Unforgiven, bei dem Eastwood gleichzeitig Regisseur war und die Hauptrolle einnahm, als spätes Erbe der Dirty Harry- und Dollar-Filme zu
begreifen ist. Der Film endet denn auch mit der Widmung
«Dedicated to Sergio and Don», womit die beiden Regisseure prägender Eastwood-Filme, Don Siegel (der jedoch lediglich bei Dirty Harry (1971) Regie führte) und Sergio Leone
(Dollar-Filme), gemeint sind. Damit stellt Eastwood Unforgiven selbst in die Tradition dieser Filme und setzt William
Munny in Bezug zu seinen Verkörperungen eines Harry Callahan oder des Man with No Name. Die Dollar-Filme markierten den Beginn von Eastwoods Status als internationaler
Star. Für Eastwoods Image sind diese Filme auch rückblickend prägend – Georg Seesslen (1996: 127) empfindet «seine Western und Polizeifilme als Porträts […], als Selbstporträts».
«[Munny has] thrown a switch or something and now a kind
of machinery was back in action, a «machinery of violence»,
I guess you could say. [...] He’s back in his mode of mayhem.
And he doesn’t care. He’s his old self again, at least for a
moment. [...] Before, he’s been very rusty, having trouble
getting on his horse; he wasn’t shooting very well. He wasn’t
nailing people with the very first shot – like I would do in
my earlier films! Now, when he goes on this suicidal mission,
he’s all machine. He’s not going to do any of this «you draw
first» stuff. He marches in to the saloon and just says, «Who
owns this place?» And then, boom! He not only coldly murders Daggett at point-blank range but shoots some bystanders with no more compunction than someone swatting a
fly. Munny has been protesting all the time that he’s changed,
but maybe he’s been protesting too much.» (Gourlie/Engel
2007: 10)
Bezeichnenderweise benutzt Eastwood die Mensch-Maschine Analogie. Diese würde er wohl auch für seine früheren
Rollen als Harry Callahan in den fünf Dirty Harry-Filmen
(1971-1988) sowie für seinen «Man with No Name» aus Sergio Leones drei Dollar-Filmen (1964-1966) gelten lassen.
Das Körperbild, das William Munny über den grössten Teil
von Unforgiven repräsentiert, ist folglich als Gegenentwurf zu
diesen Rollen und der Mensch-Maschine-Metaphorologie zu
verstehen.
Ist das tatsächlich einer der vornehmsten Eindrücke, die wir
von diesen Eastwood-Filmen haben, so wird deren Bedeutung für Eastwoods Image evident. Es bedeutete nämlich,
dass man gerade bei Eastwoods stilprägenden Western und
Polizeifilmen das Gefühl hätte, dass er sich selbst spiele. Als
Kriterium für ein authentisches Image ist dieser Umstand
von grossem Belang. Das Körperbild suggeriert das SichSelbst-Spielen und damit Authentizität, es verwischt die
Grenze zwischen Werk und Image, macht sie gar nichtig.
Mimik und Gestik werden zur Natur des agierenden Schauspielers selbst; es ist der Schein des Naturhaften, dem für die
Imagebildung entscheidende Bedeutung zugerechnet werden muss. Genau wie William Munny eine gewaltreiche Vergangenheit hat, so hat diese auch die darstellende Starfigur
Clint Eastwood. Unforgiven gibt Eastwood die Möglichkeit,
nicht nur den Western ohne Verurteilung neu und integrativ
zu erzählen, sondern auch sich selbst.
Einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung konnte Eastwood jedoch erst herbeiführen, in dem er für Unforgiven
in das Genre zurückkehrte, das ihn als Star etablierte hatte
expositionen
51
und worin er als sich selbst porträtierend verstanden wird:
den Western. Die Wiederaufnahme der Western-Thematik
allein genügte dafür nicht, denn als Westerner trat er auch
nach den Dollar-Filmen noch unzählige Male auf, zuletzt
1985 in Pale Rider. In diesem Film aber gelingt ihm das Töten noch ohne Zweifel. Es benötigte eine weitere, letzte Demythologisierung, die nur Clint Eastwood leisten konnte:
«Only someone with Eastwood’s track record, his stature as
an icon of the Western, could undo the mythologizing of
the Western to the extent that he does in Unforgiven.»
(Westbrook 2007: 44) Eastwood führt einen Westerner ein,
den eine belastende Vergangenheit umtreibt, die William
Munnys gegenwärtiges Leben bestimmt und aus der es keinen Ausweg gibt. Man könnte Unforgiven gar als «rekonstruierte Erinnerung» deuten, sowohl des Genres wie auch Eastwoods.
Erbärmlicher Schweinehirt vs. ruchloser Killer?
So ist Unforgiven eine unmögliche Erzählung (denn eine abschliessende Erzählung würde unweigerlich zu einer Bewertung des Western-Mythos und der Western-Vergangenheit
führen), da sie die Möglichkeit des Westerns bestreitet und
ihn paradoxerweise gleichzeitig noch ein letztes Mal realisiert. Das sieht Eastwood ähnlich: «I can say that if I was
going to do just one last Western, I think Unforgiven might
be the one.» (Tibbetts 2007: 178f.) Dieser Widerspruch zeigt
sich in der Vereinigung zweier diametraler Körperentwürfe:
Den des im Showdown maschinenähnlich massakrierenden
Killers und den des im Dreck liegenden Schweinehirten.
Zentral ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass
Munny zum Killer ohne Moral wird, sobald er im Besitz eines funktionierenden Körpers ist; sobald er jedoch rechtens
zu leben versucht, beginnt der Leib sich ihm zu widersetzen.
Damit gelingt es Eastwood, sich neu zu erfinden – ohne einen möglicherweise für eine Schauspielerkarriere fatalen
Bruch mit dem alten Image zu inszenieren: Weil er eben
beide gleichwertigen Körperentwürfe in ihrer ganzen Tragweite zeigt und damit in Unforgiven sein eigenes Filmschaffen kritisch reflektiert, ohne es zu verurteilen. Da sich die
beiden Körperbilder nicht ausschliessen, behält Clint Eastwoods Image seine Integrität und erlaubt das gleichwertige
Nebeneinander der Körperentwürfe zudem eine Weiterentwicklung des Images der Starfigur auch durch komplexere
Werke.
Interessanterweise sind die späteren Figuren, die Eastwood
entweder verkörperte oder als Regisseur spielen liess, wie in
Mystic River (2003), Million Dollar Baby (2004) oder Gran Torino (2008), William Munny aus Unforgiven sehr ähnlich. Es
sind Figuren, die sich trotz ihrer belastenden Vergangenheit
mit der Gegenwart zu arrangieren haben. Eastwood hat den
Western also hinter sich gelassen, seinen letzten Westerner
aber mitgenommen.
Einfühlen in kinematographische Körper
Warum funktioniert der Transfer von Images über Körperbilder derart effizient? Gehen wir von der Wahrnehmung
aus, die mittels eines «synthetischen Vorgang[s] [...] Image
und Werk miteinander verschmelzen» und damit die Starfigur entstehen lässt (Hügel 2007: 149), so gehen wir von einem Rezipienten aus, der Bewegungen, Haltungen, Leiden
und allgemein Handlungen des Körpers nachfühlen kann,
auch wenn die Leiber der Schauspieler bloss kinematographische Körper bedeuten. Trotz des Wissens darum, dass
Körperbilder im Film durch das Medium unweigerlich determiniert sind, empfinden wir eine Nähe zum Körper des
Schauspielers; wir halten ihn – kurz gesagt – für Natur, weil
der Körper das ist, was uns Menschen alle verbindet.
Beat Wyss (2008: 14f) versteht den Leib als Resonanzkörper
überhaupt: «Der Körper selbst ist Werkstatt des Denkens; er
schafft dem Denken den Raum sinnlicher Erfahrung. Er ist
Resonanzkörper, der die Welt um mich herum überhaupt
erst entstehen lässt.» Damit kommen wir zurück auf eine
Wahrnehmung, die den (eigenen) Körper bedingt, Bedeutung erst herstellt – und damit für die Einheit von Image und
Werk sorgt.
Gourlie, John; Engel, Leonard 2007: Introduction.
In: Engel, Leonard (Hg.): Clint Eastwood. Actor and
Director. New Perspectives. 1-23
Hügel, Hans-Otto 2007: Lob des Mainstreams. Zu
Begriff und Geschichte von Unterhaltung und
Populärer Kultur
Seesslen, Georg 1996: Selbstbildnis als apokalyptischer
Reiter. In: Ders.: Clint Eastwood trifft Federico Fellini.
Essays zum Kino. 140-153
Tibbets, John C. 2007: The Machinery of Violence:
Clint Eastwood Talks about Unforgiven. In: Engel,
Leonard (Hg.): Clint Eastwood. Actor and Director.
New Perspectives. 171–180
Westbrook, Brett 2007: Feminism and the Limits of
Genre in Fistful of Dollars and The Outlaw Josey
Wales. In: Engel, Leonard (Hg.): Clint Eastwood. Actor
and Director. New Perspectives. 24-48
Wyss, Beat 2008: Den Körper im Blick. Einführung in
das Thema. In: Buschhaus, Markus; Wyss, Beat (Hgg.):
Den Körper im Blick. Grenzgänge zwischen Kunst,
Kultur und Wissenschaft. Symposium Quadriennale 06.
13-17
Alain Gloor hat an der Universität Zürich Populäre Kulturen, Geschichte und Kunstgeschichte studiert (Bachelor) und ist nun mit dem
Masterstudiengang Geschichte und Philosophie des Wissens an
der ETH beschäftigt. Dieser Artikel beruht auf einer Seminararbeit
zum Thema.
52
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Impressum
„Streit im Mittelalter“
-Ringvorlesung FS 2011
redaktion
hannes mangold,
fermin suter,
johannes willi
herausgeber
fachschaft germanistik uni bern
druck
kzub
auflage
hundertfünfzig
preis
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gestaltung
johannes willi
beitragende
claudia bossard,
markus flück,
natascha fuchs,
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hannes mangold,
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stefanie nydegger,
julian reidy,
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© expositionen, zweitausendzehn
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Behandelt werden Konstellationen, Szenarien und konkrete Beispielfälle, in denen mittelalterliche Konflikte ausgetragen wurden. Zur Sprache kommen dabei Auseinandersetzungen mit eskalierender Gewalt, aber auch Konfliktformen, die nach bestimmten Regeln ablaufen, etwa im
Turnier, in der universitären Disputatio oder in der literarischen Gestaltung des Streitgedichts.
Frühjahrssemester 2011, Universität Bern,
Hauptgebäude Hörsaal 220,
Donnerstags 17-19 Uhr
einige bücher soll man schmecken,
andere verschlucken und einige wenige
kauen und verdauen.
Francis Bacon
BUCHHANDLUNG UNITOBLER 031 631 36 11
EXPO
SITI
ONEN
Wissenskultur
und
Informationsaustausch
/
Frühling
2010
/
Ausgabe
1
Impressum
Redaktion
Hannes Mangold,
Fermin Suter,
Johannes Willi
Herausgeber
Fachschaft Germanistik der Uni Bern
Druck
Kopierzentrale Uni Bern
Aulage 150 Ex.
Preis CHF 2.Beitragende
Sanna Frischknecht,
Michael Hauri,
Tamara Hügli,
Marie-José Kolly,
Hannes Mangold,
Thilo Mangold,
Simon Meier,
sm,
Julian Reidy,
Fabian Saner,
Linus Schöpfer,
Stefan Schröter,
Ursina Wälchli
Gestaltung
Johannes Willi
Bilder
Michael Hauri
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expositionen
Editorial
Geneigte Leserin, geneigter Leser
In Deinen Händen hältst Du die erste Ausgabe von expositionen.
Du indest hier Texte, die ein Thema behandeln oder erst umreissen, von einem Forschungsprozess berichten, einen Versuch
dokumentieren, erarbeitete Informationen weitergeben wollen; sie alle gingen hervor aus irgendeiner Form wissenschaftlicher Auseinandersetzung.
Die präsentierten Themen sind kulturwissenschaftlich orientiert, jedoch voneinander unabhängig und folgen keiner vorgegebenen Linie, den Artikeln ist gemeinsam, dass sie fachspeziisches Wissen in kurzer und dabei verständlicher Form vermitteln sollen.
Die Autoren – Studierende wie Absolventen – gehören verschiedenen Fachrichtungen an und ihre Texte stellen eine kleine
Auswahl aus jenen Wissensbeständen dar, die an der Uni fortlaufend generiert, grösstenteils aber wenig beachtet werden
oder unsichtbar bleiben.
Mit diesem Panorama von unterschiedlichen Disziplinen, Interessen und Vorgehen möchte expositionen dazu beitragen,
das Interesse an der akademischen Vielfalt zu wecken oder zu stärken und das so oft angestrebte Produkt universitären
Schaffens, die Erkenntnis oder zumindest Einsicht, etwas zu verbreiten und zu bewahren.
Wir danken deswegen herzlich allen, die sich in irgendeiner Form an der Entstehung dieses Magazins beteiligt haben.
Die Redaktion
Inhaltsverzeichnis
Wahre Artenvielfalt. Eine Ethnographie des Mensch-Wolf-Kollektivs in den Schweizer Alpen
Fabian Saner
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) begreift Handlungsfähigkeit als keine rein menschliche Eigenschaft, sondern schreibt sie auch
Objekten, Tieren, Planzen zu. Diese stellen, ebenso wie Menschen, „Akteure” dar und bilden mit diesen Kollektive. Ein solches Kollektiv,
dasjenige von Menschen und Wölfen in den Schweizer Alpen, wird hier anhand der ANT neu beschrieben.
Seite 4
Beleidigungen. Wie erklärt man die verletzende Kraft von „Worten”?
Simon Meier
Wie lassen sich die beleidigenden Aspekte von Sprache analysieren? Bestimmt der Code einer sozialen Gruppe, welche Worte verletzen, ist es
der Kontext der Rede-Situation, oder gar beides? Diese Fragen werden hier beantwortet, indem auf die Relevanz der Gesprächsanalyse für die
Beleidigungsforschung hingewiesen wird.
Seite 7
Sprachinsel Jaun unter Diphthonglut. Analyse der Erhebungsmethoden der Dialektologie
Marie-José Kolly
Der freiburgische Dialekt Jaun wird bisweilen auch von Personen benachbarter Gebiete nicht verstanden oder mit anderen Dialekten
verwechselt. Auf die lautlichen Charakteristika dieses Dialekts wird hier eine neue, zweisprachige Befragungsmethode angewandt, um die
Verteilung von Mono- und Diphthongen, welche die Eigenheit des Jaundeutschen ausmacht, zu untersuchen.
Seite 9
Höchste Lust (und etwas Totschlag)
Linus Schöpfer
Die Opernmusik Richard Wagners löste intellektuelle Erschütterungen aus, die tief ins 20. Jahrhundert nachwirkten. Die literarische
Beschäftigung mit Wagner teilte sich um 1900 in einen ästhetizistischen „Wagnerismus” und einen dogmatisch-ideologischen
„Wagnerianismus”. Über Thomas Mann einerseits, über Arthur Schnitzler andererseits vergleicht und kontextualisiert die vorliegende Arbeit
die beiden Rezeptionsweisen.
Seite 12
Ein Goldfund bei Benn. Volkswirtschaftliche Topoi in der Lyrik Gottfried Benns
Hannes Mangold
Die komparatistische Benn-Forschung wird dominiert durch den Fokus auf humanwissenschaftliche Theoreme; darob werden
sozialgeschichtliche Aspekte wie Benns Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Diskurs der Zeit vergessen. Eine Analyse, welche das
anthropologische und ökonomische Wissen Benns in ihrer Wechselwirkung beschreibt, skizziert der vorliegende Artikel.
Seite 14
Des Bahnhofs neue Kleider? – Bahnhofsaufwertung seit den 1990er Jahren
Sanna Frischknecht
Seit den 1990er Jahren sind Bahnhöfe zunehmend Objekt von Aufwertungsstrategien. Ihr prekärer Status als sozialer Brennpunkt wird
dabei umgedeutet; ökonomische und politische Proilierung soll dabei die positive Bedeutung von Bahnhöfen für den öffentlichen Raum
etablieren.
Seite 16
Acht Mistgabeln Österreich oder ein Pamphlet wider besseren Wissens
Carte Blanche
Der Autor greift zur Mistgabel und vergeht sich rücksichtslos am vorgefundenen Misthaufen Österreich und dessen Literatur, um darin zu
wühlen und Wunderliches sowie Bedenkenswertes zutage zu fördern.
Seite 18
expositionen
c
Wagnis ohne Erkenntnis. Ein Blick auf Christian Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und
im Schatten”
Julian Reidy
Von vielen Kritikern gelobt, wird Krachts Werk gar als „der grosse Schweiz-Roman” gehandelt. Was zeichnet diesen Roman aber neben
seinem souveränen Spiel mit Zitaten und seiner einnehmenden Sprache aus? Der Artikel nimmt den Anspruch, den der Text an sich selbst zu
stellen scheint, ernst und sucht nach Qualitäten jenseits der glänzenden Oberläche.
Seite 21
„Der Löwe besteht aus verdautem Schaf ”. Zur Antikenrezeption im Mittelalter
Tamara Hügli
Die Kontinuität antiker Strukturen bemühte im Mittelalter nicht nur die politische Macht zur Selbstlegitimation, auch das kulturelle
„Wissen” machte sich den Status ihrer Vorgänger auf äusserst kreative und vielfältige Weise zunutze. Hier werden beide Stränge verbunden
und ein Überblick über die Antike im Mittelalter gegeben.
Seite 24
Ein Tempel ist wie eine Waschmaschine: Die religiöse Organisation der indischen Hindus in der Schweiz
Ursina Wälchli
Im Gegensatz zu den tamilischen verfügen die indischen Hindus in der Schweiz nicht nur über einen sehr niedrigen Organisationsgrad sondern
auch über keinen einzigen Tempel. Über qualitative Interviews sowie die historische und soziokulturelle Kontextualisierung identiiziert die
vorliegende Studie Gründe für diesen Umstand.
Seite 27
Von „Grillen-” und „Bremsenreitern”. Erstaunliche Parallelen zwischen Adalbert Stifters „Waldsteig” und
Christoph Martin Wielands „Don Sylvio”
Stefan Schröter
Die auf den ersten Blick wenig intuitive Verbindung zwischen Stifters Erzählung ,Der Waldsteig’ und Wielands Roman ,Don Sylvio’ wird
hier überzeugend aufgezeigt. Zwischen den Hauptiguren, einem neurotischen Hypochonder hier, einem romantischen Schwärmer da, ergeben
sich Parallelen, die als Ausgangspunkt für die Verortung der Erzählung Stifters im anthropologischen Diskurs der Zeit dienen können.
Seite 30
Mehr Gewalt? Mehr Aufmerksamkeit! Eine soziologische Untersuchung im gesellschaftlichen Subsystem Fussball
Thilo Mangold
Gehören Fussball und Gewalt zusammen? Aus einer Serie qualitativer Interviews leitet die vorliegende Studie ab: Wo politisch und medial
eine Relation polemisch negiert wird, ist, sozio-historisch betrachtet, ein Einhergehen offensichtlich, denn Gewalt und Fussball sind verknüpfte
Teile eines dynamischen Kultursystems.
Seite 32
zu letzt
Michael Hauri
Ein fotograischer Blick auf den Modernisierungsprozess in der Mongolei.
Seite 34
Wahre Artenvielfalt
Eine Ethnograie des Mensch-Wolf-Kollektivs in den Schweizer Alpen
Fabian Saner
M
enschen, Objekte, Tiere und Planzen werden in der Akteur-Netzwerk-Theorie
(ANT) nicht als getrennte Einheiten betrachtet, sondern als Assoziationen in einer
einzigen Sozialwelt begriffen. In diesen Kollektiven ist Handlungsfähigkeit keine rein
menschliche Eigenschaft, sondern wird auf verschiedene „Akteure” verteilt. Dieser
Beitrag versucht, ein solches Kollektiv, dasjenige von Menschen und Wölfen in den
Schweizer Alpen, mit den Mitteln der ANT neu zu beschreiben.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) gilt als eine der wichtigsten Entwicklungen im Feld der neueren Gesellschaftsund Sozialtheorien. Entstanden aus der empirischen Wissenschafts- und Technikforschung, hat sie sich inzwischen
als eigenständige Position etabliert, die über soziologische
Betrachtungsweisen hinausgeht und sich mit Verhältnissen
von Menschen und nicht-menschlichen Wesen, Gesellschaft
und Wissenschaft, Technik und Natur auseinandersetzt. Die
Akteur-Netzwerk-Theorie fordert eine radikal veränderte
Sichtweise auf diese Verhältnisse ein: Handlungsfähigkeit
soll nicht mehr nur Menschen, sondern auch Artefakten zugeordnet werden können. Menschen wie nicht-menschliche
Dinge sollen als soziale Akteure behandelt werden, die in
Netzwerke eingebunden sind, aus denen sich ihre Handlungsfähigkeit oder Handlungsunfähigkeit erst ergibt. Die
Aufteilung der Welt in abgeschlossene Sphären von Natur
und Kultur, Individuum und Gesellschaft, Subjekt und Objekt, wird als Deutungsmuster einer immerzu dualistisch
operierenden Moderne abgelehnt und zugunsten einer Vermischung und Vermengung von Menschen und nichtmenschlichen Dingen aufgegeben.
Legitimation und Erklärungskraft zieht die ANT vor allem
aus empirisch gewonnenen Erkenntnissen: Mittels ethnologischer teilnehmender Beobachtung lässt sich registrieren,
dass die Unterscheidung zwischen (objektiven) „Tatsachen”
und (subjektiven) „Werten” in der Praxis von den Akteuren
immer wieder unterlaufen wird. Weder ist die Natur ein rein
objektives unveränderliches Aussen noch ist die Gesellschaft
ein nur auf geteilten Werten stehender Zusammenschluss
freier Individuen. Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte bilden Mischwesen,
techno-soziale-semiotische Hybride, die sich in dauernd der
Veränderung unterworfenen Netzwerken organisieren. Die
Akteur-Netzwerk-Theorie postuliert, dass Reinigungsverfahren, die diesen Realitätsmix auftrennen und daraus Kon-
strukte wie „Natur”, „Ich”, „Gesellschaft” usw. herauspräparieren, nie als solche sichtbar und hinterfragbar gemacht
worden sind. In der Beschreibung von Akteuren und Netzwerken sollen diese grundlegenden Trennungen ihre bisherige Selbstverständlichkeit verlieren und durch die Analyse
permanent praktizierter Vermischungen, Hybridisierungen
und dynamischer Verteilungen des Handelns auf unterschiedlichste und nicht nur menschliche Träger ersetzt werden. Damit wird ein ambitiöses erkenntnis- und kulturtheoretisches Programm entworfen, das sich aufgrund seiner
Radikalität und seines holistischen Anspruchs in eine Reihe
mit postmodernen Sozialphilosophien stellen lässt.
Es sind empirische Beobachtungen, die veranschaulichen
sollen, wie sich die Sozialisierung in einem „Parlament der
Dinge”, einer sozialen Gemeinschaft von Menschen und
nicht-menschlichen Dingen, in der Praxis vollzieht. Die Akteur-Netzwerk-Theorie betrachtet die Welt dabei aus der
Laborperspektive: Das Soziale wird als Inszenieren und Bestehen von Prüfverfahren verstanden. Um Mitglieder einer
„Gesellschaft” zu werden (im Sinne eines Kollektivs von
Menschen und nicht-menschlichen Dingen), müssen Akteure soziale Leistungen erbringen. Das verändert zwangsläuig die Positionen derjenigen, die bereits in Netzwerke
eingebunden sind und rekombiniert auch die Netzwerke
selbst. Akteure und Netzwerke interagieren und „übersetzen” sich permanent, ordnen sich in Positionen und Verbindungen, die das Gefüge stabilisieren oder es auseinander
fallen lassen. Kollektive werden gebildet oder aufgelöst, Akteure neu eingeführt, umdeiniert oder aus dem Netzwerk
entfernt. Dabei strahlt kein Zentrum auf eine Peripherie aus
– die Übersetzungsprozesse verlaufen multilateral und sind
als netzwerkeigene Dynamiken zu begreifen. Anhand der
Spannungen und Kontroversen, die in Ein- und Ausschlüssen sichtbar werden, lassen sich die Akteure wie die Netzwerke beschreiben. Ziel dieser Beschreibungen ist letztlich,
expositionen
die Subjekt-Objekt-Unterscheidung zu umgehen – zugunsten einer nicht-reduziblen Verlechtung von Menschen und
nicht-menschlichen Wesen, die immer schon da war.
Vom Rotkäppchen-Wolf zum Biosphärenmanager
Eine ethnograische Darstellung des Kollektivs von Menschen und Wölfen in den Schweizer Alpen soll nun kurz die
Potenziale illustrieren, die diesem Ansatz eigen sind. Über
Jahrhunderte hinweg wurde der Wolf aus dem Kollektiv der
Alpenbewohner ausgeschlossen: Real, indem er mit Gewehren und Fallen bekämpft und getötet wurde, bis er Ende des
19. Jahrhunderts ausgerottet war; symbolisch, indem er in
tradierten Legenden und Märchen als gerissener Räuber und
wichtigster natürlicher Feind menschlicher Interessen – und
der Lebensgemeinschaft von Menschen und Nutztieren (v.a.
Schafen) – alteriert wurde. Seit einigen Jahrzehnten erfährt
dieses lange Zeit sehr stabile Kollektiv eine allmähliche Umgruppierung. Neue Verknüpfungen beginnen, mit den traditionellen zu konkurrieren: Natur- und Umweltschutz werden
nicht mehr rein konservatorisch und restaurierend verstanden, sondern als aktives Management einer (auch ökonomisch produktiv zu machenden) Artenvielfalt von Fauna
und Flora. Dadurch verändern sich die gegenseitigen Verschränkungen von Natur und Kultur – der Wolf wird nicht
mehr ausschliesslich als (ökonomischer) Schadenstifter belangt, sondern soll auch als (ökologische) Ressource nutzbar
gemacht werden: Für den Tourismus, für die „Balancierung”
des ökologischen Gleichgewichts (indem er den Wildtierbestand mitreguliert), als Symbol und Garant eines neuen,
„nachhaltigen” Umgangs mit der Natur bzw. der Wiedereinführung „authentischer”, „einheimischer” Fauna. Der Rotkäppchen-Wolf tritt ab zugunsten des Biosphärenmanagers
Wolf. Herdenhalter und Jäger, Schafe und Gämsen werden
durch diese Diskursverschiebungen gezwungen, sich neu
auszurichten – dadurch entfachen sich die Kontroversen
rund um die Neugruppierung der Mitglieder des Kollektivs.
Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen.
Auf der politischen und juridischen Ebene entspinnt sich ein kompliziertes Netz von internationalen Übereinkommen, nationaler Gesetzgebung und technischen Ausführungsverordnungen, die alle Akteure in einen gemeinsamen Raum der
Verhandlung zwingen – denn etwas ist bei allen Kontroversen nicht (oder kaum) mehr denkbar: Weder dürfen die Jäger
und Schafzüchter zur Selbstjustiz greifen und die allmählich
einwandernden Wölfe abschiessen, noch dürfen die Wölfe
unkontrolliert ganze Gebiete kolonisieren. Diese ‚einfachen’
Lösungen werden ersetzt durch ein Gelecht von Entschädigungsbestimmungen (Entschädigung von Schafzüchtern
bei Wolfsrissen), Präventionsmassnahmen (Schutz der
Schafherden, aktive Behirtung alpiner Schafsömmerungsgebiete usw.), Abschussregimen („besonders” schadenstiftende
Wölfe dürfen unter gewissen Kriterien von dazu Berechtigten abgeschossen werden) und Verboten (illegale Abschüsse gelten als Wilderei). Aber auch die Wölfe choreograieren diese politisch-juridischen Handlungsprogramme mit:
Teilweise tauchen sie unter und reissen keine Schafe mehr,
sobald Abschussbewilligungen vorliegen; teilweise haben sie
sich an die neuen Kollektivbestimmungen bereits so afili-
iert, dass sie nur noch Wildtiere reissen und damit der ihnen
zugeteilten Kollektivposition des „Biosphärenmanagers”
gewissenhaft nachkommen (so etwa ein Wolf, der seit acht
Jahren praktisch unsichtbar – und damit bestens ins Kollektiv integriert – in der Bündner Surselva herumstreift).
Nicht nur juridisch-politisch wird das Kollektiv neu entworfen; auch wissenschaftliche Handlungsprogramme werden herangezogen und verändern gleichzeitig sich selbst wie die
Mensch-Wolf-Beziehungen in den Alpen: Weil die Präsenz
des Wolfs nicht mehr pauschal abgelehnt, sondern unter
speziischen Umständen erduldet wenn nicht erwünscht ist,
muss die Frage nach der Zahl und dem Ort geklärt werden.
Wissenschaftliche Handlungsweisen und Übersetzungsprogramme helfen mit, aus weit herumstreifenden Wölfen stabile, beobachtbare und nachvollziehbare „Wolfseinheiten”
zu konzipieren. Da der Wolf auf die „starken” Fragen der
Menschen nach seiner Präsenz meist nur „schwache”, sicher
aber uneindeutige Antworten liefert (Kot, Wolfsheulen, Spuren im Schnee, gerissene Schafe usw.), sind wissenschaftliche
Assoziationsweisen geeignet, ein Übersetzungsprogramm zu
liefern, das die Wölfe in einer interpretierbaren Weise zum
„Sprechen” bringt und deren Anwesenheit an Orte und Räume zu binden vermag. Damit wird die Unsicherheit über die
Zusammensetzung des Kollektivs gemindert. Die Wissenschafter verfolgen aber nicht nur die Spuren der Wölfe; die
Wölfe assoziieren ebenso wissenschaftliche Zusammenarbeit und wissenschaftliche Methoden neu. Weil die Wölfe
grenzüberschreitend herumwandern, schliessen sich Forschergruppen aus dem ganzen Alpenraum zusammen, um
über ihre je unterschiedlichen Methoden der Visualisierung
von Wolfsspuren zu debattieren und in einem Aushandlungsprozess diese schliesslich zu symmetrisieren. Weil die
Wölfe sich im ganzen Alpenbogen bewegen, werden nicht
nur die Verwaltungsgrenzen innerhalb der Schweiz neu gezogen und auf die Wanderrouten des Wolfs formatiert, sondern Italien, Frankreich und die Schweiz gleich als einheitliche geographische Zone behandelt. Weil sich die Wölfe
schliesslich auch nicht an national eingeschliffene Kulturen
soziobiologischer Forschungsmethodik halten, werden auch
diese in kontroversen Diskussionen modiiziert. Die Wölfe
mobilisieren als Akteure also ebenso die Innovationskraft
mit ihnen verknüpfter Akteure wie umgekehrt.
Wie zusammenleben?
Die Bewegungen des Wolfs choreograieren die wissenschaftliche Interaktion, die kartographischen Praxen, die
rechtlichen Setzungen, die ökonomischen und ökologischen
Diskurse und die politischen Aushandlungsprozesse mit.
Andererseits bestimmen bewachte oder unbewachte Schafherden, das Reservoir an Wildtieren, aufgebotene Jäger oder
die Besiedlungsdichte in den Schweizer Alpen auch die Performance des Wolfs. Dies zeigt sich verdichtet im „Konzept
Wolf ” des Schweizer Bundesamts für Umwelt, wo exemplarisch die multilateralen Verknüpfungen, in denen die verschiedensten Akteure ihre Existenz stabilisieren, ersichtlich
werden. Dieses Papier ist die Transformationsstelle, durch
das alle Akteure zirkulieren, deren Handlungsfähigkeit in
diesem speziischen Mensch-Wolf-Kollektiv ausgewiesen ist.
In Form allseitiger Verbindlichkeit bildet das „Konzept
Wolf ” einen Passagepunkt, den alle Interessen und Motivationen hinsichtlich des Ziels gemeinsamer Koexistenz zu
durchlaufen haben und der diese festschreiben und in praktikable Handlungsroutinen überführen soll. Sobald die „Verinnerlichung” in der Handlungsroutine erreicht ist, könnte
man im Sinn der Akteur-Netzwerk-Theorie von einer „stabilisierten Gesellschaft” aus Menschen und Wölfen sprechen: Ihre Interaktionsmuster entsprächen immer den ixierten Handlungsprogrammen, das Gefüge des Kollektivs
wäre zu „Technik” geworden: Geschlossenen und programmierten Reaktionsschlaufen, deren Verlauf gegeben ist.
Handeln wäre in voraussagbare Routine-Praxis überführt.
Nun verhält sich dieses speziische Kollektiv aber nicht entlang solcher Stabilisierungspfade: Das „Konzept Wolf ” und
die darin formulierten Handlungsanweisungen bieten lediglich die Szene für eine Reihe von Machtproben, deren Ergebnis die Stabilisierung der Kontroversen und die Solidität
der darin eingeschriebenen Vorannahmen unter Beweis stellen soll – oder deren Verwerfung und eine damit verbundene
neuerliche Deregulation der Akteure. Der Schutz des Wolfs,
der Schutz der Artenvielfalt der Wildtiere, der Erhalt der
traditionellen Tierhaltung in den Alpen und das Jagdrecht
sollen auf gleicher Stufe verhandelt werden, obwohl sie einander diametral widersprechen. Durch die oben geschilderten Verknüpfungen werden sie auf das Ziel der gemeinsamen Koexistenz verplichtet – mit den Mitteln der
Dissidenz kann aber auch jeder Akteur aus dem Kompromiss ausbrechen und seine Ziele für absolut setzen, was die
Verknüpfungen wiederum destabilisiert, aulöst oder neu
koniguriert. Ein kleines Gedankenspiel zeigt solche Potenziale für Dissidenz schnell an: Die Jäger können sich verselbstständigen, indem sie die Wölfe ohne Bewilligung abschiessen; die Umweltschützer, indem sie Wölfe illegal aussetzen; die Wölfe selbst, indem sie rudelweise einwandern
und vor allem Schafe reissen; die Schafe, indem sie Krankheiten auf Wildtiere und Wölfe übertragen; die Wissenschafter, indem sie Aussagen über die maximale Besiedlungsdichte und „Zumutbarkeit” von Wölfen einbringen
und nicht „nur” Daten liefern; die Politiker bzw. die Bürger,
indem sie grosse neue Naturpärke errichten, in denen sich
die „Natur” „frei” entfalten kann; die Demographie, die in
gewissen Tälern durch Abwanderung neue Wildtiergebiete
ohne Menschen schafft usw. Diese Aulistung zeigt mögliche
zukünftige Interventionen an und veranschaulicht die Dynamik, denen eine Beschreibung unter den Prämissen der Akteur-Netzwerk-Theorie zu folgen hat.
Stabile Gesellschaft indet sich erst am Ende
Seit rund drei Jahrzehnten sind eine Vielzahl neuer Akteure
hinzugekommen, die das Interaktionsverhältnis zwischen
Menschen und Wölfen grundlegend reformiert haben: Ressourcendenken, Rote Listen, internationale Naturschutzabkommen und nationale Ausführungsgesetze, Ökosystemforschung, ökologisches Management der Natur, Balance-Metaphern, Entvölkerung der Alpen, Umweltschutzlobbys,
Meinungsumfragen, soziobiologische Forschung, eine grosse Beutetierpopulation, Kompensationszahlungen usw. Eine
Beschreibung unter dem Siegel der Akteur-Netzwerk-Theorie hat solche Akteure „symmetrisch” zu beschreiben, d. h.
einerseits keine unterschiedlichen Vokabulare anzulegen, andererseits nicht zwischen Diskursen, Tieren, Menschen oder
Dingen zu hierarchisieren. Mit dem Vokabular der ANT lassen sich Prozesse der Übersetzung, der Performanz von
Handlungszusammenhängen neu und anders sichtbar machen. Das Begriffsarsenal der ANT eröffnet in seiner Widerständigkeit gegenüber eingeschliffenen sozialwissenschaftlichen Begriffsgebäuden zudem eine kritische Perspektive
auf die Haltbarkeit von Erklärungsmustern, die mit einseitigen Determinismen operieren und in alten Dualismen verhaftet bleiben. Welche Akteure sich in diesem Fall gegenüber
anderen durchsetzen und ob sich eine stabile Hierarchie mit
festgefügten Positionen herausbildet, ist derzeit nicht absehbar. Performative Handlungen können das Mensch-WolfKollektiv jederzeit neu konigurieren. Oder in den Worten
Bruno Latours, des pointiertesten und berühmtesten aller
ANT-Vertreter: „Gesellschaft indet sich am Ende des kollektiven Experimentierens, nicht am Anfang, nicht bereits
ix fertig vorhanden.◊
Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.) 2006: ANThology.
Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie
[Sammlung der wichtigsten empirischen und theoretischen
Artikel, von Ende 70er- bis Ende 90er-Jahre]
Latour, Bruno 2007: Eine neue Soziologie für eine neue
Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie
[Die Summa aus dreissig Jahren Forschung, empfehlenswert als
Einführung]
Callon, Michel 2006 (1986): Einige Elemente einer Soziologie
der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der
Fischer in der St. Brieuc-Bucht.
In: Belliger/Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes
Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. 135-174
[Anwendungsorientiert]
Latour, Bruno 1996: Der Pedologen-Faden von Boa
Vista. Eine photo-philosophische Montage. In:
ders. (Hg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers
der Wissenschaften. 191-248. [Latour begleitet Bodenkundler
in den brasilianischen Amazonas und verfolgt die Kette
der Wissensproduktion – von der Bodenprobe bis zum
gefestigten Wissen in Buchform]
Kneer, Georg/Schroer, Markus et al. (Hg.) 2008: Bruno
Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen
[Kritische Beiträge und Weiterentwicklungen der ANT]
Fabian Saner hat Germanistik und Geschichte an der Universität
Bern studiert (Bachelor) und studiert im Master Kulturanalyse und
Sozialgeschichte an der Universität Zürich. Dieser Essay beruht auf
einer Seminararbeit zum Thema.
expositionen
Beleidigungen
Wie erklärt man die verletzende Kraft von „Worten”?
Simon Meier
Z
weifellos kann man mit Worten verletzen, und Beleidigungen sind hierfür das Paradebeispiel. Doch
spätestens bei der Frage, wie man die verletzende Kraft von Worten erklärt, welche Variablen man
berücksichtigen muss und wie man sich diesen Prozess genau vorzustellen hat, gehen die Meinungen
in den Disziplinen auseinander.
Der Sohn einer Terroristenhure sieht rot
Es war wohl der größte Aufreger des Finales der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Berlin: In der 109. Minute streckte der
französische Weltstar Zinédine Zidane seinen italienischen
Gegenspieler Marco Materazzi mit einem Kopfstoß nieder
und sah dafür die rote Karte. Ein schmachvoller Abgang,
hatte er doch lange zuvor angekündigt, dass dieses Finale das
letzte Spiel seiner glanzvollen Karriere sein sollte.
Was war geschehen? Die Zeitlupen ließen erkennen, dass
Materazzi Zidane nur ein wenig am Trikot gezupft hatte. Als
Materazzi aber dem bereits weggehenden Zidane etwas zurief, machte dieser kehrt und streckte den Beleidiger nieder.
Denn dies war die einzige Erklärung, die die Öffentlichkeit
für Zidanes Verhalten inden konnte: Nur eine Beleidigung
konnte einen Spieler wie ihn zu so etwas getrieben haben.
Und nun begann das große Rätselraten: Was hatte Materazzi gesagt? Neben Eckdaten aus Zidanes Lebensgeschichte
(denn die Beleidigung musste ihn persönlich schwer getroffen
haben) wurden auch Materazzis Lippenbewegungen als Beleg für die ihm zugeschriebenen Äußerungen herangezogen.
Unter Berufung auf professionelle Lippenleser berichteten
kurz darauf englische Boulevardzeitungen, dass Materazzi
Zidane den „Sohn einer Terroristenhure” genannt hatte.
Dies schien den Aussetzer des Sohnes algerischer Einwanderer zu erklären. Und noch bevor Materazzi mit seiner Version herausrückte, veröffentlichte er selbst ein Buch „Was
ich wirklich zu Zidane gesagt habe”, in dem er 249 mögliche
Beleidigungen aulistete, gegen die sich im Übrigen der tatsächliche Wortlaut reichlich harmlos ausnimmt.
Verletzende „Worte”?
Der Fall Zidane zeigt einen Aspekt, der unseren üblichen
Blick auf Beleidigungen auszeichnet, besonders deutlich:
Man ist geneigt, die verletzende Kraft von Beleidigungen
vornehmlich in den Worten zu suchen, „weil unsere Worte
mehr als unsere Taten die Menschen erzürnen”, wie schon
Jean Paul wusste. Wenn wir anderen davon erzählen, dass wir
beleidigt wurden, so geben wir den Wortlaut der vermeintlichen Beleidigung wieder. Und wie Historiker bei der Untersuchung von Gerichtsakten festgestellt haben, ist es bei
Beleidigungsklagen zumeist das Aussprechen von Schimpfworten, das die Kläger als das eigentliche Vergehen anprgern.
Verschiedene Rechtsquellen zeigen, dass beleidigende Äußerungen sogar nach Schweregrad differenziert und mit einem
ixen Strafmaß belegt wurden.
Diese Umstände legen eine Theorie der Beleidigung nahe,
die sich in etwa so fassen ließe: Unter Menschen mit bestimmter Gruppenzugehörigkeit gilt ein bestimmter Ehrenkodex. Dieser legt wie ein Code die Bedeutungen bestimmter Worte und Handlungen bezüglich der Ehre fest, so dass
etwa unter Jugendlichen die Anrede „Alter” akzeptabel, unter sich fremden Erwachsenen hingegen eine Beleidigung
wäre. Gegenüber kirchlichen Würdenträgern ist ein Handkuss eine angemessene Ehrerbietung, einer Bankangestellten
würde man so wohl zu nahe treten. Eine Äußerung oder
Handlung wird also dadurch zu einer Beleidigung, dass sie
mit dem Ehrenkodex kollidiert und demzufolge eine ehrverletzende Bedeutung hat.
Wodurch werden Worte verletzend?
Nun mag es aus der Außenperspektive und aus großem zeitlichem Abstand (schließlich ist diese Theorie im Sinne einer
Konzeptualisierung von Ehre als Code vor allem von Historikern vertreten worden) tatsächlich so erscheinen, als ob ein
Ehrenkodex die Bedeutungen so festlegt, dass allein eine mit
ihm kollidierende Äußerung diese zur Beleidigung macht.
Doch wenn man die Perspektive der Beteiligten einnimmt,
werden schnell zwei entscheidende Mängel dieser Theorie
deutlich:
Erstens gerät hier der bedeutungsprägende Einluss der Absicht sowie der Situation aus dem Blick. So ist es offenkundig
ein Unterschied, ob eine Äußerung mit beleidigendem Inhalt
absichtlich ausgesprochen wurde, oder ob der vermeintlich
Beleidigende gar nicht wusste, dass seine Äußerung in der
jeweiligen Situation eine beleidigende Bedeutung hat – ein
Umstand, der aus zahlreichen Anekdoten über letztlich mit
Humor genommene Missverständnisse in interkultureller
Kommunikation bekannt sein dürfte. Wie sehr die verletzende Kraft von Beleidigungen von der Situation abhängt,
in der sie geäußert wurde, zeigt zum Beispiel der Fall Joschka Fischer, der zum damaligen Bundestagspräsidenten
Stücklen „Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch” sagte. Hier war es nicht nur die Bedeutung des Wortes
Arschloch allein, sondern vor allem die Tatsache, dass dieses
Wort im Bundestag vom Rednerpult (und nicht etwa von der
Zuschauertribüne) herab ausgesprochen wurde. Der Begriff
des Ehrenkodexes, der die ehrbezogenen Bedeutungen von
Äußerungen eindeutig und unabhängig von Absicht und Situation festlegt, erweist sich also als zu starr.
Zweitens hängt es auch von den Einschätzungen und Reaktionen des Angegriffenen ab, ob das Geschehene eine Beleidigung darstellt oder nicht. So sei noch einmal an die Missverständnisse in interkultureller Kommunikation erinnert: Das
unangemessene Verhalten des Fremden kann dadurch entschärft werden, dass die Einheimischen hölich über den
Fauxpas hinwegsehen. Doch auch bei klar als absichtlich erkennbaren Beleidigungen gibt es die Möglichkeit, sich nichts
anhaben zu lassen. „Du kannst mir gar nichts!” sagen Kinder
bisweilen – und nicht nur diese: So meinte der deutsche Europaabgeordnete Martin Schulz, der vom italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi öffentlich mit einem KZ-Aufseher verglichen worden war, es gäbe Menschen, die könnten
ihn gar nicht beleidigen. Umgekehrt kann es vorkommen,
dass erst an der beleidigten Reaktion des Gegenübers deutlich wird, dass er eine überhaupt nicht als Angriff intendierte Äußerung dennoch als Beleidigung aufgefasst hat.
Vom Reiz zur Reaktion
All diese Beobachtungen, die auch Anthropologen bei verschiedenen Gesellschaften machen konnten, zeigen, dass es
vor allem die Reaktion ist, die eine Äußerung zu einer Beleidigung macht. Die in der Reaktion zum Ausdruck kommende Deutung der Äußerung entscheidet darüber, ob sie in der
entsprechenden Situation für die Beteiligten als Beleidigung gilt
oder nicht. Wäre Zidane im WM-Finale einfach weitergegangen, so wäre Materazzis Äußerung in der Tat nur einer
von solchen Sätzen gewesen, „wie sie auf einem Fußballplatz ständig zu hören sind” – so nämlich hatte sich Materazzi zunächst gerechtfertigt. Erst Zidanes heftige Reaktion
hat ihn zu einer Beleidigung und als solche erkenntlich gemacht. Weniger der Ehrenkodex bestimmt also die verletzende Bedeutung von Beleidigungen als vielmehr die individuellen und in entsprechenden Reaktionen zum Ausdruck
gebrachten Deutungen der Beteiligten selbst.
Natürlich ist auch die Reaktion auf die Reaktion entscheidend: Reagiert der andere auf meine eigentlich harmlose
Äußerung beleidigt, so kann ich ihn zu beschwichtigen versuchen, indem ich ihn darauf hinweise, er habe da etwas in
den falschen Hals bekommen. Diese Gegenreaktion, in der
meine Deutung der Situation zum Ausdruck kommt, kann
der andere annehmen, wodurch das Gleichgewicht wiederhergestellt ist, oder zurückweisen, was weitere Klärungsversuche nach sich ziehen würde. Diese Art von Dialogen hat
der Soziologe Erving Goffman als korrektiven Austausch
bezeichnet und darauf hingewiesen, dass das, als was ein
Ereignis für die Beteiligten selbst gilt, z.B. als peride Beleidigung oder lediglich als ungeschickter Fauxpas, durch eben
solche Dialoge vermittelt wird. Es sind solche sich an Beleidigungen anschließenden Dialoge, in denen die Beteiligten
ihre Deutung des Geschehens als Beleidigungen und somit
auch die Ehre des Angegriffenen „aushandeln”. Darum
muss auch eine linguistische Untersuchung von Beleidigungen mehr als nur die beleidigende Äußerung selbst berücksichtigen – eine Einsicht, die sich neuerdings durchzusetzen
scheint, wie ein Special Issue des „Journal of Politeness Research” aus dem Jahre 2008 zeigt. Die Gesprächsanalyse,
und weniger die Sprechakttheorie oder die Semantik verspricht einen adäquaten Zugriff auf das Phänomen.
Ein Kopfstoß als Aushandlungsschritt
Der Fall Zidane zeigt natürlich, dass die sich an Beleidigungen anschließenden „Dialoge” sehr kurz ausfallen können. Durch seinen Kopfstoß hat Zidane Materazzi, den
Mitspielern und all den Zuschauern im Stadion und weltweit
vor den Fernsehern unmissverständlich und unwiderrulich
klar gemacht, dass er Materazzis Äußerung als Beleidigung
aufgefasst hatte und diese Deutung als die ofiziell gültige
verstanden wissen wollte. Allein, in dieser Situation – unter
den Augen der Weltöffentlichkeit – wäre jene Äußerung
ohne diesen Kopfstoß keine Beleidigung gewesen.◊
Bousield, Derek/Culpeper, Jonathan (ed.) 2008: Impoliteness.
Journal of Politeness Research 4 (2008)
Goffman, Erving 1974: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung
Materazzi, Marco 2007: Che cosa ho detto
veramente a Zidane
Meier, Simon 2007: Beleidigungen. Eine Untersuchung über Ehre
und Ehrverletzung in der Alltagskommunikation
Peristiany, John G. (ed.) 1966: Honour and Shame. The Values
of the Mediterranean Society
Schreiner, Klaus/Schwerhoff, Gerd (ed.) 1995: Verletzte
Ehre. Ehrkonlikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen
Neuzeit
Simon Meier hat Kommunikationswissenschaft und Philosophie
studiert und ist derzeit wissenschaftlicher Assistent am Institut für
Germanistik der Universität Bern. Der vorliegende Text beruht auf
seiner Magisterarbeit.
expositionen
„
Sprachinsel Jaun unter Diphthongflut
Analyse der Erhebungsmethoden der Dialektologie
Marie-José Kolly
Was heisst [ruǝt]?” (Jaundeutsch für ‚rot’) – oft wird der Jauner Dialekt nicht nur von Sprechern
aus der Zentral- und Ostschweiz, sondern auch in den benachbarten Dialektgebieten der Kantone
Freiburg und Bern nicht verstanden und bisweilen mit dem Walliserdeutschen verwechselt. Im
Folgenden wird mit Hilfe empirischer Daten aufgezeigt, dass dabei vor allem lautliche Eigenheiten,
insbesondere die relative Verteilung von Monophthongen (wie in ,Flut’) und Diphthongen (wie
in ,Fleiss’), den individuellen Charakter dieses Dialektes ausmachen. Für die Untersuchung
bewährte sich im Vergleich mit zwei traditionellen Methoden eine zweisprachige Befragungsmethode
als neuer Ansatz.
Sprachinsel Jaun
„Jaun ging eigene Wege” (Bürgisser 1988: 179), und der
Grund für die auffallende Eigenart des Jaundeutschen
scheint offensichtlich: Das Dorf Jaun im Kanton Freiburg
liegt nach Westen hin an der Sprachgrenze zur Romandie,
nach Osten hin an der Kantons- und Konfessionsgrenze
zum protestantischen Berner Oberland. In diese beiden
Richtungen führen auch die einzigen befahrbaren Verkehrswege. Vom nördlich liegenden deutschsprachigen Schwarzseegebiet und vom Berner Oberland im Süden ist Jaun durch
Berge abgesondert. Dieser ,Sprachinselstatus’ erlaubte dem
Ortsdialekt die Entwicklung sprachlicher Eigentümlichkeiten und die Bewahrung historisch älterer sowie höchstalemannischer Phänomene (z. B. Flexion des prädikativen
Adjektivs: är/sia/as isch auta/auti/auts ‚er/sie/es ist alt’; Passiv mit kommen statt werden; Bewahrung des [ʋ] in Lexemen
wie [b̥laːʋɪ] ‚blaue’; fem. Pl. auf -i: [tɔ:nɪ] ‚Tannen’). Selbstverständlich weist der Jauner Dialekt auch Gemeinsamkeiten
mit den Dialekten der benachbarten deutschsprachigen Regionen auf, insbesondere mit oberländerberndeutschen
Sprachformen.
Um die Hypothese einer ungewöhnlichen Verteilung von
Mono- und Diphthongen im Jaundeutschen zu untersuchen,
wurden Jauner Sprecherinnen als Gewährspersonen je mit
unterschiedlichen Methoden nach der Aussprache von bestimmte Laute enthaltenden Wörtern befragt.
Französisch als Weg zum Jauner Dialekt
Um das ganze Diphthongparadigma des Jauner Dialektes zu
erfassen und so Vollständigkeit der Resultate garantieren zu
können, wurde das mittelhochdeutsche Langvokal- und Diphthongsystem als Bezugsgrösse gewählt. Mhd. Kurzvokale
wurden, da sie durch ihre Kürze wenig Potential zur Diphthongierung besitzen, nicht untersucht: Von einem Langvokal kann eher erwartet werden, dass sich ein Teil seiner
Länge auch qualitativ verändert. Im Ganzen wurden 14
mhd. Laute berücksichtigt:
Langvokale:
Diphthonge:
î iu û ê œ ô æ â
ie üe uo ei öu ou
Die Begriffe, die in das für die Untersuchung verwendete
Fragebuch aufgenommen wurden, sind aus mhd. Lexemen
mit diesen Lauten entstanden. Wenn immer möglich wurde
darauf geachtet, dass die betreffenden Langvokale oder
Diphthonge in ’normaler’ Lautumgebung vorkommen;
im Idealfall vor Obstruent oder im Auslaut, wenn immer
möglich nicht vor Nasalen oder Liquiden.
In der Dialektologie haben für die Erhebung von Sprachmaterial grob betrachtet drei Vorgehensweisen Tradition:
•
Die Gewährsperson übersetzt eine schriftliche,
standarddeutsche
Vorlage,
etwa
einen
Fragebogen, in ihren Ortsdialekt. Diese indirekte
Erhebungsmethode hat den Vorteil, mit minimalem
Zeit- und Kostenaufwand eine hohe Ortsnetzdichte
erreichen zu können; jedoch interferiert bei der
Analyse schriftlicher Erhebungen die, meist von
ungeschulten Gewährspersonen durchgeführte,
nicht-normierte Transkription der dialektalen
Formen und bedingt so, zumindest für lautliche
Untersuchungen, eine beträchtliche Verzerrung
der Daten.
•
Die Gewährsperson übersetzt eine mündliche,
standarddeutsche Vorlage, die vom Explorator
vorgesprochen wird. Direkte Erhebungsmethoden
nehmen mehr Zeit und Geld in Anspruch,
jedoch garantieren Aufnahmen und normierte
Transkriptionen, dass das Sprachmaterial quasiunverfälscht analysiert werden kann. Der Haken
bei dieser Vorgehensweise ist, dass die Lautung
der standarddeutschen Formen im impliziten
Gedächtnis der Gewährsperson diese unbewusst
beeinlusst: Dieser Priming-Effekt gefährdet die
Authentizität der Daten indem die standarddeutsche
Lautung auf dialektale Formen abfärben kann.
•
Die Gewährsperson nennt den gesuchten Begriff
auf Umschreibung, Teilsatzvorgabe oder Bild
hin. Die Vorgehensweise ist relativ anfällig auf
Missverständnisse und erfordert entsprechend viel
0
Die aus den verschiedenen Befragungsmethoden resultierenden Varianten zu jedem mhd. Laut wurden auf eventuelle
Interferenzen hin verglichen. Es muss vorausgeschickt werden, dass solche selten waren und für jedes Lexem mindestens eine Form vorliegt, die mit der gemäss dem Sprachatlas
der deutschen Schweiz und Karl Stuckis Werk zur Mundart von
Jaun erwartbaren Form mehr oder weniger übereinstimmt.
Auffallend, jedoch aufgrund der oben erläuterten Schwierigkeiten einzelner Erhebungsmethoden nicht weiter erstaunlich, ist, dass Interferenzen da auftreten, wo aus dem Standarddeutschen übersetzt wird: So nannte zum Beispiel die
Person, die gross übersetzen sollte, zuerst die seltenere Jaundeutsche Form [g̊ruːs], worauf sie spontan zu [g̊ruəs] korrigierte und diese gebräuchlichere Form mehrmals wiederholte. Weitere ähnliche Beispiele scheinen die Priming-Problematik für diese Vorgehensweise empirisch zu bestätigen.
Umschreibungen und Bilder sowie Teilsatzvorgaben führten
meist zum erwarteten Ziel, oft aber über Umwege: So wurde
eine konjugierte Verbform genannt, wo ein Ininitiv gefragt
war, ein Plural für einen Singular, Mausepärchen statt der erwünschten Form Mäuse, ... Die zweisprachige Methode hat
sich bewährt: Manche französische Wörter wurden zwar
nicht auf Anhieb verstanden und mussten kurz erklärt oder
durch eine Kontextangabe illustriert werden, Interferenzen
traten hier aber keine auf. So hat diese Vorgehensweise zwei
wichtige Vorteile: Die gesuchten Formen sind schneller zu
Die Notwendigkeit zweisprachiger Gewährspersonen
scheint auf den ersten Blick eine grosse Hürde darzustellen.
Da aber Zweisprachigkeit weltweit gesehen eher die Regel
als die Ausnahme darstellt, hat die hier vorgestellte Erhebungsmethode durchaus Potential, zumal lediglich passive
Beherrschung der Zweitsprache vonnöten ist.
Diphthonglut
Die Arbeit mit drei verschiedenen Erhebungsmethoden untermauert auch die lautlichen Resultate der Untersuchung
und sichert diese gleichsam dreifach ab. Folgende Tabelle
unterstreicht, dass das Jaundeutsche mit zehn Diphthongen
eine hohe Anzahl solcher aufweist: Nicht nur wurden in der
Geschichte des Jaundeutschen keine der mhd. Diphthonge
monophthongiert, auch ganze vier mhd. Monophthonge
wurden in Jaun zu Diphthongen.
mhd. Diphthonge
Um diese zweisprachige Erhebungsmethode auf ihre Eignung hin zu prüfen, wurde sie mit zwei anderen direkten Methoden verglichen. So entstand ein dreiteiliges Fragebuch: In
einem ersten Teil wurde mit Bildern, Umschreibungen und
Satzergänzungen gearbeitet, im zweiten Teil wurde für die
gesuchten Begriffe die standarddeutsche Entsprechung vorgesprochen und der dritte Teil bestand in der Übersetzung
französischer Lexeme. Jeder der oben genannten Laute wurde
bei jeder Gewährsperson mit allen drei Methoden erhoben,
um Vergleichbarkeit der Resultate gewährleisten zu können.
erhalten als mit Bildern oder Umschreibungen und die Authentizität der erhaltenen Sprachdaten ist gewährleistet. Gemäss dem Prinzip ’Qualität vor Quantität’ sollte die Vorgabe
standarddeutscher Lexeme vermieden werden.
mhd. Langvokale
Gesprächszeit, dagegen bleibt die Authentizität des
Materials gewahrt.
Sind diese methodischen Klippen zu vermeiden? Ist es möglich, eine Befragung so durchzuführen, dass einerseits die
Lautung der Gewährsperson nicht durch das Vorsprechen
der gesuchten Begriffe beeinlusst wird, andererseits keine
Probleme mit falsch interpretierten Umschreibungen oder
Bildern entstehen? Im Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung wurde die Idee einer zweisprachigen Erhebung empirisch erprobt. Die gesuchten Begriffe sollten hierfür von
der Exploratorin französisch vorgesprochen und anschliessend von der jeweiligen Gewährsperson ins Jaundeutsche
übersetzt werden. Dies ist in einem Dorf wie Jaun, das an
der Sprachgrenze zur Romandie liegt, durchaus realistisch.
Ein solches Vorgehen gewährleistet einerseits ein höheres
Mass an Präzision als Umschreibungen oder Bilder, andererseits erfolgt dadurch keine Beeinlussung der Lautung. Natürlich ist auch Übersetzen kein unverfänglicher Prozess:
Für die Fragebucherstellung mussten Begriffe gewählt werden, deren französisches Pendant eine möglichst eindeutige
Übersetzung ins Deutsche erlauben.
Mittelhochdeutsch
MMMMMMMMDDDDDD
Jaundeutsch
MMMDDD DMDDDDDD
Mono- und Diphthongverteilung: M: Monophthong, D: Diphthong. Die Reihenfolge bezieht sich auf das oben vorgestellte mhd. Langvokal- und Diphthongparadigma.
Diese vier ’zusätzlichen’ Diphthongierungen weichen auch
vom schweizerischen und standarddeutschen ’Normalfall’
ab:
•
•
•
•
ê > [ia], [iə], [iæ] wie in [ʃnia] ‚Schnee’, [xiərə]
‚kehren’, [riæ] ‚Reh’
œ > [yə] wie in [ʃyən] ‚schön’, [lyəsə] ‚lösen’, [b̥yəs]
‚böse’
ô > [uə] wie in [b̥ruət] ‚Brot’, [g̊ruəs] ‚gross’, [ruət]
‚rot’
æ > [iə] wie in [ʃpiətər] ‚später’, [hiəg̊lə] ‚häkeln’,
[ʃtriələ] ‚kämmen’
Damit scheint evident, weshalb man „den Jauner [...] sofort
an seiner Sprache [erkennt]” (Bürgisser 1988: 171). Karten
des Sprachatlas der deutschen Schweiz verzeichnen für die mhd.
Langvokale ê, œ, ô, æ vereinzelt auch Diphthonge im Kanton
expositionen
Freiburg, im Berner Oberland, im Wallis, dem Graubünden,
in der Innerschweiz und im Osten des Kantons St. Gallen
– insgesamt scheinen solche aber selten konsequent aufzutreten und sich auf eine kleine Diphthonginsel im Jauntal zu
konzentrieren.◊
Bürgisser, Max 1988: Die Jauner Mundart. In:
Deutschfreiburger Heimatkundeverein (Hg.) 1988: Jaun im
Greyerzerland. 171–182. (= Deutschfreiburger Beiträge zur
Heimatkunde 55)
Hotzenköcherle, Rudolf 1962: Einführung in den Sprachatlas
der deutschen Schweiz. Bd. A: Zur Methodologie der
Kleinraumatlanten
Hotzenköcherle, Rudolf 1962–2003 : Sprachatlas der deutschen
Schweiz. Bd. 1: Lautgeographie: Vokalqualität
Stucki, Karl 1917: Die Mundart von Jaun im Kanton Freiburg.
Lautlehre und Flexion (= Beiträge zur Schweizerdeutschen
Grammatik 10)
Marie-José Kolly studiert an der Universität Bern Germanistik und
Mathematik im 10. Semester. Der vorliegende Text basiert auf
ihrer Hausarbeit zum Seminar „Methoden der Dialektologie und
Soziolinguistik”.
Höchste Lust (und etwas Totschlag)
Linus Schöpfer
D
ie Opermusik Richard Wagners löste intellektuelle Erschütterungen aus, die tief ins 20.
Jahrhundert nachwirkten. Die literarische Beschäftigung mit Wagner splitterte sich um 1900 in
einen ästhetizistischen „Wagnerismus” und einen dogmatisch-ideologischen „Wagnerianismus”.
Thomas Mann einerseits also – andererseits und verblüffender: Arthur Schnitzler.
Die kaum bekannte Erzählung Wälsungenblut wurde 1906
geschrieben und 1921 veröffentlicht; lange hielt Thomas
Mann sein Prosastück zurück, eine Eigendynamik befürchtend, welche dieser höchst drastische Text nach der Publikation hätte entwickeln können. Tatsächlich forciert Mann in
Wälsungenblut wie in keinem seiner Werke die Antagonismen
„Künstlertum/Bürgertum” respektive „Ästhetizismus/Leben”, indem er die Zwillinge Siegmund und Sieglinde – antriebsschwache, hochintelligente, neurotische „Luxusgeschöpfe” (Mann) aus reich begütertem Haus – nach dem
Besuch von Wagners Walküre einen Inzest aus Weltverachtung begehen lässt. Auf die Frage Sieglindes, wie sie das
Ungeheuerliche ihrem künftigen Gatten erklären soll, folgt
(und so beendet Mann seine Erzählung) Siegmunds unbeirrte Replik: „Dankbar soll er uns sein. Er wird ein minder
triviales Dasein führen, von nun an.”
Wagner, Thomas Mann und die „Décadence”
Diese radikale Absage an Trivialität und Bourgeoisie zugunsten eines umfassenden Ästhetizismus kennzeichnet den
„Wagnerismus”. Autoren wie Baudelaire, Mallarmé, Huysmans, später D’Annunzio oder Thomas Mann verstanden
Richard Wagner als wichtige Ingredienz dekadenter Lebensart. Selbst als Wagner zum national geachteten und bürgerlich goutierten Künstler avanciert war, strömten die Bohemiens in Scharen zum Grünen Hügel nach Bayreuth. Was
nur fanden all die Dandys, ruinierten Aristokraten, Femmes
fatales, Muttersöhnchen und Hysteriker, kurz: Dekadenten
an Wagner und seinen Opern?
Neben ungekannt radikalen Darstellungen von Todessehnsucht und Sexualität war es Richard Wagners Kunst per se
– eine neuartige Kunst, die herkömmliche Formen sprengte,
die die Sinne umnebelte mit Opulenz und Brachialität, die
eine der Hybris zustrebende „Addition von Malerei, Musik,
Wort und Gebärde” (Thomas Mann) war. Opern wie Tristan
und Isolde, Tannhäuser oder Die Walküre wirkten auf die Nervösen wie ein Rauschgift, ihre Rezeption kam dem Opiumkonsum ähnlich. Es war Charles Baudelaire, der Autor von
Les Fleurs du Mal, welcher die rauschhafte Wirkung, die Wagners Musik auf ihn und die Seinen ausübte, als erster erörterte (Richard Wagner et ‚Tannhäuser’ à Paris, 1861). Die
ständige Wiederkehr der quälend schönen Melodien liess
Baudelaire süchtig nach Wagner werden im eigentlichen
Sinn: „Ma volonté avait été si forte et si terrible que je ne
pouvais m’empêcher d’y vouloir retourner sans cesse.” Die
Relexion dieser Sucht und, damit einhergehend, die Psychologisierung von Wagners Kunst hatten ebenfalls grossen
Anteil am Reiz des Wagnerismus.
Als Wendepunkte für die (literarische) Wagner-Rezeption
igurieren Friedrich Nietzsches späte Polemiken Der Fall
Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1895). Hier wird
Richard Wagner selbst der Décadence zugeordnet: Friedrich
Nietzsche interpretierte Wagners Kunst als Symptom eines
unvermeidlichen allgemeinen kulturellen Niedergangs, er
kritisierte die Neigung des Dramatikers Wagner zum Urtümlich-Nordischen als Abweichung vom dekadenten Wesenskern. In Nietzsches Tradition stehen Thomas Manns frühe
Wagner-Essays Versuch über das Theater (1903) und Auseinandersetzung mit Wagner (1911). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
ist jener Thomas Mann scheinbar der einzige namhafte
deutschsprachige Literat, in dessen Prosa der Wagnerismus
bemerkenswerten Eingang indet. Figuren wie Detlev Spinell (Tristan), Gustav von Aschenbach (Der Tod in Venedig)
oder die eingangs erwähnten Siegmund und Sieglinde sind,
in variierender Intensität, Verdichtungen jenes ästhetizistischen Phänomens.
Funktion als Träger des Antisemitismus
In dieses Mannsche Figurenkabinett hinein passte auch Georg von Wergenthin, der Protagonist des heute fast vergessenen Schnitzler-Romans Der Weg ins Freie (1908). Mit Wergenthin gelang Arthur Schnitzler eine Figur, welche viele
Attribute des Wagnerismus auf sich vereint: Als Erbe eines
väterlichen Vermögens auf Erwerbsarbeit nicht angewiesen,
legitimiert Wergenthin sich durch gelegentliche, Wagner
nacheifernde Kompositionen; die übrige Zeit verbringt er
müssig tändelnd in Opernhallen und Salons. Erwartungsgemäss (man möchte beinahe sagen: selbstverständlich) kommt
Wergenthin mit seinen Kompositionsversuchen nicht über
ein paar Arbeitsskizzen hinaus. In seinem zaudernden
Künstlertum gleicht Wergenthin durchaus einem Spinell
oder Aschenbach.
expositionen
Doch im Gegensatz zu Mann entrückt Schnitzler seinen Dilettanten nicht, bemüht kein abgeschiedenes Sanatorium
und kein Venedig, um einen Ästhetizismus in Reinkultur zu
zelebrieren, sondern setzt Wergenthin in Beziehungen. Über
lange Gespräche mit den jüdischen Künstlern Heinrich Bermann, Leo Golowski und Edmund Nürnberger, mit der
Sozialistin Therese Golowski und mit den deutschnationalkleinbürgerlich gestimmten Josef und Anna Rosner (seine
spätere Frau) gewinnt durch Georg von Wergenthin die andere, die dumpfe Seite der Wagner-Anhängerschaft Ausdruck: Der „Wagnerianismus”. Mit diesen Dialogen veranschaulicht Schnitzler, wie ein Bekenntnis zu Wagner um
1900 auch ein gesellschaftlicher Positionsbezug sein konnte.
Indem Wergenthin in rechtskonservativen Salongesellschaften aufs Neue Wagner-Stücke rezitiert, verschafft er
sich deren Protektion und eine Camoulage des eigenen Unvermögens. Auch kann er auf diese Weise die talentierteren
Juden Bermann, Golowski und Nürnberger distanzieren.
Wergenthins Idol Richard Wagner war ein Antisemit von
hoher Publizität; 1850 verfasste Wagner mit Das Judentum in
der Musik einen „antisemitischen Klassiker” (J.M. Fischer).
Nicht zuletzt deswegen war Wagner en vogue bei Rechtskonservativen und Deutschnationalen. Mit Bedacht entwickelt Schnitzler in Der Weg ins Freie diese gesellschaftliche
Problematik des Wagnerianismus: Alsbald kommt sowohl
der wankelmütige Privatmann wie auch der dilettierende
Musiker Georg von Wergenthin nicht mehr ohne seine zweifelhaften Gönner aus; immer mehr und bloss halb bewusst
entfremdet er sich von seinen jüdischen Künstlerfreunden
– er kann nicht erst den Giftmischern mit Wagner schmeicheln und dann mit den Juden lanieren! Wergenthins ästhetizistischer Wagnerismus wird so zusehends durch einen
unkünstlerischen, ideologischen Wagnerianismus kontaminiert. Letzterer wird insbesondere durch Wergenthins
Schwager Josef Rosner verkörpert, der Wagners Musik einzig aus antisemitischen Motiven, quasi als Vertonung der
Judenfeindschaft, huldigt. Eine Figur wie Rosner, die aus
plumpem Hass gegen die wirtschaftlich erfolgreichere jüdische Konkurrenz dem Wagnerianismus zuneigt, ist bei
Thomas Mann kaum vorstellbar; hier sind ästhetizistische
Konversationen über Wagner stets grundiert mit dem Luxus
reicher Ehemänner, Eltern, Verwandter, Freunde und abgehoben von Politik und Gesellschaft.
Eine Wagner-Perspektive, die Mann fehlt
Doch geht es nicht um das Lob eines wie auch immer geprägten gesellschaftlichen Realismus, sondern um eine Wagner-Perspektive, welche Schnitzler hat und die Mann fehlt.
Für Nietzsche implizierte Wagners Opernkunst „die drei
grossen Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).” Adorno andererseits konstatiert in seinem Versuch über Wagner, dass die in
einer Oper wie Parsifal propagierte „Religion der Liebe und
des Mitleids nicht mehr wert” sei „als Görings Erklärungen
zum Schutze von Tieren.” Das Gewalttätige, urtümelnd
Rohe also als Bestandteil Wagnerscher Kunst und zumal der
hierin wurzelnde Wagnerianismus bleiben in Manns WagnerErzählungen unbeachtet. Arthur Schnitzler dagegen relek-
tiert die soziale Brisanz des Wagnerianismus, ohne die grosse ästhetische Attraktivität des Wagnerismus zu missachten
(wobei sich die Frage stellt, ob Schnitzlers literarischer Wagnerismus ohne Thomas Mann überhaupt denkbar ist).
Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie eignet sich daher
in hohem Mass für eine Wagner-Forschung, welche sich für
die schillernden, an Missverständnissen reichen Verlechtungen von Wagnerismus und Wagnerianismus, von romantischer Oper und rechter Ideologie, von übersteigertem Ästhetizismus und Judenhass interessiert.◊
Adorno, Theodor W. 1952: Versuch über Wagner
Fischer, Jens Malte 2000: Richard Wagners ‚Das Judentum in der
Musik’. Eine kritische Dokumentation
Nietzsche, Friedrich 1954-1982: Werke in drei Bänden. Hg. v.
Karl Schlechta
Marc A. Weiner 1986: Arthur Schnitzler and the Crisis of
Musical Culture
Linus Schöpfer studiert an der Universität Bern Germanistik
und Schweizer Geschichte im 10. Semester. Der vorliegende Text
basiert auf einer Seminararbeit zum Kurs „Arthur Schnitzler.
Exemplarische Lektüren” von Prof. Jutta Müller-Tamm (FU
Berlin).
Ein Goldfund bei Benn
Volkswirtschaftliche Topoi in der Lyrik Gottfried Benns
Hannes Mangold
1
912 trat Gottfried Benn mit den Morgue-Gedichten an die Öffentlichkeit. Im Kontext all der aufgeschnittenen
Körper wird die Einbindung nationalökonomischer Themen leicht übersehen – zu Unrecht, wie der vorliegende
Artikel geltend macht.
Material Mensch
Als Gottfried Benn (1886-1956) durch den Gedichtzyklus
Morgue einem breiteren literarischen Publikum bekannt wurde, waren es vor Kälte erstarrte Worte, von einem sarkastischen Pathologen zu schonungslos bitteren Kunstwerken
zusammengefügt, die den Ruhm des dichtenden Berliner
Arztes begründeten. Gerade im Brotberuf Benns (genauer:
Haut- und Geschlechtsarzt) erkennen Viele einen möglichen
Einstieg in die Interpretation seiner Gedichte – und in der
Tat: Benn hat die zeitgenössische humanwissenschaftliche
Diskussion sehr genau verfolgt. Ausgehend von der Lehre
seines Medizinalprofessors Theodor Ziehen, der ‚Erkenntnis’ als rein materialistisch-hirnphysiologischen Prozess verstanden haben wollte, interessierte sich Benn schon früh für
Psychologie und Phrenologie. Die wissenschaftliche Methode erschien dem angehenden Arzt verheissungsvoll: „[D]as
Psychische, [...] das Unfaßbare schlechthin ward Fleisch [...]
und konnte [...] mit naturwissenschaftlichem Handwerkszeug bearbeitet [...] werden.” (Beitrag zur Geschichte der
Psychiatrie: 14)
Kreislauf
Der einsame Backzahn einer Dirne,
die unbekannt verstorben war,
trug eine Goldplombe.
Die übrigen waren wie
auf stille Verabredung
ausgegangen.
Den schlug der Leichendiener
sich heraus,
versetzte ihn und ging für tanzen.
Denn, sagte er,
nur Erde solle zu Erde werden.
Gottfried Benn, 1912
„Ignorabimus!”
Diesem Materialismus begegnete Benn jedoch schon bald
mit grosser Skepsis. „Ignorabimus!” („Wir werden es nicht
wissen”) schreien die resoluten Studenten in der Szene Ithaka ihrem kleinlichen Professor entgegen, der ihnen Erkenntnis verspricht über den so abstrakten wie absurden Vergleich
der „Ammonshörner der linken Hemisphäre des Großhirns
[von] vierzehntägigen Ratte[n]”, „vorausgesetzt” wohlgemerkt, „daß sie alle gleich alt sind, mit Kandiszucker ernährt,
täglich eine halbe Stunde mit einem Puma gespielt und bei
einer Temperatur von 37,36 in den Abendstunden zweimal
spontan Stuhlgang gelassen haben.” (Ithaka: 21) Der Dichter
revidiert seinen materialistischen Gedächtnisbegriff indem
er neben Sigmund Freud, Ernst Bloch oder Max Scheler
auch Friedrich Nietzsche und Théodule Ribot liest. Ribot
vertritt dabei eine geisteswissenschaftlichere Interpretation
der Seelenlehre. Zur Beschreibung psychischer Prozesse entlehnt er geologisches Vokabular, das Benn übernimmt:
„[D]ie Seele [ist] in Schichten entstanden und gebaut” (Der
Aufbau der Persönlichkeit: 118). Gemäss Ribot lassen sich
dabei ältere seelische Schichten durch Ekstase u.ä. reaktivieren, eine für Benns Menschenbild und Dichtungstheorie
(Miller 1990) wegweisende Konzeption: „Ribot bildete ein
Regressionsgesetz des Gedächtnisses, dessen Zerstörung er
als einen Rückschritt von Neuerem zu Älterem, vom Zusammengesetzten zum Primitiven, vom Willkürlichen zum Automatischen beschrieb.” (Der Aufbau der Persönlichkeit: 118)
Dieses anthropologische Hintergrundwissen Benns ist nicht
zu bestreiten und wurde auch überzeugend nachgewiesen.
Mit der Konzentration auf den humanwissenschaftlichen
Unterbau der Texte Benns gingen in der vorliegenden Forschung die sozialwissenschaftlichen Bezugsfelder aber zusehends vergessen. Benn gilt denn auch, trotz und vielleicht
gerade wegen seiner späteren Kooperation mit den Nationalsozialisten, als unpolitischer Dichter ohne jegliches Interesse an ökonomischen Themen. Dieses Urteil soll hier revidiert werden. Insbesondere für die Zeit vor der Machtergreifung, die für die Wirtschaftshistoriker ja mit der Grossen
Depression nach wie vor das pièce de résistance bildet, inden sich in den Texten Benns leicht diverse Bezüge auf ökonomische Theoreme. Aufgrund der äusserst breiten zeitgenössischen Diskussion wirtschaftlicher Fragen ist dies auch
einfach nachvollziehbar. Bei Benn indet sich dieser Stoff-
expositionen
kreis jedoch quasi schon von Anfang an, wie das Gedicht
Kreislauf aus der Morgue von 1912 deutlich aufzeigt.
Von Business- und Body-Cycles
Kreislauf schildert eine Serie von Tauschakten: Ein Goldzahn
wird „versetzt”, also zu Geld gemacht, welches seinerseits in
ein Tanzvergnügen investiert wird. Auf diese Händel blicken
die Lesenden im Umfeld des Leichenschauhauses: Der Blutund der Geldkreislauf kommen sich bis zur Überschneidung
nahe. Diese Berührung ist natürlich nicht Neues; tatsächlich
entstanden bereits Mitte des 17. Jahrhunderts erste Volkswirtschaftslehren als Analogien auf Harveys Entdeckung
des Blutzyklus’. In Inversion dieser historischen Abhängigkeit wird in Kreislauf der Fluss von Geld durch das Ende der
Blutzirkulation allerdings erst ausgelöst – in Benns Anatomielektion wird denn auch nicht das venöse System sondern
der inanzielle Zyklus obduziert.
Zu diesen ökonomischen und medizinischen Subtexten tritt
zudem als Drittes ein mit einer christlichen Ethik verbundenes Kreislauf-Konzept von Leben und Tod. Im letzten
Vers offenbart der Leichendiener wohl einige Bibelkenntnis,
interpretiert aber das mosaische „Erde zu Erde” sehr pragmatisch: Bei den Goldimplantaten verletzt er die Unversehrtheit der Verstorbenen und „schlägt” sie für sich „heraus”.
Da die verstorbene „Dirne”, ein ebenso eng mit dem Verruchten wie mit dem Gewerblichen assoziierter Beruf, explizit „unbekannt”, also ohne Erben war, handelt es sich hierbei aber nicht um einen Diebstahl. Dennoch verstösst der
Leichendiener gegen die Regel des reziproken Geben und
Nehmens, was nicht bedeutungslos für den provokativen
Gehalt des Gedichtes ist. Durch seine Position in der Schnittmenge aus physisch-kapitalistischem und metaphysisch-soteriologischem Kreis wird die Entnahme des Edelmetalls
nicht nur zur Referenz auf das für die liberalökonomische
Theorie problematische Erbrecht, sondern stellt auch eine
Nutzen maximierende über eine orthodoxe Lesart der heiligen Schrift.
Der Leichendiener aus Gottfried Benns Morgue eignet sich
also mit dem Gold der Toten auch deren „Tanz” an. Damit
macht der Dichter über die Isotopie des Kreislaufs eine Opposition zwischen wirtschaftlichem und christlichem Subtext geltend. Der Hilfspathologe entpuppt sich gleichermassen als Nihilist und paradigmatischer Utilitarist – Vergnügen
kommt für ihn vor Gott. In Benns Werk lassen sich durchgehend ökonomische Topoi inden, die jeweils eng mit szientistischen, und das heisst hier materialistisch-nihilistischen
Strukturen assoziiert sind. Ein Blick auf den wirtschaftstheoretischen Horizont des Dichters bleibt damit für ein profundes Verständnis seiner Anthropologie unerlässlich.◊
Benn, Gottfried 1982-2006: Gesammelte Werke in der Fassung
der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand
Miller, Gerlinde F. 1990: Die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs
für Menschenbild und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn
Ribot, Theodule 1895: Die Vererbung
Hannes Mangold studiert zur Zeit an der FU Berlin Germanistik
und Volkswirtschaft im 10. Semester. Der vorliegende Text basiert
auf seiner Bachelorarbeit.
Des Bahnhofs neue Kleider? – Bahnhofsaufwertung seit den
1990er Jahren
„Die Welt ist ein Bahnhof geworden und unser Leben ein Hasten nach dem Bahnhof.”
(August Corrodi 1860)
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Sanna Frischknecht
ährend Bahnhöfe zu ihrer Entstehungszeit als Kathedralen verehrt wurden,
verloren sie mit dem Aufkommen des Automobils an Bedeutung. Bahnhöfe
wurden vernachlässigt und verkamen zu sozialen Brennpunkten, oder wie
Claudia Wucherpfennig (2006) dies ausdrückt: aus Bahnhofkultur wurde
Bahnhofmilieu. Seit den 1990er Jahren aber scheint dieses Verkümmernlassen
der Bahnhöfe zunehmend Konzepten der Aufwertung im Zeichen der
Ökonomisierung und Politisierung des öffentlichen Raums zu weichen.
Neue Vermarktungsstrategien für die Bahnhöfe
Die Privatisierung der Eisenbahngesellschaften in der
Schweiz und in Deutschland in den 1990er Jahren und die
Neuordnung des Schienenverkehrs innerhalb der EU hat zu
neuen Vermarktungsstrategien des Bahnfahrens und damit
verbunden, der Bahnhöfe geführt. Der Bahnhof ist nicht
mehr nur Bahnhof in seiner eigentlichen Funktion als Verkehrsknotenpunkt, an dem Reisende in den Zug einsteigen
oder diesen verlassen, Güter ver- oder entladen werden.
Bahnhöfe werden von nun an als moderne Dienstleistungszentren – in der Schweiz unter dem Titel «RailCity» – angepriesen. Moderne urbane Architektur der Gebäude, Mobiliardesign im Innern, Wahl der Mieterinnen und Pächter, sowie ein umfassendes Konzept für Sicherheit, Sauberkeit und
Service (drei-S-Strategie) bilden die Grundzüge der Aufwertungsstrategien für die Bahnhöfe des 21. Jahrhunderts (vgl.
Wehrheim 2002; Wucherpfennig 2006). Aus Bahnhof wird,
wenn etwa von der Deutschen Bahn AG auch nicht gerne
gehört, Shopping Mall mit Gleisanschluss.
Die Stadt und ihr Bahnhof – Ein Masterplan für den
Berner Hauptbahnhof
Nicht nur die Bahngesellschaften, die seit den 1990er Jahren
proitabel wirtschaften müssen, haben die Wirkungskraft der
Bahnhöfe wieder entdeckt. Auch die Städte, die zunehmend
in Konkurrenz zueinander stehen und sich mehr und mehr,
wie die Bahngesellschaften im Wettbewerb um Attraktivität
und damit inanziellem Erfolg sehen, inden Gefallen an den
zentralen Verkehrsknotenpunkten. Bei der Umgestaltung
der Bahnhöfe und der Bahnhofgebiete ergeben sich nicht
selten städtisch-private-Kooperationen, wie dies am Beispiel
des Berner Bahnhofsprojekt Masterplan für den Bahnhof Bern
aufgezeigt werden kann.
So wurde in Bern in den 1990er Jahren unter dem Titel Masterplan für den Bahnhof Bern eine Kooperation von Stadt,
Kanton und Privaten ins Leben gerufen, die Baustein um
Baustein eine umfassende Aufwertung des Bahnhofgebietes
vorsah. Während die SBB, ganz im aktuellen Trend der
Bahnhofaufwertungen für rund 60 Mio. CHF ein neues modernes Dienstleistungszentrum – RailCity – baute, wurde die
Aufwertung des Bahnhofumfeldes, vor allem wegen Uneinigkeiten in verkehrspolitischen Belangen auf die lange
Bank geschoben. Nachdem der Schanzentunnel, der das
Bahnhofgebiet vom Individualverkehr hätte befreien sollen,
von der Stimmbevölkerung abgelehnt wurde, musste ein
neues Konzept für das Bahnhofumfeld her. Daraus resultierte das Projekt neuer Bahnhofplatz, welches die Stadt Bern
die letzten Jahre beschäftigte. Ein Gesamtkonzept für das
unmittelbare Bahnhofumfeld, das neben der Sanierung des
Bahnhof- und Bubenbergplatzes, sowie der Christoffelunterführung vor allem auch eine Umgestaltung zum Ziel hatte.
Ein neuer Bahnhofplatz für Bern
Der wahrscheinlich zentralste Ort der Stadt Bern, der Berner
Hauptbahnhof, sollte ein neues Umfeld bekommen. Der
städtische Plan war, mit dem neuen Platz ein Aushängeschild
für die Attraktivität der Kantons- und Bundeshauptstadt zu
schaffen.
In grossstädtischer Manier wurde von einem das Stadtbild
verändernden Projekt gesprochen. Ein Raum sollte geschaffen werden, der die Attraktivität der Stadt widerspiegelt, eine
Visitenkarte, die Eingangstor zur Stadt und Verkehrsknotenpunkt in Einem ist.
Der Bubenbergplatz sollte zum Boulevard, also zur urbanen
Flaniermeile, werden. Die (Alt-)Stadt sollte mit dem Baldachin – seinem Namen nach eine prunkvolle, königliche, gar
majestätische Überdachung – wieder ein Eingangstor bekommen. Schliesslich vervollständigt die neue attraktive
städtische Geschäftspassage in der Christoffelunterführung
expositionen
das Urbane und Grossstädtische. Sie bringt der Stadt zusätzlich Einnahmen aus der Verpachtung der höchst lukrativen
Geschäftslächen, die ebenfalls ausgerichtet an Metropolen,
von morgens früh bis abends spät, 365 Tage im Jahr geöffnet haben und damit dem umtriebigen Lebensstil der Grossstädterinnen und Grossstädter angepasst sind.
Die Aufwertung des Berner Bahnhofs unter dem Titel neuer
Bahnhofplatz schliesst dabei, wenn in der tatsächlichen Umsetzung auch sehr viel bescheidener als zuvor in Worten propagiert, an die Aufwertungsstrategien an, die seit den 1990er
Jahren an Bahnhöfen zu beobachten sind. Die architektonische Gestaltung im Zeichen von Licht und Übersichtlichkeit sowie das Konzept der Einsehbarkeit der Räume, lässt
sich am Projekt neuer Bahnhofplatz eingehend veranschaulichen. Aber auch die Idee des modernen Dienstleistungszentrums – oder Shopping Mall mit Gleisanschluss – schwappt
auf die Stadt über, die nunmehr ebenfalls aus den Einnahmen der Vermietung attraktiver Geschäftslagen Proit schlagen kann. Dass nun nicht nur die Bahngesellschaften, sondern auch die Städte ihre Strategien zur Attraktivitätssteigerung am Konsum ausrichten, und die Entwicklungen an
Bahnhöfen hin zu ausgedehnteren Geschäftsöffnungszeiten
unterstützen, wirft dabei aber genauso Fragen auf, wie die
’aus den Augen aus dem Sinn’ Politik, die mittels Gestaltung,
Strategie und Reglementierung zunehmend auch im städtischen Raum zu beobachten ist, und Personen am Rande
der Gesellschaft in die Unsichtbarkeit verdrängt.
Dass der Stellenwert des Bahnhofs als urbaner Raum aber
nicht alleine am Grade seiner ökonomischen Attraktivität zu
messen ist, verdeutlicht ein Zitat von Thomas Hengartner:
„Dass der Bahnhof auch Nischen von Heimat oder wenigstens ansatzweise von Beheimatung bietet, macht ihn zum
besonderen urbanen Ort” (Hengartner 1999: 313).◊
Gerkan, Meinard von (Hg.) 1996: Renaissance der Bahnhöfe. Die
Stadt im 21. Jahrhundert
Hengartner, Thomas 1999: Forschungsfeld Stadt: zur Geschichte
der volkskundlichen Erforschung städtischen Lebens
Röllin, Peter 2003: Stadtbahnhöfe behaupten sich als urbane
Zentren. In: Forum Raumentwicklung 2 (2003). 25-27
Im Internet unter: http://baufachinformation.de/zeitschriftenartikel.jsp?z=03119000094 (Stand vom 21.06.2009)
Wehrheim, Jan 2002: Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation
und Ausgrenzung (= Stadt, Raum und Gesellschaft 17)
Wucherpfennig, Claudia 2006: Bahnhof –
(stadt)gesellschaftlicher Mikrokosmos im Wandel
Sanna Frischknecht studiert im 10. Semester Soziologie an der Uni
Bern. Der vorliegende Text basiert auf ihrer Bachelorarbeit.
carte blanche
Acht Mistgabeln Österreich
oder ein Pamphlet wider besseren Wissens
W
as wächst auf dem Mist der Österreicher? Um diese und andere Fragwürdigkeiten auszuloten,
verstösst der Autor des folgenden Textes gegen jene Regeln, die er eigentlich seit Jahren hätte
verinnerlicht haben sollen: nicht pauschalisieren, nicht behaupten! Sei`s drum.
Es ist gefährlich und dumm, nach dem nationalen Gepräge
einer Literatur zu fragen. Denn Bücher sind Misthaufen und
Misthaufen sind bekanntlich nicht an Grenzen gebunden.
Dennoch: Mist analysiert man normalerweise nicht, sondern
man stochert in ihm herum. Wohlan!
Erste Mistgabel: Die Österreicher schimpfen gerne;
die Literaten über die Österreicher, den Staat und
die Medien – die Österreicher, der Staat und die
Medien über die Literaten.
Einen solchen verklebten Strohhalm legt Karl Kraus, überhaupt ein grosser Schimpfer vor dem Herrn, 1925 in seiner
Zeitschrift Die Fackel frei. Mit der Parole „Hinaus aus Wien
mit dem Schuft!” polemisiert er gegen Imre Békessy, den
angeblich korrupten Herausgeber der Boulevardzeitung Die
Stunde. Kraus trat in seiner Zeitschrift Die Fackel als engagierter, polemischer Publizist auf, polternd gegen den Missbrauch der Sprache, gleichwohl trunken von deren rhetorischer Schimpf-Potenz. Geschimpft wird über vieles, auch
über andere. So verschmäht Kraus den hochheiligen Hugo
von Hofmannstahl als „Umdichter, der ehrwürdigen Kadavern das Fell abzieht, um fragwürdige Leichen darin zu bestatten.” Dies nur als Schmankerl.
Auch Jahrzehnte später wird traditionsgemäss geschimpft.
In Thomas Bernhards Stück Heldenplatz (1988) schimpft die
Figur des Professor Roberts differenziert: „Der Judenhass
ist die reinste die absolut unverfälschte Natur des Österreichers.” Als im Voraus einige der einschlägigen Schimpftiraden unautorisiert in der Tagespresse veröffentlicht wurden,
entbrannte in Wien ein Skandal.
Zweite Mistgabel: Die von den Literaten als skandalös
empfundenen Zustände werden von denselben
skandalös inszeniert; diese Inszenierungen
wiederum werden von der Öffentlichkeit freudig
als Skandal aufgenommen, womit sich - für die
Literaten - erneut bestätigt, wie unerhört skandalös
die österreichischen Zustände tatsächlich sind. Man
nennt das auch Wiener Walzer.
Wen wundert´s, dass man plötzlich Kraus´ Slogan „Hinaus
aus Wien mit dem Schuft!” aus dem Mund eines gewissen
Jörg Haiders hört, der die Österreichische Nation durch
Bernhards Machwerk beschmutzt sieht. Tanzt man diesen
Walzer, wird einem schwindlig. Wie Professor Robert sagt:
„Österreich selbst ist nichts als eine Bühne / auf der alles
verlottert und vermodert und verkommen ist.” Gerne inszeniert Bernhard auf dieser Welt-Bühne, durchaus auch mit
Sinn fürs Geschäft. In einem Brief vom 20. 11. 88 an seinen
Verleger Siegfried Unseld freut sich Bernhard über den Publikumserfolg des Stücks, um lakonisch zu bilanzieren:
„Ganz abgesehen davon, dass es auch, was meine ,künstlerische’ Arbeit betrifft, seinem Erzeuger Freude macht.”
Wohl bekomm`s! Schimpfen lohnt sich.
Dritte Mistgabel: Tief im Haufen, faul und
vergoren, steckt der Anschluss Österreichs an das
nationalsozialistische Regime am 12. März 1938.
Die Literaten graben noch tiefer und graben
immer weiter. Und was sie zu Tage befördern,
stinkt mächtig.
„Demokratie (auf österreichisch) bedeutet: Berührungsverbot der Vergangenheit”, schliesst Josef Haslinger in seinem
Essay Politik der Gefühle (1987). Gegen dieses Berührungsverbot graben die Literaten an, hemdsärmlig, ihre Mistgabeln
in beiden Händen. Man denke an die Anklage aus dem Mund
von Professor Robert, eine Anklage, die sich bei fast jedem
von Bernhards Geistesmenschen indet, virtuos wiederholt
und variiert, als ewig empörte Suada. „So waren wir im Internat [...] zuerst im Namen Adolf Hitlers zugrunde und
tagtäglich zu Tode erzogen worden und dann nach dem
Krieg im Namen von Jesus Christus [...]. Wohin wir schauen,
wir sehen hier nichts anderes als den Katholizismus oder
den Nationalsozialismus und fast in allem in dieser Stadt und
Gegend einen solchen geistesstörenden und geistesverrottenden und geistestötenden katholisch-nationalsozialistischen, menschenumbringenden Zustand.” So beschreibt
Bernhard in seinem autobiographischen Buch Die Ursache
(1975) seine Schulzeit in Salzburg. Der Katholizismus also,
eine weitere Geissel.
Vierte Mistgabel: Der Katholizismus steckt in
den Sedimenten des Misthaufens, in den Tiefen.
Kratzt und schabt der Literat mit seiner Mistgabel
daran, lassen sich Versteinerungen inden:
expositionen
Abdrücke von Hostien oder Knochen, halbe
Skelette, Menschenschädel.
Fasziniert und zugleich abgestossen von der üppigen Symbolik, dem Ritus der katholischen Kirche, wird der Katholizismus etwa bei Josef Winkler zum Nährboden für seine
endzeitlich-brutalen Bildkaskaden, die im kargen Milieu des
bäurischen Kärnten zu wuchern beginnen. Die Kruziixe
sind blutverschmiert, die bigotten Bibelsprüchlein ein Todesröcheln und - unter dem Talar der Ministranten verbirgt
sich mehr als Frömmigkeit. Die Geschichte des Doppelselbstmords des siebzehnjährigen Roberts und seines
Freundes Jakob, die sich im Pfarrhausstadel mit einem Kälberstrick erhängt haben, indet man am Anfang des Buches
Menschenkind (1979). Eine Geschichte, die sich wie ein ewiges
Rosenkranzgebet durch Winklers Werk zieht. Nicht nur im
wilden Kärnten entleibt man sich, der Selbstmord ist omnipräsent.
Fünfte Mistgabel: Auch in Österreich bringt man
sich um. Die Literaten sind immer kurz davor
und schreiben dagegen an. Man erhängt sich an
Kälberstricken, man säuft sich zu Tode, man
stürzt sich von der Salzburger Pferdeschwemme
oder man ersticht sich mit einer Mistgabel.
„Der Tod, der muss ein Wiener sein” heisst Georg Kreislers
berühmtes Wienerlied. Man bringt sich nicht nur um, sondern der Tod an sich scheint seine österreichische Apotheose zu erleben. Der Tod, das Makabere und Morbide, ja Moribunde trällert aus dem Leierkasten. Man indet ihn überall
und: Wenn er einen nicht selbst zum Lachen bringt, lächelt
man ihn an. Im Alltäglichen sitzt er, im Wirtshaus bei der
Jause. So setzt der Wirt in Heimito von Doderers Kürzestgeschichte Der Oger (1958) ebendiesem solventen und hungrigen Oger, der nur mit Tausenderscheinen bezahlt und auch
freigiebig weitere Gäste einlädt, schliesslich als alles andere
verzehrt ist, seinen Ober zum Essen vor. Als der Wirt am
nächsten Tag zur Leiche eines ihm Unbekannten gerufen
wird, der am Vorabend überfahren worden ist, bejaht er die
Frage, ob es sich beim Toten um seinen verschwundenen
Ober handelt. „So kam es, dass drei Tage später fast dreissig
Personen hinter dem Sarge eines Unbekannten gingen, dessen honettes Begräbnis sie bestellt hatten, um jetzt am Friedhofe bedrückt und niedergeschlagen im Leichenzuge zu
wandeln, da keiner so genau wusste, ob er nicht doch und
wie weit er etwa an dieser Sache beteiligt sei. Es sah ganz wie
echte Trauer aus. Selbstverständlich ging auch der Wirt
schwarzgekleidet mit.” Man erinnere sich an den österreichischen Demokratie-Begriff...
Die Österreicher und ihr Totenbrimborium; ein Besuch im
Wiener Bestattungsmuseum ist dringend empfohlen. Man
schwankt - betrunken vom lautren Vogelbeer-Schnaps - zwischen dem Komischen und Tragischen, man lotet es aus,
ernsthaft.
Sechste Mistgabel: Der Tod ist in Österreich
offenbar noch sehr lebendig.
Nun stösst man, nachdem einiger Mist weggeräumt und
nachlässig verstreut worden ist, auf einen Klumpen: den österreichischen Helden! Es ist der Menschenfeind. Rappelkopf spricht in Ferdinand Raimunds Stück Der Alpenkönig
und der Menschenfeind (1828) archetypisch: „Es ist aus! Die
Welt ist nichts als eine giftige Belladonna, ich habe sie gekostet und bin toll davon geworden. Ich brauch nichts von den
Leuten, und sie kriegen auch nichts von mir, nichts Gutes,
nichts Übles, nichts Süsses und nichts Saures. Nicht einmal
meinen sauren Wein will ich ihnen mehr verkaufen.” Egomanisch und unausstehlich ist dieser Typus, versessen ist er
in seinem Glauben an das Schlechte, er ist einsiedlerisch,
mürrisch. Aber gerade in diesem galligen, blinden Hass auf
alles und alle ist er komisch, tragisch? Bernhards nörgelnde
Geistesmenschen mit ihren unerträglichen Manierismen,
sind sie nicht eigentlich putzig in ihrer Kleinlichkeit, bedauernswert wie Nippes am Rande eines - Misthaufens? Es ist
zum Lachen. Es ist zum Weinen. Abgrund ist es ohnehin.
Obsessiv ist der österreichische Held. Reger in Bernhards
Alte Meister (1985): „Auf einer xbeliebigen Seite Stifter ist so
viel Kitsch, dass mehrere Generationen von poesiedurstigen
Nonnen und Krankenschwestern damit befriedigt werden
können.” Nicht nur diese Klientel kann er befriedigen, auch
unsere; man indet nämlich - oh Wunder - noch anderes als
Kitsch. Der Maler Roderer in Stifters Nachkommenschaften
(1865) baut sich eigens eine Blockhütte, um ein Moor abzumalen, er will „die wirkliche Wirklichkeit darstellen” und
dazu muss er „die wirkliche Wirklichkeit” immer neben sich
haben. Er scheitert - man muss fast sagen - naturgemäss und
verbrennt am Ende der Erzählung sein Bild. Und weht in
Stifters Bunten Steinen (1853) nicht immer irgendwo sublimerweise weisse Wäsche an Schnüren? Man könnte auch an die
Obsession der dicken Damen in Doderers Die Dämonen
(1956) denken. Oder stürzte man dann endgültig in den Abgrund latenter Trieb-Federn einer Künstlerbiographie? Wie
es die (nicht minder obsessive) Erika Kohut in Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin (1983) sagt: „[...] als entwüchse erst
dem Komposthaufen der Geschlechtlichkeit das Gurkenbeet des reinen Wohllauts.”
Siebente Mistgabel: Der österreichische Held
ist obsessiv. Ob Hanswurst, Misanthrop oder
manischer Geck, jeder hat seinen geheimen
Dung, mit seinem ganz eigenen Geruch und
jeder hat seine ganz eigene Weise, diesen Dung zu
veräussern.
Und wenn man schon beim Dung ist, ist man auch beim
Essen. Essentiell ist die Mehlspeise, der Lungenbraten und
die Blunzen! Zieht man Nestroys Titus Feuerfuchs aus Der
Talisman (1840) an den Haaren (oder der Perücke) herbei, so
wird`s gar existentiell: „In mir organisiert sich aber auch
schon Misanthropisches - ja - ich hass dich, du inhumane
Menschheit, ich will dich liehen, eine Einöde nehme mich
auf, ganz eseliert will ich sein! - Halt, kühner Geist, solcher
Entschluss ziemt dem Gesättigten, der Hungrige führt ihn
nicht aus. Nein, Menschheit, du sollst mich nicht verlieren.
Appetit is das zarte Band, welches mich mit dir verkettet,
carte blanche
0
welches mich alle Tag` drei-, viermal mahnt, dass ich mich
der Gesellschaft nicht entreissen darf.” Hat man hier einen
Grund gefunden, warum man sich nicht entleibt? Dieses
Mort du terroir, das sich auf unseren Mistgabeln angesammelt
hat, kompensiert durch Speis und Tank du terroir, Grüner
Veltliner, Zweigelt, Schilcher, na? Was ist denn diese Welt,
dieses terroir? „Eine Wurst / eine kurze dicke nach innen geschissene Wurst”, sagt der Hundsmaulsepp in Werner Schwabs
Stück Mein Hundemund (1991). Die Welt sitzt in den eigenen
Gedärmen. Was man frisst, gibt man von sich, und düngt
damit die Welt, um, was spriesst in Folge, wieder aufzufressen. Und wie steht es mit der Geselligkeit? „Das Würstel als
Metapher für eine kulturelle Solidarität”, wie Jürgen in
Schwabs ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM (1992)
verkündet. In diesem Stück wagt sich ein schönes, städtisches
Paar in den menschlichen Abyssus einer österreichischen
Buschenschenke. Das entsprechend schwabisch-abgründige
Personal philosophiert unter anderem über Wurst und Brot.
Schweindi sagt, er brauche „das massenhafte Brotgefühl” in
seinem Körper: „Brot und Wurst... grossartig, der Leib des
Herrn und das Fleisch der Erde.” Doch das anwesende Paar
wird von Schweindi angegriffen. Das seien doch genau solche Menschen, die sagen, „dass Brot ein Scheissdreck ist,
dass Brot ein Nichts ist, dass unsereins ein Nichts ist.” Der
Gemeinschaft, ohnehin erhitzt und erregt, bleibt nichts anderes übrig, als dieses Paar in corpore zu vergewaltigen und
schliesslich in einer kannibalischen Orgie zu zerreissen und
sich einzuverleiben. Das ist Würstelsolidarität. Auch in Peter
Turrinis Sauschlachten (1972) erlebt man die österreichische
Gastfreundschaft. Am Schluss des Stücks hört man die Bäuerin: „Hörst net Zwölfeläuten? Kommts essen, es is angricht. Der Schweinebraten is a schon fertig.” Das Schwein
wurde vorher durch die Dorfgemeinschaft geschlachtet, es
ist - notabene - der stumme Bauernsohn Valentin.
Achte Mistgabel: Österreich hat eine reiche und
bekömmliche Küche, guten Wein, Gastlichkeit
wird hochgehalten. Sähe man hinter die Fassaden,
liefe man Gefahr, sich zu verschlucken. Also
bewundere man den Vordergrund.
Nun ist man bei diesem frohen und unverschämten Herumstochern in besagtem Misthaufen an einem Punkt angelangt,
in dem sich alles zu vermischen scheint, was man so hübsch
auf dem Feld zu verteilen vermeint hat. Eine Sauerei, das!
Sinnierend würde man mit der abgenutzten Mistgabel alles
wieder zusammenkratzen und -schaben, schmisse alles wieder auf einen Haufen. Kontemplierend in dieser Handlung
würde man - mit philosophisch gefalteter Stirn - plötzlich
einsehen: man hat es nicht mit einer Kultur zu tun, sondern
der Misthaufen besteht aus deren vielen: Eine Strohkultur,
eine Kultur der Wärmegase, da eine dufte Kultur des Ammoniaks, etwas grösser eine Exkrementalkultur, gleich neben einer eher lachländischen Jauchenkultur, eine Strohkultur mit aufragenden Halmen, ein Heuhaus, eine Einstreustadt, hier eine mächtige Kacka-Kultur... Mannigfaltigkeit,
potentielles Blühen. Und das wollte man vereinheitlichen,
Mist!
Letzter Mist: Österreich gibt es nicht. Oder nicht
mehr. Oder erst seit kurzem. Oder schon seit
langem. Alles liegt quer und kreuz. Österreich ist
ein Misthaufen! ◊
Steckbrief: Der Autor studiert an der Universität Bern Deutsche
Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte im Endzeitstadium. Der
Text entstand vor Jahren in einem Proseminar zu Thomas Bernhard,
wurde mittlerweile aber einige Male erweitert und verformt.
expositionen
Wagnis ohne Erkenntnis
Ein Blick auf Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
Julian Reidy
C
hristian Krachts neues Buch Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ist ein
wirres und irres kontrafaktisches Fabulierstück. Der 1966 geborene Schweizer ersinnt einen
alternativen Verlauf der Geschichte: Statt sein Exil zu verlassen, zettelt Lenin 1917 in der
Schweiz eine Revolution an; die Alpenrepublik wandelt sich in der Folge zur SSR – zur
Schweizer Sowjetrepublik – und verwickelt sich in einen Weltkrieg mit dem faschistischen
Deutschland und dessen britischen Verbündeten.
Zu Beginn der erzählten Zeit geht dieser Krieg „in sein
sechsundneunzigstes Jahr”. Der namenlose Ich-Erzähler, ein
„Parteikommissär in Neu-Bern”, erhält den Auftrag, den
mysteriösen Oberst Brazhinsky festzunehmen, der sich ins
Réduit, die gigantische Alpenfestung der SSR, gelüchtet hat.
Erst nach geschickten Verzögerungen präsentiert Kracht die
Lebensgeschichte des Protagonisten, eines Afrikaners, der in
seiner Heimat eine von „schweizerische[n] Divisionäre[n]”
geführte Militärakademie besuchte. Was folgt, ist eine in beeindruckenden Bildern erzählte Reise Richtung Oberland
und Réduit, die in der Konfrontation mit Brazhinsky kulminiert und mit der Rückkehr des desillusionierten Parteikommissärs nach Afrika endet. Dabei ergeht sich Kracht nicht in
platten ‚was-wäre-wenn’-Phantasien, sondern kreiert mit
grossem Erindungsreichtum eine alptraumhafte Parallelwelt, in der die „Amexikaner” keine Rolle spielen, da sie mit
dem „schreckliche[n] Bürgerkrieg der geiederten Schlange”
beschäftigt sind, und in der Russland durch die „ungeklärt[e]
[...] Tunguska-Explosion”, die sich 1908 tatsächlich ereignete, „verstrahlt[.]” und „unbewohnbar” gemacht wurde.
Schönstes Deutsch
Es fällt nicht leicht, Krachts Roman zu rezensieren: Der Leser läuft Gefahr, durch die unbestreitbare atmosphärische
Kraft der Sprache, die brutale Konsequenz, mit der die Alternativwelt imaginiert wird, und die ilmreife und atemlose
Präsentation der durchaus mitreissenden Handlung eingelullt zu werden. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
unterhält tatsächlich vorzüglich, und wem dies genügt, der
wird mit diesem Buch glücklich werden. Der Text will aber
offenbar mehr sein als einfache Unterhaltungslektüre, wird
er doch vom Autor mit ironiefreiem und zuweilen pathetischem Gestus präsentiert und zumindest von der FAS als
„[d]er grosse Schweiz-Roman” gelobt. Die kritische Frage
nach den inhaltlichen Qualitäten des Werks, jenseits der
glänzenden Oberläche, sei also erlaubt. Zunächst ist festzuhalten, dass diese Oberläche vielleicht auch so glänzend
nicht ist – Gustav Seibt preist in der Süddeutschen Krachts
Sprache als „schönste[s], eleganteste[s] Deutsch, das derzeit
zu lesen ist”, was angesichts einiger grober sprachlicher
Schnitzer befremden muss: So ist einmal von „das [...] Urin”
die Rede, Deduktion und Induktion werden verwechselt,
statt ‚phosphoreszieren’ wird „phosphorisieren`” verwendet
(ein Wort, das es gar nicht gibt), und der schlimme Anglizismus ‚Sinn machen’ schleicht sich ebenfalls ein.
Postkoloniale Situationen
Auch Krachts kreative Leistung wirkt nicht mehr ganz so
beeindruckend, wenn man sich mit den offensichtlichen
Vorbildtexten auseinandersetzt, auf die im Roman vielfach
verwiesen wird, und sich vergegenwärtigt, was der Autor mit
diesen Einlüssen eigentlich anstellt. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten bietet besonders deutliche intertextuelle Bezüge auf Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness
und Friedrich Dürrenmatts Fragment Der Winterkrieg in Tibet. Von Dürrenmatt hat Kracht das Szenario der kriegszerstörten Schweiz, wie auch die winterlichen Kämpfe in alpiner Umgebung übernommen. Dürrenmatts Ich-Erzähler
hält seine Erlebnisse und Relexionen auf Höhlenwänden
fest; diese spielen auch bei Kracht eine Rolle: Als Kind bewundert der Parteikommissär die „geheimnisvollen Malereien” in den „Felshöhlen am Chongoni”, an die ihn später
die Reliefs zur Geschichte der Schweiz im Réduit erinnern;
wie Dürrenmatt verweist auch Kracht auf Platons Höhlengleichnis, und am Ende des Romans, auf dem Weg nach
Afrika, schreibt der Erzähler, wie derjenige in Dürrenmatts
Text, „Wörter, Sätze, ganze Bücher in die Landschaft hinein”. Die Handlung von Krachts Roman ist dabei gleichsam an derjenigen von Conrads Novelle entlanggeführt: In
beiden Fällen beschreibt ein Ich-Erzähler, wie er in einer
feindseligen Umgebung eine ominöse Figur ausindig macht,
die sich im ‚Herz der Finsternis’ verschanzt hat – in Conrads
Novelle ist dies Mr. Kurtz in seiner Flussstation im tiefsten
Dschungel, bei Kracht Brazhinsky im Réduit. Es lässt sich
unschwer zeigen, dass Kracht Heart of Darkness sehr genau
gelesen haben muss. Von den mannigfaltigen Verweisen auf
die Novelle sei hier nur der deutlichste genannt, der den
Schweizer gar zu seinem Text inspiriert haben könnte: An
einer Stelle entwirft Marlow, Conrads Ich-Erzähler, ein Alternativszenario, in dem Schwarze durch England ziehen
und als Kolonisten auftreten, was somit jener Umkehrung
entspricht, die Kracht in seinem Roman vornimmt – hier
bewegt sich tatsächlich ein Afrikaner mit „fearful weapons”
durch das Schweizer Mittelland und übt als Ofizier Autorität über einfache (weisse) Soldaten aus. Dieser Rollentausch,
gekoppelt mit der sukzessiven Ablösung des Protagonisten
von der schweizerischen Indoktrination und seiner nicht nur
geographischen Wendung zu den afrikanischen „Brüdern”
und „Ahnen”, mutet wie eine grosse postkoloniale Geste an.
Der ganze Emanzipationsprozess des Erzählers, der zuerst
„die Schweizer Zeit” hinter sich lässt, dann „die Masken”
seiner „Ahnen” sieht und schliesslich „über das Mittelmeer
hin und durch den Kanal, der nun uns Afrikanern gehören
würde” in seine Heimat zurückreist, spielt sich in bester Fanonscher Manier als Rückbesinnung auf die eigene präkoloniale Vergangenheit ab, wie übrigens auch der Exodus der
Afrikaner aus den von Corbusier geplanten Städten am Ende
des Romans (nach eigener Aussage setzte sich Kracht während der Vorarbeiten zu Ich werde hier sein im Sonnenschein und
im Schatten auch mit Fanons Theorien auseinander). Die eklektischen Verweise auf Fanons Befreiungstheorie sind allerdings bei genauer Betrachtung eher dekorativ und täuschen
nicht darüber hinweg, dass Kracht keine realistische postkoloniale Situation darstellt, sondern eine lyrisierend-delirierende Befreiungsphantasie. Die Krux der postkolonialen
Situation, namentlich die anhaltende und entmenschlichende
Abhängigkeit der Kolonisierten von den Kolonisten, wird
verschwiegen. Die (Selbst-)Befreiung der Kolonisierten gelingt in Krachts Text scheinbar reibungslos. Ganz anders
Hans Christoph Buch in seinem Roman Sansibar Blues oder
Wie ich Livingstone fand: „Wann kommt ihr Deutschen wieder?”, wird da der Autor in den ehemaligen deutschen Kolonien Togo und Kamerun gefragt – „Soviel zur postkolonialen Situation”, resümiert Buch nicht ohne Bitterkeit. Aber
schon Joseph Conrad bewies ein feines Gespür für diese
Perversion des Kolonialismus: Nach seiner Ankunft in Kurtz’ Lager fragt Marlow den verwirrten Russen, den er dort
antrifft, warum die Eingeborenen kurz zuvor sein Boot attackiert hätten. „They don’t want [Kurtz] to go”, lautet die
lakonische Antwort, obwohl ebendieser Kurtz sich von den
Afrikanern als Gott verehren lässt und sie brutal knechtet.
Indes scheint ein solches Gespür Kracht, dessen Darstellung
des Kolonialismus weitgehend im Dienste einer hypnotischen Sprachästhetik steht, vollkommen abzugehen. Soviel
zur postkolonialen Situation.
Wenn Zeichen trügen
Die Komplexitätsreduktion, die Kracht in seiner Schilderung des Zusammenbruchs der Schweizer Kolonien in Afrika vornimmt, ist symptomatisch für seinen Umgang mit den
Texten, auf die er immer wieder anspielt: Kracht ist stets auf
der Suche nach dem mot juste, dem atmosphärischen Tableau,
der wirksamen Formulierung; er kennt nur den drastischen
Augenblick, die brutale Episode. So entsteht ein Text, dessen monomanische sprachliche Effekthascherei bei allen
erwähnten Mängeln zu faszinieren und zu fesseln weiss, der
aber letztlich den schon von Conrad und Dürrenmatt behandelten Themen nie auf den Grund zu gehen vermag und
ihnen jegliche Subtilität raubt. Unter der glänzenden Oberläche indet sich bei näherer Betrachtung eben nicht viel
Erwähnenswertes. Der bereits kritisierte Umgang Krachts
mit der postkolonialen Situation ist dabei nur die Spitze des
Eisbergs; auch andere Motive und Szenen aus Heart of Darkness werden von Kracht in simpliizierter Form übernommen, sodass sie ihre ursprüngliche Komplexität verlieren
und zu blossen Versatzstücken werden. So stösst Krachts
Erzähler genau wie Marlow in Conrads Novelle auf eine
„armselige Hütte”, in der er überraschenderweise „Bücher
in englischer Sprache” vorindet. Vor der Hütte in Heart of
Darkness liegt zunächst eine schriftliche Warnung, die schwer
zu verstehen und deren „signature [...] illegible” ist. Das
Buch über „Seamanship”, das Marlow sodann im Innern der
Hütte indet, stört das ganze semiotische Universum, in dem
er sich bewegt: Es passt ganz offensichtlich nicht in seine
«So entsteht ein Text, dessen monomanische sprachliche Effekthascherei
bei allen erwähnten Mängeln zu faszinieren und zu fesseln weiss, der aber
letztlich den schon von Conrad und
Dürrenmatt behandelten Themen nie
auf den Grund zu gehen vermag und
ihnen jegliche Subtilität raubt.»
Umgebung – „such a book being there was wonderful enough” –, und es enthält Randnotizen „in cipher”, also in
einer Geheimsprache. Später stellt sich heraus, dass das Buch
dem Russen in Kurtz’ Station gehört, dass die Notizen eben
nicht in einer Geheimsprache, sondern in Russisch abgefasst
sind, und dass derselbe Mann auch die kryptische Warnung
vor der Hütte hinterlegt hatte. Bis zu dieser Erklärung aber
bleibt die ganze Hüttenszene rätselhaft und ist damit programmatisch für die Poetologie in Heart of Darkness: Conrad
konstruiert mit grosser Akribie eine Welt, die nicht mehr
lesbar ist, in der Zeichen täuschen können oder vollkommen
unverständlich sind, in der mithin die Einheit von Signiiant
und Signiié nachhaltig gestört ist. Die Hüttenszene in Krachts
Roman dagegen treibt einfach nur die Handlung voran.
Zwar kommt es auch hier zu einer kleineren semiotischen
Verwirrung – „[d]ie Titel sagten mir nichts” –, aber diese
wird später nicht wieder aufgegriffen und auch nicht weiter
relektiert. Eine Szene, die bei Conrad durchaus programmatische Funktion hat und trotz aller Schlichtheit mit
grösster Sorgfalt umgesetzt wurde, erscheint also bei Kracht
in vereinfachter und fast schon banaler Form wieder. Wenn
Zeichen trügen und die Welt nicht mehr interpretierbar ist,
hat das natürlich auch ethische Implikationen – diese werden
wiederum bei Conrad relektiert und spielen bei Kracht keine Rolle. Es ist gerade die Dichotomie von ‚zivilisierter’ und
‚unzivilisierter’ Welt, an der die Charaktere in Heart of Darkness entweder scheitern oder aber ihre moralische Integrität
beweisen: Im moralischen Vakuum des Dschungels „you
must fall back upon your own innate strength, upon your
own capacity for faithfulness”, und so kann man den Verlockungen der Barbarei entweder widerstehen, oder es ergeht
einem wie Kurtz: „[his] nerves[] went wrong”. Dieser zentrale Kontrast, der Heart of Darkness im Grunde erst zu
einem komplexen Text macht, fällt bei Kracht erneut weg
expositionen
– solche Feinheiten haben natürlich keinen Platz in einer
Welt, die sowieso nur noch die Barbarei kennt und sich seit
fast hundert Jahren im Krieg beindet, in der also die Unterscheidung zwischen ‚zivilisiertem’ und ‚unzivilisiertem’ Verhalten gar nicht mehr existiert. Diese Welt hat sich Kracht,
wie bereits erwähnt, gut ausgedacht, aber besonders interessant ist sie bei näherem Hinsehen eigentlich nicht, weil ihr
jegliche Kontraste und Subtilitäten abgehen. Kracht bedient
sich geschickt bei Conrad, vereinfacht jedoch so stark und
konzentriert sich derart auf die Realisierung eines möglichst
atmosphärischen Sprachduktus, dass diese intertextuellen
Verweise im Grunde blind bleiben und der Roman bei genauerer Lektüre platt, wirr und unverständlich wirkt.
Kein Wagnis
Dietmar Dath freut sich in seiner Rezension zu Ich werde hier
sein im Sonnenschein und im Schatten diebisch über Krachts Verwendung von „Erzähltechniken der Phantastik”, mit denen
es dem Autor gelänge, die „Radarfallen der öffentlich lizenzierten Literaturbetrachtung [zu] unterlieg[en]”. Das ist zuviel des Lobes. Wirklich gute Phantastik präsentiert uns
Kracht nicht; sein neuer Roman ist eher eine müde Variation
auf Joseph Conrads berühmtestes Werk, das er nicht ganz
zu verstehen scheint oder dessen hintergründige und feinsinnige Motive ihm einfach egal sind und dessen Plot er mit
einigen Dürrenmattschen Elementen anreichert. Letzten
Endes ist es ganz einfach: Krachts Vorbildtexte entspringen
problematischen historischen Situationen, auf die sie Antworten zu geben suchen. Dies macht die Qualität dieser
Werke aus. Conrad setzte sich mit dem Kolonialismus auseinander, und Dürrenmatt schrieb seinen Winterkrieg vor dem
Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges als „Versuch,
mich in die Wirklichkeit, von der ich und mein Land ausgeschlossen waren, durch eine erfundene Unwirklichkeit zu
integrieren, [...] indem ich nach einem Weltgleichnis suchte”.
Welche Komplexe aber bearbeitet Kracht? Auf welche Fragen gibt sein Buch Antwort? „Ohne das Wagnis von Fiktionen ist der Weg zur Erkenntnis nicht begehbar”, heisst es
im Winterkrieg, Dürrenmatts „Weltgleichnis” – Christian
Krachts neuer Roman ist eine durchaus gewagte Fiktion, die
aber ihre Vorbildtexte auf wohlfeile Anspielungsspender reduziert und sie wo immer möglich vereindeutigt und simpliiziert; eine Fiktion, die Ästhetik vor Gehalt stellt, Stil vor Substanz, und die letztlich keiner Erkenntnis den Weg bahnt. ◊
Bhabha, Homi K. 2004: Signs taken for Wonders. In: Rivkin,
Julia/Ryan, Michael (Hg.): Literary Theory: An Anthology
Bronner, Stefan 2009: Das offene Buch – Zum Verhältnis
von Sprache und Wirklichkeit in Christian Krachts Roman
„Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten”. In:
Deutsche Bücher 2 (2009). 103-111
Conrad, Joseph 2002 (1899): Heart of Darkness
Fanon, Frantz 1981: Die Verdammten dieser Erde
Kracht, Christian 2008: Ich werde hier sein im Sonnenschein und
im Schatten
Julian Reidy studiert Germanistik und Anglistik im 10. Semester
an der Universität Bern. Dieser Text wurde im Rahmen des
Kolloquiums „Gegenwartsliteratur” verfasst.
„Der Löwe besteht aus verdautem Schaf”
Zur Antikenrezeption im Mittelalter
Tamara Hügli
D
as Mittelalter kann nicht als Bruch zur Antike gedacht werden. Vielmehr treten die Denker
und Dichter der so genannten ,dunklen Zeit’ in regen Dialog mit ihren Vorgängern. Diese
Konstanz wurde im Mittelalter denn auch explizit ruchbar gemacht: Nicht nur die politische
Macht legitimierte sich über vielfältige Bezüge zu antiker Herrschaft, sondern auch das
kulturelle ,Wissen’ benutzte diese Strategie auf äusserst kreative Weise.
Zwerge auf den Schultern von Riesen
Die „Antike im Mittelalter” – so das Thema der Ringvorlesung des Berner Mittelalter Zentrums im Herbstsemester
2009 – ist ein weites Feld: Aus der Antike blieb schliesslich
vieles sogar bis in unsere Zeit erhalten. Was der Limes materiell veranschaulicht, behält Gültigkeit bis hin in die Bereiche des christlichen Gedankenguts, denn mit Numenius:
was ist Platon anderes als Moses in attischem Dialekt?
Eindrücklich wird dieses Kontinuum durch das bekannte
Bild von Zwergen auf den Schultern von Riesen zum Ausdruck gebracht, das in Johannes’ von Salisbury Metalogicon
zum ersten Mal auftaucht und das dessen Lehrer Bernhard
von Chartres zugeschrieben wird:
Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse
quasi nanos gigantium humeris insidentes, ut
possimus plura eis et remotiora videre, non
utique proprii visus acumine, aut eminentia
corporis, sed quia in altum subvehimur et
extollimur magnitudine gigantea. (zit. nach
Merton 2004: 46)
Bernhard von Chartres sagte, wir seien
wie Zwerge, die auf den Schultern von
Riesen sitzen, so dass wir mehr und weiter
Entferntes als diese sehen können, freilich
nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder
hervorragender Gestalt, sondern weil wir
durch ihre riesenhafte Grösse in die Höhe
getragen und emporgehoben werden.
Das Bild zeigt aus der Sicht des Mittelalters das Verhältnis
zwischen den zeitgenössischen Gelehrten und ihren antiken
Vorgängern: Sie bezeichnen sich selbst als klein wie Zwerge,
weil sie jedoch auf dem Wissen der Antike, dem Riesen,
aufbauen können, können sie weiter sehen als ihre Vorgänger. Eine entscheidende Neuerung war zudem das Christentum, mit dem sie – ihrer Meinung nach – einen Vorteil gegenüber der heidnischen Antike besassen. Das Bild beinhal-
tet den steilen und mühsamen Aufstieg auf den Berg dieses
Wissens und es ist nicht einfach, oben zu stehen und das
Gleichgewicht nicht zu verlieren, wie Merton anmerkt. Da
bleibt manchem Zwerg keine Zeit, die Aussicht zu geniessen
und mehr zu entdecken als der Riese unter ihm. Unmöglich
wird dies sogar, wenn der Riese wankt und einstürzt. Das
Bild zeigt, dass trotz aller Bescheidenheit und trotz der Verehrung ihrer Vorgänger die Menschen im Mittelalter ebendiese Vorgänger zu überbieten glaubten.
Die Fortführung des Reiches
Der Begriff „Mittelalter” taucht als „medium aevum” erst
bei den Humanisten auf, zurückgehend auf Petrarca, der die
Zeit zwischen der „aetas antiqua” und der „aetas nova” als
„tenebra” („dunkel”) bezeichnet. Die Menschen im Mittelalter hingegen sahen sich nicht in der Mitte zwischen einer
alten und einer neuen Zeit, sondern in eschatologischer Hinsicht in der Zeit, an deren Ende das Jüngste Gericht stattinden würde. Diese Vorstellung geht auf das 2. Kapitel des
Buches Daniel im Alten Testament zurück, in dem Daniel
prophezeit, dass nach dem goldenen Reich Nebukadnezars
ein silbernes, ein bronzenes und ein in Eisen und Ton gespaltenes Reich folgen wird, bevor das Jüngste Gericht eintrifft. Hieronymus deutete diese vier Reiche als Babylon,
Persien, Griechenland und das in West- und Ost- gespaltene
Rom. Damit Daniels Prophezeiung ihre Gültigkeit nicht verlor, musste im Mittelalter nun ein Weg gefunden werden, zu
erklären, weshalb das Ende der Welt nach dem Ende des
Römischen Reiches nicht gekommen war. Dies war anhand
des Konzeptes der ,translatio imperii’ möglich: Es wurde
eine bruchlose Übernahme und Fortführung des Römischen
Reiches durch die Karolinger konstruiert, so dass das vierte
Reich noch immer Bestand hatte.
Dieses Konzept garantierte nicht nur den Aufschub des
Jüngsten Gerichts, sondern legitimierte auch den eigenen
Machtanspruch. Analog zu Vergil, der mit Aeneas eine Verbindung zwischen dem zerstörten Troja und Rom herstellte,
versuchten mehrere Dichter Rom mit ihrer jeweiligen Herkunft zu verknüpfen: Beispielsweise schufen Geoffrey von
expositionen
Monmouth und Wace mit Brutus, einem Urenkel von Aeneas, eine Verbindung zu Grossbritannien, wie Lucy Perry
in ihrem Referat „The Romans in Britain and the Britons in
Rome: Julius Caesar and Arthur in the Legendary Chronicle
Tradition” erläuterte; und Heinrich von Veldeke stellte in
seinem Eneasroman eine Verknüpfung zwischen Aeneas
und dem Staufergeschlecht her, wie aus dem Vortrag „ûz
Pegases urspringe: Die ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts’
am Beispiel der Aeneasromane” von Marie-Sophie Masse
hervorging. Im Eneasroman wird in der so genannten „Stauferpartie” das Grab des Königssohnes Pallas, der mit Aeneas
gegen Turnus kämpfte, zur Zeit Friedrich Barbarossas entdeckt und geöffnet. Eine Lampe, die seit der Beerdigung des
Pallas’ vor über 2000 Jahren dank eines speziellen Dochtes
brannte, erlischt gerade in diesem Augenblick, der Docht
glüht jedoch noch. Dieses Feuer symbolisiert die direkte
Verbindung zwischen der Antike und dem Mittelalter, zwischen dem Römischen Reich und der Stauferherrschaft.
Die Fortführung des Wissens
Ähnlich wie die ,translatio imperii’ funktioniert das Konzept
der ,translatio studii’, d.h. der Weitergabe des Wissens: Eine
Quelle aus der Antike hatte, im Gegensatz zu etwas neu Erfundenem, autoritären Charakter. Trotzdem wurden im Mittelalter die Motive der Antike nicht unverändert übernommen; die Kunst bestand darin, das schon vorhandene Material neu und überraschend zu kombinieren. Die Antike wird
sozusagen „verdaut” – nach Paul Valéry: „Rien de plus original, rien de plus soi que de se nourrir des autres. Mais il
faut les digérer. Le lion est fait de mouton assimilé.” (Oeuvres II: 478). Die Motive der Antike erscheinen im Mittelalter in einer neuen, christianisierten Form.
Dies wurde am Referat von Daniel Dossenbach über die
„Antikenrezeption in der Klostermedizin” deutlich: Die
Klostermedizin im Mittelalter bezog ihr Wissen u.a. von
Hippokrates, Galen, Dioskurides und Caelius Aurelius, welche Cassiodor in seinen Institutiones divinarum et saecularum
litterarum seinen Mönchen im Sinne einer umfassenden Bildung zur Lektüre empfahl; ferner wurde auch die Historia
naturalis Plinius’ des Älteren rezipiert. Übernommen wurde
insbesondere die Humoralpathologie (Viersäftelehre), die
auf Empedokles und Aristoteles zurückgeht und die Galen
vollständig zusammengetragen hat. Gemäss dieser Lehre
entstehen Krankheiten durch eine Dyskrasie, d.h. eine Störung im Gleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, Schleim,
schwarze und gelbe Galle. Im Mittelalter kamen zum antiken
Gedankengut christliche Anschauungen hinzu: Eine Krankheit konnte als Prüfung oder Strafe Gottes für sündiges Verhalten aufgefasst werden. Der einzige Arzt, der vollständige
Heilung garantieren konnte war Jesus, der Lazarus sogar
vom Tode zu heilen vermochte (Joh.11). So verwundert es
nicht, wenn eigentlich heidnische Heilzauber mit einer
christlichen Färbung versehen wurden, wie es bei folgendem
Wurmsegen der Fall ist:
Pro Nessia.
Gang uz, Nesso,
mit niun nessinchilinon,
uz fonna marge in deo adra,
vonna den
adrun in daz leisk,
fonna demu leiske in daz fel, fonna demo
velle in diz tulli.
Ter pater noster
(Althochdeutsches Lesebuch. Braune/
Ebbinghaus 1994: 90)
Gegen Würmer.
Fahr aus, Wurm, mit neun Würmchen,
heraus aus dem Mark in die Adern, aus den
Adern in das Fleisch,
aus dem Fleische in die Haut, von der Haut
in diese Pfeilspitze/Tülle.
Drei Vater Unser.
Die Krankheit wird exorziert, und die dreimalige Wiederholung des Gebetes am Schluss soll Gottes Schutz garantieren.
Der Begriff „Nesso” lässt sich möglicherweise auf lat. „nescio” („ich weiss nicht”) zurückführen, was nach Dossenbach
die allgemeine Unsicherheit in der Bestimmung innerer
Krankheiten und mit deren Umgang relektiert. Der Wurm
galt gerade bei inneren Krankheiten gemeinhin als häuigste
Krankheitsursache, weshalb man sich hinter dem Begriff
Nesso durchaus einen Wurm vorstellen könnte. Deutlich
wird hier die Notwendigkeit, das Übel bei seinem Namen zu
nennen, um Kontrolle darüber zu erhalten – eine Vorstellung, die seit der Antike im Christentum wie im Judentum
tief verwurzelt ist. Diese bildet letztlich auch den Kern des
Märchens vom „Rumpelstilzchen” der Gebrüder Grimm.
Dass man das Übel über dessen Namen nicht nur beherrschen, sondern auch herbeirufen kann, spiegelt sich beispielsweise auch in der Etymologie des Wortes „Bär” wider:
Die ursprüngliche Bezeichnung für dieses Tier ist im Germanischen verloren gegangen; durch die Umschreibung „der
Braune” (aus der Wurzel ie. *bher-) versuchte man ein mögliches Herbeirufen zu umgehen. Durch die treue und unrelektierte Übernahme antiker Vorlagen sind so auch viele
magische Heilpraktiken in die Klostermedizin gelossen, die
dann christlich umgeformt – „verdaut” – wurden.
Von der Spinne zur Biene
Auch im Eneasroman Heinrichs von Veldeke wurden antike
Motive aufgenommen. Eines davon ist der Mythos von
Arachne, die sich mit der Göttin Pallas Athene im Weben
messen will und als Strafe für ihren Hochmut schliesslich in
eine Spinne verwandelt wird. Nach Marie-Sophie Masse kann
diese Geschichte als Metapher für eine Dichterigur verstanden werden; der Zusammenhang von „Text” und „Textilie”,
also von Dichter und Weber, ist geläuig. Wenn bei Heinrich
von Veldeke sowie bei seiner antiken Vorlage Ovid nun die
Schülerin Arachne sich gegen die Ältere, Pallas Athene, auflehnt, kann das als Gleichnis für einen Dichter, der die Kunst
der Vorgänger nicht respektiert, verstanden werden.
Masse führte dazu einen Auszug aus The Battle of the Books
von Jonathan Swift an, in dem es heisst, dass die Einstellung
und Arbeitsweise der Biene viel ehrenwerter als die der Spinne sei. Jene sammelt nämlich leissig bereits vorhandenes
Material ein und macht daraus etwas Eigenes, analog zum
selektiven Prozess der literarischen Arbeit im Mittelalter, die
aus Aneignung und Verarbeitung besteht. Bei dieser Arbeit
entstehen gemäss Swift Honig und Wachs, also Süssigkeit
und Licht, was schöner und nützlicher ist, als Spinnweben.
Dieses Plädoyer für die Arbeitsweise der Biene führt uns
wieder zurück zum Anfang dieses Textes und zu Valérys
Zitat: „Le lion est fait de mouton assimilé.” ◊
Dossenbach, Daniel 2008: Mit Heilzaubern und Gottes Segen.
Zur Verwendung der Magie in der mittelalterlichen Klostermedizin
Merton, Robert K. 2004: Auf den Schultern von Riesen. Ein
Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. 2. Aul.
Thomas, Heinz 1997: Art. ‚Translatio Imperii’. In: Lexikon
des Mittelalters VIII, Sp. 944-946
Valéry, Paul 1960: Oeuvres II (Bibilothèque de la Pléiade)
Tamara Hügli studiert an der Universität Bern Germanistik und
Klassische Philologie im 9. Semester. Der vorliegende Text basiert
auf einem Essay, den sie anlässlich der BMZ-Ringvorlesung
„Antike im Mittelalter” im HS 09 geschrieben hat.
expositionen
Ein Tempel ist wie eine Waschmaschine
Die religiöse Organisation der indischen Hindus in der Schweiz
Ursina Wälchli
H
eute leben in der Schweiz zwei verschiedene Gruppen hinduistischen Glaubens: Hindus aus
Indien und Hindus aus Sri Lanka (Tamilen). Obwohl sich in den Heimatländern die
religiöse Aktivität beider Gruppen kaum unterscheidet, besteht in der Schweizer Diaspora
ein auffälliger Unterschied: Während die Tamilen aus Sri Lanka schon knapp 20 Tempel
errichtet haben, gibt es keinen einzigen religiösen Bau indischer Hindus.
Kein indischer Hindutempel
Hindus sind keine augenfällige Minderheit – insgesamt leben
rund 51`000 Personen in der Schweiz – und wenn sie einmal
ins Gesichtsfeld rücken sind es zumeist die tamilischen Hindus aus Sri Lanka. Knapp ein Fünftel der Schweizer Hindus
stammt aber aus Indien, vor allem aus den Bundesstaaten
Bengalen, Gujarat und Maharashtra. Viele Inderinnen und
Inder sind auch aus Kerala oder dem Punjab in die Schweiz
gekommen, diese gehören aber meist einer christlichen Kirche oder der Sikh Gemeinschaft an. Bei rund 10`000 Gläubigen überrascht es, dass es in der Schweiz keinen einzigen
Tempel gibt, der von und für indische Hindus betrieben
wird. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass in Indien
der Tempel und die gemeinsame religiöse Praxis, zumindest
an Feiertagen, auch in eher säkular geprägten Familien eine
sehr zentrale Rolle spielen.
«Bei rund 10’000 Gläubigen überrascht es, dass es in der Schweiz keinen einzigen Tempel gibt, der von
und für indische Hindus betrieben
wird.»
Zudem lehren die Diasporatheorien, dass die Religionsausübung im Exil normalerweise eher zunehmen sollte; dies
weil Religion ein wichtiger Faktor der Identitätsbildung
darstellt und dazu dient, eine Gruppenidentität der Migranten im fremden Land zu fördern. Sie verhilft überdies
zur Bewahrung der eigenen Tradition. Religiöse Zentren in
der Diaspora sind auch deswegen wichtig, weil sie in der
Fremde oft zusätzliche Funktionen übernehmen. Neben
ihrer religiösen Funktion bilden sie auch einen Ort des kulturellen und sozialen Austauschs und der Erziehung der
Kinder. Durch einen Tempel wird die Religion der zugewanderten Gemeinschaft erst sichtbar. So wird ein Tempel
als eine Selbstrepräsentation gegen innen und eine Reprä-
sentation der gesamten Hindu-Gemeinschaft gegen aussen
wahrgenommen.
Diesen Tatsachen entspringt die Frage, aus welchen Gründen in der Schweiz kein eigener Tempel der indischen Hindu-Gemeinschaft existiert – und scheinbar auch nicht angestrebt wird. In 10 Interviews mit unterschiedlich lange in der
Schweiz wohnhaften Indern konnten einige zentrale Antworten gefunden werden.
Inderinnen und Inder in der Schweiz – Eine kurze
Migrationsgeschichte
Die Geschichte der Migration von Inderinnen und Indern
in die Schweiz beginnt ab den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Damals kamen die ersten Inder als Angestellte
diverser diplomatischer Organisationen mit Sitz in Genf in
die Schweiz. Zugleich begannen indische Studenten an der
ETH Zürich zu studieren. Diese studentischen Aufenthalte
beschränkten sich meist auf wenige Monate oder Jahre, intensivierten sich aber laufend und setzen sich bis heute fort.
Einige dieser Austauschstudenten heirateten Schweizerinnen
und gründeten hier eine Familie.
Ab den 1950er Jahren begannen Firmen wie BBC (heute
ABB) oder Sulzer, für Bereiche, in welchen in der Schweiz
Mangel an qualiizierten Arbeitskräften herrschte, indische
Fachkräfte anzuwerben. Diese gut ausgebildeten und oft der
Mittel- und Oberschicht entstammenden Inderinnen und
Inder liessen sich häuig deinitiv in der Schweiz nieder und
stehen heute kurz vor oder bereits im Pensionsalter. Seit den
1970er Jahren sind indische Betriebswirte, seit den 1990ern
auch Finanz- und IT-Spezialistinnen und Spezialisten in der
Schweiz gefragt. Diese verfügen aber meistens nur über temporäre Arbeitsverträge und bleiben eher kurzzeitig.
Kurzum, die Migration in die Schweiz ist zumeist ein individuelles Unterfangen. Als Pull-Faktoren wirken die
Möglichkeit einer besseren Ausbildung oder eines Arbeitsverhältnisses. Dabei sind es oft Einladungen von Unter-
nehmen oder Studieneinrichtungen, die die Immigration
erst ermöglichen.
Bis Heute bleibt die Schweiz für Inderinnen und Inder attraktiv, da sie Sitz diverser internationaler Organisationen ist
und die englische Sprache als sehr gut etabliert gilt. Zudem
bemühen sich die Schweizer Hochschulen immer intensiver
um internationale Studierende. So halten sich heute an den
ETHs Zürich und Lausanne je über 250 indische Studierende und Promovierende auf. In Zürich stellten Zuwandernde
aus Indien im Jahre 2007 mit über 1400 Personen die zweitgrösste Gruppe von zuziehenden Ausländerinnen und Ausländern dar. Diese ,modernen Nomaden’ entsprechen dabei
allerdings nicht mehr dem typischen indischen Migrantenbild: Sie kommen aus den unterschiedlichsten sozialen
Schichten und haben, laut einer Studie, oft wenig Interesse
daran, sich zu integrieren, da sie durchschnittlich nicht länger als zehn Monate in der Schweiz bleiben.
Indische Organisationen in der Schweiz
Die Gründe für die individuelle Migration aus Südasien inden sich vor allem in der generell besseren Verdienstmöglichkeit, im höheren Lebensstandard, der Möglichkeit zur
individuellen Entfaltung und der politischen Stabilität und
Sicherheit in den Industrieländern. Im Gegensatz zu den in
Gruppen in ein Land eingewanderten Migrierenden sind die
individuell Eingewanderten im Wesentlichen in die Schweizer Gesellschaft eingebunden. Dennoch gibt es in der
Schweiz achtzehn von Inderinnen und Indern geführte Organisationen, deren Anlässe hauptsächlich von Inderinnen
und Indern frequentiert werden. Neben überregionalen
Gruppen, die sich im Jahre 2005 zur Dachorganisation Indian Association Switzerland zusammengeschlossen haben, gibt
es auch speziisch auf eine Region oder Thematik ausgerichtete Verbände sowie schweizerische Ableger internationaler
Organisationen. Die meisten Gruppen treffen sich nur wenige Male im Jahr, zu besonderen Anlässen oder Festlichkeiten, die selbst organisiert werden. Es handelt sich dabei
meist um indische religiös-kulturelle Feste, die gemeinsam
gefeiert werden. An diesen Anlässen kommt die Diaspora
zusammen, man trifft weit entfernt wohnende Bekannte
wieder und plegt die Sprache der Heimat. Alle Organisationen verstehen sich als politisch sowie religiös neutral und
verfolgen auch gemeinnützige Ziele.
Religion versus Region
Dennoch gibt es in der Schweiz keinen Tempel der indischen
Hindus. Wieso nicht? In Interviews mit zehn Schweiz-Indern wurden mögliche Antworten gefunden. Bei allen länger
hier lebenden Befragten fand unmittelbar nach der Migration eine bewusste Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft,
Tradition und somit auch Religion statt. So veränderte sich
die Wahrnehmung des eigenen indischen Hintergrundes und
führte zu einem gesteigerten Interesse an Indien und dessen
Geschichte. In der neuen Minderheitssituation wurden auch
die Hindu-Elemente im Leben stärker wahrgenommen. Dies
hatte aber nicht unbedingt eine Verstärkung der religiösen
Identität zur Folge. Es verstärkte sich eher das Bewusstsein,
Hindu zu sein, und weniger die religiöse Praxis. Die gemein-
same Religion hat aber keine Bedeutung für eine gemeinsame Gruppenidentität. Vielmehr besitzt Religion eine persönliche Bedeutung für die einzelnen Inderinnen und Inder.
Viele gehen auch nicht aus religiösen Gründen in einen
Tempel, sondern um in eine südasiatische Atmosphäre einzutauchen oder um soziale Kontakte zu anderen Menschen
aus Südasien zu knüpfen. Allgemein wird von den Migrierenden Identität selten mit Religion in Verbindung gebracht.
Die Kategorie Hindu wird durchaus identitätsbildend verstanden, sie wird aber nicht als religiös wahrgenommen.
Vielmehr wird sie als die von den Eltern weitergegebene,
regionale Tradition verstanden.
Die Hindu-Identität ist also weniger national sondern vielmehr regional verankert. Eine gemeinsame Identität mit anderen Indern wird im Prinzip denn auch gar nicht gesucht.
Als kulturelle Treffpunkte dienen nicht religiöse Zentren,
sondern die streng säkularen indischen Vereine beziehungsweise die regionalen Gruppen, wo aus westlicher Sicht religiös konnotierte Festlichkeiten als Tradition – und in diesem
Sinne säkular – begangen werden.
Tamilische Solidarität
Im Gegensatz zur indischen Hindu-Gemeinschaft fusst die
Massenimmigration der Tamilinnen und Tamilen in die
Schweiz in einem Bürgerkrieg. Zwar kamen auch aus Sri
Lanka zuerst nur die einzelnen Männer, diese zogen aber
ihre Familien nach, sobald genug Geld vorhanden war. Von
Anfang an bestand zudem eine grosse Gruppensolidarität
und gemeinsame Identiikation durch die stark operationalisierte Ethnizität. Da auch die Hoffnung auf eine baldige
Rückkehr lange Bestand hatte, wurde die tamilische Sprache
aufrecht erhalten und das religiöse Leben möglichst unverfälscht weiter praktiziert. Aus diesem Grund wurden und
werden Tempel konstruiert und auch rege genutzt.
Mehr als ein Glaube
Da die Inderinnen und Inder im Gegenteil keine homogene
Gruppe bilden, wird eine gemeinsame Repräsentation gegen
aussen auch nicht gesucht. Eine grosse Anzahl der befragten
Inder lebt zudem in religiös gemischten Familien. Dort wird
versucht, den Kindern grundlegende Werte mitzugeben, auf
deren Basis sie sich später selbst für eine Religion entscheiden sollen. Für eine solche Erziehung ist ein Tempel als Vermittlungsort der Religion nicht unbedingt notwendig. Viele
der alteingesessenen indischen Migrierenden verzichten auf
eine bewusste Weitergabe der praktisch-rituellen indischen
Tradition an ihre Kinder. So meinte einer der Befragten, ein
Tempel sei wie eine Waschmaschine, da es egal sei, welcher
Marke die Maschine angehöre (also welche Gottheit im
Tempel verehrt wird) - es komme nur auf die Reinigungskraft an und die sei überall gleich. Das erklärt auch, weshalb
InderInnen bisweilen auch Kirchen besuchen, obwohl sie
nicht christlichen Glaubens sind. Somit fehlt ein wichtiger
Grund für den Tempelbau.
Allerdings beindet sich die indische Diaspora der Schweiz
in einem Umbruch. Der neue Trend zum temporären Aufenthalt in der Schweiz hat eine andere Form der Migration
expositionen
und somit andere Voraussetzungen für den Umgang mit
Religion zur Folge. Die neue Generation von immigrierenden Inderinnen und Indern scheint viel mehr Wert auf
eine öffentlich sichtbare, religiöse Praxis zu legen. Frauen
und Kinder werden heute auch für eine Aufenthaltsdauer
von wenigen Jahren vermehrt nachgezogen und das Bedürfnis nach Weitergabe von Kultur und Religion an eine
zweite Generation wächst. So entstanden seit den 1990er
Jahren mehrere regional geprägte Gruppierungen, die regelmässig religiöse Feste wie Durga Puja und Ganesh Chaturthi feiern.
(Noch?) Keine Nachfrage
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hauptgründe
für die Etablierung eines eigenen indischen Hindu Tempels
in der Schweiz bis heute fehlen. Obwohl eine vermehrte
Auseinandersetzung mit Indien stattindet, existiert keine
gemeinsame Identität der ansässigen Inderinnen und Inder,
deren Repräsentation gegen aussen oder innen erwünscht ist
und die eine bestimmte regionale oder konfessionelle Ausrichtung des Tempels rechtfertigen könnte. Zudem fehlt
eine zweite Generation weitgehend und das Bedürfnis des
sozialen Austausches wird in den säkularen Organisationen
oder allenfalls in den vorhandenen srilankischen HinduTempeln gedeckt. Diese Situation lässt sich vor allem auf die
individuelle Form der Migration zurückführen, die eine
räumliche Zerstreuung und eine erhöhte Zahl an religiös gemischten Familien zur Folge hatte. So gibt es bis heute kein
Bedürfnis nach einem eigenen indischen Hindu-Tempel.
Da sich die Schweizer Diaspora indischer Hindus gerade
jetzt in einem Wandel beindet, wäre eine Beobachtung der
weiteren Entwicklung in Bezug auf die Etablierung religiöser Zentren sehr spannend. Wird in den nächsten zehn
Jahren ein indischer Hindu-Tempel entstehen? Wird zugewartet bis eine regionale Gruppe die Grösse erreicht, um
einen eigenen Tempel zu bauen oder können Kompromisse
gefunden werden? Wie würde ein solcher Kompromiss aussehen und hätte ein solcher Tempel längerfristig Bestand? ◊
Amirtham, Arun 2008: Sixty Years of Indians in Switzerland.
In: Imhasly, Bernhard (Hg.): Friendship in Diversity. Sixty Years
of Indo-Swiss Relations. 104-108
Baumann, Martin/Stolz, Jörg (Hg.) 2007: Eine Schweiz – viele
Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens
Jacobsen, Knut A./Kumar, P. Pratap (Hg.) 2004: South
Asians in the Diaspora. Histories and Religious Traditions
Ursina Wälchli hat 2009 ihr Studium der Religionswissenschaft
an der Universität Bern beendet. Dieser Text basiert auf ihrer
Masterarbeit.
0
Von „Grillen-” und „Bremsenreitern”
Erstaunliche Parallelen zwischen Adalbert Stifters Waldsteig und
Christoph Martin Wielands Don Sylvio
Stefan Schröter
E
ine Verbindung zwischen Stifters humoristischer Erzählung ,Der Waldsteig’ und
Wielands Roman ,Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva’ herzustellen, ist nicht
gerade zwingend. Doch stellt man Stifters Hauptigur Tiburius Kneigt Wielands
Don Sylvio gegenüber und unterzieht die beiden Protagonisten einem systematischen
Vergleich, ergeben sich zwischen dem neurotischen Hypochonder und dem von
Feenmärchen besessenen Schwärmer erstaunliche Übereinstimmungen. Diese bilden
den Ausgangspunkt des umfassenderen Vorhabens, Stifters Erzählung sowohl
literaturhistorisch als auch im anthropologischen Diskurs zu verorten.
Tiburius Kneigt
Der Protagonist von Adalbert Stifters erstmals 1844 erschienener Erzählung Der Waldsteig hat einen merkwürdigen Namen: Tiburius Kneigt. Der Familienname lässt englische
Namen anklingen – und Engländer waren die prototypischen
Reisenden der Zeit. Ein verbreiteter Stich bildet paradigmatisch den spleensüchtigen Engländer als Besucher von Badeorten ab – auch Tiburius fährt ins Bad zur Kur – was vor
dem Hintergrund der humoristischen Elemente der Erzählung eine Deutung des Namens zulässt. Damit muss man
sich aber noch nicht zufrieden geben: Der Name Kneigt
erinnert an den englischen Begriff „Knight”, der, übersetzt
man diesen wörtliche als „Ritter”, eine neue Verständnismöglichkeit des Namens anbietet. Bei einem ersten lüchtigen Blick auf die Handlung stellt sich dies nicht als vollkommen abwegig heraus: Tiburius fährt in die „Fremde”,
(Stifter: 1033) wo er ein „Abenteuer” (Stifter: 1053) besteht
und aus der er mit einer Frau zurückkehrt. Zudem wird er
als „Grillenreiter” (Stifter 1082) bezeichnet, was zwar ebenfalls als humoristische Komponente gelesen werden kann,
jedoch alles andere als von der Idee ablenkt, Tiburius tatsächlich als einen Ritter zu betrachten.
Genau diese Assoziation bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung, die über Erec und Parzival zu Don Quijote und
schliesslich zu Don Sylvio von Rosalva führt. Christoph
Martin Wielands Roman Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva / Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht ist erstmals 1764
unter diesem Titel erschienen und gilt als eine produktive
Rezeption von Cervantes Don Quijote. Stellt man nun Tiburius
aus Stifters Waldsteig Wielands Don Sylvio gegenüber, ergeben
sich etliche – zum Teil frappante – Übereinstimmungen.
Medizinische und narratologische Fallgeschichten
Die Entwicklungen der beiden Protagonisten werden als
eine Krankheitsgeschichte erzählt, die sowohl die Struktur
als auch den Inhalt der Texte bestimmt. Damit einher gehen
die mitgeteilten Wirkungsabsichten, die sehr genau miteinander übereinstimmen. Der bei Stifter ausserhalb des Geschehens stehende Ich-Erzähler teilt die Geschichte eines
Freundes mit, „zum Nuzen und zum Frommen aller derer
[…] die große Narren sind; vielleicht schöpfen sie einen ähnlichen Vortheil daraus, wie er [Tiburius]” und „damit ich [der
Erzähler] manchem verwirrten Menschen nüzlich bin, und
daß man eine Anwendung daraus ziehe” (Stifter: 1014). Im
Nachbericht von Wielands Roman zieht der Erzähler, in dessen Figur sich der Herausgeber und der Autor der Geschichte überlagern, den Text sogar als Therapiemittel in Erwägung. Es wäre viel getan, wenn „die Medici in hypochondrischen und Milz-Krankheiten, in allen Arten von Vapeurs,
und hysterischen Zufällen, und so gar im Podagra, ihren Patienten künftig den Don Sylvio statt einer Tisanne einzunehmen verschreiben würden” (Wieland: 12f.). Wieland geht es
in seinem Werk vor allem um die therapeutische Wirkung
von Komik und Ironie; eine Absicht, die sich auch in Stifters
Erzählung abzeichnet. Deren Humor und didaktisch-pädagogische Funktion ist mehrfach hervorgehoben und beschrieben worden.
Strukturell zeigt sich bei Stifter eine Krankheitsgeschichte
indem seine Erzählung durch auktoriale Erzählerkommentare in drei Teile gegliedert ist, die Ursachen, Krankheitsbild
und Heilung der Hauptigur darstellen. Wielands Roman
enthält zwei Teile, wovon der erste die Beschreibung von
Don Sylvios Krankheit in ihrer Genese und ihrer Symptomatik enthält, und der zweite die Heilung der Hauptigur
erzählt. Auch inhaltlich sind die Übereinstimmungen bezüglich dem, was über die Kindheit und Jugend der Protagonisten zu erfahren ist und den damit in einer kausalen Relation stehenden Krankheitsbildern, erstaunlich. Sowohl Tiburius als auch Don Sylvio werden während ihrer Erziehung
von einer weiblichen Bezugsperson überbehütet, ihre Bildung beschränkt sich ausschliesslich auf das Erlernen der
Wissenschaften und schon als Kinder sind die beiden phantasiereich und gefühlvoll. Wie Tiburius’ sind auch Don Syl-
expositionen
vios Kindertage geprägt von Müssiggang und Einsamkeit.
Bei den sich später zeigenden Krankheitsbildern stehen jeweils eine Fixierung der Perzeption auf einen Gegenstand
und eine damit einhergehende Wahrnehmungsstörung im
Zentrum. Dies erscheint bei Tiburius als eine ausschliessliche Fixierung auf das eigene Selbst. Im Zuge seiner zwanghaften Ausschliessung vor der Aussenwelt und seinem Rückzug ins Innere entwickelt er Halluzinationen und einen Verfolgungswahn. Don Sylvio ixiert seine Wahrnehmung zwar
nicht ausschliesslich auf sein eigenes Selbst, dafür umso
mehr auf die Feen-Märchen – er ist geradezu besessen von
ihnen. Aufgrund deren übermässigen Lektüre überblendet
er schliesslich die Realität mit der erlesenen Wirklichkeit.
Objektiv nicht Wirkliches wird in seiner subjektiven Welt
wirklich.
Heilende Natur
Die Heilung kann für beide Hauptiguren als eine sich verändernde Wahrnehmung der objektiven Welt beschrieben
werden. Die Natur erscheint dabei in ihren verschiedenen
Dimensionen sowohl bei Stifter als auch bei Wieland als
Heilmittel. Auf einer praktischen Ebene führt sie durch ihr
objektives Dasein und ihre natürlich-emotionale Kraft, auf
einer theoretischen als eine natürlich-rationale Denkweise zur
Genesung, sodass beide Protagonisten die Aussenwelt mehr
und mehr wieder als das wahrnehmen, was sie tatsächlich ist.
In Stifters Waldsteig zieht schon ein einfaches Naturerlebnis
seine heilsame Wirkung nach sich. In ihrem objektiven Dasein macht die Natur Tiburius wieder empfänglich für Sinnesreize aus der Aussenwelt, sodass seine Sinne sich fortan
nicht mehr ausschliesslich auf sein Selbst richten. In ihrer
physischen Objektivität lässt die Natur ihn Schmerz erfahren, was zur Folge hat, dass er sich selber nicht mehr als
krank wahrnimmt und ihm die bis anhin fremde Aussenwelt
nicht mehr als fremd vorkommt. Eine physische und
schmerzhafte Konfrontation mit der realen Aussenwelt
führt auch bei Don Sylvio eine bedeutsame Veränderung
herbei; sie lässt Don Sylvio ein erstes Mal an der Wahrhaftigkeit seiner Illusionen zweifeln. Eigentliches Schlüsselerlebnis in seiner Genesung ist aber dann seine Begegnung mit
Donna Felicia. Durch sie wird die heilsame natürlich-emotionale Kraft der Natur wirksam, sodass in der Empindung
für diese Frau erstmals wieder das Eingebildete mit der Realität zusammenfällt. Eine Frauenigur verändert auch Tiburius’ Wahrnehmung der Aussenwelt. Das Erdbeermädchen
Maria lehrt ihn die Dinge der Aussenwelt bzw. der Natur
genau zu betrachten, und als das zu erkennen, was sie tatsächlich sind.
Während bei Stifter die konkrete Erfahrung der physischen
Natur für eine Genesung genügt, bedarf es bei Wieland
noch einer theoretischen Erkenntnis der Natur, die gemäss
der Aufklärung, der sich Wieland verplichtet hat, stark gewichtet wird. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass Don Sylvio erst durch die theoretische Erkenntnis von Natürlichkeit
und Künstlichkeit über die Vorführung von erfundenen Geschichten und angelegten Gärten nachhaltig kuriert wird.
Auch bei seiner Erfahrung der Liebe sind es letztendlich die
Naturgesetze, mit denen der Sieg der Empindung über die
Schwärmerei erlangt wird.
Die Frage stellt sich nun, wie diese teilweise erstaunlich genauen Übereinstimmungen zweier Hauptiguren zu interpretieren sind, die hier über eine mehrgliedrige Assoziationskette miteinander in Verbindung gebracht worden sind. Der
vorliegende Artikel legt denn auch den Grundstein zu einer
umfassenderen Untersuchung, die Stifters Erzählung sowohl
literaturhistorisch als auch im anthropologischen Diskurs
verorten und der Frage nachgehen wird, ob es Beschreibungsmuster von Krankheitsverläufen gibt, die für andere
als nur für die hier beschriebenen „Grillen-” und „Bremsenreiter” (Wieland: 206) gelten. ◊
Stifter, Adalbert 2007: Der Waldsteig. In: Studien. Hg. von
Ulrich Dittmann. 1014-1082
Wieland, Christoph Martin 2001: Die Abenteuer des Don Sylvio
von Rosalva. Hg. von Sven-Aage Jørgensen
Stefan Schröter studiert an der Universität Bern Germanistik und
Philosophie im 9. Semester. Der vorliegende Text basiert auf einer
Seminararbeit.
Mehr Gewalt? Mehr Aufmerksamkeit!
Eine soziologische Untersuchung im gesellschaftlichen Subsystem Fussball
Thilo Mangold
G
ehört Gewalt zum Fussball? Den Zusammenhang zwischen sportivem Gesellschaftsbereich
und sozialer Randerscheinung erklärt eine kulturwissenschaftliche Lizentiatsarbeit. Eine
Serie qualitativer Interviews ergab 2007: Wo politisch und medial oft polemisch eine Relation
negiert wird, ist, sozio-historisch betrachtet, ein Einhergehen offensichtlich. Gewalt und
Fussball sind verknüpfte Teile eines dynamischen Kultursystems.
Probanden aus verschiedenen Teilbereichen des Gesellschafts-Subsystems Fussball deinierten die vielschichtigen
Begriffe „Fussball” und „Gewalt” und stellten über persönliche Erlebnisse Verknüpfungen zwischen den beiden Bereichen her. Die themenzentrierten Leitfadeninterviews
wurden in einem ersten Auswertungsschritt mittels qualitativer Inhaltsanalyse mit bestehenden Erklärungsansätzen zur
Fussballgewalt verglichen. Dabei wurde die konstruktivistische These, die Fussball-Gewalt als eine von Fanszenegängern, Medien und Politik ‚geplegte’ Tradition sieht, neu
eingeführt und ebenfalls anhand der Interviews geprüft.
Fazit: Keine der geprüften Theorien ist über alle Zweifel
erhaben. Fussball-Gewalt lässt sich nicht monotheoretisch
erklären, die Wirklichkeit ist zu komplex. Es gibt keinen Regelfall für Fussball-Gewalt, an dem man die Theorien vergleichen könnte. Selbst der situative Erklärungsansatz versagt bei der Suche nach tiefer liegenden Ursachen von (Fussball-) Gewalt. Keiner Theorie kann aber gleichzeitig die
Erklärungsfähigkeit gänzlich abgesprochen werden. Selbst
dem als veraltet geltenden schichttheoretischen Erklärungsansatz können Probanden-Aussagen zugeordnet werden.
Widersprüchliche Wahrnehmungen
Mittels Codierleitfaden wurden die Gespräche im zweiten
Auswertungsschritt direkt miteinander verglichen. Gegensätzliche Aussagen der Interviewten über den Themenkomplex Fussball-Gewalt halten sich mit übereinstimmenden
Äusserungen in etwa die Waage. Die verschiedenen Sichtweisen, welche die Probanden auf Grund ihrer Position im
Gesellschaftssystem Fussball einnehmen, wurden dabei
deutlich. Eine grosse Diskrepanz zwischen den Äusserungen
der Probanden ist in der grundsätzlichen Herangehensweise
an die Gewalt-Thematik auszumachen.
Der Fan-Sozialarbeiter und der Stadion-Sicherheitsverantwortliche – beide haben in ihrem Arbeitsalltag mit unter
Umständen gewaltbereiten Personen Kontakt – machen manifeste Gewalt nicht als Problem an sich aus. „Ich erkenne
keine erhöhte Gewaltbereitschaft oder mehr Gewalt, im Ge-
genteil”, sagt der Sozialarbeiter. „Entsprechend etwas unternehmen, das musste ich noch nie”, gibt der Sicherheitschef
zu Protokoll. Genau umgekehrt will der Journalist die Sachlage beobachtet haben: „Also es hat ja in den letzten Jahren
eine Zunahme auch gegeben von diesen ganzen Fällen. Ich
meine die ganze Gesellschaft ist einfach aggressiver geworden. […] Der ganze Hooliganismus ist ein kleines Krebsgeschwür der Menschheit, oder.” Der Sportjournalist und der
Proispieler werten Gewalt fast diabolisierend und deinieren diese als gesamtgesellschaftliches Problem.
Ökonomisierung macht Fussballgewalt zum Problem
Gewalt als Teil der Gesellschaft zu anerkennen scheint aus
lösungsorientierter Perspektive entscheidend. Die psychologischen Aggressionstheorien sehen das Gewaltpotential als
Teil des Individuums. Aus soziologischer Sicht ist die vernetzte Denkweise unter Berücksichtigung der Komplexität
der Wirklichkeit der konstruktive Ansatz. Gewalt repressiv
aus der Gesellschaft verbannen zu versuchen, die Tabuisierung von Gewalt und pauschale Kriminalisierung von Gewalttätern lösen keine Probleme. Das Prinzip reaktionärer
Gegengewalt ist kein adäquater Lösungsansatz.
Aggressionen, denen kein Platz eingeräumt wird, tauchen in
informeller Form an marginalen Orten der modernen Gesellschaft wieder auf. Fussball-Gewalt ist ein Beispiel dafür.
Am Rande der repräsentativen Gesellschaft geschieht Gewalt, das schockiert und befremdet die medial beeinlusste
Öffentlichkeit. Hätte der Fussball nicht eine exponentielle
Ökonomisierung erfahren und hätte er somit nicht diese
grosse Beachtung erlangt, die er heute aus diversen Gesellschaftsschichten und -systemen erfährt, würde womöglich
auch Gewalt, die in seinem Umfeld geschieht, weniger wahrgenommen. Auch für die Probanden der Untersuchung hat
der Fussball einen hohen Stellenwert, sie mögen ihn in seinem Facettenreichtum. Gewalt steht bei keinem im Zentrum
seiner Fussball-Leidenschaft. ◊
expositionen
Imbusch, Peter 2005: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektive auf das 20. Jahrhundert
Mäder, Ueli u.a. (Hg.) 2005: Gewalt. Ursachen, Formen,
Prävention.
Mayring, Philipp 2007: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen
und Techniken
Lamnek, Siegfried 1995: Qualitative Sozialforschung.
Band 2: Methoden und Techniken
Thilo Mangold hat an der Uni Basel Soziologie,
Medienwissenschaften und Pädagogik studiert.
Er mag Härdopfelstock, kühles Bier und den FC Basel.
Der Text basiert auf seiner Lizentiatsarbeit.
zu letzt
expositionen
Michael Hauri ist freischaffender Fotograf aus Hannover. Er arbeitet u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die
Süddeutsche Zeitung. Ausgezeichnet mit dem Canon Proifoto Förderpreis, dem Prix Mark Grosset u.a. wiederspiegeln die
dokumentarischen Arbeiten des 26jährigen die Auswirkungen globaler Prozesse auf lokaler Ebene. Das Bild entstammt
einer Studie, in der die Gradualität der Modernisierung in der Mongolei beleuchtet wird.
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Global Studies („wir haben‘s erfunden!“) Ob‘s sich lohnt, musst SELBST du erkunden...
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religiöse Strukturen und deren sozio-kulturelle Netzwerke behandelt werden.
Für Fragen, ein Gespräch zur Entscheidungsfindung oder eine Studienberatung könnt ihr euch
jederzeit bei Prof. Jens Schlieter oder lic.phil. Sarah Werren melden
(sarah.werren@relwi.unibe.ch). Oder ihr schaut euch auf unserer Website um: www.cgs.unibe.ch.
einige bücher soll man schmecken,
andere verschlucken und einige wenige
kauen und verdauen.
Francis Bacon
BUCHHANDLUNG UNITOBLER 031 631 36 11
Sommer
2011
Ausgabe
3
uni
raf
kontrolliert
autopoiesis
findling
arno
väter
akzent
fremd
nordkorea
kleist
expositionen
1
Impressum
redaktion
hannes mangold,
fermin suter,
johannes willi
herausgeber
fachschaft germanistik uni bern
druck
kzub
aulage
hundertfünfzig
preis
drei franken
gestaltung
johannes willi,
manuel perriard
bild umschlag
malte wandel
beitragende
nadine amsler,
patrick gämperle,
manuela heiniger,
marie-josé kolly,
hannes mangold,
joanna nowotny,
manuel perriard,
philippe saner,
fermin suter,
johannes willi,
elias zimmermann
kontakt/inserate/beiträge
expositionen@gmail.com
berücksichtige unsere inserenten
www.bugeno-unibe.ch
www.csls.unibe.ch
links der ausgabe
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© expositionen zweitausendelf
2
Inhaltsverzeichnis
Die Geburt der Universität. Die Universität im Übergang von einer rechtlichen Verwaltungssteuerung zu einem
globalen Kennziffernregime
Philippe Saner
Seit den 1970er Jahren werden auch staatliche Institutionen wie die Universität vermehrt nach Kosten- und Efizienzaspekten beurteilt und
schliesslich in den 90ern den Losungen des New Public Management unterworfen. Am Beispiel der Universität Bern zeigt der vorliegende Beitrag
auf, wie diese Neuordnung sich vollzog.
Seite 5
Berner Bibliotheksterror. Ein beinahe ofizielles RAF-Zitat in der Basisbibliothek Unitobler
Hannes Mangold
Bisher ist nicht aufgefallen, dass in der Basisbiliothek Unitobler in Bern ganz ofiziell ein – so nicht markiertes – Zitat aus einem Pamphlet der
RAF die Besucher anregen soll. Der breiten architektonischen Würdigung, die der Unitobler-Bau erfahren hat, wird hier eine germanistische
Kritik entgegengesetzt, indem der terroristischen Spur nachgegangen wird.
Seite 10
Praktisch wissenschaftlich. Entwurf einer systemtheoretischen Poetik in Rainald Goetz’ Roman Kontrolliert
Fermin Suter
Wie kann Literatur Zeitgeschehen verarbeiten und welche Rolle spielt dabei Gesellschaftstheorie? Oder: Was hat sich der Terrorist Raspe gedacht
und was hätte Niklas Luhmann dazu gesagt? Der vorliegende Beitrag zeigt, wie Rainald Goetz in seinem Roman Kontrolliert auf die Geschehnisse des Deutschen Herbst fokussiert und dabei das poetische Potential der Systemtheorie erkundet.
Seite 13
Die allmähliche Verfertigung der Beobachtung zweiter Ordnung. Über Grundprinzipien intellektueller Produktion: Kleist, Luhmann und die Romantik
Elias Zimmermann
Der Todestag von Heinrich von Kleist (1777-1811) wird dieses Jahr zum 200sten Mal begangen. Was hat der grosse Schriftsteller mit dem nicht
minder grossen Soziologen Niklas Luhmann (1927-1998) gemeinsam? Erstaunlich vieles, haben sich doch beide für grundlegende Prinzipien
interessiert, die intellektueller und künstlerischer Produktion zugrunde liegen. In diesem kurzen Essay wird der Spagat zwischen System- und
Literaturtheorie gewagt.
Seite 17
Der Findling
Heinrich von Kleist
Ein wohlhabender römischer Güterhändler adoptiert aus einer spontanen Regung des Mitgefühls einen Waisenknaben. Dieser scheint zum
Nachfolger prädestiniert, einzig seine brodelnden Leidenschaften trüben die neue Familienharmonie. Sex, Blut und Geld in der Papststadt bietet
unser Nachdruck der im Frühling 1811 erstmals erschienenen Erzählung.
Seite 21
zu letzt
Manuel Perriard und Johannes Willi
Die zwei enfants terribles haben sich den Text von Kleist in diesem Magazin angeschaut, eine Platte geschnitzt, fast 200jähriges Papier besorgt
und ein Plakat daraus gemacht. Der schöne Schnitt, der diesem Heft als Unikat beiliegt, ist ihr Lektüreergebnis.
Beilage
expositionen
3
Arno Camenischs Romane Sez Ner und Hinter dem Bahnhof. Eine Doppelbesprechung
Manuela Heiniger
Mit seinen beiden ersten Romanen bietet Arno Camenisch der Leserschaft humorvoll abgründige Einblicke in die bündnerische Provinz. Als
Doppelbesprechung weist die vorliegende Kritik auf Kontinuitäten und Brüche in der Bibliographie des Surselver Newcommers hin.
Seite 27
Zeugung, Kinder und bedrohte Männlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Lesart von Wolf Haas’ Kriminalroman Der Brenner und der liebe Gott
Joanna Nowotny
Brenner ist im siebten Band von Wolf Haas’ Krimiserie nicht nur mit einer Entführung und mehreren Morden konfrontiert, sondern auch mit
einer Armada von Vätern und solchen, die es gerne wären. Die Problematik der Elternschaft in Der Brenner und der liebe Gott wird hier
als Symptom sozialer Gegebenheiten interpretiert.
Seite 29
Akzent auf die Standardsprachen: Regionale Spuren im «Schweizerhochdeutsch» und «Français fédéral»
Marie-José Kolly
Mit ihrem fremdsprachlichen Akzent gibt eine Sprecherin ihre Herkunft preis und die meisten Deutschschweizer werden beim Sprechen des
Standarddeutschen oder des Französischen als solche erkannt. Kann aber aufgrund eines Akzents in diesen Sprachen auch erkannt werden, aus
welchem Dialektgebiet der betreffende Deutschschweizer stammt? Dieser Beitrag stellt eine empirische Studie zur Perzeption dialektaler Akzente vor.
Seite 32
Zwischen Eigenem und Fremdem. «Chinesische Religion» in Berichten katholischer China-Missionare 1550–1700
Nadine Amsler
In der Frühen Neuzeit brachten Missionare nicht nur das Christentum nach China, sondern eigneten sich auch Wissen über das Reich der
Mitte an. In ihren Darstellungen beschrieben die Missionare auch «chinesische Religion». Beobachtung und Deutung traten dabei in ein komplexes Wechselverhältnis, das der vorliegende Artikel im historischen Wandel beschreibt.
Seite 35
Journalismus in Nordkorea. Instrumentalisierung des Mediensystems zur Aufrechterhaltung einer Diktatur
Patrick Gämperle
Nordkorea rangiert notorisch auf den hintersten Rängen der von den Reportern ohne Grenzen erstellten Weltrangliste der Pressefreiheit. Auf
welchen Prinzipien Journalismus in der Diktatur beruht und wie er vonstatten geht, versucht dieser Beitrag zu beleuchten.
Seite 39
4
Editorial
Geneigte Leserin, geneigter Leser,
auch für die dritte Ausgabe von expositionen konnten wir hochstehende Beiträge aus studentischer Feder versammeln. Die
Lektüre gewährt Einblicke in den breiten Rahmen und das spannungsvolle Nebeneinander von universitärem Arbeiten.
Dabei ergeben sich interessante Parallelen und Schnittpunkte: Der Blick in die nordkoreanische Medienlandschaft steht
neben einer linguistischen Analyse von Akzenten; zwei Artikel zeigen, wie sich die Systemtheorie aus sehr unterschiedlichen
Blickwinkeln auf die Literaturwissenschaft anwenden lässt; ein Beitrag beleuchtet den Zusammenhang vom phil.-hist. Studium in Bern und dem bundesdeutschen Terrorismus; zwei Beiträgerinnen ergänzen sich in ihrer Aktualität, indem sie
belletristische Neuerscheinungen besprechen; im gemeinsamen Rahmen einer Philosophie des Wissens stehen der religionswissenschaftlich-historische Beitrag zum europäischen China-Bild und der soziologische zur Berner Hochschulpolitik.
expositionen Nummer 3 wird abgerundet vom Beitrag zweier Künstler. Im Frühjahr 1811 hatte Heinrich von Kleist den
zweiten Band seiner Erzählungen veröffentlicht. Darin sah er zum ersten Mal den Text Der Findling gedruckt, eine rätselhafte Adoptionsgeschichte mit so tragischem wie blutigem Ende. Zum 200. Geburtstag von Nicolo und Piacchi, zwei der
Protagonisten, sowie zum 200. Todestag des Dichters, der am 21. November 2011 begangen wird, dürfen wir unseren Lesern
den Findling mitsamt einer besonderen Zugabe präsentieren.
Unser Dank geht an alle Autorinnen und Autoren, sowie Unterstützer, Kritiker und Freunde. Wir wünschen eine genüssliche Lektüre.
Die Redaktion
expositionen
5
Die Geburt der Universität
Die Universität Bern im Übergang von einer rechtlichen Verwaltungssteuerung zu einem globalen Kennziffernregime
S
Philippe Saner *
eit den wirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre werden auch staatliche Institutionen vermehrt
nach Kosten- und Efizienzaspekten beurteilt und sogenannten ‹Aufgabenüberprüfungen› oder
‹Efizienzsteigerungsprogrammen› unterworfen. In den 1990er Jahren kulminierte diese Entwicklung unter der Losung New Public Management und erfasste Amtsstellen, Spitäler, Schulen und nicht zuletzt Universitäten. Mit Hilfe der wissenssoziologischen Diskursanalyse kann
exemplarisch aufgezeigt werden, wie die Neuordnung der staatlichen Steuerung am Beispiel der
Universität Bern diskursiv vor sich ging.
In den letzten 20 Jahren kam es parallel zu den (universitäts-)
politischen Krisendiagnosen zu einem inlationären Anstieg
(para-)wissenschaftlicher Publikationen über Universitäten
und Hochschulsteuerungssysteme. Interessant bei dieser regelrechten Flut an Publikationen ist deren kleinster gemeinsamer Nenner: Die «Hochschulmisere», die «Krise der Universität» oder die «Idee der Universität im Umbruch» gilt in
der interessierten Öffentlichkeit bis auf wenige Ausnahmen
als Grundprämisse.
Die meisten dieser Arbeiten blenden jedoch systematisch die
Feststellung aus, dass das Operieren mit Begriffen wie Reform
oder Krise eine Technik neoliberaler Gouvernementalität im
Sinne Michel Foucaults darstellt. Folglich sollten diagnostizierte ‹Krisen› nicht den Ausgangspunkt, sondern die Untersuchung selbst konstituieren: ‹Krisen› sind nicht einfach da,
sie müssen selbst zuallererst (diskursiv) ausgerufen und etabliert werden. Um eine totale Neu-Aufstellung der staatlichen Steuerung zu lancieren, ist überdies ein gemeinsames
Krisenverständnis, ein eigentlicher Konsens in der Diagnose
der ‹Krise› erforderlich. Ein Blick in die jüngste Geschichte
der Universität Bern veranschaulicht dies eindrücklich. Zuerst soll jedoch in einem kurzen zeitdiagnostischen Überblick das politische Umfeld, in welchem die Reformen stattfanden, skizziert werden.
Die «Kulturrevolution in der Verwaltung»: New Public
Management
Die wirtschaftliche Krise der 1970er Jahre führte zu lange
nicht mehr gekannten Phänomenen in der Schweiz: eine
drohende Massenarbeitslosigkeit, hohe Inlationsraten und
ein Übergang von Budgetüberschüssen zu Haushaltsdeiziten. Im Einklang mit Entwicklungen in Grossbritannien und
den USA verschaffte dieses veränderte sozioökonomische
Umfeld jenen Kräften Aufschwung, welche eine Eindämmung und Überprüfung aller Staatsaufgaben forderten. Mit
einem vollständigen Personalstopp ab 1974 reagierten die
eidgenössischen Räte auf den Einbruch der Konjunktur.
In den 1980er Jahren verlagerte sich der Fokus auf die auf
allen Staatsebenen anlaufenden Aufgabenüberprüfungen,
Efizienzsteigerungsprogramme oder die «GemeinkostenWert-analyse» der Unternehmensberatungsirma McKinsey.
Durch das Engagement externer Beratungsunternehmen
kam betriebswirtschaftliche Expertise in die Verwaltungsstellen. Ziel waren neue, efizientere Führungsstrukturen
sowie Kostensenkungsmassnahmen.
Ende der 1980er Jahre schienen dann die Budgets von Bund,
Kantonen und Gemeinden wieder einigermassen konsolidiert. Zu Beginn des folgenden Jahrzehnts kam es zu einer
erneuten Wirtschaftskrise sowie einer Verdoppelung der
Staatsschulden. Diejenigen Kräfte, welche eine Reform der
Verwaltung nach marktwirtschaftlichen Prinzipen forderten,
setzten sich nun endgültig durch und diktierten eine rigorose Sparpolitik.
Trotzdem galten die Restrukturierungsprogramme des früheren Jahrzehnts den neuen Reformern als gescheitert. Widerstände in der Verwaltung, der Beamtenstatus sowie eine
zu starke Orientierung am rechnerischen Einsparungspotenzial fungierten als die massgeblichen Gründe für das Misslingen bisheriger Sparprogramme. Es war das Umfeld rund
um den ehemaligen St. Galler Professor und Zürcher Regierungsrat Ernst Buschor, welches mit seiner Helvetischen
Version des New Public Management (NPM) – der ‹wirkungsorientierten Verwaltungsführung› – den Reformdiskurs anführte und eine regelrechte «Kulturrevolution in der Verwaltung» ankündigte. Fortan sollten die Reformen nicht nur auf
die Verwaltung beschränkt bleiben: Eine Neuordnung des
gesamten politisch-administrativen Systems wurde angestrebt. Gegenüber bisherigen linearen Ausgabenkürzungen
ohne entsprechende Strukturveränderungen sollte eine
«Umwandlung der Verwaltung als staatlicher Vollzugsappa-
6
rat in ein kunden- und leistungsorientiertes Dienstleistungs- schaftsgerechten Wandlung der Universität». Die Erfüllung
unternehmen» stattinden.
jener fundamentalen Aufgabe der Universität – der «ForWie jedoch gelang es den Reformern, kritische Einwände zu schung im Sinne der Wahrheitsindung» –, so schreibt etwa
unterbinden und allenthalben Konsens herzustellen? Die der Rektor der Universität 1989, «[…] sei nur in einem Umhohe Verschuldung reichte dazu nicht aus, da als politisches feld mit sehr viel Freiheit möglich. Wo Misstrauen und KonMittel gerade nicht die früher
trolle vorherrschen, kann
praktizierte Kahlschlagstrategie
fruchtbare Forschung nicht
«Die rechtliche Steuerung des
eingesetzt wurde. Nach der sysstattinden».
Verwaltungshandelns wurde durch
tematischen Unterinanzierung
Im darauf folgenden Jahr 1990
eine Steuerung durch Kennziffern,
staatlicher Institutionen (bewerden dann die Bezüge und
der
sogenannten
Governance
by
sonders deutlich im BildungsForderungen des Rektors konNumbers, abgelöst.»
wesen) konnten angesichts zukreter. So könnten etwa nur
nehmender und neuer Aufgamehr 20% der schweizerischen
ben «Handlungsdruck» und «Reformstau» geortet und als Forschungsleistung durch die öffentliche Hand inanziert
Lösung eine «efiziente» und «leistungsorientierte» Verwal- werden, der grösste Teil müsse über Drittmittel und von der
tung präsentiert werden. Insbesondere der Sozialdemokra- privaten Industrie getragen werden. Durch Mittelverknaptie, die noch in den 1980er Jahren den damaligen Reform- pung, zunehmende Studierendenzahlen sowie die Unbeweginstrumenten kritisch bis ablehnend gegenüber stand, schien lichkeit der Fakultäten stellten sich ernsthafte Probleme. Zur
eine Steuerung durch Kennziffern und Leistungsaufträge Lösung der bernischen Probleme werden dann eine «notdas wirksamste Mittel gegen einen verantwortungslosen und wendige Autonomie» und «unternehmerische Freiheit» in
unkontrollierbaren Leistungsabbau im öffentlichen Sektor. den Diskurs eingeführt.
Durch diese vermeintliche Entpolitisierung des Verwaltungshandelns übertrugen die Reformer die Deinitions- Am «Dies academicus» 1993 kündigt der Erziehungsdirektor
macht staatlicher Aufgabenerfüllung von parlamentarischen, die Ausarbeitung einer neuen Hochschulgesetzgebung an:
demokratischen Instanzen auf externe Berater und die be- Er verlangt von der Universität, Rechenschaft abzulegen und
triebswirtschaftliche Finanzkontrolle. Die rechtliche Steue- den Bürgerinnen und Bürgern verständlich zu machen, «was
rung des Verwaltungshandelns wurde durch eine Steuerung sie tut». Nicht zuletzt solche Forderungen stehen symptodurch Kennziffern, der sogenannten Governance by Numbers, matisch für jene Jahre, in welchen das Öffentlichkeitsprinzip
abgelöst.
alle Sphären des Staates zu durchdringen beginnt: Etwas zu
Es war die enge Verzahnung von Betriebswirtschaft, Politik tun, reicht nicht mehr aus. Es muss Rechenschaft über das
und externen Beratern, welche die Entstehung und Durch- Getane abgelegt werden, und dieses soll zusätzlich noch versetzung von Reformprojekten beförderte. Konsens kam ständlich gemacht werden. Dies jedoch stürzt eine diszipliauch insofern zustande, als dass die New Public Manager Wi- när ausdifferenzierte Universität per se in ein Dilemma: Zu
derspruch als «konservativ, rückständig und unproduktiv» fragmentiert wäre das dabei entstehende Bild der Institution
brandmarkten und systematisch sozialwissenschaftliche Evi- als einer organized anarchy. Entsprechend folgt die Devise bei
denz zur Efizienz der Verwaltung ausblendeten. Obwohl Fuss, die Universität müsse «Ziele und Prioritäten» deinieheutzutage wieder Sparprogramme mit linearen Kürzungen ren und anstreben, bedingt durch die «Zeiten, in denen die
vorgezogen werden, hat sich das NPM-Gedankengut in den inanziellen Mittel überall äusserst knapp bemessen sind».
staatlichen Institutionen etabliert und wird von universitären Nur operationalisierbare, mess- und letztlich vergleichbare
Kompetenzzentren und Beratungsbüros weiterbetrieben. Ziele und Prioritäten erlauben Rechenschaft und (allenfalls)
Lokale und historisch gewachsene Aushandlungsprozesse Verständnis in der Bevölkerung – eine ungeöffnete univerund Konliktlösungsmechanismen werden durch quasi-wis- sitäre black box alleine kann dies nicht erfüllen. So ist die
senschaftliches Wissen und Expertise abgelöst.
Konstruktion von Identität eine der Hauptbedingungen von
Organisationswerdung – die Anrufung eines gemeinsamen
Krise und Reform: Die Geburt der Universität
«Geistes» durch den Regierungsrat reicht dazu nicht (mehr)
Die Begriffe Krise sowie Reform sind zentral für den allgemei- aus.
nen politischen Diskurs der Schweiz zu Beginn der 1990er Im Bericht zur Staatsrechnung 1994 hält die FinanzkommisJahre und für den hochschulpolitischen Diskurs der Univer- sion des Bernischen Grossrats fest, der Kanton könne sich
sität Bern im Speziellen. Die Hochschulchronik zum die heutigen Aufwendungen für die Universität nicht mehr
150-Jahr-Jubiläum 1984 belegt, dass die Frage nach dem leisten. Die Beinahe-Pleite der Kantonalbank sowie die
Sinn, der Aufgabe und dem Ziel einer Universität, die Nach- Misswirtschaft bei der Lehrerinnen- und Lehrer-Pensionswuchsförderung, der Numerus clausus, der Ausbau und die kasse lassen die Schuldenlast rasant ansteigen. Die Krise ist
Mitsprache über Jahrzehnte hinweg ständige Diskussions- nun endgültig da und wird von Bundesrätin Ruth Dreifuss
themen bleiben. Ab Ende der 1980er Jahre häufen sich dann in ihrer akademischen Rede verallgemeinernd als «helvetidie Diagnosen von «gewissen Problemkreisen» und es stellt sches Malaise» gefasst. Die Einladung der neugewählten
sich zunehmend die Frage nach «Strategien einer gesell- Bundesrätin offenbart den Wunsch nach der rettenden
expositionen
7
Hand des Bundesstaates in Zeiten der Not. Steigende Anforderungen bei gleichbleibenden oder gar sinkenden Mitteln öffneten den (Spiel-)Raum für neue Lösungsansätze, so
Dreifuss: gesamtschweizerisch koordinierte, strategische
Planungsempfehlungen, Verzichtsplanungen und Schwerpunktbildungen. Zudem begrüsst sie die Stärkung der Entscheidungskompetenz der Universitätsleitungen – die Reform des Berner Universitätsgesetzes weise in die richtige
Richtung. Die Grenzen der einzelnen Universitäten sollen
neu abgesteckt, die Proile gestärkt werden. Auch dies ist
Grundbedingung zur nötigen Identitätsindung der Organisation «Universität Bern».
Der Rektor unterfüttert dann in ähnlichem Ton die markigen Worte der Politikerin Dreifuss und erkennt die anstehende Total-Revision des Universitätsgesetzes als langfristiges Behelfsmittel – als ‹betriebswirtschaftlichen Ausweg› aus
der ‹Krise›. Die Unterstützung dafür reicht von den politischen Behörden des Kantons (Grosser Rat und Regierungsrat) bis zur Bundesrätin und somit quer durch alle politischen Parteien. Wer da noch Kritik wagt, hat entweder die
Zeichen der Zeit – die vielbeschworenen ‹äusseren Rahmenbedingungen› – noch nicht erkannt oder kann durch den
Verzicht auf Budgetkürzungen besänftigt werden. Ob Zufall
oder nicht: Die politische Akzeptanz der universitären Krisendiagnose fällt zeitlich genau mit dem Auftauchen der
‹wirkungsorientierten Verwaltungsführung› in der Schweiz
zusammen. Das Ergebnis dieser Paarung sind all die betriebswirtschaftlichen Reformprojekte staatlicher Organisations- und Aufgabenbereiche, worunter auch die indikatorengesteuerte, «wirkungsorientierte Universitätsführung» in
Bern fällt.
Die Reform ist folglich das Gegen-Mittel zur Krise. Im Gegensatz zur traditionellen staatlichen Steuerung geht die Reform weder mit zusätzlichen Finanzmitteln noch mit linearen Kürzungen des Budgets einher. Das total revidierte
Universitätsgesetz, welches per 1. September 1997 in Kraft
tritt, verwandelt die Universität Bern rechtlich betrachtet
von einer Verwaltungsabteilung der Erziehungsdirektion in
eine autonome Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit.
Dabei wird mehr als nur der rechtliche Status geändert: Der
Kanton steuert die Universität neu mittels Leistungsaufträgen und Globalbudgets – dazu muss eine autonome Organisation Universität geschaffen, ja geboren werden. Die Konstruktion dieser neuen Universität erfolgt anhand der drei Kategorien Identität, Hierarchie und Rationalität. Sie erfolgt
über betriebswirtschaftliche Instrumente wie accountability
(Qualitätssicherung, Evaluationen und Akkreditierung),
Zieldeinitionen (Visionen, Leitbilder und Missionen), der
Ausarbeitung formaler Strukturen (Ausdifferenzierung der
universitären Verwaltung) sowie der Praxis des universitären
Managements.
Freilich, die Geburt der Universität kann nicht ohne entsprechenden Gründungsmythos vollzogen werden, auch wenn
dieser durch den langjährigen Rektor Christoph Schäublin
im Nachhinein konstruiert werden muss:
«Diese [die Jahre 1995-2001] waren wesentlich gekennzeich-
net durch die Erarbeitung, Einführung und Umsetzung des
neuen Universitätsgesetzes. Indes, auch noch so heroische
Gründungszeiten gelangen unweigerlich einmal an ihr Ende
und münden wie von selbst in einen Zustand neuer Normalität. Was geleistet werden musste, ist geleistet. Zwar harren
noch einige Lücken der Schliessung, doch insgesamt darf
wohl gelten, dass die Universität Bern ihre Identität als autonome Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit gefunden
hat».
Die Überprüfung der Aufgaben in Zeiten des Ausnahmezustands
Auf Anregung der betriebswirtschaftlichen Finanzkontrolle
entscheiden die politischen Behörden des Kantons «[…] das
Angebot (der Universität) in den Bereichen Lehre, Forschung und Dienstleistung hinsichtlich Notwendigkeit
(Sparsamkeit) und Kosten/Nutzen (Wirtschaftlichkeit)» von
externen Beratern analysieren zu lassen. Als Geburtshelfer
stehen zwei durch internationale Grossunternehmen inspirierte Beratungsirmen zur Seite. Trotz gleichbleibenden
Mitteln, so der Auftrag des Kantons, solle die Universität
neue Wissensgebiete erschliessen; dazu bedarf es der Umlagerung von Mitteln sowie des Abbaus gewisser Aufgabenfelder. Das Engagement externer Berater erstaunt nicht:
Innerhalb der Universität ist mit erheblichem Widerstand zu
rechnen. Durch die (Teil-)Auslagerung dieses Entscheids
von politischer Seite her macht sich diese einerseits weniger
angreifbar durch organisationsinterne Kritik, während sich
andererseits die Berater durch Berufung auf betriebswirtschaftliche, international akzeptierte Instrumente gegen Kritik immunisieren können. Unter dem Schattenwurf von
Efizienzsteigerung und Rationalisierung verschwindet folglich das Politische aus dem Diskurs. Der betriebswirtschaftliche Mythos naturalisiert den Entscheid, während er selbst
als unschuldige Rede verbleibt.
«Unter dem Schattenwurf von Efizienzsteigerung und Rationalisierung
verschwindet folglich das Politische
aus dem Diskurs.»
Diverse Äusserungen von Rektor Schäublin verweisen jedoch darauf, dass sich die Universität den Bestrebungen der
Aufgabenüberprüfung widersetzte und nur auf politischen
Druck hin einwilligte. Schäublin betont die konlikthaften
Aushandlungsprozesse und verdeutlicht damit die politische
Rolle des Beratungsprozesses – das vermeintlich verschwundene Politische tritt wieder zutage, auch wenn nun von «strategischen Segmenten» statt Disziplinen oder Professuren die
Rede ist, welche auf- oder abgebaut werden sollen. Für die
Universität bedeutet die Aufgabenüberprüfung in erster Linie Mehrarbeit und Zusatzbelastungen, die es in einem vertretbaren Rahmen zu halten gelte; die Prüfung müsse die
Universität Bern «stärken», während die Erfüllung des
8
Grundauftrages «selbst in ausserordentlichen Zeiten» keinerlei Abstriche dulde – «und irgendeinmal dürfte auch bei
uns wieder Normalität einkehren», so Schäublin im Jahr
1995. Die Diagnose der Krise hält jedoch über mehr als ein
ganzes Jahrzehnt an. Überprüfungen, Reformen und deren
Implementierung werden – wie Lehre und Forschung – zum
Alltagsgeschäft, ‹Normalität› wird zur Ausnahme und zur
Projektionsläche einer irgendwann einmal eintretenden Zukunft. Der Ausnahmezustand, so könnte man in Anlehnung
an Giorgio Agamben konstatieren, wird zum gängigen Muster universitärer Beindlichkeit.
«Überprüfungen, Reformen und
deren Implementierung werden –
wie Lehre und Forschung – zum
Alltagsgeschäft, ‚Normalität‚ wird
zur Ausnahme und zur Projektionsläche einer irgendwann einmal
eintretenden Zukunft.»
Praktiken des Managements in der total verwalteten
Wissenschaft
Wer sich in der Universität Bern des frühen 21. Jahrhunderts
(sei es als Student oder Professorin, sei es als Projektmitarbeiter oder als Verwaltungsangestellte) bewegt, gerät unvermeidlich früher oder später mit den Praktiken des universitären Managements in Berührung. Wer nicht qua Funktion
ECTS-Punkte, Räume oder Projekte managen muss, wird
womöglich selbst zu einer zu managenden Einheit (v)erklärt
(etwa als Kunde im Kundenmanagement, als Mitarbeiterin
im Rahmen des Personalmanagement usw.). Aller Mythenbildungen zum Trotz hat dieser Zustand jedoch nichts ‹Naturgegebenes› an sich. Das universitäre Management als soziale Praxis muss vorgängig durch bestimmte zentrale Akteure diskursiv konstruiert werden. Interessant ist etwa, dass
der Begriff ‹Management› in Jahresberichten, Strategiepapieren und Leistungsaufträgen nur an wenigen Stellen auftaucht. Es scheint in der universitären Selbstbeschreibung
bis heute die ungeschriebene Prämisse Bestand zu haben,
dass Universität und Management nicht recht zusammen passen wollen. Management wird oft durch das deutsche Wort
Führung ersetzt. Bisweilen wacht gar eine Art ‹Begriffspolizei›
darüber, dass Management in ofiziellen Dokumenten der
Universität explizit nicht auftaucht.
Erstaunen löst die Tatsache aus, dass es rund 10 Jahre dauerte, bis die in den Reformen von 1997 zu Gesetzeskraft
erhobenen Prämissen des NPM ihre konkret-materiale Gestalt in Form eines universitären Dispositivs gefunden haben: Dazu zählen neben dem Universitätsgesetz die Universitätsverordnung, das Universitätsstatut, das Leitbild, die
Mehrjahresplanungen, Strategiepapiere, diverse neue Reglemente sowie Leistungsaufträge und Globalbudgets – sowohl
zwischen Kanton und Universität wie auch zwischen Universität und Fakultäten, Fakultäten und Instituten, Instituten
und Professorinnen, Professoren und Mitarbeitenden und
so fort. Um es auf die Spitze zu treiben, könnte man auf
Ulrich Bröckling zurückgreifend anmerken, dass im Rahmen
eines Selbstmanagements alle Universitätsangehörigen Leistungsverträge zwischen Kopf und Bauch bzw. allen anderen
Organen abzuschliessen haben. Die reibungslose Zusammenarbeit aller Einzelteile kann nur dann funktionieren,
wenn es nicht zu Konkurrenz und Kompetenzgerangel
kommt.
Die effektive Umsetzung des NPM an der Universität Bern
bedurfte letztlich nicht nur dieses juristischen und technischinstrumentellen Dispositivs, sondern auch eines HumanDispositivs. Die massive Ausdifferenzierung der universitären Verwaltung bringt eine eigentliche universitäre ‹Planungs- und Kennziffernbürokratie› hervor. Der Ausbau der
Universität in den letzten zwei Jahrzehnten basiert – nebst
dem massiven Wachstum der Studierendenzahlen – auf einem überdurchschnittlichen Ausbau der Verwaltung: Während die Zahl der Professorinnen und Professoren von 1996
bis 2009 nur um 2,5% zunimmt, steigt die Zahl der Verwaltungsangestellten im selben Zeitraum um 77%. Beschleunigt
wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch die BolognaReform in den letzten fünf Jahren. Es ist davon auszugehen,
dass künftige Reformschritte stets die Interessen dieses neuen Human-Dispositivs zu berücksichtigen haben. Haupthindernis für Universitätsreformen dürften bald nicht mehr
(nur) störrische Professorinnen oder Studenten, sondern
neu auch Verwaltungsangestellte sein. Oder wie der Historiker Hans-Ulrich Jost lakonisch dazu anmerkt: «Damit begann deinitiv die Zeit der ‹verwalteten Wissenschaft›».
Numerische und ikonische Differenz
Mit dem Übergang von einer direkten politischen Steuerung
durch die politischen Behörden zu einer Selbst-Regierung
durch Leistungsaufträge, Indikatorensteuerung und das
Management-Dispositiv kommt es auch zur Ablösung einer
rhetorischen durch eine ikonische Semantik. Hundertfünfzig
Seiten lange Rechenschaftsberichte bieten genug Platz zur
Erklärung und Rechtfertigung und werden einem Staat abgeliefert, welcher seine Institutionen kontrollieren will.
Fünfundvierzig Seiten Leitsprüche, Bilder und Statistiken
richten sich hingegen an (potenzielle) Kundinnen und Investoren. Damit ist für Transparenz und Öffentlichkeit gesorgt,
das Controlling besorgt die neue Universität über interne Märkte und Indikatorensteuerung selbst – den Staat braucht es
dazu beim besten Willen nicht mehr. Dies lässt sich keineswegs ausschliesslich durch die enorm gestiegenen Möglichkeiten an visueller Datenverarbeitung erklären. Statistiken
und Bilder besitzen eine nicht zu unterschätzende persuasive
Eigenlogik: Kommunikation mittels Zahlen, Statistiken und
Bildern erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Mitteilung. Quantiizierung und Visualisierung erleichtern durch
ihre kommunikative Eigenwirkung die Herstellung von Akzeptanz und damit auch Konsens.
Die universitäre Selbstbeschreibung betreibt eine eigentliche
De-Lokalisierung der Universität, welche die Internationali-
expositionen
9
sierungs- und Diversiizierungsbestrebungen der neuen Universität verdeutlicht – die Stakeholder der Universität sitzen
längst nicht mehr (nur) in trüben Berner Amtsstuben. Ihr
Ebenbild inden diese Bestrebungen in der globalen Diffusion von universitären Rankings und Ratings, welche zwar
nicht für «strategische Überlegungen» der Universitätsleitung berücksichtigt würden, auf die aber trotzdem permanent kommunikativ reagiert werden muss.
Was sich letztlich an der Universität Bern (wie an vielen anderen Universität auch) zeigt, ist die Abkoppelung zweier
völlig verschiedener ‹Universitätswelten›: Gemeint ist die
Trennung in den eigentlichen ‹Wissenschaftsbereich› auf der
einen Seite, was gemeinhin als «Universität» bezeichnet wurde, und den ‹Führungs- und Administrationsbereich› auf der
anderen Seite, der sich selbst als die Universität bezeichnet.
Ein Blick auf das Organigramm der Universität Bern liefert
die (optisch) klare Antwort auf die Frage nach Hierarchien
im Verhältnis der beiden.
«Was als ‹unternehmerische Autonomie› in den Diskurs eingeführt wurde, entpuppt sich Planbürokratie, die
alles und jeden zu erfassen, kategorisieren und visualisieren versucht.»
Die Universität Bern, die am 1. September 1997 geboren wurde, hat mittlerweile eine solche Grösse und Heterogenität
erreicht, dass jeder Versuch zur Etablierung eines Gefühls
von Zusammengehörigkeit im Rahmen einer corporate identity
unweigerlich scheitert. Was über Identität nicht gelingen
kann, wird deshalb über Indikatorensteuerung, Leistungsvergleiche, Märkte, ‹inszenierte Wettbewerbe› sowie den Verwaltungskörper versucht: Um Ungleiches vergleichen zu
können, muss – allen Versprechen auf qualitative Indikatoren zum Trotz – auf quantitative Vergleichsmassstäbe zurückgegriffen werden. Was als ‹unternehmerische Autonomie› in den Diskurs eingeführt wurde, entpuppt sich letztlich
als Neuaulage jener überwunden geglaubten Planbürokratie, die alles und jeden zu erfassen, kategorisieren und visualisieren versucht. Daneben braucht es auch den politischen
Willen, im und für den – schweizerischen wie internationalen – Standortwettbewerb dieses ‹Ungleiche› zusammenzuhalten. Würden dieses Vergleichsdispositiv sowie der politische Wille zum Zusammenhalt fehlen, drohte «die Universität» ständig auseinanderzufallen, sich zu verlüchtigen – das
Deleuzesche Diktum der «permanenten Metastabilität» formuliert diesen Schwebezustand sehr treffend. Um der Diffusion und Aulösung zuvorzukommen, sind oben genannte
Instrumente und politische Bekenntnisse von Rektoren und
Politikerinnen unabdingbar, die unaufhörlich jene Abbilder
produzieren, welche die Angehörigen an die Existenz der
Universität erinnern sollen.
Gugerli, David 2008: Kybernetisierung der Hochschule.
Zur Genese des universitären Managements. In: Hagner,
Michael / Hörl, Erich (Hg.): Die Transformation des
Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte. 414-439
Heintz, Bettina 2008: Governance by Numbers.
Zum Zusammenhang von Quantiizierung und
Globalisierung am Beispiel der Hochschulpolitik. In:
Schuppert, Gunnar Folke / Vosskuhle, Andreas (Hg.):
Governance von und durch Wissen. 110-128
Honegger, Claudia / Jost, Hans-Ulrich / Burren,
Susanne / Jurt, Pascal 2007: Konkurrierende
Deutungen des Sozialen. Geschichts-, Sozial- und
Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von
Politik und Wissenschaft
Keller, Reiner 2008: Wissenssoziologische
Diskursanalyse. Grundlegung eines
Forschungsprogramms
Münch, Richard 2007: Die akademische Elite
* Philippe Saner studiert im 10. Semester Soziologie an der Universität
Bern. Der Beitrag basiert auf seiner Bachelorarbeit.Der gesamte
Text erscheint demnächst in der «Schriftenreihe Kultursoziologie»
des Instituts für Soziologie der Universität Bern unter dem Titel
Verwaltete Wissenschaft. Universitätsmanagement am
Beispiel Bern.
10
Berner Bibliotheksterror
Ein beinahe ofizielles RAF-Zitat in der Basisbibliothek Unitobler
Hannes Mangold *
B
isher ist noch niemandem aufgefallen, dass in der Basisbiliothek Unitobler in Bern ganz ofiziell ein
– so nicht markiertes – Zitat aus einem Pamphlet der RAF die Besucher anregen soll. Der breiten
architektonischen Würdigung, die der Unitobler-Bau erfahren hat, soll hier eine germanistische Kritik
entgegengesetzt werden, indem der terroristischen Spur nachgegangen wird.
Im Quadrat
Wer sich in der Basisbibliothek der Unitobler ein Buch
ausleiht, tritt unter ein schwebendes Quadrat aus vier Betonstehlen. Auf deren Innenseiten ist jeweils ein Zitat angebracht. Im ausgebauten Zwischenraum in der Mitte der
beiden alten Fabriktrakte indet sich Revolutionäres. Vis-àvis stösst der Entleihende, vielleicht als Erstes, auf Stéphane
Mallarmés Satz «Toute méthode est une iction, et bonne
pour la démonstration.» Wer sich von den Notes sur le langage
des französischen Poeten ansprechen lässt, kann zu seiner
Rechten Karl Marx’ berühmte 11. These über Feuerbach lesen:
«Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.» – Nun ja, es geht
noch weiter. Links gilt es Andy Warhols Prophezeiung aus
dem Interview mit G. R. Swenson (What is Pop-Art? Answers
Abbildung: Basisbibliothek Unitobler
by Eight Painters, November 1963) zu bedenken: «Someday
everybody will think just what they want to think and then
everybody will probably be thinking alike; that seems to be
what is happening.» Nur eine Innenseite präsentiert sich
dem Bibliotheksbenutzer nicht bei jedem Leihvorgang. Wer
die Quadratur vollbringen will, muss sich umwenden und
steil nach oben sehen. Da steht geschrieben:
«Ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.
Rainald Goetz»
Messer im Kopf
Rainald Goetz verbirgt sich da also. Bekanntheit erlangt
hatte dieser mit seinem Auftritt am Ingeborg-BachmannPreislesen 1983 in Klagenfurt, wo er seinen Text Subito an
expositionen
11
der Stelle «Ihr könnt mein Hirn haben. Ich schneide ein
Loch in meinen Kopf. In die Stirne schneide ich das Loch.
Mit meinem Blut soll mir das Hirn auslaufen. Ich brauche
kein Hirn nicht mehr» (im Internet unter http://www.youtube.com/watch?v=_BEjgp9MAEY) mit einem beherzten
Schnitt mit der Rasierklinge in und quer über seine Stirne
begleitet hatte.
Mit dieser blutigen Performance hatte der studierte Mediziner und Historiker Goetz seinen ersten Roman Irre, der
Teile des Manuskripts enthält und kurz nach der Lesung erschien, publikumswirksam inszeniert. Aber auch mit dem
verlesenen Text selbst spielte der Autor mit massenmedialen Begehren: Angriffe auf bekannte Schriftsteller («Chefpeinsäcke Böll und Grass»), wiederholtes Nennen tabuisierter Begriffe («Neger», «Scheisse») oder das Verwenden
umgangssprachlicher Floskeln («geil») markieren die oppositionelle Haltung gegen das im äussersten Süden des deutschen Sprachraumes versammelte Literaturestablishment.
Goetz inszenierte sich als neu, jung, anders, Punk und Pop.
und politischen Ungleichheiten – hatte sich von 1970 bis
1977 zu einem gesellschaftlichen Subphänomen verselbständigt. Folgt man der These von Kontrolliert weiter, hatte
der Faschismus-Vorwurf der extremen Linken an den Staat
einerseits sich selbst bewahrheitet: Auf zunehmend radikale
Kritik und Verweigerung am Staatswesen hatte dieses mit
zunehmend restriktiven Mitteln geantwortet, wie die Debatte um die angebliche «Isolationsfolter» der ersten RAFKader beispielhaft verdeutlicht. Andererseits war im selben
Zeitrahmen mit dem Traum einer fundamentalen, sozialistischen Neuorganisation der Gesellschaft für die allermeisten Westdeutschen auch die Legitimation zum Guerillakrieg
und für die RAF gestorben. In Kontrolliert wendet sich der
anfänglich mit den Terroristen sympathisierende Erzähler
immer mehr von diesen ab und der aufkommenden New
Wave-Subkultur zu. Das «Fight for your right» – in grossen roten Lettern auf den hinteren Umschlag von Kontrolliert
gedruckt – wird mit den Beasty Boys entsprechend ergänzt
um «[...] to party» (Kontrolliert: 144).
Wirklich wahr
Goetz’ Blut war echt, nicht iktiv, auch für die erstmals in
der Geschichte des Literaturfestes per Fernseher zugeschalteten Zuschauer und –hörer. Text und ‹Wirklichkeit› schienen hier zu korrespondieren, der blutende Turnschuh- und
Punkfrisurträger hatte es offenbar geschafft, ein Gefühl der
Authentizität zu erzeugen. Dieses Gefühl interessierte Goetz. In den Räuschen der Avantgarde-Pop- und New WaveBewegung erkannte er es wieder. Und im Terrorismus. Sein
zweiter umfangreicher Prosatext, Kontrolliert (1988), drehte
sich entsprechend um das Thema des bewaffneten Widerstandes, um «die Geschichte des Jahres neunzehnhundert
siebenundsiebzig» (Kontrolliert: 15 u.a.). Dieser «Geschichte»
– im doppelten Wortsinn als historische und literarische –
entstammt das Zitat in der Basisbibliothek Unitobler.
Möglichst praktisch
Kontrolliert führt diesen Wandel von den 68er-Unruhen zum
Terrorismus und zur Popkultur auch an einem von der RAF
selbst publizierten Text vor. Am 11. Mai 1971 war, in der
Westberliner Untergrund-Zeitschrift Agit 883, Das Konzept
Stadtguerilla erschienen, dessen Autorschaft in der Regel vor
allem bei Ulrike Meinhof verortet wird. Ziel des Textes ist
es, die eigene terroristische Aktivität zu legitimieren. Die
Verfasser behaupten «daß die Organisation von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik [...] richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist»
(Agit 883, Nr. 80: 5). Da weder Arbeiter noch Intellektuelle
von selbst eine sozialistische Revolution anstossen würden,
obläge es nun ihr, der RAF, diese «avantgardistische» Position einzunehmen. Wenn niemand die «Führungsrolle»
übernähme, dem «Geschwätz» auch «praktisch» Nachdruck
verleihen würde, dann betrachteten die Autoren des Konzept
Stadtguerilla die Revolution als gescheitert. Da sie aber den
«antiimperialistischen» Kampf aufgenommen hätten, bliebe
der Ausgang der Geschichte offen:
Fight for Your Right...
Goetz’ historische «Geschichte», so auch der Untertitel
von Kontrolliert, nähert sich dem Deutschen Herbst auf literarisch so innovative wie theoretisch fundierte Weise:
Die Geschehnisse um die Entführung und Ermordung des
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die
Rote Armee Fraktion (RAF), das Kidnapping der Lufthansa
Maschine «Landshut», die Verhandlungen der Staatsvertreter mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Stammheimer Hochsicherheitstrakt, die Einsetzung von Krisenstäben
und Aussetzung von konstitutionell garantierten Rechten:
Kontrolliert beschreibt sie in einer Mischung von Diskursgeschichte, Systemtheorie und Erlebnisbericht; was erst noch
erstaunlich gut als Literatur funktioniert (vgl. dazu den Beitrag von Fermin Suter in diesem Heft).
Der Text vollzieht das Scheitern des bewaffneten Widerstandes in der BRD nach. Was sich aus einem Gefühl der
Ungerechtigkeit und Ohnmacht entwickelt hatte – aus der
noch immer nationalsozialistisch durchtränkten NachkriegsElite in der BRD, aus dem Vietnamkrieg, aus ökonomischen
«Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob
es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist, ist nur praktisch zu
ermitteln.» (Agit 883, Nr. 80: 10)
Praktisch Unmöglich
Im Kontext langer und kaum verschlüsselter RAF-Zitate
übernimmt Goetz in Kontrolliert auch diese Stelle wörtlich:
«Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob
es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist. Ob es möglich ist,
ist nur praktisch zu ermitteln.» (Kontrolliert: 247)
Wie geht aber Goetz’ Erzähler mit diesem Text um?
12
Retrospektiv kommentiert er:
«Man hält sich für klüger, als das Leben, eine Hybris, die
einem das Leben später um die Ohren haut, aber jetzt hat
man alles Herrliche auf seiner Seite, Stärke, Zorn und Sinn.
So also hat alles angefangen, richtig konsequent. Sieben Jahre später [...] [diktiert] das enge Gesetz des Handelns [...]
jeden Schritt, nicht mehr der freie Entschluss zu Treue zu
sich.» (ebd.: 247f.)
Die Freiheitskämpfer haben, aus Sicht des Erzählers, die
Kontrolle über ihre Entscheidungen verloren. Sie sind Teil
eines Systems geworden, das ihr Agieren diktiert. Was 1970,
«da es möglich war, richtig war» (ebd.: 248) – zumindest
nach dem eigenen Massstab –, ist sieben Jahre später völlig
falsch. Mit der Situation haben sich auch die Bewertungskriterien geändert: «Konsequenz ist die Hölle und besiegelt,
daß falsch ist, was Tat um Tat falsch geworden ist» (ebd.:
248).
RAF über dem Kopf
Wer sich in der Basisbibliothek ein Buch ausleiht, steht im
ausgebauten Zwischenraum zweier ehemaliger Fabriktrakte,
der Besucher fühlt vier Plateaus voller Bücher im Nacken.
Über seinem Kopf schwebt das Zitat Rainald Goetz’, das
Das Konzept Stadtguerilla zitiert. Christian Probst, der heute den Theaterelch betreibt, hatte die Sätze im Hinblick auf
die Eröffnungsfeier der Unitobler im Oktober 1993 ausgewählt. Mit dem Berner StudentInnentheater hatte Probst den
Anlass um eine performative Aktion in der BTO bereichert,
in der auch ein Text aus Rainald Goetz’ Hirn-Band vorkam.
Ursprünglich waren die Beschriftungen für diesen Rahmen
angebracht worden. Dass sie, offenbar aufgrund allgemeinen Gefallens, geblieben sind, freut nicht nur Probst, sondern auch den Spurensucher.
Einerseits verbirgt sich das Goetz-Zitat über dem Kopf der
Besucher. Andererseits verbirgt sich das RAF-Zitat hinter
Goetz’ Namen. Für den RAF Text wiederum liegt keine
gesicherte Autorschaft vor. Christian Probst hat seinem Arrangement im Gespräch treffend einen «konspirativer Charakter» zugesprochen. So hat diese «Kunst am Bau» während
nun beinahe zwanzig Jahren wenig Aufmerksamkeit bekommen; neben Probst weiss wohl nur einer der Architekten
um den doppelten Boden des Satzes. Gleichzeitig hat die
Zitat-Problematik nicht an Brisanz verloren: Gehört dieser
Satz Rainald Goetz? Während die Wissenschaft die Frage
eher verneinen wird, müsste sie aus einem literarischen
Blickpunkt wohl offen bleiben. In einem Telefonat mit dem
Autor erinnert Christian Probst an «Dr.» zu Guttenberg auf
der einen, an Helene Hegemann (Axolotl Roadkill) auf der
anderen Seite. Interessant und wichtig bleibt die Diskussion
um Ursprung, Autorschaft und Geschichte aber in jedem
Fall. Mit der brisanten Wahl eines terroristisch motivierten
Subtextes leistet auch die Berner Universitätsbibliothek ihren – unfreiwilligen – Beitrag dazu.
Goetz, Rainald 1988: Kontrolliert. Geschichte [dazu weiterführend: Werber, Niels: Intensitäten des Politischen.
In: Weimarer Beiträge 46/1 (2000). 105-120]
Goetz, Rainald 1986: Subito. In: ders.: Hirn. Schriftzugabe. 9-21 [Die Aufnahmen der Klagenfurter Lesung
im Internet unter http://www.youtube.com/watch?v=_
BEjgp9MAEY (Stand vom 29.3.2011)]
Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla. In:
Agit 883 80 (11.5.1971). Im Internet unter: http://plakat.nadir.org/883/ausgaben/agit883_80_11_05_1971.
pdf (Stand vom 29.3.2011)
* Hannes Mangold studiert Germanistik und VWL an der Universität Bern und liest gerne Spuren.
expositionen
13
Praktisch wissenschaftlich
Entwurf einer systemtheoretischen Poetik in Rainald Goetz’ Roman Kontrolliert
Fermin Suter *
W
ie kann Literatur Zeitgeschehen verarbeiten und welche Rolle spielt dabei Gesellschaftstheorie?
Oder: Was hat sich der Terrorist Raspe gedacht und was hätte Niklas Luhmann dazu gesagt?
In seinem Roman Kontrolliert fokussiert Rainald Goetz auf die Geschehnisse des Deutschen
Herbst und erkundet das poetische Potential der Systemtheorie.
1977
Goetz’ Roman Kontrolliert aus dem Jahr 1988 gilt als ‹Terrorismus-Roman› und erzählt aus wechselnden Perspektiven
u.a. von den Gewaltereignissen des Jahres 1977: Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird ermordet, ebenso Jürgen Ponto, Sprecher der Dresdner Bank, die Lufthansa-Maschine «Landshut» wird von einem palästinensischen Terrorkommando entführt und um inhaftierte RAF-Mitglieder
freizupressen wird der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin
Schleyer verschleppt und schliesslich umgebracht – dies nur
die markantesten Wegsteine.
Diese «Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig» (K 15) soll, so der Erzähler des ersten von drei Teilen, in Kontrolliert erzählt werden. Damit ist zugleich jenes
Projekt der «Wirklichkeitserschliessung» (Hoeps 2001: 294)
angesprochen, das Rainald Goetz seit seinen frühesten Texten umtreibt (und das er bisweilen auch auf nichtliterarischen Gebieten wie Musik und Photographie erprobt hat).
Es reiht sich in seinen Texten detailversessene Beschreibung
neben affektgeladenen Redeschwall, Lobreden auf genaues
Beobachten neben blinde Wut und allenthalben steht eine
Schreibmaschine, eine Kamera oder ein Kassettenrecorder
bereit, dem Erzähler ein Garant dafür, dass ihm auch ja
nichts von dem entgeht, was da passiert. Dementsprechend
sind Goetz’ Texte voll, voll von Argument, Zitat, Phantasie,
Wut, Relexion, Sprachmaterial. Stets präsent in seinen Erkundungen der Funktionsweise menschlichen Zusammenlebens – als das wird ‹Wirklichkeit› aufgefasst – sind grundlegende Prämissen der Systemtheorie nach Niklas Luhmann.
Vorneweg Luhmann
In Kontrolliert ist es nun weniger eine soziologische Analyse
des Zeitgeschehens, für die Luhmann Gewährsmann ist,
vielmehr wird die Antwort darauf gesucht, wie ein literarisches Schreiben (über dieses Zeitgeschehen) zu funktionieren hat, das sich der grundlegendsten (systemtheoretischen)
Mechanismen sozialen Verhaltens sowohl bewusst ist als sie
auch anwendet. Das immense Potential der Systemtheorie
hierbei liegt für Goetz (1992: 71) auf der Hand, «[d]enn Systemtheorie ist ein ultimatives Kunstwerk». Welche Art von
Kunstfertigkeit damit gemeint sein könnte, wird man noch
sehen.
Ein zentrales Element von Luhmanns Systemtheorie ist der
Formbegriff, und an Form ist – im weitesten Sinne – auch
Goetz interessiert. Gemäss Luhmann (1998: 60 ff.) ist sie
nicht als Essenz oder ‹Gestalt› zu begreifen, sondern als Differenz; sie ist die Selektion einer Information aus einer unendlichen Potentialität an Informationen, bezeichnet diese
und setzt sie dadurch von den sie umgebenden Möglichkeiten ab, markiert also eine Grenze. Im Akt des Bezeichnens,
dies eine Pointe, wird deshalb die gesamte Menge des NichtBezeichneten, die Umwelt latent mitgeführt, als ‹andere Seite› einer Differenz. Die zweite Pointe besteht darin, dass
diese Differenzen nur dann vorhanden sind, wenn sie ‹gemacht› werden, also nur als Operation existieren. (Sinn-)
Systeme funktionieren nun dank derart erzeugten Informationen, denn diese bilden nicht nur die bei jeder Operation
in einem System verwendeten Operationselemente, sie unterscheiden auch zwischen Innen und Aussen des Systems:
innen Bezeichnetes, aussen in der Umwelt Nicht-Bezeichnetes. Jegliches gesellschaftliche System vermag nur anhand
solcher im Sinne des Systems beobachteter, das heisst unterschiedener und bezeichneter Elemente zu arbeiten – im Falle beispielsweise des wirtschaftlichen Systems sind nur Elemente relevant, die hinsichtlich der Relation von Kosten und
Nutzen beobachtet werden, Kriterien wie Schönheit oder
Wahrheit können nicht ‹verstanden› bzw. verwendet werden.
Dieses Prinzip, dass ein System die für das eigene Operieren
benötigten Elemente selbst produziert und insofern geschlossen ist gegen aussen, bezeichnet der Terminus Autopoisesis
(vgl. dazu auch den Beitrag von Elias Zimmermann im vorliegenden Heft bzw. Luhmann 1998: 66).
In Kontrolliert wird dieser Formbegriff mehrmals erstaunlich
präzise reformuliert, u.a. so:
«Jedes Wort schliesst nämlich ausgesprochen alle Gegenteile,
die es ausschliesst, nicht nur so ausgeschlossen ein, sondern
schliesst sie auch wirklich aus und beharrt auf diesem Ausschluss. Deshalb bedeutet nicht jeder Satz und jede Geste
14
immer gleichzeitig das Gegenteil, sondern umgekehrt das
Gegenteil vorwiegend gerade nicht.» (K 90)
Damit wird die Rezeption Luhmanns angezeigt, vor allem
aber wird, wenn hier der Verdacht mitschwingt, Worte könnten «immer gleichzeitig das Gegenteil» bedeuten, dessen
Formbegriff Erklärungskraft attestiert. Gerade bei Fragen
nach der Wirkung der eigenen Wörter und Sätze scheint
dem Erzähler ein eingehender Blick auf die Systemtheorie
lohnenswert.
(ebd.: 69). Der Versuch, Wirklichkeit als solche zu erfassen,
muss deswegen scheitern. Das weiss auch der Erzähler: «Die
Beschreibung der gegebenen Lage ist ein solcher Versuch
[...], der daran scheitert, dass die Beschreibung natürlich die
Lage der Lage sofort verändert» (K 236).
Methode
Doch ist das dem Erzähler kein Argument dafür, das Erzählprojekt als gescheitert zu sehen oder dem Leser eine perspektivisch vervielfältigte und insofern doch einigermassen
umfassende Schilderung des Zeitgeschehens bieten zu wolZeitgeschichte
len. Selbstrelexion, -kritik und -relativierung, wie sie obsesWie lässt sich Zeitgeschichte erzählen, die so nahe ist, dass siv den ganzen Text durchziehen, erfüllen vielmehr eine
Unbefangenheit unmöglich scheint? Dem Erzähler von durchwegs methodische Funktion im Sinne der SystemtheKontrolliert stellt sich genau dieses Problem: Wollte er ur- orie. Durch das Aufdecken der Unzulänglichkeit untersprünglich den «staatlichen Gesamtgebäudebau[ ]» (K 16) schiedlicher Erzählverfahren und -instanzen werden die
rekonstruieren, steht er diesem
‹blinden Flecken› des eigenen
Projekt bald ohnmächtig gegenSchreibens exponiert und die
«Der
Beobachter
ist
das
ausgeschlosüber. Denn einerseits «schiesst der
Operationsbasis des Textes releksene Dritte seines Beobachtens. Er
Staat aus den Gewehren echte
tiert. Dies entspricht der Fordekann sich selbst beim Beobachten
Menschen tot» (K 15), andererrung Luhmanns (1998: 1095), «die
seits verdanken «den StaatsschuTheoriemittel möglichst deutlich
nicht sehen.»
len [...] viele vieles, ich zum beizu explizieren und sie damit der
spiel alles» (K 16). Gewalttätiger Widerstand oder zivilisie- Beobachtung auszusetzen», also dass die kritische Selbstrerende Saturierung, RAF oder Staatsgläubigkeit – die lexion immer Teil der Theorie selbst sein muss. «[W]as hier
Schwierigkeiten politischer Parteinahme zwingen den Er- praktisch wissenschaftlich vorgeht» (K 117) – der Text als
zähler, sein Zeitgeschichte-Projekt umfassend zu relektie- Akt der «Wirklichkeitserschliessung» – stabilisiert seinen unren.
sicheren Status selbst, durch die stetige Aneinanderreihung
Ein mögliches Vorgehen dazu stellt Multiperspektivität dar. von Relexion und Argument und gleichzeitig exponiert es
Eine erste Reaktion auf das problematische Erzählprojekt seine Schwachpunkte. So lautet ein Verdikt beispielsweise:
liegt in der Identiikation mit dem Terroristen Raspe, gefan- «Was denkt der Raspe, unvorstellbar. Ich bin nicht berechgen in der Justizvollzugsanstalt Stammheim: «Der Bau heisst tigt, mir was auszudenken.» (K 16).
Stammheim, ich bin Raspe» (K 16), verkündet der Erzähler. «Luhmanns endlos verschachtelte Sätze, die ungewöhnliche
Doch darauf folgt: «Ich war nicht Raspe» (ebd.) und «Iden- Terminologie, die aufs Paradoxe und Tautologische versestiikation mit einem Fremden war nicht möglich, das war der sene Stilistik» – in ihr erkennt Niels Werber (2000) einen
so genannte Raspe Irrweg» (K 97). So wechselt die Perspek- Grund für Goetz’ Luhmann-Faszination – ist unter anderem
tive fortlaufend; eben Behauptetes wird dementiert oder als dem methodischen Diktum der Selbstimplikation geschulLüge entlarvt – die erzählerische Selbstrelexion erfolgt als det: «Alles, was gesagt wird, kann nur unter der Bedingung
Selbstkritik und die so entstehenden Widersprüche, sowohl gesagt werden, dass es auch für das Sagen selbst zutrifft.»
inhaltlicher Art als auch das Erzählverfahren betreffende, (Luhmann 1998: 1132). In einer Welt von Systemen, die sich
werden nicht aufgelöst, sondern vielmehr gesucht und ent- von Augenblick zu Augenblick stabilisieren und reproduziefaltet.
ren, deren Ordnung höchst selektiv ist und aus denen man
Damit wird dem Erzählverfahren ein dynamisches Moment nie ‹heraus› auf ‹die Wirklichkeit› durchgreifen kann, gilt
gegeben, das wiederum bei Luhmann seine Rechtfertigung Luhmann (1987: 166) das Normale als das eigentlich Unindet: Wenn Systeme, so Luhmann (1998: 71), aus Kommu- wahrscheinliche und Theorie hat für ihn sodann die Aufganikation bestehen und anhand von Kommunikation operie- be, «Normales für unwahrscheinlich zu erklären.»
ren – wobei jedwede Operation, die Informationen mitteilt, Das methodische Diktum der Selbstimplikation ist also unKommunikation ist –, die benötigten Operationselemente mittelbar relevant für eine Beschreibung von ‹Wirklichkeit›
(mitgeteilte Informationen) aber jeweils im System autopoi- und Normalität. In Kontrolliert bedeutet das: kontinuierliche
etisch hervorgebracht werden müssen, so bedeutet das, dass metatextuelle Relexion der vorgenommenen Beschreibung
jede Kommunikation den Zustand des Systems verändert. des Zeitgeschehens, und so erscheint es dem Erzähler keiUnd das impliziert epistemologische Konsequenzen, denn neswegs «unvernünftig, gegen die Diktate gegen mich zu
es heisst auch, dass ein Beobachter sich selbst nur retrospek- revoltieren, was allerdings zu Widersprüchen führt» (K 25).
tiv, nicht aber während seiner Beobachtung beobachten kann:
«der Beobachter ist das ausgeschlossene Dritte seines Beob- Terroristische Literatur
achtens. Er kann sich selbst beim Beobachten nicht sehen.» Seit Goetz’ Klagenfurter Auftritt (vgl. den Beitrag von Han-
expositionen
15
nes Mangold in diesem Heft), der von der Kritik u.a. eine
«terroristische Tat» (Peter Hanenberg) genannt wurde, hat
die Forschung Gemeinsamkeiten von Goetz’ literarischen
Texten und Terrorismus herausgearbeitet. Als dem terroristischen Ereignis strukturell analog wird Kontrolliert beschrieben; mit Jean Baudrillard wird von der «Gewalt des Symbolischen» gesprochen; in der «Sättigung mit Relexion und
Argument» (Hoeps 2001: 13) wird ein Abglanz des faszinierend-schrecklichen Terroraktes gesehen, der ein gewaltiges
Zeichen setzt, ohne damit etwas zu meinen bzw. ohne eine
Deutung dazu anzubieten (Weinhauer 2008) und dadurch
das Ereignis – und hier liegt die Parallele zur Literatur – inkommensurabel macht.
An einer ausserliterarischen Intensität, einer ver- und zerstörenden Wirkung auf den Leser, ist in Kontrolliert aber nicht,
oder nur teilweise, gelegen. Denn anders betrachtet ist solche Imitation terroristischer Wirkung lesbar als Nachvollzug
des Aktionismus der RAF – und als darauf folgende Dekonstruktion deren Operationslogik. Denn Kontrolliert schildert
auch, wie eine statische RAF einem organisatorisch, analytisch und operationell lexibel agierenden Staat unterliegt.
Zentral dabei ist dessen Fähigkeit, Widersprüche zu sichten
und sie als ‹Normalität› zu integrieren (Werber 2000b).
Widersprüche
Normalität des Widerspruchs – Unwahrscheinlichkeit der
Normalität; dergestalt verbindet sich in Kontrolliert der Topos
Terrorismus mit systemtheoretischen Prämissen. Widersprüche und Paradoxien charakterisieren aus systemtheoretischer
Perspektive die Wahrnehmung von Wirklichkeit grundlegend, denn diese ist stets doppelt kontingent: Die Kontingenz einer mitgeteilten Information durch den ‹Mitteilenden› wird erst durch den ebenfalls kontingenten Akt des
Verstehens durch den ‹Rezipienten› abgeschlossen. Wahrgenommen wird eine Mitteilung jedoch nur, wenn sie ‹neu› ist,
d.h. sie muss dadurch irritieren, dass sie sich von ‹allem anderen› abhebt. Damit ist jeder Mitteilung immer auch die
‹Möglichkeit des Anderen› gegeben. Erläuternd zieht Luhmann (1987: 204) Goethe heran: «Jedes ausgesprochene
Wort erregt den Gegensinn»; Goetz schreibt in ähnlicher
Weise von dem «dauernde[n] Verdacht, den sie [die Worte]
gegen sich selbst, indem sie sich sagen, erheben» (K 136).
Widersprüche zu registrieren, das ist dem Erzähler geradezu
der Sinn der Sprache:
«Zur Prüfung legt man einfach nur das Stethoskop am Körper seiner Worte an und hört da ihre Seele ab nach all den
Widersprüchen, deren ordentliches Protokoll zu sein die
Aufgabe der Worte ist.» (K 50).
Widersprüchlichkeit, auch logische Unvereinbarkeit ist in
dieser Sichtweise kein ‹Fehler› oder eine Unmöglichkeit, sondern Grundzustand der Welt, problematisch ist sie nur für
den Beobachter. Die «Protokolle» die u.a. mit Hilfe der eingangs erwähnten technischen Hilfsmittel wie Schreibmaschine oder Tonbandgerät angefertigt werden, zielen denn auch
darauf, sich potentiell widersprechende Kommunikationen/
Operationen zu ixieren und ein Bild davon zu zeichnen, wie
sie aneinander anschliessen. Die diesbezügliche Nähe zur
Systemtheorie offenbart der Erzähler in Kontrolliert in seiner
Erwähnung des Zettelkastens, der quasi indexikalisch auf
Luhmanns Schaffen verweist; die Arbeit mit jenem ist «ebenso logisch [...] wie absurd» (K 127) und gerade dadurch produktiv.
Programm
«Draussen auf der Strasse sah ich den durch eine doppelte
Spiegelung der Fensterwand und eines gegenüberliegenden
Wandspiegels aus dem Baader[café] raus in die Mitte der
Baaderstrasse gehängten Kronleuchter hängen, der mir
plötzlich sagte, ein richtig gescheiter Text müsste praktisch
als Programm der Poesie der Welt einmal wirklich zwei mal
in ein Buch rein schwarz auf weiss gedruckt buchstäblich
wortwörtlich wiederholt erscheinen, wie so vieles echte in
der Wirklichkeit der Welt.» (K 141 f./2)
Wirklichkeit ist immer und ausschliesslich doppelt kontingent gegeben: Die Weltsachverhalte treten doppelt gespiegelt auf; die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist immer eine
systemgebundene, deswegen ist ‹Wirklichkeit› immer eine
systeminterne Appräsentation, «Welt, ins Gehirn rein geschafft» (K 94). Dies sind die Voraussetzungen für das in
Kontrolliert formulierte «Programm der Poesie der Welt».
Kontingenz der Welt aber wird nicht gleichgesetzt mit ihrer
Unerkennbarkeit. Denn Worte sind nicht einfach mangelhafte Abbilder der Welt, sie legen vielmehr fest, was als solche gelten kann. So wird die «Unwahrscheinlichkeit der
Welt» erst durch Sprache «indirekt behandelt und erfasst» (K
64).
Die Widersprüche und die Kontingenz werden damit gleichsam als Eigenschaft und Operationsbasis von Sprache ausgewiesen. Die Feststellung der kontingenten Doppelung von
Welt müsste nun, so das Zitat, im Text selbst ersichtlich und
gleichzeitig vollzogen werden. Das funktioniert aber nur, so
macht der Text es vor, als Paradoxie: Der Text selbst muss
gleich zweimal wortwörtlich in ein Buch rein. Ein solches
Programm muss sich gewissermassen im Akt der Formulierung selbst vollziehen, oder nochmals mit Luhmann: «Alles,
was gesagt wird, kann nur unter der Bedingung gesagt werden, dass es auch für das Sagen selbst zutrifft».
Diese poetologische, und das heisst hier: methodologische,
Prämisse weist über Kontrolliert hinaus. Die hier angezeigte
«Ereignishaftigkeit der Schrift» (Petra Gropp) bzw. ihre Medialisierung, in der Schrift gleichsam zum Zeichen ihrer
selbst wird, wird Rainald Goetz in späteren Texten zu realisieren versuchen; die poetologischen Grundlagen dafür hat
er, basierend auf der Verarbeitung des bundesdeutschen
Terrorismus und Niklas Luhmanns Systemtheorie, in Kontrolliert formuliert.
16
Goetz, Rainald 1988: Kontrolliert. Geschichte
Goetz, Rainald/Terkessidis, Mark/Werber, Niels 1992:
Schlagabtausch – Über Dissidenz, Systemtheorie,
Postmoderne, Beobachter mehrerer Ordnungen und
Kunst. In: Texte zur Kunst 7 (1992). 57-75
Hoeps, Thomas 2001: Arbeit am Widerspruch.
«Terrorismus» in deutschen Romanen und Erzählungen
(1837-1992)
Luhmann, Niklas 1998: Die Gesellschaft der
Gesellschaft
Luhmann, Niklas 1987: Soziale Systeme
Weinhauer, Klaus 2008: Terrorismus und
Kommunikation. Forschungsstand und -perspektiven
zum bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er
Jahre. In: Colin, Nicole/de Graaf, Beatrice et al. (Hg.):
Der ‹Deutsche Herbst› und die RAF in Politik, Medien
und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven.
109-170
Werber, Niels 2000: Benjamin, remixt. Dichter mittleren
Alters lasen Suhrkamp-Denker in Hamburg. Im
Internet unter: http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/
niels.werber/lesung.htm (Stand vom 10.04.2011).
Werber, Niels 2000b: Intensitäten des Politischen.
Gestalten souveräner und normalistischer Macht bei
Rainald Goetz. In: Weimarer Beiträge 1 (2000). 105-120
* Fermin Suter studiert Germanistik und Soziologie an der Universität
Bern. Der vorliegende Beitrag basiert auf Teilen seiner BA-Arbeit.
expositionen
17
Die allmähliche Verfertigung der Beobachtung zweiter Ordnung
Über Grundprinzipien intellektueller Produktion: Kleist, Luhmann und die Romantik
Elias Zimmermann *
D
er Todestag von Heinrich von Kleist (1777-1811) wird dieses Jahr zum 200sten Mal begangen.
Was hat der grosse Schriftsteller mit dem nicht minder grossen Soziologen Niklas Luhmann
(1927-1998) gemeinsam? Erstaunlich vieles, haben sich doch beide für grundlegende Prinzipien
interessiert, die intellektueller und künstlerischer Produktion zugrunde liegen. In diesem kurzen
Essay sei der Spagat zwischen System- und Literaturtheorie gewagt.
«Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht
inden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund,
mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu
sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenåkender Kopf
zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum
befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen.» (Kleist 2005: 534).
In Heinrich von Kleists Schrift Über die allmählige Verfertigung
der Gedanken beim Reden (1805) wird eine verblüffende Beobachtung gemacht: Wenn man jemandem ein Problem schildert, so kommt man oft schneller auf dessen Lösung, als
wenn man stundenlang alleine darüber brütet. So verblüffend diese Beobachtung prima vista ist, ihr psychologischer
Gehalt ist nachvollziehbar und erscheint bei Lichte betrachtet keine Jahrhundertentdeckung zu sein. Was hingegen historisch gesehen in dieser Klarheit als neuartig verblüfft, ist
die Beschreibung von Gedankengängen als selbstreferentieller, d.h. selbstbezüglicher Prozess.
Eine systemische Kulturtheorie
Was sind die Referenzpunkte dieser Beschreibung, welches
wissenschaftstheoretische Paradigma waltet in ihrem Hintergrund? Fragen, die sich die germanistische Forschung zu
wenig gestellt hat, und deren skizzenhafte Beantwortung
hier komparatistisch – im Grenzbereich zwischen Germanistik, Systemtheorie und Philosophie – geschehen soll. Dabei wird nicht nur Niklas Luhmanns Systemtheorie herangezogen, sondern auch Hermann Burgers Poetik-Vorlesung
Die allmähliche Verfertigung der Ideen beim Schreiben. In diesem
Text wendet der Schriftsteller Burger Kleists Überlegungen
auf sein eigenes literarisches Schaffen an. Zum Schluss sei
am Beispiel der Romantik darauf verwiesen, wie Luhmann
selber seine Theorie auf die Literaturgeschichte angewandt
hat.
Wir bewegen uns auf drei Ebenen: der Mikroebene des
Denkprozesses, wie ihn Kleist beschreibt, der ‹Zwischenebene› des einzelnen künstlerischen Prozesses, den Burger als
Schaffensprinzip seines Schreibens auffasst, und der Mak-
roebene autonomer autopoietischer Systeme, wie sie Luhmann – unter anderem – für Konzepte ‹moderner› Kunst
formuliert.
Die Beobachtung von Gedanken
Kleists Prinzip ist keine Mäeutik – die ‹Hebammenkunst› –
von Sokrates, in der ein Lehrer einem Schüler mit gezielten
Fragen auf die Sprünge hilft, er lehnt sie sogar bewusst zugunsten autonomeren Denkens ab (Kleist 2005: 540). Es ist
auch keine scholastische oder dialektische Methode, die das
Fortschreiten eines Gedankens durch die Erwägung von
Pro- und Kontra-Argumenten voranbringen will. Und schon
gar nicht verweist Kleists Analyse auf eine analytische,
sprich zergliedernde und abstrahierende, Methode des Denkens, wie sie, vereinfacht gesagt, analytisch geprägte Philosophie seit Leibniz (1646-1716) propagiert. Kleist beschreibt
vielmehr ein Denken, das sich selber überrascht:
«Gedanken entstehen aus Gedanken,
wenn sie sich von den Vorstellungen
ihres Denkers befreien.»
«Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die
mit dem, was ich suche, nur von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang
mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der
Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu inden,
jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus,
dergestalt, dass die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit
der Periode fertig ist.» (ebd.: 535).
Das erinnert weniger an einen bewussten hermeneutischen
Zirkel als an die idealistische Methodik eines Barons von
Münchhausen, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem
Sumpf zieht. Gedanken entstehen aus Gedanken, wenn sie
sich von den Vorstellungen ihres Denkers befreien – und
gerade das tun sie, wenn der Denkende gezwungen ist, sie
18
vor einem Zuhörer (der zudem immer potentiell Einspruch
erheben kann) darzulegen.
Der Beobachter zweiter Ordnung
Kleist ist nicht nur einer der Ersten, die in dieser Klarheit
einen selbstreferentiellen Prozess als eine sich selbst vervollständigende Struktur beschreiben, er wirft auch einen neuen
Blick auf menschliche Kommunikation: Da die beschriebenen Gedankengänge nichts anderes als Beobachtungen ihrer
selbst sind, wird Kleist zum Beobachter seiner Beobachtungen. Ein Prinzip, das er im Text Empindungen vor Friedrichs
Seelandschaft (1990: 543f.) nicht nur auf sich selber, sondern
auch auf andere anwendet. In seiner kunstphilosophischen
Betrachtung indet ein ‹Umbruch der Wahrnehmung› statt,
aber nicht nur im Sinne eines neuen Verhältnisses des Subjekts zum ‹Erhabenen›, wie sie Christian Begemann (1990)
in einem Aufsatz beschreibt, sondern auch im Verhältnis
von Betrachter und Kunst allgemein. Der Betrachter wird in
einem ersten Schritt zum Beobachter seiner eigenen Empindungen vis-a-vis des Gemäldes von Friedrich, um in einem zweiten Schritt die anderen Betrachter zu beobachten
und ihre Reaktionen mit den eigenen zu vergleichen. Betrachten wir hierzu Luhmanns Prinzip der Beobachtung
zweiter Ordnung, wie er sie in Medium der Kunst (1995: 133)
beschreibt:
«Ein Sozialmedium kommt nur zustande, wenn Beteiligte
beobachten können (oder zumindest unterstellen, dass sie
beobachten können), was andere Beteiligte beobachten kön-
Abbildung: Caspar David Friedrich Der Mönch am Meer
nen. Es geht also immer um ein Beobachten zweiter Ordnung, um ein Beobachten von Beobachtungen, und eben
darin liegt eine Chance der Ablösung von der konkreten Bindung an das, was sich jedem Beteiligten unmittelbar als Beobachtung aufdrängt.»
Autopoiesis
Neben dem Begriff der Selbstreferentialität bildet die Beobachtung zweiter Ordnung eines der beiden zentralen Paradigmen in Niklas Luhmanns Überlegungen zur Autonomie
der Kunst. Der Soziologe Luhmann, ohne Kleist zu erwähnen, geschweige denn die allmählige Verfertigung vor Augen zu
haben, schreibt zweihundert Jahre nach ihm: «Von Selbstorganisation kann man immer dann sprechen, wenn ein operativ geschlossenes System nur die eigenen Operationen zur
Verfügung hat, um Strukturen aufzubauen, die es dann wiederverwenden, ändern oder auch nicht mehr benutzen und
vergessen kann» (1995: 301). ‹Autopoietische Systeme› wiederum sind Systeme, die sich dieses Prinzip zu Nutze machen, indem sie einer Eigengesetzlichkeit des Stoffes folgen.
Der Begriff Autopoiesis (altgriech. autos ‹selbst› und poiein
‹schaffen›, ‹bauen›) beschreibt einen Prozess der ‹Selbsterschaffung›. Er nimmt beispielsweise eine zentrale (und umstrittene) Stellung zur der Beschreibung von Organismen in
der Biologie ein, ist aber auch für Kognitionstheorien und
Neurologie ausschlaggebend – eine andere, wenn auch offensichtlich nicht inkompatible Sichtweise auf das Funktionieren menschlichen Denkens. Autopoiesis als kulturelles
Prinzip schliesslich ist laut Luhmann ein Phänomen, dessen
expositionen
19
Relevanz in der romantischen Literatur ihre erste Klimax
erreicht hat und das sich bis heute als zentrales Strukturprinzip moderner Kunst fortentwickelt.
beschrieben Gedankengängen. Als Mirabeau, der Vorsitzende der französischen Nationalversammlung, sich 1789, wie
Kleist schreibt, erdreistet, dem König Paroli zu bieten, hat er
seine Rede nicht mehr unter Kontrolle. Vielleicht ist es ein
Kritik an der Autopoiesis
kleiner äusserer Reiz, der ihn unbewusst aufgestachelt hat,
Die Beobachtung der Beobachtung stellt sowohl das Beob- möglich dass es «das Zucken einer Oberlippe war, oder ein
achtete als auch den Beobachtenden in Frage. Immer wieder zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den
relektiert Literatur und Kunst
Umsturz der Ordnung der Dindie eigene Relexion – auch als
ge bewirkte.» (2005: 537). Der
«[D]ie Weltliteratur saugt[ ] die MenKritik an ebendieser Relexion,
autopoietische Vorgang wird
schen
aus,
um
dick
gebläht
fortzubewie sie sich abschätzig z.B. geausgelöst: Mirabeau weist die
stehen.»
gen ‹l’art pour l’art› wendet.
Forderung des Königs zurück,
Deswegen aber hört das System
die Versammlung zu räumen.
nicht auf, ihre Autopoiesis vorSeine spontane Rede ist der
an zu treiben, ja es ist nach Luhmann gerade diese kritische ‹Donnerkeil›, der die französische Revolution auslöst, BefreiRelexion, das Infragestellen des autopoietischen Kunstbe- ung und Terreur zugleich, von Kleist immer wieder als
griffes, was wiederum zu Kunst führt.
fürchterliche Naturgewalt beschrieben. In Mirabeaus GeKritischer äussert sich Hermann Burger zur Selbstreferenti- dankengang, dessen Wirkung er später gerne rückgängig
alität von Kultursystemen. Ohne sich auf Luhmann, umso gemacht hätte, tritt die Wirklichkeit zugunsten der Utopie
mehr sich jedoch auf Kleist beziehend, erhebt Burger (1990: zurück, die Welt, wie sie war, verschwindet, so Kleist, hinter
92) in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Die allmähliche dem Ideal menschlicher Autonomie.
Verfertigung der Ideen beim Schreiben die Eigengesetzlichkeit und
Autopoiesis des Stoffes zu seinem zentralen, wenn auch Eine System-Theorie romantischer Kunst
nicht unproblematischen Schaffensprinzip: «Wer nun glaubt, In seinem Aufsatz Eine Redeskription ‹romantischer Kunst› erder Autor habe [...] wirklich die freie Wahl, unterschätzt die klärt Luhmann literaturhistorische Bewegungen mit Hilfe
Eigengesetztlichkeit des Stoffes.» Wie aber kann überhaupt seiner – ursprünglich soziologisch motivierten – Systemtheetwas entstehen, wenn dem Autor so wenig Macht zu- orie: «Der Übergang von hierarchisch ixierten, als Natur
kommt? Burger fragt sich das selber: «Woher kommt eine beschriebenen Positionsordnungen zu einem Primat der UnIdee? Ich würde nach Kleist und dem Motto meiner Vorle- terscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz gilt als
sung gemäß sagen: sie wird auf dem Papier erschrieben. Ja, charakteristisches, wenn nicht als das ausschlaggebende
aber erst wenn ein Ansatz da ist, ein Angelpunkt, woran man Merkmal romantischer Literatur» (1996: 360). Mit ihrer
sich festhalten kann.» (1990: 25). Die Umwelt tritt in auto- Selbstreferentialität zweifeln die frühen Romantiker, nicht
poietische Systeme nur als etwas Zufälliges, als ein Reiz, ein zuletzt motiviert durch erkenntnistheoretische Kritik an ‹der
willkürlicher Gedankensplitter ein und verändert sie. Burger Wirklichkeit› wie sie die idealistische Philosophie geäussert
beschreibt es als schwer, die Kontrolle über sein Schaffen zu hat, an der Glaubwürdigkeit des Äusseren und internalisiewahren. Figuren und Stoffe in seinen Romanen würden sei- ren deshalb Probleme des ‹Anderen›. Es gibt sie nicht mehr,
nem ursprünglichen Plan nicht folgen, tanzten ihm geradezu die Natur um uns herum, was bleibt sind unsere eigenen
auf der Nase herum.
Gefühle und Betrachtungen dessen, was jenseits des eigenen
Ichs nie gänzlich veriizierbar ist – sei es, philosophisch geDas Verschwinden der Welt
sprochen, das ‹Ding an sich› Kants oder das ‹Nicht-Ich›
Eine andere Schwierigkeit ist das Schreiben angesichts der Fichtes. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass Kleist
Fülle des bisher Geschriebenen. Burger als schreibender in seinen Empindungen vor Friedrichs Seelandschaft von der UnGermanist fühlt sich in einem Meer von literarischen Refe- möglichkeit spricht, sich in den abgebildeten Mönch hineinrenzen, in dem er die äussere Realität zu verlieren beginnt, zuversetzen. Die vermeintliche Unmittelbarkeit seiner Lander ertrinkt in der Selbstreferentialität des Literatursystems, schaftserfahrung kann für Kleist nur eine mittelbare sein, die
«die Weltliteratur saugt[ ] die Menschen aus, um dick gebläht Unfähigkeit der Kunst, uns ein ‹reales› Erlebnis zu geben,
fortzubestehen» (1990: 19). Luhmann (1995: 308) beschreibt widerspiegelt die Zweifel der Philosophie an der äusseren
in Die Welt der Kunst den Verlust des Äusseren als eine innere Realität und ebenso die Selbstreferentialität von Kunst per
Logik, als ‹das Verschwinden der Welt in der Kunst›:
se.
«Es ist, als ob das Kunstwerk uns zur Welt und Selbstvergessenheit, wenn ich das so überzogen sagen darf, einladen würde: wir sollen die Welt nicht sehen. Wir sollen das Kunstwerk
bewundern und vergessen, dass damit etwas verdeckt wird.»
Die Gefahren der Autopoiesis lauern auch in den von Kleist
Autonomie und Modernität
Man darf jedoch nicht einzig die Philosophie für den Aufschwung auotopoietischer Texte verantwortlich machen.
Eine nicht minder grosse Rolle spielt etwa das neue Konzept
des freien Schriftstellers, der nicht nur intellektuelle, sondern
auch ökonomische Freiheit von den ihn umgebenden
20
Machtstrukturen anstrebt. Aber auch naturwissenschaftliche
Vorstellungen wie beispielsweise Goethes Farbenlehre, die
subjektives Farbempinden über physikalische Fakten stellt,
sind Teil dieser Entwicklung.
Auf literarischer Ebene gebiert der Paradigmen-Wechsel
etwa den Identitäts-Horror der Schwarzen Romantik bei
E.T.A Hoffmann oder Schlegels Verehrung der Poesie um
«Es gibt sie nicht mehr, die Natur um uns herum, was bleibt sind
unsere eigenen Gefühle und Betrachtungen dessen, was jenseits des
eigenen Ichs nie gänzlich veriizierbar ist.»
ihrer selbst willen. Worte bilden nicht mehr Äusserliches ab,
sondern können sich nur noch auf sich selber beziehen. Nirgends kommt das stärker zum Ausdruck als in Novalis’ kurzem Text Monolog (1978), in dem er der Sprache absolute
Autonomie, völlige Unabhängigkeit von der äusseren Welt
beimisst. Unter diesem Aspekt liesse sich nun auch Kleist als
Romantiker verstehen, dessen epochenspeziische Zuteilung
ansonsten schwer fällt. Aber wie wir beispielsweise anhand
von Burger sehen können, ist Autopoiesis nicht primär nur
ein romantisches Prinzip, sondern ein grundlegendes Paradigma autonomer intellektueller Produktion – eine Produktionsform, die oft mit dem schwierigen Begriff der Modernität versehen wird.
Ich habe zum Anfang von drei Ebenen gesprochen, durch
die wir das Paradigma der Autopoiesis verfolgen: Intellektuelle Mikroprozesse, Prozesse der Kunstproduktion und kulturelle Makroprozesse. Diese drei Ebenen sind weder klar
voneinander abzugrenzen noch qualitativ voneinander zu
unterscheiden. Der hier skizzierte Ansatz beschreibt vielmehr ein universales Konzept hinter ihnen, das ein systemisches Verständnis von Kultur eröffnet.
Begemann, Christian 1990: Brentano und Kleist vor
Friedrichs Mönch am Meer. Aspekte eines Umbruchs
in der Geschichte der Wahrnehmung. In: Deutsche
Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte 64. 89-145
Burger, Hermann 1990: Die allmähliche Verfertigung
der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik-Vorlesung
Kleist, Heinrich von 1990: Empindungen vor
Friedrichs Seelandschaft. In: Ders.: Sämtliche
Erzählungen, Anekdoten, Schriften. Hrsg. von Müller
Salget, Klaus. 543-544
Kleist, Heinrich von 2005: Über die allmählige
Verfertigung der Gedanken beim Reden. An R. v. L. In:
Ders.: Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Schriften.
Hrsg. von Müller Salget, Klaus. 534-540
Luhmann, Niklas 1995: Die Kunst der Gesellschaft
Luhmann, Niklas 1996: Eine Redeskription
‹romantischer Kunst›. In: Fohrmann, Jürgen/Müller,
Harro (Hg.): Systemtheorie der Literatur. 325-344
Novalis 1978: Monolog. In: Ders.: Werke, Tagebücher
und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2: Das
philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Mähl,
Hans-Joachim/Samuel, Richard. 425-439
Friedrich, Caspar David 1808-1809: Der Mönch am
Meer (Wanderer am Gestade des Meeres). Im Internet
unter: http://images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/
kml2462a.jpg (Stand vom 27.3.2011)
* Elias Zimmermann ist Master-Student der Germanistik (Major)
und Philosophie (Minor) an der Universität Bern. Sein Interesse,
welchem auch dieser Text entspringt, liegt insbesondere auf der
Zeit der Romantik und Schnittmengen von Philosophie und neuerer
deutscher Literaturwissenschaft. Die zugrundeliegende gleichnamige
Seminararbeit wurde im Sommer 2010 am Institut für deutsche
Philologie an der Freien Universität Berlin verfasst.
expositionen
21
Der Findling
Antonio Piachi, ein wohlhabender Güterhändler in Rom, war
genötigt, in seinen Handelsgeschäften zuweilen große Reisen zu
machen. Er pflegte dann gewöhnlich Elvire, seine junge Frau,
unter dem Schutz ihrer Verwandten, daselbst zurückzulassen.
Eine dieser Reisen führte ihn mit seinem Sohn Paolo, einem
eilfjährigen Knaben, den ihm seine erste Frau geboren hatte, nach
Ragusa. Es traf sich, daß hier eben eine pestartige Krankheit
ausgebrochen war, welche die Stadt und Gegend umher in großes
Schrecken setzte. Piachi, dem die Nachricht davon erst auf der
Reise zu Ohren gekommen war, hielt in der Vorstadt an, um
sich nach der Natur derselben zu erkundigen. Doch da er hörte,
daß das Übel von Tage zu Tage bedenklicher werde, und daß man
damit umgehe, die Tore zu sperren; so überwand die Sorge für
seinen Sohn alle kaufmännischen Interessen: er nahm Pferde
und reisete wieder ab.
Er bemerkte, da er im Freien war, einen Knaben neben seinem
Wagen, der, nach Art der Flehenden, die Hände zu ihm ausstreckte
und in großer Gemütsbewegung zu sein schien. Piachi ließ halten;
und auf die Frage: was er wolle? antwortete der Knabe in seiner
Unschuld: er sei angesteckt; die Häscher verfolgten ihn, um ihn
ins Krankenhaus zu bringen, wo sein Vater und seine Mutter
schon gestorben wären; er bitte um aller Heiligen willen, ihn
mitzunehmen, und nicht in der Stadt umkommen zu lassen. Dabei
faßte er des Alten Hand, drückte und küßte sie und weinte darauf
nieder. Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den
Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in eben diesem
Augenblick, seine Farbe veränderte und ohnmächtig auf den Boden
niedersank, so regte sich des guten Alten Mitleid: er stieg mit
seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr
mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wußte, was er mit
demselben anfangen sollte.
Er unterhandelte noch, in der ersten Station, mit den
Wirtsleuten, über die Art und Weise, wie er seiner wieder los
werden könne: als er schon auf Befehl der Polizei, welche davon
Wind bekommen hatte, arretiert und unter einer Bedeckung, er,
sein Sohn und Nicolo, so hieß der kranke Knabe, wieder nach
Ragusa zurück transportiert ward. Alle Vorstellungen von
Seiten Piachis, über die Grausamkeit dieser Maßregel, halfen zu
nichts; in Ragusa angekommen, wurden nunmehr alle drei, unter
Aufsicht eines Häschers, nach dem Krankenhause abgeführt, wo er
zwar, Piachi, gesund blieb, und Nicolo, der Knabe, sich von dem
Übel wieder erholte: sein Sohn aber, der eilfjährige Paolo, von
demselben angesteckt ward, und in drei Tagen starb.
Die Tore wurden nun wieder geöffnet und Piachi, nachdem
er seinen Sohn begraben hatte, erhielt von der Polizei Erlaubnis,
zu reisen. Er bestieg eben, sehr von Schmerz bewegt, den Wagen
und nahm, bei dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer blieb,
sein Schnupftuch heraus, um seine Tränen fließen zu lassen: als
Nicolo, mit der Mütze in der Hand, an seinen Wagen trat und
ihm eine glückliche Reise wünschte. Piachi beugte sich aus dem
Schlage heraus und fragte ihn, mit einer von heftigem Schluchzen
unterbrochenen Stimme: ob er mit ihm reisen wollte? Der Junge,
sobald er den Alten nur verstanden hatte, nickte und sprach: o
ja! sehr gern; und da die Vorsteher des Krankenhauses, auf die
Frage des Güterhändlers: ob es dem Jungen wohl erlaubt wäre,
einzusteigen? lächelten und versicherten: daß er Gottes Sohn
wäre und niemand ihn vermissen würde; so hob ihn Piachi, in
einer großen Bewegung, in den Wagen, und nahm ihn, an seines
Sohnes Statt, mit sich nach Rom.
Auf der Straße, vor den Toren der Stadt, sah sich der
Landmäkler den Jungen erst recht an. Er war von einer besonderen,
etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hingen ihm, in
schlichten Spitzen, von der Stirn herab, ein Gesicht beschattend,
das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte. Der Alte
tat mehrere Fragen an ihn, worauf jener aber nur kurz antwortete:
ungesprächig und in sich gekehrt saß er, die Hände in die Hosen
gesteckt, im Winkel da, und sah sich, mit gedankenvoll scheuen
Blicken, die Gegenstände an, die an dem Wagen vorüberflogen.
Von Zeit zu Zeit holte er sich, mit stillen und geräuschlosen
Bewegungen, eine Handvoll Nüsse aus der Tasche, die er bei
sich trug, und während Piachi sich die Tränen vom Auge wischte,
nahm er sie zwischen die Zähne und knackte sie auf.
In Rom stellte ihn Piachi, unter einer kurzen Erzählung
des Vorfalls, Elviren, seiner jungen trefflichen Gemahlin vor,
welche sich zwar nicht enthalten konnte, bei dem Gedanken an
Paolo, ihren kleinen Stiefsohn, den sie sehr geliebt hatte, herzlich
zu weinen; gleichwohl aber den Nicolo, so fremd und steif er
auch vor ihr stand, an ihre Brust drückte, ihm das Bette, worin
jener geschlafen hatte, zum Lager anwies, und sämtliche Kleider
desselben zum Geschenk machte. Piachi schickte ihn in die Schule,
wo er Schreiben, Lesen und Rechnen lernte, und da er, auf eine
leicht begreifliche Weise, den Jungen in dem Maße lieb gewonnen,
als er ihm teuer zu stehen gekommen war, so adoptierte er ihn, mit
Einwilligung der guten Elvire, welche von dem Alten keine Kinder
mehr zu erhalten hoffen konnte, schon nach wenigen Wochen, als
seinen Sohn. Er dankte späterhin einen Kommis ab, mit dem er,
aus mancherlei Gründen, unzufrieden war, und hatte, da er den
Nicolo, statt seiner, in dem Kontor anstellte, die Freude zu sehn,
daß derselbe die weitläuftigen Geschäfte, in welchen er verwickelt
war, auf das tätigste und vorteilhafteste verwaltete. Nichts
hatte der Vater, der ein geschworner Feind aller Bigotterie
war, an ihm auszusetzen, als den Umgang mit den Mönchen des
Karmeliterklosters, die dem jungen Mann, wegen des beträchtlichen
Vermögens das ihm einst, aus der Hinterlassenschaft des Alten,
zufallen sollte, mit großer Gunst zugetan waren; und nichts
ihrerseits die Mutter, als einen früh, wie es ihr schien, in der
Brust desselben sich regenden Hang für das weibliche Geschlecht.
22
Denn schon in seinem funfzehnten Jahre, war er, bei Gelegenheit
dieser Mönchsbesuche, die Beute der Verführung einer gewissen
Xaviera Tartini, Beischläferin ihres Bischofs, geworden, und
ob er gleich, durch die strenge Forderung des Alten genötigt, diese
Verbindung zerriß, so hatte Elvire doch mancherlei Gründe zu
glauben, daß seine Enthaltsamkeit auf diesem gefährlichen Felde
nicht eben groß war. Doch da Nicolo sich, in seinem zwanzigsten
Jahre, mit Constanza Parquet, einer jungen liebenswürdigen
Genueserin, Elvirens Nichte, die unter ihrer Aufsicht in Rom
erzogen wurde, vermählte, so schien wenigstens das letzte Übel
damit an der Quelle verstopft; beide Eltern vereinigten sich in der
Zufriedenheit mit ihm, und um ihm davon einen Beweis zu geben,
ward ihm eine glänzende Ausstattung zuteil, wobei sie ihm einen
beträchtlichen Teil ihres schönen und weitläuftigen Wohnhauses
einräumten. Kurz, als Piachi sein sechzigstes Jahr erreicht hatte,
tat er das Letzte und Äußerste, was er für ihn tun konnte: er
überließ ihm, auf gerichtliche Weise, mit Ausnahme eines kleinen
Kapitals, das er sich vorbehielt, das ganze Vermögen, das seinem
Güterhandel zum Grunde lag, und zog sich, mit seiner treuen,
trefflichen Elvire, die wenige Wünsche in der Welt hatte, in den
Ruhestand zurück.
Elvire hatte einen stillen Zug von Traurigkeit im Gemüt,
der ihr aus einem rührenden Vorfall, aus der Geschichte ihrer
Kindheit, zurückgeblieben war. Philippo Parquet, ihr Vater,
ein bemittelter Tuchfärber in Genua, bewohnte ein Haus, das,
wie es sein Handwerk erforderte, mit der hinteren Seite hart
an den, mit Quadersteinen eingefaßten, Rand des Meeres stieß;
große, am Giebel eingefugte Balken, an welchen die gefärbten
Tücher aufgehängt wurden, liefen, mehrere Ellen weit, über
die See hinaus. Einst, in einer unglücklichen Nacht, da Feuer
das Haus ergriff, und gleich, als ob es von Pech und Schwefel
erbaut wäre, zu gleicher Zeit in allen Gemächern, aus welchen
es zusammengesetzt war, emporknitterte, flüchtete sich, überall
von Flammen geschreckt, die dreizehnjährige Elvire von Treppe
zu Treppe, und befand sich, sie wußte selbst nicht wie, auf einem
dieser Balken. Das arme Kind wußte, zwischen Himmel und
Erde schwebend, gar nicht, wie es sich retten sollte; hinter ihr der
brennende Giebel, dessen Glut, vom Winde gepeitscht, schon den
Balken angefressen hatte, und unter ihr die weite, öde, entsetzliche
See. Schon wollte sie sich allen Heiligen empfehlen und unter
zwei Übeln das kleinere wählend, in die Fluten hinabspringen; als
plötzlich ein junger Genueser, vom Geschlecht der Patrizier, am
Eingang erschien, seinen Mantel über den Balken warf,
sie umfaßte, und sich, mit eben so viel Mut als Gewandtheit, an
einem der feuchten Tücher, die von dem Balken niederhingen, in die
See mit ihr herabließ. Hier griffen Gondeln, die auf dem Hafen
schwammen, sie auf, und brachten sie, unter vielem Jauchzen
des Volks, ans Ufer; doch es fand sich, daß der junge Held,
schon beim Durchgang durch das Haus, durch einen vom Gesims
desselben herabfallenden Stein, eine schwere Wunde am Kopf
empfangen hatte, die ihn auch bald, seiner Sinne nicht mächtig,
am Boden niederstreckte. Der Marquis, sein Vater, in dessen
Hotel er gebracht ward, rief, da seine Wiederherstellung sich in
die Länge zog, Ärzte aus allen Gegenden Italiens herbei, die ihn zu
verschiedenen Malen trepanierten und ihm mehrere Knochen aus
dem Gehirn nahmen; doch alle Kunst war, durch eine unbegreifliche
Schickung des Himmels, vergeblich: er erstand nur selten an der
Hand Elvirens, die seine Mutter zu seiner Pflege herbeigerufen
hatte, und nach einem dreijährigen höchst schmerzenvollen
Krankenlager, während dessen das Mädchen nicht von seiner Seite
wich, reichte er ihr noch einmal freundlich die Hand und verschied.
Piachi, der mit dem Hause dieses Herrn in Handelsverbindungen
stand, und Elviren eben dort, da sie ihn pflegte, kennen gelernt
und zwei Jahre darauf geheiratet hatte, hütete sich sehr, seinen
Namen vor ihr zu nennen, oder sie sonst an ihn zu erinnern, weil
er wußte, daß es ihr schönes und empfindliches Gemüt auf das
heftigste bewegte. Die mindeste Veranlassung, die sie auch nur
von fern an die Zeit erinnerte, da der Jüngling für sie litt und
starb, rührte sie immer bis zu Tränen, und alsdann gab es keinen
Trost und keine Beruhigung für sie; sie brach, wo sie auch sein
mochte, auf, und keiner folgte ihr, weil man schon erprobt hatte,
daß jedes andere Mittel vergeblich war, als sie still für sich, in
der Einsamkeit, ihren Schmerz ausweinen zu lassen. Niemand,
außer Piachi, kannte die Ursache dieser sonderbaren und häufigen
Erschütterungen, denn niemals, so lange sie lebte, war ein Wort,
jene Begebenheit betreffend, über ihre Lippen gekommen. Man
war gewohnt, sie auf Rechnung eines überreizten Nervensystems
zu setzen, das ihr aus einem hitzigen Fieber, in welches sie gleich
nach ihrer Verheiratung verfiel, zurückgeblieben war, und somit
allen Nachforschungen über die Veranlassung derselben ein Ende
zu machen.
Einstmals war Nicolo, mit jener Xaviera Tartini, mit
welcher er, trotz des Verbots des Vaters, die Verbindung nie
ganz aufgegeben hatte, heimlich, und ohne Vorwissen seiner
Gemahlin, unter der Vorspiegelung, daß er bei einem Freund
eingeladen sei, auf dem Karneval gewesen und kam, in der Maske
eines genuesischen Ritters, die er zufällig gewählt hatte, spät
in der Nacht, da schon alles schlief, in sein Haus zurück. Es
traf sich, daß dem Alten plötzlich eine Unpäßlichkeit zugestoßen
war, und Elvire, um ihm zu helfen, in Ermangelung der Mägde,
aufgestanden, und in den Speisesaal gegangen war, um ihm eine
Flasche mit Essig zu holen. Eben hatte sie einen Schrank, der
in dem Winkel stand, geöffnet, und suchte, auf der Kante eines
Stuhles stehend, unter den Gläsern und Caravinen umher: als
Nicolo die Tür sacht öffnete, und mit einem Licht, das er sich
auf dem Flur angesteckt hatte, mit Federhut, Mantel und Degen,
durch den Saal ging. Harmlos, ohne Elviren zu sehen, trat er an
die Tür, die in sein Schlafgemach führte, und bemerkte eben mit
Bestürzung, daß sie verschlossen war: als Elvire hinter ihm,
mit Flaschen und Gläsern, die sie in der Hand hielt, wie durch
einen unsichtbaren Blitz getroffen, bei seinem Anblick von dem
Schemel, auf welchem sie stand, auf das Getäfel des Bodens
niederfiel. Nicolo, von Schrecken bleich, wandte sich um und
wollte der Unglücklichen beispringen; doch da das Geräusch, das
expositionen
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sie gemacht hatte, notwendig den Alten herbeiziehen mußte, so
unterdrückte die Besorgnis, einen Verweis von ihm zu erhalten,
alle andere Rücksichten: er riß ihr, mit verstörter Beeiferung,
ein Bund Schlüssel von der Hüfte, das sie bei sich trug, und
einen gefunden, der paßte, warf er den Bund in den Saal zurück
und verschwand. Bald darauf, da Piachi, krank wie er war, aus
dem Bette gesprungen war, und sie aufgehoben hatte, und auch
Bediente und Mägde, von ihm zusammengeklingelt, mit Licht
erschienen waren, kam auch Nicolo in seinem Schlafrock, und
fragte, was vorgefallen sei; doch da Elvire, starr vor Entsetzen,
wie ihre Zunge war, nicht sprechen konnte, und außer ihr nur
er selbst noch Auskunft auf diese Frage geben konnte, so blieb
der Zusammenhang der Sache in ein ewiges Geheimnis gehüllt;
man trug Elviren, die an allen Gliedern zitterte, zu Bett, wo
sie mehrere Tage lang an einem heftigen Fieber darniederlag,
gleichwohl aber durch die natürliche Kraft ihrer Gesundheit den
Zufall überwand, und bis auf eine sonderbare Schwermut, die ihr
zurückblieb, sich ziemlich wieder erholte.
So verfloß ein Jahr, als Constanze, Nicolos Gemahlin,
niederkam, und samt dem Kinde, das sie geboren hatte, in den
Wochen starb. Dieser Vorfall, bedauernswürdig an sich, weil
ein tugendhaftes und wohlerzogenes Wesen verloren ging, war es
doppelt, weil er den beiden Leidenschaften Nicolos, seiner Bigotterie
und seinem Hange zu den Weibern, wieder Tor und Tür öffnete.
Ganze Tage lang trieb er sich wieder, unter dem Vorwand, sich zu
trösten, in den Zellen der Karmelitermönche umher, und gleichwohl
wußte man, daß er während der Lebzeiten seiner Frau, nur mit
geringer Liebe und Treue an ihr gehangen hatte. Ja, Constanze
war noch nicht unter der Erde, als Elvire schon zur Abendzeit,
in Geschäften des bevorstehenden Begräbnisses in sein Zimmer
tretend, ein Mädchen bei ihm fand, das, geschürzt und geschminkt,
ihr als die Zofe der Xaviera Tartini nur zu wohl bekannt war.
Elvire schlug bei diesem Anblick die Augen nieder, kehrte sich, ohne
ein Wort zu sagen, um, und verließ das Zimmer; weder Piachi,
noch sonst jemand, erfuhr ein Wort von diesem Vorfall, sie
begnügte sich, mit betrübtem Herzen bei der Leiche Constanzens,
die den Nicolo sehr geliebt hatte, niederzuknieen und zu weinen.
Zufällig aber traf es sich, daß Piachi, der in der Stadt gewesen
war, beim Eintritt in sein Haus dem Mädchen begegnete, und da
er wohl merkte, was sie hier zu schaffen gehabt hatte, sie heftig
anging und ihr halb mit List, halb mit Gewalt, den Brief, den
sie bei sich trug, abgewann. Er ging auf sein Zimmer, um ihn zu
lesen, und fand, was er vorausgesehen hatte, eine dringende Bitte
Nicolos an Xaviera, ihm, behufs einer Zusammenkunft, nach der er
sich sehne, gefälligst Ort und Stunde zu bestimmen. Piachi setzte
sich nieder und antwortete, mit verstellter Schrift, im Namen
Xavieras: „gleich, noch vor Nacht, in der Magdalenenkirche.“ siegelte diesen Zettel mit einem fremden Wappen zu, und ließ ihn,
gleich als ob er von der Dame käme, in Nicolos Zimmer abgeben.
Die List glückte vollkommen; Nicolo nahm augenblicklich seinen
Mantel, und begab sich in Vergessenheit Constanzens, die im
Sarg ausgestellt war, aus dem Hause. Hierauf bestellte Piachi,
tief entwürdigt, das feierliche, für den kommenden Tag festgesetzte
Leichenbegräbnis ab, ließ die Leiche, so wie sie ausgesetzt war,
von einigen Trägern aufheben, und bloß von Elviren, ihm und
einigen Verwandten begleitet, ganz in der Stille in dem Gewölbe
der Magdalenenkirche, das für sie bereitet war, beisetzen. Nicolo,
der in dem Mantel gehüllt, unter den Hallen der Kirche stand,
und zu seinem Erstaunen einen ihm wohlbekannten Leichenzug
herannahen sah, fragte den Alten, der dem Sarge folgte: was dies
bedeute? und wen man herantrüge? Doch dieser, das Gebetbuch in
der Hand, ohne das Haupt zu erheben, antwortete bloß: Xaviera
Tartini: - worauf die Leiche, als ob Nicolo gar nicht gegenwärtig
wäre, noch einmal entdeckelt, durch die Anwesenden gesegnet, und
alsdann versenkt und in dem Gewölbe verschlossen ward.
Dieser Vorfall, der ihn tief beschämte, erweckte in der
Brust des Unglücklichen einen brennenden Haß gegen Elviren;
denn ihr glaubte er den Schimpf, den ihm der Alte vor allem
Volk angetan hatte, zu verdanken zu haben. Mehrere Tage lang
sprach Piachi kein Wort mit ihm; und da er gleichwohl, wegen
der Hinterlassenschaft Constanzens, seiner Geneigtheit und
Gefälligkeit bedurfte: so sah er sich genötigt, an einem Abend
des Alten Hand zu ergreifen und ihm mit der Miene der Reue,
unverzüglich und auf immerdar, die Verabschiedung der Xaviera
anzugeloben. Aber dies Versprechen war er wenig gesonnen
zu halten; vielmehr schärfte der Widerstand, den man ihm
entgegen setzte, nur seinen Trotz, und übte ihn in der Kunst, die
Aufmerksamkeit des redlichen Alten zu umgehen. Zugleich war
ihm Elvire niemals schöner vorgekommen, als in dem Augenblick,
da sie, zu seiner Vernichtung, das Zimmer, in welchem sich das
Mädchen befand, öffnete und wieder schloß. Der Unwille, der
sich mit sanfter Glut auf ihren Wangen entzündete, goß einen
unendlichen Reiz über ihr mildes, von Affekten nur selten bewegtes
Antlitz; es schien ihm unglaublich, daß sie, bei soviel Lockungen
dazu, nicht selbst zuweilen auf dem Wege wandeln sollte, dessen
Blumen zu brechen er eben so schmählich von ihr gestraft worden
war. Er glühte vor Begierde, ihr, falls dies der Fall sein sollte,
bei dem Alten denselben Dienst zu erweisen, als sie ihm, und
bedurfte und suchte nichts, als die Gelegenheit, diesen Vorsatz
ins Werk zu richten.
Einst ging er, zu einer Zeit, da gerade Piachi außer dem Hause
war, an Elvirens Zimmer vorbei, und hörte, zu seinem Befremden,
daß man darin sprach. Von raschen, heimtückischen Hoffnungen
durchzuckt, beugte er sich mit Augen und Ohren gegen das Schloß
nieder, und - Himmel! was erblickte er? Da lag sie, in der Stellung
der Verzückung, zu jemandes Füßen, und ob er gleich die Person
nicht erkennen konnte, so vernahm er doch ganz deutlich, recht mit
dem Akzent der Liebe ausgesprochen, das geflüsterte Wort: Colino.
Er legte sich mit klopfendem Herzen in das Fenster des Korridors,
von wo aus er, ohne seine Absicht zu verraten, den Eingang des
Zimmers beobachten konnte; und schon glaubte er, bei einem
Geräusch, das sich ganz leise am Riegel erhob, den unschätzbaren
Augenblick, da er die Scheinheilige entlarven könne, gekommen:
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als, statt des Unbekannten den er erwartete, Elvire selbst, ohne
irgend eine Begleitung, mit einem ganz gleichgültigen und ruhigen
Blick, den sie aus der Ferne auf ihn warf, aus dem Zimmer
hervortrat. Sie hatte ein Stück selbstgewebter Leinwand unter
dem Arm; und nachdem sie das Gemach, mit einem Schlüssel,
den sie sich von der Hüfte nahm, verschlossen hatte, stieg sie
ganz ruhig, die Hand ans Geländer gelehnt, die Treppe hinab.
Diese Verstellung, diese scheinbare Gleichgültigkeit, schien ihm
der Gipfel der Frechheit und Arglist, und kaum war sie ihm aus
dem Gesicht, als er schon lief, einen Hauptschlüssel herbeizuholen,
und nachdem er die Umringung, mit scheuen Blicken, ein wenig
geprüft hatte, heimlich die Tür des Gemachs öffnete. Aber wie
erstaunte er, als er alles leer fand, und in allen vier Winkeln, die
er durchspähte, nichts, das einem Menschen auch nur ähnlich war,
entdeckte: außer dem Bild eines jungen Ritters in Lebensgröße,
das in einer Nische der Wand, hinter einem rotseidenen Vorhang,
von einem besondern Lichte bestrahlt, aufgestellt war. Nicolo
erschrak, er wußte selbst nicht warum: und eine Menge Gedanken
fuhren ihm, den großen Augen des Bildes, das ihn starr ansah,
gegenüber, durch die Brust: doch ehe er sie noch gesammelt und
geordnet hatte, ergriff ihn schon Furcht, von Elviren entdeckt
und gestraft zu werden; er schloß, in nicht geringer Verwirrung,
die Tür wieder zu, und entfernte sich. Je mehr er über diesen
sonderbaren Vorfall nachdachte, je wichtiger ward ihm das Bild,
das er entdeckt hatte, und je peinlicher und brennender war die
Neugierde in ihm, zu wissen, wer damit gemeint sei. Denn er hatte
sie, im ganzen Umriß ihrer Stellung auf Knieen liegen gesehen,
und es war nur zu gewiß, daß derjenige, vor dem dies geschehen
war, die Gestalt des jungen Ritters auf der Leinwand war. In
der Unruhe des Gemüts, die sich seiner bemeisterte, ging er zu
Xaviera Tartini, und erzählte ihr die wunderbare Begebenheit, die
er erlebt hatte. Diese, die in dem Interesse, Elviren zu stürzen,
mit ihm zusammentraf, indem alle Schwierigkeiten, die sie in
ihrem Umgang fanden, von ihr herrührten, äußerte den Wunsch,
das Bild, das in dem Zimmer derselben aufgestellt war, einmal
zu sehen. Denn einer ausgebreiteten Bekanntschaft unter den
Edelleuten Italiens konnte sie sich rühmen, und falls derjenige,
der hier in Rede stand, nur irgend einmal in Rom gewesen und
von einiger Bedeutung war, so durfte sie hoffen, ihn zu kennen.
Es fügte sich auch bald, daß die beiden Eheleute Piachi, da sie
einen Verwandten besuchen wollten, an einem Sonntag auf das
Land reiseten, und kaum wußte Nicolo auf diese Weise das Feld
rein, als er schon zu Xavieren eilte, und diese mit einer kleinen
Tochter, die sie von dem Kardinal hatte, unter dem Vorwande,
Gemälde und Stickereien zu besehen, als eine fremde Dame in
Elvirens Zimmer führte. Doch wie betroffen war Nicolo, als
die kleine Klara (so hieß die Tochter), sobald er nur den Vorhang
erhoben hatte, ausrief: „Gott, mein Vater! Signor Nicolo, wer
ist das anders, als Sie?“ - Xaviera verstummte. Das Bild, in
der Tat, je länger sie es ansah, hatte eine auffallende Ähnlichkeit
mit ihm: besonders wenn sie sich ihn, wie ihrem Gedächtnis gar
wohl möglich war, in dem ritterlichen Aufzug dachte, in welchem
er, vor wenigen Monaten, heimlich mit ihr auf dem Karneval
gewesen war. Nocolo versuchte ein plötzliches Erröten, das sich
über seine Wangen ergoß, wegzuspotten; er sagte, indem er die
Kleine küßte: wahrhaftig, liebste Klara, das Bild gleicht mir, wie
du demjenigen, der sich deinen Vater glaubt! - Doch Xaviera, in
deren Brust das bittere Gefühl der Eifersucht rege geworden war,
warf einen Blick auf ihn; sie sagte, indem sie vor den Spiegel
trat, zuletzt sei es gleichgültig, wer die Person sei; empfahl sich
ihm ziemlich kalt und verließ das Zimmer.
Nicolo verfiel, sobald Xaviera sich entfernt hatte, in die
lebhafteste Bewegung über diesen Auftritt. Er erinnerte sich,
mit vieler Freude, der sonderbaren und lebhaften Erschütterung,
in welche er, durch die phantastische Erscheinung jener Nacht,
Elviren versetzt hatte. Der Gedanke, die Leidenschaft dieser, als
ein Muster der Tugend umwandelnden Frau erweckt zu haben,
schmeichelte ihn fast eben so sehr, als die Begierde, sich an ihr
zu rächen; und da sich ihm die Aussicht eröffnete, mit einem
und demselben Schlage beide, das eine Gelüst, wie das andere,
zu befriedigen, so erwartete er mit vieler Ungeduld Elvirens
Wiederkunft, und die Stunde, da ein Blick in ihr Auge seine
schwankende Überzeugung krönen würde. Nichts störte ihn in dem
Taumel, der ihn ergriffen hatte, als die bestimmte Erinnerung,
daß Elvire das Bild, vor dem sie auf Knieen lag, damals, als er
sie durch das Schlüsselloch belauschte: Colino, genannt hatte;
doch auch in dem Klang dieses, im Lande nicht eben gebräuchlichen
Namens, lag mancherlei, das sein Herz, er wußte nicht warum,
in süße Träume wiegte, und in der Alternative, einem von beiden
Sinnen, seinem Auge oder seinem Ohr zu mißtrauen, neigte er
sich, wie natürlich, zu demjenigen hinüber, der seiner Begierde am
lebhaftesten schmeichelte.
Inzwischen kam Elvire erst nach Verlauf mehrer Tage von
dem Lande zurück, und da sie aus dem Hause des Vetters, den
sie besucht hatte, eine junge Verwandte mitbrachte, die sich in
Rom umzusehen wünschte, so warf sie, mit Artigkeiten gegen diese
beschäftigt, auf Nicolo, der sie sehr freundlich aus dem Wagen hob,
nur einen flüchtigen nichtsbedeutenden Blick. Mehrere Wochen,
der Gastfreundin, die man bewirtete, aufgeopfert, vergingen in
einer dem Hause ungewöhnlichen Unruhe; man besuchte, in- und
außerhalb der Stadt, was einem Mädchen, jung und lebensfroh,
wie sie war, merkwürdig sein mochte; und Nicolo, seiner Geschäfte
im Kontor halber, zu allen diesen kleinen Fahrten nicht eingeladen,
fiel wieder, in Bezug auf Elviren, in die übelste Laune zurück. Er
begann wieder, mit den bittersten und quälendsten Gefühlen, an
den Unbekannten zurück zu denken, den sie in heimlicher Ergebung
vergötterte; und dies Gefühl zerriß besonders am Abend der längst
mit Sehnsucht erharrten Abreise jener jungen Verwandten sein
verwildertes Herz, da Elvire, statt nun mit ihm zu sprechen,
schweigend, während einer ganzen Stunde, mit einer kleinen,
weiblichen Arbeit beschäftigt, am Speisetisch saß. Es traf sich,
daß Piachi, wenige Tage zuvor, nach einer Schachtel mit kleinen,
elfenbeinernen Buchstaben gefragt hatte, vermittelst welcher
Nicolo in seiner Kindheit unterrichtet worden, und die dem Alten
expositionen
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nun, weil sie niemand mehr brauchte, in den Sinn gekommen war,
an ein kleines Kind in der Nachbarschaft zu verschenken. Die
Magd, der man aufgegeben hatte, sie, unter vielen anderen, alten
Sachen, aufzusuchen, hatte inzwischen nicht mehr gefunden, als
die sechs, die den Namen: Nicolo ausmachen; wahrscheinlich weil
die andern, ihrer geringeren Beziehung auf den Knaben wegen,
minder in Acht genommen und, bei welcher Gelegenheit es sei,
verschleudert worden waren. Da nun Nicolo die Lettern, welche
seit mehreren Tagen auf dem Tisch lagen, in die Hand nahm,
und während er, mit dem Arm auf die Platte gestützt, in trüben
Gedanken brütete, damit spielte, fand er - zufällig, in der Tat,
selbst, denn er erstaunte darüber, wie er noch in seinem Leben nicht
getan - die Verbindung heraus, welche den Namen: Colino bildet.
Nicolo, dem diese logogriphische Eigenschaft seines Namens
fremd war, warf, von rasenden Hoffnungen von neuem getroffen,
einen ungewissen und scheuen Blick auf die ihm zur Seite sitzende
Elvire. Die Übereinstimmung, die sich zwischen beiden Wörtern
angeordnet fand, schien ihm mehr als ein bloßer Zufall, er erwog, in
unterdrückter Freude, den Umfang dieser sonderbaren Entdeckung,
und harrte, die Hände vom Tisch genommen, mit klopfendem
Herzen des Augenblicks, da Elvire aufsehen und den Namen, der
offen da lag, erblicken würde. Die Erwartung, in der er stand,
täuschte ihn auch keineswegs; denn kaum hatte Elvire, in einem
müßigen Moment, die Aufstellung der Buchstaben bemerkt, und
harmlos und gedankenlos, weil sie ein wenig kurzsichtig war, sich
näher darüber hingebeugt, um sie zu lesen: als sie schon Nicolos
Antlitz, der in scheinbarer Gleichgültigkeit darauf niedersah, mit
einem sonderbar beklommenen Blick überflog, ihre Arbeit, mit einer
Wehmut, die man nicht beschreiben kann, wieder aufnahm, und,
unbemerkt wie sie sich glaubte, eine Träne nach der anderen, unter
sanftem Erröten, auf ihren Schoß fallen ließ. Nicolo, der alle
diese innerlichen Bewegungen, ohne sie anzusehen, beobachtete,
zweifelte gar nicht mehr, daß sie unter dieser Versetzung der
Buchstaben nur seinen eignen Namen verberge. Er sah sie die
Buchstaben mit einemmal sanft übereinander schieben, und seine
wilden Hoffnungen erreichten den Gipfel der Zuversicht, als sie
aufstand, ihre Handarbeit weglegte und in ihr Schlafzimmer
verschwand. Schon wollte er aufstehen und ihr dahin folgen: als
Piachi eintrat, und von einer Hausmagd, auf die Frage, wo Elvire
sei? zur Antwort erhielt: „daß sie sich nicht wohl befinde und sich
auf das Bett gelegt habe.“ Piachi, ohne eben große Bestürzung zu
zeigen, wandte sich um, und ging, um zu sehen, was sie mache; und
da er nach einer Viertelstunde, mit der Nachricht, daß sie nicht zu
Tische kommen würde, wiederkehrte und weiter kein Wort darüber
verlor: so glaubte Nicolo den Schlüssel zu allen rätselhaften
Auftritten dieser Art, die er erlebt hatte, gefunden zu haben.
Am andern Morgen, da er, in seiner schändlichen Freude,
beschäftigt war, den Nutzen, den er aus dieser Entdeckung zu
ziehen hoffte, zu überlegen, erhielt er ein Billet von Xavieren,
worin sie ihn bat, zu ihr zu kommen, indem sie ihm, Elviren
betreffend, etwas, das ihm interessant sein würde, zu eröffnen
hätte. Xaviera stand, durch den Bischof, der sie unterhielt, in der
engsten Verbindung mit den Mönchen des Karmeliterklosters;
und da seine Mutter in diesem Kloster zur Beichte ging, so
zweifelte er nicht, daß es jener möglich gewesen wäre, über die
geheime Geschichte ihrer Empfindungen Nachrichten, die seine
unnatürlichen Hoffnungen bestätigen konnten, einzuziehen. Aber
wie unangenehm, nach einer sonderbaren schalkhaften Begrüßung
Xavierens, ward er aus der Wiege genommen, als sie ihn lächelnd
auf den Diwan, auf welchem sie saß, niederzog, und ihm sagte:
sie müsse ihm nur eröffnen, daß der Gegenstand von Elvirens
Liebe ein, schon seit zwölf Jahren, im Grabe schlummernder
Toter sei. - Aloysius, Marquis von Montferrat, dem ein Oheim
zu Paris, bei dem er erzogen worden war, den Zunamen Collin,
späterhin in Italien scherzhafter Weise in Colino umgewandelt,
gegeben hatte, war das Original des Bildes, das er in der Nische,
hinter dem rotseidenen Vorhang, in Elvirens Zimmer entdeckt
hatte; der junge, genuesische Ritter, der sie, in ihrer Kindheit,
auf so edelmütige Weise aus dem Feuer gerettet und an den
Wunden, die er dabei empfangen hatte, gestorben war. - Sie setzte
hinzu, daß sie ihn nur bitte, von diesem Geheimnis weiter keinen
Gebrauch zu machen, indem es ihr, unter dem Siegel der äußersten
Verschwiegenheit, von einer Person, die selbst kein eigentliches
Recht darüber habe, im Karmeliterkloster anvertraut worden sei.
Nicolo versicherte, indem Blässe und Röte auf seinem Gesicht
wechselten, daß sie nichts zu befürchten habe; und gänzlich außer
Stand, wie er war, Xavierens schelmischen Blicken gegenüber,
die Verlegenheit, in welche ihn diese Eröffnung gestürzt hatte,
zu verbergen, schützte er ein Geschäft vor, das ihn abrufe, nahm,
unter einem häßlichen Zucken seiner Oberlippe, seinen Hut,
empfahl sich und ging ab.
Beschämung, Wollust und Rache vereinigten sich jetzt, um
die abscheulichste Tat, die je verübt worden ist, auszubrüten. Er
fühlte wohl, daß Elvirens reiner Seele nur durch einen Betrug
beizukommen sei; und kaum hatte ihm Piachi, der auf einige Tage
aufs Land ging, das Feld geräumt, als er auch schon Anstalten
traf, den satanischen Plan, den er sich ausgedacht hatte, ins Werk
zu richten. Er besorgte sich genau denselben Anzug wieder, in
welchem er, vor wenig Monaten, da er zur Nachtzeit heimlich
vom Karneval zurückkehrte, Elviren erschienen war; und Mantel,
Kollett und Federhut, genuesischen Zuschnitts, genau so, wie
sie das Bild trug, umgeworfen, schlich er sich, kurz vor dem
Schlafengehen, in Elvirens Zimmer, hing ein schwarzes Tuch
über das in der Nische stehende Bild, und wartete, einen Stab in
der Hand, ganz in der Stellung des gemalten jungen Patriziers,
Elvirens Vergötterung ab. Er hatte auch, im Scharfsinn seiner
schändlichen Leidenschaft, ganz richtig gerechnet; denn kaum hatte
Elvire, die bald darauf eintrat, nach einer stillen und ruhigen
Entkleidung, wie sie gewöhnlich zu tun pflegte, den seidnen
Vorhang, der die Nische bedeckte, eröffnet und ihn erblickt: als
sie schon: Colino! Mein Geliebter! rief und ohnmächtig auf das
Getäfel des Bodens niedersank. Nicolo trat aus der Nische hervor;
er stand einen Augenblick, im Anschauen ihrer Reize versunken,
und betrachtete ihre zarte, unter dem Kuß des Todes plötzlich
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erblassende Gestalt: hob sie aber bald, da keine Zeit zu verlieren
war, in seinen Armen auf, und trug sie, indem er das schwarze
Tuch von dem Bild herabriß, auf das im Winkel des Zimmers
stehende Bett. Dies abgetan, ging er, die Tür zu verriegeln, fand
aber, daß sie schon verschlossen war; und sicher, daß sie auch nach
Wiederkehr ihrer verstörten Sinne, seiner phantastischen, dem
Ansehen nach überirdischen Erscheinung keinen Widerstand leisten
würde, kehrte er jetzt zu dem Lager zurück, bemüht, sie mit heißen
Küssen auf Brust und Lippen aufzuwecken. Aber die Nemesis, die
dem Frevel auf dem Fuß folgt, wollte, daß Piachi, den der Elende
noch auf mehrere Tage entfernt glaubte, unvermutet, in eben
dieser Stunde, in seine Wohnung zurückkehren mußte; leise, da
er Elviren schon schlafen glaubte, schlich er durch den Korridor
heran, und da er immer den Schlüssel bei sich trug, so gelang es
ihm, plötzlich, ohne daß irgend ein Geräusch ihn angekündigt hätte,
in das Zimmer einzutreten. Nicolo stand wie vom Donner gerührt;
er warf sich, da seine Büberei auf keine Weise zu bemänteln war,
dem Alten zu Füßen, und bat ihn, unter der Beteurung, den Blick
nie wieder zu seiner Frau zu erheben, um Vergebung. Und in
der Tat war der Alte auch geneigt, die Sache still abzumachen;
sprachlos, wie ihn einige Worte Elvirens gemacht hatten, die sich
von seinen Armen umfaßt, mit einem entsetzlichen Blick, den sie
auf den Elenden warf, erholt hatte, nahm er bloß, indem er die
Vorhänge des Bettes, auf welchem sie ruhte, zuzog, die Peitsche
von der Wand, öffnete ihm die Tür und zeigte ihm den Weg,
den er unmittelbar wandern sollte. Doch dieser, eines Tartüffe
völlig würdig, sah nicht sobald, daß auf diesem Wege nichts
auszurichten war, als er plötzlich vom Fußboden erstand und
erklärte: an ihm, dem Alten, sei es, das Haus zu räumen, denn er
durch vollgültige Dokumente eingesetzt, sei der Besitzer und werde
sein Recht, gegen wen immer auf der Welt es sei, zu behaupten
wissen! - Piachi traute seinen Sinnen nicht; durch diese unerhörte
Frechheit wie entwaffnet, legte er die Peitsche weg, nahm Hut
und Stock, lief augenblicklich zu seinem alten Rechtsfreund, dem
Doktor Valerio, klingelte eine Magd heraus, die ihm öffnete, und
fiel, da er sein Zimmer erreicht hatte, bewußtlos, noch ehe er ein
Wort vorgebracht hatte, an seinem Bette nieder. Der Doktor,
der ihn und späterhin auch Elviren in seinem Hause aufnahm,
eilte gleich am andern Morgen, die Festsetzung des höllischen
Bösewichts, der mancherlei Vorteile für sich hatte, auszuwirken;
doch während Piachi seine machtlosen Hebel ansetzte, ihn aus
den Besitzungen, die ihm einmal zugeschrieben waren, wieder zu
verdrängen, flog jener schon mit einer Verschreibung über den
ganzen Inbegriff derselben, zu den Karmelitermönchen, seinen
Freunden, und forderte sie auf, ihn gegen den alten Narren, er
ihn daraus vertreiben wolle, zu beschützen. Kurz, da er Xavieren,
welche der Bischof los zu sein wünschte, zu heiraten willigte,
siegte die Bosheit, und die Regierung erließ, auf Vermittelung
dieses geistlichen Herrn, ein Dekret, in welchem Nicolo in den
Besitz bestätigt und dem Piachi aufgegeben ward, ihn nicht darin
zu belästigen.
Piachi hatte gerade Tags zuvor die unglückliche Elvire
begraben, die an den Folgen eines hitzigen Fiebers, das ihr jener
Vorfall zugezogen hatte, gestorben war. Durch diesen doppelten
Schmerz gereizt, ging er, das Dekret in der Tasche, in das Haus,
und stark, wie die Wut ihn machte, warf er den von Natur
schwächeren Nicolo nieder und drückte ihm das Gehirn an der
Wand ein. Die Leute die im Hause waren, bemerkten ihn nicht
eher, als bis die Tat geschehen war; sie fanden ihn noch, da er
den Nicolo zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den
Mund stopfte. Dies abgemacht, stand er, indem er alle seine
Waffen abgab, auf; ward ins Gefängnis gesetzt, verhört und
verurteilt, mit dem Strange vom Leben zum Tode gebracht zu
werden.
In dem Kirchenstaat herrscht ein Gesetz, nach welchem
kein Verbrecher zum Tode geführt werden kann, bevor er die
Absolution empfangen. Piachi, als ihm der Stab gebrochen
war, verweigerte sich hartnäckig der Absolution. Nachdem man
vergebens alles, was die Religion an die Hand gab, versucht hatte,
ihm die Strafwürdigkeit seiner Handlung fühlbar zu machen,
hoffte man, ihn durch den Anblick des Todes, der seiner wartete,
in das Gefühl der Reue hineinzuschrecken, und führte ihn nach
dem Galgen hinaus. Hier stand ein Priester und schilderte ihm,
mit der Lunge der letzten Posaune, alle Schrecknisse der Hölle,
in die seine Seele hinabzufahren im Begriff war; dort ein anderer,
den Leib des Herrn, das heilige Entsühnungsmittel in der Hand,
und pries ihm die Wohnungen des ewigen Friedens. - „Willst
du der Wohltat der Erlösung teilhaftig werden?“ fragten ihn
beide. „Willst du das Abendmahl empfangen?“ - Nein, antwortete
Piachi. - „Warum nicht?“ - Ich will nicht selig sein. Ich will
in den untersten Grund der Hölle hinabfahren. Ich will den
Nicolo, der nicht im Himmel sein wird, wiederfinden, und meine
Rache, die ich hier nur unvollständig befriedigen konnte, wieder
aufnehmen! - Und damit bestieg er die Leiter und forderte den
Nachrichter auf, sein Amt zu tun. Kurz, man sah sich genötigt,
mit der Hinrichtung einzuhalten, und den Unglücklichen, den das
Gesetz in Schutz nahm, wieder in das Gefängnis zurückzuführen.
Drei hinter einander folgende Tage machte man dieselben Versuche
und immer mit demselben Erfolg. Als er am dritten Tage wieder,
ohne an den Galgen geknüpft zu werden, die Leiter herabsteigen
mußte: hob er, mit einer grimmigen Gebärde, die Hände empor,
das unmenschliche Gesetz verfluchend, das ihn nicht zur Hölle
fahren lassen wolle. Er rief die ganze Schar der Teufel herbei,
ihn zu holen, verschwor sich, sein einziger Wunsch sei, gerichtet
und verdammt zu werden, und versicherte, er würde noch dem
ersten, besten Priester an den Hals kommen, um des Nicolo in
der Hölle wieder habhaft zu werden! - Als man dem Papst dies
meldete, befahl er, ihn ohne Absolution hinzurichten; kein Priester
begleitete ihn, man knüpfte ihn, ganz in der Stille, auf dem Platz
del popolo auf.
Heinrich von Kleist (* 10.10.1777; † 21.11.1811)
expositionen
27
«Auf den Frost ist Verlass»
Arno Camenischs Romane Sez Ner und Hinter dem Bahnhof – Eine Doppelbesprechung
Manuela Heiniger *
M
it seinen beiden ersten Romanen bietet Arno Camenisch der Leserschaft humorvoll abgründige Einblicke in die bündnerische Provinz. Als Doppelbesprechung weist die vorliegende Kritik auf Kontinuitäten und Brüche in der Bibliographie des Surselver Newcommers hin.
Gefeierter Jungautor
Arno Camenisch, geboren 1978 in Tavanasa in Graubünden,
indet in seinem Erstlingsroman Sez Ner, den er auf Deutsch
und Romanisch (Sursilvan) geschrieben hat, einen eigenen
Rhythmus und erreicht damit zahlreiche Leser. Er hielt bereits über 100 Lesungen von Salamanca bis Budapest, wird
eifrig übersetzt, rezensiert, gekauft – die fünfte Aulage ging
gerade in Druck – und prämiert. Arno Camenisch, der im
Herbst 2010 sein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel abgeschlossen hat, hat für Sez Ner den ZKB
Schillerpreis 2010 und den Berner Literaturpreis 2010 erhalten und war auf der Shortlist des Rauriser Literaturpreises
2010. Vollständige Übersetzungen liegen vor in Französisch,
Italienisch und Rumänisch. In Verhandlung sind Übersetzungen ins Ungarische, Spanische, Litauische; auszugsweise
ist Sez Ner ins Spanische, Englische, Chinesische, Ungarische
und Litauische übertragen worden. Ebenfalls liegt ein vom
Autor selbst gelesenes zweisprachiges Hörbuch zu Sez Ner
vor – dasjenige zu Hinter dem Bahnhof erscheint im Herbst
2011 – und im Februar dieses Jahres wurde Sez Ner in Chur
auf der Bühne uraufgeführt.
Sez Ner – Nähe und Distanz
Ein Senn, ein Zusenn, ein Kuhhirte und ein Schweinehirt
sind die Hauptprotagonisten von Sez Ner, diesem eindrücklichen Bild eines Sommers auf einer Alp, wo einzig die
mächtigen Berge, die pfeifenden Murmeltiere und die kreisenden Bussarde eine Idylle und Romantik suggerieren. Ansonsten herrscht ein raues Klima; Touristen erfrieren fast,
gegessen wird mitunter hartes, schimmliges Brot und auch
vor den Maden im Käse wird nicht zurückgeschreckt. Unter
den Älplern herrscht eine klare Hierarchie, festzumachen
etwa an der Sitzordnung im Auto, oder daran, dass der Senn
dem Schweinehirten versichert, er werde es nie zu einem
Senn bringen, denn «als Senn fällt man nicht vom Himmel,
als Senn wird man geboren. Als Schweinehirte auch.» Die
Hauptbeschäftigung des Senns liegt denn auch darin,
Schnaps zu trinken und seine Hände in den Hosentaschen
zu verstecken, damit sie in der Kälte nicht aufreissen. Er
wird immer dicker und beschränkt sich darauf, den Käse im
Käsekeller zu zählen – seinen ganzen Stolz. Arbeiten tun
vorwiegend die anderen.
Mit lakonischer Sprache, einfachen Hauptsätzen, eingestreuten Sentenzen und episodenhaften Sprüngen gelingt es Camenisch, Koinzidenzen zu schaffen, einzelne Episoden
ohne kausalen Zusammenhang, die auch alleine für sich stehen könnten. Einzig das Personal und die Chronologie dieses Alpsommers halten das Geschehen zusammen. Dennoch schafft es Camenisch, ein stimmiges Gesamtbild zu
zeichnen. So wird der Leser in einem Zug von kastrierten
Hunden zu ins Bett pinkelnden Ziegen geführt, von Musik
hörenden Kühen zu den immer wieder mit Ironie bedachten, fotograierenden, achtlosen Touristen und von einem
Gleitschirmlug zu verdorbenem Käse. Dieses scheinbar absichtslose Nebeneinander von Episoden, die Verbindung
von scheinbar Unvereinbarem, überträgt sich auch auf die
Sprache selbst, nicht zuletzt in der Verwendung von Zeugmata: «Der Wind kommt auf und die Herde runter» oder
«Der Regen putzt die Alp durch und den dreckigen Justy ab».
Kommentarlos und vordergründig emotionslos wird erzählt, wie Hühner geköpft werden, einer Kuh der Gnadenschuss erteilt wird, der Zusenn mit der Hirtin im Heu verschwindet, Zähne ohne Betäubung gezogen oder Menschen
im Dorf einfach überfahren werden. Doch durch die Liebe
zum Detail wird ein Stimmungsbild geschaffen, welches einen zu berühren vermag. Alltägliches erscheint wertvoll und
wichtig: wie die Hirtin die Wäsche auswindet, der Senn seine
orangen Handschuhe aufbläst, die zwei Eigelbe eines einzigen Eis sich in der Bratpfanne vermischen, wie die nassen
Socken in den Stiefeln «gluntschen».
Camenisch hat eine Ausdrucksweise gefunden, eine mündliche Schriftlichkeit, die zum einfachen Leben und der Einsilbigkeit dieser Älper passt. Sätze wie «Die aufgeschürften
Fingerknöchel brennen und das Kinn auch» oder die immer
wieder eingestreuten Dialektausdrücke bringen dem Leser
das Leben auf der Alp trotz grosser narrativer Distanz erstaunlich nah und die durch die sprunghafte Szenenhaftigkeit verursachte enorme Erzählgeschwindigkeit und die intensive Bildlichkeit lassen vergessen, dass hier eigentlich kein
Plot, im Sinne einer kausal zusammenhängenden Geschichte, vorhanden ist.
28
Hinter dem Bahnhof – Idiome und Mängel
In Sez Ner stehen das Romanische und das Deutsche noch
nebeneinander, doch ist hier nicht einfach eine unidirektionale Übertragung vorhanden. Die Zweisprachigkeit erfüllt
weitere Zwecke. Es geht um ein Miteinander, einen Austausch. Wie ein Echo in den Bergen hallt das Deutsche dem
Romanischen entgegen und umgekehrt. In Hinter dem Bahnhof, Camenischs zweitem Erzählband, werden die beiden
Idiome vermischt. Mit Begriffen wie «Svotsch», «Schnudderlumpe», «Coffertori», «Rövosch» und durch die Romanisierung von deutschen Wörtern durch den Plural-s wie etwa bei
«Cätisägas» wird einem die tatsächliche Sprachenvielfalt und
Vermischung am bündnerischen Schauplatz der Handlung
näher gebracht. Wie im ersten Roman sind die Sätze auch
hier unmittelbar und einfach, umso mehr, als der Ich-Erzähler in Hinter dem Bahnhof ein Kind ist. Der kindliche und unvoreingenommene Blick bietet aber auch Raum für Überraschendes, so wird beispielsweise der Inhalt des Urinbeutels
im Spital zu Holundersirup.
Die «Huaralümmels», der namenlose Erzähler und sein Bruder, machen einen «Seich» nach dem anderen, spielen Fangis
im «Vögeli», zeichnen mit Nägeln Bilder in Autotüren,
schwingen an Lampen durch die Stuben oder schmieren
Ketchup in anderer Leute Schuhe.
Camenischs zweiter Roman führt die Arbeit des Erstlings
konsequent fort. Zwar steht jeder Text für sich, und doch
gehören sie zusammen. Etliche Motive und ganze Geschehnisse tauchen wieder auf, die gleichen Situationen werden
von einer anderen Seite beleuchtet und teilweise ausgeführt.
Ein Wermutstropfen dabei: Das überraschende Element
fehlt im zweiten Roman, das Schema ist etwas zu offensichtlich, der Text dem ersten Roman, dessen besondere Wirkung
gerade in der überraschenden Bildhaftigkeit und Sprache lag,
zu ähnlich. In Hinter dem Bahnhof wird ein analoger Stil gewählt: schnelles Erzähltempo, episodenhafte Darstellung,
nüchterne Erzählweise.
Auch inhaltlich bieten sich zahlreiche Vergleiche mit Sez Ner
an. In beiden Texten spielen Tiere eine Hauptrolle, in beiden
wird ein Jubiläum mit Musik gefeiert und in beiden wird sehr
viel geraucht. In Sez Ner kommt ein «Natel» vor so gross wie
ein Ruchbrot, in Hinter dem Bahnhof ein Kind so gross wie ein
Weissbrot, dort erhält eine Kuh einen Gnadenschuss, hier
der Fido. Hinter dem Bahnhof spielt im Dorf am Fusse der Alp
aus Sez Ner, was dadurch deutlich wir, dass dieselbe Ziege,
welche den Stall nie verlassen darf, wieder auftaucht, ebenso
wie Lucas, der im Dorf überfahren wird. In beiden Texten
geht es um das Verhältnis von Alp und Dorf, Oberländer
und Unterländer, Früher und Heute und nicht zuletzt sind
beide Romane dominiert von Deformationen und Mängeln.
Der Zusenn hat nur acht Finger, der Grossvater gar nur
siebeneinhalb. Die Beine der Grossmutter sind nicht gleich
lang, sie braucht ein Hörgerät und sie trinkt, wie der Senn,
gerne Schnaps. Der Rico hat zu viele Zähne, dem Lezi fehlt
ein Daumen. Dem Jungen werden die Zähne auf die gleiche
Weise und mit den gleichen Worten gezogen wie dem Kuhhirten in Sez Ner. In beiden Erzählungen fehlt der «Caretta»
ein Arm, in beiden sind die Antennen an den Radios entweder geknickt oder abgebrochen und schliesslich fehlt dem
Jesus am Kruziix weiterhin seine rechte Hand.
Witz und Lakonie
Es sind auch der Witz und die Lakonie – während einer
Lesung von Camenisch noch viel deutlicher spürbar als beim
stillen Lesen –, die beide Texte lesenswert machen, das Spielen mit der Sprache, die Eröffnung einer alltäglichen in sich
geschlossenen Welt. In Hinter dem Bahnhof ist es zudem die
Kindesperspektive auf eine Heimat, welche dem Text trotz
einigem Schrecken eine gewisse Leichtigkeit verleiht. Etwas,
was Camenisch in seinem zweiten Roman nicht weniger gelungen ist als in seinem melancholischeren Debüt, diesem
Bild eines Alpsommers, in welchem einzig auf den Frost
Verlass ist.
Arno Camenisch, Sez Ner. Romanisch und Deutsch,
Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2009,
gebunden, 215 S., 36.– CHF
Arno Camenisch, Sez Ner. Romanisch und Deutsch,
Engeler Verlag, Holderbank 2010, Taschenbuch, 215.
S., 19.– CHF
Arno Camenisch, Hinter dem Bahnhoft, Engeler Verlag,
Holderbank 2010, gebunden, 96 S., 25.– CHF
http://www.arnocamenisch.ch
* Manuela Heiniger hat Germanistik, Geschichte und Philosophie
an der Universität Bern studiert und arbeitet zur Zeit ebenda als
Doktorandin im Editionsprojekt der HKG Jeremias Gotthelf.
expositionen
29
Zeugung, Kinder und bedrohte Männlichkeit
Eine kulturwissenschaftliche Lesart von Wolf Haas’ Kriminalroman Der Brenner und der liebe Gott
Joanna Nowotny *
B
renner ist im siebten Band von Wolf Haas’ Krimiserie nicht nur mit einer Entführung und mehreren
Morden konfrontiert, sondern auch mit einer Armada von Vätern und solchen, die es gerne wären. Die
Problematik rund um Zeugung und Elternschaft in Der Brenner und der liebe Gott wird hier als
Symptom sozialer Gegebenheiten interpretiert.
Eine Entführung und sieben Tote
Herr Simon, so Brenners neuer Name, hat eine Stelle gefunden, die ihm zusagt. Der Ex-Polizist arbeitet als Chauffeur
für das Ehepaar Kressdorf, einen österreichischen Bauunternehmer mit Geschäftssitz in München, und dessen Frau,
die in Wien eine Abtreibungsklinik leitet. Gewissenhaft und
dank seines Tablettenkonsums seelisch ausgeglichen kutschiert er deren dreijährige Tochter Helena zwischen München, Wien und einer Almhütte in Kitzbühel hin und her.
Doch dann passiert das Unglück. Als er Helena im Auto
allein lässt, um im Tankstellenshop umständlich eine Schokoladentafel auszuwählen, kommt sie ihm abhanden. Die
Verwicklungen, die folgen, werden von Haas’ notorischem
Erzähler auf gewohnt unterhaltsame Weise ausgebreitet:
Brenner wird der Entführung bezichtigt, verliert seine Stelle
und macht sich auf, den Täter selbst zur Strecke zu bringen.
Er begegnet dem ihm wenig sympathischen Polizisten Peinhaupt, dem Bankdirektor Reinhard, der «Südtirolerin» Monika und einer Vielzahl anderer Personen. Die Meisten überleben die 200 Buchseiten nicht: Sieben Tote hat der siebte
Brenner-Krimi zu verzeichnen.
Versagende Väter
In zweifacher Weise ist das Versagen eines Mannes als Vater
– und so das Thema der Vaterschaft überhaupt – in Der
Brenner und der liebe Gott zentral. Der Auslöser der Geschehnisse im Kriminalroman ist im Grunde, dass Brenner in den
Augen einer Frau in seiner Rolle als Ersatzvater von Helena
kläglich scheitert. Das Versagen eines Mannes als Vater ist
auf einer zweiten Ebene für den Fall wesentlich: Ein genarrter Vater (dessen Name hier ausgespart bleiben soll), selbst
zeugungsunfähig, wird zum Mörder, um «sich mit Gewalt
wieder zum Vater zu machen» und «seine Tochter nicht nur
als Person, sondern auch mit Haut und Haar zurück [zubekommen], quasi genmäßig.» Die Verbrechen in Der Brenner
und der liebe Gott sind also das Ergebnis eines männlichen
Feldzugs, genauer noch eines Versuchs, sich als Vater zu reetablieren, indem das Wissen um die eigene Zeugungsunfähigkeit und den Betrug der Ehefrau aus der Welt geschafft
wird.
Vaterschaft als Geschlechterkampf
Schon die Vorbedingung der Vaterschaft, die Zeugung, entpuppt sich in Der Brenner und der liebe Gott als problematisch.
In den Fällen, in denen sie gelingt, haben oft weder Väter
noch Mütter besondere Freude an ihrem Resultat. Dass die
Abtreibungsklinik von Frau Dr. Kressdorf als eines der lokalen und auch thematischen Zentren des Romans fungiert,
ist bezeichnend: Es wimmelt im Text nur so von unerwünschten Kindern, häuig Produkt von Beziehungen, in
denen zumindest die Männer nur sexuelle Befriedigung gesucht hatten. Vor allem diese ‹leiden› denn auch nicht zuletzt
unter dem inanziellen Risiko, Vater zu werden; so zum Beispiel Brenner selbst, aber auch Reinhard und Peinhaupt,
wobei Letzterer für nicht weniger als vier Kinder Alimente
zu zahlen hat. Der ‹Störfaktor› Kind (Hilfsausdruck) wird
am radikalsten in einer Urszene verbildlicht, in der Helena
den Geschlechtsverkehr zwischen der Südtirolerin und
Brenner stört.
Die Frage nach der Vaterschaft wird zum hart umkämpften
Territorium. Während Reinhard etwa die drohende Vaterschaft zu verhindern sucht, will der Mörder ihr vermeintlich
biologisches Produkt an sich reissen; während Peinhaupt die
Etablierung als Erzeuger und aus ihr erwachsende Verantwortlichkeiten meidet, strebt der Mörder sie wild entschlossen an. Der Kampf um die Vaterschaft nimmt dabei in Wolf
Haas’ Krimi eine ganz besondere Form an. Er manifestiert
sich deutlich als Kampf zwischen den Geschlechtern.
Unzweifelhafte leibliche Vaterschaften sind in Der Brenner
und der liebe Gott selten. Frauen setzen diese Fraglichkeit ein,
um Männer vor allem inanziell zu manipulieren. Es scheint
fast schon an der Tagesordnung, dass Mitglieder des ‹schwachen› Geschlechts den Männern Kuckuckskinder unterjubeln. Johanna zum Beispiel, eine Ex-Freundin von Brenner,
lässt den Ermittler für die Alimente eines Kindes aufkommen, bis sie im «Grazer Finanzdirektor» eine weit bessere
Quelle indet. Johanna spielt, so vermutet zumindest Brenner, sogar doppelt falsch. Nicht nur hat sie ihn selbst im
Glauben gelassen, der Vater eines Kindes zu sein, das ein
anderer gezeugt hat: «Hansi» – bezeichnenderweise eine
männlich konnotierte Kurzform – hat es sogar geschafft,
30
von zwei Männern gleichzeitig Geld für ein Kind zu kassieren. Ein zweiter genarrter Vater indet den Tod, weil er beim
Bergsteigen, also bei einer Tätigkeit, die mit der Zelebrierung von Männlichkeit in Verbindung gebracht werden
kann, abstürzt, zudem ausgerechnet am «Matterhorn», einem ‹prominenten› Männlichkeitssymbol.
Krisenhafte Männlichkeit
Wer Vater ist und wer nicht, entscheiden in Der Brenner und
der liebe Gott ausschliesslich die Frauen. Was dadurch zumindest auch verhandelt wird, ist eine Krise der Männlichkeit,
wie sie in den letzten Jahrzehnten in der Forschung diskutiert wurde. Mit dem Niedergang der bürgerlichen, patriarchalisch strukturierten Kleinfamilie und der Emanzipation
der Frau wurde der Status des Vaters in unserem Kulturraum
unsicher. Nicht nur wird und wurde die männliche Ernährerposition zunehmend in Frage gestellt; die sexuelle Befreiung und die Aulösung traditioneller, auch religiös fundierter
Bindungsmuster resultierten in alternativen Familienstrukturen, in denen der Mann als Vater nur mehr eine marginale
oder jedenfalls nicht mehr die Hauptrolle einnimmt.
Treffer zu sein. Im zweiten Kapitel versucht der «umgekehrte Adam» Peinhaupt erfolglos, diesem Umstand entgegenzuwirken und mittels Sterilisation wieder Eintritt ins Paradies
der reproduktionsfreien Geschlechtlichkeit zu gewinnen.
Die Erfolgsquote der Zeugung, wie sie für Peinhaupt, aber
auch für andere haas’sche Männer typisch ist, steht in auffälligem Gegensatz zu heutigen Verhütungsmethoden, die es
im Speziellen den Frauen erlauben, eine bis anhin unerreichte Kontrolle über die Fortplanzung auszuüben und eine
unerwünschte Empfängnis zu verhindern. Diese neue weibliche Beherrschung der Domäne der Reproduktion kann als
ein Aspekt der Krise der Männlichkeit verstanden werden.
Zudem kontrastiert die eigentlich oft zu mühelose Reproduktion der haas’schen Männer mit der medial gut belegbaren Diskussion um die abnehmende männliche Fruchtbarkeit. Mit der Ernährerrolle hat auch die Erzeugerrolle des
Mannes nicht nur an Wichtigkeit verloren, sondern, wenn
man(n) die Debatten ernst nimmt, auch an Effektivität.
Als Reaktion auf die ‹Krise› der Männer gibt es Bewegungen,
die sich gegen eine von ihnen postulierte ‹Misandrie› in der
heutigen Gesellschaft wenden. Es erstaunt denn auch nicht,
dass in verschiedenen Ländern, zum Beispiel in Deutschland, der Schweiz und in Österreich, also Haas’ Heimatland,
«Männerparteien» gegründet wurden, welche die Rechte der
Männer vertreten, die sich hier als Opfer einer weiblich dominierten Gesellschaft verstehen.
Ein Kernthema bildet dabei stets die Unsicherheit der Vaterschaft. Deutliche Worte indet zum Beispiel die Parteiführung der Wiener Sektion der Männerpartei, wenn sie unter
ihren «Forderungen» als zweiten Punkt einen «Vaterschaftstest für Alle [sic!]» aulistet: «damit soll der Betrug der ahnungslosen Väter mit untergeschobenen Kuckuckskindern
ein Ende haben.» Wenn in Der Brenner und der liebe Gott Männer als Spielbälle von Frauen präsentiert werden, die ihre
Macht in Fragen der Fortplanzung schamlos ausnutzen,
kann dies als Symptom männlicher Aversionen gegen die
veränderten sozialen Bedingungen gewertet werden und
entspricht Vorurteilen gegenüber Frauen, wie sie weit verbreitet sind.
Nikotin und Hormone
Zwei immer wieder genannte Faktoren, die die Spermienqualität anscheinend beeinträchtigen können, werden in Der
Brenner und der liebe Gott eigens erwähnt. So weist Brenner in
einer Szene einen «Baustellenbewacher» und Handlanger des
Mörders darauf hin, «dass jahrzehntelanges Rauchen die
Spermienqualität mindert», was der Angesprochene mit einem unverblümten Angriff auf Brenners Männlichkeit quittiert, indem er ihm einen Schlag zwischen die Beine versetzt.
Des Weiteren wird die hormonelle ‹Verweiblichung› von
Männern durch den Erzähler angesprochen, der sich fragt,
«warum die Bierbauchmänner immer so eine hohe Stimme
haben, angeblich die weiblichen Hormone im Hopfen, und
dann kriegst du einen Busen und eine hohe Stimme als
Mann […].» Aus den Medien allgemein bekannt ist die These, nach der weibliche Hormone vor allem im Trinkwasser
eine Ursache für die nachlassende Spermienqualität sind.
Konsequenzen scheint die Abnahme der männlichen Fortplanzungsfähigkeit trotz ihrer expliziten Erwähnung im
Detektivroman nur sehr selten zu zeitigen, genauer noch nur
in einem einzigen Fall – ein Umstand, der sich als Verdrängung der bedrohten Männlichkeit interpretieren lässt. Die
Mühelosigkeit der Reproduktion wird an einer Stelle direkt
thematisch, und zwar erneut dort, wo «das Kind [Helena]
schon da» ist, noch bevor Brenner beim Verkehr mit Monika
«richtig in Schwung» kommt. Es wirkt wie eine ironische
Verbildlichung der tatsächlichen Gegebenheiten in Sachen
Reproduktion im Text, wenn ein Kind sogar schon vor Abschluss des sexuellen Akts in einer Art Freudschen Urszene
in das Zimmer des kopulierenden Paars stürmt.
Hohe Erfolgsquote
In Der Brenner und der liebe Gott wird die bedrohte Männlichkeit nicht nur verhandelt, indem sie als solche dargestellt
wird; es lassen sich ebenso Anzeichen ihrer Verdrängung
inden. Peinhaupt zum Beispiel ist ein erstaunlich erfolgreicher ‹Zeuger› – sozusagen jeder seiner Schüsse scheint ein
(Sehr) kleine Männer
Nicht nur Elemente der Handlungsebene lassen sich in das
Paradigma der krisenhaften Männlichkeit einordnen; auch
auf der Darstellungsebene indet sich reichlich Material, das
in diesem Kontext von Interesse ist. Auffällig und relevant
für den Themenkomplex rund um die Elternschaft ist zum
«Wer Vater ist und wer nicht, entscheiden in Der Brenner und der liebe
Gott ausschliesslich die Frauen.»
expositionen
31
Beispiel die Art, in der Männer im Krimi verkleinert werden.
Besonders Brenner wird in verschiedenen Lebenslagen als
«kleines Kind», «Neugeborene[s]» oder «Embryo» beschrieben. Die infantilen Züge, die Brenner so anhaften, scheinen
sich auch in seinem Verhältnis zu Frauen zu manifestieren.
Der Ex-Detektiv beindet sich Mitgliedern des weiblichen
Geschlechts gegenüber immer wieder in der Lage eines
Kinds oder eben eines «Neugeborenen» und wird von ihnen
bemuttert oder sexuell überrumpelt, wobei das eine auch
unvermittelt in das andere umschlagen kann.
Eine Metaphorik der Verkleinerung respektive Vergrösserung ist auch in der Wortwahl des Romans verankert: Das
«Riesenland» ist ein ins schiefe Licht geratenes Bauprojekt
Kressdorfs, um das sich die ganze Handlung dreht; die «Liliputbahn» ist ein Spielparadies für Kinder mit angegliedertem, äusserst zwielichtigem Café. Immer wieder wird mit
dem Antagonismus der beiden Komposita gespielt, so zum
Beispiel, wenn von den «Riesenland-Zwerge[n]» die Rede ist.
Eine Entführung als Befruchtung
Die Schlüsselmetaphorik des Texts bedient sich abermals
aus dem Themenkreis rund um Schwangerschaft und Elternschaft. Die Entstehung neuen Lebens spielt eine den
Detektivroman durch und durch strukturierende Rolle. Das
ganze Verbrechen wird in Der Brenner und der liebe Gott bildlich mit einer Schwangerschaft gleichgesetzt, oder, um genauer zu sein, mit dem Beginn derselben. Die Handlung ist
sorgfältig inszeniert; ihr Verlauf entspricht den hundert
Stunden, nach denen die «Zone der Durchsichtigkeit» zerreist – Letztere ist die gläserne Haut der Eizelle, in der sich
«Das Verbrechen wird
bildlich mit einer Schwangerschaft
gleichgesetzt.»
der Samen bei der Befruchtung festsetzt. Das Bild der «Zone
der Durchsichtigkeit» wird immer wieder im Kontext der
Stundenzählung heraufbeschworen, die in die Katastrophe
mit sieben Toten mündet. Die Metaphorik erfüllt offensichtlich den Zweck, auf witzige, wenn auch moralisch grenzwertige Weise zwei Themenkomplexe zu verbinden und die
‹Entführung› von Helena als Schwangerschaft zu imaginieren, die sozusagen durch einen Abort beendet werden muss.
Man kann sich aber jenseits einer auf der Autorintention
basierenden Deutung fragen, wieso die vorliegende Bildlichkeit dem Erzähler überhaupt zur Verfügung steht. Lässt sich
die negative Konnotation von Schwangerschaft und Elternschaft, die sich in einer Vielzahl anderer, hier aussen vor
gelassener Passagen des Romans ebenso nachweisen lässt,
kulturwissenschaftlich fruchtbar machen? Ja, denn man
kann sie als Widerspiegelung sozialer Tatsachen lesen. Eine
Bildlichkeit, wie sie Wolf Haas verwendet, fusst auf einem
Interpretationsspielraum, der sich erst in neuerer Zeit ergeben hat. Ihre Voraussetzung ist eine Sichtweise der Eltern-
schaft als optionaler Lebensentwurf. Heute ist es für jedes
Individuum unseres Kulturraums möglich geworden, die
Elternschaft als nachteilig zu bewerten und mit diversen
Hilfsmitteln zu vermeiden. Erst auf dieser Grundlage ist es
denkbar, den Themenkreis auf derart verquere Weise zu behandeln oder, wenn man so will, zu verschandeln. Auf dieser
Basis kann man behaupten, dass die sehr negative Darstellung des Themenkomplexes rund um Zeugung und Elternschaft in Der Brenner und der liebe Gott symptomatisch dafür
ist, wie sich heutige Männer zur Familiengründung stellen
können.
„Forderungen der Männerpartei“ in der Sektion
„Männerpartei“ auf „Wien – konkret“, im Internet
unter: http://www.wien-konkret.at/politik/
maennerpartei/ (Stand vom 13.03.2011)
Connell, Robert W. 2000: Der gemachte Mann.
Konstruktion und Krise von Männlichkeiten
Haas, Wolf 2009: Der Brenner und der liebe Gott
Hollstein, Walter 2008: Was vom Manne übrig blieb.
Krise und Zukunft des starken Geschlechts
Koschorke, Albrecht 2001: Die heilige Familie und ihre
Folgen. Ein Versuch
* Joanna Nowotny studiert Germanistik, Kunstgeschichte und
Philosophie im 10. Semester an den Universitäten Bern und Wien.
Der vorliegende Text basiert auf einer Arbeit, die im Rahmen des
Seminars Gegenwartsliteratur im Herbstsemester 2010 an der
Universität Bern verfasst wurde.
32
Akzent auf die Standardsprachen
Regionale Spuren in «Schweizerhochdeutsch» und «Français fédéral»
M
Marie-José Kolly *
it ihrem fremdsprachlichen Akzent gibt eine Sprecherin ihre Herkunft, ihre Muttersprache preis. So werden die meisten Deutschschweizer beim Sprechen des Standarddeutschen oder des Französischen als solche erkannt. Kann aber aufgrund eines
Akzents in diesen Sprachen auch erkannt werden, aus welchem Dialektgebiet der
betreffende Deutschschweizer stammt? Dieser Beitrag stellt eine empirische Studie zur
Perzeption dialektaler Akzente vor.
«Klingt alles ziemlich nach: français fédérale [sic; Français
fédéral bezeichnet im Alltagsgebrauch ein von Deutschschweizern gesprochenes, fehlerbehaftetes und/oder akzentbeladenes Französisch]». Diese spontane Äusserung eines Probanden erfolgte beim Anhören von Tonaufnahmen,
auf welchen Schweizer Dialektsprecher Französisch sprechen. Zum einen wird damit ausgedrückt, dass die meisten
Sprachproben einen dialektalen Akzent durchscheinen lassen; zum anderen lässt die Relativierung der Aussage durch
ziemlich vermuten, dass es dabei Abstufungen gibt – sowohl
in der Intensität, als auch in der Qualität der Akzente.
Sprachen und insbesondere Zweit- sowie Fremdspracherwerb sind Element unserer Diskussion sowohl auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, als auch Thema am Kaffee-, Familien- oder Stammtisch. Wer mit offenen Ohren
durch die Schweiz läuft, wird einer Vielzahl von verschiedenen Akzenten begegnen. Das Deutsch eines italienischsprachigen Tessiners hört sich ganz anders an als das eines Romands – spricht auch eine Bündner Dialektsprecherin ein
anderes Standarddeutsch als eine Zürcherin? Bestimmen
also die vielen unterschiedlichen Deutschschweizer Dialekte,
die Muttersprache der Mehrheit der Schweizer, unseren Akzent in der Schweizer Variante des Standarddeutschen, dem
Schweizerhochdeutschen, mit? Für die meisten Dialektsprecher ist die deutsche Standardsprache nicht gerade eine
Fremdsprache, aber doch eine Art Zweitsprache, eine «erweiterte» (Häcki Buhofer/Burger 1998: 137) Form ihrer
Muttersprache. Wie steht es mit der ersten Fremdsprache,
welche die meisten Deutschschweizer lernen, dem Französischen? Hat ein Westschweizer Dialektsprecher, so wie es
das Zitat oben erwarten lässt, eine andere Aussprache,
spricht er eine andere Variante des Français fédéral, als ein
Ostschweizer?
Einen Ansatz zur Beantwortung solcher Fragen können Perzeptionsexperimente leisten. Dafür wurden acht Sprecher
aus zwei Schweizer Dialektgebieten, Stadtberner und StadtSt.-Galler, auf Standarddeutsch und Französisch aufgenom-
men. Beide Sprachen wurden von allen Sprechern in der
Schule gelernt und regelmässig gesprochen. Diese Tonaufnahmen wurden in einem Experiment 60 deutschsprachigen
und 20 frankophonen Probanden vorgespielt, welche die
jeweiligen Sprachproben nach Akzentstärke und dialektaler
Herkunft der Sprecher beurteilen sollten.
Akzent – woraus besteht er und was verrät er?
Die Stärke eines Akzents in der Fremdsprache hängt von
vielen Faktoren ab; erheblichen Einluss scheinen nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen affektive Variablen
wie die Einstellung zur Fremdsprache, subjektive Identitätsgefühle und Konzepte wie die ego permeability auszuüben.
«Bouffer à gogo – Buffet à gogo?»
Der globale Hörereindruck eines fremdsprachlichen Akzents entsteht durch das Zusammenwirken segmentaler,
silbischer und prosodischer Abweichungen von der Zielaussprache, mitbewirkt durch negativen Transfer aus der Muttersprache. Segmentale Abweichungen entstehen beim Ersetzen eines Lauts durch einen anderen; suprasegmentale
schliessen Fehler beim Setzen von Wort- und Satzakzenten,
bei der Silbenreduktion, der Realisierung von Sprachrhythmus und Intonationsmustern sowie weitere Aspekte mit ein
und können die Verständlichkeit einer Äusserung gelegentlich stark beeinträchtigen. So wurde die Verfasserin des vorliegenden Beitrags beim Besuch eines asiatischen Restaurants in Fribourg durch die Frage der Bedienung, ob das
Essen so in Ordnung sei, oder ob «bouffer à gogo» (frz.:
‹fressen nach Belieben›) bevorzugt würde, einigermassen
verblüfft. Dieser stilistische Fehlgriff scheint in einem Kontext, wo der Ausdruck «manger à discrétion» erwartet wird,
grotesk bis respektlos – und umso erstaunlicher, da die Sprecherin ansonsten liessend Französisch spricht. Gemeint war
vermutlich «buffet à gogo» (frz.: ‹Buffet nach Belieben›); die
expositionen
33
unglückliche Fehldeutung erfolgt aufgrund der Aussprache
von buffet [byfε] als [bufe], möglicherweise gekoppelt an prosodische Abweichungen von der Zieläusserung.
Auch für Schweizer Sprecherinnen kann davon ausgegangen
werden, dass bei der Aussprache der deutschen und französischen Standardsprache dialektale Interferenzen auftreten.
Das Berndeutsche enthält im Gegensatz zum Standarddeutschen vermehrt offene Vokale, im St. Galler Dialekt werden
die Vokale dagegen eher geschlossen, vereinzelt sogar geschlossener als in der standarddeutschen Lautung gesprochen. Das Phonem /a/ wird in Bern hinten im Vokaltrakt
realisiert, im Standarddeutschen in der Mitte des Vokaltrakts
und in St. Gallen vorne. Auch für den /r/-Laut sind Unterschiede zu erwarten, da er in Bern alveolar, in St. Gallen
uvular oder als Approximant gesprochen wird (vgl. Siebenhaar 1994). Leemann/Siebenhaar (2008: 524) stellen prosodische Unterschiede zwischen dem Bern- und dem Zürichdeutschen fest; solche Unterschiede können folglich auch
zwischen dem Berner und dem St. Galler Dialekt erwartet
werden. Weiter ist davon auszugehen, dass sich die hier nur
exemplarisch genannten Unterschiede ebenso auf die Aussprache des Französischen auswirken.
Schweizerhochdeutsch ist nicht gleich Schweizerhochdeutsch
«Ich muss immer wieder die Sprache, die ich rede, verlassen,
um eine Sprache zu inden, die ich nicht reden kann, denn
wenn ich Deutsch rede, rede ich es mit einem berndeutschen
Akzent, so wie ein Wiener Deutsch mit einem wienerischen
Akzent spricht oder ein Münchner mit einem bayrischen
Akzent. Ich rede langsam. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, und die Bauern reden auch langsam. Mein Akzent stört
mich nicht. Ich bin in guter Gesellschaft.»
Dürrenmatt (1967/1998: 123)
Wo die etwas ältere Forschung für die Identiizierbarkeit eines Akzents die segmentale Information wichtiger einstufte
als prosodische Aspekte, wird in aktuelleren Publikationen
die Schlüsselrolle der Prosodie betont. Insbesondere weist
eine Studie von Leemann/Siebenhaar (2008) nach, dass Dialektsprecher aus Bern, Zürich und dem Wallis rein aufgrund ihrer Prosodie identiiziert werden können. Ebenso
gibt es Evidenz dafür, dass native speakers eines Schweizer
Dialekts über mentale und visuelle Repräsentationen der
lautlichen Charakteristika ihrer Nachbardialekte verfügen
(vgl. z. B. Berthele 2010: 254–262). Dies führt zur folgenden,
oben schon angedeuteten
HYPOTHESE: Wenn ein Deutschschweizer Standarddeutsch (Schweizerhochdeutsch) oder Französisch spricht,
kann ein native speaker eines Schweizer Dialekts hören, aus
welcher Dialektregion der Sprecher stammt. Insbesondere
können so Sprecher aus zwei verschiedenen Dialektregionen
rein aufgrund ihres Akzents im Standarddeutschen oder
Französischen unterschieden werden.
Dürrenmatts Zitat antizipiert die Resultate des oben beschriebenen Perzeptionsexperiments: Der berndeutsche sowie der St. Galler Akzent in den standarddeutschen Sprachproben konnten im Durchschnitt jeweils von etwa 50% der
Probandinnen erkannt werden. Die Frage nach der regionalen Herkunft der Sprecher war frei gestellt worden, akzeptiert wurden aufgrund der Lautstrukturen der Schweizer
Dialektlandschaft die Antworten Bern, Solothurn, Freiburg
bzw. St. Gallen, Thurgau, Schaffhausen, Appenzell, (Nord )Ostschweiz. Interessanterweise wurden die Berner Sprecher meist
als Berner erkannt, die St. Galler jedoch mehrheitlich als Ostschweizer – dieses Resultat deckt sich mit Christens (2010:
277–278) Untersuchung, die den speziellen Status der Kategorie Ostschweiz, welche als Dialektbenennung in ähnlicher
Weise wie Kantonsbezeichnungen und sehr viel häuiger als
andere Namen von Landesteilen (Westschweiz, Nordschweiz
usw.) verwendet wird, bestätigt.
Aufgrund der französischen Sprachproben ergibt sich eine
Identiikationsrate von 30%; diese Resultate von 50% bzw.
30% dürfen im Vergleich zu vorausgehenden Perzeptionsstudien als sehr positiv gewertet werden und bestätigen die
oben formulierte Hypothese zumindest fürs Standarddeutsche, da die Frage nach der dialektalen Herkunft der Sprecher hier frei gestellt wurde – vergleichbare Untersuchungen
«Dialektale Akzente werden in den
französischen Sprachproben weniger
differenziert wahrgenommen als in
den standarddeutschen.»
erzielen durchschnittliche Identiikationsraten von 36%
(Einordnung nach Himmelsrichtung, regionale Akzente, vgl.
Bauvois 1996) oder über 50% (multiple-choice-Aufgabe, genuin fremdsprachliche Akzente, vgl. Boula de Mareuïl 2008). Dass
letzteres Untersuchungsdesign höhere Erkennungsraten generiert als eine offene Frage, ist offensichtlich.
Die Kategorisierung der freien Antworten nach einem globaleren West/Ost-Gegensatz fördert eine durchschnittliche
Identiikationsrate von fast 60% der standarddeutschen
Sprachproben zu Tage. Beim Französisch sprechen konnten
die Sprecherinnen von rund 40% der Probanden als Westbzw. Ostschweizer erkannt werden. Dies unterstreicht die
Wahrnehmbarkeit eines dialektalen Akzents, der ‹hinter› dem
Standarddeutschen und Französischen vieler Schweizer Dialektsprecher hindurchscheint. Die Probanden sind mit
Französisch sprechenden Deutschschweizerinnen weniger
vertraut als mit Standarddeutsch sprechenden; so werden die
Akzente in den französischen Sprachproben auch weniger
differenziert wahrgenommen: «[I]n der französischen
Schweiz gibt es viele Deutschschweizer, die so reden, wie ich
rede, vor allem viele, die so französisch reden, wie ich französisch rede, rede ich französisch» (Dürrenmatt 1967/1998:
120).
34
Bauvois, Cécile 1996: Parle-moi, et je te dirai peut-être
d’où tu es. In: Revue de Phonétique Appliquée 121.
291–309
Berthele, Raphael 2010: Der Laienblick auf sprachliche
Varietäten. Metalinguistische Vorstellungswelten
in den Köpfen der Deutschschweizerinnen und
Deutschschweizer. In: Anders, Christina Ada/
Hundt, Markus/Lasch, Alexander (Hg.): «Perceptual
dialectology». Neue Wege der Dialektologie. 245–267
Boula de Mareuïl, Philippe u. a. 2008: Accents
étrangers et régionaux en français. Caractérisation et
identiication. In: Traitement Automatique des Langues
49/3. 135–163
Christen, Helen 2010: Was Dialektbezeichnungen
und Dialektattribuierungen über alltagsweltliche
Konzeptualisierungen sprachlicher Heterogenität
verraten. In: Anders, Christina Ada/Hundt, Markus/
Lasch, Alexander (Hg.): «Perceptual dialectology». Neue
Wege der Dialektologie. 269–290
Dürrenmatt, Friedrich 1967/1998: Persönliches
über Sprache. In: ders.: Literatur und Kunst. Essays,
Gedichte, Reden
Häcki Buhofer, Annelies/Burger, Harald 1998: Wie
Deutschschweizer Kinder Hochdeutsch lernen. Der
ungesteuerte Erwerb des gesprochenen Hochdeutschen
durch Deutschschweizer Kinder zwischen sechs und
acht Jahren
Hove, Ingrid 2002: Die Aussprache der Standardsprache
in der deutschen Schweiz
Leemann, Adrian/Siebenhaar, Beat 2008: Perception of
Dialectal Prosody. In: Proceedings of Interspeech 2008,
Brisbane 22.–26.9.2008. 524–527
Siebenhaar, Beat 1994: Regionale Varietäten des
Schweizerhochdeutschen. Zur Aussprache des
Schweizerhochdeutschen in Bern, Zürich und St.
Gallen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Lingustik
61/1 (1994). 31–65
* Marie-José Kolly hat an der Universität Bern Germanistik und
Mathematik studiert. Zurzeit ist sie am Institut für Germanistik
beschäftigt. Der vorliegende Text basiert auf einem Teil ihrer
Masterarbeit.
expositionen
35
Zwischen Eigenem und Fremdem
«Chinesische Religion» in Berichten katholischer China-Missionare, 1550–1700
I
Nadine Amsler *
n der Frühen Neuzeit brachten die Patres der katholischen China-Mission nicht nur das Christentum nach China, sondern eigneten sich auch Wissen über das Reich der Mitte an. In ihren ChinaDarstellungen, die für eine entstehende Leseöffentlichkeit in Europa publiziert wurden, beschrieben
die Missionare auch «chinesische Religion». Beobachtung und Deutung traten dabei in ein komplexes
Wechselverhältnis; im Kontext von sich wandelndem europäischem Wissen und Urteilen über China
veränderten sich auch missionarische Beschreibungen «chinesischer Religion».
Die katholischen Missionare, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts China erreichten, betrachteten dieses als einen
grossen «Rebgarten Gottes». Für die römische Kirche, die in
Europa viele Seelen an die «Häresie» des Protestantismus
verloren hatte, wollten sie hier eine reiche «Christen-Ernte»
einbringen. Doch die Missionare, die den verheissungsvollen
Garten betraten, verliessen damit auch die wohlgeordnete
Welt der christianitas: China war zwar, darin war man sich im
Europa der Frühen Neuzeit einig, ein wohlhabendes und
zivilisiertes Reich; es war aber auch Heimstatt des Aberglaubens (superstitio) und des Götzendiensts (idolatria). Die Missionare kämpften nicht nur gegen diese falschen Religionen
(falsae religiones), sondern versuchten auch, sich Wissen darüber anzueignen, sie zu beschreiben und zu ordnen. Sie berichteten darüber in ihren China-Darstellungen (Relationen),
die in Europa als Werbung für die China-Mission publiziert
wurden und an eine religiöse und gelehrte Leseöffentlichkeit
adressiert waren.
Der Rahmen, innerhalb dessen die Missionare mit «chinesischer Religion» in Kontakt kamen, veränderte sich zwischen
1550 und 1700. In einer ersten Phase nahmen Missionare
von der südchinesischen Küste aus an kurzen Handels-Exkursionen ins Innere Chinas teil. Sie versuchten dabei erfolglos Niederlassungen zu gründen. Dies änderte sich um 1600,
als es einigen Jesuiten dank ihrer Strategie der Anpassung an
Sprache, Kleidung und Lebensstil gelang, sich fest in China
zu etablieren. Die Gesellschaft Jesu dominierte im Verlauf
des 17. Jahrhunderts die katholische China-Mission. Gleichzeitig geriet aber die jesuitische Strategie der Adaption unter
Druck: Gegner der Jesuiten befürchteten, dass sich dadurch
idolatrische Bräuche ins chinesische Christentum einschleichen würden. Aus diesen Vorwürfen entwickelte sich der
chinesische Ritenstreit, der in Europa um 1700 in zahlreichen Druckschriften ausgefochten wurde.
Mit dem sich wandelnden Rahmen der Mission änderten
sich, wie dieser Beitrag aufzeigen will, auch die Beschreibungen von «chinesischer Religion» in den Relationen von Mis-
sionaren. Was überhaupt unter die Kategorie «Religion» iel,
war dabei nicht von Anfang an klar: Die Missionare mussten
erst Phänomene der chinesischen Gesellschaft als dem Bereich der Religion (religio) zugehörig identiizieren. Dieser
von den Missionaren deinierte Bereich wird hier mit dem
Begriff «chinesische Religion» gefasst. Wie aber wurde diese
in den Relationen zu verschiedenen Zeiten diskursiviert?
Wie wurde Wissen über das «Fremde» in das eigene Weltbild
integriert bzw. zwischen Eigenem und Fremdem vermittelt?
Um diese Fragen schlaglichtartig zu beleuchten, werden einander drei Fallstudien gegenübergestellt: Die frühen Relationen zwischen 1550 und 1600, die vor der Institutionalisierung der China-Mission entstanden, die Relation des Jesuiten Matteo Ricci (1615), die als Grundlage vieler späterer
Berichte diente, sowie die China-Darstellungen, die im Zuge
des Ritenstreits zwischen 1650 und 1700 entstanden.
«Da Cruz deutete die Statue des
Bodhisattvas Guanyin als Mariendarstellung.»
Verwirrende Vielfalt und der Apostel Thomas in Südchina
Aus den ersten China-Beschreibungen der frühneuzeitlichen
China-Mission spricht die Verwirrung über die vielfältigen
Praktiken und Institutionen, die die Missionare während ihrer kurzen Aufenthalte in Südchina als «religiös» identiizierten und die zu systematisieren ihnen Schwierigkeiten bereitete. Der einzige Orientierungspunkt, anhand dessen die
Missionare die religiöse Landschaft Chinas ordneten, war
ihre eigene religiöse Tradition: So sah etwa der Dominikaner
Caspar Da Cruz, der 1556 einige Wochen in Kanton weilte,
im buddhistischen Bodhisattva Guanyin (Avalokitesvara) die
Spur einer verlorengegangenen christlichen Tradition. Er
deutete die Statue des Bodhisattvas, der in China oft als Frau
36
mit einem Kind auf dem Arm abgebildet wird, als Marien- (xishi) die chinesischen Beamten dazu gebracht, seinen Aufdarstellung: «Dies mag vielleicht das Bildnis unserer Mutter- enthalt im Reich zu tolerieren. Der Jesuit orientierte sich im
gottes sein, gemacht von den frühen Christen, die der Apo- Rahmen seiner Anpassungsstrategie an der gesellschaftlistel Thomas dort zurückliess.» (Boxer 1967: 213, Übers. chen Schicht der konfuzianischen Gelehrten und Beamten.
N.A.)
Nebst deren Kleidung und Sprache übernahm er auch deren
Vom Apostel Thomas glaubte man, dass er den Glauben Perspektive auf die religiöse Ordnung Chinas. Im China der
seinerzeit bis nach Indien getragen habe. Mit der Erweite- späten Ming-Zeit wurde in gelehrten Kreisen viel über das
rung der Weltkarte in der Frühen Neuzeit stellte sich für das Verhältnis der «drei Lehren» (sanjiao) debattiert: der konfuzichristliche Europa aber die Frage, ob der Apostel nicht auch anischen (rujiao), der buddhistischen (fojiao) und der daoistiviel weiter gereist sein könnte: bis nach Amerika zum Bei- schen Lehre (daojiao). Dieses Konzept nahm Ricci auf und
spiel – oder eben bis nach China. Dies mutmasste auch der berichtete in seiner Relation De Christiana Expeditione apud
Augustiner Martin De Rada, der 1575 an einer Expedition Sinas suscepta (1615) über drei «Sekten» (religiöse Gemeinnach Fuzhou teilnahm. In seiner Relation berichtete er vom schaften), die es in China gebe. Er bezeichnete die buddhischinesischen Brauch, den Himmel (tian) zu verehren: Er tische und daoistische Lehre nach deren Gründern «Sekte
deutete dies als Hinweis auf die Verehrung eines monothe- des Laozi» (setta di Laozu) und «Sekte des [Buddha] Shakyaistischen Gottes. Die vielen anderen chinesischen Gotthei- muni» (setta di Sciequia). Die konfuzianische Lehre aber beten betrachtete er als eine Art Äquivalent zu den katholi- nannte er nach ihren Trägern, den konfuzianischen Gelehrschen Heiligen: Sie seien nichts als «Fürbitter, durch welche ten und Beamten als «Sekte der Gelehrten» (setta de’ letterati).
[die Chinesen] zum Himmel beMit dem Konzept der «Drei
ten.» (Boxer 1967: 304, Übers.
Lehren» beschrieb Ricci «chine«Ricci übernahm von chinesischen
N.A.)
sische Religion» erstmals anGelehrten das Konzept der ‹Drei
De Radas Konzeption der chihand einer chinesischen OrdLehren›.»
nesischen Gottheiten als «Heilinung, die ihn wegführte von
ge» bzw. «Mittler» zwischen
den gänzlich christlichen DeuMensch und Gott lässt sich datungen «chinesischer Religion»
durch erklären, dass im traditionellen China die Distanz zwi- bei Autoren wie Da Cruz oder De Rada: Das «Andere» wurschen Menschen und Gottheiten im Vergleich zum Chris- de zum ersten Mal anhand einer Systematik der «Anderen»
tentum relativ gering war: Nach chinesischer Vorstellung geordnet.
konnten Menschen nach dem Tod «vergöttlicht» werden; Allerdings war Riccis Konzeption der «Drei Lehren» nicht
Götter konnten menschliche Eigenschaften haben. Dieses ganz frei von christlichen Deutungshintergründen. So konvom Christentum abweichende Verhältnis zwischen Men- zeptualisierte er die Lehren etwa als Religionen mit klaren
schen und Göttern beobachtete auch Da Cruz. Die «Göt- Zugehörigkeitsgrenzen: «[G]anz China ist in diese drei [Lehzen», bemerkte er, genössen in China wenig Achtung und ren] unterteilt» (D’Elia 1942: 115; Hervorhebung N.A.). Dawürden mitunter auch bestraft. Da Cruz sah darin einen mit entging ihm, dass die chinesischen Lehren anders als das
Vorteil für die Mission, die aus seiner Sicht eine bessere Al- Christentum keine exklusive, klar deinierte Zugehörigkeiten
ternative zu den wenig respektierten chinesischen Göttern kannten und dass die Grenzen zwischen den einzelnen Lehbieten konnte.
ren weniger eindeutig gezogen waren als zwischen christliDass Da Cruz und De Rada in den chinesischen religiösen chen Konfessionen bzw. Christentum und «Häresie». ZuPraktiken und Institutionen keine genuine Ordnung erkann- dem ist das System der «Drei Lehren» keine allein- und allten, ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sie sich je- gemeingültige chinesische Ordnung von Religion: Vielmehr
weils nur für kurze Zeit und ohne Sprachkenntnisse in süd- übernahm der Missionar damit die Perspektive einer gelehrchinesischen Städten aufhielten. Zum anderen dürfte für sie ten Elite, die sich vor allem für die kanonisierten, textbasierdas Urteil, dass Religion in China «unsystematisch» war, na- ten «Lehren» (jiao) interessierte. Auf diese Weise blendete er
heliegend gewesen sein, waren doch Aberglauben und Göt- die vielfältigen Formen volksreligiöser Praktiken aus, deren
zenverehrung nach christlicher Vorstellung an und für sich eindeutige Zuordnung zu einer der drei Traditionen oft nicht
etwas «Unordentliches». Beide Autoren versuchten, Chinas möglich war und deren Systematisierung bereits den frühekomplexe Welt lokaler religiöser Bräuche und Gottheiten in ren China-Missionaren Schwierigkeiten bereitet hatte.
ein einfaches, wohlbekanntes Ordnungsschema einzubetten Die Elite-Perspektive Riccis auf «chinesische Religion» zeigt
– jenes des katholischen Universums.
sich auch an anderer Stelle. Ricci interessierte sich nämlich
in seiner Relation ganz besonders für die konfuzianische
Lehre, die «Sekte der Gelehrten». Wie Da Cruz und De Rada
Matteo Ricci und die «Drei Lehren»
1583 gelang es dem Jesuiten Matteo Ricci, sich in China nie- suchte auch Ricci nach Spuren der «Wahren Religion» in Chiderzulassen. Er lebte bis zu seinem Tod 1610 in China, die na. Anders als seine Vorgänger beherrschte er aber die chiletzten neun Jahre davon in Peking. Ricci hatte die chinesi- nesische Schriftsprache und las die chinesischen «Klassiker»,
sche Sprache sowie die Sitten und Gebräuche des Landes die alten Schriften der konfuzianischen Tradition. Darin
erlernt und mit seinem Auftreten als «westlicher Gelehrter» fand er Hinweise auf die antikchinesische Verehrung eines
expositionen
37
Hochgottes: «[M]an liest in ihren Büchern, dass sie immer
eine höchste und einzige Gottheit verehrten, die sie König
des Himmels oder Himmel und Erde nannten.» (D’Elia
1942: 108) Daraus leitete er ab, dass in der konfuzianischen
Lehre Spuren einer «natürlichen Gottesverehrung» (legge naturale) vorhanden seien, die den Menschen des chinesischen
Altertums durch das Licht ihres Verstandes (lumen naturale)
zugänglich gewesen sei.
Diese Idee einer natürlichen Gottesverehrung steht in Zusammenhang mit der Diskussion um das thomistische Naturrecht, die mit der europäischen Expansion wieder an
Wichtigkeit gewann. Danach ist für alle Menschen kraft ihres
Verstandes zumindest eine verschwommene Vorstellung
von Gott möglich – auch ohne Kenntnis des Evangeliums.
Diese Idee wurde nun für Matteo Ricci zum zentralen Anknüpfungspunkt der China-Mission: Nicht mehr die greifbaren Relikte der Apostel Thomas standen im Fokus der missionarischen Spurensuche nach dem Eigenen, sondern die
abstraktere Idee eines «Lichts der Vernunft».
China im Lichte der natürlichen Vernunft
Das Ordnungsprinzip der «Drei Lehren» setzte sich nach
Ricci als bevorzugtes Schema «chinesischer Religion» durch.
In zahllosen Relationen wurde die religiöse Landschaft Chinas während des 17. Jahrhunderts entlang dieser Systematisierung beschrieben. Riccis Bericht wurde dabei von seinen
Nachfolgern vielfach als Vorlage für ihre Relationen benutzt,
seine Ideen ergänzt und umgeschrieben. Seine Gedanken
über eine natürliche Gottesverehrung in China wurden dabei
teilweise aufgegriffen, standen jedoch bei vielen Autoren
nicht im Zentrum des Interesses. Dies änderte sich mit der
Zuspitzung des chinesischen Ritenstreits. Darin stand zwar
die Frage der chinesischen Ahnenverehrung im Zentrum.
Gleichzeitig rückte aber auch die von den Jesuiten so gepriesene «Sekte der Gelehrten», von der die chinesische Ahnenverehrung ausging, in den Fokus der Debatte.
Gegner der Jesuiten warfen diesen vor, dass ihr Bild von der
«Sekte der Gelehrten», das sie sich seit Ricci anhand klassischer chinesischer Texte gemacht hatten, weit von der chinesischen Realität entfernt sei. So etwa der Dominikaner
Domingo Navarrete in seinen 1676 veröffentlichten Tratados
[…] de la Monarchia de China: Mit Rückgriff auf Beobachtungen der lokalen religiösen Landschaft (die für den textorientierten Ricci keine Rolle gespielt hatte) beschrieb er die vielen Götter, die von den konfuzianischen Gelehrten angebetet würden. Die Literati besuchten nicht nur Ahnen- und
Konfuziustempel, erklärte Navarrete, sondern auch die
Tempel des Stadtgottes, des Literaturgottes, des Kriegsgottes und viele andere: Von einer solchen Sekte konnte nicht
behauptet werden, dass sie im «Lichte der natürlichen Vernunft» stand.
Genau dies versuchten nun aber die Jesuiten, die sich gegen
diese Vorwürfe verteidigten, zu belegen. Sie stellten den Beobachtungen lokaler Religiosität ihrer Gegner die chinesischen Klassiker und die jesuitische Deutung derselben gegenüber. Dabei gingen sie in der Deutung des chinesischen
Altertums viel weiter, als dies ein Jahrhundert zuvor Matteo
Ricci getan hatte: So behauptete etwa Louis Le Comte in
seinen 1696 veröffentlichten Nouveaux Mémoires sur […] la
Chine, dass die Menschen im chinesischen Altertum «fast
zweitausend Jahre die Kenntnis des wahrhaftigen Gottes
bewahrt und ihn verehrt» hätten – und dies in einer Zeit, da
«Europa und fast der ganze Rest der Welt dem Irrtum und
dem Niedergang verfallen war.» (Le Comte 1696: 141, 146)
Solch gewagte Aussagen waren aber nach der Meinung der
katholischer Zensoren einem europäischen Lesepublikum
nicht zuzumuten. Le Comtes Abhandlungen wurden 1700,
auf der Höhe des Ritenstreits, von den Theologen der Pariser Sorbonne verboten.
Zwischen Eigenem und Fremdem
Auch wenn sich die Inhalte des missionarischen Schreibens
über «chinesische Religion» zwischen 1550 und 1700 stark
gewandelt hatten, setzten sich doch alle Autoren mit demselben Grundproblem auseinander: der Frage, wie das Wissen über eine ihnen fremde Lebenswelt in bekannte Wissenssysteme eingeordnet werden konnte. Die Missionare
verwendeten unterschiedliche Strategien, anhand derer das
Fremde in das eigene Weltbild integriert wurde. Während Da
Cruz in Guanyin-Statuen eine Spur des Apostels Thomas zu
entdecken glaubte, fand Ricci in den chinesischen Klassikern
Spuren einer natürlichen Gottesverehrung; während De
Rada in der chinesischen Götterwelt eine katholische Ordnung mit einem höchsten Gott und Heiligen erkannte, ordneten die Missionare des 17. Jahrhunderts «chinesische Religion» nach dem Prinzip der «Drei Lehren».
In Europa avancierte Riccis Idee einer natürlichen Gottesverehrung im Zuge des Ritenstreits zum meistdiskutierten
Aspekt «chinesischer Religion». Langfristig entfaltete aber
vor allem seine Einteilung der religiösen Landschaft Chinas
in «Drei Lehren» in europäischen Diskursen eine starke Wirkung: Riccis «drei Sekten» werden heute die «drei Religionen» Chinas genannt: Konfuzianismus, Buddhismus und
Taoismus. Die Ricci’sche Ordnung «chinesischer Religion»
lebt darin fort – mit allen Stärken und Schwächen, welche sie
für die Erforschung der religiösen Landschaft Chinas in sich
birgt.
38
Quellen:
Boxer, Charles 1967: South China in the Sixteenth
Century. Being the Narratives of Galeote Pereira, Fr.
Gaspar da Cruz, O.P., Fr. Martín de Rada, O.E.S.A.
D’Elia, Pasquale M. 1942: Fonti Ricciane. Storia
dell’introduzione del Cristianesimo in Cina, Bd. 1
Le Comte, Louis 1696: Nouveaux mémoires sur l’état
présent de la Chine, Bd. 2
Literatur:
Brockey, Liam Matthew 2007: Journey to the East. The
Jesuit Mission to China, 1579–1724
Feil, Ernst 1986-2001: Religio. Die Geschichte eines
neuzeitlichen Grundbegriffs, 3 Bde.
Jensen, Lionel M. 1997: Manufacturing Confucianism.
Chinese Traditions and Universal Civilization
Paper, Jordan 1995: The Spirits are Drunk. Comparative
Approaches to Chinese Religion
* Nadine Amsler hat Religionswissenschaft, Geschichte und Chinesisch
in Bern, Berlin, Paris und Peking studiert. Sie arbeitet zurzeit an
einem Dissertationsprojekt zu Geschlechternormen und -praktiken in
den chinesisch-christlichen Gemeinden des 17. Jahrhunderts. Dieser
Beitrag beruht auf ihrer Masterarbeit.
expositionen
39
Journalismus in Nordkorea
Instrumentalisierung des Mediensystems zur Aufrechterhaltung einer Diktatur
Patrick Gämperle *
N
ordkorea wird in westlichen Breiten als eine kommunistische Diktatur wahrgenommen, die
isoliert ist wie kein anderer Staat. In der von den Reportern ohne Grenzen herausgegebenen
Weltrangliste der Pressefreiheit rangierte Nordkorea schon immer auf den hintersten Plätzen. Auf welchen Prinzipien Journalismus in einem solchen Land beruht und wie er vonstatten geht, versucht dieser Beitrag zu beleuchten.
Sozialismus, Personenkult und Juché
Die von Christoph Moeskes (2004) erwähnten drei Merkwürdigkeiten, unter denen die nordkoreanische Bevölkerung
zu leben hat, sind grundlegend für das Verständnis des politischen und gesellschaftlichen Systems Nordkoreas: die
sozialistische Verfassung, der Personenkult um Kim Jong-Il
bzw. dessen Vater Kim Il-Sung und die Juché-Ideologie.
Der sozialistischen Verfassung zufolge ist in Nordkorea nur
die Partei der Arbeit Koreas (PdAK) zugelassen. Im EinParteien-Staat ist seit Jahrzehnten praktisch die gesamte Industrie verstaatlicht.
Der Personenkult um den Staatsführer Kim Jong-Il und dessen verstorbenen Vater und Vorgänger Kim Il-Sung ist das
zweite Charakteristika und hat in Nordkorea ein Ausmass
erreicht, wie es auf der Welt wohl einzigartig ist. So wird der
1994 verstorbene Kim Il-Sung weiterhin als «Vater der Nation», «grossartigster Mann des Jahrhunderts» oder «Sonne
der Nation» verehrt. Dessen seit 1994 die Macht innehabender Sohn Kim Jong-Il lässt sich als «geliebter Führer» titulieren. Beim nordkoreanischen Personenkult wird insbesondere auch die Nähe zur Religion deutlich, da den Verehrten
übernatürliche, in jedem Falle extraordinäre Eigenschaften
zugeschrieben werden, welche als Legitimation für eine aussergewöhnliche Machtfülle fungieren. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Orte und Gegenstände – durch Berührung oder Anwesenheit des Führers – geweiht und zu
einer Art Reliquie werden oder das Grab von Kim Il-Sung
als heiliger Wallfahrtsort gilt. Die Verherrlichung der beiden
Kims nimmt bisweilen auch bizarre Züge an: So muss in
jedem Schulzimmer von Nordkorea ein Portrait von Kim
Il-Sung hängen. Zeitungen, in denen ein Foto von ihm oder
seinem Sohn Kim Jong-Il abgebildet ist, dürfen niemals
weggeworfen werden.
Als dritte Merkwürdigkeit kann die Juché-Ideologie bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um eine philosophische
Weltanschauung, in deren Mittelpunkt der Autarkiegedanke
steht. Der Versuch, die Juché-Ideologie klarer zu erläutern
stellt sich als schwieriges Unterfangen heraus. Sie kann als
eine Mischung von Marxismus-Leninismus, Nationalismus,
christlicher Heilserwartung und hierarchischen Vorstellungen bezeichnet werden. Die Ideologie geht auf Kim Il-Sung
zurück und gilt in Nordkorea als sakrosankt. Zu seinen Ehren wurde nach seinem Tod gar eine neue Zeitrechnung eingeführt. Demnach beginnt der neue Kalender im Jahre 1912,
dem Geburtsjahr des «ewigen Präsidenten», mit dem JuchéJahr 1.
Journalistischer Alltag
Die drei erläuterten Merkwürdigkeiten beeinlussen den
journalistischen Alltag wesentlich. An der Journalistenschule der – wie könnte sie auch anders heissen – Kim Il-SungUniversität in Pjöngjang lernen Studierende, einen ‹Informationsplan› zu befolgen. Dieser schreibt eine strikte Hierarchie für die Themenwahl in der Berichterstattung vor.
Geschrieben werden darf nur über folgende Themenbereiche: Höchste Priorität hat erstens die Propagierung der Grösse Kim Il-Sungs und seines Sohns Kim Jong-Il. Zweitens
muss die Überlegenheit des nordkoreanischen Sozialismus
aufgezeigt werden. Als dritter Punkt wird den angehenden
Medienschaffenden vermittelt, dass sie die imperialistische
und bourgeoise Korruption westlicher Nationen anprangern
sollen. Viertens schliesslich ist Kritik an der Invasionspolitik
der ‹imperialistischen› Grossmächte einschliesslich Japan
Plicht. Journalisten müssen ihre Arbeit auf der Basis dieser
Kriterien organisieren und bekommen von ihren Vorgesetzten jeweils die Vorgaben, wie viele Berichte sie innerhalb
welcher Kategorie zu schreiben haben. Medienschaffende
dürfen sich dabei ohne Genehmigung nicht frei im Land
bewegen, sind allesamt Mitglieder der Partei und werden
vom Zentralkomitee der Partei gewählt. Zudem werden alle
geschriebenen Artikel vor der Veröffentlichung von einer
zentralen Zensurbehörde noch einmal durchgesehen. Bei
den kleinsten Fehlern drohen harte Bestrafungen.
Presse: Bedienung von Zielgruppen
In Nordkorea sind sämtliche Zeitungen in der Hand des
Regimes. Dieses hat längst die Möglichkeiten der politischen
Erziehung durch die Presse erkannt und instrumentalisiert
40
diese, um mit ihren Botschaften ganz bestimmte Zielgruppen zu erreichen. In der Regel ist es nur hohen Parteifunktionären gestattet, individuell ein Zeitungsabonnement zu
besitzen. Die staatliche Post, Fabriken und andere Einrichtungen hingegen werden mit Zeitungen auf der Basis von
Kollektiv-Abonnementen beliefert. Die Rodong Sinmun ist die
einzige schriftliche Informationsquelle, die allen frei zugänglich und nicht ausschliesslich auf der Basis von Kollektiv-
«In der Regel ist es nur hohen
Parteifunktionären gestattet, individuell ein Zeitungsabonnement zu
besitzen.»
Abonnementen erhältlich ist. Bei der Rodong Sinmun handelt
es sich nicht um eine Zeitung nach unserem Verständnis. Sie
umfasst nur wenige Seiten, wovon die ersten rund zwei Seiten Loblieder auf die nordkoreanische Führung anstimmen.
Es folgt in der Regel eine Seite Wirtschaft mit verfälschten
Zahlen, um der Leserschaft wirtschaftliche Prosperität vorzugaukeln. Im Mittelteil kommen die Machtinhaber sozialistisch regierter Länder zu Wort. Die Leserinnen und Leser
können dort nachlesen, dass das nordkoreanische System
auch im Ausland als vorbildlich wahrgenommen wird. In
den abschliessenden zwei Seiten Auslandsnachrichten spielen hauptsächlich Parolen gegen kapitalistische Länder wie
die USA oder Japan eine Rolle. Dieses Ressort führt den
Leserinnen und Lesern in erster Linie die negativen Folgen
des Kapitalismus vor Augen, indem beispielsweise über Demonstrationen, Arbeitslosigkeit und Kriminalität berichtet
wird. Auf Befehl Kim Jong-Ils wurden von 2007 bis 2009
publizistische Angriffe auf Südkorea immer seltener, da
Südkoreas Aussenpolitik eine Versöhnung mit dem Norden
anstrebt(e) und offenbar auch die nordkoreanische Seite eine
Wiedervereinigung nicht prinzipiell ausschloss. Seit 2009 haben sich die Beziehungen aber wieder massiv verschlechtert
und im Herbst 2010 einen vorläuigen Tiefpunkt erreicht.
Fernsehen und Kino: Gelegentliche Berieselung mit
Propaganda
Nur etwa einer von zwanzig Haushalten in Nordkorea besitzt ein Fernsehgerät. Das Fernsehen ist dennoch unter
strikter Kontrolle des Staates: Sämtliche Fernsehgeräte sind
manipuliert und es können nur die einheimischen Sender
empfangen werden. In Nordkorea gibt es lediglich drei Kanäle, die jedoch nur abends senden. Die Aufgabe des staatlichen Fernsehen ist klar: Es geht um die Verbreitung von
Kim Il-Sungs Gedankengut. Die Nachrichten erinnern an im
Sprechgesang vorgetragene Loblieder auf Kim Jong-Il. Verschiedene Musikshows, Kultursendungen, Dokumentationen und Interviews mit Kriegsveteranen aus dem Koreakrieg runden das Programm ab. Selbstverständlich verfügt
auch Nordkorea über eine Filmindustrie. Produziert werden
nur Filme für den heimischen Markt, welche zudem vom
Propagandaapparat des Regimes bestellt werden müssen.
Dabei kann Kim Jong-Ils Mitwirken an den Filmen im Prinzip als Regiearbeit bezeichnet werden: Er dirigiert die staatliche Filmindustrie schon seit Jahrzehnten und hat überdies
eine eigene Filmschule gegründet. Angeblich soll es kaum
ein Werk geben, bei dem Kim Jong-Il nicht Regie geführt
hat. Bei nordkoreanischen Kinoilmen handelt es sich um
Propagandawerke mit den immergleichen Inhalten, da ausschliesslich die üblichen Botschaften wie beispielsweise die
kriegerische Bekämpfung der japanischen Kolonialherrschaft oder Lobeshymnen auf die sozialistische Gesellschaft
eine Rolle spielen. Auch die Verantwortlichen in den Trickilmstudios verschweigen nicht, dass es in den Produktionen
um die Verteidigung des Landes und die Propagierung des
Sozialismus geht. So rollen schon in Animationsilmen für
Kleinkinder die Panzer gegen Japan.
«Der südkoreanische Präsident wird
als Verräter beschimpft, seine Regierung ins Lächerliche gezogen oder in
Anführungs- und Schlusszeichen als
‹government› bezeichnet.»
Radio: Flüchtlingsradios versus plombierte Radiogeräte
In Nordkorea gibt es rund dreimal so viele Radio- wie Fernsehgeräte. Wie die Fernsehgeräte sind auch die Radios plombiert, wodurch nur die ofiziellen Frequenzen des Landes
empfangen werden. Hinzu kommt, dass jedes Radiogerät bei
der Polizei angemeldet sein muss. Im Radiobereich gibt es
jedoch – illegale – Möglichkeiten, ausländische Radiosender
zu hören. So lassen Menschenrechtsaktivisten und christliche Missionare nahe der hermetisch abgeriegelten Grenze
von Südkorea aus an Luftballons befestigte Mini-Radiogeräte in die Luft steigen, die bei günstigen Windbedingungen in
die stalinistische Diktatur getragen werden. Mit etwas technischem Flair ist es zudem möglich, sich selbst einen Empfänger zu bauen. Dem nordkoreanischen Regime ist dabei
insbesondere das von der südkoreanischen Hauptstadt Seoul
sendende Flüchtlingsradio Free North Korea ein Dorn im
Auge. Es setzt mittels Störsendern alles daran, dem kritisch
berichtenden Flüchtlingssender das Leben schwer zu machen, was Free North Korea dazu zwingt, über ständig wechselnde Frequenzen zu senden.
Medieninhalte konkret: eine Inhaltsanalyse
Die Korean Central News Agency (KCNA) ist mit Abstand die
wichtigste Nachrichtenagentur Nordkoreas. Es wird davon
ausgegangen, dass die gesamte nordkoreanische Medienlandschaft ausschliesslich von der KCNA mit (propagandistischen) Nachrichten versorgt wird. Um ein Bild der Medieninhalte Nordkoreas zu zeichnen, lag es im Rahmen einer
empirischen Facharbeit auf der Hand, die online abrufbaren
Agenturmeldungen der KCNA (www.kcna.co.jp) zu konsultieren und einer Inhaltsanalyse zu unterziehen.
Zu diesem Zweck habe ich eine Zufallsstichprobe aus allen
expositionen
41
Meldungen gezogen, welche in englischer Sprache zwischen Berichterstattung über die Kims: Anhand des Datenma2005 und 2009 auf der Homepage der KCNA veröffentlicht terials ergibt sich tatsächlich der Eindruck, dass jeder Schritt
worden sind. In einer quantitativen Inhaltsanalyse erhob ich von Kim Jong-Il von der KCNA verfolgt wird. Da über den
insgesamt 678 Agenturmeldungen und zählte sie nach Ka- verstorbenen Kim Il-Sung solche ‹alltäglichen› Berichte nicht
tegorien aus. Für die Zuordnung zu einer Kategorie spielte mehr in Frage kommen, erstaunt der ausgesprochen hohe
jeweils nur der Titel und der Lead-Text eine Rolle. Im Fol- Anteil an positiven bzw. verherrlichenden Erinnerungen und
genden werden ausgewählte Ergebnisse dieser Inhaltsanaly- Lobpreisungen in seinem Fall natürlich nicht. Folgende Mese skizziert.
dienmitteilung zeigt, wie der verstorbene Kim Il-Sung noch
1)
immer verehrt wird:
Auslandberichterstattung: Die Auslandberichterstattung «Kim Il Sung Praised as Greatest Man in S. Korea: The viceist nicht nur im Falle der nahe stehenden Länder China und chairman of the Central Committee of the Anti-Imperialist
Russland neutral oder wohlwollend. Interessant ist, dass National Democratic Front issued a statement on July 8, the
westliche Industrienationen mit
12th anniversary of demise of
Ausnahme der USA, Südkorea
President Kim Il Sung, (…).
und Japan praktisch ausschliessThe statement said that Kim Il
«Orte und Gegenstände werden
lich im Zusammenhang mit ofSung is the distinguished leader
durch Berührung oder Anwesenheit
iziellen Treffen, Gratulationsunprecedented in history and
Kim Jong-Ils geweiht und zu einer
schreiben, pro-nordkoreanithe great revolutionary, outArt
Reliquie.»
schen
Bündnissen
und
standing statesman and peerkommunistischen Parteien erlessly great sage who enjoyed
wähnt werden. Über Ereignisse
profound respect and praises
in solchen Ländern wird nicht berichtet. Die USA, Südkorea from all people for his feats and high prestige» (KCNA-Meund Japan gelten Nordkorea gegenüber als verfeindet. Mehr dienmitteilung vom 10. Juli 2006).
als jede vierte (!) publizierte Medienmitteilung zieht über ei- Zusammenfassend ergibt die Analyse der Agenturmeldunnes dieser drei Länder her, berichtet ausgesprochen zynisch gen, dass die nordkoreanische Berichterstattung aussergeoder verurteilt den Imperialismus. Aufgrund der sich ver- wöhnliche Eigenheiten aufweist. Die wichtigsten Charakteschlechternden Beziehungen zu Südkorea häuften sich im ristika nordkoreanischer Berichterstattung sind der PersoJahre 2009 die Agenturmeldungen, die den südkoreanischen nenkult um die beiden Kims, die angeblich positive
Präsidenten Lee Myung Bak anklagen bzw. als Verräter be- Rezeption Nordkoreas im Ausland, die Wiedervereinigungsschimpfen, die südkoreanische Regierung als Marionettenre- frage, der hohe Stellenwert der Armee aufgrund der Bedrogierung der USA ins Lächerliche ziehen oder sie in Anfüh- hungslage und der Anti-Imperialismus. Um diese Themen
rungs- und Schlusszeichen als «government» bezeichnen. dreht sich die Berichterstattung immer und immer wieder.
Ein bevorstehender militärischer Angriff durch die USA Von einer Berichterstattung im Sinne westlicher Nachrichoder Südkorea kommt bei mehr als jeder zwanzigsten Agen- tenagenturen kann keine Rede sein. In dieser abschliessenturmeldung zur Sprache. Folgendes Beispiel illustriert die den Medienmitteilung sind alle Charakteristika der KCNAnegative Berichterstattung über die USA:
Medienmitteilungen – und somit der nordkoreanischen
«U.S., Kingpin of International Terrorism: The history of Berichterstattung generell – vereint:
the U.S. is that of crimes stained with plot-breeding and «Solidarity with Korean People Expressed in Peru: A meeterrorism as well as that of aggression and plunder, says ting, a photo exhibition and a ilm show took place on June
Rodong Sinmun Thursday in a signed article. It goes on» 24 on the occasion of the sixth anniversary of the June 15
(KCNA-Medienmitteilung vom 12. Mai 2006).
North-South Joint Declaration and the month of anti-U.S.
joint struggle. They were cosponsored by the Peruvian-Ko2)
rean Institute of Culture and Friendship and the Peruvian
Die Wiedervereinigungsfrage: In einem krassen Gegen- Committee for Supporting the Independent and Peaceful
satz zur eben erläuterten negativen Berichterstattung steht Reuniication of Korea. Displayed in the venues of the
die Wiedervereinigungsfrage. Die Meldungen der KCNA functions were works of President Kim Il Sung and Kim
stehen einer möglichen Wiedervereinigung klar positiv ge- Jong Il, Korean books and photos showing the invincible
genüber – obwohl sie die südkoreanische Regierung zeit- might of the heroic Korean People’s Army» (KCNA-Mediengleich diffamiert und deren Kapitalismus verurteilt. Dass in mitteilung vom 8. Juli 2006).
mehr als jeder achten Meldung die Rede von der Wiedervereinigung ist, zeugt vom enormen Stellenwert dieser Frage.
Die ambivalente Beziehung zu Südkorea zeigt sich allerdings
darin, dass zwar ständig von einer Wiedervereinigung die
Rede ist – Südkorea als Staat in diesem Zusammenhang aber
kaum je explizit erwähnt wird.
3)
42
Brossel, Vincent 2004: North Korea – Journalism in the
service of a totalitarian dictatorship.
Gunaratne, Shelton A./Shin Dong, Kim 2000: North
Korea. In: dies. (Hg.): Handbook of the media in Asia.
586-611
Maierbrugger, Arno 2007: Nordkorea-Handbuch.
Unterwegs in einem geheimnisvollen Land
Moeskes, Christoph 2007: Einleitung. In: ders. (Hg.):
Nordkorea. Einblicke in ein rätselhaftes Land. 9-36
* Patrick Gämperle studierte Erziehungswissenschaft im Major
und Kommunikations- und Medienwissenschaft im Minor an der
Universität Bern. Der vorliegende Text basiert auf einer RechercheSeminararbeit (2007) und einer empirischen Facharbeit (2010).
Frühling/Sommer 2012
Ausgabe 4
PRINCESS HIJAB
KÖRPERGRENZEN
PARASITEN
HÄRTEFALL
AUSLÄNDER
BILDER
SICHTBARKEIT
POLIZEICOMPUTER
TATORT
SMELSER
STRAHLIMAA
FRISCH
expositionen
1
Editorial
Geneigte Leserin, geneigter Leser
wir freuen uns, Dir in der vierten Ausgabe von Expositionen erneut eine hochwertige Auswahl an Texten präsentieren zu
können, die in sehr unterschiedlichen Disziplinen entstanden sind und sich gleichwohl durch Gemeinsamkeiten auszeichnen.
Zwei Texte inden sich in ihrem Fokus auf den menschlichen Körper, einmal als bildwissenschaftlich angelegte Studie zur
entblössenden performativen Kraft verschleiernder Grafiti-Kunst, einmal als vergleichende Diskursanalyse im Hinblick
auf die Produktion gefährlicher Menschenkörper. Aus sehr verschiedenen Warten, nämlich theoretisch-philosophisch und
handfest volksswirtschaftlich, werden zwei Schlaglichter auf den Arbeitsmarkt geworfen – dazwischen indet sich eine
Analyse der gouvernementalen Praxis der Härtefall-Regelung bei Schweizer Sans-Papiers. Ein anderer Beitrag gilt den
Techniken zur Herstellung von Visualität von Bildarchiven: historisch gewachsene und ebenso aktuelle Verfahren. Dass Bilder
und die Analyse von Bildlichkeit nach wie vor Konjunktur haben, lässt sich auch am interdisziplinären wissenschaftlichen
Disput ablesen, wie der Artikel zum Studium von Text-Bild-Relationen anhand verschiedener Beispiele aufzeigt. Anlässlich
des Besuchs des renommierten Soziologen Neil J. Smelser wird eine Bestandsaufnahme der Disziplin Soziologie gewagt
– und es wird kritisch aber auch verhalten optimistisch bilanziert. Nur scheinbar gemächlich geht es schliesslich zweimal
ums Fernsehen und den Krimi: hier um die sprachlich bedingten konzeptuellen Probleme des Schweizer Tatorts, da ums
deutsche BKA, seine Rechneranlagen und das Ende Columbos. Abgerundet wird diese Ausgabe durch einen Kommentar
in Bildform in Sachen AKW.
Als Beilage gibt es diesmal eine Koproduktion mit den Zürcher Denkbildern. Im Rückblick auf das vielbeschworene Max
Frisch-Jahr 2011 haben wir jungen Autorinnen und Autoren eine Plattform geboten, sich jenseits von Jubiläumsanlässen
mit dem Berühmten auseinanderzusetzen.
Der Dank gilt allen AutorInnen, KritikerInnen, PromoterInnen und in jedwedem Sinne UnerstützerInnen, wir wünschen
eine bereichernde Lektüre.
Die Redaktion
2
Inhaltsverzeichnis
I’m a Visual Terrorist. Zur Darstellung des Geschlechtlichen, des Religiösen und der Performanz in der GrafitiKunst von Princess Hijab
Lisa Skwirblies
Der Schleier, zum Symbol für die erstarkende Sichtbarkeit des Islam in westlichen Öffentlichkeiten geworden, positioniert sich an der Schwelle
zwischen Verhüllen und Zeigen, zwischen erhöhter Sichtbarkeit und intendierter Unsichtbarkeit. Die Grafiti-Künstlerin Princess Hijab öffnet
in einem Akt «visuellen Terrorismus» den semiotischen Faltenwurf des Schleiers und problematisiert den vermeintlich eindeutigen Zeichenstatus
muslimischer Verschleierung bezüglich geschlechtlicher und religiöser Intelligibilität.
Seite 4
Radargrenzen, Körpergrenzen. Von der «closed-world» zum «closed-self»
Alain Gloor
Der Historiker Paul N. Edwards hat gezeigt, dass die Zeit des Kalten Krieges in den USA geprägt war von einem Diskurs der «closed-world».
Als dessen vibrierendes Zentrum hat der US-Amerikaner den SAGE-Radarcomputer beschrieben. Nach 9/11 hat sich dieser Diskurs verdichtet auf das «closed-self» – mit dem internationalen Flughafen-Checkpoint als Technologie im Mittelpunkt, der gefährliche Körper produziert.
Seite 8
Parasiten im Paradies? Freiwillige Arbeitslosigkeit und das bedingungslose Grundeinkommen
Elias Zimmermann
Stellen Sie sich vor, in einer Gesellschaft bekommt jeder denselben Betrag, welcher ihm die Grundlage zu einem würdevollen Leben sichert. Ist es
gerecht, dass der Eine weiterarbeitet und sich etwas dazu verdient, zugleich jedoch den Lebensunterhalt des Anderen inanziert, der lieber den
ganzen Tag seiner Lieblingsbeschäftigung nachkommt? Eine Rechtfertigung.
Seite 13
Verordnete Mentalität der Härte. Die neoliberale Praxis der Härtefall-Regelung für Sans-Papiers
Elango Kanakasundaram
Die Härtefall-Regelung stellt für die rund 100‘000 Sans-Papiers in der Schweiz die Möglichkeit dar, ihren Status zu legalisieren. Der Beitrag
zeigt, wie die Härtefall-Regelung als Bestandteil einer neoliberalen Praxis verstehbar ist, und wie gouvernementalen Techniken dabei von Bedeutung sind.
Seite 17
Nehmen uns die Ausländer die Arbeitsplätze weg? Zum Einluss ausländischer Arbeitskräfte auf den einheimischen Arbeitsmarkt und den Effekten auf die Qualiikationsstruktur
Christoph Thommen
Wie wirkte sich die Einführung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU 2002 auf den schweizerischen Arbeitsmarkt aus? Der
vorliegende Artikel führt in die Arbeitsmarktökonomie ein und weist auf mögliche Gewinner und Verlierer der Zuwanderung hin. Während
die Volkswirtschaft als Ganzes proitiert, zeichnen sich insbesondere für die Geringstqualiizierten auch negative Folgen ab.
Seite 21
wi(e)der Frisch
AutorInnenkollektiv
16 Sätze aus dem Zitatenschatz des Altmeisters.
Seite 25
expositionen
3
Bilder lesen
Jörg Klenk
Die Text-Bild-Forschung erlebte in den 1950er-Jahren eine Renaissance. Obwohl sie seither wiederholt Gegenstand ideologischer Grabenkämpfe
war, konnte sich eine lebhafte Forschung entwickeln, die Erkenntnisse für alle beteiligten Wissenschaften lieferte. Folgender Text soll anhand
eines kurzen historischen Abrisses sowie einer exemplarischen Analyse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Einblicke in dieses Forschungsfeld gewähren.
Seite 26
Die Kommerzialisierung der Sichtbarkeit. Kulturtechniken der Fotoarchivierung und -verwaltung im 20. (21.)
Jahrhundert.
Mirco Melone
Die «Bildwirtschaft» ist massgeblich an der Hervorbringung und Konturierung von Visualität beteiligt. Das Milliardengeschäft basiert in seinen
Verwaltungs- und Verwertungstechniken auf historisch gewachsenen Strukturen, deren Überreste heute als riesige Bildbestände in öffentlichen
Archiven oder bei privaten Anbietern lagern. Rasant anwachsende Bildkonvolute führten dazu, dass die Archivierung und Verwaltung der
Bilder zu grundlegenden ökonomischen Axiomen wurden. Das heutige Erscheinungsbild gewerblicher Fotoarchive ist das Resultat verschiedenster
Techniken und Diskurse, deren Geschichte das Verständnis der visuellen Kultur massgeblich prägt.
Seite 30
Polizeicomputer. Zur ersten Rechenanlage im BKA und iktiven Fahndern von Columbo bis CSI
Hannes Mangold
Das Bundeskriminalamt stellte in den 1970er Jahren auf EDV um. Die Computerisierung der Polizei iel damit in die Zeit des eskalierenden
Linksterrorismus. Diverse Romane und Spielilme haben diese historischen Polizeicomputer iktionalisiert. Dabei hat sich die Darstellung ab
1988 verändert – ein Befund, der auch im Blick auf die Entwicklung populärer Krimiserien aufschlussreich ist.
Seite 35
Ein Ding der Unmöglichkeit? Der Schweizer Tatort im Konlikt mit der sprachlichen Situation der Schweiz und
dem Tatort-Konzept
Franziska Zihlmann
Der Tatort ist ein Fernsehklassiker, dessen Format sich durch regionale Einlüsse und realistische Darstellung auszeichnet. Doch eben diese
Eigenschaften scheinen dem Schweizer Tatort Mühe zu bereiten. Eine Untersuchung des Schweizer Tatorts im Hinblick auf das Konzept der
Fernsehkrimiserie und die sprachliche Situation in der Schweiz.
Seite 39
Von ambivalenter Interdisziplinarität zur soziologischen Regeneration? Eine Odyssee mit dem Soziologen Neil
J. Smelser an der Universität Bern
Désirée Waibel und Markus Unternährer
Anlässlich des Besuchs von Neil Smelser in Bern wird die Frage nach einer synthetischen Sichtweise auf die sich zunehmend fragmentierende
Disziplin der Soziologie gestellt. Wie skizziert ein undogmatischer Feldkenner wie Smelser eine mögliche Regeneration der Soziologie, und welche
Aussichten hätte ein solches Projekt tatsächlich?
Seite 42
zuletzt
Roland Reichen
Strahlimaa
Seite 47
4
I’m a Visual Terrorist
Zur Darstellung des Geschlechtlichen, des Religiösen und der Performanz in der Grafiti-Kunst
von Princess Hijab
D
Lisa Skwirblies *
er Schleier, zum Symbol für die erstarkende Sichtbarkeit des Islam in westlichen Öffentlichkeiten geworden, positioniert sich an der Schwelle zwischen Verhüllen und Zeigen,
zwischen erhöhter Sichtbarkeit und intendierter Unsichtbarkeit. Die Grafiti-Künstlerin
Princess Hijab öffnet in einem Akt von «visuellem Terrorismus» den semiotischen Faltenwurf des Schleiers und problematisiert den vermeintlich eindeutigen Zeichenstatus muslimischer Verschleierung bezüglich geschlechtlicher und religiöser Intelligibilität.
«With the veil, things become well-deined and ordered. The
Algerian woman, in the eyes of the observer, is unmistakably
‹she who hides behind the veil›» (Fanon 1959: 163).
Grafiti-Künstlerin aus Paris ihr sprühendes Treiben. Ihr
Name, ganz ihrer Kunst verplichtet: Princess Hijab. Ihre
Identität, ganz der Tradition der Streetart verplichtet:
weitestgehend ungeklärt. Selbst nicht in Erscheinung
Zweimal fünf Augenpaare – durch die schmalen Schlitze tretend, lässt sie mit ihren Grafitis die schwarzen Hijabs
schwarzer Grafiti-Schleier starrend. Durch die Glasscheibe Einzug in den öffentlichen Raum der Pariser Metroeines Werbeschaukastens den Blick selbstbewusst Stationen halten.
geradeaus gerichtet, irgendwo im Nirgendwo des Pariser Die Sprühdosen-Hijabs der Princess-under-cover reihen sich ein
Metro-Untergrunds. Zehn Augenpaare – den Blick der in die (häuig polemisch geführten) Debatten der letzten
Betrachterin erwidernd. Eine
Jahre rund um den Komplex
Betrachterin, die auf ihrem
von «Kopftuch tragen» oder
«Ist es wirklich unmissverständlich
Weg durch die Gewölbe der
«Kopftuch ertragen» und in
sie hinter dem Schleier?»
Metro-Stationen an diesem
die Reihe von Relexionen
Werk in alltäglicher Routine
zur erstarkenden Sichtbarkeit
vorbeiläuft und lediglich einen
religiös-kultureller
Zeichen
lüchtigen Blick auf die allzu bekannten Werbeschaukästen im allgemeineren Sinne. Im Falle der Praxis muslimischer
wirft, wird wahrscheinlich eine Gruppe verschleierter Verschleierung ist es aber nicht allein der Schleier als
Muslima zu sehen glauben.
Objekt, an dem ‹Bilder› religiöser Differenz sichtbar werden
Die Ordnung, die Franz Fanon in dem eingangs angeführten können, sondern der verschleierte ‹weibliche› Körper. Es
Zitat dem Schleier als Funktion zuspricht, bezöge sich ist ‹die› Schleierträgerin, so meine grundlegende These,
in diesem Fall auf eine Geschlechterordnung. Auf die die in metonymischer Manier diese neue Sichtbarkeit in
selbstverständliche Annahme, sie hinter den gesprayten europäischen Öffentlichkeiten garantiert, gefangen in
Schleiern zu erwarten. Würde es der ein oder andere der paradoxen Struktur der Gleichzeitigkeit von sowohl
Passant wagen, einen zweiten Blick auf die ungewöhnliche erhöhter Sichtbarkeit als auch intendierter Unsichtbarkeit.
Untergrund-Werbetafel zu werfen, müsste er sich mit Dabei wird immer wieder die Forderung laut, diese
Fanon die Frage stellen: Ist es wirklich unmissverständlich Auseinandersetzungen auch innerhalb des europäischen
sie hinter dem Schleier?
feministischen Projekts zu führen. Auf theoretischDas Bild, von dem hier die Rede ist und das ursprünglich analytischer Ebene könnte dies unter einem bisher
als
Unterwäsche-Werbung
von
Dolce&Gabbana eher stiefmütterlich behandelten differenztheoretischen
in die Metro-Katakomben von Paris gelangt ist, Ansatz umgesetzt werden: mit der Intersektionalität
zeigte in seiner Originalversion die italienische von gender und religion. Während das Zusammenwirken
Nationalschwimmmannschaft vor historisch-römischer der Differenzkategorie race, class, gender in der
Schwimmhallenkulisse. Die wohltrainierten Körper der Geschlechterforschung (und durchaus auch darüber hinaus)
Proisportler sind in der hier betrachteten Version der zum methodischen Grundinventar gehört, gilt dies für das
Werbetafel bereits dem Akt des Hijabizing zum Opfer Hinzufügen der Differenzkategorie religion nur eingeschränkt,
gefallen. Hijabizing – so nennt die im Untergrund arbeitende wie es vor allem postkoloniale Theoretikerinnen kritisch
expositionen
5
angemerkt haben (vgl. Mahmood 2005; Mohanty 2003;
Ahmed 1992). An diese Feststellung lässt sich die Frage
nach der Herausforderung anschließen, die die Praxis der
Verschleierung für einen westlichen Feminismus mit sich zu
bringen scheint. Um dieser Herausforderung sich annähern
zu können, bedarf es einer vertieften Auseinandersetzung,
die über das reine Aburteilen und Stigmatisieren der
Verschleierung als Instrument von Unterdrückung oder
seiner schlicht euphorischen Verteidigung von Seiten der
Multikulturalisten hinausgehen muss. Religion (gemeint ist
hier ‹der› Islam) soll im Folgenden ebenso wie gender als
machtvolle Form der Grenzziehung und der Verstärkung
einer Gruppenzugehörigkeit gelesen werden. Dieser
differenztheoretische Ansatz soll der Vorstellung von einem
universalen Subjekt ‹Frau› den Boden entziehen und die
Forderung eines universellen feministischen Diskurses (global
sisterhood) problematisieren. Die so genannte ‹Frauenfrage›
dient und diente immer wieder als Terrain für politische
und kulturelle Auseinandersetzungen der westlichen Welt
mit ‹dem› Islam. So hat sie sich im Kolonialismus als treue
Komplizin erwiesen und taucht auch in der Rhetorik des
Afghanistan-Krieges der letzten Jahre wieder auf.
Ein (für diesen Beitrag) interessanter Punkt hinsichtlich
Fragen zur Intersektionalität (in diesem Fall gender und
religion) ist, dass im Zuge einer Analyse auf eine der beiden
Kategorien ein stärkerer Fokus gelegt werden kann. Wird
also der Fokus auf religion als Differenzkategorie gelegt,
könnte gender aus dem Fokus des Interesses geraten,
d.h., dass stattdessen die Gemeinsamkeiten zwischen
Männern und Frauen einer Gruppe betont werden in
Abgrenzung zu dem ‹religiös› bzw. ‹kulturell Anderen›.
Selbstverständlich überschreibt diese Betonung dabei nicht
die Geschlechterdifferenz innerhalb dieser Gruppe. Es ist
eher eine Art des Stummstellens denn des Auslöschens,
oder um bei der Figur der Sichtbarkeit zu bleiben: Eine
Differenzkategorie wird sichtbarer als die andere.
Wie also problematisiert die Verschleierung einer
italienischen Nationalschwimmmannschaft diese Fragen von
global sisterhood, geschlechtlicher und religiöser Intelligibilität
und der Komplizenschaft von Schleier und ‹weiblichem›
Körper? Und wo liegt genau der «Terrorismus», den die
Künstlerin sich in ihrer Selbstbeschreibung («I’m a visual
terrorist») zuschreibt? Was wird für die Betrachtenden
sichtbarer, was bleibt trotz freier Sicht auf behaarte
Männerbeine unsichtbar?
Hijabizing – Ein Akt «kreativer Zerstörung»
Eben diese muskulösen Schwimmerwaden lenken
die Aufmerksamkeit der Betrachterin auf
die
Geschlechterdifferenz, die sich unter dem Grafiti-Schleier
bemerkbar macht. Und das, was sich dort bemerkbar
macht, ist nicht das, was der religiösen Grenzfunktion des
Hijabs dienlich wäre. Es scheint also nicht nur, mit Fanon,
die Geschlechterordnung in ihrer Lesbarkeit erschüttert,
6
sondern ebenso die Symbol-Funktion des Schleiers für eine
bestimmte religiöse Gruppenidentität problematisiert.
Indem die selbsternannte «visuelle Terroristin» die ‹falschen›
Körper verschleiert, werden die verschleierten Körper von
ihrer Zeichenhaftigkeit, von ihrer Funktion sowohl als
Grenze, die den Islam deiniert und absichert, als auch als
Grenze, die die Geschlechter-Differenz eindeutig markiert
und damit die soziale Intelligibilität garantiert, befreit.
Ihr Akt «kreativer Zerstörung» kann als eine Zerstörung
gelesen werden, die ebenfalls zu einem Bild, zu einem MetaBild wird:
«Das Metabild ist eine Art beweglicher kultureller Apparat,
der eine marginale Rolle als illustratives Werkzeug oder eine
zentrale Rolle als eine Art bildliche Summe spielen kann,
als das, was ich ein ‹Hyperikon› genannt habe, als etwas,
das eine ganze Episteme, eine Theorie des Wissens, in sich
enthält.» (Mitchell 2008: 190)
Diskursive Hyperikons, wie Mitchell die Camera obscura, tabula
rasa oder die platonische Höhle bezeichnet, führten die
zentrale Position vor, so Mitchell, die diese Technologien
der visuellen Repräsentation in dem Wissen von anderen
und sich selbst einzunehmen vermögen. Was Mitchell
an Metabildern fasziniert, ist ihr Potenzial, Theorie zu
verbildlichen («(to) picture theory»). Sie sind demnach als
mehr als bloße Illustrationen, als bloße epistemologische
Modelle zu verstehen. Vielmehr sind sie «ethische, politische
«Der Schleier öffnet seinen semiotischen Faltenwurf und wird zum
offenen Zeichen: Er wird formal.»
und ästhetische ‹Assemblagen›, die uns gestatten, den
Beobachter zu beobachten» (Mitchell 2008: 190).
Princess Hijab ‹zerstört› das Werbebild demnach nicht, indem
sie bestimmte Körper unsichtbar und andere dadurch
sichtbar werden lässt (nackte Körper vs. verschleierte
Körper), sondern durch den Bedeutungsverlust der Zeichen
Schleier und Geschlechtskörper wird der Inszenierung
einer stabilen und eindeutigen Geschlechts- und religösen/
kulturellen Identität der semiotische Boden entzogen.
Die Körper sind de-essentialisiert und können nicht mehr
wahrgenommen werden als deinierbar anhand ixierbarer
Identitätsmerkmale, die in einer Beziehung zu der sichtbaren
Erscheinung eines so genannten materiellen Körpers stehen.
Es geht demnach um das Entschleiern der bereits diskutierten
Position der Technologien visueller Repräsentation im
Wissen um ‹das Selbst› und ‹den Anderen› (vgl. Mitchell
2008: 190), wenn Princess Hijab von «visuellem Terrorismus»
spricht. Für Judith Butler ist das Konzept von drag eine
Möglichkeit, um zu versinnbildlichen, wie reality-effects in
Bezug auf Geschlechterkonstruktion durch die performative
Wiederholung ihrer ‹Aufführung› hergestellt werden. Dabei
geht es ihr nicht so sehr darum, drag als die Möglichkeit zur
Subversion von Geschlechternormen zu beleuchten, als
vielmehr mit drag diese sich stetig wiederholende Produktion
von reality-effects im sozialen Alltag lesbar werden zu lassen:
«Most important was the idea that ‹reality› is given to certain
kinds of gender appearances over others, and that those who
are transgendered are regularly debased and pathologized
for ‹not being real›» (Butler 2006: 282).
Das Spiel mit diesen reality-effects ist auch in der GrafitiIntervention der Princess Hijab zu inden. Es geht bei
dem Akt des Hijabizing demnach nicht um eine simple
Verwirrung der Geschlechterordnung, sondern um
das Entschleiern, das Lesbar- und Sichtbarmachen der
Operationen dieser butlerschen reality-effects, wie sie an der
alltäglichen Aufführung von Geschlecht beteiligt sind. Nicht
um Subversion oder Widerstand geht es dabei, sondern
um die Sichtbarmachung dieser Effekte eines alltäglichen
«visuellen Terrorismus», um die Technologien visueller
Repräsentation per se.
Anzumerken ist hier, dass gerade in Bezug auf die
Verschleierung und drag ein speziischeres Feld der
Verwerfung bestimmter geschlechtlicher Darstellung
aufgerufen wird. Ein Topos in Bezug auf den Diskurs über
die Notwendigkeit, verschleierte Frauen entschleiern zu
müssen, ist immer wieder das Unwissen über das, was darunter
liegt. Dass die ‹männlichen› Körper in dem betrachteten
Beispiel sichtbar unter dem Schleier hervorgucken, spielt
deutlich auf diese Angst vor der Möglichkeit mit an, unter
dem Schleier keine ‹Frau› vorzuinden.
Hyperikon – Das Bild als Doppelagent
Das Meta-Bild, das durch den Akt der kreativen Zerstörung
entsteht, führt in das Territorium der Bildhaftigkeit des
Körpers, in den Diskurs der Geschlechterdifferenz und zu
den Fragen nach den (Un-)Sichtbarkeiten in der sozialen
Ordnung überhaupt. Der Schleier, der in der westlichen
Öffentlichkeit besonders nach 9/11 zum kleinsten
gemeinsamen Nenner innerhalb eines Diskurses über ‹den›
Islam avanciert und somit zu einem geschlossenen Zeichen
geworden ist, über das sich sowohl Islamkritiker als auch die
Kritiker der Islamkritiker verständigen können, öffnet nun
seinen semiotischen Faltenwurf und wird unter der Feder
Princess Hijabs zu einem offenen Zeichen: Er wird formal.
Vieles kann nun an (politischer) Bedeutung in seine
neue Zeichenhaftigkeit hineingelegt werden: Kritik am
westlichen Schönheitsdiktat, eine Reformulierung der
Ikonographie westlichen Lebensstils, Einschreibung in die
Deutungshoheit über Körper und Macht im öffentlichen
Raum etc.
Als abschließender Schritt ließe sich die Frage aufwerfen, ob
‹der› Schleier nicht auch als ein Hyperikon im Sinne Mitchells
fungieren kann. Während die Figur der Sichtbarkeit auf die
Ebene dessen verweist, was wir tatsächlich sehen können
(den Schleier als Objekt und den verhüllten Körper darunter),
verweist ‹der› Schleier als Hyperikon auf das Sehen selbst. Die
expositionen
7
sonst selbst so unsichtbare Visualität indet in der Kunst von
Princess Hijab ein Mittel der Darstellung und wird sichtbar.
Durch diese Verhandlung der Figur der (Un-)Sichtbarkeit
anhand des Phänomens Verschleierung lässt sich auch eine
kritische Hinterfragung der vermeintlichen Eindeutigkeiten
anschließen, die unser Sehen immer schon bestimmen.
Hier kann exemplarisch aufgezeigt werden, wie erfolgreich
‹Bilder› als Doppelagenten zwischen Verhüllen und Zeigen
an der Konstruktion sozialer Realität mitarbeiten. Fragen
nach der Unsichtbarkeit von Visualität generell lassen sich
in diesem Kontext lancieren, nach kultureller Blindheit
in heutigen pluralistischen Gesellschaften und nach dem
nicht immer unproblematischen Bestreben, (politische)
Sichtbarkeit zu erzeugen.
Ahmed, Leila 1992: Women and Gender in Islam.
Historical Roots of a Modern Debate
Butler, Judith 2006: Afterword. In: Armour, Ellen / St.
Ville, Susan M. (Hg.): Bodily Citations. Religion and
Judith Butler. 276–292
Crenshaw, Kimberle 1991: Mapping the Margins:
Intersectionality, Identity Politics, and Violence against
Women of Color. In: Stanford Law Review 43. 1241–
1299
Fanon, Frantz 1959: Algeria Unveiled. Im Internet
unter: http://www.scribd.com/doc/
36055427/Algeria-Unveiled-Fanon (Stand vom
11.11.2011)
Mitchell, William J. T. 2008: Bildtheorie
Mahmood, Saba 2005: Politics of Piety. The Islamic
Revival and the Feminist Subject
Mohanty, Chandra T. 2003: Under Western Eyes:
Feminist Scholarship and Colonial Discourse. In: Lewis,
Reina / Mills, Sara (Hg.): Feminist Postcolonial Theory.
A Reader
Bildquelle: www.princesshijab.org
* Lisa Skwirblies lebt, schreibt und forscht derzeit in Amsterdam und
Warwick. Sie hat Theaterwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft in München studiert und der vorliegende
Artikel ist aus ihrer Magisterarbeit entstanden. Diese erscheint
2012 im Tectum-Verlag unter dem Titel: «Performing the Veil. Zur
Darstellung ‹muslimischer› Verschleierung und ‹weiblichem› Körper in
den visuellen Künsten nach 9/11».
8
Radargrenzen, Körpergrenzen
Von der «closed-world» zum «closed-self»
Alain Gloor *
D
er Historiker Paul N. Edwards hat gezeigt, dass die Zeit des Kalten Krieges in den USA geprägt war von einem Diskurs der «closed-world». Als dessen vibrierendes Zentrum hat der USAmerikaner den SAGE-Radarcomputer beschrieben. Nach 9/11 hat sich dieser Diskurs verdichtet auf das «closed-self» – mit dem internationalen Flughafen-Checkpoint als Technologie
im Mittelpunkt, der gefährliche Körper produziert.
Mein Ziel ist es, die Diskurse zweier Epochen miteinander
in Verbindung zu bringen. Nicht, um deren Parallelität zu
postulieren oder einen historischen Vergleich mit letzter
Konsequenz zu wagen – muss doch in beiden Fällen
von jeweils differenten und bedeutsamen, singulären
Vorbedingungen ausgegangen werden –, sondern in der
Hoffnung, versuchsartig einen sich im neuen Jahrtausend
bildenden Diskurs zu verstehen und greifbar zu machen:
Von der Epoche des Kalten Krieges kann mit Fug und
Recht behauptet werden, dass sie ihr Ende gefunden hat.
Wenn nicht 1989, so spätestens am 11. September 2001.
Der Tag kann als Ausgangspunkt einer nächsten Zeitspanne
betrachtet werden, die hier in Bezug zum Kalten Krieg
gesetzt werden soll – die Phase des «War on Terror».
Die Zerstörungskraft der Atombombe und die
Zerstörungswut der in die Attentate von 9/11 involvierten
Terroristen führten schon bei Zeitgenossen zur
Bewusstwerdung, Zeugen eines einschneidenden Umbruchs
zu sein: Beide Geschehnisse und Orte mit realen Zeiten
und wirklichen Koordinaten öffneten zugleich abstrakte
Räume, beide tragen sie dieselbe Bezeichnung: «Ground
Zero». Der Historiker Karl Schlögel begreift den Raum des
Bodennullpunktes in Manhattan folgendermassen:
meine Hauptthese – an den Umrissen von Ländern und
in den Verfassungen von Regierungen sichtbar werden. In
Schlögels imaginären Raum tritt der Körper. Der Körper
des modernen und mobilen Menschen selbst ist der Ort, wo
Grenzen und Souveränitäten aufscheinen und sich zugleich
im psychischen Selbst verankern.
In diesem Sinne deute ich die Intensivierung der
Passagierkontrollen an internationalen Flughäfen nach 9/11
und die dabei unter anderem eingesetzten Technologien des
Körperscannings und des biometrischen Reisepasses als
speziische soziotechnische Systeme des neuen Jahrtausends.
Das heisst auch, sie als Technologien zu beschreiben, in deren
Produktion und Verwendung Ängste und Hoffnungen der
jüngsten Dekade eingelossen sind (und dies noch immer
tun) und die bedeutsame Bilder für unser Weltverständnis
generieren und dieses zugleich formen. Der FlughafenCheckpoint ruft damit einen Diskurs hervor, der nicht
aus dem Nichts kommt, sondern eine Geschichte hat: Er
steht in Korrelation zum vom Historiker Paul N. Edwards
(1996) beschriebenen und in der Zeit des Kalten Krieges
vorherrschenden Diskurs der «closed-world» und stellt eine
Verdichtung desselben dar. Frei nach Edwards bezeichne
ich ihn als «closed-self»-Diskurs.
«Die Karte erfasst nicht nur einen physischen Ort, sondern
Stillstand und Aussetzen der Selbstverständlichkeiten
[...], und sie zeigt das Ende der Routinen, auf deren
stillschweigenden Funktionieren unserer Zivilisation beruht.
Ground Zero ist der Punkt [...], von dem aus die Welt neu
vermessen wird. Darin spielen Fronten und Grabenkämpfe,
nationale Grenzen und nationale Souveränitäten kaum eine
Rolle, um so mehr aber imaginäre Räume [...].» (Schlögel
2003: S. 31)
Airworld als Kernort der Moderne
Ob Pearl Harbor, Hiroshima oder Manhattan: Das Unheil
brach aus dem Himmel über die Menschen herein. Oder
mit Annette Vowinckel gesprochen: aus der Airworld (2011).
«Ground Zero» und der Luftraum sind Ausgangspunkte
meiner Überlegungen. Das Böse kam von oben; zugleich
steht die Airworld für eine speziische Virtualität, welche
Bilder produzierte, die prägend für die Epoche des Kalten
Krieges respektive der Dekade des «War on Terror» sein
sollten: Hochkomplexe Computer sorgten einerseits für
Radarbilder von Flugkörpern, Sicherheitsscanner für Bilder
durchleuchteter Körper von Flugreisenden.
Vowinckel sieht im Terrorismus der Al-Qaida – und
insbesondere im Anschlag aufs World Trade Center – einen
Angriff auf die moderne, westliche Gesellschaft schlechthin.
Um hier Schlögels Argumentation eigenmächtig
weiterzudenken, möchte ich betonen, dass diese neuartige
Imagination vom Nullpunkt aus betreffend Grenzen und
Souveränitäten sehr wohl eine Rolle spielt. Nur genügt es
nach 9/11 nicht länger, dass diese – und das ist zugleich
expositionen
9
Da Menschen, die sich im Luftraum aufhalten, «geradezu
prototypisch den lexiblen, mobilen, kosmopolitischen
Menschen des 20. Jahrhunderts verkörpern». Ein Typ
Mensch, der gemeinhin ein transnational Reisender ist, in
der «Airworld, die längst zu einem symbolischen Kernort
der Moderne geworden ist» (S. 7). Die westlichen Nationen
müssen somit nicht länger vorrangig vor feindlichen
Flugkörpern beschützt werden, sondern vor liegenden
Menschenkörpern, die sich mitten unter uns beinden, die
wir selbst sein könnten.
Bipolare Welten
Edwards beschreibt, welch grosse Hoffnung die USA
während des Kalten Krieges in die neueste Technologie zur
Abwehr ihres vermeintlich unberechenbaren Gegenspielers
UdSSR legten:
«Beginning with SAGE, the hope of enclosing the awesome
chaos of modern warfare [...] within the bubble worlds of
automatic, rationalized systems spread rapidly throughout
the military, as the shift to high-technology armed forces
took hold in earnest.» (S. 110)
Um diesem «chaos of modern warfare» zu entkommen,
musste, und zwar noch bevor entsprechende
Sicherheitstechnologien entwickelt werden konnten, ein
Diskurs einer bipolaren Welt geschaffen werden – das
Benennen eines bedrohlichen Anderen, vor dem es sich zu
verschliessen ziemt. Das Radarsystem des SAGE hat diese
Grenzen zur UdSSR deiniert. Nach den Anschlägen am
11. September 2001 iel die USA in das Proklamieren einer
ähnlichen Dualität zurück: Der damalige US-Vizepräsident
Dick Cheney rechtfertigte die Invasion Afghanistans,
indem er Pearl Harbor heraufbeschwor und die japanische
Überraschungsattacke mit den jüngsten Angriffen verglich
– ein neuer «just war» sei entbrannt. Über den Rückgriff
auf die Rhetorik aus dem Zweiten Weltkrieg vollzieht
sich im neuen Jahrtausend erneut eine Trennung der Welt
in Gut und Böse, in Hell und Dunkel – wobei in beiden
Fällen «weapons of mass destruction» eine wichtige Rolle
spielen. Es ist die Rede von einer «axis of evil» und von
«rogue states».
«Containment»
Sowohl die Zeit des Kalten Krieges wie die Zeit nach 9/11
waren von der Idee beherrscht, das Undenkbare denken zu
müssen, um gegen die sich abzeichnenden, neuen Gefahren
gewappnet zu sein. Das Nachdenken über den Atomkrieg
geschah indes im virtuellen Raum: «Nuclear war existed
only as a simulation, a game, a computer model.» (Edwards
1996: S. 120)
Mit 9/11 kommt es zum Einbruch des Realen in die
virtuelle Hyperrealität: Opportunistische kriegerische
Massnahmen scheinen kurz nach dem Einsturz des World
Trade Centers Actionilmen entlehnt; so zeigte sich die
US-Regierung beispielsweise bereit, ein Passagierlugzeug
abzuschiessen, sollte es unmissverständlich in Richtung
des Weissen Hauses oder des Capitols unterwegs sein. Die
damalige Senatorin Hillary Clinton sagte: «In desperate
times like these, you have to think the unthinkable. And I,
for one, would not have second-guessed that decision.» Die
besonderen Umstände sorgen für eine Verwischung und ein
Verschwinden des Bezuges zur Realität.
Es waren schockartige Erfahrungen: Der Terroranschlag
von 9/11 und die Feststellung vonseiten der USA, dass die
UdSSR bereits 1949 im Besitz der Atombombe gewesen war
– und sie also nicht länger im Hintertreffen lag, sondern sich
auf Augenhöhe mit dem Konkurrenten aus dem Westen
befand. Diese einschneidenden Momente sorgten in den
USA für eine Neuauslegung des nationalen Verteidigungsrespektive Sicherheitskonzeptes und der Aussenpolitik.
Sie führten zu einem Überdenken der bisherigen
Methoden und einer Neueinschätzung technologischer
Mittel. In den 1950er wie in den 2000er Jahren haben
diese Ausnahmezustände die Durchsetzung eiliger
Gesetzesbeschlüsse zur Folge. Neuartige überwachende
und disziplinierende Sicherheitstechnologien setzen sich im
Atomzeitalter wie in der Gesellschaft nach 9/11 durch. Beide
Phasen waren geprägt von einem übergreifenden Diskurs
des «containments»; wobei sich die sicherheitstechnischen
Bemühungen nach dem 11. September 2001 in Beziehung
zu den verteidigungstechnischen Avancen während der Zeit
des Kalten Krieges setzen lassen:
«To understand how efforts to contain other(ed) bodies
unfolded after 9/11, we need to consider post-World War
II efforts at containment. These previous efforts have
undoubtedly informed the new ones. [...] Although the
essence of a war against terrorism may differ substantially
from other wars, it is our contention that the ideological
components of the War on Terror resemble, very closely,
the ideological components of the Cold War, including its
military component and its emphasis on identifying threats
to both the security of the country and the fabric of society.»
(Bloodsworth-Lugo/Lugo-Lugo 2010: S. 10)
Die politischen Entscheide der Zeit nach 9/11 stehen
in direkter Abhängigkeit zur Eindämmungspolitik im
Kalten Krieg. In beiden Fällen konnte sich die politische
(und gesellschaftliche) Ausrichtung dank der propagierten
und in der Vereinfachung eindeutigen vorherrschenden
Feindbilder durchsetzen: einerseits die UdSSR, andererseits
«der Terrorist».
Ground Zero 2.0
Der Oxford English Dictionary verweist unter «ground
zero» auf einen Artikel der New York Times von 1946, in
dem diese Bezeichnung für die zerstörte Stadt Hiroshimas
benutzt worden war. Das Wörterbuch deiniert den
Begriff als «that part of the ground situated immediately
under an exploding bomb, especially an atomic one». Es
10
handelte sich dabei zuerst um einen neutralen Terminus der
Militärsprache, der später zwar vereinzelt wieder auftauchte
(sei es nach Atombomben-Tests oder nach der Katastrophe
in Tschernobyl 1986), nie wieder aber so prominent wie
nach 9/11. Die New York Times benutzte die Bezeichnung
in diesem Zusammenhang erstmals am 16. September 2001.
Was hat diese Appropriation zu bedeuten?
Natürlich spielte die Verwendung von «Ground Zero» eine
Rolle im weiter oben beschriebenen diskursiven Rückgriff
auf den Zweiten Weltkrieg durch die US-Regierung.
Aber laut dem Kulturtheoretiker Gene Ray verweist die
Wiederkehr dieser Bezeichnung auch indirekt auf ein
nicht überwundenes, nationales Trauma – nämlich die
Atomangriffe auf Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945.
Damit lässt sich eine Spur von Hiroshima nach Manhattan
im kollektiven Gedächtnis nachzeichnen, und deren
unweigerliche Einwirkung auf das körperliche und mentale
Dispositiv des einzelnen US-Bürgers behaupten.
Paul N. Edwards «closed-world»-Diskurs
Edwards geht im Kapitel «SAGE» (1996: S. 75–111) dem
Projekt Whirlwind nach, «[that] started out as an analog
computer designed to be part of a control system. It
metamorphosed into a digital machine», und zwar «[into] the
SAGE computerized air defense system» (ebd.: S. 75). Diese
Maschine, erdacht 1944 als Flugsimulator und im Einsatz
ab den frühen 1960er Jahren als Radar-Abwehrsystem,
beschreibt der Historiker als soziotechnisches System. Über
die Umschreibung der Entstehung des Semi-Automatic
Ground Environment (SAGE) befühlt Edwards den Puls
der damaligen Zeit und zeichnet überzeugend nach, dass
«SAGE represented both a contribution and a visionary
response to the emergence of a closed world» und «SAGE
was far more than a weapons system. It was a dream, a myth,
a metaphor for total defense, a technology of closed-world
discourse» (1996: S. 110–111). Dieser Ansatz lässt sich
nahtlos weiterdenken, in die Zeit nach dem 11. September
überführen und für ein anderes, nicht weniger prägendes
soziotechnisches System postulieren.
Der Flughafen-Checkpoint als Technologie des
Diskurses eines «closed-self»
Der hochtechnologisierte Flughafen-Checkpoint steht in der
Hinsicht in der Tradition des SAGE, als der Radarcomputer
während des Kalten Krieges in ähnlicher Weise Diskurse
formierte und einen semiotischen Raum bediente, wie es
die technische Überprüfung von Flugreisenden in der
zurückliegenden Dekade getan hat und weiterhin tut. Der
SAGE ist sozusagen der vibrierende, faktische Mittelpunkt,
der die sich spinnenden Diskurse der Zeit in sich vereint
und festzurrt:
«This is why the Cold War can be best understood in
terms of discourses that connect technology, strategy, and
culture: it was quite literally fought inside a quintessentially
semiotic space, existing in models, language, iconography,
and metaphor, embodied in technologies that lent to these
semiotic dimensions their heavy inertial mass.» (Edwards
1996: S. 120)
Die Körperscanner und biometrischen Identiikationspapiere (sowie weitere Sicherheitsmassnahmen) tragen
einen entscheidenden Teil zu einem neuen Diskurs bei, den
ich «closed-self»-Diskurs nenne. Dieser funktioniert unter
anderem über Bilder von durchleuchteten Körpern – sie
sind die neue «visionary response» zur Erscheinung des
«closed-self»-Diskurses. Ganz so, wie sich der von Edwards
beschriebene «closed-world»-Diskurs durch SAGEproduzierte Radarbilder äusserte.
Mit dem SAGE teilt der Flughafen-Checkpoint die
Eigenschaft, dass er Gefahren abwenden soll. Er nährt
die Hoffnung, dass es möglich ist, sich vor gefährlichen
Körpern zu schützen. Dabei muss auf einen entscheidenden
Unterschied hingewiesen werden: Nach 9/11 wird die
westliche Welt (oder die USA) nicht länger als «closed
world protected by high technology» (ebd.: S. 96) gesehen,
wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Vielmehr wird
die globale Vorherrschaft der USA, noch stets legitimiert
durch die Doktrin des amerikanischen Exzeptionalismus,
als höchst verletzbar dargestellt. In Kürze: Welten oder
Nationen können nicht mehr hermetisch abgeriegelt und
gesichert werden – die «closed-world» ist Geschichte. Wohl
aber die Körper einzelner Menschen. Auch die Hysterie
um SARS und H1N1 und Hollywood-Filme wie Contagion
(2011) passen zu diesem Denkmuster: Der einzelne Körper
wird durch Erreger gefährlich und muss – zur allgemeinen
Sicherheit – in die Quarantäne.
Körper als Grenze
Edwards schreibt, dass «[i]n the centralized digital
command-control systems of the 1950s computers [...]
embodied the discourse of ‹containment› and technological
closure – its paradoxes and failures as well as its ideals»
(ebd.: S. 113). Auch der Diskurs des neuen Jahrtausends ist,
wie bereits beschrieben, ein Diskurs «of ‹containment› and
technological closure». Und zwar mittels
«the intersection of war efforts and rhetorical techniques
within the United States, both of which have served to
render particular bodies as American or un-American. As
much as a military or public policy position, the rhetoric
surrounding the War on Terror during the G. W. Bush
administration was used to reinforce the boundaries of
(American) citizenship. Bodies deemed un-American were
construed as being in need of strict containment. As a
political project, containment proved to be a complicated,
pervasive, and effective strategy of social (hegemonic)
control.» (Bloodsworth-Lugo/Lugo-Lugo 2010: S. 3)
Der Checkpoint am Flughafen wird zum «site of biopower
that represents the shift from a paradigm of ‹national
defense› to ‹national security›» (Parks 2007: S. 186). Diese
expositionen
11
Verschiebung vollzieht sich über die anvisierte Kontrolle
von Körpern.
Das Scannen und Zeigen von durchleuchteten Körpern legt
eine neue Grenze fest. Eine Grenze, die sich nicht länger
über das Radarnetz und den Flugraum deiniert, sondern
die an den Flughäfen selbst in Erscheinung tritt: Der
Checkpoint wird zur Spitze des security regimes. David Lyon
spricht von einer «delocalization of the border»:
«[Borders] themselves become ‹delocalized› as efforts are
made to check travellers before they reach physical borders
of ports of entry. Images and information circulate through
different departments, looping back and forth in commercial,
policing, and government networks. Surveillance records,
once kept in ixed illing cabinets and dealing in data
focused on persons in speciic places, are now luid, lowing
and global. These consequences are properly ‹globalized› in
the sense that they signal new patterns of social activity and
novel social arrangements, which are less constrained by
geography. The ‹delocalized border› is a prime example of
globalized surveillance.» (Lyon 2003: S. 110)
Verliert die Grenze ihre Geographie, so wird der Körper
von Bürgern deren neuer Raum. Das fällt zusammen
mit folgender Erkenntnis: «[C]itizenship has become
synonymous with nationality [...]. Within this construction, a
threat to one (citizenship) becomes a threat to the other (the
nation), and vice versa» (Bloodsworth-Lugo/Lugo-Lugo
2010: S. 59). Der Körper des Staatsbürgers wird als Ort der
Nation konstruiert, und damit auch zu deren Grenze.
Diese imaginierte Grenze beisst sich folglich fest im Körper
des Staatsbürgers (respektive Staatslosen) und macht jeden
Passagier zum potentiellen Terroristen:
«It becomes clear that current terrorism scenarios coalesce
around the presupposition that terrorist attack is imminent,
in our midst and catastrophic. This imagination of an
omnipresent enemy who could be anywhere, strike at
anytime and who in fact could be ‹among us›, [is what]
fosters a ‹productive economy of fear›.» (De Goede 2008:
S. 162)
In dieser «productive economy of fear» vollzieht sich
zunächst eine Globalisierung in dem Sinne, als die Gefahr
von überall her kommen kann, aus dem Innersten wie dem
Äussersten; eine globale Öffnung, die letztlich das einzelne
Subjekt umfängt, für eine diskursive Wiederbelebung
des gläsernen Menschen sorgt und den einzelnen Körper
gefährlich werden lässt.
Virtualisierung des Körpers
Die Gefahr lauert überall: Dieser Umstand legitimiert
das Sammeln unzähliger Daten. Leben werden übersetzt
in die binäre Sprache des elektronischen Codes, Körper
durchleuchtet und entblösst.
Diese Transformation physischer Körper in Informationen,
virtuelle Bilder und Daten fügt sich nahtlos ein in
den Diskurs des Cyberwars, des Netzwerkkriegs. Die
RAND Corporation beschäftigt sich seit 9/11 damit, den
Netzkrieg zu visualisieren und konzeptualisiert damit
einen unkonventionellen Gegner, der sich modernster
Kommunikationsmittel bedient. Der Computer ist für
die Kriegsführung weiterhin überaus bestimmend –
wechselseitig bedingt durch die Technologie, die Anwendung
und die vorherrschenden Diskurse, von denen er geprägt ist
und die er prägt.
Computer sind heute, im Gegensatz zur Zeit des Kalten
Krieges, keine riesigen Ungetüme mehr. Sie sind handlich
geworden, wir tragen sie mit uns mit. Der Computer
(respektive das Mobiltelefon oder iPad) ist zu einer, nach
Adam Gopnik, internalisierten Erweiterung des Körpers
geworden. Gopnik beschreibt in seinem Essay «The
information. How the Internet Gets Inside Us» das typische
Subjekt im Zeitalter des Vernetztseins als «inverted self»:
«[...] things that were once external and subject to the social
rules of caution and embarrassment [...] are now easily
internalized, made to feel like mere workings of the id left
on its own.» (Gopnik 2011) Die virtuelle Welt führt in eine
endlose Schlaufe der Selbstreferentialität. Darin sehe ich
eine weitere Entsprechung zum «closed-self»-Diskurs.
Konklusion
Der US-amerikanische Historiker John W. Dower untersucht
in seiner umfassenden Studie Cultures of War. Pearl Harbor /
Hiroshima /9-11 / Iraq die Parallelen zwischen den genannten
historischen Stationen. Er kommt zu folgendem Schluss:
«Like Pearl Harbor, ‹Hiroshima› is code of a sort for placing
9-11 in historical perspective. Among Americans, both the
surprise attack of December 7, 1941, and the ensuing war’s
cataclysmic end with the birth of the nuclear age in August
1945 seemed to be compressed, merged, resurrected in the
hellire that raged in Manhattan and mesmerized the world.
Even the post-Cold War superpower was suddenly exposed
as being vulnerable to weapons of mass destruction – not
in the hands of another great power, but in the possession
of ragtag fanatics. The connection between September 11
and Hiroshima was locked in place when politicians and the
media almost immediately baptized the ravaged site of the
World Trade Center’s twin towers ‹Ground Zero›.» (2010:
S. 151–152)
Ich habe nachzuweisen versucht, dass die Epochen des
Kalten Krieges und des «War on Terror» nach 9/11, die
beide ihren Ursprung bei einem Ort namens «Ground Zero»
haben, mit einer gewissen Rechtmässigkeit vergleichbar
sind. Weil die Invasion Afghanistans und Iraks mit einem
Rückgriff auf die Rhetorik des Zweiten Weltkrieges
legitimiert worden war, und weil die Vergangenheit stets neu
gelesen und interpretiert wird. Nach dem Angriff auf das
World Trade Center ist der Blick zurück nach Hiroshima
und Nagasaki ein anderer.
12
Mein Hauptanliegen war es aber, über die Verbindung dieser
beiden Ären zu zeigen, dass der Diskurs einer «closed-world»,
der für die Zeit des Kalten Krieges seine Gültigkeit hatte
und als dessen soziotechnische Verkörperung der SAGE
interpretiert werden kann, seine Nachfolge im «closedself»-Diskurs gefunden hat. Der Flughafen-Checkpoint
und insbesondere das Scannen von Körpern produzieren
ikonische Bilder unserer Zeit, die den Schwerpunkt nicht auf
die Verteidigung des Staates, sondern auf Sicherheit und die
Überwachung einzelner, gefährlicher Körper legt. Wie keine
andere Technologie scheint der Flughafen-Checkpoint
für die Ängste und Sorgen in einer unsicheren Zeit der
Bedrohung durch den Terror eine technische Lösung zu
bieten. Darüber hinaus ist der Flughafen-Checkpoint aber
nicht bloss technisch-deterministisch zu deuten. Er steht,
wie gesagt, im Zentrum eines somatischen Raumes, eines
Diskurses des «closed-self», der die Kultur und Gesellschaft
nach 9/11 widerspiegelt. Es handelt sich um einen
Diskurs und eine Technologie, die zugleich symbolische
Zuschreibungen in sich aufnehmen und generieren, und die
kulturelle Bedeutung ausstossen wie absorbieren.
Bloodsworth-Lugo, Mary K./Lugo-Lugo, Carmen R.
2010: Containing (Un)American Bodies. Race, Sexuality
and Post-9/11 Constructions of Citizenship
De Goede, Marieke 2008: Beyond Risk: Premediation
and the Post-9/11 Security Imagination. In: Security
Dialogue 39/2-3 ( 2008), 155–176
Dower, John W. 2010: Cultures of War. Pearl Harbor /
Hiroshima / 9-11 / Iraq
Edwards, Paul N. 1996: The Closed World. Computers
and the Politics of Discourse in Cold War America
Gopnik, Adam 2011: The Information. How
the Internet Gets Inside Us. Im Internet unter:
http://www.newyorker.com/arts/critics/
atlarge/2011/02/14/110214crat_atlarge_gopnik?
currentPage=all (Stand vom 6.08.2011)
Lyon, David 2003: Surveillance after September 11
Parks, Lisa 2007: Points of Departure: The Culture of
US Airport Screening. In: Journal of Visual Culture 6/2
(2007), 183–200
Ray, Gene 2005: Terror and the Sublime in Art and
Critical Theory. From Auschwitz to Hiroshima to
September 11 and Beyond
Schlögel, Karl 2003: Im Raume lesen wir die Zeit. Über
Zivilisationsgeschichte und Geopolitik
Vowinckel, Annette 2011: Flugzeugentführungen. Eine
Kulturgeschichte
* Alain Gloor aus Basel hat an der Universität Zürich Populäre
Kulturen, Geschichte und Kunstgeschichte Studiert (Bachelor) studiert
und ist nun mit dem Masterstudiengang «Geschichte und Philosophie
des Wissens» an der ETH beschäftigt. Dieser Artikel beruht auf
einer Seminararbeit zum Thema.
expositionen
13
Parasiten im Paradies?
Freiwillige Arbeitslosigkeit und das bedingungslose Grundeinkommen
Elias Zimmermann *
S
tellen Sie sich vor, in einer Gesellschaft bekommt jeder denselben Betrag, welcher ihm die Grundlage
zu einem würdevollen Leben sichert. Ist es gerecht, dass der Eine weiterarbeitet und sich etwas dazu
verdient, zugleich jedoch den Lebensunterhalt des Anderen inanziert, der lieber den ganzen Tag seiner
Lieblingsbeschäftigung nachkommt? Eine Rechtfertigung.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen bedeutet, dass der
Staat einem jeden – unabhängig von seinem Vermögen oder
seiner Arbeitsstelle – ein Einkommen bezahlt. Es soll die
Gesellschaft von marktwirtschaftlichen Zwängen befreien
und mehr Freiraum für die Erfüllung persönlicher Projekte
und Lebensvorstellungen gewähren. Die Menschen
würden weiterhin einen Lohn für ihre Arbeit erhalten und
weiterhin grosse Anreize haben zu arbeiten. Die Sorge
um die Sicherung der eigenen Existenz wäre durch ein
Grundeinkommen getilgt.
«Harte und unangenehme Arbeit
muss höher entlohnt werden, weil
die Bereitschaft sinkt, solche Arbeit
zu einem kleinen Lohn zu verrichten.»
Das Grundeinkommen im Diskurs
Was derart utopisch und schwer umsetzbar klingt, ist
längst ein heiss diskutiertes Politikum, für das sich nicht
nur Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften,
sondern auch die politische Philosophie interessiert.
Einer der massgeblichen Vordenker und Verteidiger des
bedingungslosen Grundeinkommens (englisch: basic
income) ist der holländische Philosoph Philippe Van Parijs.
Die Vorteile, welche er und seine Mitstreiter immer wieder
hervorheben, sind mannigfaltig (Van Parijs 2000): Die
Abkopplung der Finanzierung eines würdigen Lebens vom
wirtschaftlichen Druck soll sicherstellen, dass unwürdige
Arbeitsbedingungen von den sozial Benachteiligten nicht
mehr in Kauf genommen werden müssen. Harte und
unangenehme Arbeit muss höher entlohnt werden, weil
die Bereitschaft sinkt, solche Arbeit zu einem kleinen Lohn
zu verrichten, der den Betrag des Grundeinkommens
nur unwesentlich erhöht. Damit wird der inanzielle und
soziale Status von ungelernten Arbeitskräften verbessert,
aber auch der Status von denjenigen, die von Geldern des
Staates leben müssen, würde sich verändern. Während
der Gang zum Sozial- oder Arbeitsamt heute oft als
entwürdigend wahrgenommen wird, braucht sich mit dem
Grundeinkommen niemand mehr für seine Arbeitslosigkeit
zu rechtfertigen – dem Teufelskreis der Verschuldung
wird ebenso entgegengetreten wie dem Problem der
sozialen Isolation und Ausgrenzung. Schliesslich soll ein
Grundeinkommen den gesellschaftlichen Wert von Arbeit
verändern: Wer es vorzieht, einer wenig lukrativen, dafür
kreativen oder gemeinnützigen Arbeit nachzukommen,
erhält dazu die Möglichkeit, ohne wirtschaftlichem
Druck ausgesetzt zu sein. Dass zu viele Menschen gar
nicht mehr arbeiten würden, wird von Vertretern des
Grundeinkommens zurückgewiesen. In Umfragen geben
neunzig Prozent der Befragten an, dass sie weiterhin
einer Arbeit nachgehen würden – obschon sie davon
überzeugt sind, dass der grösste Teil der Bevölkerung zu
‹Schmarotzern› würde (Fritz 2009). Das Auseinanderdriften
von Fremd- und Eigenwahrnehmung spricht wohl für die
Befürworter.
Dagegen gibt es eine Vielzahl ernstzunehmender
Einwände gegen das Grundeinkommen oder zumindest
seine Bedingungslosigkeit. Auf die andernorts breit
diskutierten praktisch-wirtschaftlichen Probleme, wie die
störende Wirkung des Binnenhandels sowie der Teuerung
und der Regelung des Grundeinkommens im Falle
starker Immigration, soll hier nicht eingegangen werden.
Dringlicher aus philosophischer Sicht ist nicht die Frage
nach der Machbarkeit, sondern die Frage nach der ethischen
Rechtfertigung. Eine Diskussion dreht sich dabei um das
Problem der Arbeitsunwilligen: Ist die bedingungslose
Unterstützung auch dann noch gerecht, wenn sie Menschen
zu gute kommt, die nicht arbeiten wollen, obschon sie
arbeiten könnten? Sind sie – wie einst ein amerikanischer
Senator Hippies genannt hat, die vom Sozialstaat leben –
«parasites in paradise»?
Das Surfer-Problem
In seinem Aufsatz «Why Surfers Should be Fed» (Van Parijs
1991) plädiert Philippe Van Parijs für die bedingungslose
Unterstützung von ‹Arbeitsunwilligen›, seien es nun ‹welfare
Hippies› oder Surfer an der Küste von Malibu. Letzteres
Beispiel entspringt der Feder des grossen politischen
14
Philosophen John Rawls, der sich, unabhängig von der gerecht verteilt sein. Wollen nicht alle das ihnen zustehende
Grundeinkommensdiskussion, dezidiert dagegen ausspricht, Land selber beplanzen, so dürfen sie das Anrecht daran
auch Arbeitsunwillige in den vollen Genuss staatlicher anderen ‹vermieten›. Da die Agrikultur heute eine geringe
Unterstützung kommen zu lassen (Rawls 1988). Van Parijs, Rolle in der Generierung des Lebensunterhalts in der
im weitesten Sinne ein Rawlsianer, verwendet Rawls‘ eigene westlichen Welt spielt, schlägt Van Parijs stattdessen vor,
Theorie gegen dessen Argumentation. Er will zeigen, dass das Recht auf eine Arbeitsstelle als gerecht zu verteilende
Rawls‘ Gerechtigkeitsbegriff auch die Unterstützung des Ressource zu betrachten.
‹Surfers› durch ein Grundeinkommen unterstützt.
In einer Gesellschaft herrscht also laut Van Parijs nicht die
Eine kurze, unvollständige Einführung in Rawls‘ Plicht zu arbeiten, um im Gegenzug vom Staat im Falle
Konzeption einer gerechten Gesellschaft ist unentbehrlich, von Arbeitslosigkeit unterstützt zu werden. Umgekehrt: Es
um dem Disput der beiden Denker folgen zu können. herrscht ein Recht auf Arbeit und wer von diesem keinen
Rawls‘
kontraktualistische
Gebrauch machen will, kann es
Position (von Kontrakt =
anderen abtreten, wofür er durch
«Es herrscht ein Recht auf Arbeit
[Gesellschafts-]Vertrag) basiert
die Gemeinschaft ausgezahlt
und wer von diesem keinen Geauf der Vorstellung, dass soziale
wird. Dieser Auffassung liegt
brauch machen will, kann es anderen
Gerechtigkeit eine Form von
der Gedanke zugrunde, dass in
vermieten.»
Fairness ist (Rawls 1999 [erstv.
einer Dienstleistungsgesellschaft,
1970]). Auf diese könnten
in der durch die steigende
sich alle Teilnehmer einer Gesellschaft einigen, wenn Technologisierung immer weniger Arbeit vorhanden
sie die Gestaltung aller sozialen Institutionen aus einer ist, der Arbeitsmarkt nicht mehr fähig ist, ein natürliches
hypothetischen ‹blinden› Situation heraus bestimmen Gleichgewicht zu erlangen. Das Grundeinkommen
würden, in der sie nicht wissen, welche Position sie in der will diesem gestörten Gleichgewicht nicht durch die
Gesellschaft einnehmen würden. Eines der Prinzipien, auf (künstliche) Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern durch
die sich laut Rawls alle einigen würden, ist der Gedanke, dass die Vermietung von Arbeitsstellen entgegentreten. Der
den Wenigst-Bevorteilten die grösstmögliche Unterstützung Malibu Surfer wäre darin gerechtfertigt, nicht zu arbeiten.
zukommen muss (das difference-principle). Am wenigsten Er verzichtet freiwillig auf eine gemeine Ressource, einen
bevorteilt sind diejenigen, die über den kleinsten Anteil der Arbeitsplatz, die ihm als Mitglied der Gesellschaft zustehen
lebenswichtigen Güter einer Gesellschaft (‹primary goods›) würde. Er verzichtet auf ein weitaus luxuriöseres Leben
verfügen.
zugunsten grösstmöglicher Freiheit und macht Platz für all
Auf den ersten Blick scheint das difference principle Rawls’ diejenigen, die arbeiten wollen.
den Gedanken eines bedingungslosen Grundeinkommens
zu unterstützen: Die meisten Arbeitsunwilligen gehören Ethische Einwände gegen Van Parijs
denjenigen an, die über die wenigsten primären Güter Van Parijs scheint es zwar zu gelingen, Rawls‘ Bedenken
verfügen – der Wille, diese zu Erlangen, ist in seinem Modell einer wirtschaftlichen Ungerechtigkeit des Surfer-Problems
keine Grundbedingung, um sie in ihren Genuss kommen zurückzuweisen. Der amerikanische Philosoph Eugene
zu lassen. In einem Aufsatz von 1988 überarbeitet Rawls V. Torisky (Torisky 1993) weist diese Argumentation
jedoch seine Konzeption der ‹primary goods› dahingehend, jedoch zurück, indem er das Surfer-Problem nicht als
dass auch Freizeit zu ihnen zu zählen ist (Rawls 1988). Wer Frage der gerechten Verteilung, sondern der ethischen
also, wie ‹die Surfer›, freiwillig auf Arbeit verzichtet, um den Schädlichkeit verortet: Die tieferliegende Ungerechtigkeit
ganzen Tag seiner Freizeitbeschäftigng nachzukommen, eines parasitären Verhaltens, das gegen unser intuitives
besitzt unverhältnismässig viel von einem bestimmten Gerechtigkeitsverständnis verstösst, stehe im Zentrum.
primären Gut und fällt somit nicht unter die Kategorie der Unabhängig davon, wie die Verteilung des Grundeinkommens
Wenigst-Bevorteilten. Die Surfer von Malibu gehen leer aus. begründet werde, verhalte sich der Surfer so, dass er
seinen Plichten als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft
Employment Rents
nicht nachkomme. Damit untergrabe er nicht nur einen
Van Parijs argumentiert gegen diese Auffassung von hypothetischen Gesellschaftsvertrag, sondern auch den
primären Gütern. Ein Wille zur Arbeit sei kaum objektiv eigenen Selbstrespekt. Die Verweigerung zu arbeiten
in ein System der Güter(um)verteilung zu integrieren. widerspreche dem liberalen und sozialen Prinzip, aufgrund
Ab wann ist jemand arbeitsunwillig und wie soll das dessen die Verweigerung erst möglich gemacht werde. Es
gemessen werden? Anstatt Rawls‘ Ansatz einer schwer mit sei gewissermassen ein unsolidarisches Ausnützen der aus
anderen Gütern aufwiegbaren Ressource (wieviel Wert hat Solidarität angebotenen Freiheit. Zugleich entmündige ein
Zeit?), schlägt er eine gerechte Verteilung von externen Grundeinkommens-Staat seine Mitglieder, indem es ihnen
Ressourcen vor. Er greift damit einen Gedanke von Roland die Verantwortung für ihren Lebensunterhalt wegnimmt.
Dworkin auf (Dworkin 1981): In einer Gesellschaft gibt es Dieses Problem könne nur gelöst werden, indem zum
Gemeingüter (‹commons›), wie das Land, aus dem wir unsere Beispiel mit Hilfe von gemeinnütziger Arbeit der Status
Lebensgrundlage schöpfen (Agrikultur), und diese müssen des Surfers als gerechtfertigtes Mitglied der Gesellschaft
expositionen
15
wiederhergestellt wird. Das Grundeinkommen wäre nicht
länger bedingungslos.
Toriskys Kritik gipfelt in der Unterstellung, dass dem
Arbeitsunwilligen ermöglicht werde, ein invasives Verhalten
zu zeigen: Er schränke die Freiheit anderer zugunsten der
eigenen Freiheit ein, indem er auf etwas verzichtet, was
andere in Kauf nehmen müssen, um ihn zu unterstützen.
Torisky vergleicht den Surfer mit einem Sektenguru, der
seine Anhänger zum eigenen Wohl missbraucht.
Im Folgenden werden Toriskys Vorwürfe mit einem
Argumentarium zurückgewiesen, das nicht auf der
Tradition von Rawls‘ Gerechtigkeitsbegriff aufbaut,
sondern dafür plädiert, den Wert der Freiheit und der
sorgenfreien Existenz zu überdenken. Berechtigt sind
Toriskys Vorwürfe insbesondere, weil sie zwei ‹common
senses› (weit verbreitete, intuitiven Annahmen) zu
entspringen scheinen. Der erste common sense besagt, dass
die externe Übernahme von gewissen Verantwortungen zu
einer schlechten Form von Entmündigung führen kann.
Der zweite besagt, dass Leistung ohne Gegenleistung
in einer Gesellschaft nicht akzeptiert werden kann. Die
abschliessenden Überlegungen hinterfragen, ob diese
Annahmen im Falle des Grundeinkommens zutreffen, und
falls ja, ob sie zu relativieren oder gar zurückzuweisen sind.
respektiert und gefördert wird. Diese Entfaltung bringt im
Gegenzug der Gesellschaft einen beträchtlichen Nutzen,
weil durch sie gratis wertvolle soziale Strukturen aufgebaut
werden können, seien dies nun Lesezirkel, Kunstkollektive
jenseits des Kunstmarktes oder alternative Kinder-, Altenund Behindertenbetreungsmodelle.
Der Arbeitsunwillige ‹verlernt› nicht, die Verantwortung
für seine Existenzgrundlage zu tragen: Die vollumfängliche
Verantwortung hat er bereits ohne Grundeinkommen nie
tragen können (es sei denn, sein Leben wäre völlig autark
auf Selbstversorgung ausgerichtet gewesen). Der Verzicht
auf Arbeit geht auch mit dem Grundeinkommen mit
Einschränkungen in der Lebensführung einher, die in Kauf
zu nehmen für die meisten unangenehmer sind, als eine
einfache Arbeit anzunehmen, für die es nicht viel ‹Erlerntes›
bedarf.
Invasivität und der Wert der sorgenfreien Existenz
Invasivität, als parasitäres Verhalten, das andere einschränkt,
ist in unserer Gesellschaft nicht nur weit verbreitet, sondern
wird auch weitgehend akzeptiert. Betrachten wir das
Verhalten eines Grossaktionärs, der seinen Lebensunterhalt
(und wohl weit mehr als das) durch die grösstmögliche
Rendite seiner Anlagen erzielt. Einen grösstmöglichen
Gewinn erhält er etwa durch Senkungen der Löhne
Entmündigung und der Wert der Freiheit
und durch Verschärfung der Arbeitsbedingungen derer,
Unser Begriff der gefährlichen
die durch die wirtschaftlichen
Entmündigung entspringt dem
Umstände dazu gezwungen sind,
«Die Verantwortung für eine würdige in ‹seiner› Firma zu arbeiten.
Gedanken, dass Hilfe dann
Existenzgrundlage ist schon heute
schädlich sein kann, wenn
Zwar wird diese Form der
sie zur Unfähigkeit führt, das
Invasivität in ihren schlimmsten
eine gesellschaftliche.»
selber zu tun, was der Helfende
Auswüchsen durch das Gesetz
für uns tut – in diesem Fall
eingegrenzt – es gibt jedoch
die Verantwortung für eine
keinen breit abgestützten Willen,
sorgenfreie Existenzgrundlage zu tragen. Doch lastet diese Invasivität durch Besitzverhältnisse zu unterbinden.
Verantwortung tatsächlich auf uns? Ist es nicht vielmehr so, In einer Grundeinkommens-Gesellschaft wird dieser
dass wir bereits heute in einem komplexen Wirtschaftssystem Mechanismus einfacher zu bekämpfen sein, aber nicht
leben, indem niemand diese Verantwortung für sich selber gänzlich verschwinden, denn sie ist grundsätzlich mit einem
tragen kann, weil er als Arbeitnehmer die Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftssystem vereinbar.
zur Gewinnung seines Lebensunterhaltes nur sehr bedingt Die Investition von Besitz selber als ‹Leistung› zu
zu steuern fähig ist? Die Verantwortung für eine würdige betrachten, welche als ‹Gegenleistung› verschlechterte
Existenzgrundlage ist schon heute eine gesellschaftliche. Arbeitsbedingungen nach sich ziehen darf, ist fragwürdig.
Der Schweizer Bauer, dessen Lebensunterhalt erst Im Gegenteil: Die gesteigerte Leistung der Arbeitsnehmer
durch Subventionen ermöglicht wird, fühlt sich nicht wird durch den Aktionär nicht mit einer entsprechenden
durch die Subventionen, sondern vielmehr durch die Gegenleistung belohnt. Das enttarnt die Anwendung des
daran geknüpften Bedingungen bevormundet. Um eine eingangs erwähnten common sense (‹keine Leistung ohne
gefährliche Entmündigung handelt es sich dabei kaum, Gegenleistung›) als heuchlerisch und allzu vereinfachend.
hilft sie ihm doch dabei, das zu tun, was er und die Zur Gewährleistung eines bedingungslosen GrundeinGesellschaft für notwendig halten. Die Verteilung eines kommens müssen Arbeitende den wirtschaftlichen Druck
Grundeinkommens setzt den radikaleren kollektiven Willen des Arbeitsmarktes auf sich nehmen und ermöglichen
voraus, die maximal mögliche Freiheit jedes Einzelnen als dadurch anderen, die nicht bereit sind zu arbeiten, diesem
notwendig zu erachten. Es handelt sich dabei also primär Druck zu entgehen. Zwar wird durch das Grundeinkommen
nicht um Entmündigung, sondern um Ermächtigung. Hat der wirtschaftliche Druck auf den Arbeitnehmer
eine Gesellschaft den erwähnten Willen, so kann man kaum verkleinert, völlig verschwinden wird er jedoch nicht. Der
mehr von einer Untergrabung des Selbstrespektes sprechen, Arbeitsunwillige lebt, wie der Aktionär, von der Arbeit
weil auch die persönliche Entfaltung jenseits der Arbeitswelt anderer. Im Gegensatz zum Aktionär hat er kein Geld
16
investiert, das seine Existenzsicherung marktwirtschaftlich
rechtfertigen würde. Sein Wert im sozialen System entspringt
lediglich seiner Existenz als Mensch. So, wie der Wille
vorhanden sein muss, den Wert der persönlichen Freiheit
neu zu gewichten, so verlangt das Grundeinkommen auch
eine höhere Bewertung des sorgenfreien Lebens seiner
Mitglieder: Die eigene Existenz ist das ‹Kapital›, das jeden
zum Grundeinkommen – und damit zur Sorgenfreiheit
bezüglich der Lebenserhaltung – bemächtigt.
Ein funktionierendes Grundeinkommens-System proitiert
«Im Idealfall proitieren also alle von
den ‚Parasiten im Paradies‘, denn
sie leisten etwas, indem sie nichts
leisten.»
davon, wenn Menschen freiwillig auf Arbeit verzichten, weil
so der Arbeitsmarkt zugunsten der Arbeitnehmer gestaltet
wird. Im Idealfall proitieren also alle von den ‹Parasiten im
Paradies›, denn sie leisten etwas, indem sie nichts leisten.
Funktioniert das Grundeinkommens-System jedoch nicht
reibungslos, so wird es durch Arbeitsunwillige belastet –
dies muss die Grundeinkommens-Gesellschaft in Kauf
nehmen, will sie den skizzierten ethischen Richtlinien folgen.
Ich argumentiere hier dafür, dass der Surfer durch sein
Verhalten zwar gerechtfertigte moralische Kritik verdienen
mag – nämlich dann, wenn er das System mehr belastet,
als ihm nützt –, dies jedoch kein Grund ist, die Freiheit im
System, welches sein Verhalten ermöglicht, einzuschränken.
Invasivität als solche ist ethisch nicht rechtfertigbar, bleibt
aber unvermeidbar in einem gerechten System, wenn, wie
hier, die ethischen Werte, die sie zulassen, ihre Schädlichkeit
überwiegen.
Das Diktum der ‹Parasiten im Paradies› wirft eine Frage
auf, die über die Probleme des Grundeinkommens hinaus
verweist: Wenn es denn tatsächlich möglich wäre, so etwas
wie ein Paradies auf Erden zu schaffen – und so hoch ist
das Ziel des Grundeinkommens bei weitem nicht gesetzt –,
wer hätte dann die Berechtigung, in ihm zu leben? Die hier
untersuchten ethischen Werte legen nahe, dass es auch für
vermeintliche ‹Parasiten› Platz geben muss.
Dworkin, Ronald 1981: What Is Equality? Part 2:
Equality of Resources. In: Philosophy & Public Affairs
11/4. 283-345.
Fritz, Bianca 2009: Ein Grundeinkommen für alle.
Im Internet unter: http://www.badische-zeitung.de/
basel/ein-grundeinkommen-fuer-alle.html. (Stand vom
21.10.2011).
Rawls, John 1999 [Erstausgabe 1970]: A Theory of
Justice. Revised Edition.
Rawls, John 1988: The Priority of Right and Ideas of the
Good. In: Philosophy & Public Affairs 17/4. 251-276.
Torisky, Eugene V. 1993: Van Parijs, Rawls and
Unconditional Basic Income. In: Analysis 53/4. 289-297.
Van Parijs, Philippe 1991: Why Surfers Should be Fed:
The Liberal Case for an Unconditional Basic Income. In:
Philosophy & Public Affairs 20/2. 101-131.
Van Parijs, Philippe 2000: Basic Income: A Simple
and Powerful Idea for the 21st Century. Basic Income
European Network VIIIth International Congress,
Berlin, 6-7 October 2000. Im Internet unter: http://
www.basicincome.org/bien/pdf/2000VanParijs.pdf.
(Stand vom 21.10.2011).
* Elias Zimmermann studiert im 10. Semester Germanistik und
Philosophie. Die vorliegende Arbeit aus dem Bereich der Ethik und der
politischen Philosophie entspringt seiner abschliessenden Projektarbeit.
expositionen
17
Verordnete Mentalität der Härte
Die neoliberale Praxis der Härtefall-Regelung für Sans-Papiers
D
Elango Kanakasundaram *
ie über 100 000 Sans-Papiers in der Schweiz arbeiten grösstenteils unter prekären Bedingungen, da sie aufgrund der ständigen Angst, von den Behörden
entdeckt zu werden, kaum ihre Rechte beanspruchen können. Die HärtefallRegelung stellt für sie die einzige Möglichkeit dar, sich aus ihrer Situation der
Entrechtung und Marginalisierung zu befreien, da durch diese ihr Aufenthaltsstatus legalisiert werden kann. Im Folgenden wird im Anschluss an Foucaults
Gouvernementalitäts-Begriff und darauf aufbauende Arbeiten gezeigt, dass
die Härtefall-Regelung Bestandteil der in der Schweiz herrschenden neoliberalen
Praxis ist, und sie infolgedessen äusserst restriktiv ausgeübt wird.
Neoliberalismus: künstlich arrangierte Freiheit nach
ökonomischer Maxime
Der «Neoliberalismus» ist ein politisches Projekt, das darauf
abzielt, «eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits
existierend voraussetzt» (Bröckling et al. 2000: 9). Diese soziale
Realität würde entgegen der Programmatik des neoliberalen
Projekts nicht das Ende des Staates bedeuten, sondern eine
Transformation in einen neoliberalen Staat. Ein solcher
Staat ist dem Prinzip des Marktes unterstellt.
Der neoliberale Staat arbeitet mit Möglichkeitsfeldern: Mit
unterschiedlichen Massnahmen schafft er Bedingungen,
unter denen die Subjekte frei sein können, er produziert
die Freiheit. Die Produktion der Freiheit gelingt durch die
«Führung». Einerseits geschieht die «Führung» mit Hilfe
von Herrschaftstechnologien, die die Subjekte im Sinne
der Herrschaftszwecke lenkt, andererseits mit Hilfe von
Selbsttechnologien. Selbsttechnologien sind Selbstentwürfe,
die der neoliberale Staat den Subjekten vorgibt. Der
neoliberale Selbstentwurf zeichnet sich durch Flexibilität,
Mobilität, Dynamik, Initiative und Anpassungsfähigkeit
aus. Schlagwörter wie Selbstbestimmung, Verantwortung
oder Wahlfreiheit sind im neoliberalen Projekt Instrumente,
um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst zu verändern.
Durch den Abbau des Wohlfahrtstaates wird die Schaffung
eines neoliberalen Subjekttyps gefördert. So werden
die Aufgaben des Staates an das «verantwortliche»,
«umsichtige» und rationale Subjekt delegiert. Risiken wie
Krankheit oder Arbeitslosigkeit werden auf das Subjekt
übertragen. Das entworfene Subjekt verfügt über eine
Moral, deren Qualität über die Fähigkeit bestimmt wird,
Kosten/Nutzen-Kalkulationen von Handlungsalternativen
vorzunehmen. Selbstverantwortlich handelnde Subjekte
sind weitaus ökonomischer als solche, welche mit
Herrschaftstechnologien gelenkt werden müssen. Dabei
wird die Eigenschaft der Selbstverantwortlichkeit an
betriebswirtschaftlichen Efizienzkriterien gemessen. Das
Subjekt indet sich folglich in einer «künstlich arrangierten
Freiheit» wieder, in der vorwiegend das unternehmerische
Verhalten des ökonomisch-rationalen Individuums
gefördert wird. Im folgenden Kapitel wird aufgezeigt, dass
der neoliberale Subjektentwurf auch bei MigrantInnen
seine Anwendung indet.
Migration als rationaler Entscheid
In einer neoliberalen Denkweise erlangt die Migration eine
scheinbare Natürlichkeit; dass oftmals Assoziationen zu
Wasser hergestellt werden und von «Migrationsströmen»
oder «Migrationslut» gesprochen wird, ist nur ein Beispiel
«Das Subjekt indet sich in einer
‹künstlich arrangierten Freiheit› wieder, in der vorwiegend das unternehmerische Verhalten des ökonomischrationalen Individuums gefördert
wird.»
dafür. Migration basiert dabei auf einem rationalen Akteur,
dem Homo Oeconomicus, dessen Handlungen von
Eigeninteresse und Restriktionen bestimmt werden. Das
Ziel dabei ist die Maximierung der eigenen Interessen.
Aus neoliberaler Sicht ist Migration ein «natürlicher»
Vorgang, der als rationale, nutzenmaximierende Handlung
beschrieben wird. In diesem Licht wird die Migration zu
einer wirtschaftlichen Tätigkeit, nämlich zu einer Investition:
Ein Auswanderer versucht, gleich einem Unternehmer, zu
agieren, indem er in sich selbst investiert, um seinen Gewinn
zu maximieren – ein Selbst-Unternehmen. Als Investitionen
können dabei die Aneignung von Sprachen oder die
18
Erschliessung neuer ökonomischer Möglichkeiten gelten.
MigrantInnen werden durch das neoliberale Regieren als
wirtschaftliche Akteure subjektiviert und erhalten ein neues
Antlitz als Humankapital.
Die Überlegung, dass die Entscheide des Akteurs auf
rationalen Handlungsoptionen gründen, ist massgebend
für die Lenkung der Migration – es wird versucht, diese
Optionen zu beeinlussen. Um die ökonomische Färbung
dieser Sichtweise zu verdeutlichen, wird im Folgenden
mit «Management» ein Begriff verwendet, der aus dem
ökonomischen Bereich stammt.
Standort befördern wollen. Migration ist zwar aus
neoliberaler Sicht eine rationale, weil auf wirtschaftlichen
Argumenten basierende Entscheidung, verliert aber an
Rationalität, wenn trotz gescheiterter Migration (Ablehnung
des Asyl- bzw. Arbeitgesuches) an diesem Entscheid
festgehalten wird. Personen, die sich nicht nach dem
rationalen Handlungsentwurf der Behörden richten, handeln
irrational. Es wird durch die Rückkehrberatungsstruktur und
durch die Wegweisungsverfügung Wert darauf gelegt, dass
die Betroffenen vollständig informiert werden. Der Glaube,
welcher dahinter steckt, ist der, dass die Auszuschaffenden
sich in Besitz des Wissens aller Handlungsalternativen
für die freiwillige Rückkehr entscheiden. Der Begriff der
«Rückführung» verdeutlicht dabei, dass der Lenkungsaspekt
hervorgehoben wird.
Migrationsmanagement am Beispiel von Ausschaffung
Aufgrund arbeitsmarktlicher, kultureller und sozialer
Bedenken auf der einen Seite und dem Bedarf an
ausländischen Arbeitskräften auf der anderen, versucht das
Migrationsmanagement die «Migrationsströme» zu lenken.
Härtefall-Regelung
Als Beispiel für das neoliberale Migrationsmanagement Ausschaffung ist nicht zwangsläuig der Endpunkt jeder
soll an dieser Stelle die Ausschaffungspraxis der Schweiz «irregulären Migration». Die Härtefall-Regelung gibt
thematisiert werden: Falls Sans-Papiers das Land nicht den kantonalen Migrationsämtern und dem BFM die
freiwillig verlassen, droht ihnen die Zwangsausschaffung. Möglichkeit, AusländerInnen bzw. Asylsuchenden eine
Insgesamt gibt es vier Levels an Zwangsausschaffungen, von Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, obwohl diese die
denen momentan drei effektiv zum Einsatz kommen. Die Kriterien der Zulassung zum schweizerischen Arbeitsmarkt
Person wird zunächst durch
bzw.
des
Asylverfahrens
die Polizei zum Linienlug
nicht erfüllen. Sie können als
begleitet. Die Ausschaffung
schwerwiegende
Härtefälle
«Die Überlegung, dass die Entscheiindet ohne Fesselung und
eingestuft werden. Besonders
de des Akteurs auf rationalen Handpolizeiliche Begleitung statt
schwerwiegend ist der Härtefall
lungsoptionen gründen, ist massge(Level 1). Falls sich die Person
für Sans-Papiers, wenn ihre
bend für die neoliberale Lenkung der
weigert,
die
«Rückreise»
Integration in der Schweiz
Migration
–
es
wird
versucht,
diese
anzutreten, wird sie im nächsten
weit vorangeschritten ist.
Optionen zu beeinlussen.»
Ausschaffungsversuch gefesselt
(Abgewiesene) Asylsuchende
und via Linienlug in der
müssen sich zusätzlich seit der
Begleitung zweier Polizisten zurückgeführt (Level 2). Der Einreichung des Asylgesuches mindestens fünf Jahre in der
dritten und letzten Zwangsausschaffung per Sonderlug und Schweiz aufgehalten haben. Zudem muss der Aufenthaltsort
mit Ganzkörper-Fesselung können sich die Betroffenen der betroffenen Person den Behörden jederzeit bekannt
nicht mehr entziehen (Level 4).
gewesen sein. Des Weiteren gibt es für alle Sans-Papiers
Die abgestufte Ausschaffung auf verschiedenen Levels folgende Bedingungen: 1. Respektierung der Rechtsordnung
(1, 2 und 4) wird folgendermassen begründet: Für das durch die Gesuchstellerin oder den Gesuchsteller, 2. die
Bundesamt für Migration (BFM) bzw. für die kantonalen Familienverhältnisse, insbesondere der Zeitpunkt der
Migrationsämter ist es kostengünstiger, wenn die Einschulung und die Dauer des Schulbesuchs der Kinder, 3.
Auszuschaffenden «freiwillig» das Land verlassen. Es die inanziellen Verhältnisse sowie der Wille zur Teilhabe am
handelt sich dabei um eine bedingte Freiwilligkeit, denn Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung, 4. die Dauer
der zwangsweise Vollzug der Ausschaffung mit Sonderlug der Anwesenheit in der Schweiz, 5. der Gesundheitszustand
(Level 4) schwebt wie ein Damoklesschwert über dem ganzen und 6. die Möglichkeiten für eine Wiedereingliederung im
Ausschaffungsverfahren und fördert eine vorhergehende Herkunftsstaat. Diese sechs Bedingungen sind nur auf
«freiwillige» Rückkehr. Der Handlungsspielraum der Verordnungsebene festgeschrieben und können von den
Betroffenen wird mit diversen Massnahmen (u.a. kantonalen Migrationsämtern unterschiedlich interpretiert
Ausschaffungshaft) so gestaltet, dass es für die Behörden bzw. gewichtet werden. Das kantonale Migrationsamt
auf die kostengünstigste Handlungsalternative hinausläuft.
prüft die Härtefall-Gesuche als erste Instanz – es ist jedoch
Die Behörden verwenden den Begriff der «Rückführung», nicht dazu verplichtet. Sowie im AusländerInnen- als auch
obwohl selbst im Ausländergesetz von «Ausschaffung» im Asylgesetz ist die Härtefall-Regelung bloss als «Kanndie Rede ist. Der erste Begriff betont jedoch den Zielort Bestimmung» aufgeführt. Falls das kantonale Migrationsamt
beziehungsweise das Heimatland des Auszuschaffenden nicht auf das Gesuch eintritt bzw. dieses negativ
und beinhaltet damit die Bedeutung, dass die Behörden mit beantwortet, kann die betroffene Person keinen Rekurs
der Rückführung eine «Sache» wieder an ihren eigentlichen einlegen. Wird das Gesuch vom Kanton angenommen,
expositionen
19
wird es an die nächste Instanz, das Bundesamt für Migration
weitergeleitet. Der zweitinstanzliche Entscheid kann
rekurriert werden. Oftmals scheitert das Härtefall-Gesuch
erstinstanzlich. Um die Praxis bzw. die Denkweise hinter
dieser restriktiven Praxis zu erforschen, wurden im Rahmen
der hier präsentierten Arbeit Interviews unter anderem mit
Verantwortlichen in den Migrationsbehörden geführt und
Antworten auf Gesuche ausgewertet. Ein Teil der Resultate
sind im folgenden Kapitel zu inden.
in der Schweiz immer noch in einem liessenden Zustand
beziehungsweise in Bewegung beinden, können diese
umgelenkt werden, ohne dass ihnen dabei besondere Härte
widerfahre. Die Behörden betonen fast durchgehend die
noch existierende Verbindung zur Quelle des Flusses, indem
sie auf verwandtschaftliche Beziehungen im Herkunftsland
hinweisen.
Ein weiterer Bestandteil der Begründung des abgewiesenen
Härtefall-Gesuchs sind die bereits geschöpften Renditen,
die durch die Investition der Migration erzielt wurden, wie
Verordnete Mentalität der Härte
zum Beispiel Deutschkenntnisse, beruliche Fähigkeiten
Der Kanton hat eine ähnliche Funktionsweise wie ein und Erfahrungen. Diese haben positive Auswirkungen
Unternehmen und versucht anfallende Kosten bestmöglich auf die Wiedereingliederung im Herkunftsland. Für eine
zu minimieren. Diese betriebswirtschaftliche Rationalität solche Wiedereingliederung sprechen auch die Nachweise,
lässt sich in der Praxis der Härtefall-Regelung wiederinden. die den betroffenen Personen eine sehr gute Integration
Das Härtefall-Verfahren führt vor allem dann zu einer attestieren. Diese werden von den Verantwortlichen der
Regularisierung der betroffenen Person, wenn die Migrationsbehörden nämlich umgedeutet und umgekehrt
Verantwortlichen der Migrationsbehörden überzeugt werden, angewendet zur Feststellung, dass sich die betroffenen
dass es sich bei GesuchstellerInnen um selbstverantwortliche Personen mit den nachgewiesenen Integrationsfähigkeiten
Personen handelt. Selbstverantwortung bedeutet beim problemlos im Herkunftsland reintegrieren können. Das
Migrationsdienst des Kantons Bern in erster Linie, Bild, welches in der Praxis der Härtefall-Regelung der
inanziell unabhängig für den Lebensunterhalt aufkommen Assoziation mit liessendem Wasser entgegengestellt wird,
zu können. Diese inanzielle
ist das des Baumes, der in der
Unabhängigkeit nachzuweisen,
Schweiz Wurzeln geschlagen
ist für Asylsuchende jedoch ein
hat. Häuig wird der negative
«Der zwangsweise Vollzug der
schwieriges Unterfangen, da das
Entscheid
im
HärtefallAusschaffung mit Sonderlug und
Prinzip des Inländervorrangs
Verfahren durch die fehlende
Ganzkörperfesselung schwebt wie
zur Anwendung kommt. Das
Verwurzelung begründet.
ein Damoklesschwert über dem
heisst, die ArbeitgeberInnen
Das neoliberale Regieren
ganzen Ausschaffungsverfahren und
können nur Asylsuchende
basiert einerseits auf dem
fördert
eine
vorhergehende
‹freiwillieinstellen, falls sie keine
Kosten/Nutzen-K alkül,
ge› Rückkehr.»
einheimischen Arbeitskräfte
andererseits gibt es unter
(inklusive Personen mit B
anderem in den HärtefallBewilligung und solche aus
Entscheiden den MigrantInnen
dem EU/EFTA-Raum) für die entsprechende Arbeitsstelle den Entwurf eines neoliberalen Subjektes vor, nach dem
inden. Fast ein Ding der Unmöglichkeit ist es für sie ihr Verhalten ausrichten sollen. Das neoliberale Projekt
abgewiesene Asylsuchende den Nachweis der inanziellen zielt darauf ab, «eine soziale Realität herzustellen, die es
Unabhängigkeit zu erbringen, wenn sie einem Arbeitsverbot zugleich als bereits existierend voraussetzt» (Bröckling et
unterliegen.
al. 2000: 9). Dabei wird verdeckt, welche Härte es für die
Zur Legitimierung der restriktiven Handhabung der betroffenen Personen wirklich darstellt, wenn sie die in
Härtefall-Regelung bei (abgewiesenen) Asylsuchenden der Schweiz aufgebaute Existenz aufgeben müssen, kaum
dient der oben beschriebene neoliberale Diskurs, gemäss Reintegrationschancen im Herkunftsland haben oder sich
dem die Migration eine rationale Handlung ist. Diese dort sogar in Bedrohungssituationen wiederinden.
Sichtweise reduziert die Komplexität in der Beschreibung Auch den Sans-Papiers, die nicht über den Asylweg in
des Migrationsphänomens auf eine einzige Deutung die Schweiz gekommen sind, den Behörden also nicht
und unterstellt den (abgewiesenen) Asylsuchenden zur bekannt sind, werden unüberwindbare Hürden aufgestellt.
gleichen Zeit, dass sie nicht vor einer Verfolgung oder einer Einerseits stellen sie aufgrund der restriktiven Handhabung
anderen Bedrohungslage gelüchtet sind. Ein negativer der Härtefall-Regelung kaum Gesuche, da das Risiko hoch
Härtefall-Entscheid hat gemäss dieser Argumentation ist, einen negativen Entscheid zu erhalten und somit ihre
keine Konsequenzen, denn abgewiesene Personen könnten ganze Existenz aufs Spiel zu setzen, andererseits müssen
ohne Probleme in ihr Herkunftsland zurückkehren und sie oftmals ihre ehemaligen ArbeitgeberInnen offen
beinden sich dadurch nicht in einer Notlage. Auch in der legen. Da die meisten Sans-Papiers loyal gegenüber ihren
Argumentation der Migrationsbehörden inden sich die ArbeitgeberInnen sind, wird kaum auf deren Kosten ein
genannten Wasser-Assoziationen zur Beschreibung von Gesuch gestellt.
MigrantInnen: Wie ein Fluss haben sich die MigrantInnen Diese restriktive Auslegung der Härtefall-Regelung verordnet
den Weg in die Schweiz gebahnt. Weil sich die MigrantInnen den Sans-Papiers eine Mentalität der Härte, mit welcher sie
20
sich das Leben durch die Schweizer Gesellschaft bahnen,
ohne grosse Unterstützung der sozialen Institutionen,
aber mit der Furcht als ständige Wegbegleiterin, jederzeit
aufzuliegen und ausgeschafft zu werden. Der neoliberale
Subjektentwurf indet in den Sans-Papiers ein fast perfektes
Abbild in der Realität.
Bröckling, Ulrich et al. 2000: Gouvernementalität,
Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine
Einleitung. In: Bröckling, Ulrich et al. (Hg.):
Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur
Ökonomisierung des Sozialen. 7–40
Foucault, Michel 2003: Die «Gouvernementalität». In:
ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. III:
1976-1979. 796–825
Lemke, Thomas 2000: Neoliberalismus, Staat
und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick
über die governmentality studies. In: Politische
Vierteljahreszeitschrift 41.1. 31–47
Meyer, Katrin / Purtschert, Patrica 2008:
Migrationsmanagement und die Sicherheit der
Bevölkerung. In: Purtschert, Patricia et al. (Hg.):
Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische
Beiträge im Anschluss an Foucault. 149–172
* Elango Kanakasundaram, Soziologe, hat an der Universität
Bern studiert, seine Lizentiatsarbeit trägt den Titel «Verordnete
Mentalität der Härte. Die Härtefall-Regelung für Sans-Papiers als
gouvernementale Praxis». Er ist Mitglied beim Bleiberecht-Kollektiv
und bei augenauf Bern.
expositionen
21
Nehmen uns die Ausländer die Arbeitsplätze weg?
Zum Einluss ausländischer Arbeitskräfte auf den einheimischen Arbeitsmarkt und den
Effekten auf die Qualiikationsstruktur
Christoph Thommen *
W
ie wirkte sich die Einführung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU 2002
auf den schweizerischen Arbeitsmarkt aus? Der vorliegende Artikel führt in die Arbeitsmarktökonomie ein und weist auf mögliche Gewinner und Verlierer der Zuwanderung
hin. Während die Volkswirtschaft als Ganzes proitiert, zeichnen sich insbesondere für die
Geringstqualiizierten auch negative Folgen ab.
Kommen ausländische Arbeiter in die Schweiz, stellt
sich mit dem Schritt über die Grenze die Frage nach den
Konsequenzen für die einheimischen Arbeitskräfte. Obwohl
nur circa die Hälfte aller Einwanderer zum Zweck der
Erwerbstätigkeit in die Schweiz kommt (vgl. SECO 2008,
29), sorgen sich viele Einheimische, von tiefer entlohnten
Einwanderern aus dem Arbeitsmarkt gedrängt zu werden,
oder Lohneinbussen in Kauf nehmen zu müssen. Sind diese
Befürchtungen aus volkswirtschaftlicher Sicht begründet?
Für die Schweiz als wohlhabende, kleine Volkswirtschaft mit
einem offenen Arbeitsmarkt spielte die Zuwanderung schon
seit Beginn des letzten Jahrhunderts eine wichtige Rolle. So
lag der Ausländeranteil bereits vor dem Ersten Weltkrieg
bei 15 Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die
Migration zur Ankurbelung der schweizerischen Industrie
benutzt, wobei auch strukturschwache Branchen dank
tief entlohnten Einwanderern am Leben erhalten wurden.
Ab den siebziger Jahren hat sich die Ausländerpolitik
dann in einer Reihe von durch Überfremdungsängsten
geprägten Debatten in die Politik eingebracht. Im
Jahre 2002 wurde schliesslich mit der Einführung des
Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz
und der EU/EFTA, nach einer planwirtschaftlich geprägten Phase, wieder einer Politik Platz gemacht, welche
von der wirtschaftlichen Nachfrage nach Arbeitskräften
ausgeht. Dennoch wird die Zuwanderung spätestens seit
dem deinitiven Ende der Vollbeschäftigung zu Beginn
der neunziger Jahre als Bedrohung für die einheimischen
Arbeitskräfte wahrgenommen.
Wanderungsentscheid
Nach der neoklassischen Theorie verschieben sich
Arbeitskräfte solange, bis sich die Löhne überall
angeglichen haben und der Einzelne sein Einkommen durch
Migration nicht mehr erhöhen kann. Unter der Annahme
vollkommener Information erfolgt die Entscheidung über
eine Ein- oder Auswanderung anhand der erwarteten
Gewinne im Zielland, sowie der Wanderungs- und sonstiger
monetärer und nicht-monetärer Kosten. Natürlich bedeutet
dies nur eine Annäherung an die Realität; Migration wird
durch sehr vielseitige Einlüsse bedingt und ihre Kosten
sind nur schwer zu quantiizieren. Entsprechend ist
noch kein allgemeingültiges Modell zur Erklärung der
Auswanderungsentscheidung beschrieben worden.
Fokussiert man auf die Qualiikationsstruktur von Migranten, kann ein Modell, welches den Reallohnunterschied
als einziges Kriterium für den Wanderentscheid darstellt,
gut nachvollziehbare Ergebnisse produzieren. Demnach
haben, bei einer breiteren Reallohnverteilung im Zielland,
Leistungsfähigere aus der Auswanderungsregion einen
grösseren Anreiz auszuwandern, während weniger
leistungsfähige Personen eher in der Heimatregion
verbleiben. Aus der Sicht der Zielregion kommt es in diesem
Fall zu einer positiven Selektion von leistungsfähigen
Arbeitskräften.
Arbeitsnachfrage
Betrachtet man alle Arbeitskräfte als gleichartige
Produktionsfaktoren, impliziert dies eine Auswechselbarkeit
oder Substitutionsbeziehung zwischen ausländischen
und einheimischen Arbeitskräften. In einem einfachen
statischen Arbeitsmarktmodell lässt sich die Zuwanderung
entsprechend mit der Ausweitung des Arbeitsangebots
darstellen. Geht man allerdings in der kurzen Frist von
starren Reallöhnen aus, kommt es zu einer Anpassung über
die Erwerbstätigen, das heisst, es entsteht Arbeitslosigkeit.
Langfristig ist mit einer Angleichung, also einer
Senkung der Reallöhne, zu rechnen. Demnach treten die
Beschäftigungseffekte eher kurzfristig zu Tage, während
Lohneffekte vor allem mittel- bis langfristig wirken.
Im statischen Modell wird ferner nicht berücksichtigt,
dass durch das gestiegene Arbeitsangebot auch die
gesamtwirtschaftliche Güternachfrage ansteigt und es
in Folge dessen zu Wirtschaftswachstum kommt, was
wiederum zu einer erhöhten Arbeitsnachfrage führt.
Durch ein genügend grosses Arbeitsangebot wird auch
22
Lohnschüben und damit Produktionskostensteigerungen
Einhalt gewährt, was sich, zum Vorteil der Konsumenten,
in tieferen Preisen und einer höheren Güternachfrage
niederschlägt.
Weiter kann bei spezialisierten, hochqualiizierten
ausländischen
Arbeitskräften
eher
von
einem
Komplementaritätsverhältnis gegenüber den ansässigen
Arbeitskräften ausgegangen werden. Dies bedeutet,
dass eine Ausweitung der beschäftigten Arbeitskräfte
die Nachfrage nach denselben zusätzlich verstärkt. Für
Geringqualiizierte weist Jorgenson (1986) darauf hin,
dass deren Einsatz in unterdurchschnittlich produktiven
Aktivitäten in wachstumsschwachen Branchen eine
Verlangsamung des Strukturwandels bewirken kann.
Investitionen in Sachkapital, wie beispielsweise
Automatisierungen in der Produktion, sind mit einer
erhöhten Nachfrage nach hochqualiizierten Arbeitskräften
verbunden, wogegen eine Unternehmung mit weniger
automatisierten Prozessen eher Geringqualiizierte benötigt.
Daraus folgend stehen diese Investitionen innerhalb des
Produktionsprozess in einem Substitutionsverhältnis zu
geringqualiizierten Arbeitskräften. Bei guter Verfügbarkeit
von Geringqualiizierten werden deshalb Investitionen
in Sachkapital unterdrückt und damit neue Technologien
verhindert, welche die Produktivität und auch den Bedarf
an Hochqualiizierten steigern würden (so genannte
bildungsintensive Investitionen).
Konkurrierende Forschungsansätze
Die ansteigenden Zuwanderungszahlen in den USA
während den Neunziger Jahren haben insbesondere vor dem
Hintergrund stagnierender Löhne die Aufmerksamkeit der
ökonomischen Fachwelt auf die Frage der Auswirkungen
der Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt gelenkt. Die
meisten Studien haben dabei den Spatial CorrelationsAnsatz angewandt. Hierbei wird der Zusammenhang der
Reallohnveränderung mit der Veränderung der Anzahl
Migranten auf einen als geschlossen angenommenen
Arbeitsmarkt geschätzt. Dabei werden die Auswirkungen
der Immigration auf den Arbeitsmarkt mit denjenigen eines
nicht-betroffenen Gebiets verglichen. Um eine hinreichende
Varianz zu erreichen, wird die Ballung der Einwanderer
in speziischen Ansiedlungssorten ausgenutzt,. Unter
Anwendung dieser Methode wurde meist ein minimaler
oder gar kein signiikanter Effekt der Zuwanderung auf den
Reallohn evaluiert.
In einem wegweisenden Artikel erklärt Borjas (2003)
diesen Ansatz für überholt, da Immigranten nicht zufällig
verteilt seien und sich die Substituierbarkeit verschieden
qualiizierter Arbeitskräfte unterscheide. Würden sich
demnach Einwanderer nur in wirtschaftlich starken Regionen
niederlassen, käme es zu einer unechten Korrelation
(Spurrious Correlation) zwischen Migration und Reallohn.
Zudem kann nicht von geschlossenen Arbeitsmärkten
ausgegangen werden. Entsprechend reagieren Einheimische
möglicherweise auf den Strom von Einwanderern mit
der Verschiebung von Arbeit oder Kapital in andere
Regionen. Borjas trägt diesem Umstand Rechnung, indem
er nationale Erhebungen anstelle der auf Teilstaaten
begrenzten Daten heranzieht. Beim sogenannten Factor
Proportions-Ansatz unterteilt er die Untersuchungsgruppen
nicht nur nach ihrem Bildungsstand, sondern auch nach
ihrer Berufserfahrung. Dies weil die Einwanderer nicht
in allen Untergruppen gleich verteilt sind und sich die
Berufserfahrungsstruktur innerhalb der Bildungsgruppen
mit der Zeit verändert. Mit der damit erreichten Varianz
lassen sich die Ergebnisse leichter interpretieren. Borjas
Resultate zeigen durchschnittliche Reallohnsenkungen von
3.2 Prozent bei einer Erhöhung des Arbeitsangebots um
zehn Prozent auf. Mit den gleichen Zahlen erhält Borjas
mit der Spatial Correlations-Methode Rückgänge von nur 1.3
Prozent.
Erstaunlicherweise indet er in allen Qualiikationsgruppen
Reallohnsenkungen, die auf einem erheblich höheren Niveau
als bei den bis anhin wichtigsten Studien liegen. Ottaviano
und Peri (2006) haben im Folgenden die Daten von Borjas
in ihrer Arbeit auf einen Allgemeinen GleichgewichtAnsatz angewandt. Sie resümieren, dass Einwanderer
und Einheimische keine Substitute innerhalb der gleichen
Berufserfahrung/Bildungs-Gruppe darstellen. Demnach
gehen ausländische Arbeitskräfte anderen Arbeiten nach,
besitzen im Allgemeinen nicht die gleichen Fähigkeiten wie
Einheimische, wodurch sich komparative Kostenvorteile
zwischen Einheimischen und Einwanderern bemerkbar
machen. Zudem berücksichtigen sie auch die Anpassung
Tabelle 1: Reallohnelastizitäte
Reallohnelastizität
Merky und
Thommen (2010)
Küng (2005)
Sheldon (2000)
Borjas (2003)
0.189
-0.016
-0.120* und
0.140**
-0.419
* nur Berücksichtigung von Ausländern mit Jahresaufenthaltsbewilligung.
**nur Berücksichtigung von Ausländern mit Daueraufenthaltsbewilligung.
expositionen
23
Tabelle 2: Reallohnelastizitäten nach Quali-ikationskategorie in Merky und Thommen (2010)
Obligatorischer
Schulabschluss
Lehrabschluss
Tertiärer
Bildungsabschluss
-0.094*
0.317*
0.220*
*Die Resultate sind auf dem 5% Niveau nicht signiikant.
des physischen Kapitals an den veränderten Bestand an
Arbeit, welche bisher als statisch betrachtet wurde. Ihre
Ergebnisse zeigen einen positiven Reallohneffekt auf
Einheimische aller Bildungsgruppen, mit Ausnahme
der Geringstqualiizierten. Zusammengefasst schliessen
viele Beiträge darauf, dass hochqualiizierte Arbeitskräfte
untereinander und zum Kapital komplementär wirken. Im
Gegensatz dazu werden geringqualiizierte Arbeitskräfte als
substituierend innerhalb der gleichen Kategorie und auch
zum Kapital betrachtet.
Erkenntnisse für die Schweiz
In der Schweiz haben sich nur wenige Forscher mit dem
Gegenstand auseinandergesetzt. Da der Arbeitsmarkt
der Schweiz nicht mit demjenigen der USA verglichen
werden kann, spielt die Grösse der untersuchten Einheit
nur eine untergeordnete Rolle. Küng (2005) erzielt mit
Paneldaten der Neunzigerjahre aus der Schweizerischen
Arbeitskräfteerhebung (SAKE) leicht negative Werte (vgl.
Tabelle 1). Er vernachlässigt jedoch, dass sich Einwanderer
eher in Teilmärkten niederlassen, die sich durch gute
Arbeitsbedingungen auszeichnen. Dadurch erscheint
eine Korrelation zwischen der Veränderung bei der
Beschäftigung und dem Anteil von Einwanderern, die die
erhoffte Kausalität nicht wiedergibt.
Sheldon (2000) untersucht die Beziehung zwischen
eingewanderten und einheimischen Arbeitskräften für
die Schweiz mit dem Factor Proportions-Ansatz. Er benutzt
Zeitreihendaten für die Periode zwischen 1951 und 1986,
sowie Paneldaten bis 1998. Seine Resultate schätzen
ausländische Arbeitskräfte teilweise als faktorsparend
und damit als Substitute gegenüber dem Kapital sowie
einheimischen Arbeitern ein.
Die Analyse von Merky und Thommen (2010) repliziert Teile
der Studie von Borjas (2003) für die Schweiz. Dabei werden
gepoolte Querschnittdaten mit Panel-Charakteristiken
für die Jahre 1992 bis 2008 verwendet, wobei neben dem
durchschnittlichen Reallohn und der Arbeitszeit auch die
jeweilige Berufserfahrung und die Qualiikation ausgewiesen
wird. Letztere wird in die Kategorien «obligatorischer
Schulabschluss», «Berufsbildungsabschluss» und «Tertiärer
Bildungsabschluss» unterteilt. Wie Tabelle 1 zeigt, kann
über alle Kategorien ein positiver Effekt der Einwanderung
auf die Reallohnelastizität festgestellt werden. Das
heisst, dass bei einer einprozentigen Erhöhung des
Arbeitsangebots der Reallohn um 0.189 Prozent steigt. Die
nach Qualiikationskategorie separat durchgeführte Analyse
ergibt keine signiikante Resultate (siehe Tabelle 2). Dennoch
wird ersichtlich, dass die Zuwanderung auf die Löhne der
Geringqualiizierten eher negative Effekte hervorbringt,
während Hochqualiizierte davon proitieren. Diese
Ergebnisse betten sich ausgezeichnet in die theoretischen
und empirischen Erkenntnisse ein.
Schlussfolgerungen für die Personenfreizügigkeit
Mit empirischen Erkenntnissen aufgrund der meist länger
zurückliegenden Zuwanderung, sowie mit Ergebnissen
aus anderen Ländern, lassen sich die tatsächlichen Effekte
der Einwanderung auf den Schweizer Arbeitsmarkt nur
erahnen. In der wissenschaftlichen Debatte besteht jedoch
einerseits ein Konsens, dass geringqualiizierte Einwanderer
grösstenteils als Substitute sowohl zu Hoch-, wie auch zu
einheimischen Geringqualiizierten und zum Sachkapital
zu sehen sind. Andererseits kommen die bekanntesten
Studien im Bezug auf die hochqualiizierten Migranten zu
positiven Ergebnissen. Weiter kann angenommen werden,
dass Geringqualiizierte mit einer tieferen Produktivität
produzieren und damit einhergehend bei einem hohen Anteil
an geringqualiizierten Einwanderern eine Verlangsamung
des technischen Fortschritts eingeleitet werden kann. Dies
lässt sich mit Blick auf die Zuwanderung in der Schweiz
bis zu Beginn der 1990er Jahre gut nachvollziehen. Bei der
Betrachtung der Qualiikationsstruktur der einwandernden
Bevölkerung aus der EU und den bisher erhobenen Daten seit
der Inkraftsetzung des Personenfreizügigkeitsabkommens
kann insgesamt grösstenteils ein positiver Effekt auf den
Arbeitsmarkt beobachtet werden.
Vor allem bei hochqualiizierten Stellen werden ausländische
Arbeitskräfte rekrutiert, womit dem Lohndruck Vorschub
geleistet werden kann. Die damit verbundene Ausdehnung
der Produktion führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Dass sich die Einwanderer aus der EU vorzugsweise in
Branchen ansiedeln, die ihrerseits ein Wachstum bei den
einheimischen Beschäftigten aufweisen, ist weiter ein klares
Indiz dafür, dass die Einwanderung seit 2002 hauptsächlich
Nachfrage determiniert ist und sich die Migration weniger
durch die Bedingungen im jeweiligen Ausgangsland ableiten.
Die ansteigende Nachfrage nach höher qualiizierten
Arbeitskräften legt zudem einen Mangel an Hochqualiizierten vor dem Beginn der Personenfreizügigkeit offen
(SECO 2008). Auf der anderen Seite kann in der Entwicklung
seit dem Beginn des Personenfreizügigkeitsabkommen trotz
solidem Wachstum für die Jahre 2005 und 2006 nur ein
geringer Rückgang der Arbeitslosigkeit festgestellt werden
24
(von 3.9 Prozent im dritten Quartal 2004 auf 3.1 Prozent
Ende 2006). Diese Verringerung erscheint insbesondere
in Anbetracht der vorherigen Wachstumsperiode
zwischen 1997 und 2001, in welcher ein Absinken von
5.2 Prozent auf 1.7 Prozent beobachtet werden konnte,
als unterdurchschnittlich. Ob die Arbeitslosigkeit ohne
das Abkommen schneller gesunken wäre, ist schwierig
nachzuprüfen. Jedoch gilt es zu beachten, dass die
Unternehmen durch die Einwanderung rascher in der Lage
waren, auf der Höhe ihres Potentials zu produzieren und
somit auch indirekt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
beigetragen haben.
Zusammengefasst kann der nachteilige Effekt zuwandernder Arbeitskräfte auf den einheimischen Arbeitsmarkt
als relativ gering quantiiziert werden, da der Anteil
der Arbeitskräfte mit der geringsten Qualiikation
vergleichsweise klein ist. Während die Produzenten zu
den Gewinnern durch die Zuwanderung gehören, muss
nichtsdestotrotz auch die Frage gestellt werden, wer die
Kosten zu tragen hat. Neben der Verteilungsfrage bedarf
dabei auch die Problematik der Anreizverträglichkeit im
Hinblick auf die Sozialwerke einer tiefergehenden Analyse.
Für die Beurteilung der aktuellen Migrationspolitik muss
dafür letztendlich eine längere Frist abgewartet werden.
Borjas, G. J. 2003: The Labor Demand Curve is Downward
Sloping: Reexamining the Impact of Immigration on the
Labor Market. In: The Quarterly Journal of Economics,
Vol. 118. 1335-1374
Jorgenson, D. 1986: Econometric Methods of Modeling
Producer Behavior. In: Griliger, Z.; Intriligator, M.
(Hgs.): Handbook of Econometrics, Vol. 3
Küng, L. 2005: The Impact of Immigration on Swiss
Wages: A Fixes Effects Two Stage Least Square Analysis
Ottaviano, G.; Peri, G. 2006: Rethinking the Effects
of Immigration on Wages. NBER Working Paper, No.
12497
SECO, BFM, BFS und BSV 2008: Auswirkungen
der Personenfreizügigkeit auf
den Schweizer
Arbeitsmarkt, 4. Bericht des Observatoriums zum
Freizügigkeitsabkommen Schweiz–EU für die Periode
vom 1. Juni 2002–31. Dezember 2007
Sheldon, G. 2000: The Impact of Foreign Labor on
Relative Wages and Growth in Switzerland,
Labor Market and Industrial Organization Research Unit
(FAI), Universität Basel
Merky N.; Thommen C. 2010: The Impact of
Immigration on Labour Market in Switzerland
* Christoph Thommen hat an der Universität Bern
Volkswirtschaftslehre studiert. Der vorliegende Beitrag basiert auf
seiner Bachelorarbeit (2009) und einer Seminararbeit (2010).
expositionen
25
wi(e)der Frisch
AutorInnenkollektiv
Aus dem Zitatenschatz des Altmeisters, zusammengestellt exklusiv für expositionen.
«Auf der Welt sein: im Licht sein. Irgendwo (wie der Alte neulich in Korinth) Esel treiben, unser Beruf! – aber vor allem:
standhalten dem Licht [...] Ewig sein: gewesen sein.» (Homo faber)
«Riesenmuschelbläue» (Jürg Reinhart, Stiller)
«Es heißt [heute] überhaupt nichts mehr, Schwertische gesehen zu haben, eine Mulattin geliebt zu haben, all dies kann auch
in einer Kulturilm-Matinee geschehen sein [...].“ (Stiller)
«Einmal muß man es wagen, die Tat oder der Tod [...]» (Antwort aus der Stille)
«[...] wie soll sie begreifen, daß sie ihn mit dem besten Willen nie erfüllen wird [...] und daß es für ihn kein Abstehen gibt in
der Liebe, kein Genugsein, sondern immer wieder ein Weitermüssen in die männliche Untreue oder in die männliche Tat!»
(Antwort aus der Stille)
«Warum soll die Frau, die man liebt, nicht andere Männer haben? Es liegt in der Natur der Sache.» (Mein Name sei Gantenbein)
«Daß es anders nicht geht, daß der Mann immer ein Welträtsel daraus macht, wenn er einer Frau nicht mehr genügt!» (Die
Schwierigen)
«Sind Sie stolz darauf, Vater zu sein? [...] Wenn Sie mit einer anderen Frau ins Bett gehen, empinden Sie sich dann als Vater?»
(Tagebuch 1966–1971)
«Möchten Sie von einer Frau ausgehalten werden: a. durch ihre Erbschaft? b. durch ihre Berufsarbeit?» (Tagebuch 1966–1971)
«Jede Frau, die von ihrem Geliebten nicht unterdrückt wird, leidet schließlich an der Angst, überlegen zu sein – an der Angst,
daß er kein wirklicher Mann sei.» (Die Schwierigen)
«[...] die Sehnsucht der Frau nach der Gewalt, nach der verlorenen Peitsche» (Die Schwierigen)
«Du sollst dir kein Bildnis machen [...]» (Tagebuch 1946–1949)
«Das Weib ist schauspielerisch von Natur.» (Tagebuch 1946–1949)
«Die interpretierende Kunst ist immer näher beim Weiblichen.» (Tagebuch 1946–1949)
«Ein Schauspieler, der eines Tages nicht mehr auftritt, macht den Eindruck eines Gescheiterten – durchaus nicht die Frau,
die eines Tages genug hat und sich ihren Kindern widmet. Für den Mann war es Beruf; sie spricht von ihren Rollen wie von
Hochzeitsreisen.» (Tagebuch 1946–1949)
«Der Mann, wenn er sich in Kostüme hüllt, hat er nicht immer einen Stich ins Verkehrte, ins Weibische, ins Widermännliche?» (Tagebuch 1946–1949)
26
Bilder lesen
Jörg Klenk *
D
ie Text-Bild-Forschung erlebte in den 1950er-Jahren eine Renaissance. Obwohl sie seither wiederholt Gegenstand ideologischer Grabenkämpfe war, konnte sich eine lebhafte Forschung entwickeln, die Erkenntnisse für alle beteiligten Wissenschaften lieferte. Folgender Text soll anhand
eines kurzen historischen Abrisses sowie einer exemplarischen Analyse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Einblicke in dieses Forschungsfeld gewähren.
Verhärtete Fronten
Bei der Beschäftigung mit der historischen Entwicklung
der Text-Bild-Forschung stösst man bald auf Vorbehalte
zwischen den beiden primär beteiligten Fachrichtungen,
der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft.
Dem forschenden Nachwuchs können Aussagen wie die
folgenden zu denken geben, insbesondere in Anbetracht
der allerorten beschworenen Interdisziplinarität:
«Die europäische Literatur [hat] eine autonome Struktur [...],
die von der bildenden Kunst wesensverschieden ist. Schon
deswegen, weil Literatur, abgesehen von allem anderen,
Träger von Gedanken ist, die Kunst nicht. [...] Da die
Literaturwissenschaft es mit Texten zu tun hat, ist sie ohne
Philologie hillos. Keine Intuition und ‹Kunstwissenschaft›
kann diesen Mangel ersetzen. Die ‹Kunstwissenschaft› hat es
leichter. Sie arbeitet mit Bildern – und Lichtbildern. Da gibt
es nichts Unverständliches. Pindars Gedichte zu verstehen,
kostet Kopfzerbrechen; der Parthenonfries nicht. Dasselbe
Verhältnis besteht zwischen Dante und den Kathedralen,
usw. Die Bilderwissenschaft ist mühelos verglichen mit der
Bücherwissenschaft» (Curtius: 22).
Dieses Zitat von Ernst Robert Curtius erschien erstmals
1947 im Merkur und wurde 1948 als erstes Kapitel von
«Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter» erneut
abgedruckt. Von Seiten der «Kunstwissenschaftler» klang
es noch in den 60er-Jahren ähnlich; zwar weniger wortreich
aber nichtsdestoweniger pointiert, wie Michael Curschmann
von einer Begegnung mit Erwin Panofsky berichtet: «Ich
fragte ihn, vorwitzig, warum es eigentlich am Institute for
Advanced Study, an dem er selbst seit 1935 bestallt war,
keinen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft gebe, und er
antwortete: ‹That is because we have a method and you
don’t›» (Curschmann 2007b: 638).
Einem unvoreingenommenen Betrachter erscheinen
heutzutage beide Voten befremdlich, insbesondere
vor dem mittlerweile regen Austausch der beiden
Disziplinen. Sie dürften aber vor dem Hintergrund von
sich weiterhin ausdifferenzierenden Geisteswissenschaften
verstanden werden: Curtius ging es weniger darum, die
«Kunstwissenschaften» zu diffamieren, als vielmehr darum,
seinen Kollegen ins Gewissen zu reden, damit diese endlich
eigene Methoden entwickeln und so ihr Fach fruchtbar
vorantreiben können. Panofskys Aussage dürfte denn auch
eine spöttische Wiederaufnahme dieses Anliegens sein.
1400 Jahre Bilderstreit
Die Konfrontation zwischen Text und Bild sowie den
Befürwortern des einen oder anderen Mediums reicht darüber
hinaus mindestens 2000 Jahre zurück, bis zum horazischen
Diktum des «ut pictura poesis» (Curschmann 2007a: 460).
An dieser Stelle soll nur bis ins Jahr 600 zurückgegangen
werden, als sich Papst Gregor I. (der Grosse), Kirchenvater
und früher Verteidiger der Bildkunst im klerikalen Raum,
sich in einem Brief gegen den ikonoklastischen Bischof
Serenus von Marseille wandte. In diesem wies er ihn an, von
seiner Bilderstürmerei abzusehen, da «hoc idiotis [...] in ipsa
legunt, qui litteras nesciunt», also (recht frei übersetzt) dass
jene Laien, die die Buchstaben nicht kennen, in ihnen, den
Kirchenmalereien, lesen. Gregor verstand Bilder somit als
Bücher der Laien, pictura laicorum literatura. Bilder, so die
implizite Aussage, können gelesen werden, Bilder können
erzählen, und dies offensichtlich nicht erst seit der Erindung
der bewegten Bilder durch William K. L. Dickson, bzw. die
Brüder Lumière im letzten Jahrzehnt des 19. Jh.
Die grundsätzliche Nähe von Schrift und Bild als
Transportmöglichkeit von Inhalten war auch in der
Volkssprache bekannt. So nahm Thomasin von Zerklaere
Gregors Diktum in seinen Wälschen Gast auf (vgl. V.
1099–1106). Auf sprachlicher Ebene zeigt sie sich noch
unmittelbarer im synonymen Gebrauch der Verben
«schrîben» und «malen». Welchem der beiden Medien der
Vorrang zu geben sei, war auch für das Mittelalter nicht
zweifelsfrei geklärt: Gestand Gregor I. in der Spätantike
den Bildern nur eine unterstützende Funktion zu und
postulierte weiterhin den Vorrang der Schrift vor dem Bild,
gab es im 13. Jh. auch Stimmen, die dem Bild den Vorrang
vor schriftlich ixiertem Wissen gaben. Bischof Durandus
von Mende (um 1230–1290) argumentierte dabei mit dem
Rezeptionsvorgang:
expositionen
27
«Anscheinend wird die Seele mehr durch das Bild als
durch die Schrift bewegt. Durch das Bild wird ein
historisches Geschehen vor die Augen gestellt, als ob es im
gegenwärtigen Augenblick geschehe, aber durch die Schrift
wird das historische Geschehen gleichsam durch das Gehör,
das die Seele weniger bewegt, in Erinnerung gebracht.
Daran liegt es, dass wir in der Kirche den Büchern nicht
soviel Aufmerksamkeit erweisen wie den Darstellungen/
Skulpturen und den Bildern» (zit. n. Wenzel: 298).
Bilder fanden somit aus unterschiedlichen Gründen
prominente Unterstützung, weiterhin wären zumindest
Thomas von Aquin und Boethius (beide im 13. Jh.) zu
erwähnen, die sich ihrerseits auf Johannes von Damaskus
(7./8. Jh.) beriefen.
Deinitionsversuche des Narrativen
Jahrhunderte später brach der alte Widerspruch wieder auf.
Ein anschauliches Beispiel liefert das in der Reformation
schwer demolierte Berner Münster, ganz zu schweigen
von Calvins legendärer dreitägiger Demontage der
Kathedrale St. Peter in Genf. Lagen die Ursachen hier in
religionsideologischen Gründen, versuchte Lessing in seiner
Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie
von 1766 auf wissenschaftlicher Grundlage Unterschiede
zwischen bildenden Künsten und Literatur herauszuarbeiten.
Indem er den Ersten die Möglichkeit absprach, Träger einer
Erzählung zu sein, legte er einen weiteren Grundstein
für oben angesprochenen Zwist zwischen Kunst- und
Literaturwissenschaft. Lessing argumentierte, dass
Werke der bildenden Künste nur Synchronität darstellen
können, schriftlich Fixiertes dagegen auch Diachronität.
Narratologen deinieren den «Situationswechsel», also das
Vorhandensein einer «zeitliche[n] Dimension» als einen
«prototypischen» Zug dessen, was sich «Narrativ» nennen
darf (Manuwald: 39 f.). Daraus folgt, dass ein Gemälde oder
eine Skulptur nicht Träger einer Erzählung sein können,
da sie nur eine Momentaufnahme abbilden. Einzelne
Wissenschaftler, wie etwa Michael Titzmann, folgen
Lessings Argumentation, indem laut Titzmann ein Gemälde
«‹nur synchrone Zustandshaftigkeit›» abzubilden vermag
und diesem somit «‹keine Temporalisierung und deshalb
auch keine Narrativierung möglich›» ist (ebd.: 38), während
Roland Barthes auch dem «‹stehende[n] Bild›» zugesteht,
«‹Träger der Erzählung›» sein zu können (ebd.).
Um Barthes zuzustimmen, muss über das Kunstwerk an sich
hinausgegangen und das Vorwissen des Rezipienten bemüht
werden, oder wie es Henrike Manuwald formuliert: «Auch der
Kontext und die kognitiven Vorprägungen des Rezipienten
[spielen] ein Rolle dafür [...], was als narrativ empfunden
wird» (ebd.: 39). Wie gross aber muss dieses Vorwissen sein?
Betrachtet man Michelangelos ‹David›, mag es nützlich sein,
die Geschichte von David und Goliath zu kennen, um die
Dramatik des Dargestellten zu würdigen und mit Durandus
seine Seele stärker bewegen zu lassen. Doch auch ohne
diesen Hintergrund identiizieren Haltung, Blick, Stein und
Schleuder den Abgebildeten als einen massnehmenden
Krieger kurz vor dem Angriff. Dass Michelangelo hier
Lessings «fruchtbaren Augenblick» eingefangen hat, dürfte
dessen strikte Einteilung umso stärker unterminieren, wie
auch Manuwald feststellt: «Nur unter der Annahme, dass
Bilder es vermögen, eine Handlung, ihre Ursachen oder
deren weiteren Verlauf erraten zu lassen, kann Lessing in
seine Lehre vom ‹fruchtbaren Augenblick›, den der Künstler
zur Darstellung bringen solle, mit einschliessen, dass nicht
der dramatische Höhepunkt einer Handlung, sondern der
Moment knapp davor besonders wirkungsvoll sei» (ebd.:
41).
Ob ein erzählerisches Moment vorliegt, muss also nach
oben Dargelegtem sowohl vom Kunstwerk selbst wie auch
vom Rezipienten ausgehend beurteilt werden. Nachdem
bereits eine kurze Analyse anhand des ‹David› ausgeführt
wurde, soll hier ein weiteres Bildzeugnis vorgestellt werden,
um die Valenz des oben Gesagten zu prüfen.
Die Verkündigungsdarstellung des Codex Ms. hist.
helv. X 50 (Burgerbibliothek Bern)
Die folgende Analyse berücksichtigt nur einen Bruchteil
dessen, was ich an anderer Stelle in Darstellung und Text
untersucht habe. Zu beginnen ist aber auch hier mit einer
(stark gekürzten) Bildbeschreibung; die Anmerkungen in
Klammern verweisen auf die Bibelstellen, auf denen die
einzelnen Bildelemente aufbauen.
Als zentrales Element sitzt die nimbierte Maria mit
gefalteten Händen in einem Hortus conclusus (Hld 4,2),
ein nimbiertes Einhorn stützt seine beiden Vorderläufe in
ihrem Schoss ab. Es wird von vier Hunden gejagt, die als
iustitia, pax, veritas und misericordia gekennzeichnet sind, und
die ihrerseits vom nimbierten Erzengel Gabriel an einer
Leine gehalten werden. Der Garten ist von einer Mauer
mit vier Toren umgeben, die als porta ezechielis, porta area
[sic!], porta paradisi und porta claussa (Ez 44,1–3) bezeichnet
werden. An zentraler Stelle zwischen Maria und Gabriel
steht die urna area [sic!], die goldene, mit Manna gefüllte
Urne (Hebr 9,4), die von einem Spruchband umgeben ist.
Dieses enthält von Maria ausgehend die Worte ecce ancilla
d(o)m(ini) iat mi? und von Gabriel ausgehend und diesen als
solchen identiizierend die Worte ave gracia plena d(omi)n(u)s.
Die anzitierten Stellen geben den Beginn und das Ende der
Verkündigung an Maria wieder. Gabriels Begrüssung der
heiligen Jungfrau in Lc 1,28 lautet: «28et ingressus angelus
ad eam dixit / have gratia plena Dominus tecum benedicta
tu in mulieribus» (Lk 1,28: «28Der Engel trat bei ihr ein und
sagte: Sei gegrüsst, Du Begnadete, der Herr ist mit dir»),
Marias Akzeptanz in Lc 1,38: «38dixit autem Maria / ecce
ancilla Domini iat mihi secundum verbum tuum / et
discessit ab illa angelus» (Lk 1,38: «38Da sagte Maria: Ich bin
die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.
Danach verliess sie der Engel»).
Die
Darstellung
weicht
stark
von
sonstigen
Verkündigungsdarstellungen ab, die zumeist den hier nur in
den Spruchbändern anzitierten Teil des Lukasevangeliums
28
verbildlichen. Im (Spät-)Mittelalter, dem die Darstellung
entstammt, konnte davon ausgegangen werden, dass sie
verstanden wurde. Ein heutiger Betrachter muss sich das
benötigte Vorwissen dagegen erst aneignen. Ein Schlüssel
zum Verständnis indet sich in dem der Darstellung
korrespondierenden Text, wo es heisst: bennedixisti d(omi)ne /
terram tuam her du hast din / ertterich geheilget. Diese Bibelstelle
ist nicht zufällig gewählt – Ps 84, dem die Worte entstammen,
bzw. Ps 84,11 ist für die Illustration zentral. Dort heisst es:
«11misericordia et veritas obiaverunt ÷ sibi: / iustitia et pax
osculatae sunt» (Ps 85,11: «11Es begegnen einander Huld
und Treue; / Gerechtigkeit und Friede küssen einander»).
Misericordia, veritas, iustitia, pax – die genannten göttlichen
Tugenden inden sich in den Namen der Jagdhunde in BM
125 wieder, und tatsächlich bildet Ps 84,11 über Umwege eine
der Grundlagen des hier verwendeten Verkündigungsmotivs.
Gemeint ist der sogenannte Streit der vier Schwestern (die
litigatio sororum), ein Motiv das wohl «nicht lange vor 1400
[mit dem Jagdmotiv (venatio)] zum neuen Motivkomplex
der Gabrielsjagd verschmolz[ ]» (Einhorn: 292). In der
«seit dem 12. Jahrhundert bekannte[n] Szene der litigatio
sororum» streiten die in Ps 84,11 genannten vier Tugenden,
«wie angesichts des Sündenfalls die Gerechtigkeit und die
Barmherzigkeit Gottes miteinander in Einklang zu bringen
seien», wobei «[d]ie Erlösung [...] Gottes Sohn selber
wirken [wird]» (ebd.). Als Beispiel neben vielen führt Jürgen
Werinhard Einhorn eine durch
Stammler edierte «Kurzfassung
[...] aus der ersten Hälfte des 15.
Jahrhunderts» an, in welcher «der
Streit mit dem Auftrag Gottes an
Gabriel [endet], die Empfängnis
Christi
anzukündigen»
(ebd.:
293). Eine weitere Quelle, die der
Entstehung des Motivs zuträglich
gewesen sein dürfte, indet sich in der
Jagd (zweite Hälfte 14. Jahrhundert)
Hadamars von Laber (ca. 1300–nach
1354), «[seit] der es geläuig [war], dass
man Tugenden und Empindungen
beim Liebeswerben als Jagdhunde
auffasste» (ebd.). Damit wären in aller
Kürze die wesentlichen Elemente
zusammengetragen, welche die Gabrielsjagd als Motiv begründen.
Wie steht es nun aber um den
narrativen Gehalt der Darstellung?
Möchte man die Illustration als narrativ vor dem Hintergrund einer
diachronen Dimension verstehen,
muss das Spruchband vor allem als
Bildelement verstanden werden,
da dieses über die Anfangs- und
Schlussverse des Dialogs den dazwischen beindlichen Zeitraum
konstruiert, in welchem die Verkündigung stattindet. Aber auch
ohne Hilfskonstruktion erzählt
die Darstellung mit den vom Jäger
Gabriel geführten Hunden und
dem sich im Schoss Marias bergenden Einhorn von einer Jagd,
deren Endpunkt in der Illustration
wiedergegeben ist und die sich
letztlich als Verkündigungsdarstellung
identiizieren lässt. Diese Erzählung
ergibt sich nicht aus einem eben nicht
dargestellten Zeitraum, sondern aus
dem Vorwissen des Rezipienten. Wie
Verkündigungsdarstellung des Codex Ms. hist. helv. X50, S. 125 (Burgerbibliothek Bern)
expositionen
29
wichtig dieses ist, sollte hier exemplarisch dargelegt werden,
da die Illustration einerseits nur dann verständlich wird,
wenn der religiöse Überbau identiiziert werden kann, aus
dieser Identiikation sich aber andererseits ein wesentlich
höherer narrativer Gehalt zu erkennen gibt. Ohne das
Vorwissen sieht man lediglich eine Jagdszene, in der sich ein
von vier Hunden und einem Jäger gehetztes Einhorn in den
Schoss einer Frau lüchtet. Weiss man um die litigatio sororum
und darum, dass das Einhorn als Symbol Christi verwendet
wurde, erkennt man, auch ohne den erklärenden Text zu
lesen, dass es sich bei dem Einhorn um Christus handeln
muss, der sich, von den göttlichen Tugenden gedrängt,
in den Schoss von Maria lüchtet. Da der Erzengel am
Ende der litigatio von Gott gesandt wurde, um das Heil zu
verkünden, kann man diesen als den Jäger identiizieren und
somit die gesamte Abbildung als Verkündigungsdarstellung,
welche ihrerseits die Geschichte der Verkündigung an sich
evoziert.
Lessings strenge Unterteilung ist also mit Nachdruck zu
hinterfragen. Zwar wäre ihm dahingehend zuzustimmen,
dass ein Einzelbild immer nur Momentaufnahme bleibt
und er rein technisch gesehen recht behält. Sobald dieses
Einzelbild aber auf einen Rezipienten trifft, beginnt dieser
aufgrund seines Wissens, den Moment auszudehnen und
sich die diachrone Dimension dazuzudenken. Die Situation
erinnert an das Problem mit dem berühmten fallenden
Baum im Wald, und letztlich dürfte es in den meisten
Fällen vielmehr vom Betrachtenden als vom Betrachteten
abhängen, wieviel Geschichte letzterem innewohnt.
Bern, Burgerbibliothek, Mss. h. h. X 50
Biblia sacra. Iuxta Vulgatam versionem. Hrsg. v. Robert
Weber u. Roger Gryson 1975. 2 Bde.
Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem
Kommentar der Jerusalemer Bibel. Deutsch hrsg. v.
Alfons Deissler u. Anton Vögtle i. Verb. m. Johannes M.
Nützel 1992
Curtius, Ernst Robert 1948: Europäische Literatur und
lateinisches Mittelaler
Lessing, Gotthold Ephraim 1859: Laokoon oder über die
Grenzen der Mahlerey und Poesie
Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. v.
Heinrich Rückert 1965
Curschmann, Michael 2007a, Pictura laicorum
litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild
und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und
Spätmittelalter bis zum Codex Manesse. In: Ders.: Wort
– Bild – Text. Studien zur Medialität des Literarischen
im Hochmittelalter und früher Neuzeit (Saecula Spiritalia
43). Bd. 1, S. 253–281
Ders. 2007b: Wolfgang Stammler und die Folgen. In:
Ders.: Wort – Bild – Text. Studien zur Medialität des
Literarischen im Hochmittelalter und früher Neuzeit
(Saecula Spiritalia 44). Bd. 2, S. 636–659
Einhorn, Jürgen Werinhard 1998: Spiritalis Unicornis.
Das Einhorn in Literatur und Kunst des Mittelalters
Manuwald, Henrike 2008: Medialer Dialog. Die ‹Grosse
Bilderhandschrift› des Willehalm Wolframs von
Eschenbach und ihre Kontexte (Bibliotheca Germanica
52)
Wenzel, Horst 1995: Hören und Sehen – Schrift und
Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter
* Jörg Klenk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand bei
einem an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
angesiedelten Teilprojekt des Parzival-Projekts (www.parzivalunibe.ch), der vorliegende Text stellt einen Auszug aus seiner an der
Universität Bern eingereichten Masterarbeit dar.
30
Die Kommerzialisierung der Sichtbarkeit
Kulturtechniken der Fotoarchivierung und -verwaltung im 20. (21.) Jahrhundert
D
Mirco Melone *
ie «Bildwirtschaft» ist massgeblich an der Hervorbringung und Konturierung
von Visualität beteiligt. Das Milliardengeschäft basiert in seinen Verwaltungsund Verwertungstechniken auf historisch gewachsenen Strukturen, deren
Überreste heute als riesige Bildbestände in öffentlichen Archiven oder bei
privaten Anbietern lagern. Rasant anwachsende Bildkonvolute führten
dazu, dass die Archivierung und Verwaltung der Bilder zu grundlegenden
ökonomischen Axiomen wurden. Das heutige Erscheinungsbild gewerblicher
Fotoarchive ist das Resultat verschiedenster Techniken und Diskurse, deren
Geschichte das Verständnis der visuellen Kultur massgeblich prägt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ermöglichten neue
drucktechnische Verfahren erstmals die Verwendung von
Fotograien in einem industriellen Massstab. Gleichzeitig
bedingten technologische und verkehrsinfrastrukturelle
Neuerungen eine raumzeitliche Kompression, die bestehende
Märkte vernetzte und neue kreierte. Diese Verschränkung
bildete sowohl eine papierene, als auch eine visuelle
Öffentlichkeit mit neuen Wahrnehmungsbedingungen
aus. Das optische Medium Fotograie bedingte dabei –
zusammen mit Film und Ton – die von Jonathan Crary
diagnostizierten neuen Formen von Aufmerksamkeit.
Im Zuge dieser mediengeschichtlichen Zäsur hat sich
eine eigene Branche von Bildproduzenten, -anbietern
und -verwaltern etabliert: die kommerziell ausgerichteten
Fotoagenturen des 20. Jahrhunderts.
Diese legten für die Strukturierung der neu entstandenen
(massen)medialen Visualität nachfrageorientiert Bildbestände und Organisationsstrukturen an. Entsprechend
ihrem Entstehungszeitraum weist das Erscheinungsbild
der Fotoarchive eine grosse Heterogenität bezüglich
Ordnungen, Klassiikationen und Logiken auf. Diesem
Auftreten sind Prozesse und Praktiken eingeschrieben, die
die Kommerzialisierung der Sichtbarkeit seit dem Beginn
des 20. Jahrhunderts offenbaren.
Die Bildarchivmaschine
Eine Analyse der historischen Genese wirft
unweigerlich die Frage nach dem roten Faden in der
Ökonomisierungsgeschichte der Bildverwaltung und
-archivierung auf. Das materielle Patchwork, das sich
in den Beständen durch archivisch-kommerzielle
Fotoverwertungstechniken sedimentiert hat, verdeutlicht
einen Anpassungsprozess an die jeweils herrschenden
Nachfragemuster. Gleichzeitig spiegelt sich darin ein
Efizienz- und Effektivitätsdenken, das Fotos über
Filterung, Sortierung, Klassiizierung und Ablage
systematisch aufbereitete.
Diese Prozesse gehorchten zudem einer fortlaufenden
Standardisierung
und
Normierung,
die
das
mengenorientierte Bildkonzept überhaupt erst ermöglichten
und sukzessive systematisierten. Dadurch wurden Aspekte
wie eine breite Angebotspalette an Bildmotiven, rasche
Zugriffs- und Lieferzeiten, innovative Illustrationsideen und
tagesaktuelle Bilder, sowie klare Urheberrechtssituationen
und unkomplizierte Abrechnungen zu zentralen
Qualitätsstandards der Fotoagenturen. Die in den
Bildnetzen prozessierten Tätigkeiten des Versands und
der Lagerung, der (Re)Produktion, der Archivierung
und Administrierung bildeten die Bestandteile der sich
ausbildenden Kulturtechniken der Bildlogistik, -archivierung
und -verwaltung.
Als deren institutionelle Pendants wurden die Bilderdienste
und -agenturen zu Instanzen der bildlichen Übertragung
und Speicherung. Ihre «visuelle Produktivität» (Bruhn)
schuf ein industrielles Bildangebot, dessen Zugriff durch
die Agenturen vorstrukturiert wurde. Denn die Visualität
der Archive – die Zeig- und Sichtbarkeit im Sinne
Foucaults – entfaltete sich gleichsam als Folge logistischer
und archivischer Logiken. Bildliche Vorstellungen von
Gesellschaft, Alltag, Politik und Kultur standen dabei
in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis zu den
Herstellungs- und Verwertungsprozessen der Agenturen.
Methodisch-konzeptuell konstituierte das Zusammenspiel
von
techno-ökonomischen
Anpassungsprozessen,
maschinell-materiellen Systematisierungsvorgängen und
speziischem Bildwissen von Fotografen, Redakteuren und
Archivmitarbeitern die Einheit ‹Agentur›: Sie funktionierte
als Summe verschiedener «Black Boxes» (Latour). Die
expositionen
31
Abb 1: Prag ist frei! (‹A.T.P. Spezialdienst - Associated Press Photos›), StAAG/
RBA10, Tschechien 1945.
Agentur institutionalisierte die Idee eines Apparates, der
eine scheinbar beliebige Abfolge von Zeichen aufnehmen,
prozessieren und speichern konnte. Was einem einzelnen
Menschen oder technischen Gerät unmöglich war,
konnte die soziotechnische Bildmaschine leisten. Sie
war fähig, alle erdenklichen Motive und Sujets auf einen
einzigen «Äquivalenzcode» zu reduzieren – und damit zu
standardisieren (Sekula).
Indem Fotos in den Verwaltungsapparat des Archivs
integriert wurden, stabilisierte sich zusätzlich zur bereits
bestehenden optischen Konsistenz die Kontingenz des
Fotograischen. Denn das archivische Zusammenspiel von
Mensch und Material ermöglichte schliesslich die Taxonomie,
durch die Bilder erst kommerzialisierbar gemacht wurden:
das Fotoarchiv als relationales Datenverwaltungsmodell
(Abb. 1). Die Fähigkeit der Massenmedien, eine visuelle
Öffentlichkeit auszugestalten, beruhte zu einem erheblichen
Teil auf den maschinellen Vorzügen der Bilderdienste und
ihrer Archive.
Der Bildhandel als logistisches Netzwerk
Über das Archiv hinaus bildeten die logistischen Bildschleifen
eine Bild-Netz-Topographie aus, deren Räume gleichzeitig
durch den Waren- und Informationsluss bestimmt wurden.
Entscheidend waren diejenigen Prozesse und Akteure,
die Fotos physisch herstellten und für ihre räumliche
Verschiebung sorgten – sie also sowohl als «materielle
Substrate» (Ernst), als auch in ihrer archivischen Einbettung
deinierten. Das so aufgespannte Feld umfasst mehrere
logistische Bildnetze, die neben-, mit- und ineinander
existierten. Durch die jeweiligen Kommunikations- und
Logistikkanäle zirkulierten Fotos und Datenströme
zwischen freien Fotografen, Agenturen, Bildredaktionen
von Zeitungen und Zeitschriften, sowie Werbebüros.
Die Ausbeutung von Fotos als Raum-Zeit-kompressierte
Aufmerksamkeitswaren bedingte Bildschleifen, in denen
Bewegungen sowohl zum Archiv hin, als auch via Vertrieb
wieder aus dem Archiv hinaus verliefen. Der externen
Bildproduktion durch Fotografen oder andere Dienste
standen agenturintern zeitaufwendige Entwicklungs- und
Bearbeitungsschritte im Archiv gegenüber. Eingebunden
in die zunehmend globalisierten Bildnetze spiegelten die
Fotoarchive der Agenturen in ihren unterschiedlichen
Materialitäten (Glas- und Cellulosenegative, Farbdias,
Papierabzüge) und Formaten die Vielfalt der Akteure,
die sich in den Zirkulationsströmen des weltweiten
Fotohandels beteiligten. Bildlogistik relektiert daher auch
die Verbindungen zwischen der Bildzeichen- und der
Bildökonomie-Ebene.
Komplementär zum visuellen bestand ein materieller
und informationeller Datenluss. Er hatte durch seine
normierenden und standardisierenden Effekte grossen
Anteil am Bild-Werden der Fotos. Symbole wie Stempel
und Captions, Zensurvermerke, Abrechnungsnummern,
aber auch Adressen und Vermerke wurden auf den
Fotos angebracht (Abb. 2). Sie setzten das Foto in einen
rechtlichen, raumzeitlichen, autoritativen Rahmen und
deinierten seinen Gebrauchswert. Agenturtexte, die das
Bild kontextualisierten, wurden an die Versandabzüge
angeklebt, später dann via Bildtelegraphie quasi im Bild
immatrikuliert übermittelt. Telefonate, Faxe und Couverts
mit Lieferscheinen, Rechnungen und Materialaulistungen
begleiteten verschickte und eintreffende Fotos. Sie regelten
die administrative Verwaltung des Bildmaterials, das auf
Kommission oder im Abonnement an Kunden versandt
wurde. Diese Vorgänge waren, ebenso wie der visuelle
Inhalt, für die Kommerzialisierung der Fotos massgeblich.
Abb 2: Teil des Fotoarchivs im RiBiDi, StAAG/RBA4-3, ca. 1960er Jahre.
32
Vom Foto zum Multi-Objekt
Die nicht-visuellen Datenströme bestanden also aus
zwei verschiedenen Ebenen: symbiotische, mit dem Bild
vergesellschaftete, und getrennt vom Bild zirkulierende
Informationen und Materialien. Mit ihrer Hilfe konnten
die visuellen Rohstoffe – wie im Archiv auch – in
hybride Artefakte und Vermittler transformiert werden.
Fotos wurden so zu bildlich-materiell-informationellen,
diskursiven, mehrschichtigen Multi-Objekten.
Die für den Bildhandel nötige Überbrückung des Raums
verfolgte das Ziel, Übertragung und Datenaustausch
möglichst efizient zu gestalten. Oberstes Gebot war daher,
Abb 3: 500-Jahrfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs
(Specter, Online-Vorschau mit digitalem Wasserzeichen und
Keywords), screenshot, Aarau 06.08.2011.
sie zugunsten einer grösstmöglichen Zeitverfügbarkeit
asymptotisch an die Echtzeit heran zu führen. Dafür
wurden technologische Vermittler, sowie Institutionen
ausserhalb der Agentur genutzt. Es formierte sich ein
Allianzenverbund einerseits zwischen Agenturen und
Post, Bahn, Flugliefer- und Kurierdiensten, andererseits
wurden auch technologische Assistenten wie Telegraie,
Rohrpostsysteme, Telefon und Bildfunk eingebunden.
Dieses Konglomerat bestimmte nicht nur die räumliche
Nähe der Agenturen zu Verkehrsknotenpunkten und
Infrastrukturen, sondern zusammen mit Produktions- bzw.
Reproduktionstechniken auch die Formate und Materialien
der Ware ‹Fotograie›.
Das Archiv als intellektuell-materielle Transformation
Die vielschichtigen materiellen Ablagerungen von
Bildproduktion und -logistik sedimentierten im Archiv.
Dessen Aufgabe bestand darin, aus Bildern ein tausch- und
daher verwertbares Handelsgut herzustellen. Die archivische
Performanz von Selektion, Verschlagwortung, Einlagerung
und Verwaltung – das Kerngeschäft der Agenturen – war also
der Ausgangspunkt für die Herstellung eines formalisierten,
verwertbaren Contents. Zugleich war dem Archiv eine
Performativität eigen, welche die Archivierungsprozesse
und die beteiligten Akteure erst als ein Netzwerk
konturierten. Als moderne Topoi haben sich die Prämissen
von Organisation, System und Klassiizierung mit der
im industriellen Massstab hergestellten Ware ‹Fotograie›
verschränkt. Dabei bildeten sich kognitive Fähigkeiten
und mechanische Techniken der Archivierung aus. Als
archivisches Dispositiv legten sie durch die Isolierung
und Umwandlung von Dingen in Dokumente deren
Repräsentationsfunktion fest. Die bei der Verarbeitung dieser
Bildmassen entstandene Notwendigkeit von Ablage- und
Klassiikationssystemen führte zur Übernahme existenter
Bürotechniken wie Schreibmaschine, Hängeregister,
Karteikarten und Indexlisten mit Schlagworten. Deren
Funktionalitäten wurden dabei gemäss den Anforderungen
der zu administrierenden Ware ‹Fotograie› adaptiert. Dies
ermöglichte die Umwandlung von individualisiertem BildArchiv-Wissen in materiell ixierte, abrufbare Strukturen –
quasi eine intellektuell-materielle Transformation.
Die Ordnung der Bilder
Die Ordnung der Bilder war auf mehreren räumlichen Ebenen
organisiert. Die oberste bestand aus Regalen, Kästen und
Schränken. Dieser Lagerungsraum spiegelte ökonomischlogistische Bildnetze, die Produktionsketten und -orte,
ebenso die materiellen Speziika der Verwertungspraxis.
Die Topographie sowohl von Regalen und Schränken, als
auch die Anordnung von Bürozimmern war der gebaute,
‹verräumlichte› Aktenplan: Die räumliche Anordnung des
Bildmaterials korrespondierte mit der Organisation der
Agentur, die so symbolisch zu Alan Delgados «enormeous
ile» wurde. Innerhalb der Schränke und Kästen wurde
der Raum durch Schubladen und Hängeregister weiter
untergliedert. Diese zweite Ebene, deren materielle
Apparaturen den Innenraum des Bildarchivs strukturierten,
wurde, wie die Möbel und Regale selbst, ebenfalls zu einem
Instrument von Wissen und Ordnung. Es wirkte dialektisch
auf die Praktiken der Bildarchivierung, -verwaltung und
-verwertung zurück. Im Laufe der Zeit wurden ältere,
bestehende Archivformen durch neue Systeme wie
elektronische Lektriver und moderne Kompaktusanlagen
ersetzt, die den Raum zusätzlich komprimierten. Schränke
und Kästen wurden damit zu «Ordnungsmöbeln» und zu
«Mikroräumen der Verwaltung» (Vismann).
Die
innerhalb
der
Schubladen
eingegliederten
Reitersysteme bildeten die dritte Ordnungsebene. Ihre
Untergliederung basierte, je nach Logik und Aufbau
der Fotobestände, auf
alphabetisch-thematischen,
numerischen und geographischen Kriterien. Sie standen
als quasi-transzendente (Bild-)Ordnung vor dem Akt der
Archivierung und wiesen jedem Foto seinen Bezugsrahmen
zu. Als Ordnungsmechanismen waren die Reitersysteme
auch Teil des ökonomischen Archivwerts. Denn nicht
das Vorhandensein, sondern die Aufindbarkeit und
Einordnung der Fotos deinierten ihren Wert. Die Reiter
hielten zudem die Masse des Materials in seinen diversen
Inhalten kohärent: Die ordnenden Strukturen garantierten
expositionen
33
den Zusammenhalt des Schaltkreises ‹Lesen-ZeichenReferent›.
Als unterste Ordnungsstufe des Archivs stellten die
archivierten Dossiers das kleinräumigste Bildnetz dar.
Über die Verschlagwortung und die damit verbundene
Klassiikation der inkorporierten Bilder wurden die
Dossiers semantisch bedeutet und so archivisch adressierbar
gemacht. Innerhalb der Dossiers verwiesen die Fotoserien
aufeinander, setzten sich zu Bildunterschriften und/
oder Agenturtexten in Beziehung und wurden durch die
vorgelagerten Dossierinformationen, sowie -signaturen
registriert. Eine in Schriftzeichen übersetzte Bildlichkeit
verkürzte jedoch die visuelle Vielfalt zugunsten von
Flexibilität und Prozessierbarkeit der Daten. Der Raum des
Archivs kreierte so in einem mehrstuigen Prozess einen
hybriden, normierenden Informationsträger.
Das Lagerungsprinzip des Archivspeichersystems beruhte
dabei auf Umgruppierungen und Neuordnungen von
Dossiers. Dies wurde durch die lose Einlagerung nicht
nur ermöglicht, sondern aufgrund der funktionalen
Überlegenheit auch gefördert. Die Verpackung und
Archivierung der Fotos als Dossiers in Papierumschlägen
und Hängeregistern fasste die amorphe Bildmasse in
handhabbare Einheiten, die in ihrer Gesamtheit das
Archiv zum organisationellen Speicher werden liessen.
Bildaufschreibetechniken wie Stift, Schreibmaschine, später
Datenbank und Strichcode, garantierten Prozessierbarkeit
und Normierung innerhalb der verästelten und vielfältig
aufeinander verweisenden Archivablagen. Die Einordnung
von Fotograien in die Bildnetze des Archivs formierte so
die (massenmediale) Realität. Das Wissen um Wirklichkeit
wurde zur Funktion ihrer Klassiikation (Ernst).
Vom Auszugsschrank zur Festplatte: Bildhandel im 21.
Jahrhundert
Mit der in den 1990er Jahren in der Fotograie einsetzenden
digitalen Revolution veränderte sich auch der Bildermarkt.
Die sich wandelnden Bildkreisläufe bedingten neue
Angebotsmöglichkeiten für die digitalen Bilder. Der
Zugriff wurde nun übers Internet weltweit und etwaig
zu jeder Zeit an jedem Ort möglich. Speicherung und
Archivierung waren nun nahezu unbegrenzt. Den über
Jahrzehnte ausdifferenzierten Archivstrukturen, Ablageund Verwaltungstechniken steht heute die quasi unendlich
potenzierte Verarbeitungsleistung der digitalen Systeme
gegenüber. Das physische Archiv, mit dessen Hilfe die
visuelle Datenmenge der Fotos einst handhabbar und
damit ökonomisch verwertbar gemacht wurde, ist obsolet
geworden.
Das Bildwissen, das auf logistischen Kompetenzen,
Kenntnissen von Archivstrukturen und rechtlichen
Rahmenbedingungen aufbaute, wurde in eine neue digitale
Ebene transferiert und abstrahiert. Quer über das gesamte
Foto eingeplanzte Wasserzeichen akzentuieren heute,
zusammen mit Kundenlogins, tiefer Bildaulösung und
Transferprotokollen, die digitale Adaption der bereits seit
Jahrzehnten bestehenden Wertschöpfungstechniken und
-mechanismen (Abb. 3). Die Digitalisierung der Fotos führte
zudem zu einer Art Verdoppelung des Bildarchivs. Obwohl
sich physische und digitale Archivsysteme aufeinander
beziehen, entkoppelten sie sich gleichermassen. Neue
Formen, Logistiken und Materialitäten des digitalen Archivs
deinieren nun den Bildhandel. Die technologische Zäsur
markiert hier zugleich einen Bruch und eine speziische
Abb 4: Thumbnail-Übersicht zur Datenbankabfrage ‹Swissair› (Specter, online), screenshot, Aarau 06.08.2011.
34
Kontinuität. Der Raum des Archivs schrumpfte auf die
Grösse einer Festplatte. Die analoge Bildlichkeit der Fotos
– unter anderem geprägt von Körnigkeit, Kontrast, Formen
und Linien – wurde durch einen Quantisierungsprozess
in eine inite Sequenz von diskreten Elementen, nämlich
0 und 1, überführt. Sie hat ihre Materialität und Eigenheit
nicht einfach verloren, sondern lediglich in eine neue Form
transferiert.
Auf logistischer Ebene haben sich die Fotobewegungen
ins Archiv hinein und wieder hinaus, sowie die ebenfalls
einkommende und ausgehende Übermittlung von Daten
synchronisiert. Mit dem zeitlichen ineinander Fallen der
zuvor disparaten Zirkulationsströme wird der Raum der
Bildnetze fast komplett ausser Kraft gesetzt, respektive ins
virtuelle verschoben. Seine Zeit ist auf Millionstel Sekunden
verdichtet, daher tendenziell inexistent. Diesbezüglich
scheint Virilios «dromologischer Stillstand» tatsächlich nur
noch durch die physischen Beschränkungen und Fähigkeiten
der menschlichen Aufmerksamkeit aufgehalten zu werden.
Durch die neuen Bilddatenbanken, in denen die Fotos quasi
strukturlos in einer eingeebneten Hierarchie zueinander
in Beziehung stehen, bedeutet jeder Suchbefehl die
Zusammenstellung eines potenziell neuen Dossiers. Bilder,
die zuvor nie gemeinsam gelagert wurden, sind nun aufgrund
einer ähnlichen oder partiell gleichen Klassiikation in
einer gemeinsamen Bildstrecke angeordnet (Abb. 4). Das
analoge Millionenkonvolut des 20. Jahrhunderts ist dem
individuell erfragten Archiv des 21. Jahrhunderts gewichen.
Der physisch begehbarer Raum, in dem die Fotos erst auf
der untersten Ordnungsstufe als bildliche Erscheinungen
sichtbar wurden, ist zum rein virtuell-visuellen Archiv
geworden. Darin eingebettet liegt ein Höchstmass an
Entropie. Eine Entropie, die zugleich als Horrorvorstellung
und Wunschtraum der analogen Fotoarchivierung wirksam
ist, hier aber nicht zuletzt ein Maximum an ökonomischer
Verwertbarkeit darstellt.
Blaschke, Estelle 2009: Du fonds photographique à la
banque d›images. L›exploitation commerciale du visuel
via la photographie: Le Fonds Bettmann et Corbis. In:
Études photographiques 24 (2009). 150–181
Bruhn, Matthias 2003: Bildwirtschaft. Verwaltung und
Verwertung der Sichtbarkeit
Ernst, Wolfgang 2002: Das Rumoren der Archive.
Ordnung aus Unordnung
Sekula, Allan 2003: Der Körper und das Archiv. In: Wolf,
Herta (Hg.): Diskurse der Fotograie. Fotokritik am Ende
des fotograischen Zeitalters. 269–334
Vismann, Cornelia 2000: Akten. Medientechnik und
Recht
* Mirco Melone hat bis 2011 an der Universität Basel Geschichte
und Geographie studiert. Der vorliegende Beitrag basiert auf seiner
Masterarbeit zu Kulturtechniken der Fotoarchivierung. Der Autor
forscht aktuell im Rahmen des NFS Bildkritik (eikones) zu den
Transformationen fotograischer Archive im Digitalzeitalter.
expositionen
35
Polizeicomputer
Zur ersten Rechenanlage im BKA und iktionalen Fahnder-Figuren von Columbo bis CSI
Hannes Mangold *
D
as Bundeskriminalamt stellte in den 1970er Jahren auf EDV um. Die Computerisierung
der Polizei iel damit in die Zeit des eskalierenden Linksterrorismus. Diverse Romane
und Spielilme haben diese historischen Polizeicomputer iktionalisiert. Dabei hat sich die
Darstellung ab 1988 verändert – ein Befund, der auch im Blick auf die Entwicklung
populärer Krimiserien aufschlussreich ist.
«Just one more thing»
«Just one more thing»: Mit diesem Sätzchen beliebt
Lieutenant Columbo seine eigentlich schon vollzogenen
Abgänge zu widerrufen, unerwartet noch einmal einzutreten
und seine Verdächtigen mit spitzindigen Nachfragen zu
verunsichern. Es ist – neben dem geschickten Marketing
– auch die kauzige Art der von Peter Falk gespielten
Hauptigur, die der Serie Columbo zu Kultstatus verholfen
hat. Der verwirrt wirkende, stets im verilzten Trenchcoat
auftretende Ermittler löst Mordfälle, über deren Hergang
die Zuschauer jeweils bereits zu Beginn der Episoden
aufgeklärt werden. Nicht die Frage nach dem Täter, sondern
die Frage nach der Art und Weise der Aufklärung evoziert
in Columbo Spannung.
Ähnlich wie die Falk-Fans wussten auch die historischen
Fahnder im Bundeskriminalamt (BKA) der 1970er Jahre,
welche Personen sie für linksextremistischen Terror
verantwortlich zu machen hatten, konnten diese aber
nicht fassen. Mit Strategien des ‹Untertauchens›, der
möglichst spurenlosen und unauffälligen Lebensführung
im Untergrund, entzogen die Terrorverdächtigen sich
dem polizeilichen Zugriff. Anders als bei Columbo, wo
der herausragende persönliche Intellekt des Fahnders
ausreicht, um die Täter dingfest zu machen, setzte das
BKA auf die aufstrebende Technologie der elektronischen
Datenverarbeitung (EDV). In Wiesbaden, dem Hauptsitzt
des BKA, entstand ab 1971 eine leistungsfähige
Rechenanlage, deren Anwendungen die Polizeiarbeit
grundlegend reformieren sollte.
Die negative Rasterfahndung
Exemplarisch für das innovative Potential der
Computerisierung der Polizei steht die sogenannte
‹negative Rasterfahndung›. Wie diese funktioniert, kann
die Festnahme Rolf Heißlers im Juni 1979 illustrieren:
Um den untergetauchten RAF-Terroristen aufzuspüren,
hatte das BKA in einem ersten Schritt ein Magnetband
der Elektrizitätswerke der Stadt Frankfurt am Main
beschlagnahmt, das sämtliche Kunden der Unternehmung
erfasste. Von diesem Speicher löschten die Fahnder
alle Einträge, bei denen den Elektrizitätswerken eine
Bankverbindung bekannt war. Die verbleibenden, rund
18 000 Einträge zu barzahlenden Kunden wurden daraufhin
mit weiteren Datensätzen abgeglichen, unter anderem
mit jenen des Einwohnermeldeamts und des PKWHalterregisters, so dass möglichst umfassend Personen
gelöscht werden konnten, deren Namen als legale Namen
feststanden. Am Ende blieben in der Datei der Polizei nur
zwei Einträge übrig, die als Decknamen in Frage kamen:
Einer davon führte zu einem Drogendealer, der andere zum
RAF-Mitglied Heißler.
Das Informationssystem der Polizei
Der Entwicklung massenstatistisch- und computerbasierter
Ermittlungstechnologien wie der Rasterfahndung ging
der Aufbau von polizeilichen Dateisystemen voran. Unter
dem umtriebigen Präsidenten Horst Herold wurde das
Informationssystem der Polizei (INPOL) aufgebaut, das
unter anderem einen Zentralen Personen Index (ZPI),
das System Daktyloskopie und die Datei Personen,
Institutionen, Objekte, Sachen (PIOS) enthielt. 1979
betrachtete Der Spiegel INPOL als das «elaborierteste
polizeiliche Informationssystem der Welt» und als «grössten
EDV-Verbund der BRD». Das ZPI enthielt die Daten zu
landesweit allen gesuchten und inhaftierten Personen,
die über das INPOL-Netzwerk zum ersten Mal in der
Geschichte in Sekundenschnelle und laufend aktualisiert
abgerufen werden konnten. Das System Daktyloskopie
stellte seinerseits eine besonders elaborierte Form der
Digitalisierung dar: Es gelang den BKA-Entwicklern,
die Papillarlinien mithilfe der Kurvendiskussion als
mathematische Formeln darzustellen. Durch diese
Übersetzung liessen sich in verhältnismässig geringer
Zeit riesige Bestände von Fingerabdrücken elektronisch
zuverlässig abgleichen. Die daktyloskopische Untersuchung
trat damit an den Beginn einer Ermittlung – während sie
beim TV-Lieutenant Columbo noch von blossem Auge
durchgeführt werden musste und demgemäss erst bei einem
36
bereits stark eingegrenzten Kreis von Verdächtigen zum
Einsatz kommen konnte.
Fingerabdruckkarten von 2,1 Millionen und Lichtbilder von
1,9 Millionen Personen zugeführt. Den politischen Rückhalt,
den dieser Prozess genoss, illustriert das kontinuierliche
Die kybernetische Suchmaschine
Ansteigen des BKA-Budgets: Von 20 Millionen Mark im
Das Kernstück von INPOL bildeten die PIOS-Dateien. Jahr 1970 explodierte es geradezu auf 144 Millionen Mark
Als Untergruppe hatte das BKA in den 1970er Jahren im Jahr 1980.
die Datei PIOS/Terrorismus erstellt, die im Januar 1979 Zur anfänglichen Euphorie rund um «Kommissar
Angaben zu über 135 000 Personen, 5500 Institutionen, Computer» gesellten sich aber bald auch zweifelnde
115 000 Objekten und 74 000 Sachen enthielt, die Stimmen. Je grösser das Computersystem der Polizei wurde,
mit dem Linksterrorismus in Verbindung gebracht je näher das «Orwell Jahr 1984» (Der Spiegel) rückte, desto
wurden. Die Einträge konnten die Beamten mithilfe von skeptischer betrachtete eine kritische Öffentlichkeit die
Junktoren wie UND, ODER, NICHT befragen, was die «Datensammlungswut» des BKA. Die Behörde erschien
systematische Verknüpfung von Daten ermöglichte. Für die einerseits als die weltweit modernste Polizei, andererseits als
Polizeibeamten war es mit PIOS möglich geworden, ohne «Big Brother» und Verkörperung des Überwachungsstaats.
übermässigen Aufwand ein Dossier zu erstellen mit «alle[n] Die Spannung zwischen diesen beiden Lesarten wurde
verheirateten Schlosser[n], die über 1,80 Meter groß sind, durch die Eskalation linksextremer Gewalt zusätzlich
schwäbische Mundart sprechen
verschärft. Den Resonanzraum,
und Diebstähle in Kirchen
der
sich
im
Konlikt
«Je
näher
das
‹Orwell
Jahr
1984›
bevorzugen», so Herold. Diese
zwischen Bevölkerungs- und
rückte, desto skeptischer betrachtete
Methode erscheint heute, mit
Datenschutz öffnet, loten bis
eine kritische Öffentlichkeit die ‹Dadem alltäglichen Einsatz von
heute diverse literarische und
Internetsuchmaschinen, wenig
ilmische Produkte aus. Mit
tensammlungswut› des BKA.»
aufregend, zur fraglichen
einem Korpus, der mit Heinrich
Zeit bedeutete sie jedoch
Bölls Erzählung Die verlorene
eine spektakuläre Neuerung. Noch Bahnbrechenderes Ehre der Katharina Blum (1974) beginnen und mit Andres
als die verknüpfende Suche erwartete Herold von der Veiels Spielilm Wer wenn nicht wir (2011) enden könnte, liesse
computergestützten massenstatistischen Auswertung der sich die Entwicklung der künstlerischen Bezugnahmen auf
Daten.
die historische Lage im Allgemeinen nachzeichnen (s. dazu
Auf
massenstatistisch produzierten Erkenntnissen Tremel 2006). Welchen Transformationen die Darstellung
beruhte auch das Gesamtkonzept, das Herold mit der ersten Rechenanlage im BKA im Speziellen unterlegen
der Computerisierung des BKA verfolgte. Zur ist, habe ich in meiner Masterarbeit aufzuzeigen versucht.
Efizienzsteigerung hatte er seit seinem Amtsantritt 1971
das BKA nach den Prinzipien der Kybernetik restrukturiert. Disziplinar- und Kontrollgesellschaft
Die Organisation der Polizei sollte über Feedback-Schlaufen In Romanen und Spielilmen zum Linksterrorismus
laufend den neuesten Erkenntnissen angepasst werden: der 1970er Jahre, die vor 1988 erschienen sind, werden
Durch die statistische Auswertung von Straftatendaten nach die Computer des BKA stets verwendet, um eine
Ort und Zeit sollten beispielsweise «die starren Streifenzeiten ordnungsdienstliche Disziplinartechnologie darzustellen.
[...] von einem schwerpunktmäßig ausgerichteten Einsatz Als eine Art ‚Hardware des Überwachungsstaats‘
abgelöst [werden], der die Polizeikräfte an den Ort zu symbolisieren die Polizeicomputer den Übergriff des
der Zeit lenkt, an dem und zu der sie gebraucht werden» Staatsapparats auf die informationelle Selbstbestimmung
(Herold 1968, 46). Die EDV der Polizei ermöglichte seiner Bürgerinnen und Bürger. Für 1988 ist ein Bruch in
nicht nur das Abfragen riesiger Datenbestände und der narrativen Funktion des Polizeicomputers feststellbar,
das systematische Verknüpfen von Einträgen, sondern der sich auch innerhalb eines einzelnen Romans nachweisen
sollte schliesslich auch helfen, Verbrechen präventiv zu lässt.
bekämpfen: Polizeieinheiten sollten schliesslich aufgrund In Rainald Goetz’ Kontrolliert erscheint der Computer
der laufend aktualisierten statistischen Einsichten «an den zunächst ebenfalls als ein Medium der Überwachung.
Ort zu der Zeit» geschickt werden, wo die Verbrechen Der Text schildert, wie die Körperfunktionen des
erst noch begangen werden sollten. So weit zumindest die komatösen Andy Warhols auf einer Intensivstation durch
Vision im linksliberalen, technokratischen Milieu der frühen «Elektronenhirne» kontrolliert werden. Dabei wird die
1970er Jahre.
hierarchische Konstellation zwischen Beobachter und
Beobachtetem allerdings aufgebrochen; es stellt sich heraus,
Bevölkerungs- und Datenschutz
dass die «Elektronenhirne» ihrerseits überwacht werden:
Damit die computerisierte und kybernetisierte Polizei Menschen werden von Computern überwacht, diese
erfolgreich arbeiten konnte, musste auf eine ausreichende wiederum durch «Überwacherwächter[ ]» «kontrolliert»,
Datenlage zurückgegriffen werden können. Insgesamt welche ihrerseits von einem übergeordneten System
hatte man der EDV beispielsweise 4,7 Millionen Namen, überprüft werden, «und so weiter» (Kontrolliert 210). Der
expositionen
37
Körper des Künstlers ist, in einem Schaltkreis mit dem
Computer verbunden, zu einem Cybernetic Organism
(Cyborg) geworden. Damit erweist sich die hierarchische
Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem als
durchbrochen; über die Figur der Beobachtung zweiter
Ordnung ist dem Text damit eine als systemisch gedachte
erkenntnistheoretische Ebene eingeschrieben.
Die Polizeicomputer operieren in Kontrolliert auf dieselbe
Weise. Durch das Verwenden der EDV erreichen die
Beamten im Bundeskriminalamt einen epistemologisch
übergeordneten Standpunkt: Sie können sowohl die RAF
als auch die politische Führungsriege beim Beobachten
der Lage beobachten. In Goetz’ Roman führt dies dazu,
dass Herolds Behörde die Dramaturgie des Deutschen
Herbsts diktiert. Die Polizeicomputer funktionieren
nicht mehr als Disziplinartechnologie, sondern müssen
unter einem «postsouveränen» Paradigma verstanden
werden, wie es etwa Gilles Deleuze im Postskriptum über die
Kontrollgesellschaften (1993) beschreibt. In Kontrolliert, dessen
Poetik mit Deleuzes und Guattaris Metapher des Rhizoms
beschrieben werden kann, wird Macht nicht einfach
einer Institution zugeschrieben, sondern die mithilfe von
Computern erfolgende Machtausübung des BKA erscheint
als kybernetische, lexible, vernetzte und anpassungsfähige
Kontrollform innerhalb eines nicht-hierarchischen Systems.
Der Polizeicomputer produziert den dafür nötigen
Erkenntnisvorsprung.
Elektronisch erkennen
Auch in Friedrich Christian Delius’ 1992 publiziertem
Roman Himmelfahrt eines Staatsfeindes ist die Funktion der
Polizeicomputer in einem erkenntnistheoretischen Kontext
zu verorten. Unter Bezug auf Jean Baudrillards Theorem
des ‚Simulakrum‘ erscheinen Rechner als Technologie,
die eine virtuelle Realität produzieren. Delius’ iktiver
BKA-«Chef» wird als Nerd gezeichnet, dessen einziger
Kommunikationskanal zur Welt ausserhalb des Amts
von seinem Computer bereitgestellt wird. Entsprechend
hat der «Chef» nur «das Gefühl», den «Herzschlag der
Gesellschaft» zu fühlen: Seine computerbasierte ist eine
computersimulierte Erkenntnis. Mit Baudrillard gesprochen
produzieren die Polizeicomputer in Himmelfahrt eines
Staatsfeindes eine ‚virtuelle‘ Realität, die sich von den ‚realen‘
Ereignissen als durch ein komplexes technisches und
organisatorisch-soziales System abgeschottet erweist.
Als Erkennungstechnologie inszeniert auch Uli Edels
Doku-Fiktion Der Baader Meinhof Komplex (2008) die
Rechenanlage im BKA. Sobald der Grossrechner in
Herolds Behörde installiert ist – so suggeriert es der Film
– können die TerroristInnen festgenommen werden.
Hielten sich diese zuvor in einer «schier unübersehbare[n]
Sympathisantenszene» versteckt, ist es unter Anwendung
einer mithilfe der EDV durchgeführten negativen
Rasterfahndung ein Leichtes, die Untergetauchten aus der
«unübersehbare[n]» Datenmasse herauszuiltern. Der sich
historisch detailgetreu und «so authentisch wie möglich» (Edel)
gebende Film nimmt dafür einerseits diverse Anachronismen
in Kauf, unterstützt das Bild des leistungsfähigen Rechners
andererseits durch die offensichtliche Modernisierung
des Computerraums gegenüber dem historischen
Vorbild. Der Blockbuster schliesst, anders als Goetz
und Delius, die Computertechnologie dabei nicht mit
einer epistemologischen Fragestellung kurz. Vielmehr
rückt der iktive User Herold auf der Ebene des Plots
gegenüber seiner Technologie in den Hintergrund:
Während die Rechenanlage effektiv die richtigen Daten
erkennt, was in der Story zu Festnahmen führt, bleibt die
für Verständnis plädierende, sozialkritische Position der
Fahnder-Figur isoliert und wirkungslos: Edel zeichnet sie
als unverständliche und überkomplexe Sprechakte eines
verschrobenen Intellektuellen.
«Als Erkennungstechnologie inszeniert auch Uli Edels Doku-Fiktion
Der Baader Meinhof Komplex die Rechenanlage im BKA.»
Columbo/CSI
Im Hinblick auf die populärsten iktionalen Darstellungen
von Fahnder-Figuren ist diese kleine Kulturgeschichte der
ersten BKA-Rechenanlage aufschlussreich. Die aufgezeigte
Abwertung des Polizeicomputers als Technologie des
Überwachungsstaates und die Transformation zu einer
Informationstechnologie im weitesten Sinne blieben
nicht ohne Relevanz für das althergebrachte Bild des
Ermittler-Individuums. Während in den späten 1970er
Jahren der dezente Columbo die Zuschauer massenweise
vor den Bildschirm lockte, dürfen die Staffeln der CSI:
Crime Scene Investigation-Reihe seit 2006 regelmässig die
weltweit höchsten Zuschauerzahlen für sich reklamieren
(Golden Nymphs Awards Listing, s. auch Gugerli 2007);
der hochintelligente Einzelgänger wurde von einem
hochtechnisierten und -spezialisierten Expertenteam aus der
Primetime verdrängt. Während die individuellen Charaktere
in CSI nicht weiter ausgearbeitet werden, bürgen schnelle
Schnittfolgen und starke Farbilter auf der formalen Ebene
für die Arbeitsteilung und Vernetzung auf der inhaltlichen
Ebene. Die Fahnderiguren sind nur mehr als «Akteure»
(Callon/Latour 2006) beschreibbar, wenn ihre Arbeit als
die eines Netzwerks analysiert wird. Als eine deren zentraler
Komponenten agieren Rechenmaschinen. Kurzum: Der
Detektiv ist zum Cyborg geworden.
Callon, Michel & Latour, Bruno: Die Demontage des
großen Leviathan. Wie Akteure die Makrostruktur
der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei
helfen. In: David J. Krieger & Andréa Belliger (Hgs.):
ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, 75–102
38
Gugerli, David: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank.
Frankfurt a.M. 2009
ders.: Die Welt als Datenbank. Zur Relation
von
Softwareentwicklung,
Abfragetechnik
und
Deutungsautonomie. In: ders. usw. (Hgs.): Daten. Zürich
2007, 11–36
Herold, Horst: Kriminalgeographie. Ermittlung und
Untersuchung der Beziehung zwischen Raum und
Kriminalität. In: Polizei-Institut Hiltrup (Hg.): 19.
Arbeitstagung für Kriminalistik und Kriminologie.
Hiltrup 1968, o.S.
ders.: Kybernetik und Polizei-Organisation. In:
Die Polizei. Zentralorgan für das Sicherheits- und
Ordnungswesen. Polizei-Wissenschaft, -Recht, -Praxis
61/2 (1970), 33–37
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt
des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1977.
Tremel, Luise: Literrorisierung. Die RAF in der deutschen
Belletristik zwischen 1970 und 2004. In: Wolfgang
Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus,
Bd. 2. Hamburg 2006, 1117–1153
* Hannes Mangold ist seit kurzem Master of Arts in German
Studies. Der vorliegende Text beruht auf seiner Masterarbeit
«Polizeicomputer im Deutschen Herbst».
expositionen
39
Ein Ding der Unmöglichkeit?
Der Schweizer Tatort im Konlikt mit der sprachlichen Situation der Schweiz und dem TatortKonzept
Franziska Zihlmann *
D
er Tatort ist ein Fernsehklassiker, dessen Format sich durch regionale Einlüsse und realistische
Darstellung auszeichnet. Doch eben diese Eigenschaften scheinen dem Schweizer Tatort Mühe zu
bereiten. Eine Untersuchung des Schweizer Tatorts im Hinblick auf das Konzept der Fernsehkrimiserie und die sprachliche Situation in der Schweiz.
Mit Howalds Fall trat das Schweizer Fernsehen 1990 in kommen Redewendungen hinzu, die aus dem Deutschen
die langjährige Tradition des Fernsehklassikers Tatort ein. übernommen werden, jedoch in der Schweiz keine
Ursprünglich wurde die Krimiserie in Schweizerdeutsch Verwendung inden. Denn in der Schweiz gibt es weder
gedreht und für das deutsche und österreichische einen «Keks» noch die Redewendung «Mein Freund ist mir
Publikum synchronisiert. Die zweisprachige Produktion ganz schön auf den Keks gegangen». Gemäss Häusermann
war für das Schweizer Fernsehen jedoch inanziell zu wird jedoch «nicht nur eine neue Sprachform eingeführt,
aufwändig und so wurde bereits nach einigen Folgen nur sondern auch eine Funktion, die es so in der Schweiz nicht
noch auf Hochdeutsch produziert. Trotzdem blieben gibt» (2000: 229). Mit Laszlo I. Kish als Kommissar von
dem Tatort Publikum zunächst einige schweizerdeutsche Burg hält ein Bühnendeutsch Einzug, das sich klar vom
Wörter und Redewendungen erhalten. So begrüssten dialektal gefärbten Hochdeutsch der Laiendarsteller und
sich beispielsweise die Polizisten am Tatort mit «Sali» und -darstellerinnen abhebt und so eine soziale Differenzierung
«Grüezi» oder verwendeten Redewendungen, die aus dem über dialektalen Sprachgebrauch evoziert. Eine Funktion,
Schweizerdeutschen ins Hochdeutsche transferiert wurden. die wir im schweizerischen Alltag nicht kennen und die
Solche
schweizerdeutschen
vielmehr an die Sprachsituation
Wörter oder Redewendungen
in Deutschland erinnert.
«Ab 1995 sind die meisten pragwurden jedoch zunehmend
All diese Anpassungen und
matischen Ausdrücke, die Ausrufe,
seltener, da die Drehbücher
Erklärungen bewirken gemäss
Grussformeln und Redensarten an
von einer Redakteurin bei
Häusermann, dass sich die
den
hochdeutschen
Sprachgebrauch
Radio Bremen auf Helvetismen
schweizerischen «TATORTe
angeglichen.»
überprüft
wurden.
Ab
dem deutschen Zuschauer als
1995 wurden die meisten
deutsche Filme präsentieren,
pragmatischen Ausdrücke, die Ausrufe, Grussformeln für den Schweizer Zuschauer aber um so deutlicher den
und Redensarten an den hochdeutschen Sprachgebrauch Charakter eines synchronisierten Ereignisses haben» (2000:
angeglichen. Darauf folgen sechs weitere Tatort Folgen 230). Im weiteren Sinne entsteht durch die Veränderungen
in reinem Hochdeutsch, bevor 2001 der Schweizer Tatort des Sprachgebrauchs eine Spannung zwischen der Tatortzugunsten der Produktion von Schweizer Dialektilmen Realität und der Schweizer Realität.
abgesetzt wurde.
Divergierende Welten
Synchronisierte Heimat
Häusermann spricht in seinem Text «Synchronisierte Heimat»
Für Jürg Häusermann wird der Schweizer Tatort durch einen sehr wichtigen und signiikanten Punkt des Schweizer
die Angleichung an den hochdeutschen Sprachgebrauch Tatorts an. Denn mit dem Anspruch, länderübergreifend
zu einem synchronisierten Ereignis. Der eigene Charakter verständlich zu sein, entfernt sich der Schweizer Tatort
des Schweizer Tatorts ist zwar noch spürbar, wird jedoch zunehmend von der ihm zugrunde liegenden Realität.
für das deutsche und österreichische Publikum mit Der Schweizer Tatort ist nicht mehr länger ein Abbild des
zusätzlichen Erklärungen ergänzt. Insbesondere auf der Schweizer Alltags, sondern eine verständlich gemachte,
sprachlichen Ebene ist dieser Vorgang für Häusermann zu synchronisierte Schweizer Realität. Das Publikum sieht eine
beobachten: «Da lassen wir uns gar nicht in gleicher Weise Welt, in der Ermittlungen und Verhöre auf Hochdeutsch
ansprechen. Da gibt es Sätze, die sich direkt an ihn [den geführt werden und Redewendungen vorkommen, die vom
deutschen Zuschauer, F.Z.] wenden» (2000: 227). Zusätzlich schweizerischen Publikum zwar verstanden werden, jedoch
zur Angleichung an den hochdeutschen Sprachgebrauch im Alltag keine Verwendung inden.
40
Der Schweizer Tatort divergiert von einem Schweizer Alltag,
in welchem nur in Ausnahmesituationen in Standardsprache
gesprochen wird und wirkt damit unrealistisch. Doch gemäss
Thomas Koebner sollte mit dem Tatort eine KriminalilmReihe beginnen, die sich durch ihre realistische Darstellung
und regionalen Einlüssen auszeichnet. Folglich entfernt
sich der Schweizer Tatort nicht nur zunehmend vom
Schweizer Alltag, sondern damit verbunden auch von dem
ihm zugrunde liegenden Tatort-Konzept.
Mit dem Neustart der Schweizer Tatort-Reihe im Jahr
2011 wollte sich das Schweizer Fernsehen möglicherweise
auf die beiden Charakteristika des Tatorts (realistische
Darstellung, regionale Einlüsse) besinnen. So wurde
«Der Schweizer Tatort ist nicht mehr
länger ein Abbild des Schweizer
Alltags, sondern eine verständlich
gemachte, synchronisierte Schweizer
Realität.»
«Wunschdenken» wiederum in Schweizerdeutsch gedreht
und auf Hochdeutsch synchronisiert. Doch auch dem
auf Schweizerdeutsch gedrehten Tatort fehlte es laut der
Kulturchein des Schweizer Fernsehens, Nathalie Wappler,
an «Witz, Spannung und Lokalkolorit». Aus diesem Grund
wurde der Tatort denn auch vorzeitig zurückgezogen und
überarbeitet, bevor er am Sonntag 14. August 2011 im
Fernsehen ausgestrahlt wurde.
In Anbetracht dieser Entscheidung stellt sich die Frage,
warum ein Schweizer Tatort, der in Schweizerdeutsch
produziert wurde und somit der sprachlichen Realität der
Schweiz entspricht, immer noch zu wenig Lokalkolorit
aufweist. Hierfür sollen zwei mögliche Erklärungsansätze
präsentiert werden.
Problematik der medialen Diglossie
Eine mögliche Antwort indet sich in der besonderen
Sprachsituation der deutschsprachigen Schweiz. Denn
keine ihrer gesellschaftlichen Gruppen hat die Hochsprache
zu ihrer gesprochenen Alltagssprache gewählt. So wird laut
Walter Haas «in allen gesprochenen Domänen von allen
Angehörigen aller Schichten Dialekt gesprochen, während
der Standardsprache alle schriftlichen Domänen überlassen
bleiben» (1992: 312). Diese spezielle Sprachsituation
beschreibt Gottfried Kolde als «mediale Diglossie»
(1981: 65 ff.). Je nach Art des Mediums (Gesprochen
vs. Geschrieben) wird in Dialekt oder Standardsprache
gesprochen beziehungsweise geschrieben, wobei hier
angemerkt werden muss, dass es auch für diese Regelung
Ausnahmen gibt, wie der Schweizer Alltag beweist. Da der
Tatort auf einem schriftlichen Drehbuch basiert, besteht
ein sprachlicher Konlikt zwischen schriftlicher Grundlage
und dem Sprachgebrauch im Film. Geschrieben wird in
Standardsprache, gesprochen in Mundart. Folglich muss
ein Schauspieler oder eine Schauspielerin den Drehbuchtext
für den Film in den jeweiligen Dialekt übersetzen. Dabei
besteht die Gefahr, dass hochdeutsche Wörter und
Redewendungen im dialektalen Sprachgebrauch beibehalten
werden und sich somit eine so genannte interlanguage
ausbildet (Bsp.: «Mer müend s Vorgehe koordiniere»). Diese
durch die mediale Diglossie erzeugte Sprachsituation im
Tatort widerspricht wiederum der sprachlichen Realität in
der deutschen Schweiz und entzieht sich folglich auch dem
Tatort-Konzept.
Problematik der Publikumserwartung
Hinzu kommt, dass die Rezeptionshaltung des Schweizer
Publikums eine andere ist. Trotz der Tatsache, dass der
schweizerdeutsche Tatort der sprachlichen Realität der
Schweiz entspricht, wird dieser Tatort befremdend auf
die Zuschauerinnen und Zuschauer wirken. Denn laut
Haas, stellt das Fernsehen eine feste Domäne dar, in
welcher mehrheitlich hochdeutsch gesprochen wird.
Die Untersuchungen von Walter Haas liegen jedoch
schon mehrere Jahre zurück, weshalb der vermehrte
Dialektgebrauch im Fernsehen in den vergangenen Jahren
nicht berücksichtigt wurde. Forschungsergebnisse explizit
zum Sprachgebrauch in Krimiserien liegen keine vor. Im
Schweizer Fernsehen werden jedoch gemäss der Serienliste
im Internet mit einer Ausnahme (Hunkeler) einzig
Krimiserien in Standardsprache gesendet (Ein Fall für zwei,
CSI: Miami, Tatort, Der Alte, Der Kriminalist, Der letzte
Zeuge, Derrick, Der Staatsanwalt, Kommissar Stolberg,).
Folglich sind Zuschauer und Zuschauerinnen des Schweizer
Fernsehens Krimiserien in Schweizerdeutsch nicht gewohnt
und treten mit einer klaren Erwartungshaltung an einen
Krimi heran, die der Schweizer Tatort nicht erfüllt.
«Es scheint fast ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, einen Schweizer
Tatort zu produzieren, der allen
Ansprüchen gerecht wird.»
Ein Ding der Unmöglichkeit?
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass
der Schweizer Tatort mit dem Sprachgebrauch Mühe
bekundet. Er sucht nach einer Ausdrucksmöglichkeit,
die international verständlich ist, jedoch der sprachlichen
Realität in der deutschen Schweiz und damit verbunden
dem Tatort-Konzept entspricht. So changiert der Schweizer
Tatort zwischen dialektalem, dialektal gefärbtem und
hochdeutschem Sprachgebrauch. Immer wieder kommt
er dabei in den Konlikt mit der sprachlichen Realität der
deutschen Schweiz oder widerspricht der Rezeptionshaltung
des schweizerischen Krimipublikums. Es scheint fast ein
Ding der Unmöglichkeit zu sein, einen Schweizer Tatort zu
produzieren, der allen Ansprüchen gerecht wird.
expositionen
41
Doch Rezeptionshaltungen sind variabel und so kann auch
ein Krimipublikum Krimiserien in Dialekt schätzen lernen.
Auch in der Musikbranche musste sich der Schweizer
Rap durchsetzen und in der Literaturbranche hatte die
Mundartliteratur gegen Vorurteile zu kämpfen.
Haas, Walter 1992: Mundart und Standardsprache in der
deutschen Schweiz. In: van Leuvensteijn, J.A., Berns,
J.B. (Hg.): Dialect an Standard Language - Dialekt und
Standardsprache in the English, Dutch, German and
Norwegian Language Areas. Amsterdam. 312–331
Häusermann, Jürg 2000: Synchronisierte Heimat. Die
Deutsche Schweiz als Bundesland der ARD. In: Wenzel
Eike (Hg.): Ermittlungen in Sachen Tatort: Recherchen
und Verhöre, Protokolle und Beweisfotos. 225–234
Koebner, Thomas 1990: Tatort – Zu Geschichte
und Geist einer Kriminalilm-Reihe. In: Augen-Blick.
Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 9 (1990). 7–31
Kolde,
Gottfried
1981:
Sprachkontakte
in
gemischtsprachigen
Städten.
Vergleichende
Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen
sprachlicher
Interaktion
verschiedensprachiger
Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/Bienne und
Fribourg/Freiburg
* Franziska Zihlmann studiert im 9. Semester Germanistik und
Theaterwissenschaft an der Universität Bern und ist heimliche
Tatort-Liebhaberin. Der Beitrag basiert auf einer Seminararbeit in
Theaterwissenschaft.
42
Von ambivalenter Interdisziplinarität zur soziologischen
Regeneration?
Eine Odyssee mit dem Soziologen Neil J. Smelser an der Universität Bern
Désirée Waibel und Markus Unternährer *
A
nlässlich des Besuchs von Neil Smelser in Bern wird die Frage nach einer synthetischen Sichtweise
auf die sich zunehmend fragmentierende Disziplin der Soziologie gestellt. Wie skizziert ein
undogmatischer Feldkenner wie Smelser eine mögliche Regeneration der Soziologie, und welche
Aussichten hätte ein solches Projekt tatsächlich?
«[The Odyssey] is a inite period of disengagement from
the routines of life and immersion into a simpler, transitory,
often collective, usually intense period of involvement that
culminates in some kind of regeneration» (Smelser, 2009,
xi).
Suche nach dem roten Faden
Im frühen 19. Jahrhundert gab der französische Philosoph
Auguste Comte der Soziologie ihren Namen und proklamierte
ihren Status als ‹Königsdisziplin›. Nach Comte sollte diese
ganz unbescheiden als Schiedsrichterin auf allen Gebieten
des Wissens fungieren – ein Anspruch, der Comtes Schüler
in Übersee dazu anstiftete, den Präsidenten der Brown
University aufzufordern, alle Abteilungen der Universität
neu zu organisieren und der Soziologie zu unterstellen. Rund
100 Jahre später gab der Jubiläumskongress der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt den Medien Anlass,
die gegenwärtige Verfassung des Faches zu evaluieren.
Konstatiert wurde eine «Friedlichkeit des Nebeneinanders»,
eine Verhaltensweise, derentwegen diese Wissenschaft für
die Öffentlichkeit von minderem Interesse sei.
Was von der Königsdisziplin bleibe, sei ein
multiperspektivisches
«Labyrinth
unterschiedlichster
Sektionen», innerhalb dessen ein roter Faden nicht
auszumachen sei (Süddeutsche Zeitung v. 15.10.2010, Die Welt
v. 12.10.2010). Die Frage nach dem roten Faden, der die
Wissenschaft in ihrem Themenspektrum zusammenhalten
soll, wird indes als Desiderat an die Schnittstelle zwischen
Wissenschaft und Öffentlichkeit herangetragen. Im
Gegensatz zum innerwissenschaftlichen Treiben, kann
über den Verlauf eines roten Fadens auch aus der
Aussenperspektive relektiert werden – wodurch eine
Evaluation des Apparats erst möglich wird. Beim Berichten
über das 100-jährige Bestehen der Soziologie war man
sich im vorletzten Jahr über die gegenwärtige Verfassung
des Fachs weitgehend einig: Die Fragmentierung
und Spezialisierung, die die Professionalisierung der
Soziologie forcierte, verunmögliche heute jenen speziisch
soziologischen Blick. Dieser Verlust bringe es mit sich,
dass die Soziologie von der Gesellschaft nicht mehr zu
Rate gezogen werden könne, wenn es um die grösseren
Zusammenhänge gesellschaftspolitischer Dynamiken
bzw. um deren Veränderung und Verbesserung gehe.
Ob diese Fremdbeschreibungen zur (In-)Existenz eines
roten Fadens sowie einer auch in pragmatischer Hinsicht
tauglichen wissenschaftlichen Vogelperspektive in der
Selbstbeschreibung bejaht und gutgeheissen werden können
oder nicht: Für eine wissenschaftliche Disziplin stellt sich
auf jeden Fall die Frage nach ihrer Vermittlung. Um diese
Frage erst in den Blick zu bekommen, benötigt es etwas
Ungewöhnliches, Odysseeisches, was die Überlegungen
von den eigenen gedanklichen Baustellen und den damit
verbundenen Lehrpersonen und Lektüren und schliesslich
den benötigten Credit-Points im richtigen Modul auf eine
höhere Stufe hebt: «Was studieren wir hier eigentlich, und
wie?» Zu einer solchen Odyssee lud der emeritierte Soziologe
Neil Joseph Smelser, Schüler und Kollege von Talcott
Parsons, die Studierenden im Rahmen eines einwöchigen
Seminars an die Universität Bern. Sein Gastgeber Prof. Dr.
Christian Joppke war Schüler Smelsers und hat heute den
Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie in Bern inne.
Rarität der ‹Feldkenner›
Der Seminartitel Key Topics in Sociology klingt provokativ, da
er einen Gegenstand voraussetzt, dessen Beschreibung den
HörerInnen wohl weder aufs Geratewohl noch in stiller
Ausarbeitung gelingen würde. Das Seminar, angekündigt
als «an exercise in relecting on the development of 20
and 21st century sociology through intellectual biography»
versprach eine Synthetisierung des Faches, eben nicht nur
aufgrund des Titels, sondern wegen des Dozenten: Seit
über sechzig Jahren ist Neil Smelser derart aktiv im Feld
engagiert, dass unter den Studierenden gemunkelt wurde,
dies sei einer, «der das Feld noch kennt». Ein ‹Feldkenner›
ist aus der Warte der Studierenden jemand, der sich nicht
nur durch enzyklopädisches Wissen auszeichnet, sondern
expositionen
43
auch mitbeobachtet hat, wie und in welchem Kontext
dieses Wissen produziert und positioniert wurde; er kennt
und kannte die Vertreter der verschiedenen Stränge noch
persönlich und fungiert als Mediator zwischen den Klassikern
und den StudentInnen. Dabei handelt es sich um Autoren,
deren Klassizität zu Studienbeginn unhinterfragt bleibt. So
machen zwölf – wenn auch alternierende – Klassiker den
von den Präferenzen der Heimuniversität gezeichneten
Apparat aus, da das Semester nun mal zwölf Wochen dauert.
Die interaktive Entstehung dieser Wissenschaft – wobei
der jeweilige Zeitgeist, die innerwissenschaftlichen Intrigen
und Querelen sowie charismatischen Sonderlichkeiten das
Denken der ‹Klassiker› mitgeprägt hat – erscheint heute als
in PDF verdinglichte Materie, als expandierende Matrix an
Theorien, die den Studierenden als Werkzeug dienen soll.
Mit Blick auf die soziologische Hinterbühne hat Smelser
anhand des Begriffs der Ambivalenz den Motor der
Werkzeug-Produktion dieses Faches schon problematisiert:
«There is almost no facet of our existence as sociologists
about which we do not show ambivalence and its derivative,
dividing into groups or quasi-groups of advocacy and
counter-advocacy» (Smelser, 1998: 10). Klar ist, dass ein
grosser Teil des Studiums darin besteht, den Werkzeugkasten
und seine exorbitante Ausstattung an sich kennenzulernen
– oder zumindest seine Gebrauchsanweisung. Die Fülle an
Handbüchern der Soziologie ist Zeuge der alphabetischen
oder
chronologischen
Archivierungsmanie(r)
des
Faches. Betreffend der Vermittlung dieses evolutiven
Gedankengebäudes liegt die Vermutung nahe, dass die
Soziologie entlang ihres theoretischen, kampfsportlichen
Wechselspiels gelehrt und memoriert werden kann. Eine
sinnvolle Anwendung dieser synthetisierenden Lehrweise
dürfte mit zunehmenden Alter bzw. zunehmender innerer
Differenzierung des vergleichsweise jungen Fachs immer
unwahrscheinlicher werden.
Feldkenner sind demnach jene Dozenten, die das Feld
als work-in-progress darzustellen vermögen und damit
jene Kenntnisse vermitteln, die für die Studierenden
Voraussetzung sind, um am zeitgenössischen soziologischen
Wissensgebäude mitbauen zu können. Angesichts der
bausteinartigen Materie erstaunt nicht, dass man sich von
einem Feldkenner gerade die Preisgabe des Wissens um
die Prozesse auf der Hinterbühne erhofft – denen die
Handbücher ihre Inhalte zwar massgeblich zu verdanken
haben, jedoch in diesen Büchern kaum erwähnt werden.
Wanderlust
Neil Smelsers soziologische Karriere ist steil und begann
früh, was ihn zur Koketterie verleitet, dafür retroperspektiv
glückliche Zufälle verantwortlich zu machen, die ihn
immer wieder ins Zentrum der aktuellen Geschehnisse
stellten. Die Länge der Zeitspanne, seit Smelser durch die
Zusammenarbeit mit Talcott Parsons im Feld bekannt
wurde, wird unterdessen im Witz veranschaulicht,
wonach auf die Ankündigung seiner Teilnahme an
wissenschaftlichen Veranstaltungen mit der Frage reagiert
wird «Ist der nicht schon tot?» Dies verwundert nicht, war
Smelser im Erscheinungsjahr 1956 von Economy and Society
gerade mal 26 Jahre alt. Wie stark das Zusammentreffen mit
Parsons wirklich bloss dem von ihm schelmisch behaupteten
Zufall zuzuschreiben ist oder vielleicht nicht doch Smelsers
Aufwachsen im intellektuellem Umfeld, seinem Studium
an den Eliteuniversitäten Harvard und Oxford und seiner
persönlichen Ambition, sei vorläuig dahingestellt.
Nach seiner Dissertation über das Thema Social Change in the
Industrial Revolution: An Application of Theory to the British Cotton
Industry (1959) – eine Anwendung und Erweiterung des
strukturfunktionalistischen Ansatzes seines Doktorvaters –
widmete er sich der Theory of collective Behavior (1962), welches
er als sein einlussreichstes Werk bezeichnet. Seine Arbeiten
sind stets eine Vermengung von Soziologie, Geschichts-,
Wirtschafts-, Religionswissenschaft, Politologie und
Psychologie. Interdisziplinarität stellt ein
Leitmotiv
seiner intellektuellen Tätigkeit dar; ein Weg, der schon zu
Beginn seines Studiums und entgegen Ratschlägen von
Studienberatern von ihm eingeschlagen wurde. Gerade die
Soziologie beindet sich damals wie heute in Konkurrenz
zu anderen – heute vielleicht vermehrt – interdisziplinären
Studienrichtungen, die auf StudienbeginnerInnen vielfach
eindeutiger, aktueller und im Hinblick auf das Berufsleben
pragmatischer wirken.
Smelsers undogmatisches Verständnis von Fachgrenzen
zeigt sich am stärksten in seiner Entscheidung für eine
psychoanalytische Ausbildung. Entgegen der üblichen
Distanzierung der beiden Fächer, versuchte er, kritisch
beäugt von seinen Fachkollegen, menschliches Verhalten
nicht nur durch sozialstrukturelle, sondern auch
psychoanalytische bzw. sozialpsychologische Faktoren zu
erklären. Diese Schaffensperiode kulminierte 1999 in der
Aufsatzsammlung The Social Edges of Psychoanalysis.
Bezeichnenderweise beschreibt Smelser Interdisziplinarität
als «disease of my life» (folgende Zitate Smelsers entstammen
dem Seminar und anschliessenden Gesprächen), die ihn
stets vor Langeweile geschützt habe und ihm erlaubte, von
Thema zu Thema zu gehen. Interdisziplinäre «Wanderlust»
bewahrte Smelser vor den quasi institutionalisierten
Dynamiken der Wissensproduktion: Scheinbar hat er sich
nie auf Grabenkämpfe zur Verteidigung des Legitimitätsoder Superioritätsanspruches ambitiöser Subdisziplinen
oder Denkschulen eingelassen, die manchmal den Anschein
von kultischen Gemeinschaften evozieren können. Auch
hier liegt die Vermutung nahe, dies sei eine Lehre aus der
Erfahrung mit Parsons, der sich verbissen weigerte, sein
Modell des Strukturfunktionalismus hinsichtlich geäusserter
Kritikpunkte zu adaptieren. Trotz dieser Missachtung
von disziplinären Labels («in some aspects I don’t really
consider myself a sociologist») könnten zahlreiche der
von ihm bekleideten Ämter soziologischer nicht sein: In
den Sechziger Jahren wurde er «due to two further lucky
coincidences» erst Redakteur der American Sociological Review
und später Vorsitzender des Behavioral and Social Science Survey
– was ihn sozusagen zum Wortführer der Disziplin machte.
44
Nicht zuletzt war Smelser der 88. Präsident der American
Sociological Association; solche Labels lassen sich nicht mehr
so leicht abschütteln.
Unromantische Vermittlerpositionen
Dem im Titel der Veranstaltung anklingenden Versprechen
einer Übersicht über die Disziplin entlang ihrer
‹Schlüsselthemen› ist natürlich kaum gerecht zu werden
– auch nach 60 Jahren Studium und Mitgestaltung der
Soziologie nicht. Um nicht in Rechtfertigungen zur
Dominanz bestimmter Teilgebiete zu geraten, liess Smelser
sich von seinen Themen leiten, deren Wurzeln er aber in
ihren Ursprüngen und Verzweigungen zurückverfolgte, um
zumindest ein einigermassen kohärentes Bild der jeweiligen
Subdisziplinen zu zeichnen. So zeigte er die Entwicklung
des Strukturfunktionalismus (an der er massgeblich
beteiligt war), seine Forschung zu sozialen Bewegungen,
rekapitulierte die Essenzen der Forschungsmethoden
in den Sozialwissenschaften und argumentierte für die
Wichtigkeit einer Wiederentdeckung der ‹Mesosoziologie›.
Seine Expertise in Wirtschaft war nicht nur in den
Vorträgen über die neuere und ältere Wirtschaftssoziologie
erkennbar, sondern färbte als Fokus auch auf die anderen
‹Schlüsselthemen› ab. In jedem dieser Felder wies sich
Smelser als kritischer Vermittler aus, indem er jeweils
die Vor- und Nachteile der extremeren Positionen unter
Berücksichtigung ihrer jeweiligen Perspektive und Rezeption
gegeneinander abwog. Diese Strategie der «somewhat
unromantic» vermittelnden Positionierung verfolgt Smelser
auch in dem in Kürze erscheinenden Buch Usable Social
Science: Zwischen simpliizierendem, instrumentellem
«social-engineering by formula» und einer Soziologie als
l’art pour l’art versuchen er und sein Ko-Autor, der Banker
John Reed, eine pragmatische Position in Bezug auf die
Verwendung soziologischen Wissens einzunehmen.
Smelser ist nicht nur ein Vermittler im Kampf der
Theorien, sondern auch ein Vermittler zwischen Studenten
und Universität, wo er in den unruhigen Zeiten des freespeech-movement in Berkeley als Kommunikator zwischen
den Fronten tätig war, sowie ein begnadeter Vermittler
von (soziologischem) Wissen, worauf Jeffrey Alexander
gerne eine Laudatio singt (Alexander/Marx 2005). Dieses
Einnehmen von «accomodating middle positions» ist
letztlich auch deshalb unromantisch, weil es so kein Leichtes
ist, Smelser zu fassen, geschweige denn, eindeutig einer
bestimmten Position zuzuordnen (so wurde in der Pause
spekuliert, welche politische Gesinnung er in seine oft sehr
politikafinen Ämter wohl hineintrug).
Im Gegensatz zu Parsons – Smelsers wichtigstem Mentor –,
der sein Leben lang an seinem Paradigma festgehalten hat,
ohne es stark zu verändern, bewährte es sich für Smelser,
sich nicht mit Haut und Haaren einer theoretischen oder
methodischen Position zu verschreiben. Es sei schade um
die Zeit, die in eine Verfestigung und Verteidigung einer
einschlägigen Position investiert werden müsse und verderbe
jegliche Wanderlust. Für Smelser ist dies wohl deshalb ein
wichtiger Ratschlag an die Studierenden, weil er sehr jung
bekannt und in der ‹Schublade› Strukturfunktionalismus
versorgt wurde – eine Einordnung, der er sich vehement
widersetzen musste.
Altes in Neuaulage
Nichtsdestotrotz hat Smelser theoretische Eigenleistungen
zu verbuchen, insbesondere sein Werk über soziale
Bewegungen Theory of Collective Behavior, das 1962 erschienen
ist und 2011 neuaufgelegt wurde.
Die darin entwickelte Value-Added-Theory postuliert sechs
Faktoren, deren Kumulation das Entstehen von kollektivem
Handeln in Form von Paniken, Booms oder sozialen
Bewegungen wahrscheinlich machen. Die Theorie behielt in
den 50 Jahren seit der Veröffentlichung ihre Erklärungskraft
– was in der Diskussion anhand des aktuellen Phänomens
der occupy-Bewegung erprobt wurde.
Als ersten Faktor nennt Smelser structural conduciveness,
womit eine grundlegende strukturelle Förderung gemeint
ist: Beispielsweise ist für eine Börsenpanik elementar,
dass Wertpapiere und dergleichen schnell gekauft und
auch wieder abgestossen werden können. Strukturelle
Belastung (z.B. allgemeine Verunsicherung), die aber in
ein Programm zur Adressierung eines genau deinierten
Problems (generalized beliefs) übersetzt werden muss, ist ein
zweiter Faktor, dessen Nichterfüllung im Falle der occupyBewegung viele KommentatorInnen veranlasst, dieser nur
eine kurze Lebensdauer in Aussicht zu stellen. Eine soziale
Bewegung muss sich laufend durch Ereignisse aktualisieren
(precipitating factors), die die allgemeine Unzufriedenheit mit
konkreten Situationen verbinden. So stellt der neuerliche
Spekulationsskandal der UBS eine Konkretisierung
bzw. Verdichtung der allgemeinen Unzufriedenheit mit
inanzmarktlichen Praktiken und Systemlogiken dar, was
schliesslich die Mobilisierung von FinanzmarktgegnerInnen
in Form der (schweizer) occupy-Bewegung begünstigte.
Die Besonderheit in diesem aktuellen Beispiel besteht
allerdings gerade darin, dass die Bewegung nicht von
einer charismatischen Person geführt wird, sondern
sich dieser Führung kategorisch verweigert. Der letzte
ausschlaggebende Faktor ist das Versagen sozialer Kontrolle
bzw. in Bezug auf die occupy-Bewegung die behördliche
Duldung, solange die Bewegung friedlich bleibt oder deren
Repression, was im Falle des New Yorker Segments zu einer
Verschärfung und zur weiteren Mobilisierung geführt hat.
Diese strukturfunktionalistisch informierte Arbeit grenzte
sich explizit von vorgängigen Arbeiten zum Thema ab, in
welchen collective behavior vor allem unter dem Gesichtspunkt
der Irrationalität untersucht wurde. Obwohl in Smelsers
Buch gemäss eigener Aussage der Begriff der Irrationalität
nie auftaucht (jedoch etwas ungeschickte Formulierungen
wie «short-circuited ideology» oder «collective behavior as
action of impatience»), wurde das Buch von Kritikern in
die Tradition von Le Bon und Freud gestellt und gar als
«handbook of crowd control» gelesen. Smelser wehrt
sich zwar gegen solche Lesarten und das Entgleiten der
expositionen
45
Kontrolle über sein Werk. Gleichzeitig warnt er vor einem
aufreibenden und aussichtlosen Kampf um «korrekte»
Rezeption.
Die Rezeption und Kritik von Smelsers Theorie im Lichte
früherer Theorien verweist auf ein kennzeichnendes
Phänomen der Geisteswissenschaften: Zusätzlich zu
einer neophilen Wissensakkumulation, die in modernen
Wissenschaften als normal gelten dürfte, leiden die Sozialwissenschaften gleichzeitig unter einer Amnesiophobie. Im
Gegensatz zu den Naturwissenschaften, in denen ‹altes›
und falsiiziertes Wissen dem Vergessen anheim fällt,
wird hier höchstens vergessen, dass neues Wissen schon
einmal alt war. Wissen wird immer wieder neuinterpretiert
und positioniert; auch analytische Tools werden stets
neu zusammengesetzt oder modern eingekleidet wieder
aufgenommen (beispielsweise wollten die Studierenden
Smelsers ambitionierteste ‹Eigenleistung› – die Odyssee als
«universial form […] that may have roots in deeper features
of the human condition» – nicht so recht anerkennen; das
liesse sich doch schon bei Simmel inden). Akkumulation von
Wissen erfolgt dadurch nicht im Sinne eines kontinuierlichen
Aufbaus, sondern der Werkzeugkasten differenziert sich
entlang der kampfsportlichen Auseinandersetzung – und
wird dabei nie ausgemistet. Es scheint derweilen, dass
jegliche Ausmistversuche sogar weitere Bausteine in den
Werkzeugkasten füllen. Aus der Aussenperspektive wird
paradoxerweise gerade die kennzeichnende ‹Angst vor dem
Vergessen› bei gleichzeitiger Neophilie als Grund für das
Fehlen des roten Fadens diagnostiziert und dadurch das
Vergessen der Öffentlichkeit um die Disziplin erklärt.
Soziologische Regeneration
Welche Qualitäten machen aus einem normalen Seminar
eine Odyssee in Smelserschem Sinne? Wie soll ein Seminar
die Studierenden den alltäglichen universitären Strukturen
entbetten, transformieren und regeneriert wieder in den
Alltag zurückwerfen?
Die Rarität des im Seminartitel anklingenden Versprechens,
einmal die Synthese einer unüberblickbaren Disziplin
zu bieten, lässt die Hoffnung aufkeimen, endlich zu
erfahren, was die Disziplin zusammenhält und wie ihre
moderne Identität in Kontrast zu jener ihrer Entstehung
verfasst ist. Solches aus dem Munde eines Feldkenners
zu vernehmen ist da elementar, wo Fragestellungen oder
Untersuchungsgegenstände sowie Herangehensweisen
an diese den Zusammenhalt der Disziplin nicht mehr
gewährleisten. Vielleicht können Geschichten über die
Entstehung des Faches und deren Theorien, über Kämpfe
und Beziehungen zwischen prominenten Vertretern sowie
persönliche Einsichten in die Funktionsweise des Feldes
anstelle des Lamentierens um den fehlenden roten Faden
treten und tatsächlich soziologische Regeneration einleiten.
Eine solche Vermittlungsweise ist indes ebenso rar wie das
Syntheseversprechen – und tendenziell da im Verschwinden
begriffen, wo die medientechnische Revolution der
wissenschaftlichen Reproduktion neue Formen und
Möglichkeiten bietet. So treibt Smelsers Wanderlust ihn
als nächstes zum Thema der Grenzverwischungen durch
die Produktion von ‹Quasi-Soziologien› an den BusinessSchools. Natürlich sind auch die Vermittlungspraktiken in
der Ära der Massenuniversität Probleme, die wiederholt
auftauchen, meint Smelser, und erinnert sich an den
vehementen Aufstand, als in Berkeley versucht wurde, die
Lehre über Fernsehübertragungen an die expandierende
Studentenschaft zu bringen. Seine Aktualität unter Beweis
stellend, hält Smelser eine Untersuchung der aufkommenden
Proitstrukturen in Wissenschaftsorganisationen für
dringend nötig, wozu Zertiizierungen zur Vergabe
von akademischen Graden ausschliesslich über
Fernkorrespondenz Anlass geben, wie sie kürzlich die
University of Phoenix (E-campus) eingeführt hat.
Zusammenrücken in Zeiten der Konkurrenz
Neil Smelser nahm das Studium der Soziologie in einer Zeit
auf, als zwei Hauptargumente der Legitimierung des Fachs
dienten: Ihre Wissenschaftlichkeit (im Gegensatz zu anderen
Untersuchungsformen des Sozialen) sowie ihr Vermögen,
auf legitimierter Basis Formeln zu liefern, deren Bedarf in
der Blütezeit der Sozialreformen – in welche die Soziologie
zumindest in der amerikanischen Perspektive hineingeboren
wurde – entsprechend hoch war. Die Progressivität der
Sozialreformbewegungen animierte damals zur Wahl des
Fachs, da es versprach, aus der Wissenschaft heraus in der
Gesellschaft «etwas zu bewirken». Smelser deiniert die
Soziologie in ihren frühen Stadien als «a kind of idealistic
movement», in der die Grenze zum Marxismus und zur
wohlfahrtsstaatlichen Sozialarbeit dezidiert aufrecht zu
erhalten versucht wurde. Während nach Smelser das
reformerische Motiv und die Fremdbeobachtung der
Soziologie als Agentin «under the veil of the left wing»
bis heute persistiert, hat jedoch die Arbeit an einer
generelleren theoretischen Basis zugunsten spezialisierter
Studien von Ungleichheiten stark abgenommen. Er hält
seinem Fach vor, es würde all das ‹Theorie› genannt, was
eigentlich pointierte empirische Befunde sind, die ohne
deren Studienkontext zugleich ihre theoretische Bedeutung
verlieren. Schon viel zu lange habe die Amerikanische
Soziologie generelles theoretisches Nachdenken über
die Gesellschaft Leuten wie Pierre Bourdieu und Niklas
Luhmann überlassen. Da Smelser bei der Aufdeckung von
sozialen Aspekten (dies etwa als Professioneller im Rahmen
einer Untersuchungskommission der amerikanischen
Regierung zur Evaluation der Terroranschläge von 11.
September 2001) immer an grösseren Zusammenhängen
interessiert ist, lautet seine Antwort auf die Frage, ob er
heutzutage nochmals Soziologie wählen würde: «probably
so, but with less enthusiasm». Der Blick auf die heutigen
Soziologiestudierenden lässt eben nicht die Vermutung
aufkommen, diese seien politisch engagierter als andere –
das Macherische, Aufklärerische erwartet man eher aus den
Reihen der Fachhochschulen für Umweltwissenschaften
oder der Sozialarbeit. In Konkurrenz mit der Armada der
46
interdisziplinären Studiengänge muss sich die Allgemeine
Soziologie als jenes Fach behaupten, das nicht nur diese
Expansion nicht unhinterfragt lässt, sondern auch das
Aufinden und Beschreiben übergeordneter Probleme der
Gesellschaft nicht aufgibt – auch wenn aufklärerischer
Enthusiasmus durch hohe Komplexität gedämpft wird.
Dann wäre ihre Leistung gerade die, das Verhältnis der
Wissenschaft als Anbieterin und der Gesellschaft als
Nachfragerin kritisch zu beleuchten. Dafür muss die Soziologie aber im Stande sein, die Gründe für die Unordnung
ihres Werkzeugkastens zu erklären, ohne dabei zugunsten
einer «Friedlichkeit des Nebeneinanders» gegenüber ihren
Theorien konservativ zu sein. Wie einleitend erwähnt, hat
Smelser die schismatischen Tendenzen der Wissenschaft
in Anwendung des Konzepts der Ambivalenz zu erklären
versucht. Die Etablierung dieses zwischen rational choiceAnsatz und anti-rationalistischen Gegentendenzen (Smelser
1998) vermittelnden Supplements ist nur ein Beispiel, wie
sich die Soziologie als inner-relektiert und vermittlungsfähig
beweist – wobei sie einen weiteren Baustein in den
Werkzeugkasten ablegt. Die Forderung nach einem roten
Fadens kann aus der Innenperspektive vielleicht nur als
idealistische Vorstellung der Soziologie als Beraterin der
Gesellschaft diagnostiziert werden. Aber gerade dieses
Fordern kann sie zur regenerierenden Auseinandersetzung
mit den Fragen ihrer Vermittlung drängen. Etwas Idealismus
ist dabei zu begrüssen – denn sie muss damit rechnen, dass
die (angehenden) Studierenden die Frage; «Was studieren
wir hier eigentlich, und wie?» sich insbesondere in Bezug
auf das expandierende interdisziplinäre Angebot stellen.
Alexander, Jeffrey C. / Marx, Gary T. 2005: Neil Smelser.
In: G. Ritzer (Hg.): Encyclopedia of Social Theory II.
708–712
Smelser, Neil J. 1959: Social Change in the Industrial
Revolution: An Application of Theory to the British
Cotton Industry
Smelser, Neil J. 1962: Theory of Collective Behavior
Smelser, Neil J. 1991: Social Paralysis and Social Change:
British Working-Class Education in the Nineteenth
Century
Smelser, Neil J. 1998: The Rational and the Ambivalent
in the Social Sciences. 1997 Presidential Adress. In:
American Sociological Review 63. 1–16
Smelser, Neil J. 1999: The Social Edges of Psychoanalysis
Smelser, Neil J. 2009: The Odyssey Experience
* Désirée Waibel studiert im dritten Semester Soziologie M.A. an
der Universität Luzern. Markus Unternährer studiert im neunten
Semester Soziologie B.A. an der Universität Bern. Die Autoren
haben zurzeit eine Hilfsassistenz am Institut für Soziologie an der
Universität Bern inne, wo sie als Übungsleiter der Einführung in die
Soziologie von den Studierenden mit der Frage nach dem roten Faden
konfrontiert werden. Der vorliegende Beitrag wurde im Rahmen
eines Blockseminars vom 24–29.10.2011 des Gastdozenten Neil J.
Smelser verfasst.
expositionen
47
Strahlimaa
Roland Reichen *
48
* Von Roland Reichen liegt der Roman Aufgrochsen (Bilgerverlag 2007) vor. Sein zweites Buch erscheint in Bälde.
impressum
redaktion
johanna hilari
hannes mangold
joanna nowotny
manuel perriard
thibault schiemann
fermin suter
johannes willi
herausgeber
fachschaft germanistik uni bern
druck
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hundertachtzig
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Anzeigen
einige
bücher
soll
man
schmecken,
andere
verschlucken
und
einige
wenige
kauen
und
verdauen.
Francis Bacon
BUCHHANDLUNG UNITOBLER
BUCHHANDLUNG UNI-HAUPTGEBÄUDE
BUCHHANDLUNG FÜR MEDIZIN
031 631 36 11
031 631 82 37
031 631 48 10
Center for Cultural Studies
MA Editionsphilologie
Was ist Editionsphilologie?
Editionsphilologie umfasst Theorie
und Praxis der philologischen Grundlagenarbeiten (Erschliessung der
Überlieferungszeugen, Textkritik und
Kommentar). Sie beschäftigt sich auf
breiter Basis mit der Sicherung,
Dokumentation, Konstitution und
Vermittlung der Textgrundlagen
geisteswissenschaftlicher Forschung.
Paris, Bibliothèque Nationale, MS fr. 9198, fol. 19r
Inhaltliche Schwerpunkte
© expositionen zweitausendzwölf
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Geschichte, Theorie und Methoden der Editionswissenschaft
Handschriftenkunde, Textgenetik, Textkonstitution
Aufgaben, Konzeptionen, Inhalte und Funktion der Kommentierung
Literarisches Archiv, Arbeit mit dichterischen Nachlässen
Computerphilologie und elektronische Edition
kulturwissenschaftliche Dimensionen der Editionsphilologie
Qualiikationen
Das MA-Studium in Editionsphilologie qualiiziert für eine Tätigkeit in den Bereichen
wissenschaftliche Edition, Archiv, Digital Humanities.
Masterprogramm mit Praktikum
Zu dem Masterprogramm gehört ein einsemestriges Praktikum. Dieses kann in einem
der angeschlossenen Editionsprojekte oder bei externen Praktikumsanbietern wie
literarischen Archiven absolviert werden.
Beginn: Herbstsemester 2011
Weitere Informationen: www.edition.unibe.ch