Germanistische Kontexte
DOI: 10.15584/germkon.2015.1.8
NR 1(1)/2015
Serap Devran
Istanbul
IDENTITÄTSFACETTEN UND VARIATIONSREICHE
SPRECHWEISEN IM DRAMA „MENSCH MEIER“
VON FRANZ XAVER KROETZ
ABSTRACT
Identity Aspects and Speech
Analysis in Franz Xaver Kroetz’s Drama
“Mensch Meier”
The paper is a study of Franz Xaver Kroetz’s Mensch Meier dramatic scenes based on
literary theory and sociolinguistics, combining the sociological approach and the methods of
conversational analysis. It aims to show the ways in which the author represents social reality.
To achieve this, it was established what features of language used in creating the fictional
world were employed to characterize a member of the working class in his attempt to advance
in society.
Kulturwissenschaft
Key words: sociological approach, conversational analysis, social reality, advance in society
1. EINLEITENDE BEMERKUNGEN
Im vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine literaturwissenschaftlicheund soziolinguistische Untersuchung, die die Ansätze der Soziologie und
linguistisch-gesprächsanalytische Methoden zur Analyse von dramatischen
Szenen verbindet.
Die dramatischen Figuren gelten als sozial-typische Vertreter der von
Franz Xaver Kroetz dargestellten Lebenswelt der einfachen Arbeiter.1 Ziel der
Untersuchung ist es zu zeigen, mit welchen sprachlich-kommunikativen
Mitteln Kroetz die Figuren als sozial-typische charakterisiert und wie er deren
Orientierung an bestimmten Leitbildern und variationsreichen Sprechweisen
verdeutlicht. Herangezogen werden hierfür gesprächsanalytische Verfahren
Bei der Gestaltung des dramatischen Entwicklungsprozesses und der innerfamiliären
Dialoge der Personen spielen die Denk-, Handlungs- und Sprachformen eine Rolle, die in der
angeführten Forschung als typisch für die in Szene gesetzten Figuren beschrieben sind.
1
122 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
und das „Konzept des kommunikativen Sozialstils“2. Es ist geeignet, die
gesprächsweise Herstellung von sozialen Identitäten und sozialen Beziehungen
zu erfassen. In den Sprach- und Kommunikationspraktiken können
übergreifende Strukturen erfasst werden, und da Sprecher immer wieder auf
ein aus ihrer Sicht übergeordnetes Sozialsystem referieren, zeigen sie, wie sie
dieses System verstehen. Das in der Soziolinguistik entwickelte Konzept des
kommunikativen Sozialstils muss jedoch für die Untersuchung von
dramatischen Dialogen angepasst werden. Das Problem einer Übertragung
liegt darin, dass es sich hier um eine dramatische Inszenierung von
Familienkommunikation handelt, die einer bestimmten Lebenswelt entstammt,
und um Dialoge, die vom Autor konstruiert sind.
Für meine Untersuchung ist es von Interesse die sprachlichen Mittel und
Verfahren zu beschreiben, die der Autor einsetzt, um seine Figuren als
Zugehörige einer bestimmten sozialen Lebenswelt und ihre Interaktionen als
sozial typische Interaktionen erkennbar werden zu lassen.
1.1. Das Thema
Mit der Darstellung von gesellschaftlichen Missständen, die immer auch
ein Teil der Wirklichkeit sind, wird die Bühne zu einem Ort, auf dem nicht nur
Soziales, sondern auch Öffentliches geschieht. In dem Moment, in dem die
Figuren die Bühne betreten, werden sie als Handelnde unmittelbar
wahrnehmbar und die realitätsnahe Handlung, obwohl doch fiktiv, wird zur
gegenwärtigen Wirklichkeit (vgl. Hamburger 1968:114). Diese Wirklichkeit,
dargestellt aus dem Erfahrungshorizont der Figuren, macht das Publikum
einerseits zum gegenwärtigen Zeugen eines sozialgeschichtlichen Ereignisses
und andererseits bekommt das Publikum einen Einblick in die Vielfalt von
Handlungs- und Sprechweisen der dramatischen Figuren, die als typische
Vertreter einer bestimmten Lebenswelt sich auch von anderen unterscheiden.
Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils, das derzeit umfassendste Stilkonzept, wurde
im Mannheimer Projekt ‘Kommunikation in der Stadt’ entwickelt, das die „sozialstilistische
Differenzierung zwischen unterschiedlichen sozialen Welten der deutschen Gesellschaft vom
Bildungsbürgertum bis zu den ‘einfachen Leuten’ aus dem Arbeitermilieu“ beschrieben hat (vgl.
Kallmeyer 1994; Kallmeyer 1995; Keim 1995; Schwitalla 1995). Das Konzept knüpft an
Arbeiten zu kulturellen Stilen an, an die neuere gesprächsanalytische Stilforschung und
Bourdieus Arbeiten. Diese Entwicklung wird im deutschsprachigen Bereich durch
Veröffentlichungen von Hinnenkamp/Selting (1989), Selting/Sandig (1997), Jakobs/Rothkegel
(2001) und Keim/Schütte (2002) dokumentiert. Kommunikative soziale Stile, in denen sich
gesellschaftliche und interaktive Bedeutungen verbinden, bilden die Brücke zwischen lokal
stattfindenden Interaktionen und übergreifenden sozialen Strukturen, kulturellen Traditionen,
Wissensbeständen und kulturell gebundenen Überzeugungen.
2
Kulturwissenschaft
123
Serap Devran
Dass in der Gesellschaft unterschiedliche soziale Stile existieren, die
wiederum die soziale Differenzierung der Gesellschaft spiegeln, zeigt sich vor
allem darin, dass sozial engagierte Dramatiker wie Franz Xaver Kroetz in
ihren dramatischen Werken beobachtete Wirklichkeit darstellen und diese
durch erkennbare Strukturen im dramatischen Dialog ihrer Figuren transparent
machen. Dabei wird gezeigt, wie die Personen als Zugehörige einer
bestimmten Lebenswelt in bestimmten Situationen handeln, denken und
fühlen. Das wird dann zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.
Von den Werken aus der dritten Schaffensperiode von Franz Xaver Kroetz
gilt vor allem „Mensch Meier“ in Bezug auf Entwicklung und Sprache als
bedeutendes Familienstück,3 das durch den Einfluss der Vorbilder Fleißer und
Brecht aus einer Synthese aus beschreibendem und sozialistischem Realismus
heraus entstanden ist. Als scharfer Analytiker realer sozialer Verhältnisse und
als genauer Beobachter der jeweiligen Handlungs- und Sprechweisen,4
reflektiert Kroetz soziale Realität, analysiert soziale und psychosoziale
Prozesse und konstruiert sie als dramatische Prozesse des Scheiterns oder des
mühsamen Gelingens.5
1.2. Zum Inhalt des Dramas
Im Drama „Mensch Meier“ steht ein Arbeiterehepaar im Zentrum, das in der
Illusion des sozialen Aufstiegs lebt, gleichzeitig aber unter den Beschädigungen
durch entfremdete Arbeit leidet. Vor allem der Mann fürchtet Arbeitslosigkeit.
Als sich seine Angst vor dem sozialen Absturz in häuslicher Gewalt entlädt,
Skasa (1978:102) äußert sich dazu „Kroetz schildert die Wirklichkeit einer Gruppe von
Menschen. Die Gruppe ist sehr groß, die Unterschiede sind sehr gering. Die meisten leben nun
mal (nun mal?) als Kleinfamilie in einer Kleinwohnung, sparen auf irgendwas und haben Angst
vor irgendwas; die Kindererziehung ist schwer, die Liebe auch. Wenn man sich selbst nicht
mag, wie soll man den anderen mögen?“
4
Aust (1989:331) Kroetz „baut ganz auf die Sprache der Figuren, zum Beispiel in den
Monologen in “Mensch Meier“.
Zur Kroetz’ methodische Vorgehensweise für eine realistische Darstellung erklärt Högemann
(1972:82): „Die Milieu- und Personenkenntnis schlägt sich in seinen Stücken nieder: Er zeigt
seine Helden nicht aus einer überlegenen oder skeptischen Distanz, sondern setzt alle Mittel ein,
um sie dem Zuschauer „von innen” vorzuführen, in Situationen und Gesprächen, die zunächst
einmal durch ihre unvermittelte Lebensechtheit fesseln. Dem Sprechen und Handeln der
Personen wird keine erklärende, über ihr Denken hinausreichende Geste beigefügt. Diese
Methode hat, wenn man sie beherrscht wie Kroetz, ihre Vorteile: Deklamation von Ansichten
und Schematisierung werden vermieden, die ausgesprochenen Einsichten und das Handeln der
Personen hängen unmittelbar voneinander ab“.
5
Aust (1989:329f) Kroetz zeigt von ‘Oberösterreich’ über ‘Das Nest’ zu „Mensch Meier“ eine
Entwicklung von typischen Repräsentanten des sozialen Durchschnitts zu Individuen, in dem er
die sozialpsychologische Charakteristik der ‘kleinen Leute’ darstellt.
3
124 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
kommt es zum emotionalen Bruch mit der Frau und dem Sohn. Durch den
Bruch mit dem Mann erwächst beiden die Kraft zu einer eigenständigen
Entwicklung: Der Sohn beginnt die gewünschte Maurerlehre, die Frau macht
sich auf den schweren Weg in die ökonomische Selbständigkeit als angelernte
Verkäuferin. Der Mann kann sich von sozialen Aufstiegs- und Wunschträumen
nicht lösen und verkümmert in seiner Wohnung in sozialer Isolation.
2. FORSCHUNGSANSÄTZE ZUR ERFASSUNG VON SOZIALER
IDENTITÄT
Anknüpfungspunkte zur Erfassung der sozialen Identität der Figuren im
Kroetzschen Drama „Mensch Meier“ stellen sozial-konstruktivistische,
interaktionale und soziolinguistische Ansätze dar. Das sind Ansätze, die die
variationsreiche Sprechweisen und das kommunikative Handeln sozialer
Gruppen beschreiben und Unterschiede zwischen ihnen feststellen.
2.1. Sozial-konstruktivistische
und interaktionistische Ansätze
In sozial-konstruktivistischen Ansätzen liegt der Fokus auf dem Prozess der
„Darstellung“, den Akteure alltäglich in sozialen Interaktionssituationen
gemeinsam herstellen. Das umfasst ihr Gesamtverhalten, das sie vor anderen
zeigen und das diese akzeptieren, modifizieren oder auch zurückweisen können,
was wiederum deren Verhalten beeinflusst (vgl. Goffman 1959:23). Für eine
gelungene Darstellung ist es notwendig, dass dramatische Figuren oder reale
Personen sich als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe darstellen und
durch bestimmte Handlungs- und Sprechweisen Attribute wie Alter, Geschlecht,
geografische Herkunft, sozialen Status und soziale Zugehörigkeit ausdrücken.
Für eine von allen Beteiligten akzeptierte Darstellung gilt es, die Regeln für
Erscheinung und Verhalten zu befolgen, die mit einer bestimmten sozialen
Gruppe oder sozialen Kategorie (die inszeniert wird) assoziiert werden. Dies
erfordert die Fähigkeit der wechselseitigen Rollenübernahme, das heißt die
Fähigkeit, aus der Position des anderen zu denken und seine Reaktion auf das
eigene Verhalten vorwegzunehmen. Nach Krappmann (1969) findet man
Zugang zur Identität durch und über Sprache:
„Ich-Identität erreicht das Individuum in dem Ausmaß, als es, die Erwartungen
der Anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine
besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache
darstellen kann. Diese Ich-Identität ist kein fester Besitz des Individuums. Da
Kulturwissenschaft
125
Serap Devran
sie ein Bestandteil des Interaktionsprozesses selber ist, muss sie in jedem
Interaktionsprozesses angesichts anderer Erwartungen und einer ständig sich
verändernden Lebensgeschichte des Individuums neu formuliert werden“
(Krappman 1969:208 zitiert nach Abels 2010:447).
Individualität wird also, als Ergebnis sozialer Interaktionsprozesse
verstanden; das heißt es wird davon ausgegangen, dass individuelle und
soziale Identitäten in sozialen Interaktionen und Prozessen hergestellt werden.
Da Krappmann auf die Umsetzung der sprachlichen Realisierung von
Identität in Interaktionen nicht eingeht, beziehe ich mich für die von mir
gewählte analytische Vorgehensweise auf die Arbeiten von Keim (1995/2008).
In interaktionistischen Ansätzen wird versucht, die soziale Spezifik der
Figuren im Kroetzschen Drama „Mensch Meier“ aus ihren Handlungs- und
Sprechweisen zu rekonstruieren. Danach ist die Zugehörigkeit zu einer
sozialen Kategorie und damit die soziale Identität einer Person nicht bzw.
nicht ausschließlich „objektiv“ gegeben, so dass Handlungen davon
determiniert sind. Soziale Identität wird durch Handlungen hervorgebracht, im
Gespräch hergestellt, von anderen Gesprächsteilnehmern bestätigt, modifiziert
oder bestritten. Durch die Art, wie Menschen sprechen, wie sie über andere
sprechen, wie sie sich zu anderen in Relation setzen, wie sie andere bewerten
und wie sie sich in Relation zu anderen bewerten, zeigen sie, als wen sie sich
und andere sehen und wie sie von anderen gesehen werden wollen. Das heißt
nur aus dem, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sprechen, welchen
Vorstellungen sie folgen oder welche Handlungen sie entwickeln, können wir
rekonstruieren, zu welcher sozialen Kategorie sie sich zuordnen.
3. REKONSTRUKTION DER IDENTITÄTSFACETTEN
UND SPRACHLICHE VARIATION IN DEN SPRECHWEISEN „OTTOS“
Ottos Aufstiegssehnsucht vom Hilfsarbeiter zum sozial hochangesehenen,
beruflich erfolgreichen Mann spiegelt sich vor allem in seinen Tagträumen,
in denen er durch die fiktive Inszenierung von höher stehenden Sozialrollen
und deren Kommunikationsstil zeigt, dass er mehr kann und mehr weiß als
seine eintönige, entfremdete Arbeitswelt ihm bietet. Im I. Akt, Szene 4
(„Weltmeister“) fantasiert er sich in die Rolle eines erfinderischen und
wirtschaftlich erfolgreichen Bastlers und entfaltet dabei ein großes
Sprachrepertoire, das neben den dialektal geprägten auch standard- und
fachsprachliche Formen enthält. Otto träumt den Aufstieg, in der Realität
jedoch zerbricht er an diesem Traum durch die entfremdete Arbeit und
drohende Arbeitslosigkeit.
126 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
Am Ende des Dramas – in Akt III, Szene 3 („Spieglein“), das Otto nach der
Trennung von seiner Frau in sozialer und räumlicher Isolation zeigt, wird durch
eine zynisch-sarkastische Inszenierung der Sendung „Heiteres Beruferaten“
deutlich, dass Otto die Identität als Arbeiter nicht akzeptieren kann. Die Analyse
dieser Szene zeigt den Kontrast zwischen dem Stil des Arbeiters Otto und dem
Moderators Robert Lembke und verweist auf Ottos ironische Selbsterkenntnis
ebenso wie auf die sozialkritische Haltung von Kroetz gegenüber der Figur Otto
Meier. Ottos Flucht vor der Alltagsrealität in die Traumwelt, dargestellt in den
verschiedenen Szenen des Volksstückes, findet seinen Höhepunkt in Akt III,
Szene 6. Im Gespräch mit dem Sohn träumt er sich selbst in die Figur eines
reichen schönen Mannes, entlarvt diese Traumvorstellung jedoch sofort durch
eine sehr negative Selbstcharakterisierung.
In den Szenen, die durch finanzielle und soziale Enge bestimmte
Alltagsrealität einerseits und die nur in Träumen mögliche Selbstdarstellung in
angesehenen Sozialrollen als Sportler, als Erfinder und Industrieller und TVModerator andererseits, kommen Otto Meiers Rollen sprachstilistisch zum
Ausdruck: durch dialektal-umgangssprachliche Formen im Umgang mit seiner
Familie, durch derb-drastische Ausdrucksweisen bei Selbstbeschimpfungen und
Selbsterniedrigungen und durch schrift- und fachsprachliche Formulierungen
und altertümelnde Höflichkeitsformen in den höheren Sozialrollen. Das alles
gehört zum Ausdrucksrepertoire von Otto Meier, das ich im Folgenden an
ausgewählten Szenen zeigen werde.
3.1. Fiktive Umsetzung der eigenen Fähigkeiten:
der Weltmeister Otto Meier
In der im Folgenden analysierten 4. Szene setzt Kroetz Sprachvariation als
wesentliches Mittel ein, um einerseits soziale Zugehörigkeit und soziales
Ansehen der Figuren und unterschiedliche soziale Rollen symbolisch zum
Ausdruck zu bringen und andererseits seine eigene ironisch-distanzierte Sicht
auf die Figuren und deren Handeln.
In seiner viel zu engen Abstellkammer (1.Akt 4. Szene) lässt Otto nach
Feierabend beim Bau von großen Modellflugzeugen seiner Vorstellungskraft
freien Lauf. Er flüchtet sich im Selbstgespräch in Erfolgs- und Machtträume, in
dem er eine live übertragene Reportage des ZDF-Sportstudios inszeniert. Darin
erfährt er sich als der berühmte Otto Meier Deutschland, der es durch Herstellen
und Fliegen von Langstreckenmodellsegelflugzeugen zu großem Ruhm gebracht
hat. In der Szene befragt ein Sportreporter den berühmten Otto Meier. Im Dialog
zwischen beiden fällt auf, dass ein weites Repertoire an Sprachvarietäten
gebraucht wird, um einerseits Otto Meier symbolisch als sozial hoch angesehene
Kulturwissenschaft
127
Serap Devran
Person zu charakterisieren und um ihn andererseits als zwar bescheidenen, sich
seiner Fähigkeiten aber sehr bewussten, technisch versierten Sportler
darzustellen. Dabei fallen folgende sprachliche Merkmale auf:
− Gewählte schriftsprachliche Formulierungen und fachspezifische
Ausdrucksweisen, die an eine Fachzeitschrift erinnern,
− Mündliche
Formulierungen,
dialektale
Ausdrucksweisen
und
Bescheidenheitsroutinen.
Das wird im folgenden Interaktionsausschnitt dargestellt:
OTTO Ich meine, es ist ja eigentlich nicht üblich, daß man kurz vor dem
Start des Fliegers Ruhe stört (lacht gekünstelt), aber Herr Otto, ein paar Fragen
seien uns doch erlaubt. – Bitte, bitte! – Sie sind ja nun, wenn man so will,
ein echter Senkrechtstarter. Sie haben vor zwei Jahren mit dem aktiven
Modellsegelflugzeugsport begonnen, und, es stockt einem fast der Atem, es zu
sagen, inzwischen sind Sie Deutscher Meister der Lang- und Mittelstrecke; und
nun bereiten Sie sich sozusagen im Durchlauf über diese Europameisterschaft
auf die Weltmeisterschaft vor. Werden Sie heute gewinnen?- (Otto lacht
gekünstelt.) Wenn man daran denkt, welche Siege allerdings Sie in der grade
allerletzten Zeit bereits errungen haben, wäre es, liebe Zuschauer, nicht
verwunderlich, wenn unser deutscher Otto Meier auch den Europameister
machen würde. Wie wird man ein derartiger Flieger?- Na ja, ich mein, da muß
natürlich schon ein gewisser thermischer Verstand vorhanden sein, dazu eine
echte Liebe zur Fliegerei und natürlich Glück (…) Kroetz (1999:20f.).
In dieser fiktiven Szene, in der Otto in die Figur des Otto Meier schlüpft,
inszeniert er sich durch die Thematisierung errungener Siege, künftiger Ziele
und überragender Fähigkeiten als ein weltweit berühmter Sportler. Auffallend
an der szenischen Darstellung ist das weite Sprachrepertoire, das Otto in der
Inszenierung der Dialoge zwischen Otto Meier und dem Reporter zeigt. Er
lässt den Reporter zwei unterschiedliche Sprechstile sprechen: In einer etwas
veralteten Sprache, wenn er Otto Meiers Leistung würdigt Wenn man daran
denkt, welche Siege allerdings Sie in der grade allerletzten Zeit bereits
errungen haben.
Und dann, wenn er sich an die Zuschauer wendet, in einer kumpelhaften
Umgangssprache wäre es, liebe Zuschauer, nicht verwunderlich, wenn unser
deutscher Otto Meier auch den Europameister machen würde.
Otto Meier selbst lässt er in einer gehobenen Umgangssprache im Stil
einer Fliegerfachzeitschrift sprechen Na ja, ich mein, da muß natürlich schon
ein gewisser thermischer Verstand vorhanden sein, dazu eine echte Liebe zur
Fliegerei und natürlich Glück. Die Selbstherabstufungen vermitteln in
Reaktion auf Lob und Würdigung angemessene Bescheidenheitsbekundungen.
Ottos Wunschvorstellung von einer Person, die es durch das Herstellen von
selbstgebauten Modellflugzeugen zu weltweiter Anerkennung und Berühmtheit
128 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
gebracht hat, wird in der Weiterführung der fiktiven Szene ausgeweitet. Im
folgenden Interaktionsabschnitt werden durch die Zwischenfrage Sie fliegen nur
mit selbstgebauten Modellen? weitere Details zu Ottos Können ausgebreitet.
Die anschließende Feststellung Das, sagt die Fachwelt, wäre auch der
Grund Ihrer Erfolge und die Frage des Reporters Sie hätten,6 wenn ich hier
eine Fachzeitschrift zitieren darf, technisch – fliegerisches Genie. Ist das so?,
in der er die Fachwelt zitiert, zielt auf den Kern von Otto Meiers Erfolg: Er
baut seine Flugzeuge selbst und fliegt nur mit selbstgebauten Fahrzeugen. Die
eigene Herstellung und das fliegerische Geschick wird in der Fachwelt als Otto
Meiers technisch-fliegerisches Genie bezeichnet. Durch diese Darstellung aus
einer autorisierten Außenperspektive, der simulierten Fachwelt, wird die
Qualität von Otto Meiers Leistung abgesichert und verbürgt. In den Augen der
Fachwelt wird er als erfolgreicher Hersteller und Flieger von Modellflugzeugen anerkannt und wegen seiner überragenden Leistungen hoch
geschätzt. Der Reporter verwendet wieder eine sehr gewählte, veraltete
Ausdrucksweise: Genie haben kommt in der klassischen Literatur des 18.
Jahrhunderts vor; heute wird genial sein gebraucht.7
Die Inszenierung der sozialen Anerkennung der eigenen Fähigkeiten Otto
Meiers wird dann zum sozialen Status in der gesellschaftlichen Hierarchie
in Bezug gesetzt. Auf die Frage des Reporters Ist das so? antwortet Otto
Meier: Na ja, man soll sich ja nicht selber loben, aber eine Begabung muß
da natürlich schon dabei sein, weil die gängigen Modelle natürlich bereits
mit allen Raffinessen ausgestattet sind und die großen Hersteller alle
Möglichkeiten haben. Ich habe ja zum Beispiel keinen Windkanal.
Durch diesen Vergleich wird die Größe seiner eigenen Leistung erst richtig
deutlich, dass es Otto Meier, trotz seiner sehr bescheidenen Voraussetzungen
und Bedingungen gelungen ist, die professionellen Hersteller zu überflügeln, die
alle erdenklichen Möglichkeiten zur Herstellung bester Qualität haben.
6
In der indirekten Redewiedergabe des Reporter wird die indirekte Rede mit dem Indikativ Das,
sagt die Fachwelteingeleitet, dadurch wird „zweifellos die Feststellung einer Tatsache
[ausgedrückt], und es nicht erlaubt, irgendwie an ihr zu zweifeln oder zu deuteln“ (Boost zitiert
nach Bausch 1978:334).
Anschließend, folgt der Gebrauch des Konjunktiv II. Hier könnte der Gebrauch des Konjunktiv
II, als Ersatzregel für Konjunktiv I verstanden werden, da der Konjunktiv I morphemhomophon
ist mit dem entsprechenden Indikativmorphem Sie hätten, wenn ich hier eine Fachzeitschrift
zitieren darf, technisch – fliegerisches Genie.
7
„Ein philosophisches, ein poetisches, ein moralisches, ein historisches Genie haben. Viel
Genie zur Poesie oder für die Poesie, zur Musik oder für die Musikhaben.“ (Adelung 1793,
zitiertnachhttp://www.zeno.org/Zeno/0/Suche?q=%22genie%20haben%22). Im deutschen Wortschatz der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird Genie haben überwiegend in Texten der
Philosophie, Musik und Literaturverwendet, etwa bei Goethe, Lessing oder Arthur
Schopenhauer. Vgl. http://www.zeno.org/Zeno/0/Suche?q=%22genie%20haben%22.
Kulturwissenschaft
129
Serap Devran
Otto Meiers Selbstdarstellung als herausragend erfolgt in einer dialektal
(bayrisch) gefärbten Sprache, zum Beispiel eine Begabung muss dabei sein
(allgemeinsprachlich meist ohne Artikel), selber (allgemeinsprachlich: selbst);
die Äußerung hat Merkmale gesprochener Sprache wie die Einleitungsformel
na ja, die Hedges ja, schon, natürlich und sie ist geprägt von fachspezifischen
Ausdrücken, die Fachspezifik suggerieren wie gängige Modelle, ausgestattet,
alle Raffinessen haben, große Hersteller, Windkanal. Otto Meier spricht wie
ein ‘Mann aus der Mitte des Volkes’, umgangssprachlich und dialektal gefärbt;
er ist technisch gut gebildet, sich seiner Fähigkeiten bewusst und sprachlichargumentativ geschickt.
Mit dieser Figur nähert sich Kroetz an das Marxsche Menschenbild an und
an das Konzept vom nicht-entfremdeten, seiner sozialen Stellung und seiner
Fähigkeiten bewussten Menschen, der sich selbst als „erschaffende“ Person
erfährt. Doch Aspekte dieses Selbstkonzepts kann Otto nur in der fiktiven
Szene umsetzen. Durch die Hervorstreichung der Charakterzüge von
„typischen Eigenschaften und Handlungsweisen von Personen und zur
Charakterisierung von sozialen Beziehungen und Konstellationen“ (Keim
1995:421) karikiert Kroetz den Arbeiter Otto Meier, der sich nur in
Allmachtphantasien verwirklichen kann. Durch die Übersteigerung von Ottos
Fähigkeiten in dieser fiktiven Szene drückt Kroetz gleichzeitig auch ironische
Distanz zu seiner Figur aus.
Die Inszenierung der sozialen Anerkennung der eigenen Fähigkeiten wird
im letzten Interaktionsausschnitt noch weiter ausdifferenziert und zum
sozialen Status in der gesellschaftlichen Hierarchie in Bezug gesetzt. Durch
den sportlichen Erfolg aufgrund überragender Fähigkeiten gelingt der soziale
Aufstieg vom Arbeiter zum Unternehmer:
Sie waren früher, ja man darf es wohlsagen, Arbeiter? - Ja, das war ich.
(Lächelt gekünstelt). – Heute haben Sie aber, ich glaube, auch das kann gesagt
werden, eine Art kleine Fabrik und haben sozusagen das Hobby zum
einträglichen Beruf gemacht. – Stimmt (Kroetz 1999:21).
Die Frage des Reporters Sie waren früher, ja man darf es wohlsagen,
Arbeiter? thematisiert Otto Meiers frühere soziale Position als Arbeiter.
Interessant ist die Formel ja man darf es wohlsagen direkt vor der Nennung
der sozialen Kategorie Arbeiter. Die Formel verleiht der Kategorie die Qualität
von etwas Heiklem, von etwas, über das man nicht so gerne spricht. Die
temporale Bestimmung früher impliziert eine Entwicklung von einem
vorherigen zu einem Status heute, der anders ist. Die Frage nach dem früheren
Sozialstatus Arbeiter bejaht Otto Meier mit gekünsteltem Lächeln: Ja, das war
ich. Dann beschreibt der Reporter die heutige Situation des Otto Meier: Heute
130 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
haben Sie aber, ich glaube, auch das kann gesagt werden, eine Art kleine
Fabrik und haben sozusagen das Hobby zum einträglichen Beruf gemacht. Im
Vergleich zum vorherigen Einschub ja man darf es wohl sagen, durch den der
Reporter implizit um Erlaubnis bat, weist die Paranthese auch das kann gesagt
werden auf die Tatsache hin, dass Otto Meier heute ein Unternehmer ist. Durch
diese Darstellung wird aus der Sicht des Reporters der Aufstieg vom Arbeiter
zur gegenwärtigen sozialen Position als Kleinunternehmer nachgezeichnet. Otto
Meier ist es gelungen, seine Begabung, die er zunächst nur in seinem Hobby
ausdrücken und ausleben konnte, jetzt auch beruflich zu nutzen. Durch die
Welterfolge, die er im Rahmen seines Hobbys erzielte, ist ihm auch der soziale
Aufstieg vom Arbeiter zum Kleinunternehmer gelungen.
Zum Abschied wünscht der Reporter viel Erfolg:
Herr Meier, wir alle und die Zuschauer daheim wünschen Ihnen toi, toi, toi für
diesen Start bei den Europameisterschaften in Rom und hoffen, der
Europameister im Langstreckenmodellsegelfliegen heißt Otto Meier
Deutschland. – Danke schön! – Liebe Zuschauer, ich gebe zurück in die
Heimatredaktion des ZDF-Sportstudios (Schnauft).
Otto Meier kann bei seiner Anstrengung zur Erlangung des
Europameisters mit der Unterstützung der Öffentlichkeit, der Medien und der
Zuschauer rechnen. Sie alle hoffen: der Europameister im Langstreckenmodellsegelfliegen heißt Otto Meier Deutschland. Sie sehen Otto Meier als den
siegreichen Vertreter Deutschlands in Europa.
In der gesamten fiktiven Szene stellt Otto über die Figur des Otto Meier
seine Wunschvorstellung dar: soziale und berufliche Anerkennung durch
Fachwelt und Öffentlichkeit und die Umsetzung von Fähigkeiten, die er nur im
Hobby ausleben kann. Diese Wunschvorstellung von einer nicht-entfremdeten
Existenz, das heißt durch produktive Tätigkeit zur sich selbst bejahenden
Lebensäußerung, steht in maximalem Kontrast zu seinem beruflichen Alltag,
in dem er als Hilfsarbeiter einfache, immer gleich bleibende Handgriffe
ausführt, die nur im Rahmen des gesamten Produktionsprozesses sinnhaft, für
den einzelnen Arbeiter jedoch sinnlos sind.
In der analysierten Szene zeigt Otto sein reiches sprachliches Repertoire, das
auf ein weites soziales und interaktives Wissen hindeutet. Die schnellen
sprachlichen Wechsel, die in den fiktiven Dialogen mit Sprecherwechsel und
Adressantenwechsel einhergehen, zeigen Ottos hohe sprachliche und soziale
Flexibilität: Die Fähigkeit zu Sprach- und Stilwechsel beim Wechsel von
Sprecher- und Adressatenrolle ist ein Charakteristikum von Menschen mit
großer sozialer, sprachlicher und sozialstilistischer Kompetenz, von Menschen,
die in unterschiedlichen soziale Rollen und in unterschiedlichen sozialen Milieus
Kulturwissenschaft
131
Serap Devran
kompetent und adäquat kommunizieren können. Dass Otto solche Fähigkeiten
besitzt, zeigt er in dieser Szene ebenso wie in anderen Szenen des Stücks, zum
Beispiel im 1. Akt Szene 3, der Kugelschreiber-Szene.8
Die Szene zeigt aber nicht nur Ottos hohe sozial-stilistische Kompetenz;
sie zeigt auch Kroetz' Perspektive auf Ottos Flucht vor der Realität in eine
Traumwelt. Das wird in der gesamten Konstruktion der fiktiven Szene
deutlich: in der übertriebenen Vorstellung, dass ein Hobby-Bastler
Industrieprodukte überflügelt und dass ein Hobby-Flieger Weltruhm erreicht;
in der Rollenkonstellation Otto Meier und Reporter mit Anspielungen auf eine
Herren-Diener-Konstellation und in den Beiträgen des Reporters, der mit
veralteten Ausdrucksweisen die Außergewöhnlichkeit des Otto Meier rühmt.
Die Konstruktion der gesamten Szene enthält übertreibende Elemente in der
Anlage des Plot und in der sprach-kommunikativen Ausgestaltung. So wie der
Reporter Otto Meier anspricht und behandelt, macht er sich lustig über ihn;
und durch die Sprech- und Handlungsweise des Reporters scheint Kroetz
eigene ironisch-distanzierte Perspektive auf Ottos Realitätsflucht durch.
3.2. Inszenierte Selbstanalyse der Arbeiter-Identität
Doch seit in der Firma Entlassungen vorgenommen und die Bedingungen
der Produktion verschärft werden, beschäftigt sich Otto mit zunehmender
Intensität mit der drohenden Arbeitslosigkeit. Zunächst versucht er durch
Überanpassung an die verschärften Arbeitsbedingungen seinen Arbeitsplatz zu
sichern, obwohl er insgeheim weiß, dass ihn das vor der Entlassung nicht
schützen kann. Die Unsicherheit und Entfremdung im Arbeitsbereich führt zum
Bruch mit der Familie, zur Selbstentfremdung und schließlich zur völligen
Isolation. Mit der sarkastischen Selbstanalyse in der Szene Spieglein (Akt III, 3.
Szene) stellt Kroetz Ottos Selbstentfremdung durch offene Ablehnung der
Arbeiter-Identität dar, die er im Gespräch mit dem Sohn (Akt III, 6. Szene) mit
der sprachlichen Metapher ‘in der falschen Haut stecken’ auf den Begriff bringt.
Der Bruch mit den Familienmitgliedern hat Otto nicht nur sozial, sondern
auch räumlich eingeschränkt. Er ist, wie die Regieanweisung beschreibt, auch
äußerlich weniger, magerer geworden. Kroetz setzt hier in Szene, was der
Soziologe Negt (2002:255-257) als Folge von Arbeitslosigkeit beschreibt. Sowohl
die Angst vor Arbeitslosigkeit als auch die traumatische Erfahrung des Arbeitsplatzverlustes setzen eine depressive Dynamik in nahezu allen Lebensbezügen in
Vgl. dazu auch 1. Akt 3. Szene; hierzeigt Otto ein weites Repertoire an Sprachvarietäten und
Interaktionsritualen, die er situationsgemäß verwendet, um von seiner Umwelt als Aufsteiger
soziale Anerkennung zu gewinnen.
8
132 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
Gang. Individuelle Folgen sind „Verkapselung ins Arbeitslosenschicksal, dass zur
Verarmung und Reduzierung des Lebensniveaus führt.“
Im Fernsehen läuft gerade die vom bayrischen Rundfunk ausgestrahlte
Sendung Heiteres Beruferaten von Robert Lembke, die seit Ende der 50er
Jahre regelmäßig lief.9 Begleitend zu dieser Sendung, die gerade im Fernsehen
läuft, setzt Otto sich selbst als Kanditat Otto Meier in einer fiktiven
Ratesendung bei Robert Lembke in Szene. Er inszeniert einen Dialog, in dem
er ein bitteres, zynisch-sarkastisches Wortspiel mit der eigenen Identität treibt
und sich selbst auf ein optimal angepasstes Werkzeug reduziert:
Was bin ich? Ein heiteres Beruferaten mit Robert Lembke. Ich bin ein Arschloch.
Wie bitte, was sind Sie? Ich bin ein Arschloch. Gelernt oder ungelernt? Wie Sie
wollen, Polsterer hab ich gelernt und bin jetzt angelernter Arbeiter beim BMW
und schraub sechzehn Schrauben ein im Fünfhundertfünfundzwanziger. Sie sind
Autobauer? Ja. Autoschraubeneinschrauber, Schraubschrauber, Schrauberling,
Schraubologe. Sind Sie vielleicht ein Schraubenzieher? Wie bitte? Herr Lembke,
ist der Kandidat ein Schraubenzieher? Jawohl, der Kandidat ist ein
Schraubenzieher? Wenn Sie bitte, Herr Meier, einmal ihre Hände zeigen. Bitte
gern. Hier sehen sie, liebe Zuschauer, die ausgeprägte Schraubhand mit drei
Fingern und die andere mit zwei Fingern. Diese Reduzierung ist das Ergebnis der
Züchtigung. Die verbliebenen Finger haben die doppelte Größe normaler Finger
und werden dem Arbeitsvorgang optimal gerecht. Bitte, Herr Meier, wenn Sie
einmal die typische Handbewegung machen würden. (Otto spielt die
verkrüppelten Hände und schraubt) Danke schön. Das Schweindl ist nicht voll
geworden. Auf Wiedersehen. Applaus für den Kanditaten Schraubenzieher! (Er
applaudiert sich selber.)
(Pause)
(Spricht jetzt vernünftig zu sich) Ich bin ein Arbeiter. A-r-b-e-i-t-e-r! Kein
Arzt, kein Rechtsanwalt, kein Steuerberater, kein Minister und kein
Fabrikbesitzer.
(Pause)
Ich kann mich nicht mit mir abfinden. Komisch. Ob ich will oder nicht (Kroetz
1999:51).
Die Selbstverachtung in dieser Szene wird durch das öffentliche Vorführen
der verkrüppelten Hände und durch das Anpreisen der Verkrüppelung als
‘Heiteres Beruferaten’ geht zurück auf die US-amerikanische Game-Show ‘What’s my line?’
Unter den Gästen waren prominente Schauspieler wie Marlon Brando und Künstler wie
Salvador Dali. Während eines Besuchs bei BBC in London 1954 erwarb Robert Lembke die
Verwertungsrechte an diesem Sendeformat. 1969 war das Quiz mit 75% eingeschalteter Geräte
die beliebteste Sendung im deutschen Fernsehen. Neben einem berühmten Gast, der in der
vierten Raterunde erschien, hatten drei weitere Teilnehmer durchschnittliche Berufe.
9
Kulturwissenschaft
133
Serap Devran
gelungene Züchtung ins Groteske gesteigert; die verformten, verstümmelten
Hände wirken bizarr, hässlich und schaurig. Der Mensch Otto Meier erscheint
– ähnlich wie Charlie Chaplin in dem Stummfilm Moderne Zeiten – zu einem
durch Verformung optimal angepassten Werkzeug im mechanisierten
Arbeitsprozess geworden zu sein. Drastischer kann die Bewusstwerdung von
Selbstentfremdung nicht veranschaulicht werden als in diesem Selbstgespräch,
in dem sich Otto als Figur Otto Maier in Szene setzt, reduziert,
instrumentalisiert und verstümmelt.10 Kroetz gestaltet die Szene ganz im Sinne
von Marx,11 der im Kapital den Zusammenhang so beschreibt:
„Innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur
Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft (…) auf Kosten des
individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen
um in Beherrschung- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln
den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der
Maschine“ (Marx 1867 zitiert nach Marx/Engels 1970-1972:674).
Die Übereinstimmung der Marxschen Beschreibung mit der Szene
Spieglein geht bis in den Wortlaut: Otto erkennt sich als extrem reduziert,
verkrüppelt und sinnlosen, verarmten und instrumentellen Verhältnissen
ausgesetzt; und er verachtet sich dafür.
Nach Werlein (1981:305) hängt für Marx/Engels die Erscheinungsform der Entfremdung mit der
Grundstruktur der kapitalistischen Produktion zusammen: „Der Produktionsprozeß beherrscht die
Menschen, der Mensch nicht den Produktionsprozeß (Marx 1890:95). Die Gesetze ihres eigenen
Tuns stehen den Menschen als ‚blinde Macht‘ (Marx 1894:828), als ‚fremde, sie beherrschende
Naturgesetze‘ (Engels 1878: 264) gegenüber. Die Produkte ihrer eigenen Arbeit verselbständigen
sich, führen ein Eigenleben, bewegen sich nach eigenen Gesetzen.“
Fromm (1988:54) betont hierzu: „Marx‘ Ziel richtet sich auf die Befreiung des menschlichen
Wesens durch die Wiederherstellung der nicht entfremdeten und daher freien Tätigkeit aller
Menschen, auf eine Gesellschaft, die den Menschen und nicht die Herstellung von Dingen zum
Zweck hat und in der der Mensch aufhört, eine verkrüppelte Mißgeburt zu sein und ein
vollentwickeltes Wesen wird.“
11
Vgl. dazu Fromm (1988:49-60). Ein wichtiger Aspekt der Entfremdung betrifft das Verhältnis
des Arbeiters zu den Produkten seiner Arbeit. Arbeit wird bei Marx als Teil der menschlichen
Natur betrachtet, die den Menschen entäußert, weil die Erfahrung von Arbeit als etwas, was den
Menschen äußerlich ist, instrumental angewandt wird und sein Ziel weder in sich trägt noch als
Teil des menschlichen Wesens angesehen werden kann. Diese Vorstellung von der Entäußerung
der Arbeit in das Produkt läßt das Produkt zu einem Gegenstand werden, der Gewaltüber den
Menschen gewinnt. Somit beinhaltet die Vorstellung von der Entäußerung der Arbeit den Begriff
Verdinglichung. Verdinglichung bedeutet bei Marx, dass etwas, was kein Ding ist, in ein Ding
verwandelt wird und dass etwas, das kein Ding ist, als ein Ding behandelt wird. Darauf beruht das
Problem: Im System der Warenwirtschaft, wo die Menschen zur Ware werden, herrscht die
Tendenz, nicht nur alles als Ware zu behandeln, sondern die Waren, die in unmittelbaren Sinn
dieses Wortes Dinge sind, alles als Ding zu behandeln und allem den Charakter von Dingen zu
geben. Marx zufolge ist die Tendenz zur Verdinglichung das Ergebnis der Entfremdung.
10
134 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
Diese groteske Selbstinszenierung gestaltet Otto – ähnlich wie in I. Akt 4.
Szene – sprachlich sehr versiert: Den Moderator Lembke lässt er in einer
elaborierten Standardsprache sprechen, unter Verwendung formaler
Höflichkeitsformeln, wie Wenn Sie bitte, Herr Meier, einmal ihre Hände zeigen
und fachsprachlicher Lexik bei der Beschreibung von Otto Maiers Verkrüppelung
wie Reduzierung, Ergebnis von Züchtung, dem Arbeitsvorgang optimal gerecht
werden. Sich selbst lässt Otto dialektal gefärbt sprechen und zur
Selbstcharakterisierung verwendet er das sehr derbe Schimpfwort Arschloch. Der
Wechsel zwischen sozial unterschiedlichen Ausdrucksweisen (Fernsehmoderator
versus Hilfsarbeiter) belegt wieder Ottos sprachliche Versiertheit, die in scharfem
Kontrast steht zu der in der Szene zum Ausdruck gebrachten Selbstverachtung.12
Das Ratespiel ist mit dem Erraten des Berufs Schraubenzieher und dem
Vorführen der schraubenziehertypischen Eigenschaften beendet. Die Äußerung
des Moderators Das Schweindl ist nicht voll geworden zeigt, dass das Spiel für
das Rateteam leicht und die berufliche Tätigkeit Otto Meiers schnell erkannt
war. Bei der Verabschiedung aus dem Ratespiel applaudiert sich Otto selber und
steigt aus dem Selbstgespräch aus. Dann folgt die Selbsterkenntnis Ich bin ein
Arbeiter. A-r-b-e-i-t-e-r! Kein Arzt, kein Rechtsanwalt, kein Steuerberater, kein
Minister und kein Fabrikbesitzer, eine Erkenntnis, die er nicht akzeptieren kann:
Ich kann mich nicht mit mir abfinden. Komisch. Ob ich will oder nicht. Damit
bringt er das Drama seines Lebens auf den Punkt: Er kann seine soziale Position
nicht akzeptieren, weiß um seine vielen Talente, träumt von einem höheren
Sozialstatus und scheitert daran.13 Der Literaturwissenschaftler Aust sieht das
Drama der Kroetzschen Figuren so: Sie „beginnen den Grund für
Entfremdungserscheinungen und Ichverlust zu erkennen und machen sich auf
die Suche nach den ‚verschütteten‘ Lebenswerten.“14
In der im Folgenden analysierten Szene (III. Akt, 6. Szene) bringt Otto sein
Erleben der Selbstentfremdung auch sprachlich auf den Begriff. Die Szene
besteht aus einem Gespräch zwischen Vater und Sohn, in dem der Vater dem
Aust (1989:331) Kroetz „baut ganz auf die Sprache der Figuren, zumBeispiel in den
Monologen in Mensch Meier.“
13
In der achten Phase des Identitätskonzepts von Erik H. Erikson heißt es „dem reifen
Erwachsenenalter, geht es darum, das zu sein, was man geworden ist, was heißt, seine bisherige
Entwicklung zu akzeptieren, und zu wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird. Der
Kernkonflikt der Identität in dieser Phase heißt deshalb Integrität vs. Lebensekel” zitiert nach
Abels (2007:373). Ottos Konfliktlösung tendiert in Richtung ‘Lebensekel’. Ottos zynisches
Spiel mit seiner Rolle als Arbeiter, seine Ablehnung führt ihn in Allmachtphantasien, deren
Konsequenzen er durch völlige Isolation zutragen hat.
14
Vgl. Aust (1989:329f). Kroetz zeigt von ‘Oberösterreich’ über ‘Das Nest’ zu „Mensch Meier“
eine Entwicklung von typischen Repräsentanten des sozialen Durchschnitts zu Individuen, in
dem er die sozialpsychologische Charakteristik der ‘kleinen Leute’ darstellt.
12
Kulturwissenschaft
135
Serap Devran
Sohn von der Tätigkeit als Arbeiter abrät mit dem Argument, dass Arbeiter ein
schlechtes Sozialprestige haben und unbefriedigende Arbeiten erledigen müssen.
In diesem Zusammenhang charakterisiert Otto sein inneres Befinden, das aus
seiner unbefriedigenden beruflichen und sozialen Position resultiert, so:
OTTO Ich tät schon heraus wolln aus meiner Haut, wenn ich es könnt. (Pause)
Das is keine Ausred. Mir is, als wenn ich in einem Loch stehn tät, und ich will
hinaufsteign, wo es hell wird, zehn Meter über mir. Aber da is nirgends ein
Griff und alles glatt. (Lacht) Wenn ich ein bißl zuviel trink, dann möcht ich
eine Rasierklingen nehmen und mich von obn bis unten aufschlitzn, und dann
hab ich die Idee, aus der Haut steigt ein anderer heraus, der eigentlich ich bin
und dem bloß der Weg versperrt war.
LUDWIG Der Froschkönig.
OTTO Machst dich lustig über deinen Vater?
LUDWIG Nein.
OTTO Das macht nix. Ich möcht, daß dir das erspart bleibt. Der Mensch
braucht was, woran er sich erkennt, weil er drauf stolz sein kann. (Pause)
Kroetz (1999:56).
Mit der Metapher Ich tät schon heraus wolln aus meiner Haut, wenn ich es
könnt bringt Otto den Ich-Verlust und das Leiden unter der nicht-möglichen
Selbstverwirklichung sehr klar auf den Punkt: Er steckt in der falschen Haut,
will ausbrechen, kann aber nicht. Dann expandiert er die Metapher zu zwei
Illustrationen: In der ersten sitzt er in einem tiefen dunklen Loch, sieht das helle
Licht zehn Meter über sich, will hinaufklettern, doch es gibt keine Klettergriffe:
Mir is, als wenn ich in einem Loch stehn tät, und ich will hinaufsteign, wo es hell
wird, zehn Meter über mir. Aber da is nirgends ein Griff und alles glatt. (Lacht).
In der zweiten, die ihm immer dann vor Augen kommt, wenn er berauscht ist,
setzt er die Metapher wörtlich um: Wenn ich ein bißl zuviel trink, dann möcht
ich eine Rasierklingen nehmen und mich von obn bis unten aufschlitzn, und
dann hab ich die Idee, aus der Haut steigt ein anderer heraus, der eigentlich ich
bin und dem bloß der Weg versperrt war. In diesem Bild schneidet er sich von
oben bis unten auf und ermöglicht dem zweiten Ich, seinem ‚eigentlichen Ich’,
dem der Ausgang durch den äußeren Panzer bisher verwehrt war, das
Hervortreten. In diesem Bild führt Otto vor, dass er andere Potenziale hat, als
die, die er bisher zeigen konnte. Die Umstände haben ihn daran gehindert, das
zu werden, was er hätte werden können.
Auch hier setzt Kroetz marxistisches Gedankengut und Aspekte des
Entfremdungskonzepts szenisch um. Nach Fromm (1963:365) gehört zum
marxistischen Begriff der Entfremdung, dass der Mensch in Wirklichkeit nicht das
ist, was er potenziell ist, oder, andersausgedrückt, dass er nicht ist, was er sein
sollte, und dass er sein sollte, was er sein könnte. An anderer Stelle schreibt
136 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
Fromm, dass der Mensch im Zustand der Entfremdung glaubt, dass seine
Gedankenecht und das Ergebnis seiner eigenen Denktätigkeit seien, dass er der
Urheber seiner Gedanken, Gefühle und Handlungen sei, während sie in
Wirklichkeit von objektiven Kräften bestimmt werden, die hinter seinem
Rückenwirken (vgl. Fromm 1963:107). Diese Vorstellungen spielen in den beiden
Bildern eine Rolle. Wo nach Entfremdung als psychische Krankheit gesehen wird,
der Mensch als in einem Panzer gefangen und unfähig seine eigene Identität zu
erfahren. Dazu muss er erst aus sich heraustreten (vgl. Fromm 198:145-54).
Die bildlichen Darstellungen des Vaters und sein Versuch, die
Selbstentfremdung aufzulösen, liegen für den Sohn Ludwig im Bereich des
Märchenhaften: Der Froschkönig. Aus Ludwigs Perspektive träumt Otto von
einer plötzlichen und glücklichen Verwandlung wie im Grimmschen Märchen
Der Froschkönig, in dem ein Königsohn von einer bösen Hexe in einen Frosch
verzaubert wird. Nur durch den Kuss einer schönen Königstochter kann er
erlöst werden. Aus Ludwigs Sicht ist der Vater ein Träumer, der sich eine
unwirkliche, märchenhafte Lösung seines Ich-Verlusts herbeisehnt.
Kroetz verwendet zur Darstellung sozialer Eigenschaften und Rollen
dieselben sprachlichen Verfahren, wie sie in der soziolinguistischen Forschung
für reale Sozialwelten sogenannter ‘kleiner Leute’ beschrieben werden:15
Sprecher verwenden ein reiches Repertoire an Varietäten und kommunikativen
Stilen, um in szenischen Darstellungen Personen in bestimmten sozialen Rollen
auftreten und miteinander agieren zu lassen. Sie inszenieren Kontrast zwischen
ihnen durch Sprach- und Stilkontrast und Übereinstimmung durch Sprach- und
Stilangleichung. Die symbolische Darstellung von sozialen Rollen in Szenen
wird in der Regel ergänzt durch die explizite Benennung des vorher symbolisch
Dargestellten. Und genau das macht auch Kroetz, so Töteberg (1985:286) aus
literaturwissenschaftlicher Sicht: „Kroetz‘ Bühnenwelt bleibt den konservativen
Einstellungen des sog. gesunden Volksempfinden verhaftet – nicht nur in den
explizit geäußerten Meinungen, sondern auch in der Sprache, die in geprägten
Wendungen (Sprichwörter, Dialekt) soziale Topoi abbildet.“
Dann gesteht Otto zu, dass ihm Geld auch sehr wichtig ist. Er wünscht
sich reich zu sein, weil er sich auch dadurch von anderen Menschen
unterscheiden würde. Wie in einem Märchen wäre er bereit, den Rest seiner
Lebenszeit für ein Jahr Leben in Reichtum einzutauschen. Und er wünscht sich
groß, schön und von Frauen begehrt zu sein. Otto stellt den Traum des kleinen
Vgl. dazu vor allem Kallmeyer (1994) und Keim (1995) Bände 4.1 – 4.4. Prozesse der sozialsymbolisierenden Sprach- und Stilvariation in der Sozialwelt der „kleinen Leute“ werden in Bd.
4.1 in den Beiträgen 3, 4 und 5 von Kallmeyer und Keim und im Beitrag 6 von Bausch
beschrieben, ebenso wie Bd. 4.3 von Keim, Kommunikative soziale Stilistik einer sozialen Welt
‘kleiner Leute’ in der Mannheimer Innenstadt, Kapitel 4.
15
Kulturwissenschaft
137
Serap Devran
Mannes dar, der im Luxus lebt und von schönen Frauen umgeben ist. Seine
Wunschvorstellung erinnert an den Typ des Gentleman Playboy, wie in den
70er Jahren des letzten Jahrhunderts häufig in der Presse erschien, vor allem in
den Illustrierten der Regenbogenpresse. So sieht Ottos Traum von einem
Leben aus, in dem es keine Sorgen, keine Einsamkeit, kein Unglück, bloß die
Freiheit gibt. In diesem Kontext bedeutet Freiheit, sorglos mit Menschen zu
leben, die ihn schätzen und lieben und mit denen er glücklich genießen kann.
Ein solches Leben steht in maximalem Kontrast zur Tristesse des eigenen
Lebens, geprägt von finanziellen Sorgen, drohender Arbeitslosigkeit und dem
Gefühl bedrückender Einsamkeit.16
Interessant ist in dieser Szene auch die Variabilität in Ottos Sprache. Während
Ludwigs Sprache durchgehend dialektal markiert spricht (vgl. vor allem die
Konjunktivform vorbei sein tät, anstelle von vorbei wäre) bewegt sich die Sprache
des Vaters nur im ersten Teil des Ausschnitts, in dieser Varietät. Markiert
dialektale Merkmale in den Beiträgen beider Figuren sind unter anderem:
− die durchgehende Verwendung von tät anstelle von würde,
− die Tilgung des Personalpronomens 2. Person Singular wie in dann tätst
doch der Gleiche bleiben anstelle von dann würdest du doch der Gleiche
bleiben oder in weißt anstelle von weißt du,
− die Perfektform in hab ich mir schon denkt anstelle von habe ich mir schon
gedacht
Gegen Ende der Traumdarstellung jedoch, als Otto in einem längeren
Monolog vom Leben der Reichen und Schönen schwärmt, spricht er
Standarddeutsch und ohne gesprochen sprachliche Merkmale: und wo man auch
hinkommt, wird man abgeholt und begrüßt, keine Sorgen, keine Einsamkeit, kein
Unglück, bloß die Freiheit. Doch als Otto direkt im Anschluss an seinen
schönen Traum seinem Sohn das Geständnis macht, dass er bei einer
Prostituierten war, wird der Kontrast zwischen der Welt der Reichen und
Schönen und der schmutzigen Welt der Prostitution auch sprachlich deutlich
markiert: Otto wechselt von Standarddeutsch in eine noch stärker dialektal
markierte Ausdrucksweise (dialektaler als zu Beginn des Gesprächs mit
Ludwig): ich bin bei einer Nuttngwesn, weißt. Das schickt sich zwar ned, dass
16
Werlein (1981:24) „Bezugspunkt der Entfremdungskritikist in der Regel eine individualistisch
verstandene ‚freie Tätigkeit‘, die mit nicht-entfremdeter Arbeit identifiziert wird; bezogen auf die
materielle Produktion wird meist die handwerkliche Arbeit zum Vorbild dieser ‚freien Tätigkeit‘
genommen. Man kann davon ausgehend die Widersprüche der kapitalistischen Arbeit
harmonisieren, oder aber die mit der kapitalistischen verwechselte industriemäßige Arbeit
überhaupt ‚kritisieren‘; man kann dieses Modell ‚radikalisieren‘ und der Arbeit als solcher die
Kunst, der Produktion die Verschwendung, dem homo faber den homo ludens entgegensetzen;
man kann auch die ‚Radikalisierung‘ wieder rückgängig machen und die ‚Interaktion‘ neben die
Technikstellen.“
138 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
ich es dir erzähl, aber heut is schon gleich. Darauf beschimpft ihn der Sohn mit
einem sehr derben, groben Schimpfwort: Sau. Der Kontrast zwischen zwei
maximal kontrastierenden Welten, der Traumwelt und der Lebensrealität, wird
wieder sprachlich gespiegelt: Der Blick in die Welt der Schönen und Reichen
wird in Standarddeutsch ausgedrückt, beim Blick in Ottos armselige, trostlose
Welt erfolgt der Wechsel in stark markierten Dialekt.
4. ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN
Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, zu zeigen, wie Franz Xaver
Kroetz im dramatischen Stück „Mensch Meier“ eine soziale Wirklichkeit
darstellt. Zu diesem Zweck habe ich herausgearbeitet, welche Sprache bzw.
sprachlichen Merkmale der Dramatiker bei der Gestaltung der dramatischen
Lebenswelt verwendet hat, um zu zeigen, dass hier eine typische Figur aus
dem ‘aufstiegsorientierten’ Arbeitermilieu spricht.
Im Rahmen des beschriebenen Forschungsstandes wurde an die Tradition
zur Mimesis-Diskussion seit Krapps (1958) angeknüpft, um zu erklären, was die
realistische Darstellung im Drama „Mensch Meier“ eigentlich ausmacht, zumal
Kroetz durch den Einsatz von Sprachvarietäten und gesprochen sprachlichen
Mitteln realitätsnahe Kommunikationsstile stilisiert, wie typische Vertreter aus
den unteren sozialen Milieus sie im Umgang miteinander spontan sprechen. Es
wurde also weder eine Auflistung von vermeintlich sprachlichen Merkmalen des
Autorenstils angestrebt, noch soll die Untersuchung allein als Ergebnis der
künstlerischen und ideologischen Entwicklung des Autors vor dem Hintergrund
der gesellschaftlichen und politischen Situation der Bundesrepublik der 70er Jahre
verstanden werden. Im Aufsatz war vielmehr von Bedeutung, die sprachliche
Gestaltung der in „Mensch Meier“ dargestellten sozialen Gruppen am Beispiel
eines typischen Vertreters aus dem Arbeitermilieu zu beschreiben und seine
Besonderheiten und Unterschiede sowie die Darstellung der Funktion zu erfassen,
die die verwendete Sprache für den Sprecher in verschiedenen Situationen hat.
Durch die Orientierung am neuesten Stand der Interaktions- und
Kommunikationsforschung der qualitativen Soziolinguistik wurde dabei
theoretisch und methodisch auf das gesprächsanalytische Verfahren und auf
das beschriebene sozial kommunikative Stilkonzept Bezug genommen, das auf
das Mannheimer Projekt ‘Kommunikation in der Stadt’ und auf verschiedene
soziologische Ansätze zurückgeht, die zum größten Teil in das Konzept
miteingehen (vgl. Kallmeyer 1994,1995; Keim 1995; Schwitalla 1995).
Das Stück „Mensch Meier“, das exemplarisch für die Werke von Kroetz
aus der mittleren Schaffensperiode steht und das die Aufstiegsorientierung und
Kulturwissenschaft
139
Serap Devran
die individuelle Entwicklung der Figuren als Vertreter des großen
Durchschnitts darstellt, wurde unter der zentralen Frage untersucht, wie die
von Kroetz intendierte persönliche und sprachliche Entwicklung der Figuren
mit den Konzepten der Soziologie, Literaturwissenschaft und Soziolinguistik
zu beschreiben ist. Was die soziale Orientierung der Figur bei „Mensch Meier“
betrifft, so konnte gezeigt werden, dass die Figur versucht, die Diskrepanz
zwischen seiner realen Lebenssituation und Aufstiegsorientierung durch die
Flucht in Tagträume zu kompensieren.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass Kroetz zur sprachlichen
Gestaltung der Lebenswelt in „Mensch Meier“ aus der ihm zur Verfügung
stehenden kulturellen Ressourcen eine Auswahl an verbalen und nonverbalen
Ausdrucksformen trifft, um die Werte, Routinen und Muster zu zeigen, an
denen sich die Figur für die Selbstrepräsentation und für die Bewältigung und
Durchführung von kommunikativen Aufgaben orientiert. Die nachgewiesenen
Stilmerkmale in den Sprechweisen der Figur sind typisch für gesprochene
Sprache und dialektgebundene Redeweisen. Somit hat sich ergeben, dass
Kroetz durch den Einsatz von Stilmitteln auf unterschiedlichen sprachlichen
Ebenen sowohl kommunikative Nähe erzeugt als auch Gesellschaftskritik
ausübt, um seine Rezipienten zu erreichen.
Die in der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse über die sozial
markierten Sprech- und Kommunikationsformen der in den dargestellten
Sozialwelt agierenden Figur bezieht sich auf das Stück „Mensch Meier“. Ich
bin jedoch davon überzeugt, dass auch in den anderen Stücken, die in den
entsprechenden Schaffensperioden entstanden sind, ähnliche sozial-stilistische
Elemente zu finden sind. So ist meine Annahme, dass Analysen von anderen
Kroetz-Stücken ähnliche Merkmale in Bezug auf Sprechweisen, Gestik,
Kleidung, Essen, Wohnungseinrichtung und Wohnverhältnisse ergeben
würden. Die vorgenommene Stilanalyse legt sogar nahe, dass die Merkmale
für die dargestellte soziale Welt auch in anderen Texttypen stabil bleiben, da
sie generell schichtbezogen sind. Aufgrund ihrer Allgemeinheit könnten die
aufgezeigten sozial-stilistischen Merkmale auch in Gestaltungen von
Sozialdramen in anderen Sprachen zu finden sein. Die Überprüfung dieser
Überlegungen könnte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.
LITERATURVERZEICHNIS
Abels, Heinz (2007): Einführung in die Soziologie. Die Individuen in ihrer Gesellschaft. Band 2.
3. Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Abels, Heinz (2010): Identität. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Aust, Hugo/Haida, Peter/Hein, Jürgen (1989): Volksstück: vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama
der Gegenwart. (=Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). München: C.H. Beck Verlag.
140 K u l t u r w i s s e n s c h a f t
Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“...
Bausch, Karl-Heinz (1978): Der Konjunktiv im Deutschen – Ein Thema für die Linguistik oder die
Soziolinguistik. In: Kopenhagener Beiträge zur Germanistischen Linguistik 13. S. 21-51.
Devran, Serap (2013): Kommunikation, Sprache und soziales Milieu in den Dramen
'Heimarbeit' und 'Mensch Meier' von Franz Xaver Kroetz. Eine soziolinguistische und
literaturwissenschaftliche Arbeit. 1. Aufl. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache.
Fromm, Erich (1988): Das Menschenbild bei Marx. Mit den wichtigsten Teilen der
Frühschriften von Karl Marx. Frankfurt a. M./Berlin: Ullstein Verlag.
Goffman, Erving (1959): Wir alle spielen Theater. München: Piper Verlag.
Hamburger, Käte (1968): Die Logik der Dichtung. 2. Auflage. Stuttgart: Klett Verlag.
Hinnenkamp, Volker/Selting, Margret (Hrsg.) (1989): Stil und Stilisierung. Arbeiten zur
interpretativen Soziolinguistik. Tübingen: Niemeyer Verlag.
Högemann, Elvira (1972): Stücke über kleine Leute. Der Dramatiker Franz Xaver Kroetz. In:
Unsere Zeit, 24.11.1972.
Jakobs, Eva/Rothkegel, Annely (Hrsg.) (2001): Perspektiven auf Stil. Akten des Kolloqiums
zum 60. Geburtstag von Barbara Sandig. (=Reihe germanistische Linguistik 226).
Tübingen: Niemeyer Verlag.
Kallmeyer, Werner (1994): Kommunikation in der Stadt: Exemplarische Analysen des
Sprachverhaltens in Mannheim. Teil 1. Berlin/New York. (=Schriften des Instituts für
Deutsche Sprache 4.1.).
Kallmeyer, Werner (1995): Kommunikation in der Stadt: Ethnographien von Mannheimer
Stadtteilen. Teil 2. Berlin/New York. (=Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 4.2).
Keim, Inken (1995): Kommunikation in der Stadt. Kommunikative Stilistik einer sozialen Welt
„kleiner Leute“ in der Mannheimer Innenstadt. Berlin/ NewYork. (=Schriften des Instituts
für Deutsche Sprache 4.3)
Keim, Inken/Schütte, Wilfried (2002): Einleitung. In: Keim, Inken/Schütte, Wilfried (Hrsg.):
Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60.
Geburtstag. (= Studien zur Deutschen Sprache 22). Tübingen: Narr Verlag. S. 9-26.
Keim, Inken (2008): Die „türkischen Powergirls” – Lebenswelt und kommunikativer Stil einer
Migrantengruppe in Mannheim. (=Studien zur Deutschen Sprache 39). 2. Auflage.
Tübingen: Narr Verlag.
Krappman, Lothar (1969): Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen
für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart: Klett Verlag.
Kroetz, Franz Xaver (1999): Mensch Meier, Herzliche Grüße aus Grado, Das Nest. Hamburg.
Marx, Karl (1867) (1970-1972): Das Kapital. Kritik der politischen Ekonomie. Drei Bände.
Marx/Engels Werke. Bd. 23-25. Berlin: Dietz Verlag.
Negt, Oskar (2002): Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenbruch zerbricht. In: Kritische
Interventionen. Heft 7, S. 255-257.
Schwitalla, Johannes (1995): Kommunikation in der Stadt. Kommunikative Stilistik zweier
sozialer Welten in Mannheim-Vogelstang. Berlin/New York. (=Schriften des Instituts für
Deutsche Sprache 4.4)
Selting, Margret/Sandig, Barbara (Hrsg.) (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York:
de Gruyter Verlag.
Skasa, Michael (1978): Lieber tot als so wie du. Über Franz Xaver Kroetz und Mensch Meier.
In: Theater heute. 19. Heft 13, S. 102f.
Werlein, Berthold (1981): Entfremdung und Mechanisierung der Produktionsarbeit: Kritik des
Technikfetischismus. Köln: Pahl-Rugenstein Verlag.
http://www.zeno.org/Zeno/0/Suche?q=%22genie%20haben%22.
Kulturwissenschaft
141