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Germanistische Kontexte DOI: 10.15584/germkon.2015.1.8 NR 1(1)/2015 Serap Devran Istanbul IDENTITÄTSFACETTEN UND VARIATIONSREICHE SPRECHWEISEN IM DRAMA „MENSCH MEIER“ VON FRANZ XAVER KROETZ ABSTRACT Identity Aspects and Speech Analysis in Franz Xaver Kroetz’s Drama “Mensch Meier” The paper is a study of Franz Xaver Kroetz’s Mensch Meier dramatic scenes based on literary theory and sociolinguistics, combining the sociological approach and the methods of conversational analysis. It aims to show the ways in which the author represents social reality. To achieve this, it was established what features of language used in creating the fictional world were employed to characterize a member of the working class in his attempt to advance in society. Kulturwissenschaft Key words: sociological approach, conversational analysis, social reality, advance in society 1. EINLEITENDE BEMERKUNGEN Im vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine literaturwissenschaftlicheund soziolinguistische Untersuchung, die die Ansätze der Soziologie und linguistisch-gesprächsanalytische Methoden zur Analyse von dramatischen Szenen verbindet. Die dramatischen Figuren gelten als sozial-typische Vertreter der von Franz Xaver Kroetz dargestellten Lebenswelt der einfachen Arbeiter.1 Ziel der Untersuchung ist es zu zeigen, mit welchen sprachlich-kommunikativen Mitteln Kroetz die Figuren als sozial-typische charakterisiert und wie er deren Orientierung an bestimmten Leitbildern und variationsreichen Sprechweisen verdeutlicht. Herangezogen werden hierfür gesprächsanalytische Verfahren Bei der Gestaltung des dramatischen Entwicklungsprozesses und der innerfamiliären Dialoge der Personen spielen die Denk-, Handlungs- und Sprachformen eine Rolle, die in der angeführten Forschung als typisch für die in Szene gesetzten Figuren beschrieben sind. 1 122 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... und das „Konzept des kommunikativen Sozialstils“2. Es ist geeignet, die gesprächsweise Herstellung von sozialen Identitäten und sozialen Beziehungen zu erfassen. In den Sprach- und Kommunikationspraktiken können übergreifende Strukturen erfasst werden, und da Sprecher immer wieder auf ein aus ihrer Sicht übergeordnetes Sozialsystem referieren, zeigen sie, wie sie dieses System verstehen. Das in der Soziolinguistik entwickelte Konzept des kommunikativen Sozialstils muss jedoch für die Untersuchung von dramatischen Dialogen angepasst werden. Das Problem einer Übertragung liegt darin, dass es sich hier um eine dramatische Inszenierung von Familienkommunikation handelt, die einer bestimmten Lebenswelt entstammt, und um Dialoge, die vom Autor konstruiert sind. Für meine Untersuchung ist es von Interesse die sprachlichen Mittel und Verfahren zu beschreiben, die der Autor einsetzt, um seine Figuren als Zugehörige einer bestimmten sozialen Lebenswelt und ihre Interaktionen als sozial typische Interaktionen erkennbar werden zu lassen. 1.1. Das Thema Mit der Darstellung von gesellschaftlichen Missständen, die immer auch ein Teil der Wirklichkeit sind, wird die Bühne zu einem Ort, auf dem nicht nur Soziales, sondern auch Öffentliches geschieht. In dem Moment, in dem die Figuren die Bühne betreten, werden sie als Handelnde unmittelbar wahrnehmbar und die realitätsnahe Handlung, obwohl doch fiktiv, wird zur gegenwärtigen Wirklichkeit (vgl. Hamburger 1968:114). Diese Wirklichkeit, dargestellt aus dem Erfahrungshorizont der Figuren, macht das Publikum einerseits zum gegenwärtigen Zeugen eines sozialgeschichtlichen Ereignisses und andererseits bekommt das Publikum einen Einblick in die Vielfalt von Handlungs- und Sprechweisen der dramatischen Figuren, die als typische Vertreter einer bestimmten Lebenswelt sich auch von anderen unterscheiden. Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils, das derzeit umfassendste Stilkonzept, wurde im Mannheimer Projekt ‘Kommunikation in der Stadt’ entwickelt, das die „sozialstilistische Differenzierung zwischen unterschiedlichen sozialen Welten der deutschen Gesellschaft vom Bildungsbürgertum bis zu den ‘einfachen Leuten’ aus dem Arbeitermilieu“ beschrieben hat (vgl. Kallmeyer 1994; Kallmeyer 1995; Keim 1995; Schwitalla 1995). Das Konzept knüpft an Arbeiten zu kulturellen Stilen an, an die neuere gesprächsanalytische Stilforschung und Bourdieus Arbeiten. Diese Entwicklung wird im deutschsprachigen Bereich durch Veröffentlichungen von Hinnenkamp/Selting (1989), Selting/Sandig (1997), Jakobs/Rothkegel (2001) und Keim/Schütte (2002) dokumentiert. Kommunikative soziale Stile, in denen sich gesellschaftliche und interaktive Bedeutungen verbinden, bilden die Brücke zwischen lokal stattfindenden Interaktionen und übergreifenden sozialen Strukturen, kulturellen Traditionen, Wissensbeständen und kulturell gebundenen Überzeugungen. 2 Kulturwissenschaft 123 Serap Devran Dass in der Gesellschaft unterschiedliche soziale Stile existieren, die wiederum die soziale Differenzierung der Gesellschaft spiegeln, zeigt sich vor allem darin, dass sozial engagierte Dramatiker wie Franz Xaver Kroetz in ihren dramatischen Werken beobachtete Wirklichkeit darstellen und diese durch erkennbare Strukturen im dramatischen Dialog ihrer Figuren transparent machen. Dabei wird gezeigt, wie die Personen als Zugehörige einer bestimmten Lebenswelt in bestimmten Situationen handeln, denken und fühlen. Das wird dann zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Von den Werken aus der dritten Schaffensperiode von Franz Xaver Kroetz gilt vor allem „Mensch Meier“ in Bezug auf Entwicklung und Sprache als bedeutendes Familienstück,3 das durch den Einfluss der Vorbilder Fleißer und Brecht aus einer Synthese aus beschreibendem und sozialistischem Realismus heraus entstanden ist. Als scharfer Analytiker realer sozialer Verhältnisse und als genauer Beobachter der jeweiligen Handlungs- und Sprechweisen,4 reflektiert Kroetz soziale Realität, analysiert soziale und psychosoziale Prozesse und konstruiert sie als dramatische Prozesse des Scheiterns oder des mühsamen Gelingens.5 1.2. Zum Inhalt des Dramas Im Drama „Mensch Meier“ steht ein Arbeiterehepaar im Zentrum, das in der Illusion des sozialen Aufstiegs lebt, gleichzeitig aber unter den Beschädigungen durch entfremdete Arbeit leidet. Vor allem der Mann fürchtet Arbeitslosigkeit. Als sich seine Angst vor dem sozialen Absturz in häuslicher Gewalt entlädt, Skasa (1978:102) äußert sich dazu „Kroetz schildert die Wirklichkeit einer Gruppe von Menschen. Die Gruppe ist sehr groß, die Unterschiede sind sehr gering. Die meisten leben nun mal (nun mal?) als Kleinfamilie in einer Kleinwohnung, sparen auf irgendwas und haben Angst vor irgendwas; die Kindererziehung ist schwer, die Liebe auch. Wenn man sich selbst nicht mag, wie soll man den anderen mögen?“ 4 Aust (1989:331) Kroetz „baut ganz auf die Sprache der Figuren, zum Beispiel in den Monologen in “Mensch Meier“. Zur Kroetz’ methodische Vorgehensweise für eine realistische Darstellung erklärt Högemann (1972:82): „Die Milieu- und Personenkenntnis schlägt sich in seinen Stücken nieder: Er zeigt seine Helden nicht aus einer überlegenen oder skeptischen Distanz, sondern setzt alle Mittel ein, um sie dem Zuschauer „von innen” vorzuführen, in Situationen und Gesprächen, die zunächst einmal durch ihre unvermittelte Lebensechtheit fesseln. Dem Sprechen und Handeln der Personen wird keine erklärende, über ihr Denken hinausreichende Geste beigefügt. Diese Methode hat, wenn man sie beherrscht wie Kroetz, ihre Vorteile: Deklamation von Ansichten und Schematisierung werden vermieden, die ausgesprochenen Einsichten und das Handeln der Personen hängen unmittelbar voneinander ab“. 5 Aust (1989:329f) Kroetz zeigt von ‘Oberösterreich’ über ‘Das Nest’ zu „Mensch Meier“ eine Entwicklung von typischen Repräsentanten des sozialen Durchschnitts zu Individuen, in dem er die sozialpsychologische Charakteristik der ‘kleinen Leute’ darstellt. 3 124 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... kommt es zum emotionalen Bruch mit der Frau und dem Sohn. Durch den Bruch mit dem Mann erwächst beiden die Kraft zu einer eigenständigen Entwicklung: Der Sohn beginnt die gewünschte Maurerlehre, die Frau macht sich auf den schweren Weg in die ökonomische Selbständigkeit als angelernte Verkäuferin. Der Mann kann sich von sozialen Aufstiegs- und Wunschträumen nicht lösen und verkümmert in seiner Wohnung in sozialer Isolation. 2. FORSCHUNGSANSÄTZE ZUR ERFASSUNG VON SOZIALER IDENTITÄT Anknüpfungspunkte zur Erfassung der sozialen Identität der Figuren im Kroetzschen Drama „Mensch Meier“ stellen sozial-konstruktivistische, interaktionale und soziolinguistische Ansätze dar. Das sind Ansätze, die die variationsreiche Sprechweisen und das kommunikative Handeln sozialer Gruppen beschreiben und Unterschiede zwischen ihnen feststellen. 2.1. Sozial-konstruktivistische und interaktionistische Ansätze In sozial-konstruktivistischen Ansätzen liegt der Fokus auf dem Prozess der „Darstellung“, den Akteure alltäglich in sozialen Interaktionssituationen gemeinsam herstellen. Das umfasst ihr Gesamtverhalten, das sie vor anderen zeigen und das diese akzeptieren, modifizieren oder auch zurückweisen können, was wiederum deren Verhalten beeinflusst (vgl. Goffman 1959:23). Für eine gelungene Darstellung ist es notwendig, dass dramatische Figuren oder reale Personen sich als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe darstellen und durch bestimmte Handlungs- und Sprechweisen Attribute wie Alter, Geschlecht, geografische Herkunft, sozialen Status und soziale Zugehörigkeit ausdrücken. Für eine von allen Beteiligten akzeptierte Darstellung gilt es, die Regeln für Erscheinung und Verhalten zu befolgen, die mit einer bestimmten sozialen Gruppe oder sozialen Kategorie (die inszeniert wird) assoziiert werden. Dies erfordert die Fähigkeit der wechselseitigen Rollenübernahme, das heißt die Fähigkeit, aus der Position des anderen zu denken und seine Reaktion auf das eigene Verhalten vorwegzunehmen. Nach Krappmann (1969) findet man Zugang zur Identität durch und über Sprache: „Ich-Identität erreicht das Individuum in dem Ausmaß, als es, die Erwartungen der Anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache darstellen kann. Diese Ich-Identität ist kein fester Besitz des Individuums. Da Kulturwissenschaft 125 Serap Devran sie ein Bestandteil des Interaktionsprozesses selber ist, muss sie in jedem Interaktionsprozesses angesichts anderer Erwartungen und einer ständig sich verändernden Lebensgeschichte des Individuums neu formuliert werden“ (Krappman 1969:208 zitiert nach Abels 2010:447). Individualität wird also, als Ergebnis sozialer Interaktionsprozesse verstanden; das heißt es wird davon ausgegangen, dass individuelle und soziale Identitäten in sozialen Interaktionen und Prozessen hergestellt werden. Da Krappmann auf die Umsetzung der sprachlichen Realisierung von Identität in Interaktionen nicht eingeht, beziehe ich mich für die von mir gewählte analytische Vorgehensweise auf die Arbeiten von Keim (1995/2008). In interaktionistischen Ansätzen wird versucht, die soziale Spezifik der Figuren im Kroetzschen Drama „Mensch Meier“ aus ihren Handlungs- und Sprechweisen zu rekonstruieren. Danach ist die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie und damit die soziale Identität einer Person nicht bzw. nicht ausschließlich „objektiv“ gegeben, so dass Handlungen davon determiniert sind. Soziale Identität wird durch Handlungen hervorgebracht, im Gespräch hergestellt, von anderen Gesprächsteilnehmern bestätigt, modifiziert oder bestritten. Durch die Art, wie Menschen sprechen, wie sie über andere sprechen, wie sie sich zu anderen in Relation setzen, wie sie andere bewerten und wie sie sich in Relation zu anderen bewerten, zeigen sie, als wen sie sich und andere sehen und wie sie von anderen gesehen werden wollen. Das heißt nur aus dem, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sprechen, welchen Vorstellungen sie folgen oder welche Handlungen sie entwickeln, können wir rekonstruieren, zu welcher sozialen Kategorie sie sich zuordnen. 3. REKONSTRUKTION DER IDENTITÄTSFACETTEN UND SPRACHLICHE VARIATION IN DEN SPRECHWEISEN „OTTOS“ Ottos Aufstiegssehnsucht vom Hilfsarbeiter zum sozial hochangesehenen, beruflich erfolgreichen Mann spiegelt sich vor allem in seinen Tagträumen, in denen er durch die fiktive Inszenierung von höher stehenden Sozialrollen und deren Kommunikationsstil zeigt, dass er mehr kann und mehr weiß als seine eintönige, entfremdete Arbeitswelt ihm bietet. Im I. Akt, Szene 4 („Weltmeister“) fantasiert er sich in die Rolle eines erfinderischen und wirtschaftlich erfolgreichen Bastlers und entfaltet dabei ein großes Sprachrepertoire, das neben den dialektal geprägten auch standard- und fachsprachliche Formen enthält. Otto träumt den Aufstieg, in der Realität jedoch zerbricht er an diesem Traum durch die entfremdete Arbeit und drohende Arbeitslosigkeit. 126 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... Am Ende des Dramas – in Akt III, Szene 3 („Spieglein“), das Otto nach der Trennung von seiner Frau in sozialer und räumlicher Isolation zeigt, wird durch eine zynisch-sarkastische Inszenierung der Sendung „Heiteres Beruferaten“ deutlich, dass Otto die Identität als Arbeiter nicht akzeptieren kann. Die Analyse dieser Szene zeigt den Kontrast zwischen dem Stil des Arbeiters Otto und dem Moderators Robert Lembke und verweist auf Ottos ironische Selbsterkenntnis ebenso wie auf die sozialkritische Haltung von Kroetz gegenüber der Figur Otto Meier. Ottos Flucht vor der Alltagsrealität in die Traumwelt, dargestellt in den verschiedenen Szenen des Volksstückes, findet seinen Höhepunkt in Akt III, Szene 6. Im Gespräch mit dem Sohn träumt er sich selbst in die Figur eines reichen schönen Mannes, entlarvt diese Traumvorstellung jedoch sofort durch eine sehr negative Selbstcharakterisierung. In den Szenen, die durch finanzielle und soziale Enge bestimmte Alltagsrealität einerseits und die nur in Träumen mögliche Selbstdarstellung in angesehenen Sozialrollen als Sportler, als Erfinder und Industrieller und TVModerator andererseits, kommen Otto Meiers Rollen sprachstilistisch zum Ausdruck: durch dialektal-umgangssprachliche Formen im Umgang mit seiner Familie, durch derb-drastische Ausdrucksweisen bei Selbstbeschimpfungen und Selbsterniedrigungen und durch schrift- und fachsprachliche Formulierungen und altertümelnde Höflichkeitsformen in den höheren Sozialrollen. Das alles gehört zum Ausdrucksrepertoire von Otto Meier, das ich im Folgenden an ausgewählten Szenen zeigen werde. 3.1. Fiktive Umsetzung der eigenen Fähigkeiten: der Weltmeister Otto Meier In der im Folgenden analysierten 4. Szene setzt Kroetz Sprachvariation als wesentliches Mittel ein, um einerseits soziale Zugehörigkeit und soziales Ansehen der Figuren und unterschiedliche soziale Rollen symbolisch zum Ausdruck zu bringen und andererseits seine eigene ironisch-distanzierte Sicht auf die Figuren und deren Handeln. In seiner viel zu engen Abstellkammer (1.Akt 4. Szene) lässt Otto nach Feierabend beim Bau von großen Modellflugzeugen seiner Vorstellungskraft freien Lauf. Er flüchtet sich im Selbstgespräch in Erfolgs- und Machtträume, in dem er eine live übertragene Reportage des ZDF-Sportstudios inszeniert. Darin erfährt er sich als der berühmte Otto Meier Deutschland, der es durch Herstellen und Fliegen von Langstreckenmodellsegelflugzeugen zu großem Ruhm gebracht hat. In der Szene befragt ein Sportreporter den berühmten Otto Meier. Im Dialog zwischen beiden fällt auf, dass ein weites Repertoire an Sprachvarietäten gebraucht wird, um einerseits Otto Meier symbolisch als sozial hoch angesehene Kulturwissenschaft 127 Serap Devran Person zu charakterisieren und um ihn andererseits als zwar bescheidenen, sich seiner Fähigkeiten aber sehr bewussten, technisch versierten Sportler darzustellen. Dabei fallen folgende sprachliche Merkmale auf: − Gewählte schriftsprachliche Formulierungen und fachspezifische Ausdrucksweisen, die an eine Fachzeitschrift erinnern, − Mündliche Formulierungen, dialektale Ausdrucksweisen und Bescheidenheitsroutinen. Das wird im folgenden Interaktionsausschnitt dargestellt: OTTO Ich meine, es ist ja eigentlich nicht üblich, daß man kurz vor dem Start des Fliegers Ruhe stört (lacht gekünstelt), aber Herr Otto, ein paar Fragen seien uns doch erlaubt. – Bitte, bitte! – Sie sind ja nun, wenn man so will, ein echter Senkrechtstarter. Sie haben vor zwei Jahren mit dem aktiven Modellsegelflugzeugsport begonnen, und, es stockt einem fast der Atem, es zu sagen, inzwischen sind Sie Deutscher Meister der Lang- und Mittelstrecke; und nun bereiten Sie sich sozusagen im Durchlauf über diese Europameisterschaft auf die Weltmeisterschaft vor. Werden Sie heute gewinnen?- (Otto lacht gekünstelt.) Wenn man daran denkt, welche Siege allerdings Sie in der grade allerletzten Zeit bereits errungen haben, wäre es, liebe Zuschauer, nicht verwunderlich, wenn unser deutscher Otto Meier auch den Europameister machen würde. Wie wird man ein derartiger Flieger?- Na ja, ich mein, da muß natürlich schon ein gewisser thermischer Verstand vorhanden sein, dazu eine echte Liebe zur Fliegerei und natürlich Glück (…) Kroetz (1999:20f.). In dieser fiktiven Szene, in der Otto in die Figur des Otto Meier schlüpft, inszeniert er sich durch die Thematisierung errungener Siege, künftiger Ziele und überragender Fähigkeiten als ein weltweit berühmter Sportler. Auffallend an der szenischen Darstellung ist das weite Sprachrepertoire, das Otto in der Inszenierung der Dialoge zwischen Otto Meier und dem Reporter zeigt. Er lässt den Reporter zwei unterschiedliche Sprechstile sprechen: In einer etwas veralteten Sprache, wenn er Otto Meiers Leistung würdigt Wenn man daran denkt, welche Siege allerdings Sie in der grade allerletzten Zeit bereits errungen haben. Und dann, wenn er sich an die Zuschauer wendet, in einer kumpelhaften Umgangssprache wäre es, liebe Zuschauer, nicht verwunderlich, wenn unser deutscher Otto Meier auch den Europameister machen würde. Otto Meier selbst lässt er in einer gehobenen Umgangssprache im Stil einer Fliegerfachzeitschrift sprechen Na ja, ich mein, da muß natürlich schon ein gewisser thermischer Verstand vorhanden sein, dazu eine echte Liebe zur Fliegerei und natürlich Glück. Die Selbstherabstufungen vermitteln in Reaktion auf Lob und Würdigung angemessene Bescheidenheitsbekundungen. Ottos Wunschvorstellung von einer Person, die es durch das Herstellen von selbstgebauten Modellflugzeugen zu weltweiter Anerkennung und Berühmtheit 128 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... gebracht hat, wird in der Weiterführung der fiktiven Szene ausgeweitet. Im folgenden Interaktionsabschnitt werden durch die Zwischenfrage Sie fliegen nur mit selbstgebauten Modellen? weitere Details zu Ottos Können ausgebreitet. Die anschließende Feststellung Das, sagt die Fachwelt, wäre auch der Grund Ihrer Erfolge und die Frage des Reporters Sie hätten,6 wenn ich hier eine Fachzeitschrift zitieren darf, technisch – fliegerisches Genie. Ist das so?, in der er die Fachwelt zitiert, zielt auf den Kern von Otto Meiers Erfolg: Er baut seine Flugzeuge selbst und fliegt nur mit selbstgebauten Fahrzeugen. Die eigene Herstellung und das fliegerische Geschick wird in der Fachwelt als Otto Meiers technisch-fliegerisches Genie bezeichnet. Durch diese Darstellung aus einer autorisierten Außenperspektive, der simulierten Fachwelt, wird die Qualität von Otto Meiers Leistung abgesichert und verbürgt. In den Augen der Fachwelt wird er als erfolgreicher Hersteller und Flieger von Modellflugzeugen anerkannt und wegen seiner überragenden Leistungen hoch geschätzt. Der Reporter verwendet wieder eine sehr gewählte, veraltete Ausdrucksweise: Genie haben kommt in der klassischen Literatur des 18. Jahrhunderts vor; heute wird genial sein gebraucht.7 Die Inszenierung der sozialen Anerkennung der eigenen Fähigkeiten Otto Meiers wird dann zum sozialen Status in der gesellschaftlichen Hierarchie in Bezug gesetzt. Auf die Frage des Reporters Ist das so? antwortet Otto Meier: Na ja, man soll sich ja nicht selber loben, aber eine Begabung muß da natürlich schon dabei sein, weil die gängigen Modelle natürlich bereits mit allen Raffinessen ausgestattet sind und die großen Hersteller alle Möglichkeiten haben. Ich habe ja zum Beispiel keinen Windkanal. Durch diesen Vergleich wird die Größe seiner eigenen Leistung erst richtig deutlich, dass es Otto Meier, trotz seiner sehr bescheidenen Voraussetzungen und Bedingungen gelungen ist, die professionellen Hersteller zu überflügeln, die alle erdenklichen Möglichkeiten zur Herstellung bester Qualität haben. 6 In der indirekten Redewiedergabe des Reporter wird die indirekte Rede mit dem Indikativ Das, sagt die Fachwelteingeleitet, dadurch wird „zweifellos die Feststellung einer Tatsache [ausgedrückt], und es nicht erlaubt, irgendwie an ihr zu zweifeln oder zu deuteln“ (Boost zitiert nach Bausch 1978:334). Anschließend, folgt der Gebrauch des Konjunktiv II. Hier könnte der Gebrauch des Konjunktiv II, als Ersatzregel für Konjunktiv I verstanden werden, da der Konjunktiv I morphemhomophon ist mit dem entsprechenden Indikativmorphem Sie hätten, wenn ich hier eine Fachzeitschrift zitieren darf, technisch – fliegerisches Genie. 7 „Ein philosophisches, ein poetisches, ein moralisches, ein historisches Genie haben. Viel Genie zur Poesie oder für die Poesie, zur Musik oder für die Musikhaben.“ (Adelung 1793, zitiertnachhttp://www.zeno.org/Zeno/0/Suche?q=%22genie%20haben%22). Im deutschen Wortschatz der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird Genie haben überwiegend in Texten der Philosophie, Musik und Literaturverwendet, etwa bei Goethe, Lessing oder Arthur Schopenhauer. Vgl. http://www.zeno.org/Zeno/0/Suche?q=%22genie%20haben%22. Kulturwissenschaft 129 Serap Devran Otto Meiers Selbstdarstellung als herausragend erfolgt in einer dialektal (bayrisch) gefärbten Sprache, zum Beispiel eine Begabung muss dabei sein (allgemeinsprachlich meist ohne Artikel), selber (allgemeinsprachlich: selbst); die Äußerung hat Merkmale gesprochener Sprache wie die Einleitungsformel na ja, die Hedges ja, schon, natürlich und sie ist geprägt von fachspezifischen Ausdrücken, die Fachspezifik suggerieren wie gängige Modelle, ausgestattet, alle Raffinessen haben, große Hersteller, Windkanal. Otto Meier spricht wie ein ‘Mann aus der Mitte des Volkes’, umgangssprachlich und dialektal gefärbt; er ist technisch gut gebildet, sich seiner Fähigkeiten bewusst und sprachlichargumentativ geschickt. Mit dieser Figur nähert sich Kroetz an das Marxsche Menschenbild an und an das Konzept vom nicht-entfremdeten, seiner sozialen Stellung und seiner Fähigkeiten bewussten Menschen, der sich selbst als „erschaffende“ Person erfährt. Doch Aspekte dieses Selbstkonzepts kann Otto nur in der fiktiven Szene umsetzen. Durch die Hervorstreichung der Charakterzüge von „typischen Eigenschaften und Handlungsweisen von Personen und zur Charakterisierung von sozialen Beziehungen und Konstellationen“ (Keim 1995:421) karikiert Kroetz den Arbeiter Otto Meier, der sich nur in Allmachtphantasien verwirklichen kann. Durch die Übersteigerung von Ottos Fähigkeiten in dieser fiktiven Szene drückt Kroetz gleichzeitig auch ironische Distanz zu seiner Figur aus. Die Inszenierung der sozialen Anerkennung der eigenen Fähigkeiten wird im letzten Interaktionsausschnitt noch weiter ausdifferenziert und zum sozialen Status in der gesellschaftlichen Hierarchie in Bezug gesetzt. Durch den sportlichen Erfolg aufgrund überragender Fähigkeiten gelingt der soziale Aufstieg vom Arbeiter zum Unternehmer: Sie waren früher, ja man darf es wohlsagen, Arbeiter? - Ja, das war ich. (Lächelt gekünstelt). – Heute haben Sie aber, ich glaube, auch das kann gesagt werden, eine Art kleine Fabrik und haben sozusagen das Hobby zum einträglichen Beruf gemacht. – Stimmt (Kroetz 1999:21). Die Frage des Reporters Sie waren früher, ja man darf es wohlsagen, Arbeiter? thematisiert Otto Meiers frühere soziale Position als Arbeiter. Interessant ist die Formel ja man darf es wohlsagen direkt vor der Nennung der sozialen Kategorie Arbeiter. Die Formel verleiht der Kategorie die Qualität von etwas Heiklem, von etwas, über das man nicht so gerne spricht. Die temporale Bestimmung früher impliziert eine Entwicklung von einem vorherigen zu einem Status heute, der anders ist. Die Frage nach dem früheren Sozialstatus Arbeiter bejaht Otto Meier mit gekünsteltem Lächeln: Ja, das war ich. Dann beschreibt der Reporter die heutige Situation des Otto Meier: Heute 130 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... haben Sie aber, ich glaube, auch das kann gesagt werden, eine Art kleine Fabrik und haben sozusagen das Hobby zum einträglichen Beruf gemacht. Im Vergleich zum vorherigen Einschub ja man darf es wohl sagen, durch den der Reporter implizit um Erlaubnis bat, weist die Paranthese auch das kann gesagt werden auf die Tatsache hin, dass Otto Meier heute ein Unternehmer ist. Durch diese Darstellung wird aus der Sicht des Reporters der Aufstieg vom Arbeiter zur gegenwärtigen sozialen Position als Kleinunternehmer nachgezeichnet. Otto Meier ist es gelungen, seine Begabung, die er zunächst nur in seinem Hobby ausdrücken und ausleben konnte, jetzt auch beruflich zu nutzen. Durch die Welterfolge, die er im Rahmen seines Hobbys erzielte, ist ihm auch der soziale Aufstieg vom Arbeiter zum Kleinunternehmer gelungen. Zum Abschied wünscht der Reporter viel Erfolg: Herr Meier, wir alle und die Zuschauer daheim wünschen Ihnen toi, toi, toi für diesen Start bei den Europameisterschaften in Rom und hoffen, der Europameister im Langstreckenmodellsegelfliegen heißt Otto Meier Deutschland. – Danke schön! – Liebe Zuschauer, ich gebe zurück in die Heimatredaktion des ZDF-Sportstudios (Schnauft). Otto Meier kann bei seiner Anstrengung zur Erlangung des Europameisters mit der Unterstützung der Öffentlichkeit, der Medien und der Zuschauer rechnen. Sie alle hoffen: der Europameister im Langstreckenmodellsegelfliegen heißt Otto Meier Deutschland. Sie sehen Otto Meier als den siegreichen Vertreter Deutschlands in Europa. In der gesamten fiktiven Szene stellt Otto über die Figur des Otto Meier seine Wunschvorstellung dar: soziale und berufliche Anerkennung durch Fachwelt und Öffentlichkeit und die Umsetzung von Fähigkeiten, die er nur im Hobby ausleben kann. Diese Wunschvorstellung von einer nicht-entfremdeten Existenz, das heißt durch produktive Tätigkeit zur sich selbst bejahenden Lebensäußerung, steht in maximalem Kontrast zu seinem beruflichen Alltag, in dem er als Hilfsarbeiter einfache, immer gleich bleibende Handgriffe ausführt, die nur im Rahmen des gesamten Produktionsprozesses sinnhaft, für den einzelnen Arbeiter jedoch sinnlos sind. In der analysierten Szene zeigt Otto sein reiches sprachliches Repertoire, das auf ein weites soziales und interaktives Wissen hindeutet. Die schnellen sprachlichen Wechsel, die in den fiktiven Dialogen mit Sprecherwechsel und Adressantenwechsel einhergehen, zeigen Ottos hohe sprachliche und soziale Flexibilität: Die Fähigkeit zu Sprach- und Stilwechsel beim Wechsel von Sprecher- und Adressatenrolle ist ein Charakteristikum von Menschen mit großer sozialer, sprachlicher und sozialstilistischer Kompetenz, von Menschen, die in unterschiedlichen soziale Rollen und in unterschiedlichen sozialen Milieus Kulturwissenschaft 131 Serap Devran kompetent und adäquat kommunizieren können. Dass Otto solche Fähigkeiten besitzt, zeigt er in dieser Szene ebenso wie in anderen Szenen des Stücks, zum Beispiel im 1. Akt Szene 3, der Kugelschreiber-Szene.8 Die Szene zeigt aber nicht nur Ottos hohe sozial-stilistische Kompetenz; sie zeigt auch Kroetz' Perspektive auf Ottos Flucht vor der Realität in eine Traumwelt. Das wird in der gesamten Konstruktion der fiktiven Szene deutlich: in der übertriebenen Vorstellung, dass ein Hobby-Bastler Industrieprodukte überflügelt und dass ein Hobby-Flieger Weltruhm erreicht; in der Rollenkonstellation Otto Meier und Reporter mit Anspielungen auf eine Herren-Diener-Konstellation und in den Beiträgen des Reporters, der mit veralteten Ausdrucksweisen die Außergewöhnlichkeit des Otto Meier rühmt. Die Konstruktion der gesamten Szene enthält übertreibende Elemente in der Anlage des Plot und in der sprach-kommunikativen Ausgestaltung. So wie der Reporter Otto Meier anspricht und behandelt, macht er sich lustig über ihn; und durch die Sprech- und Handlungsweise des Reporters scheint Kroetz eigene ironisch-distanzierte Perspektive auf Ottos Realitätsflucht durch. 3.2. Inszenierte Selbstanalyse der Arbeiter-Identität Doch seit in der Firma Entlassungen vorgenommen und die Bedingungen der Produktion verschärft werden, beschäftigt sich Otto mit zunehmender Intensität mit der drohenden Arbeitslosigkeit. Zunächst versucht er durch Überanpassung an die verschärften Arbeitsbedingungen seinen Arbeitsplatz zu sichern, obwohl er insgeheim weiß, dass ihn das vor der Entlassung nicht schützen kann. Die Unsicherheit und Entfremdung im Arbeitsbereich führt zum Bruch mit der Familie, zur Selbstentfremdung und schließlich zur völligen Isolation. Mit der sarkastischen Selbstanalyse in der Szene Spieglein (Akt III, 3. Szene) stellt Kroetz Ottos Selbstentfremdung durch offene Ablehnung der Arbeiter-Identität dar, die er im Gespräch mit dem Sohn (Akt III, 6. Szene) mit der sprachlichen Metapher ‘in der falschen Haut stecken’ auf den Begriff bringt. Der Bruch mit den Familienmitgliedern hat Otto nicht nur sozial, sondern auch räumlich eingeschränkt. Er ist, wie die Regieanweisung beschreibt, auch äußerlich weniger, magerer geworden. Kroetz setzt hier in Szene, was der Soziologe Negt (2002:255-257) als Folge von Arbeitslosigkeit beschreibt. Sowohl die Angst vor Arbeitslosigkeit als auch die traumatische Erfahrung des Arbeitsplatzverlustes setzen eine depressive Dynamik in nahezu allen Lebensbezügen in Vgl. dazu auch 1. Akt 3. Szene; hierzeigt Otto ein weites Repertoire an Sprachvarietäten und Interaktionsritualen, die er situationsgemäß verwendet, um von seiner Umwelt als Aufsteiger soziale Anerkennung zu gewinnen. 8 132 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... Gang. Individuelle Folgen sind „Verkapselung ins Arbeitslosenschicksal, dass zur Verarmung und Reduzierung des Lebensniveaus führt.“ Im Fernsehen läuft gerade die vom bayrischen Rundfunk ausgestrahlte Sendung Heiteres Beruferaten von Robert Lembke, die seit Ende der 50er Jahre regelmäßig lief.9 Begleitend zu dieser Sendung, die gerade im Fernsehen läuft, setzt Otto sich selbst als Kanditat Otto Meier in einer fiktiven Ratesendung bei Robert Lembke in Szene. Er inszeniert einen Dialog, in dem er ein bitteres, zynisch-sarkastisches Wortspiel mit der eigenen Identität treibt und sich selbst auf ein optimal angepasstes Werkzeug reduziert: Was bin ich? Ein heiteres Beruferaten mit Robert Lembke. Ich bin ein Arschloch. Wie bitte, was sind Sie? Ich bin ein Arschloch. Gelernt oder ungelernt? Wie Sie wollen, Polsterer hab ich gelernt und bin jetzt angelernter Arbeiter beim BMW und schraub sechzehn Schrauben ein im Fünfhundertfünfundzwanziger. Sie sind Autobauer? Ja. Autoschraubeneinschrauber, Schraubschrauber, Schrauberling, Schraubologe. Sind Sie vielleicht ein Schraubenzieher? Wie bitte? Herr Lembke, ist der Kandidat ein Schraubenzieher? Jawohl, der Kandidat ist ein Schraubenzieher? Wenn Sie bitte, Herr Meier, einmal ihre Hände zeigen. Bitte gern. Hier sehen sie, liebe Zuschauer, die ausgeprägte Schraubhand mit drei Fingern und die andere mit zwei Fingern. Diese Reduzierung ist das Ergebnis der Züchtigung. Die verbliebenen Finger haben die doppelte Größe normaler Finger und werden dem Arbeitsvorgang optimal gerecht. Bitte, Herr Meier, wenn Sie einmal die typische Handbewegung machen würden. (Otto spielt die verkrüppelten Hände und schraubt) Danke schön. Das Schweindl ist nicht voll geworden. Auf Wiedersehen. Applaus für den Kanditaten Schraubenzieher! (Er applaudiert sich selber.) (Pause) (Spricht jetzt vernünftig zu sich) Ich bin ein Arbeiter. A-r-b-e-i-t-e-r! Kein Arzt, kein Rechtsanwalt, kein Steuerberater, kein Minister und kein Fabrikbesitzer. (Pause) Ich kann mich nicht mit mir abfinden. Komisch. Ob ich will oder nicht (Kroetz 1999:51). Die Selbstverachtung in dieser Szene wird durch das öffentliche Vorführen der verkrüppelten Hände und durch das Anpreisen der Verkrüppelung als ‘Heiteres Beruferaten’ geht zurück auf die US-amerikanische Game-Show ‘What’s my line?’ Unter den Gästen waren prominente Schauspieler wie Marlon Brando und Künstler wie Salvador Dali. Während eines Besuchs bei BBC in London 1954 erwarb Robert Lembke die Verwertungsrechte an diesem Sendeformat. 1969 war das Quiz mit 75% eingeschalteter Geräte die beliebteste Sendung im deutschen Fernsehen. Neben einem berühmten Gast, der in der vierten Raterunde erschien, hatten drei weitere Teilnehmer durchschnittliche Berufe. 9 Kulturwissenschaft 133 Serap Devran gelungene Züchtung ins Groteske gesteigert; die verformten, verstümmelten Hände wirken bizarr, hässlich und schaurig. Der Mensch Otto Meier erscheint – ähnlich wie Charlie Chaplin in dem Stummfilm Moderne Zeiten – zu einem durch Verformung optimal angepassten Werkzeug im mechanisierten Arbeitsprozess geworden zu sein. Drastischer kann die Bewusstwerdung von Selbstentfremdung nicht veranschaulicht werden als in diesem Selbstgespräch, in dem sich Otto als Figur Otto Maier in Szene setzt, reduziert, instrumentalisiert und verstümmelt.10 Kroetz gestaltet die Szene ganz im Sinne von Marx,11 der im Kapital den Zusammenhang so beschreibt: „Innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft (…) auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschung- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine“ (Marx 1867 zitiert nach Marx/Engels 1970-1972:674). Die Übereinstimmung der Marxschen Beschreibung mit der Szene Spieglein geht bis in den Wortlaut: Otto erkennt sich als extrem reduziert, verkrüppelt und sinnlosen, verarmten und instrumentellen Verhältnissen ausgesetzt; und er verachtet sich dafür. Nach Werlein (1981:305) hängt für Marx/Engels die Erscheinungsform der Entfremdung mit der Grundstruktur der kapitalistischen Produktion zusammen: „Der Produktionsprozeß beherrscht die Menschen, der Mensch nicht den Produktionsprozeß (Marx 1890:95). Die Gesetze ihres eigenen Tuns stehen den Menschen als ‚blinde Macht‘ (Marx 1894:828), als ‚fremde, sie beherrschende Naturgesetze‘ (Engels 1878: 264) gegenüber. Die Produkte ihrer eigenen Arbeit verselbständigen sich, führen ein Eigenleben, bewegen sich nach eigenen Gesetzen.“ Fromm (1988:54) betont hierzu: „Marx‘ Ziel richtet sich auf die Befreiung des menschlichen Wesens durch die Wiederherstellung der nicht entfremdeten und daher freien Tätigkeit aller Menschen, auf eine Gesellschaft, die den Menschen und nicht die Herstellung von Dingen zum Zweck hat und in der der Mensch aufhört, eine verkrüppelte Mißgeburt zu sein und ein vollentwickeltes Wesen wird.“ 11 Vgl. dazu Fromm (1988:49-60). Ein wichtiger Aspekt der Entfremdung betrifft das Verhältnis des Arbeiters zu den Produkten seiner Arbeit. Arbeit wird bei Marx als Teil der menschlichen Natur betrachtet, die den Menschen entäußert, weil die Erfahrung von Arbeit als etwas, was den Menschen äußerlich ist, instrumental angewandt wird und sein Ziel weder in sich trägt noch als Teil des menschlichen Wesens angesehen werden kann. Diese Vorstellung von der Entäußerung der Arbeit in das Produkt läßt das Produkt zu einem Gegenstand werden, der Gewaltüber den Menschen gewinnt. Somit beinhaltet die Vorstellung von der Entäußerung der Arbeit den Begriff Verdinglichung. Verdinglichung bedeutet bei Marx, dass etwas, was kein Ding ist, in ein Ding verwandelt wird und dass etwas, das kein Ding ist, als ein Ding behandelt wird. Darauf beruht das Problem: Im System der Warenwirtschaft, wo die Menschen zur Ware werden, herrscht die Tendenz, nicht nur alles als Ware zu behandeln, sondern die Waren, die in unmittelbaren Sinn dieses Wortes Dinge sind, alles als Ding zu behandeln und allem den Charakter von Dingen zu geben. Marx zufolge ist die Tendenz zur Verdinglichung das Ergebnis der Entfremdung. 10 134 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... Diese groteske Selbstinszenierung gestaltet Otto – ähnlich wie in I. Akt 4. Szene – sprachlich sehr versiert: Den Moderator Lembke lässt er in einer elaborierten Standardsprache sprechen, unter Verwendung formaler Höflichkeitsformeln, wie Wenn Sie bitte, Herr Meier, einmal ihre Hände zeigen und fachsprachlicher Lexik bei der Beschreibung von Otto Maiers Verkrüppelung wie Reduzierung, Ergebnis von Züchtung, dem Arbeitsvorgang optimal gerecht werden. Sich selbst lässt Otto dialektal gefärbt sprechen und zur Selbstcharakterisierung verwendet er das sehr derbe Schimpfwort Arschloch. Der Wechsel zwischen sozial unterschiedlichen Ausdrucksweisen (Fernsehmoderator versus Hilfsarbeiter) belegt wieder Ottos sprachliche Versiertheit, die in scharfem Kontrast steht zu der in der Szene zum Ausdruck gebrachten Selbstverachtung.12 Das Ratespiel ist mit dem Erraten des Berufs Schraubenzieher und dem Vorführen der schraubenziehertypischen Eigenschaften beendet. Die Äußerung des Moderators Das Schweindl ist nicht voll geworden zeigt, dass das Spiel für das Rateteam leicht und die berufliche Tätigkeit Otto Meiers schnell erkannt war. Bei der Verabschiedung aus dem Ratespiel applaudiert sich Otto selber und steigt aus dem Selbstgespräch aus. Dann folgt die Selbsterkenntnis Ich bin ein Arbeiter. A-r-b-e-i-t-e-r! Kein Arzt, kein Rechtsanwalt, kein Steuerberater, kein Minister und kein Fabrikbesitzer, eine Erkenntnis, die er nicht akzeptieren kann: Ich kann mich nicht mit mir abfinden. Komisch. Ob ich will oder nicht. Damit bringt er das Drama seines Lebens auf den Punkt: Er kann seine soziale Position nicht akzeptieren, weiß um seine vielen Talente, träumt von einem höheren Sozialstatus und scheitert daran.13 Der Literaturwissenschaftler Aust sieht das Drama der Kroetzschen Figuren so: Sie „beginnen den Grund für Entfremdungserscheinungen und Ichverlust zu erkennen und machen sich auf die Suche nach den ‚verschütteten‘ Lebenswerten.“14 In der im Folgenden analysierten Szene (III. Akt, 6. Szene) bringt Otto sein Erleben der Selbstentfremdung auch sprachlich auf den Begriff. Die Szene besteht aus einem Gespräch zwischen Vater und Sohn, in dem der Vater dem Aust (1989:331) Kroetz „baut ganz auf die Sprache der Figuren, zumBeispiel in den Monologen in Mensch Meier.“ 13 In der achten Phase des Identitätskonzepts von Erik H. Erikson heißt es „dem reifen Erwachsenenalter, geht es darum, das zu sein, was man geworden ist, was heißt, seine bisherige Entwicklung zu akzeptieren, und zu wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird. Der Kernkonflikt der Identität in dieser Phase heißt deshalb Integrität vs. Lebensekel” zitiert nach Abels (2007:373). Ottos Konfliktlösung tendiert in Richtung ‘Lebensekel’. Ottos zynisches Spiel mit seiner Rolle als Arbeiter, seine Ablehnung führt ihn in Allmachtphantasien, deren Konsequenzen er durch völlige Isolation zutragen hat. 14 Vgl. Aust (1989:329f). Kroetz zeigt von ‘Oberösterreich’ über ‘Das Nest’ zu „Mensch Meier“ eine Entwicklung von typischen Repräsentanten des sozialen Durchschnitts zu Individuen, in dem er die sozialpsychologische Charakteristik der ‘kleinen Leute’ darstellt. 12 Kulturwissenschaft 135 Serap Devran Sohn von der Tätigkeit als Arbeiter abrät mit dem Argument, dass Arbeiter ein schlechtes Sozialprestige haben und unbefriedigende Arbeiten erledigen müssen. In diesem Zusammenhang charakterisiert Otto sein inneres Befinden, das aus seiner unbefriedigenden beruflichen und sozialen Position resultiert, so: OTTO Ich tät schon heraus wolln aus meiner Haut, wenn ich es könnt. (Pause) Das is keine Ausred. Mir is, als wenn ich in einem Loch stehn tät, und ich will hinaufsteign, wo es hell wird, zehn Meter über mir. Aber da is nirgends ein Griff und alles glatt. (Lacht) Wenn ich ein bißl zuviel trink, dann möcht ich eine Rasierklingen nehmen und mich von obn bis unten aufschlitzn, und dann hab ich die Idee, aus der Haut steigt ein anderer heraus, der eigentlich ich bin und dem bloß der Weg versperrt war. LUDWIG Der Froschkönig. OTTO Machst dich lustig über deinen Vater? LUDWIG Nein. OTTO Das macht nix. Ich möcht, daß dir das erspart bleibt. Der Mensch braucht was, woran er sich erkennt, weil er drauf stolz sein kann. (Pause) Kroetz (1999:56). Mit der Metapher Ich tät schon heraus wolln aus meiner Haut, wenn ich es könnt bringt Otto den Ich-Verlust und das Leiden unter der nicht-möglichen Selbstverwirklichung sehr klar auf den Punkt: Er steckt in der falschen Haut, will ausbrechen, kann aber nicht. Dann expandiert er die Metapher zu zwei Illustrationen: In der ersten sitzt er in einem tiefen dunklen Loch, sieht das helle Licht zehn Meter über sich, will hinaufklettern, doch es gibt keine Klettergriffe: Mir is, als wenn ich in einem Loch stehn tät, und ich will hinaufsteign, wo es hell wird, zehn Meter über mir. Aber da is nirgends ein Griff und alles glatt. (Lacht). In der zweiten, die ihm immer dann vor Augen kommt, wenn er berauscht ist, setzt er die Metapher wörtlich um: Wenn ich ein bißl zuviel trink, dann möcht ich eine Rasierklingen nehmen und mich von obn bis unten aufschlitzn, und dann hab ich die Idee, aus der Haut steigt ein anderer heraus, der eigentlich ich bin und dem bloß der Weg versperrt war. In diesem Bild schneidet er sich von oben bis unten auf und ermöglicht dem zweiten Ich, seinem ‚eigentlichen Ich’, dem der Ausgang durch den äußeren Panzer bisher verwehrt war, das Hervortreten. In diesem Bild führt Otto vor, dass er andere Potenziale hat, als die, die er bisher zeigen konnte. Die Umstände haben ihn daran gehindert, das zu werden, was er hätte werden können. Auch hier setzt Kroetz marxistisches Gedankengut und Aspekte des Entfremdungskonzepts szenisch um. Nach Fromm (1963:365) gehört zum marxistischen Begriff der Entfremdung, dass der Mensch in Wirklichkeit nicht das ist, was er potenziell ist, oder, andersausgedrückt, dass er nicht ist, was er sein sollte, und dass er sein sollte, was er sein könnte. An anderer Stelle schreibt 136 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... Fromm, dass der Mensch im Zustand der Entfremdung glaubt, dass seine Gedankenecht und das Ergebnis seiner eigenen Denktätigkeit seien, dass er der Urheber seiner Gedanken, Gefühle und Handlungen sei, während sie in Wirklichkeit von objektiven Kräften bestimmt werden, die hinter seinem Rückenwirken (vgl. Fromm 1963:107). Diese Vorstellungen spielen in den beiden Bildern eine Rolle. Wo nach Entfremdung als psychische Krankheit gesehen wird, der Mensch als in einem Panzer gefangen und unfähig seine eigene Identität zu erfahren. Dazu muss er erst aus sich heraustreten (vgl. Fromm 198:145-54). Die bildlichen Darstellungen des Vaters und sein Versuch, die Selbstentfremdung aufzulösen, liegen für den Sohn Ludwig im Bereich des Märchenhaften: Der Froschkönig. Aus Ludwigs Perspektive träumt Otto von einer plötzlichen und glücklichen Verwandlung wie im Grimmschen Märchen Der Froschkönig, in dem ein Königsohn von einer bösen Hexe in einen Frosch verzaubert wird. Nur durch den Kuss einer schönen Königstochter kann er erlöst werden. Aus Ludwigs Sicht ist der Vater ein Träumer, der sich eine unwirkliche, märchenhafte Lösung seines Ich-Verlusts herbeisehnt. Kroetz verwendet zur Darstellung sozialer Eigenschaften und Rollen dieselben sprachlichen Verfahren, wie sie in der soziolinguistischen Forschung für reale Sozialwelten sogenannter ‘kleiner Leute’ beschrieben werden:15 Sprecher verwenden ein reiches Repertoire an Varietäten und kommunikativen Stilen, um in szenischen Darstellungen Personen in bestimmten sozialen Rollen auftreten und miteinander agieren zu lassen. Sie inszenieren Kontrast zwischen ihnen durch Sprach- und Stilkontrast und Übereinstimmung durch Sprach- und Stilangleichung. Die symbolische Darstellung von sozialen Rollen in Szenen wird in der Regel ergänzt durch die explizite Benennung des vorher symbolisch Dargestellten. Und genau das macht auch Kroetz, so Töteberg (1985:286) aus literaturwissenschaftlicher Sicht: „Kroetz‘ Bühnenwelt bleibt den konservativen Einstellungen des sog. gesunden Volksempfinden verhaftet – nicht nur in den explizit geäußerten Meinungen, sondern auch in der Sprache, die in geprägten Wendungen (Sprichwörter, Dialekt) soziale Topoi abbildet.“ Dann gesteht Otto zu, dass ihm Geld auch sehr wichtig ist. Er wünscht sich reich zu sein, weil er sich auch dadurch von anderen Menschen unterscheiden würde. Wie in einem Märchen wäre er bereit, den Rest seiner Lebenszeit für ein Jahr Leben in Reichtum einzutauschen. Und er wünscht sich groß, schön und von Frauen begehrt zu sein. Otto stellt den Traum des kleinen Vgl. dazu vor allem Kallmeyer (1994) und Keim (1995) Bände 4.1 – 4.4. Prozesse der sozialsymbolisierenden Sprach- und Stilvariation in der Sozialwelt der „kleinen Leute“ werden in Bd. 4.1 in den Beiträgen 3, 4 und 5 von Kallmeyer und Keim und im Beitrag 6 von Bausch beschrieben, ebenso wie Bd. 4.3 von Keim, Kommunikative soziale Stilistik einer sozialen Welt ‘kleiner Leute’ in der Mannheimer Innenstadt, Kapitel 4. 15 Kulturwissenschaft 137 Serap Devran Mannes dar, der im Luxus lebt und von schönen Frauen umgeben ist. Seine Wunschvorstellung erinnert an den Typ des Gentleman Playboy, wie in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts häufig in der Presse erschien, vor allem in den Illustrierten der Regenbogenpresse. So sieht Ottos Traum von einem Leben aus, in dem es keine Sorgen, keine Einsamkeit, kein Unglück, bloß die Freiheit gibt. In diesem Kontext bedeutet Freiheit, sorglos mit Menschen zu leben, die ihn schätzen und lieben und mit denen er glücklich genießen kann. Ein solches Leben steht in maximalem Kontrast zur Tristesse des eigenen Lebens, geprägt von finanziellen Sorgen, drohender Arbeitslosigkeit und dem Gefühl bedrückender Einsamkeit.16 Interessant ist in dieser Szene auch die Variabilität in Ottos Sprache. Während Ludwigs Sprache durchgehend dialektal markiert spricht (vgl. vor allem die Konjunktivform vorbei sein tät, anstelle von vorbei wäre) bewegt sich die Sprache des Vaters nur im ersten Teil des Ausschnitts, in dieser Varietät. Markiert dialektale Merkmale in den Beiträgen beider Figuren sind unter anderem: − die durchgehende Verwendung von tät anstelle von würde, − die Tilgung des Personalpronomens 2. Person Singular wie in dann tätst doch der Gleiche bleiben anstelle von dann würdest du doch der Gleiche bleiben oder in weißt anstelle von weißt du, − die Perfektform in hab ich mir schon denkt anstelle von habe ich mir schon gedacht Gegen Ende der Traumdarstellung jedoch, als Otto in einem längeren Monolog vom Leben der Reichen und Schönen schwärmt, spricht er Standarddeutsch und ohne gesprochen sprachliche Merkmale: und wo man auch hinkommt, wird man abgeholt und begrüßt, keine Sorgen, keine Einsamkeit, kein Unglück, bloß die Freiheit. Doch als Otto direkt im Anschluss an seinen schönen Traum seinem Sohn das Geständnis macht, dass er bei einer Prostituierten war, wird der Kontrast zwischen der Welt der Reichen und Schönen und der schmutzigen Welt der Prostitution auch sprachlich deutlich markiert: Otto wechselt von Standarddeutsch in eine noch stärker dialektal markierte Ausdrucksweise (dialektaler als zu Beginn des Gesprächs mit Ludwig): ich bin bei einer Nuttngwesn, weißt. Das schickt sich zwar ned, dass 16 Werlein (1981:24) „Bezugspunkt der Entfremdungskritikist in der Regel eine individualistisch verstandene ‚freie Tätigkeit‘, die mit nicht-entfremdeter Arbeit identifiziert wird; bezogen auf die materielle Produktion wird meist die handwerkliche Arbeit zum Vorbild dieser ‚freien Tätigkeit‘ genommen. Man kann davon ausgehend die Widersprüche der kapitalistischen Arbeit harmonisieren, oder aber die mit der kapitalistischen verwechselte industriemäßige Arbeit überhaupt ‚kritisieren‘; man kann dieses Modell ‚radikalisieren‘ und der Arbeit als solcher die Kunst, der Produktion die Verschwendung, dem homo faber den homo ludens entgegensetzen; man kann auch die ‚Radikalisierung‘ wieder rückgängig machen und die ‚Interaktion‘ neben die Technikstellen.“ 138 K u l t u r w i s s e n s c h a f t Identitätsfacetten und variationsreiche Sprechweisen im Drama „Mensch Meier“... ich es dir erzähl, aber heut is schon gleich. Darauf beschimpft ihn der Sohn mit einem sehr derben, groben Schimpfwort: Sau. Der Kontrast zwischen zwei maximal kontrastierenden Welten, der Traumwelt und der Lebensrealität, wird wieder sprachlich gespiegelt: Der Blick in die Welt der Schönen und Reichen wird in Standarddeutsch ausgedrückt, beim Blick in Ottos armselige, trostlose Welt erfolgt der Wechsel in stark markierten Dialekt. 4. ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, zu zeigen, wie Franz Xaver Kroetz im dramatischen Stück „Mensch Meier“ eine soziale Wirklichkeit darstellt. Zu diesem Zweck habe ich herausgearbeitet, welche Sprache bzw. sprachlichen Merkmale der Dramatiker bei der Gestaltung der dramatischen Lebenswelt verwendet hat, um zu zeigen, dass hier eine typische Figur aus dem ‘aufstiegsorientierten’ Arbeitermilieu spricht. Im Rahmen des beschriebenen Forschungsstandes wurde an die Tradition zur Mimesis-Diskussion seit Krapps (1958) angeknüpft, um zu erklären, was die realistische Darstellung im Drama „Mensch Meier“ eigentlich ausmacht, zumal Kroetz durch den Einsatz von Sprachvarietäten und gesprochen sprachlichen Mitteln realitätsnahe Kommunikationsstile stilisiert, wie typische Vertreter aus den unteren sozialen Milieus sie im Umgang miteinander spontan sprechen. Es wurde also weder eine Auflistung von vermeintlich sprachlichen Merkmalen des Autorenstils angestrebt, noch soll die Untersuchung allein als Ergebnis der künstlerischen und ideologischen Entwicklung des Autors vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Situation der Bundesrepublik der 70er Jahre verstanden werden. Im Aufsatz war vielmehr von Bedeutung, die sprachliche Gestaltung der in „Mensch Meier“ dargestellten sozialen Gruppen am Beispiel eines typischen Vertreters aus dem Arbeitermilieu zu beschreiben und seine Besonderheiten und Unterschiede sowie die Darstellung der Funktion zu erfassen, die die verwendete Sprache für den Sprecher in verschiedenen Situationen hat. Durch die Orientierung am neuesten Stand der Interaktions- und Kommunikationsforschung der qualitativen Soziolinguistik wurde dabei theoretisch und methodisch auf das gesprächsanalytische Verfahren und auf das beschriebene sozial kommunikative Stilkonzept Bezug genommen, das auf das Mannheimer Projekt ‘Kommunikation in der Stadt’ und auf verschiedene soziologische Ansätze zurückgeht, die zum größten Teil in das Konzept miteingehen (vgl. Kallmeyer 1994,1995; Keim 1995; Schwitalla 1995). Das Stück „Mensch Meier“, das exemplarisch für die Werke von Kroetz aus der mittleren Schaffensperiode steht und das die Aufstiegsorientierung und Kulturwissenschaft 139 Serap Devran die individuelle Entwicklung der Figuren als Vertreter des großen Durchschnitts darstellt, wurde unter der zentralen Frage untersucht, wie die von Kroetz intendierte persönliche und sprachliche Entwicklung der Figuren mit den Konzepten der Soziologie, Literaturwissenschaft und Soziolinguistik zu beschreiben ist. Was die soziale Orientierung der Figur bei „Mensch Meier“ betrifft, so konnte gezeigt werden, dass die Figur versucht, die Diskrepanz zwischen seiner realen Lebenssituation und Aufstiegsorientierung durch die Flucht in Tagträume zu kompensieren. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Kroetz zur sprachlichen Gestaltung der Lebenswelt in „Mensch Meier“ aus der ihm zur Verfügung stehenden kulturellen Ressourcen eine Auswahl an verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen trifft, um die Werte, Routinen und Muster zu zeigen, an denen sich die Figur für die Selbstrepräsentation und für die Bewältigung und Durchführung von kommunikativen Aufgaben orientiert. Die nachgewiesenen Stilmerkmale in den Sprechweisen der Figur sind typisch für gesprochene Sprache und dialektgebundene Redeweisen. Somit hat sich ergeben, dass Kroetz durch den Einsatz von Stilmitteln auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen sowohl kommunikative Nähe erzeugt als auch Gesellschaftskritik ausübt, um seine Rezipienten zu erreichen. Die in der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse über die sozial markierten Sprech- und Kommunikationsformen der in den dargestellten Sozialwelt agierenden Figur bezieht sich auf das Stück „Mensch Meier“. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass auch in den anderen Stücken, die in den entsprechenden Schaffensperioden entstanden sind, ähnliche sozial-stilistische Elemente zu finden sind. So ist meine Annahme, dass Analysen von anderen Kroetz-Stücken ähnliche Merkmale in Bezug auf Sprechweisen, Gestik, Kleidung, Essen, Wohnungseinrichtung und Wohnverhältnisse ergeben würden. Die vorgenommene Stilanalyse legt sogar nahe, dass die Merkmale für die dargestellte soziale Welt auch in anderen Texttypen stabil bleiben, da sie generell schichtbezogen sind. Aufgrund ihrer Allgemeinheit könnten die aufgezeigten sozial-stilistischen Merkmale auch in Gestaltungen von Sozialdramen in anderen Sprachen zu finden sein. Die Überprüfung dieser Überlegungen könnte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. LITERATURVERZEICHNIS Abels, Heinz (2007): Einführung in die Soziologie. Die Individuen in ihrer Gesellschaft. Band 2. 3. Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Abels, Heinz (2010): Identität. 2. 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