Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                
Alexandra Heimes Dramen der Verkennung: Untergänge (erschienen in: Sage Anderson, Sebastian Edinger, Jakob Heller, Emanuel John (Hg.): Übergänge. Perspektivierungen aus Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 201‐217) I. Paradoxien des Vorauswissens „[...] besonders Unglücks‐ oder Todesfälle ereigneten sich nur selten, ohne eine Weile vorher durch ihre Gedanken gehuscht zu sein.“ Sigmund Freud, Das Unheimliche Die Untergänge, um die es hier gehen soll, stehen zum ‚Übergang’ in einem zweideutigen Verhältnis. Denn zur Diskussion steht ein Typus von Ereignis, der sich nicht allein durch ein böses Ende auszeichnet, sondern eine spezifische Komplikation aufweist: Es geht um solche Fälle, in denen sich das Unglück einerseits überraschend und scheinbar übergangslos ereignet, während sein Eintreten andererseits doch eine gewisse Folgerichtigkeit oder Zwangsläufigkeit nahelegt und möglicherweise sogar ewartet wurde. Ich möchte diese Struktur gleich zu Beginn mit einem – vielleicht etwas buchstäblichen und fraglos sehr plakativen – Beispiel verdeutlichen: dem Untergang der Titanic, des seinerzeit größten Passagierschiffes weltweit, das während seiner Jungfernfahrt Richtung New York im April 1912 mit einem Eisberg kollidierte und im Atlantik versank. Es geht mir dabei weniger um die historischen Umstände und Folgen dieser Katastrophe, als um einen bestimmten Aspekt ihrer Wahrnehmung. Der Untergang der Titanic stellte einerseits ein Unglück von erschütternden Ausmaßen dar, das etwa 1500 Menschen das Leben kostete. Zum anderen besaß das Schiff, das danach als monströses Wrack auf dem Meeresboden überdauerte, bei seiner Fertigstellung alle Eigenschaften, um als Populärmythos in die Geschichte einzugehen: Der fast 270 Meter lange Passagierdampfer repräsentierte technischen Fortschritt und exklusiven Luxus; er brachte gesellschaftliche Eliten zusammen und hielt die 2. und 3. Passagierklasse von diesen fern. So formierte das Schiff eine Art Mikrokosmos, oder genauer, das idealisierte und zugleich rückständige Bild einer Welt, das mit den Ideologien 1 des späten 19. Jahrhunderts mehr zu tun hatte als mit der Gegenwart der Vorkriegsgesellschaft.1 Folgt man der Einschätzung Slavoj Žižeks, so ging die allgemeine Bestürzung, die der Schiffbruch der Titanic auslöste, nicht allein auf den Schock der unerwarteten Katastrophe zurück. Sondern dieser Schock war zugleich auch derjenige einer bestätigten Vorahnung, die das Nicht‐Absehbare, kontingent Hereinbrechende in gewisser Weise erwartbar erscheinen ließ. Es wäre entsprechend nicht nur das Ausmaß der Katastrophe, das in einer breiten Öffentlichkeit Widerhall fand, sondern die Überdeterminierung an Sinn, mit der das Ereignis auf eine Gesellschaft am Übergang in eine neue, krisenhafte Epoche traf.2 Im Nachhinein, so könnte man sagen, nimmt der Schiffbruch die Struktur einer erfüllten Prophezeiung an, wobei es relativ unerheblich ist, inwiefern es tatsächlich mehr oder minder zutreffende Voraussagen des Unglücks gegeben hat. Von Interesse ist hier die paradoxe Logik eines Vorauswissens, das in dem Moment, in dem es sich bewahrheitet – also durch das Eintreten des Erwarteten bestätigt wird –, zugleich in seiner Gewissheit erschüttert wird. Nichts ist irritierender, schreibt der Philosoph Clément Rosset, als eine Prophezeiung, die sich tatsächlich erfüllt: A is announced, A happens, and we are lost, at least to some extent. Between the event such as it has been announced, and the event such as it was fulfilled, there is a kind of subtle difference that suffices to baffle the very person who has been expecting precisely that what he is witnessing. He recognizes it all right, but no 3 longer recognizes himself in it. Das hier benannte Problem betrifft nicht die eminente Unwahrscheinlichkeit von Vorauswissen und Erfüllung, sondern deren besondere epistemische Struktur. Das vorab schon Erwartete in der bzw. als Realität wiederzuerkennen, bringt demnach eine fundamentale Desillusionierung mit sich: Es lässt eine Wirklichkeit in Erscheinung treten, die differenzlos mit sich selbst koinzidiert, und die derart das illusionäre Bild zerreißt, das wir uns gewöhnlich von der Welt machen. Für gewöhnlich, so jedenfalls Rosset, sind wir einer solchen Illusion bedürftig – wir verdoppeln die Welt um ein Bild von ihr, das uns einen 1 Vgl. dazu u. a. Steven Biel, Down with the Old Canoe: A Cultural History of the Titanic Disaster. New York/London 1996. 2 Slavoj Žižek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin 1991, S. 20ff. – Vgl. auch Eva Horn, Zukunft als Katastrophe. Frankfurt a.M. 2014, S. 303: „Das katastrophische Wissen von der Zukunft entsteht [...] immer über dem Abgrund eines Ereignisses, das man zugleich gewusst und (doch) nicht erwartet hat.“ 3 Clément Rosset, „The Oracular Illusion: The Event and its Double“, in: Ders., The Real and its Double. Chicago 2012, S. 1‐27, hier S. 19f. 2 gewissen Spielraum oder Latenzschutz gewährt im Umgang mit dem, was wir sonst als „das Reale schlechthin“4 annehmen müssten. Selbst dann also, wenn wir uns wünschen, dass eine Voraussage wahrwerden möge, sind wir enttäuscht, wenn sie nicht doch minimal von dem abweicht, was wir erwartet haben. Rossets Auffassung des „Realen“ mag fragwürdig erscheinen; sein epistemisches Konzept aber enthält eine Pointe, die sich produktiv wenden lässt. Denn ergiebig erscheint die These, dass die erfüllte Prophezeiung – erstens – als Chiffre einer epistemischen Spaltung zu lesen ist, sowie zweitens, dass das scheinbar entbehrliche und irreführende Verkennen dabei von konstitutiver Bedeutung ist. Gespalten ist das Vorauswissen, weil es in eins mit seiner Bestätigung auch grundlegende Irritation und Zweifel stiftet, und zwar im Hinblick auf die Verfasstheit des Wirklichen selbst. Indem es sich entzweit, initiiert dieses Wissen einen Übergang vom epistemischen zum ontologischen Register, der seinerseits erst durch das Verkennen ermöglicht und vermittelt wird; in einer Weise, die im Folgenden, mit und gegen Rosset, genauer zu betrachten ist. Die Verunsicherungen des Wissens, wie er sie schildert, sind erklärtermaßen nicht einer Welt geschuldet, die von Kontingenzen durchdrungen und insofern ungewiss wäre. Wenn sich das Rosset’sche Reale dem erkennenden Zugriff entzieht, dann aufgrund seiner bei sich verschlossenen Einfachheit und Singularität, die als solche nur indirekt zu erschließen sind. Darin liegt dann auch die konstitutive Funktion des Verkennens: Es ist der notwendige Umweg zur richtigen Erkenntnis, denn erkennen zu müssen, dass das illusionäre Double der Welt nicht existiert, heißt umgekehrt auch zu erkennen, dass das Reale existiert.5 Nun lässt sich allerdings einwenden, dass gerade Rossets bevorzugtes Beispiel, die erfüllte Prophezeiung, eine andere Schlussfolgerung nahelegt, die diesen Perspektivenwechsel anders justiert. Das Irren und Verkennen wäre dann nicht lediglich die Folge jener unzureichenden Illusionen, die wir uns von der Realität machen; es stellt umgekehrt die Konsistenz dieser Realität selbst, ihre ontologische Abgeschlossenheit, zur Disposition.6 In diesem Sinn ließe sich gegenläufig zu Rossets „principle of sufficient reality“7 das Prinzip 4 Clément Rosset, Das Reale in seiner Einzigartigkeit. Berlin 1995, S. 18. Ebd., S. 37. – In Anlehnung an die negative Theologie spricht Rosset hier von einer „negativen Ontologie“, der Überzeugung folgend, „daß ‚man nur durch Blindheit sehen kann, nur durch Nichtwissen erkennen kann und nur durch Unvernunft verstehen kann’, wie Meister Eckart sinngemäß sagte“ (ebd., S. 38). 6 Vgl. auch Alenka Zupančič, „The Double and Its Relationship to the Real”, in: Markus Klammer u. Stefan Neuner (Hg.), Die Figur der Zwei. Zürich 2010, S. 94‐99, hier S. 96. 7 Clément Rosset, „Reality and the Untheorizable“, in: Thomas M. Kavanagh (Hg.): The Limits of Theory. Stanford 1989, S. 76‐118, hier S. 78. 5 3 einer „insufficient reality“ ins Feld führen – das Prinzip einer Realität, die nicht vollständig bestimmt ist, die auf der anderen Seite aber auch nicht einfach als kontingent zu beschreiben ist. Um auf das Beispiel der Titanic zurückzukommen: Bemerkenswert ist, dass das Schiff, mit all seinen Insignien des Luxus und des Fortschritts, zu einem wirklichen Populärmythos erst dann wurde, als es untergegangen war. Die symbolische Überfrachtung, die der Schiffbruch in der Folge erfahren hat, führt eine eigene Analytik des „katastrophischen Imaginären“8 mit sich: Indem man sich in der Katastrophe wiedererkennt – sie als Zeichen und Botschaft missversteht –, lässt man sie zum Prisma werden, durch das die eigene Gegenwart plötzlich anders entziffert und erkannt werden kann. Die Fäden dafür liegen alle schon bereit, doch erst der unerwartete, völlig kontingente und inkommensurable Vorfall schafft die Bedingungen, sie zusammenzuführen und auf diese Weise so etwas wie Notwendigkeit zu erzeugen. 9 Das gesunkene Schiff wird so, qua Verkennung, zum entscheidenden Knotenpunkt, der das Feld der gegebenen Realität neu strukturiert. Denn nicht allein die kollektive Wahrnehmung, die Realität selbst scheint ein anderes Gepräge erhalten zu haben. Es ist dieser eigentümliche, objektivierende Effekt der Verkennung, dem ich im Folgenden weiter nachgehen möchte. Dabei geht es vor allem um die spezifische Form von Kausalität, die hier am Werk ist und die anhand von modernen Konfigurationen des Tragischen bzw. des ‚Schicksals’ erhellt werden soll.10 Es folgt zunächst ein Blick auf Walter Benjamin, der den Begriff des Schicksals als eine zeitdiagnostische Kategorie der Moderne reformuliert hat. Diesen Begriff möchte ich anhand von Benjamins Aufsatz über Goethes Die Wahlverwandtschaften diskutieren, einem Roman, der den „Schiffbruch [...] auf dem festen Lande“11 in Szene setzt. Gleichermaßen soll auch der Roman selbst herangezogen werden: Denn während Benjamin das schicksalhafte Verkennen als ein Problem falschen Bewusstseins auffasst, das er gegen ein selbstbestimmtes Dasein in Freiheit stellt, wird dieser Dualismus, wie gezeigt werden soll, bei Goethe unterlaufen. Augenfällig an den 8 Horn, Zukunft als Katastrophe, S. 255. Vgl. Žižek, Liebe Dein Symptom, S. 29f. 10 Schicksal meint dabei zunächst nichts anderes als die Verbindung von Einzelhandlungen zu einem stimmigen und notwendigen Folgezusammenhang. Eben dies besagt auch die aristotelische Konzeption: Anhand der Gefügtheit – der „Zusammenfügung der Geschehnisse“ – in der Tragödienhandlung entwirft sie ein Muster dramatischer Konsistenzbildung, das eine ihr eigene Kausalität und damit Schicksal impliziert. Siehe Aristoteles, Poetik, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2005, S. 25f. Vgl. dazu Anselm Haverkamp, „Medea, Dea ex Machina. Aristoteles über Euripides“, in: Lore Hühn u. Philipp Schwab (Hg.), Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer – Schelling – Nietzsche. Berlin 2011, S. 143‐154, hier S. 147f. 11 Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: Werke. Hamburger Ausgabe [HA], Bd. 6. München 1982, hier S. 428. 9 4 Wahlverwandtschaften ist nicht allein der Umstand, dass die Romanfiguren sich in beständigen Fehleinschätzungen ihrer Realität ergehen, sondern dass ihre Verkennungen selbst wiederum auf diese Realität zurückwirken. Was der Roman als ‚Schicksal’ in Szene setzt, wäre dann weniger als ein unverfügbarer Determinismus zu begreifen, denn als ein kausaler Zusammenhang, dem das subjektive Verkennen gleichsam implementiert ist. II. Schicksal in der Moderne: Walter Benjamin über Die Wahlverwandtschaften Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gewinnen Spielarten einer Metaphysik des Tragischen an Boden, die Begriffe wie „Tragik“ und „Schicksal“ für eine konservative bis reaktionäre Modernekritik dienstbar machen. Diese Apologien eines unverfügbaren, von höheren Mächten bestimmten Weltlaufs hat Walter Benjamin einer weitreichenden Kritik unterzogen. Zugleich hat er seinerseits einen spezifischen Bezug zwischen Schicksal und Moderne hergestellt: Namentlich den Schuldzusammenhang des natürlichen Lebens, seine Verfallenheit an eine mythische, scheinbar vorgeschichtliche Natur, deren paradigmatische moderne Instanzen das Recht und der Kapitalismus darstellen. 12 Gegen eine „geschichtsfremde Metaphysik“ 13 , die das Schicksal zu ihrem raunenden Orakel macht, wendet Benjamin den Begriff zum Symptom jener „homogenen und leeren Zeit“14, als die er den Fortschritt – das eigentliche ideologische Substrat der Moderne – charakterisiert. In Benjamins Analyse von Goethes Wahlverwandtschaften, entstanden zwischen 1919 und 1922, 15 wird der Roman von 1809 zu einer Art Testfall, der die Errungenschaften moderner Rationalität mit der ihnen immanenten, persistierenden Macht von schicksalhafter Verstrickung konfrontiert. Für eine solche Betrachtung bietet sich Goethes Text in der Tat an: Das Geschehen ist im historischen Kontext der Reformprozesse angesiedelt, die im frühen 19. Jahrhundert den modernen Verwaltungsstaat auf den Weg bringen, und es exponiert diesen Übergang als krisenhafte Zersetzung aller Ordnungsmuster, die das individuelle und soziale Leben organisieren. Dabei liegt eine zentrale Provokation des 12 Vgl. Werner Hamacher, „Schuldgeschichte. Benjamins Skizze Kapitalismus als Religion“, in: Dirk Baecker (Hg.): Kapitalismus als Religion. Berlin 2004, S. 77‐120. – Ich beschränke mich hier auf die Auffassung, die sich im Kontext von Benjamins Arbeiten der späten 1910er Jahre herausbildet. Zu Benjamins Auseinandersetzung mit dem Schicksalsbegriff insgesamt vgl. Lorenz Jäger, „Schicksal“, in: Michael Opitz u. Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2. Frankfurt a.M. 2000, S. 725‐739. 13 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften [GS], Bd. I.1. Frankfurt a.M. 1991, S. 203‐430, hier S. 291. 14 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: GS I.2, S. 691‐704, hier S. 704. 15 Vgl. Walter Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, in: GS I.1, S. 123‐201. Der Text wurde 1924/25 erstmals publiziert. 5 Romans darin, dass er einerseits einen weitgehend handlungsarmen und beinahe unmotivierten Ablauf schildert, diesen jedoch zugleich mit aller Konsequenz auf den Untergang zusteuern lässt – ohne dass sich dies auf einsehbare Gründe, etwa auf schwere Vergehen des Romanpersonals, zurückrechnen ließe. Der Roman lässt bekanntlich vier Figuren – die Eheleute Charlotte und Eduard, sowie deren Gäste, den Hauptmann und Charlottes Nichte Ottilie – auf einem adligen Landgut zusammenkommen; die Neuordnung ihrer amourösen Bindungen, überfällig genug, steht unmittelbar ins Haus. Eduard und Ottilie sind schnell in wechselseitiger Liebe entflammt, zwischen Charlotte und dem Hauptmann bahnt sich eine stille, aber innige Zuneigung ihren Weg. Das berühmte „chemische Gleichnis“, das das Figuren‐Quartett mit chemischen Elementen analogisiert, stellt diese Verwicklungen in das sterile Licht einer Laborsituation, in der die unbefragbare, unzweideutige Macht naturgesetzlicher Attraktionen zu regieren scheint. 16 Doch anstelle der konstant ausgewogenen Verhältnisse, die das Gleichnis suggeriert, verzeichnet die Bilanz des Romans eine Zerrüttung von tragischen Ausmaßen: Die unschlüssig verfolgten Pläne der Figuren sind gescheitert und das erhoffte Liebesglück nie eingetreten; zwei der Protagonisten sowie das in der Zwischenzeit geborene, rätselhafte Kind Otto sind gestorben; Charlotte und der Hauptmann schließlich, die der Roman überleben lässt, bleiben am Ende wie „Schatten in der Vorhölle“17 zurück. Zugleich bleibt der Text es schuldig, diesem katastrophischen Ausgang eine narrative Plausibilität zu geben. Stattdessen handelt er über weite Strecken von kontingenten und eher belanglosen Begebenheiten – man kümmert sich um Schloss und Park, empfängt Gäste und führt zwanglose Gespräche. Dabei lässt man sich von Gewohnheiten ebenso leiten wie von Zufällen oder den individuellen Launen. Nachdem die beiden Gäste, Ottilie und der Hauptmann, in das Schloss eingezogen sind, hat man Laune zu umfassenden Umbau‐ und Modernisierungsarbeiten: Mit Hilfe vor allem des sachkundigen Hauptmanns werden der Park und seine Seen umgestaltet, ein neues Gebäude wird errichtet sowie die gesamte ökonomische Einrichtung des Landguts auf den aktuellen frühkapitalistischen Stand gebracht.18 16 Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 270‐277. Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 188. 18 Siehe dazu Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich/Berlin 2004, S. 289ff. 17 6 Dass es ein unheilvolles Schicksal ist, das über die Romanwelt regiert, hat kaum jemand so nachdrücklich herausgestellt wie Benjamin. Sämtliche Vorkommnisse, so Benjamin, alle Schauplätze und selbst noch einzelne Gegenstände sind von einer „verborgene[n] Macht“19 durchdrungen, die dem Roman von Beginn an seinen untergründigen, unaufhaltsam katastrophischen Zug einzeichnet. Getragen wird dieser Zug durch ein weitgespanntes Netz „vorverkündender“20 Momente, das alles Tun der Figuren überschattet und selbst noch ihre Anstrengungen, das gemeinsam bewohnte Anwesen herzurichten, zu einem implizit unheilvollen Geschehen werden lässt: „So rückt hier im Maße wie das Haus vollendet wird das Schicksal nah. Grundsteinlegung, Richtfest und Bewohnung bezeichnen ebenso viele Stufen des Unterganges.“21 Was immer die Figuren unternehmen, um den Übergang zu einer neuen und besseren Zukunft herzustellen, wird unter der Hand zu einem weiteren Schritt in bodenloses Unheil. Sinnfällig kontrastiert Benjamin den festen Grund, den die Figuren in jeder Hinsicht verfehlen, mit dem archaischen Element des Wassers, das schließlich ihr Zugrundegehen herbeiführt.22 Die Verfallenheit an eine mythische Natur, in seinen Augen der Keim des Schicksals, ist dabei nicht allein den Täuschungen des Romanpersonals geschuldet. Ihnen korrespondiert eine Durchdringung von Mythos und Rechtsnorm, wie sie hier in der Institution der Ehe bzw. in deren Verfall zutage tritt. Dass die Ehe zwischen Charlotte und Eduard dem Verfall überlassen ist, anstatt zur rechten Zeit aufgelöst zu werden, setzt demnach die mythischen Gewalten frei, die dem Recht per se innewohnen.23 Wenn also der Roman keinerlei große Taten oder Fehler erkennend lässt, die unmittelbar tödliche Konsequenzen erwarten ließen, so zeigt sich Benjamin zufolge in genau diesem Missverhältnis das moderne Gesicht des hier waltenden Schicksals, oder mehr noch seine abstrakte Gesichtslosigkeit: Das Schicksal lauert in den Fugen der aufgeklärten Rechts‐ und Sozialstaatlichkeit, die das Leben des Einzelnen unhintergehbar einfasst und konditioniert. Die Protagonisten des Romans jedoch, versunken in die Schein‐Autonomie ihrer privaten, 19 Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften", S. 133. Ebd., S. 135 21 Ebd., S. 139. 22 Über die Umgestaltung der Seenlandschaft im Park heißt es: „Das Wasser als das chaotische Element des Lebens droht hier nicht in wüsten Wogen, das dem Menschen den Untergang bringt, sondern in der rätselhaften Stille, die ihn zu Grunde gehen lässt. Die Liebenden [Eduard u. Ottilie] gehen, soweit Schicksal waltet, zu Grunde. Sie verfallen, wo sie den Segen des festen Grundes verschmähen, dem Unergründlichen, das im stehenden Gewässer vorweltlich erscheint. Buchstäblich sieht man dessen alte Macht sie beschwören. [...] In alledem ist es die Natur selbst, die unter Menschenhänden übermenschlich sich regt. [...] Die Menschen selber müssen die Naturgewalt bekunden. Denn sie sind ihr nirgends entwachsen.“ (Ebd., S. 133) 23 Ebd., S. 130f. 20 7 hermetischen Welt, lassen sich von diesen Strukturen nur insoweit betreffen, als ihre jeweiligen Interessen es erfordern. Unter diesen Vorzeichen präsentiert sich das Leben auf dem Lande zunächst als ein idyllischer Bilderbogen, dessen lockere, episodische Reihung sich als fortschreitender Untergang erst noch offenbaren muss. Derweil, so der Roman, „scheint [alles] seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre.“24 Das unmerklich waltende Schicksal tritt spätestens dann hervor, als das Kind Otto bereits wenige Monate nach seiner Geburt zu Tode kommt. Der kleine Otto – legitimer Sohn der Eheleute Eduard und Charlotte, der das Pfand auf die Zukunft hätte sein können – ertrinkt, als Ottilie, seine liebevolle „Pflegerin“25, ihn bei einer Kahnfahrt versehentlich in den See fallen lässt. Ottos Existenz, die eine von Beginn an verworfene ist, wird derart zum Brennpunkt des gesamten schicksalhaften Schuldzusammenhangs. Otto wird gezeugt, als die Eheleute aus Versehen des Nachts aufeinandertreffen und imaginär vor allem mit ihren jeweiligen Geliebten, mit Ottilie und dem Hauptmann, beschäftigt sind. 26 Das kuriose Resultat dieser Nacht ist, dass das hier entstandene Kind, seinen leiblichen Eltern zum Trotz, das Aussehen von deren imaginären Partnern geerbt hat.27 Anstatt sich in die familiäre Erbfolge einzureihen, treten in Ottos Existenz die symbolische und biologische Reproduktion des Lebens vor aller Beteiligten Augen auseinander: Das Kind wird zur unmöglichen Verkörperung einer „Divergenz von physis und nomos“, die zurückverweist auf die Gebrechlichkeit einer Welt, in der „die Satzung des Rechts und die Setzungskraft des Wortes gleichermaßen versagen“28. Nach Benjamins Ansicht ist es der Rückfall in einen Zustand der mythengläubigen Verblendung, durch den sich die Figuren, blind in ihren Leidenschaften verfangen, zum willfährigen Handlanger jener morschen Einrichtung machen. So zeigt nicht erst der Tod, sondern die bloße Existenz des Kindes die schuldhafte Verstrickung an, die das Romanpersonal längst schon eingegangen ist: Als ein „Geschöpf der Lüge“ ist Otto demnach 24 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 331. Ebd., S. 425. 26 Vgl. ebd., S. 321. 27 Dies schildert der Roman in der Szene, in der die – ihrerseits von Zwischenfällen durchkreuzte – Taufe des Jungen bevorsteht: „Die Feier des Taufakts sollte würdig, aber beschränkt und kurz sein. [...] Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah, erschrak sie nicht wenig an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen [...]. Mittler, der zunächst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er in der Bildung desselben eine so auffallende Ähnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen war.“ (Ebd., S. 421). 28 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 299 u. 297. 25 8 bereits qua Zeugung und Geburt „zum Tode verurteilt“, da „es ganz der Schicksalsordnung entspricht, wenn das Kind, das neugeboren in sie eintritt, nicht die alte Zerrissenheit entsühnt, sondern deren Schuld ererbend vergehen muss.“29 In diesem Sinn hat auch das augenscheinlich harmlose Dahintreiben des Romangeschehens alle Unschuld verloren. Anstatt ihr Geschick durch „Entschluß und Handlung” selbst in die Hand zu nehmen, verspielen die Figuren es, wie Benjamin ihnen vorrechnet, durch „Säumen und Feiern”30. All ihr planloses Tun stellt nicht lediglich ein beständiges Verfehlen und Unterlassen dar, sondern schuldhaftes Versäumnis. Dass ihre Absichten selbst dann scheitern, wenn sie, wie Eduards Liebe zu Ottilie, mit aller Leidenschaft angegangen werden, liegt demnach an genau dieser falschen Alternative von Antriebsarmut und leidenschaftlicher Hingabe. Beiden, so Benjamin, fehlt das Moment der Entscheidung und der entschlossenen Tat, die über eine bloße Wahl hinausgehen würden – dies macht das Versäumnis zu einem schuldhaften.31 Und schicksalhaft ist diese Schuld, weil sie zutiefst zweideutigen Prämissen unterliegt: Denn das Schicksal bestraft nicht für begangene Untaten, es verurteilt allererst zur Schuld.32 Somit ist jede Regung, die die Figuren unternehmen, der unauflösbaren Ambivalenz bzw. „dämonischen Zweideutigkeit“ unterstellt, die Benjamin zufolge die Ordnung des Schicksals im Kern ausmacht. Das Dämonische stellt „das vage Zeichen einer Unentschiedenheit und Ungeschiedenheit“ dar, „in der der Mensch sich seiner Freiheit – der Freiheit, die allein in der Entscheidung liegt – noch nicht versichert hat“ 33 und sich stattdessen einer heteronomen, mythischen Gewalt überantwortet. Benjamin liefert hier die Konzeption einer genuin modernen Form des Schicksals. Anders als in der antiken Tragödie, die den tragischen Konflikt an einen vorausliegenden Mythos bindet und seine Folgen als unausweichliches Verhängnis auftreten lässt, tritt diese 29 Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 138. – Die Möglichkeit einer Entsühnung und damit der Auflösung des Banns hat Benjamin dem tragischen Schicksal, im Unterschied zum mythischen, vorbehalten. Entsprechend besitzt Goethes Roman für ihn einen entschieden untragischen Charakter (vgl. ebd., S. 177). Dass Benjamin diese Einschätzung daran bindet, wie der Roman ausgeht, ist dem hegelianischen Erbe seiner Auffassung des Tragischen geschuldet. Als tragisch kann der Untergang des Helden nur dann gelten, wenn dieser zuvor den Teufelskreis seiner Verstrickung zu durchbrechen vermag, was zwar ihn selbst nicht mehr retten wird, wohl aber seine Nachwelt. Vgl. dazu Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt a.M. 2002, S. 94ff. 30 Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 139. 31 Vgl. ebd., S. 189. – Benjamins strikte Entgegensetzung von Entscheidung und bloßer Wahl hat Spekulationen über eine strukturelle Nähe zum Schmitt’schen Dezisionismus provoziert. Zur Kritik dieses Arguments vgl. Christoph Menke, Recht und Gewalt. Berlin 2011, S. 63f. 32 Schicksal, so Benjamin, „zeigt sich [...] in der Betrachtung eines Lebens als eines Verurteilten, im Grunde als eines, das erst verurteilt und darauf schuldig wurde.“ Benjamin, „Schicksal und Charakter“, in: GS II.1, S. 171‐ 179, hier S. 175. 33 Hamacher, „Schuldgeschichte. Benjamins Skizze Kapitalismus als Religion“, S. 94. 9 Rückbindung in der Neuzeit bzw. Moderne zurück, um den Konflikt als einen geschichtlichen auszuweisen – als einen sowohl historisch bestimmten, als auch seinerseits den Stand des Historischen bestimmenden. Wie Benjamin zeigt, heißt das nicht, dass ‚Geschichte’ jene mythische Gewalt überwunden hätte – sie lässt sie zurückkehren als „zweite Natur“: als eine Verselbständigung etwa der politisch‐rechtlichen Sphäre, deren Gewalt darin besteht, „als – wie das – Schicksal zu wirken“.34 Das Schicksal im modernen Sinn markiert demnach jene Wendung, durch die das Normative selbst von naturhafter Gewalt, und seine praktische Notwendigkeit vom Kontingenten ununterscheidbar wird. Was sich in diesem Horizont als Fortschritt ausgibt, ist nichts als die „ewige Wiederkunft alles Gleichen“ 35 , die bloße Aufrecht‐ bzw. Selbsterhaltung des Bestehenden um seiner selbst willen. Fraglich aber ist, ob die intrikate Verstrickungslogik, als deren Chiffre das Schicksal firmiert, damit erschöpfend beschrieben ist. Mit Benjamin lässt sich eine prägnante Aktualisierung dieser Chiffre gewinnen, die sie an die abstrakte Gegebenheit von quasi‐ naturhaften, für sich selbst blinden Gesetzen rückbindet. Zugleich aber fußt sie auf einem Dualismus von Mythos und Freiheit, der möglicherweise zu kategorisch ausfällt. Benjamin schildert einen in sich geschlossenen Kreislauf der Wiederholung, der der subjektiven Erfahrung vorausliegt und sie mit Ohnmacht und passiver Verfallenheit schlägt – letztlich also die Totalität einer Immanenz, die als entfremdete Substanz des Sozialen über die Innerlichkeit von Menschen verfügt, die selbst wiederum erst im letzten Moment ihres marionettenhaften Daseins gewahr werden. 36 So verstanden, meint Schicksal eine zwar diesseitige, aber abstrakte Gewalt, die wesentlich negativ und exkludierend auf das menschliche Leben bezogen ist. In Goethes Roman jedoch wird, gegenläufig zu diesem Szenario von Privation, Mangel und Verfall, eine andere Kräftekonstellation ablesbar, die zudem ein Licht darauf wirft, inwiefern die Figuren selbst in die Konstitution der schicksalhaften Ordnung investieren. Das wirklich Fatale in den Wahlverwandtschaften, so wäre zu zeigen, besteht weniger in der schlechten Unendlichkeit einer nicht überwundenen Naturverfallenheit; vielmehr besitzt das notorische Verkennen, wie der Roman es vorführt, eine positive ontologische Dimension. Anstatt an den realen Gegebenheiten einfach vorbei 34 Menke, Recht und Gewalt, S. 52 (Hervorhebung im Text, A.H.). Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 137. 36 Vgl. in diesem Sinne auch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1996, S. 18: „Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber [...]; die Sanktion des Schicksals, das durch Vergeltung unablässig wiederherstellt, was je schon war.“ 35 10 zu zielen, werden die Verfehlungen der Figuren als – freilich unabsehbare – Intervention in die materielle Realität wirksam. Sie zeitigen manifeste und irreversible Effekte, so dass die Weise, in der sich die Figuren erkennend und verkennend auf ihre Außenwelt beziehen, dieser selbst nicht äußerlich sein kann. Damit stellt sich auch die Zurechenbarkeit von Schuld weit weniger eindeutig dar, als Benjamin es nahelegt. Zwar lässt der Roman eine ganze Parade an individuellen Missgeschicken und Versäumnissen aufziehen, die in der Gesamtschau allesamt ihren Beitrag zur Bahnung des Unheils leisten. Doch keines davon kann als entscheidender Fehler gelten – auch nicht die „Nachlässigkeit“37 Ottilies, die den Tod des Kindes zur Folge hat –, so dass Scheitern und Schuld, überhaupt die entscheidenden Etappen des Ablaufs, keineswegs klar zu lokalisieren sind. Das aber heißt nicht, dass die Figuren alle Handlungsmacht an das Performativ eines anonymen ‚Waltens’ abgetreten hätten. Eher zeichnet sich ab, dass der Text jeglichen Dualismus von selbstbestimmten Vermögen und fremdbestimmenden Kräften konsequent untergräbt. Tragisches Unheil, so ließe sich sagen, findet allemal statt, doch es handelt sich um eine Katastrophe im Aufschub, die umwegig und retardierend verläuft, und dabei um Übergänge, die sich ihrerseits in der Schwebe von Hemmung und Potenzierung des Geschehens halten. III. Positivität des Verkennens Benjamins Analyse ist darin überzeugend, dass sie das dämonische Walten aus dem Geflecht der krisenhaften gesellschaftlichen – sozialen, normativen, institutionellen – Beziehungen hervorgehen sieht, in denen die Romanwelt mehr oder minder sichtbar eingebettet ist. In der Immanenz dieser Welt befangen zu sein, heißt gleichwohl nicht, sich einer übermächtigen, letztlich prädeterminierenden Gewalt ausgeliefert zu sehen, die sich der subjektiven Sphäre von außen bemächtigen würde. Während Benjamins Schicksal den Subjekten als renaturalisierte, „vollendete Faktizität der historischen Dinge“38 entgegentritt, scheint Goethe es gerade auf eine wesentliche Unbestimmtheit abgesehen zu haben, die dieser Faktizität innewohnt: Auf eine ontologisch inkonsistente Textur des Wirklichen, die 37 So die Bezeichnung von W. Menninghaus, der darauf hinweist, dass „in der Gesamtökonomie des Werkes“ auch diese Fehlleistung notwendig dämonischen Charakter annimmt. Demnach wird Ottilie ohne Wissen und Absicht zur Agentin des Schicksals, sie ist „nur die Erfüllungsgehilfin, nicht aber der Grund“ für die abschüssige Bahn der Entwicklung. Vgl. Winfried Menninghaus, Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a.M. 1986, S. 84. 38 Walter Benjamin, „‚Es mayor monstruo, los celos’ von Calderon und ‚Herodes und Mariamne’ von Hebbel. Bemerkungen zum Problem des historischen Dramas“, in: GS II.1, S. 246‐276, hier S. 269. 11 Schicksal dort produziert, wo sie mit dem seinerseits inkonsistenten Wissen der Figuren eine gleichsam kurzschlüssige Verbindung eingeht. Kausalität ist dabei keineswegs außer Kraft gesetzt, doch es tritt ein anderes, supplementierendes Moment hinzu, das in die bruchlose Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen interveniert. Die dämonische Zweideutigkeit, die Benjamin als die Signatur des Schicksals ausweist, ließe sich in diese Richtung umdeuten. Sie wäre dann der Index einer Ordnung des Seins, in der der Abstand zwischen ‚faktischer’ und ‚erkannter’ Wirklichkeit zu einer Frage der inneren Beschaffenheit dieser Wirklichkeit selbst wird. Subjektives Erkennen und objektive Außenwelt treten hier in eine Binnenrelation, die in die materiellen Phänomene selbst, als erkannten und im selben Zug verkannten, eingesenkt ist. In einer so verstandenen Immanenz gibt es zwar kein Jenseits der Phänomene, allerdings auch keine Wirklichkeit, die mit sich selbst identisch wäre und so der Gegenstand einer im klassischen Sinn wahrheitsfähigen Erkenntnis werden könnte.39 Dass die Welt stets nur bedingt erkennbar ist – also notwendig Verkennungen entstehen lässt –, ist daher nicht allein den begrenzten menschlichen Kapazitäten geschuldet. Sie ist das strikte Korrelat einer in sich ‚löchrigen’ Konfiguration, die das unabsehbare Enthaltensein des eigenen Selbst in der erfahrenen Wirklichkeit anzeigt. Was Goethes Roman verhandelt, wäre in dieser Hinsicht die alltägliche oder auch dramatische Tatsache, dass in jedem „Gezählten ein Zählendes schon da ist“40, als eine Form der Selbstimplikation, die hier als schicksalhafte Verstrickung ausbuchstabiert wird. Augenfällig im Roman ist zunächst der Zerfall der tradierten sozialen Rituale, wie Grundsteinlegung und Richtfest des neuen Gebäudes und die Taufe des Jungen, die der Reihe nach spektakulär misslingen und so die fundamentale Zersetzung anzeigen, die die rechtlichen und die symbolischen Institutionen erfasst hat.41 Gleichermaßen jedoch sind es die unscheinbaren Bagatellen des häuslichen Alltags, in die der Text den Schauplatz seiner katastrophischen Entwicklung verlegt. In dem Maße, wie die heimische Welt aus den Fugen 39 Es handelt sich um die Struktur einer säkularisierten Immanenz oder auch der „immanenten Transzendenz“. Vgl. Eric L. Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens. Betrachtungen zu Freud und Rosenzweig. Zürich/Berlin 2010, S. 19: „Der ‚Tod Gottes’ ist zu einem Gutteil genau dies: der Tod dieses Anderswo, dieses ‚Jenseits’ des Lebens, das irgendwie ‚höher’ oder wirklicher wäre als dieses Leben. Was sowohl Freud als auch Rosenzweig zu begreifen helfen, ist, dass mit dem ‚Tod Gottes’ die ganze Problematik der Transzendenz tatsächlich viel stärker auf das Alltagsleben einwirkt. Was mehr als Leben ist, entpuppt sich aus der post‐ nietzscheanischen Perspektive als immanent im und konstitutiv für das Leben selbst.“ 40 Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: Das Seminar Buch XI. Olten, Freiburg 1978, S. 42. 41 Vgl. dazu David Wellbery, „‚Die Wahlverwandtschaften’“, in: Paul Michael Lützeler u. James E. McLeod (Hg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1991, S. 291‐319. 12 gerät, nimmt sie für die Figuren zeichenhaften und dabei „ahnungsvollen“42 Charakter an, der den Weltbezug eigenen Tuns undurchsichtig werden lässt. Insbesondere der abergläubische Eduard zeichnet sich dadurch aus, das eigene Handlungsvermögen beständig an eine höhere, alle Kontingenz absorbierende Fügung zu delegieren – die freilich das hier waltende Schicksal gerade nicht ist. An einem gläsernen Trinkbecher etwa, der sich seit langen Jahren unbeachtet im Haushalt befindet, wird Eduard plötzlich sehend für die eingravierten Buchstaben „E“ und „O“: In seinen Augen ein unmissverständliches Orakel, das seine Liebe zu Ottilie mit übersinnlicher Providenz ausstattet. Doch es handelt sich um die Initialen seines eigenen Namens, die den selbstgewählten Rufnamen, Eduard, und seinen Taufnamen zusammenführen; letzterer wiederum ist, wie bei allen Protagonisten des Romans, Otto.43 Die eklatante Willkür indessen, die an Eduards Zeichengläubigkeit besonders hervorstechen mag, unterscheidet sich ihrer Struktur und ihren Effekten nach kaum von den Sprechakten der anderen Figuren – sei es, dass diese ihrerseits zum Aberglauben neigen,44 oder – schlimmer – dass es in der Bilanz keinen Unterschied macht, ob Vernunft oder Irrglauben das eigene Reden und Tun beherrscht. Das Erschreckende dabei ist weniger, dass die Signifikanz der Begebenheiten sich in vollendeter Beliebigkeit verlieren würde, sondern die Weise, in der sie sich unter der Hand zu wirksamen Verkettungen reorganisiert. Nicht die Frage, inwieweit die einzelnen Sprechakte die Wahrheit verfehlen oder letztlich doch einen wahren Kern enthielten, ist hier ausschlaggebend, sondern dass sie qua Verkennung zum Konstituens des Wahren werden, dass sie also im buchstäblichen Sinn wahr‐machen.45 Wenn den Figuren ihre Handlungsmacht entgleitet, dann in diesem Sinne: Ihr beständiges Irren und Fehlgehen wird zur immanenten und unkontrollierbaren Bedingung dessen, was in der Realität objektiven Niederschlag finden, d. h. ein folgerichtiges und sogar notwendiges Gepräge annehmen wird. Insofern ist es auch weniger ein zunehmender Verfall des 42 Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, u.a. S. 464, S. 466. Auch der Hauptmann heißt mit Vornamen Otto, bei den Frauennamen wurde der Wortstamm jeweils abgewandelt. Eduard hatte in seiner Jugend entschieden, dass ihm „der Name Eduard besser gefiel, wie er denn auch von angenehmen Lippen ausgesprochen einen besonders guten Klang hat.“ (Ebd., S. 259). 44 Auf ihre Weise folgt auch die besonnene Charlotte einer ausgeprägten Neigung, bereits in einer „seltsamen Zufälligkeit eine Fügung des Himmels“ zu erkennen (ebd., S. 358). 45 In einem spezifischen Sinn ist das so instantiierte Wahre fiktional strukturiert; vgl. Alenka Zupančič, Ethics of the Real. Kant, Lacan. London/New York 2000, S. 64f.: „[T]ruth is to be situated on the level of articulation of the signifiers as such, and not on the level of the relationship between signifiers (‘words’) and things as simply exterior to them. It is precisely this ‘lack of externality’, the nonexistence of a limit, which accounts for the fact that the truth has […] the structure of a fiction, and that it is ‘not‐whole’ (pas‐toute). Yet this fictional character of the truth in no way implies that the truth is arbitrary.” 43 13 Symbolischen, ein „Verlust der efficacité symbolique“ 46, der die Romanwelt verhext, als eine Form der Effizienz, die dem symbolischen Gesetz noch vor aller Einfassung in konkrete Gebräuche und Rituale eignet. Die Signifikanten, die dieses Feld strukturieren, mögen ihrer bestimmten Bedeutungen ledig sein, sie sind indessen völlig intakt in ihrer Funktion der Adressierung, d. h. in ihrem Appellcharakter für diejenigen, die im derangierten Netzwerk der „socialen Verhältnisse“47 interagieren. Produktiv – und riskant – ist diese Sphäre darin, dass sie Anrufungsprozesse erzeugt, d. h. einen „Mehrwert von Anrede über Bedeutung“48, der das Personal in nachgerade universale fetischistische Verkennungsschleifen versetzt. Für diese Struktur ihrer Welt sind die Beteiligten notwendig blind, die Welt aber ist es nicht für sie: Sie wird zu einer Art Registratur jener strukturell unbewussten Übermittlungsprozesse, die im impersonalen Raum der psychosozialen Beziehungen, einem Murmeln oder Gerücht ähnlich, zirkulieren. Sinnfällig wird dies in dem Moment, als die Figuren mit dem Tod des Kindes konfrontiert werden. Ottos Tod wird zunächst als „Unfall“49 deklariert, doch schon kurz darauf stellt sich die Lage signifikant anders dar. Wie auf geheime Absprache kommen die Figuren darin überein, dass der Tod des Kindes als gemeinschaftsstiftendes „Opfer“50 zu begreifen sei, das ihre zerklüfteten Verhältnisse versöhnen soll. Dieser Blickwechsel ist mindestens erstaunlich. Nicht nur lässt er – Ottilie und vielleicht noch Charlotte ausgenommen – ein gebührendes Maß an Trauer vermissen; er enthält überdies das kollektive Bekenntnis zu einer Tat, die als solche nicht begangen wurde. Und natürlich liegt in der Annahme, dass durch Ottos Opfer eine neue und bessere Zukunft zu erwarten sei, eine weitere gravierende Fehleinschätzung – denn der unerbittliche Lauf der Dinge hat, forciert durch diese neuerliche Verkennung, gerade erst Fahrt aufgenommen.51 Unfall‐ und Opferdiskurs treten dabei in eine eigenwillige Konkurrenz. Zwar verfehlen beide, die archaische Rede vom Opfer ebenso wie das abstrakte Risikokalkül des modernen 46 Wellbery, „‚Die Wahlverwandtschaften’“, S. 293. Die „Idee“ der Wahlverwandtschaften, so Goethe im Gespräch mit F. W. Riemer am 28. August 1808, sei es, „sociale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen.“ Vgl. dazu Wolf Kittler, „Goethes Wahlverwandtschaften: ‚Sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt’“, in: Norbert W. Bolz (Hg): Goethes ‚Wahlverwandtschaften’. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 230‐259. 48 Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens, S. 51. 49 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 459, S. 469. 50 Ebd., S. 461. 51 Er „ruhte“, so der Text über den aufgebahrten Leichnam des Kindes, „als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses“ (ebd., S. 464). 47 14 Unfalldiskurses, den „ungeheuer[en]“ 52 Fall, den sie bezeichnen sollen. Diese doppelte Verfehlung aber eröffnet genau den zweideutigen Raum, in dem er sich als Ereignis konstituiert. Denn wenngleich der Roman keinerlei Absichten erkennen lässt, die das Unglück herbeigeführt hätten, so erscheint sein Eintreten und mit ihm die gesamte Vorgeschichte rückwirkend in einem anderen, zutiefst dämonischen Licht. Das Ertrinken des Jungen wurde von den Protagonisten weder geplant noch vorausgesehen, geschweige eigenhändig ausgeführt, zugleich aber trifft es sie auch nicht ganz unvorbereitet. Vielmehr kommen die Figuren kaum umhin, sich selbst in dem Vorfall wiederzuerkennen, insofern dieser – wie zuvor bereits das bloße Aussehen des Kindes – an sie als kollektiv Involvierte zu appellieren scheint. Tatsächlich bündeln sich hier, in Ottos Tod, wie in einer dioptrischen Anamorphose zahlreiche Fäden, die sich scheinbar willkürlich über den ganzen Roman verstreuen. So ist von „Opfern“ und vom „Aufopfern“ erstaunlich häufig die Rede; u. a. in dem Dialog zwischen Eduard und Charlotte über den ruinösen Stand ihrer Ehe: Charlotte, kaum dass sie dem Hauptmann „rein und völlig“ entsagt hat, möchte sogleich auch ihrem Mann „irgend eine Aufopferung“ abverlangen – zur Rettung der Ehe und für „das Beste sämtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels“ –, während Eduard sich dagegen empört, dass ausgerechnet „Ottilie aufgeopfert“, d. h. weggeschickt werden soll.53 Aus diesem Gespräch folgen weder Entscheidungen, noch überhaupt direkt ableitbare Konsequenzen. Doch wenn einerseits das Geschehen zunächst weiterhin seinen ruhigen Gang geht, so erhalten unscheinbare, idyllische Szenen wie die folgende einen eigentümlichen Unterton. Eduard und der Hauptmann haben das Weite gesucht, die beiden Frauen sind mit dem Kind allein: Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl. Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen viel versprechende Gestalt ihr Auge und Gemüt stündlich beschäftigt. [...] Von einem eigenen Gefühl belebt steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien und dem Kinde, und indem sie dieses auf den kleinen Tisch, als auf einen häuslichen Altar niederlegt, und noch zwei Plätze [der abgereisten Männer] frei sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten und eine neue Hoffnung für sie und Ottilie 54 dringt hervor. In der Fluchtlinie dessen steht die spätere Identifikation mit dem tödlichen Vorfall, der sämtliche Figuren auf ein bislang ungewusstes, allmählich zutage tretendes Vorwissen zurückzustoßen scheint. Diese Situation inszeniert der Text als eine Zäsur, die an die 52 Ebd., S. 459. Ebd., S. 340f. 54 Ebd., S. 427. 53 15 Koinzidenz von Überraschung und notwendiger Einsicht in der antiken Tragödie gemahnt.55 So kann selbst der Hauptmann, der zuvor alle Mühen auf die Unfallvorsorge verwendet hatte, plötzlich als komplizenhafter „Mitwisser“56 erscheinen, so als habe seine Vorsorge nicht der Verhinderung, sondern dem Eintreten des Unfalls – oder Opfers – Vorschub geleistet. Bis zu dieser Zäsur figurierte der Hauptmann im Roman als die mustergültige Instanz eines modernen Sicherheits‐ und Präventionsdenkens. Als an früherer Stelle des Textes, noch bevor Otto existierte, ein unbekannter Junge im schlosseigenen See zu ertrinken drohte, hatte er ihn mutig gerettet und sogleich alle Vorkehrungen getroffen, um der Gefahr des Ertrinkens künftig vorzubeugen. Dass der kleine Otto später ausgerechnet diesen Tod sterben wird, dessen Risiko der Hauptmann im Sinne des Gemeinwohls zu minimieren suchte, löst nun auch bei ihm weniger Resignation als Zuversicht aus, artikuliert in Begriffen von Recht und Eigentum: Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schoße, der mit mehrerem 57 Recht sein Ebenbild trüge als der abgeschiedene. Eduard wiederum war bereits jenem ersten Vorfall mit aggressivem Narzissmus begegnet. Er hatte, seinerzeit ohne erkennbaren Zusammenhang, den totgeglaubten Jungen kurzum zum Befreiungsschlag, zur Verheißung seines Liebesglücks mit Ottilie erklärt. 58 Ihren eigentlich fatalen Klang erhalten diese Worte jedoch erst im Nachhinein, bei der Wiederholung des Vorfalls, der nun dasjenige Kind trifft, dessen Vater Eduard in der Zwischenzeit geworden ist. So jedenfalls will es der Fortgang der Geschichte: „Er wußte bereits von dem Unglück“59 , heißt es im Text doppelsinnig, als Eduard über Ottos Tod informiert wird. Allerdings konnte Eduard zu jenem früheren Zeitpunkt noch nicht wissen, was seine Worte bereits mitleidslos aussprachen, und was jetzt, als das Unglück tatsächlich tödlich endet, zur providenziell verbürgten Gewissheit zu werden scheint: „[A]nstatt das arme Geschöpf zu bedauern“, sieht er „diesen Fall“ nicht mehr nur als ein Hoffnungszeichen, 55 Letztere, so Haverkamp, bewirkt „nichts anderes [...], als dem im Anfang still beschlossenen, von allen vorgewussten Schicksal die innewohnende Zwangsläufigkeit eines in dieser Form unerwarteten Endes einzuzeichnen.“ Haverkamp, „Medea, Dea ex Machina“, S. 147. 56 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 460. 57 Ebd., S. 461. 58 Vgl. ebd., S. 338: „’Nein, Ottilie!’, rief er, ‚das Außerordentliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege. Dieser überraschende Vorfall von heute abend bringt uns schneller zusammen. Du bist die Meine! Ich habe dirs schon so oft gesagt und geschworen […], nun soll es werden.’“ 59 Ebd. 16 sondern als vollbrachte „Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre.“60 Es ist nicht diese beharrliche Anrufung einer höheren Fügung, die dem Roman das dämonische Gepräge verleiht, sondern umgekehrt der Charakter einer blinden Prophezeiung, der sich in den Sprechakten der Figuren stets schon mit‐spricht. Wenn nun die Figuren zuvor nicht nur nichts Verdächtiges getan haben, sondern nicht einmal ein positives Wissen vom lauernden Unheil hatten, so geraten sie gerade dadurch in das Zwielicht eines „halbschuldigen“61 Verbrechens: Indem sie Belangloses sprechen, tun oder auch nur denken, geben sie einer Zweideutigkeit Raum, die das beiläufigste Gerede in einen potenziellen Fluch und noch das besonnenste Wort in eine komplizenhaft vor‐wissende Schuld umschlagen lässt. „Das Schicksal gewährt uns unsere Wünsche, aber auf seine Weise“62, so der Roman. Es liegt vielleicht in der Natur der Sache, dass diese „Weise“ des Schicksals, d.h. die Logik der Verstrickung, die Goethes Roman darstellt, zugleich auch die Weise der Darstellung selbst bestimmt. Nicht nur lässt der Text keinerlei Außenstandpunkt zu, von dem aus sich zuverlässig über die Motivierung des Geschehens, über Zufall und Notwendigkeit, Handeln und Unterlassung oder Schuld und Unschuld urteilen ließe. Bei einem Handlungsverlauf, der im Einzelnen unabsehbar ist, im Ganzen hingegen zwingend verlaufen sein wird, bleibt auch der Status der Vermittlungen und Übergänge prinzipiell mehrdeutig. Sie sind als Übergänge zunächst nicht einmal identifizierbar, weil sie erst rückwirkend – dann, wenn sie Wirkung tun – überhaupt zu solchen werden. In diesem Sinn erscheinen sie unter‐ und überdeterminiert gleichermaßen: Sie halten gewissermaßen den Raum frei, in dem das unabsehbare und zugleich einschneidende Ereignis stattfinden kann. Im Nachhinein wird man es erwartet haben. 60 Ebd. Goethe, „Nachlese zu Aristoteles’ Poetik“, in: HA 12, S. 342–345, hier S. 344. 62 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 428. 61 17