Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                
Das Cochlea-Implantat – eine ethische Betrachtung Nora Andrea Tahy Implantate si d ei e „te h is he Weitere t i klu g o Prothesen, so die allgemeine Vorstellung. Sie bestehen aus künstlichen Stoffen, sind nicht organisch und stehen im Gegensatz zu Transplantaten in Deutschland vielleicht deshalb nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses an einer allgemeinen ethischkritischen Betrachtung. Grundsätzlich kann man zwischen rein prothetischen Implantaten und neurotechnologischen Implantaten unterscheiden. In die Kategorie der prothetischen Implantate gehören zum Beispiel Zahnimplantate und implantierte Knieprothesen, in den anderen Bereich würde man das CochleaImplantat und zum Beispiel die Hirnschrittmacher bei Parkinsonkranken zählen. In der folgenden Analyse geht es um medizin-ethische Fragen, die das Cochlea-Implantat aufwirft. Inhaltsverzeichnis 0 Einleitung ......................................................................................... 2 1 Neurotechnologische Implantate .................................................... 8 2 Cochlea-Implantate.......................................................................... 8 2.1 Technische Beschreibung.......................................................... 9 2 Indikation, Operation und Therapie bei Kindern und Erwachsenen nach dem Spracherwerb ................................................................... 10 2.1 Diagnose und Voraussetzungen für ein Implantat ................. 10 2.2 Nachbehandlung: Programmierung des Implantats ............... 11 2.3 Risiken ..................................................................................... 11 2.4 Mögliche Erfolge – Patientenberichte von Erwachsenen ....... 12 3 Indikation, Operation und Therapie bei Kindern vor dem Spracherwerb.................................................................................... 12 3.1 Diagnose und Voraussetzungen für ein Implantat ................ 12 3.2 Notwendige Nachbehandlung nach der Implantation bei Kindern vor dem Spracherwerb .................................................... 14 3.3 Risiken ..................................................................................... 14 4 Behinderung – ein zu kurierende Dysfunktion oder ein schützenswertes Anderssein ............................................................ 15 4.1 Gehörlosigkeit als Begriff eines zu verändernden Zustands ... 16 4.2 Der Gehörlose im Spannungsfeld zwischen Normalität und Norm ............................................................................................. 18 4.3 Gerhörlosigkeit als Zugehörigkeitskriterium zu einer ethnischen Gruppe ....................................................................... 19 5 Cochlea-Implantate im Rahmen einer ethischen Analyse ............. 20 5.1 Ist das kurative Ziel rechtfertigungsfähig................................ 20 5.2 Ist das gewählte Mittel rechtfertigungsfähig .......................... 22 5.3 Folgen im Spannungsfeld zweier Kulturen ............................. 24 . Folge i “pa u gsfeld z is he „kü stli he or ale Höre u d Tra shu a is us ..................................................... 25 6 Schlussbetrachtung ........................................................................ 27 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 1 0 Einleitung Die Humanmedizin hat grundsätzlich das Ziel, den Menschen nach Möglichkeit dabei zu unterstützen, nicht krank zu werden (z. B. durch Vorbeugung und Vorsorge) oder ihm bei einer Erkrankung durch Symptomlinderung oder Beseitigung der Krankheitsursache zu helfen. Die Fragen, die diese sehr allgemeine Definition schon aufwirft, sind unter anderem, was genau als Krankheit zu definieren ist, wo ein gestörtes Wohlbefinden als Krankheit bezeichnet werden kann oder gar muss und welche Implikationen sich daraus ergeben. Eine weitere Frage wäre vielleicht aber auch, was mit zunehmendem Alter als Krankheit behandelt werden soll oder gegebenenfalls als tolerierbare altersbedingte Verschleißerscheinung angesehen werden kann. 1 „Dabei kann die Medizin (als Wissenschaft und mit ihr die Ausübenden der Wissenschaft) auf beachtliche Erfolge verweisen: Die Erfolge der konventionellen, naturwissenschaftlich geprägten Hochschulmedizin haben die Heilung vieler noch vor wenigen Jahrzehnten tödlichen Erkrankungen und die langfristige Verbesserung der Lebensqualität bei einem Teil der chronischen Erkrankungen möglich gemacht und zur Erhöhung der Lebenserwartung in Deutschland wie in vielen a de e Lä de eiget age . 2 Neben diesen Erfolgen muss die 3 Medizin sich zwei Herausforderungen stellen: Die Ansprüche an die Medizin, die zum einen eine praktische Wissenschaft und zum anderen eine forschende naturwissenschaftlich-technische Wissenschaft ist, wachsen beständig. Die hohe Lebenserwartung sieht sich konfrontiert mit einer großen Zahl von Problemen, die ein längeres Leben mit sich bringt: Ob als Folge chronischer Erkrankungen bzw. Verschleiß oder als Folge genetischer Disposition, einzelne Körperfunktionen erfüllen nicht mehr die Erwartungen des gesunden Menschen. Geforscht wird dabei verstärkt in drei Bereichen: i) Die Transplantationsmedizin scheint im Moment der gebotene Weg zu sein bei Organversagen und zum Teil auch bei Körperteilverlust, mit allen Problemen, die das mit sich bringt, und wird in der Öffentlichkeit kontrovers und heftig, oft nicht mit dem gebotenen Wissen, diskutiert. ii) Viel erhofft man sich, vor allem auch im Hinblick auf die chronischen Erkrankungen im Bereich 1 Der Begriff der Krankheit unterliegt kulturhistorischen Bedingungen, historischen Veränderungen, aber auch unterschiedlichen Kriterien in Hinblick auf Sozialgesetzgebung, Gesetzeslage us . Bea hte au h die Defi itio der WHO: „ei )usta d o ollstä digem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit o Kra kheit oder Behi deru g auszei h et . I diese “i e ird Gesu dheit defi iert als ein dem Alltagsleben zugrundeliegender Zustand, der eine notwendige Voraussetzung für ein gelingendes Leben ist. 2 http://www.dialogforum-pluralismusindermedizin.de/dpm_.dll?cmd=home Dialogforum Pluralismus in der Medizin, Aufgabe und Zielsetzung 3 Medizin steht hier als Synonym für alle Bereiche der Humanmedizin und medizinische Versorgung Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 2 der Genomforschung4, der Gendiagnostik5 und Stammzellenforschung6, auch hier wird öffentlich heftig diskutiert und verhandelt, wobei die Divergenz in der Definition von MenschSein, Person-Sein und Persönlichkeit zu grundsätzlich unterschiedlichen Einschätzungen führen kann. Dennoch, die Fragen sind in der Gesellschaft präsent: „Eine Studie zur Akzeptanz der Stammzellforschung kam zu folgende E ge is: „Die Bef agte überraschten uns mit einem relativ hohen Wissens- und Informationsstand. Das Thema scheint in der Gesellschaft angekommen zu sein. 7 iii) Neben diesen grob skizzierten Forschungsrichtungen gibt es den verzweigten, zumindest für Laien kaum überschaubaren Forschungsbereich der medizin-technischen Implantate, die in der Öffentlichkeit aber kaum diskutiert werden. Implantate scheinen als „ i ht e s hli he Produkte i “i e der Verwendung als Körperersatzteile keinen öffentlich-medialen Nerv zu treffen. Der Bereich der Skandale, die öffentlich diskutiert 4 Die Struktur- und Funktionsanalyse des menschlichen Genoms bietet einzigartige Möglichkeiten, die Rolle und den Beitrag genetischer Faktoren zu Gesundheit und Krankheit vertieft zu verstehen sowie den Einfluss von Umweltfaktoren bei der Krankheitsentstehung genauer zu bestimmen. Davon ausgehend können auch die Struktur und Rolle der Proteine (Proteomik), des Stoffwechsels (Metabolomik) und regulatorischer Systemkomponenten im Hinblick auf die molekularen Grundlagen von normalen und pathologisch veränderten Funktionen der Zellen und Organe erforscht werden. Bundesministerium für Bildung und Forschung http://www.bmbf.de/de/1038.php 5 Mit Gentests sind diagnostische Methoden gemeint, die Aufschluss über einzelne Gene oder auch die gesamte genetische Ausstattung eines Organismus (Genom) geben können. Genetische Untersuchungen analysieren Gene oder Genprodukte. Dabei gibt es verschiedene Anlässe, einen Gentest durchzuführen, sowie eine unterschiedliche Reichweite der Aussagekraft eines solchen Tests. http://www.ethikrat.org/themen/medizin-undpflege/gendiagnostik 6 Humane embryonale Stammzellen sind sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die klinische Forschung von großem Interesse. Es wird angenommen, dass sie aufgrund ihrer Fähigkeit zur unbegrenzten Vermehrbarkeit eine unerschöpfliche Quelle zur Gewinnung von Zell- und Gewebeersatz darstellen. Aufgrund ihrer Differenzierungseigenschaften sind sie als Forschungsobjekt geeignet, um eine Vielzahl von Entwicklungsprozessen im Detail zu untersuchen. In der Grundlagenforschung stehen die Aufklärung von molekularen Mechanismen der Spezialisierung einzelner Zellen sowie die Untersuchung der Organisation von Zellen im Gewebeverband und in Organen im Vordergrund. Darüber hinaus möchte man ein verbessertes Verständnis der Entwicklung und Regulation früher Stammzellstadien erreichen und die Mechanismen, die der Fähigkeit zu Vermehrung und Differenzierung zugrunde liegen, erforschen. Im Rahmen der klinischen Forschung erhofft man sich von embryonalen Stammzellen die Möglichkeit zur Schaffung von Gewebeersatz, besonders im Hinblick auf solche Gewebe, die nur ein geringes oder gar kein Regenerationsvermögen aufweisen, wie z. B. Nervengewebe. Ziel ist die Anwendung von ES-Zellen zur Behandlung von verschiedenen Krankheiten, z. B. neurodegenerativer Erkrankungen wie Morbus Parkinson und Multiple Sklerose, Diabetes mellitus Typ 1 sowie Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems. Diskutiert wird auch, ES-Zellen genetisch zu manipulieren und so im Rahmen einer Gentherapie etwa zur Wiederherstellung eines zerstörten Immunsystems zum Einsatz zu bringen, zum Beispiel in der Therapie der HIVerkrankung. Kompetenznetzwerk Stammzellforschung NRW http://www.stammzellen.nrw.de/ 7 Thema Stammzellforschung ist in der Gesellschaft angekommen, Kompetenznetzwerk Stammzellforschung Nordrheinwestfalen, 14. März 2014 http://www.stammzellen.nrw.de/fileadmin/media/documents/presse/PM_ReprUmfrageSZF_NRW.pdf Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 3 werden, bezieht sich überwiegend auf die Qualität der Materialien8, aber nicht auf grundsätzliche Fragen der Implantate. Dies scheint nicht nur auf den ersten Blick erstaunlich. Denn bezüglich der implantierenden medizinisch-technischen Eingriffsmöglichkeiten haben wir noch keine umfassende Problemstellung und somit auch keine allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Antworten, die das Mensch- und Personensein sowie Fragen der Gerechtigkeit und Verteilung berücksichtigten. Wir können, auch ohne dass diesbezügliche wissenschaftlich validierte Daten vorliegen, sagen, dass die Bandbreite dessen, was die „I pla tations edizi aktuell schon möglich macht, in der Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist. 9 Was ist aber ein medizinisches Implantat? In erster Annäherung das Gegenteil von einem Transplantat. Transplantieren bedeutet in der Humanmedizin das Verpflanzen von körpereigenen Materialien (aus einem Organismus) in einen anderen Organismus (Gewebe, Zellen, Organe bzw. Organsysteme; Blut ausgenommen). Beim Implantat hingegen handelt es sich um ein künstliches medizin-technisches Produkt, das in den Körper eingesetzt bzw. mit dem Körper zumindest für eine bestimmte Zeit fest verbunden wird, um dem Patienten ein besseres, gesünderes oder (fast) normales Leben zu ermöglichen (und unterscheidet sich damit grundsätzlich von einer Prothese, die nicht fest mit dem Körper vereint und sich damit jederzeit problemlos von ihm lösen lässt). 10 11 Es scheint sich so zu verhalten, dass, da es sich bei den Implantaten um künstliches Material handelt, sich die Frage zum Beispiel bei Zahnimplantaten, Stents, Gefäßprothesen usw. gar nicht gestellt hat, ob diese Implantate irgendwelche gesamtgesellschaftlich 8 Silikonskandal bei Brustimplantaten, Warnung vor unsachgemäßen Billiganbietern bei Zahnimplantaten, zahlreiche Hinweise bei Sucheingabe in Internetsuchmaschinen 9 Ein gutes Indiz dafür ist, dass bei der Eingabe von Implantat auch in den Suchmaschinen vorrangig Zahnimplantate vorkommen. Fast jeder kann über irgendjemanden berichten, der ein künstliches Hüftgelenk oder ein künstliches Knie bekommen hat. Bei Fragen wie CochleaImplantate, Hinstimulationsimplantate, Rückenmarksimplantate bei Querschnittgelähmten usw. betrachten einen auch niedergelassene Ärzte, als käme man direkt aus einem ScienceFicition-Film. Ein Hinweis darauf kann auch sein, dass in den einschlägigen Werken zu medizinethischen Fragen auf diese Fragen nicht oder kaum eingegangen wird: vergl. Eberhard Schockenhoff: Ethik des Lebens, 2009, Hartmut Kreß: Medizinische Ethik 2. Auflage 2009, Giovanni Maio: Mittelpunkt Mensch, 2012 enthält zwei Fallbeispiele zum cochleaimplantat bzw. zu einem Hirnstammimplantat als Beispiel für notwendige Grenzziehungen; Jan P. Beckmann: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. 2009 10 Die Vermutung liegt nahe, dass der schleichende Übergang von Prothesen zu Implantaten diese nichthinterfragende spontane Akzeptanz mit sich gebracht hat. 11 Den fließenden Übergang von Prothese zu Implantat konnte man gut in der Sonderausstellung »Leben mit Ersatzteilen« erkennen: Deutsches Museum 9. 5. 2004 –Ende 2005, Berliner Medizinhistorischen Museum der Charitè 1. 6. 2006 bis zum 25. 2. 2007: Das Interesse am technisch machbaren war über alle Erwartungen groß, der Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Implikationen bzw. ethischer Fragestellungen war nicht im Blickfeld der Ausstellungsmacher. Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 4 relevante ethische Fragen aufwerfen. Zunehmend geht es aber beim Einsatz der I pla tate i ht ur „um Reparaturen mit Ersatzteilfunktion , sondern auch um die Kompensation von Sinnesfunktionen wie Sehen und Hören (unabhängig davon, ob dieser Mangel von Geburt an besteht oder ein erworbener Mangel ist) sowie auch um Hirntransplantate, mit dem Ziel, die Steuerungsmechanismen des Gehirns zum Beispiel bei Parkinsonerkrankungen aufrechtzuerhalten. 12 Mögliche Folgen und Implikationen dieses Forschungsbereichs lassen sich an zwei Extremen aufzeigen: Zum einen an der an Parkinson erkrankten jungen Frau, die sich nach einer OP mithilfe Ihrer Deep Brain Stimulation fast normal bewegen kann, wie im Video zu sehen ist13, zum anderen an dem 70 Millionen US-Dollar teuren Forschungsvorhaben des US-Militärs, um die Möglichkeiten zu erforschen, ob man feindliche Soldaten mithilfe von ins Gehirn implantierten „ ugs zu Akteure der eige e )iele „u sti uliere kann. Dies passiert – ironischerweise – wiederum nicht ohne ethische Analyse. 14 Spätestens an diesem Punkt der Forschung wird der Gedanke, welche ethisch relevanten Fragestellungen sich an die Implantationsmedizin (und die sie unterstützende bzw. ihr neue Möglichkeiten eröffnende Forschung) stellen lassen, nicht nur von S.O. Hansson (2005) gut zusammengefasst, sondern u.a. auch in einer Veröffentlichung der Europäischen Union ausführlich behandelt (2005). 15 Diese philosophischen Fragen betreffen die Frage nach dem Menschenbild, das sich hinter der Bereitschaft verbirgt, Implantate zu verwenden. Hier sei die Hypothese erlaubt, dass dieses Menschenbild ein sehr divergierendes ist: Wenn man zum Beispiel die allgemeine Akzeptanz von Zahn- und Gelenksimplantaten im Gegensatz zur emotional aufgeheizten Auseinandersetzung bei Hörimplantaten innerhalb der Community der Gehörlosen oder die Bedenken, angesichts von Hirnimplantaten betrachtet. 12 Whereas technological implants relieve us of some of the ethical problems connected with transplantation, other difficulties arise that are in need of careful analysis. S. O. Hannsson, Philosophy Unit , Royal Institute of Technology, Stockholm; J Med Ethics 2005;31:519525 doi: 10.1136/jme.2004.009803 13 Deep Brain Stimulation for Parkinson's (Before and After Surgery) Georgetown University Hospital Movement Disorders Program NPF COE http://www.youtube.com/watch?v=PIEa6y9mIvU hochgeladen am 27.07.2011 http://medstargeorgetown.org/dbs 14 U ter de Titel Neuros ie e i Defe e urde diese Mögli hkeite ethis h erörtert: und Seite 3.che: US Armee, ferngesteuerte Soldaten via Hirnimplantat Montag 11. November 2013 http://danapress.typepad.com/weblog/2013/07/ethical-issues-in-neuroscience.html, heute nur noch über Passwort erreichbar 15 ETHICAL ASPECTS OF ICT IMPLANTS IN THE HUMAN BODY, OPINION OF THE EUROPEAN GROUP ON ETHICS IN SCIENCE AND NEW TECHNOLOGIES TO THE EUROPEAN COMMISSION, Nr. 20 Adopted on 16.3.2005. Die am Ende dieser Stellungnahme geforderte Neuauflage nach einigen Jahren ist noch nicht erschienen. Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 5 In Zusammenhang mit Implantaten, die direkt oder indirekt technisch mit unserem Gehirn in Verbindung gebracht werden, stellt sich die Frage nach der Persönlichkeit, nach einer Veränderbarkeit bzw. Wandelbarkeit von Persönlichkeit durch diesen medizinischtechnischen Eingriff. Der Vorwurf wird dahingehend geäußert, dass solche Eingriffe diese Persönlichkeit verändern oder gegebenenfalls verändern können. Auf den behandelnden Arzt können daher erweiterte Fragen in Bezug auf seine Verantwortung für den Patienten bei der Empfehlung und Ausführung einer Behandlung mit Implantaten zukommen. 16 Um ein möglichst breites Spektrum an ethischen Fragestellungen zur Verwendung von Implantaten zu erarbeiten, wäre es angebracht, zum einen den Bereich der prothetischen Implantate anhand von Zahnimplantaten (Verteilungsgerechtigkeit im Spannungsfeld soziale Solidargemeinschaft) und implantierten Knieprothesen (Menschenbild im Spannungsfeld von Krankheit und Alterungsprozess), zum anderen den Bereich der neurotechnologischen Implantate wie Chochlea-Implantat (kurative Maßnahmen im Spannungsfeld von Krankheit und Normalität s. u.) und Tiefenhirnstimulationen durch „Brai Chips 17, die in umgrenzte Bereiche direkt ins Gehirn implantiert werden (Medizin im Spannungsfeld von kurativen Maßnahmen und human enhancement), zu untersuchen. Für eine umfassende Betrachtung bieten sich folgende grundsätzliche Fragestellungen an: – Welche medizinische Indikation führt jeweils zu der Möglichkeit, das jeweilige Implantat kurativ einzusetzen. Was kann damit im Einzelfall erreicht werden? – Ist das zu erreichende Ziel der jeweiligen kurativen Anwendung eines Implantats rechtfertigungsfähig? – Lassen sich die Implantate im Einzelfall zur Erreichung der 16 Eine Aufsehen erregende Publikation in diesem Sinne: Laura Klaming, Pim Haselager: Did my Brain Implant Make Me Do it? Questions raised by DBS Regarding Psychological Continuity, Responsibility for Action and Mental Competence. Springerlink com 29. April 2010 17 Implantate, die umgangssprachlich grob als Chips zu bezeichnen sind, gehören in den Berei h der „I for atio a d o u i atio te h ologies ICT : ICT devices: Devices using information and communication technologies usually based on silicon chip technology; Active medical device: Any medical device relying for its functioning on an internal and independent source of electrical energy r any source of power other than that directly generated by the human body or gravity; Active implantable medical device: Any active medical device which is intended to be totally or partially introduced surgically or medically, into the human body or by medical intervention into a natural orifice, and which is intended to remain after the procedure; Passive ICT implants: ICT implants in the human body that rely on an external electromagnetic field for their operation; Online ICT implants: ICT implants that rely for their operatio o a o li e o e tio to a external computer or which can be interrogated o li e a e ter al o puter; Offline ICT implants: ICT implants that operate independently of external ICT devices (perhaps after an initial setting up operation). In Opinion oft the European Group on Ethi s … siehe o e “eite Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 6 – – – – – – jeweiligen Ziele rechtfertigen? Welches Bild von Krankheit, welches Empfinden körperlichen Defizits und welche Vorstellung von Gesundheit bestimmen normativ den Einsatz bestimmter Implantate? Welches Menschenbild, welches Verständnis von Person und Persönlichkeit liegt dem Einsatz des jeweiligen Implantats zugrunde? Was sind die möglichen zum Teil schon absehbaren Folgen für den Einzelnen und für die Gesellschaft? Sind die Ziele und die Mittel in Hinblick auf diese möglichen Folgeprobleme akzeptabel? Können im Bereich der Implantationsmedizin Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der Chancengleichheit ausgeklammert werden? Wie verhält es sich mit Fragen des „erweiterten Menschen (enhanced human) bezüglich der jeweiligen Implantate aber auch im Hinblick auf weitere real existierende medizin-technische Möglichkeiten, die über die heutigen Möglichkeiten hinausgehen? Und nicht zuletzt die Frage, ob durch diese Technisierung der Medizin nicht Möglichkeiten eröffnet werden, die Grenzen zwischen Lebensbereichen von Tieren und Menschen zu überschreiten. Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 7 1 Neurotechnologische Implantate „Information and communication technologies (ITC) pervade our lives. Thus far, this pervasive influence has mainly involved devices that we use for private purposes or at the work place such as personal computers, mobile phones, laptops and the like. Due to new developments these devices are becoming more and more part of our bodies, either because we wear them (wearable computing) or because they are implanted in our bodies. 18 Im Folgenden werden Cochlea-Implantate als Beispiel für ein neurotechnologisches Implantat untersucht. 2 Cochlea-Implantate „Blindheit trennt von den Dingen, Gehörlosigkeit von den Menschen .19 „So brauchen Sehbehinderte zwar Hilfe im Alltag, kö e si h a e ‚ ga z o al a ei e Gesp ä h eteilige . Schwerhörige und Gehörlose hingegen kommen im täglichen Leben fast problemlos zurecht, können sich aber nur schwer bzw. nur mit Hilfe ei es Ge ä de dol ets he s it Hö e de u te halte .20 Nicht in jedem Fall von Gehörlosigkeit kann ein Cochlea-Implantat helfen, wohl aber bei einer Schwerhörigkeit hohen Grades bzw. einer Gehörlosigkeit, die auf einer Schallempfindungsstörung beruht. Welche medizinethische Fragen sich in diesem Zusammenhang stellen, nicht zuletzt in Hinblick darauf, ob es sich um ein Kind handelt, bei dem diese Störung vor dem Spracherwerb aufgetreten ist oder ob es sich dabei um eine nach dem Spracherwerb erworbene Störung handelt, wird im weiteren unter den Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit der Therapie, der kurativen Rechtfertigungsfähigkeit, der Analyse der möglichen Therapiefolgen und der Frage, ob diese rechtfertigungsfähig sind, sowie der Frage, ob die Einsetzung des Cochlea-Implantats bei gehörlos geborenen bzw. vor dem Spracherwerb gehörlos gewordenen Kindern nicht die Norm des Rechts auf Andersartigkeit verletzt. Die Gruppe der Cochlea-Implantate gehört zu den neurotechnologischen Implantaten. 18 Opinion of the European group on ethics in science and new technologies to the European Commission. 1603.2005 Nr. 20 ethical aspects of ICT Implants in the human body, Einleitung, Seite 5; zur Übersicht der verschiedenen Formen und Kategorien siehe ebenda: 2. Glossary, Seite 6. 19 20 Helen Keller 1880-1968 zugeschriebenes Zitat Leben mit Ersatzteilen, Deutsches Museum 2004, Seite 30 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 8 2.1 Technische Beschreibung 21 Ein Cochlea-Implantat ist ein kleines, komplexes elektronisches Gerät, das es nicht hörenden Personen ermöglicht, Geräusche als sinnliche, empirische Wahrnehmungen zu erfahren. Dies ist bei allen Personen möglich, die aufgrund ihrer anatomischen Gegebenheiten seit Geburt oder durch Krankheit später erworben nicht oder so gut wie nicht hören können. Das Cochlea-Implantat besteht aus einem außen sitzenden Teil, das hinter dem Ohr angebracht wird (und magnetisch gehalten wird), und dem chirurgisch unter die Haut eingepflanzten Teil. Ein solches Cochlea-Implantat besteht aus – einem Mikrophon, das die Geräusche aus der den das Implantat tragenden Menschen umgebenden Umwelt aufnimmt (1) – einem digitalen Sprachprozessor, der die vom Mikrophon empfangenen Geräusche selektiert und sortiert (2) – einem Sender (3, dieser liegt auf der Haut auf und sendet die Signale an einen Empfänger/Stimulator (4 Implantat, unter der Haut im Knochenbett befestigt), der diese Signale vom Sprachprozessor empfängt und in elektrische Impulse konvertiert – einer Anzahl von Elektroden (6), die diese Impulse vom Stimulator empfangen und an verschiedene Bereiche der Hörregion / an die Hörnerv-Enden senden (7). Diese leiten dann die Impulse an das Gehirn weiter. Dort werden dank der Verarbeitung im Gehirn diese Impulse zu akustischen Ereignissen wie Sprache oder Klänge.22 Das Cochlea-Implantat stellt das Hörvermögen nicht wieder her, vielmehr geht es hier darum, eine andere, aber vom Gehirn 21 http://www.schwerhoerigen-netz.de/MAIN/ratg.asp?inhalt=COCHLEA/uebersicht, dort von MED-EL Deutschland GmbH 22 Vergl. ebenda Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 9 verarbeitbare Darstellung des Gehörten zu geben, um „Schallempfindung zu er ögli he . Cochlea-Implantate sind nicht mit anderen, auch elektronischen oder elektronisch gesteuerten Hörhilfen zu vergleichen, weil die letztgenannten auf die mechanischen Schallverarbeitungsbereiche des Mittelohrs zurückgreifen und diese unterstützend verstärken. CochleaImplantate hingegen überbrücken diese Mittelohrbereiche und stimulieren direkt die Nervenbahnen im Innenohr, die diese Impulse an das Gehirn senden, welches diese Informationen dekodiert23 und phänomenal und inhaltlich belegt. Grundsätzlich können sowohl Erwachsene als auch Kinder bei entsprechender Indikation ein Cochlea-Implantat bekommen. 2 Indikation, Operation und Therapie bei Kindern und Erwachsenen nach dem Spracherwerb Ein Cochlea-Implantat kann eine mögliche Maßnahme sein, wenn eine Gehörlosigkeit oder eine hochgradige Schwerhörigkeit vorliegt, die ihre Ursache in einer anatomischen Störung des Innenohrs hat. 2.1 Diagnose und Voraussetzungen für ein Implantat Man spricht hier von einer Schallempfindungsschwerhörigkeit oder gehörlosigkeit.24 Eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Implantation ist ein funktionsfähiger Hörnerv. Grundsätzlich kann man zwischen zwei Gruppen von Patienten unterscheiden: Kinder und Erwachsene, die nach dem Spracherwerb gehörlos geworden sind und bei denen es sich um eine Schallempfindungsschwerhörigkeit oder -gehörlosigkeit bei funktionsfähigem Hörnerv handelt. Diesen Patienten wird eine möglichst schnelle Implantation empfohlen, da bei einem langanhaltenden Fehlen akustischer Reize die Gefahr besteht, dass „nicht nur das Hören verlernt wird, sondern dass im Hörsystem auch 23 Vergleiche http://www.nidcd.nih.gov/health/hearing/pages/coch.aspx (NIH National Institute of Deafness and Other Communication Disorders UNIDCD) beim U.S. Department of Health & Human Services 24 Vgl. http://www.schwerhoerigen-netz.de/MAIN/ratg.asp?inhalt=COCHLEA/uebersicht ; die wichtigsten Hörstörungen sind Schallleitungsschwerhörigkeit: die Zuleitung des Schalls zum Innenohr ist gestört, Schallempfindungsschwerhörigkeit: der Ausfall der Schallverarbeitung ist im Innenohr (Cortisches Organ) verursacht. Vergl. auch: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdf , Seite 6 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 10 organische Veränderungen eintreten können, die bei der späteren Rehabilitation (s.u.) rückgängig gemacht werden müssen. 25 2.2 Nachbehandlung: Programmierung des Implantats Ungefähr drei bis sechs Wochen nach der implantierenden Operation erfolgt dann die Erstanpassung des Sprachprozessors. Schrittweise werden dann Anpassungen vorgenommen, das bedeutet, dass im Sprachprozessor Hörprogramme mit den individuellen Stimulationsparametern des Benutzers gespeichert werden. 26 Der Patient trägt dazu den Sprachprozessor (s.o.). Dieser Sprachprozessor wird direkt mit dem Anpassungscomputer der Klinik verbunden. Dieser Computer erzeugt nun kontrolliert Geräusche in verschiedenen Lautstärken, die der Patient kommentiert: So werden die untere Hörschwelle (das leiseste noch hörbare Signal) und die obere Hörschwelle (das lauteste noch als angenehm empfundenen Signal) festgelegt, und zwar für alle Elektroden (6). Mit diesen Informationen wird nun ein Programm errechnet, das alle Geräusche innerhalb dieses Signalbereichs als Geräusche des Hörbereichs verarbeitet.27 Da es sich um technische Einstellungen handelt, ist eine gegebenenfalls mehrmalige Feinabstimmung per Nachsorge notwendig.28 Darüber hinaus empfiehlt es sich in aller Regel, ein paar Monate nach dieser Anpassung eine Rehabilitationsmaßnahme von drei bis sechs Wochen zu nutzen, um das Hörvermögen mit dem CochleaImplantat zu optimieren.29 2.3 Risiken Ist die Indikation gegeben, stellen die Operation, ein Eingriff, der den Körper des Patienten nicht mehr belastet als andere Ohroperationen, und die Nachsorge im Regelfall kein unberechenbares Risiko dar. Wie bei jeder Operation bestehen natürlich geringe Risiken: Aufgrund anatomischer Nähe zum Innenohr können bestimmte Gesichts- Geruchs- oder Geschmacksnerven temporär oder sogar permanent in ihrer Funktion gestört werden. So kann es auch vorübergehend bzw. in 25 Universitätsklinikum Heidelberg Hals-Nasen-Ohrenklinik Cochlea-Implantat http://www.google.de/imgres?imgurl=http%3A%2F%2Fwww.klinikum.uniheidelberg.de%2Ftypo3temp%2Fpics%2Fird36_com060_lr_06_f53db81e67_3108388d45.png &imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.klinikum.uni-heidelberg.de%2FCochleaImplantat.115164.0.html&h=276&w=560&tbnid=B4G0NxIU9dpVeM%3A&zoom=1&docid=mE sUtGbTxGAvTM&ei=cPl1VIPCGYaGywO25oDQDQ&tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=1014&pag e=1&start=0&ndsp=22&ved=0CCkQrQMwAA; zu den Leitlinien der Voruntersuchungen siehe http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdfm, Seite 8/9 26 Ebenda. 27 ebenda 28 ebenda 29 ebenda Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 11 wenigen Fällen länger anhaltend zu Schwindel kommen, das liegt an Irritationen des Gleichgewichtsorgans durch den operativen Eingriff. Es ist heute auch so, dass in der Regel, das natürliche Restgehör trotz der Operation erhalten bleibt.30. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt da viele auf weiteren Fortschritt der Medizin hoffen und sich diese zukünftigen Chancen nicht durch eine vorschnelle Implantation verbauen lassen wollen.31 Eine psychische Komponente kann auch die Enttäuschung sein: Wenn ImplantatAnbieter oder Ärzte zu hohe Erwartungen wecken, indem eine Hörqualität wie zu gesunden Zeiten versprochen wird. 32 2.4 Mögliche Erfolge – Patientenberichte von Erwachsenen Patie t 1: „Bald ist es z ei Jah e he , dass i das e ste Co hlea-Implantat eingepflanzt wurde. Wer mich kennt, kennt meine Begeisterung, weil sich die Freiheitsgrade in meinem Leben in ungeahntem Maße vermehrt haben … Ich erziele im Sprachtest mittlerweile 100% unter Laborbedingungen, mein Audiologe sagt mir aber auch, dass ich damit zur Spitzengruppe gehöre. Mein Gehirn hat auf das CI reagiert wie ein vernachlässigter Hund, der endlich wieder apportieren darf, aber es gibt auch Leute, die mit dem CI trotz guter Disposition einfach nicht kla ko e – Der Patient betont aber auch, dass dieses Hören ein anderes ist, als das gesunde Hören und dass man dieses neue Hören erlernen muss. 33 Patientin 2: Die Patientin, 83, mit mehreren schweren Vorerkrankungen und seit ihrer späten Jugend schwerhörig, mit einer immer größer werdenden Schwerhörigkeit, die mit 80 Jahren in einer Taubheit endetet. Nach zwei Jahren, in der die Patientin zunehmend unter ihrer Isolation zu leiden begann (mit ihrer Familie kommunizierte sie schriftlich auf einem Tablet: Diese Kommunikationsform ging aber nur in Einzelgesprächen und im Seniorenheim gar nicht, weil dies den Mitbewohnern zu mühselig war. Die Ärzte empfahlen ein Cochlea-Implantat – ein Jahr nach der Operation ist die Dame in ihrem Seniorenheim integriert und kann gut mit ihrer Familie kommunizieren. 3 Indikation, Operation und Therapie bei Kindern vor dem Spracherwerb 3.1 Diagnose und Voraussetzungen für ein Implantat Als Indikation reicht ein Hörtest bei einem Facharzt nicht aus: Kleinkinder, bei denen der begründete Verdacht einer hochgradigen bis schweren Schallempfindungsschwerhörigkeit bzw. Gehörlosigkeit esteht, kö e ithilfe der ‚o jektiven Hörprüfung 30 Vergleiche 080228HNO_BRO_SS_Cochlea Das Cochlea-Implantat eine Broschüre der Universität Heidelberg, S 22 Eine Informationsschrift für Patienten 31 Vergleiche: http://www.ennomane.de/2013/05/18/kann-jedem-gehorlosen-mit-demcochlea-implantat-geholfen-werden/ Kommentare zum Haupteintrag 32 Vergl. Zitat und Information aus http://www.ennomane.de/2013/05/18/kann-jedemgehorlosen-mit-dem-cochlea-implantat-geholfen-werden/ 33 Zitat und Information aus http://www.ennomane.de/2013/05/18/kann-jedem-gehorlosenmit-dem-cochlea-implantat-geholfen-werden/ Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 12 BE‘A 34 unter Narkose eindeutig getestet werden. „Bei Verdacht auf Vorliegen von Hörresten sollte ein Hörgerätetrageversuch der CIOperation vorgeschaltet werden, der auch der Hörerweckung dienen kann. 35 Die vorbereitenden Untersuchungen sind bei den Kindern wesentlich umfangreicher als bei den erwachsenen Patienten, die nach dem Spracherwerb gehörlos geworden sind. So ist es in den Leitlinien vorgeschrieben, ein Cochlea-Implantatzentrum und weitere Fördereinrichtungen zur Indikationsfindung hinzuzuziehen. Teil dieser Maßnahmen ist es auch, dem Kind (und den Eltern) alle möglichen alternativen Kommunikationstechniken zur Verfügung zu stellen.36 Wurde bei einem Kind eine seit Geburt bestehende oder in frühkindlicher Phase erworbene hochgradige bis schwere Schallempfindungsschwerhörigkeit bzw. Gehörlosigkeit festgestellt, empfiehlt sich aus medizinischer Sicht eine möglichst frühe Implantation. 37 Das Alter, in dem eine solche Implantierung sinnvoll ist, bewegt sich zwischen einem Jahr und drei Jahren, da das Hören für die Sprachentwicklung essentiell ist38, nach Meinung anderer macht es bis zu vollendeten 7. Lebensjahr kaum einen Unterschied, erst danach liegen die Chancen eines normalen Spracherwerbs unter den Möglichkeiten jüngerer Kinder.39 Andere betonen, dass eine Versorgung der Kinder innerhalb des ersten Lebensjahrs zu den besten Resultaten führt. Unabhängig von dieser fachinternen Debatte erlaubt die Implantierung und das darauf folgende Rehabilitierungsprogramm den betroffenen Kindern in der Regel eine Sprachentwicklung, die sie in den erlangten Fähigkeiten der Spracherkennung, des Verstehens und des Sprechens kaum von anderen Kindern unterscheidet. 40 Wenn medizinisch vertretbar, werden die Kinder während einer Operation beidseitig versorgt.41 34 Universitätsklinikum Frankfurt http://www.kgu.de/fachkliniken/klinik-fuer-hals-nasenohrenheilkunde/hals-nasen-ohrenheilkunde/unsere-klinik-stellt-sich-vor/klinischesspektrum/cochlea-implantat.html 35 http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdf - die Leitlinie ist 05/2012 erstellt worden und wird geplant 2017 überprüft. © Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-OhrenHeilkunde, Kopf-und Hals-Chirurgie e. V.Autorisiert für elektronische Publikation: AWMF online 36 ww.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdf 37 38 http://www.schwerhoerigen-netz.de/MAIN/ratg.asp?inhalt=COCHLEA/uebersicht http://www.schwerhoerigen-netz.de/MAIN/ratg.asp?inhalt=COCHLEA/uebersicht 39 40 Universitätsklinikum Frankfurt http://www.kgu.de/fachkliniken/klinik-fuer-hals-nasenohrenheilkunde/hals-nasen-ohrenheilkunde/unsere-klinik-stellt-sich-vor/klinischesspektrum/cochlea-implantat.html 41 Universtitätsklinikum Frankfurt http://www.kgu.de/fachkliniken/klinik-fuer-hals-nasenohrenheilkunde/hals-nasen-ohrenheilkunde/unsere-klinik-stellt-sich-vor/klinischesspektrum/cochlea-implantat.html Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 13 3.2 Notwendige Nachbehandlung nach der Implantation bei Kindern vor dem Spracherwerb Ei e der ga z ese tli he Ko trai dikatio e ist ei e „nicht sichergestellte postoperative Rehabilitation bzw. Nachsorge . 42 De diese uss de Patie te s. o. „im Rahmen einer kontinuierlichen Versorgung angeboten werden, solange das Implantat genutzt wird. 43 Das bedeutet für das Kind nach heutigem Stand der Forschung eine lebenslange Nachsorge. „Insgesamt handelt es sich bei der Versorgung mit Cochlea-Implantaten um eine multidisziplinäre Vorgehensweise, die in Zentren mit entsprechenden Fa hko pete ze du hzufüh e ist. 44 Für die Kinder gelten einige Besonderheiten: „Nach einer Cochlea Implantation ist es ein wesentliches Ziel, das Hören als integralen Bestandteil im Leben des Kindes zu verankern und seine kommunikativen und sprachlichen Fähigkeite zu e t i kel u d stä dig ü e Jah e zu e esse . Dazu gehört eine „intensive Einbeziehung der Eltern und Bezugspersonen sowie der Pädagogen der Fördereinrichtungen in die The apie . 45 3.3 Risiken Gerade46 im Fall einer Gehörlosigkeit bzw. schweren oder hochgradigen Hörbehinderung spielen gesellschaftliche und psychologische Faktoren eine große Rolle. In diesem Fall entscheiden die Eltern über die auszuführende Implantation, ohne das Kind dazu befragen zu können. Die Möglichkeiten, die sich durch ein Cochlea-Implantat ergeben, erwecken in den betroffenen Eltern die Hoff u g, die „Behinderung ihres Kindes technisch lösen zu können .47 Auch bei bester medizinischer Therapie und Nachversorgung kann es neben einem Erfolg auch zu einem nur unbefriedigenden Ergebnis kommen oder aber zu einer Ablehnung des Implantats seitens des Kindes.48 Man darf nicht vergessen, dass 42 weitere Kontraindikationen: Fehlende Cochlea oder fehlender Hörnerv, fehlende Rehabilitationsfähigkeit, z. B. bei multipler Behinderung, Zentrale Taubheit mit Funktionsstörungen im Bereich der zentralen Hörbahnen. ww.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdf S. 12 43 ww.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdf S. 15 44 ww.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdf S. 15 45 ww.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017071l_S2k_Cochlea_Implant_Versorgung_2012-05_01.pdf S. 17 zur detaillierten Beschreibung siehe dort. 46 Zu medizinischen Risiken siehe http://www.kestner.de/n/elternhilfe/verschiedenes/ci-risiken.htm 47 Karin Kestner: Gebärdensprachdolmetscherin, Gebärdensprachlehrerin http://www.kestner.de/n/elternhilfe/elternhilfe-ersteschritte.htm 48 ebenda Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 14 durch das Cochlea-Implantat das Kind gegebenenfalls fast so leben kann wie ein Kind ohne die Behinderung der Gehörlosigkeit, aber es kann niemals identische Hörfähigkeiten mit einer nicht gehörlosen Person erreichen. Mit anderen Worten: Sie wird niemals eine nichtgehörlose Person. Die Frage nach der Qualität der phänomenologischen Wahrnehmung kann in diesem Fall nicht beantwortet werden, weil den Kindern die Vergleichsmöglichkeit im Gegensatz zu jenen Behinderten, die vorher hören und sprechen konnten, nicht gegeben ist. Personen die vor der Implantation hören konnten, können die nun gehörten Geräusche an die bereits vorher eka te „a koppel , sie e tspre he d i terpretiere . Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Eltern über den erreichten Erfolg enttäuscht sind. Die Gefahr ist somit auch gegeben, dass von dem Kind eine vollständige Zugehörigkeit zu der hörenden Mehrheit der Gesellschaft erwartet wird, es sich selbst aber vielleicht gar nicht mit dieser identifizieren will oder kann. Die Höreindrücke des implantierten Kindes (wie auch aller anderen Implantierten) sind niemals identisch mit denen eines hörenden Menschen. Die Verwendung von Gebärdensprachen, seit 2002 auch in Deutschland eine anerkannte eigenständige Sprache49, wird Kindern mit CochleaImplantat in der Regel verboten, die Lautsprache hat absolute Priorität in der Erziehung der Kinder. Die Möglichkeit einer späteren Kommunikation mit Personen der Gehörlosengemeinschaft ist damit für die Zukunft wenn auch nicht völlig ausgeschlossen so doch sehr erschwert, und nicht Teil des medizinischen Rehabilitations-Plans. „Viele Teenager legen deshalb das Cochlea-Implantat nach Jahren des Tragens wieder ab und versuchen sich in die Gesellschaft der Gehö lose zu i teg ie e . 50 Als was kann in diesem Sinne diese Form der Gehörlosigkeit interpretiert werden, wenn sie einerseits als zu kurierende Dysfunktion und andererseits als frei gewähltes Anderssein zu betrachten ist, die sich in einer eigenen Kultur manifestieren kann?51 4 Behinderung – eine zu kurierende Dysfunktion oder ein schützenswertes Anderssein 49 Es ist nicht genau bekannt, wie viele Gebärdensprachen es weltweit gibt, 2013 ging die Zeitschrift Ethnologue von 137 aus 50 http://www.kestner.de/n/elternhilfe/verschiedenes/ci-risiken.htm 51 Zum Thema Gehörlosenkultur siehe http://www.gehoerlosenbund.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1737%3Ageho erlosenkultur&catid=104%3Agehoerlosenkultur&Itemid=150&lang=de Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 15 4.1 Gehörlosigkeit als Begriff eines zu verändernden Zustands Ob und in wie fern Gehörlosigkeit bzw. stark ausgeprägte Schwerhörigkeit auf Grund einer Störung der Cochlea im Sinne eines kurativen Handelns als Krankheit zu bezeichnen ist, gilt es im Folgenden zu prüfen. Schon in den vorangehenden Abschnitten zur Indikation wurde zwischen einer Gehörlosigkeit vor dem Spracherwerb und derjenigen nach dem Spracherwerb unterschieden. Dieser Zugang wurde gewählt, weil einer Person nach dem Spracherwerb der Mangel, der Wegfall der Fähigkeit des Hörens als solcher auffällt und geschildert werden kann. Die empfundene Störung lässt sich objektiv mithilfe medizinischtechnischer Geräte feststellen, der Befund liegt, unabhängig davon, wie der Patient diese Störung selbst beurteilt, aussagekräftig vor. Der Begriff der Gehörlosigkeit ist demzufolge als deskriptiver Begriff geeignet, das Faktische, das diesem Zustand anhaftet, zu kennzeichnen und zu charakterisieren. 52 Nicht geklärt ist dadurch aber, ob es sich dabei tatsächlich um einen Zustand der Krankheit handelt bzw. was das eigentlich bedeutet. Der Krankheitsbegriff nimmt als deontologischer Begriff zugleich eine Wertung vor, denn „alle Krankheiten gelten als Sachverhalte oder als Prozesse, von de e a ü e zeugt ist, dass sie eige tli h i ht sei solle . … Wi d jemand mit Hilfe dieses Begriffs als krank eingestuft, so wird ihm attestiert, dass er sich in einer Situation befindet, die nicht sein soll, also in einer Situation, die zu ändern nicht nur gerechtfertigt ist, sondern die eine Veränderung, sofern sie überhaupt möglich ist, sogar verlangt. 53 Handelt es sich bei der Gehörlosigkeit nach dem Spracherwerb aber tatsächlich um eine Krankheit, deren Beseitigung durch das Handeln des Arztes legitimierbar sein könnte? Denn welche Norm liegt der Betrachtung zugrunde? Sieht man Krankheit als einen natürlichen Vorgang an, dann wäre Gehörlosigkeit zunächst einmal auch die Folge eines natürlichen Vorgangs, und damit ein Ergebnis, ein Folgezustand. Und wie dieser Folgezustand betrachtet wird, das hängt nicht nur vom Faktischen des medizinphysikalisch technisch Beobachtbaren ab, sondern in erster Linie auch davon, wie der Betroffene selbst den Zustand charakterisiert.54 Tatsächlich greift bei Eintritt der Gehörlosigkeit aus gesellschaftlicher Sicht das Gleichstellungsgesetz für Behinderte. Das allein weist schon darauf hin, dass der Zustand auch bzw. 52 Vergl Wolfgang Wieland: Thesen zum Krankheitsbegriff in Der Begriff der Krankheit Fernuniversität Hagen, 2000, S. 21 53 Vergl und siehe ebenda. 54 Vergl auch ebenda S. 26 f. Auf Fragen fehlender Krankheitseinsicht, als typisches Symptom psychischer Erkrankungen kann hier nicht eingegangen werden. Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 16 möglicherweise nur als eine Behinderung, mit der zu leben ist, begriffen werden kann. Somit wäre der Zustand ein Zustand der gesellschaftlichen Normalität, der Normalität der Behinderung. Erst wenn im Sinne der oben beschriebenen Indikation es zu einer gemeinschaftlichen Feststellung zwischen Arzt und Patient kommt, dass der Zustand in irgendeiner Weise einer möglichen Veränderung hin zum vorhergehenden Zustand des Hörenden bedarf, kann von einem Zustand, der nach medizinischen Maßnahmen verlangt, gesprochen werden. Diese Maßnahmen können nämlich nicht auf der Basis des einseitigen Wunsches des Patienten nach „Wiederherstellu g u d da it als Forderung an seinen Arzt zustande kommen, genauso wenig als gesellschaftliche Forderung an den Patienten durch den Arzt, sondern nur als ein wechselseitiges Fordern und Sich-Verpflichten zu einem gemeinsamen und gemeinschaftlichen Handeln von Arzt und Patient zum Ziel der Überwindung des unerwünschten Zustands. „Wer eine Rolle, im vorliegenden Fall die Rolle des Kranken übernimmt, kann damit rechnen, dass ihm bestimmte Ressourcen zugeteilt werden, über deren Allokation ein Gemeinwesen zu entscheiden hat. Er darf bestimmte Rechte in Anspruch nehmen, zugleich wird er aber auch mit Pflichten belastet. 55 Die Kosten und technischen Nachfolgekosten für ein Cochlea-Implantat werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen56, auf der anderen Seite steht die Gesellschaft zu ihren Verpflichtungen, die sich aus dem Deutschen Sozialgesetzbuch ergeben. Aus Sicht der staatlichen Fürsorge besteht keine Notwendigkeit für den Betroffenen, sich der Implantation zu unterziehen, er kann auch den anderen Weg wählen und seinen neuen Zustand als seinen Normalzustand akzeptieren. „Das evaluative Moment liegt in der Subjekthaftigkeit der Krankheit, die auf eine Normativität verweist, die besagt, dass es sich um einen Zustand handelt, den der Betroffene nicht will, der nicht sein soll und der Ausgangspunkt des Hilfesuchens und der sozialen Erwartung ist. 57 Der Betroffene muss aber trotz aller Möglichkeiten einer Tatsache i s Auge sehe : Dur h das „Ni ht-mehr-Hören-Kö e ist ei e Irreversibilität eines Prozesses Normalzustand geworden, der ihn von einem Kranken zu einem Behinderten macht. Diese Behinderung ist die Folge einer Krankheit bzw. eines krankhaften Prozesses, der bzw. dem nichts entgegengesetzt werden konnte. Dieser Prozess ist nicht umkehrbar, der Zustand kann nicht rückgängig gemacht werden. So ist die Maßnahme, die Arzt und Patient vereinbaren können, kein Weg der Heilung einer Krankheit, 55 ebenda S. 32 http://dcig.de/service/fragen-und-antworten.html 57 Dirk Lanzerath: Krankheit und der kranke Mensch, in Fernuniversität Hagen, 2000, S. 91, der dort auf K.E. Rothschuh verweist. 56 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 17 der Umkehrung eines krankhaften Prozesses, sondern der Weg einer neuro-technischen Überbrückung eines Zustandes der Behinderung. Der Patient bedarf nach heutigem Stand der Wissenschaft mit dieser Überbrückung der lebenslangen ärztlichen Begleitung und Betreuung, das neuro-technische Implantat der lebenslangen technischen Wartung. Als Behinderter ohne Überbrückung bedarf er der lebenslangen Unterstützung als Behinderter. Die Betroffenen können im Sinne ihrer Autonomie frei darüber entscheiden, wie sie ihr künftiges Leben gestalten wollen. 4.2 Der Gehörlose im Spannungsfeld zwischen Normalität und Norm Es „… sind die Verknüpfung von Menschenwürde und Freiheit sowie der Gedanke, dass der Mensch von seiner Vernunft eigenverantwortlich Gebrauch machen kann und soll, in unserer Kultur in mehrfacher Hinsicht verwurzelt: theologisch, philosophisch und in der Moderne ebenfalls verfassungsrechtlich. Aus der normativen Logik des Rechts auf Freiheit und Selbstbestimmung heraus sind nun die Konsequenzen 58 zu betrachten, mit denen der von der Gehörlosigkeit nach seinem Spracherwerb betroffene seine Entscheidung zu fällen hat. Er kann sich der kulturellen Gemeinschaft der Gehörlosen anschließen, die Gebärdensprache als Zweitsprache erlernen und sich damit ein Stück von der Kultur seiner Erstsozialisation entfernen. Die oben genannte verfassungsrechtliche Verankerung bedeutet, dass Dritte über diese E ts heidu g, o ei „Gehörlos-“ei als Nor alität a zusehe ist, kei e „Defi itio s a ht esitze .59 Die Entscheidung, die der Betroffene fällt, ob er also einer Überbrückung seiner Gehörlosigkeit zustimmt und in seine ursprüngliche Kultur zurückkehrt oder ob er sich der Kultur der Gehörlosen anschließt, muss sich im Rahmen seiner Selbstbestimmung als Manifestation seiner Autonomie an seinem persönlichen Wertehorizont messen. 60 „Dasjenige, was Dritte für eine Abweichung oder Behinderung halten, wird von Betroffenen oftmals als normal und alltäglich akzeptabel erachtet. 61 Daraus ergibt sich die Fragestellung, wie Verantwortliche (zumeist 58 Hartmut Kreß: Medizinische Ethik, W. Kohlhammer GmbH Stuttgart, 2009, S. 75 (Die zitierten einleitenden Worte beziehen sich an dieser Stelle zwar auf die folgende Analyse der prädiktiven Medizin, passen aber meiner Ansicht nach auch in diesen Zusammenhang. 59 Begriff von Hartmut Kreß, vergl. ebenda S. 76 60 Vergl. ebenda S. 76 61 Ebenda S. 77 mit Verweis auf Wolfram Henn: Das Trugbild vom normalen Menschen. Der Wandel des Krankheitsbegriffs im Zeitalter der Genomanalyse, S. 174, 175 in: Dominik Groß (ed):Zwischen Theorie und Praxis: Traditionelle und aktuelle Fragen zur Ethik in der Medizin, Würzburg 2000, 167–181 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 18 Eltern) und Ärzte mit der Entscheidung für oder gegen ein möglicherweise zu implantierendes Cochlea-Implantat umgehen können. Die betroffenen Säuglinge und Kleinkinder unterscheiden sich von jenen Gehörlosen, die nach dem Spracherwerb gehörlos geworden, grundsätzlich: Sie verfügen nicht über die Fähigkeit des Hörens im eigentlichen Sinne und können weder ein Hörverstehen noch einen Spracherwerb über das Hören entwickeln. 4.3 Gerhörlosigkeit als Zugehörigkeitskriterium zu einer ethnischen Gruppe „Culture is defined as the ideas, customs, skills, and arts of a given people in a given period. A common language is generally accepted as necessary to share these aspects of culture. The Deaf culture is a group of individuals, generally born deaf, and who communicate with American Sign Language (ASL). The Deaf culture is both defined and bound by their deafness and their language. Members of this Deaf community regard themselves, their identity, and their i te p etatio of the o ld as the o . 62 Infolgedessen betrachten viele der Gehörlosenkultur Angehörende die Implantierung der künstlichen Cochlea als einen diskriminierenden Übergriff, einen Akt gegen die Persönlichkeit des Kindes. „The ethical conflict considered here arises when an attempt is made to change the center of an incompetent infant from one cultural group to another cultural group. 63 Die Verantwortlichen stehen vor der Frage, ob sie mithilfe eines Cochlea-Implantats das Kind aus jener Gruppe herausreißen, aus der ihm angeborenen Normalität herauslösen zugunsten einer Normalität der Eltern und ihrer eigenen Sozialisation. Da das Kind seine Selbstbestimmung aufgrund seines Alters aber auch aufgrund der mangelnden Erfahrung – es kann auch nach seinen kindlichen Maßstäben kein positives oder negatives Signal geben, da es in keiner Weise Zugang zu der anderen Welt hat – nicht manifestieren kann, ist die Entscheidung hierüber von Verantwortlichen der hörenden Welt zu fällen. „Consent is a powerful moral warrant. Informed consent, however requires cognitive capacities, such as the ability to be conscious of oneself as existing over time, the ability to appreciate reasons for or against acting, and the ability to engage in purposive action. 64 The decision may pit two principle-based ethics, auto o y o e fo the pa e t s ight to de ide a out atte s of thei hild e a d e efi e e o e fo the hild s uality of 62 Glenn Hladek (University of Montana): Cochlear implants, The Deaf Culture, And Ethics, Ohio University, The Institute of Applied and Pressional Ethics, posted on July 27, 2009, http://www.ohio.edu/ethics/2001conferences/cochlear-implants-the-deaf-culture-and-ethics/index.html , S. 1 von 4 63 Vergl. und siehe ebenda, S.2 von 4 64 ebenda Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 19 life). 65 In ihrer Untersuchung „Ge eti Dile as a d the Child s right to an Open Future setzt sich Dena S. Davis mit dieser Frage auseinander: Wo endet das Recht der Eltern wo fängt die Verletzung der Autonomie des zukünftigen Erwachsenen an. Die Frage könnte man auch mit anderen Worten stellen: Wo liegt die Grenze der elterlichen Fürsorgepflicht und an welchem Punkt laufen die Eltern Gefahr, das ihnen anvertraute Kind als Mittel zum Zweck ihrer eigenen Ziele zu benutzen. Entschieden werden muss immer im Sinne des Kindes, des zukünftigen Erwachsenen, und unter der Prämisse der Autonomie dieses zukünftigen Erwachsenen.66 In der Tat darf man dabei aber nicht übersehen, dass Gehörlosigkeit eine gravierende Behinderung ist, sonst wären Gehörlose nicht als Schwerbehinderte im Behindertenschutzgesetz ausdrücklich berücksichtigt und wären sie nicht im Behindertengleichstellungsgesetz berücksichtigt. Man darf auch nicht übersehen, dass hörende Eltern eines gehörlosen Kindes nicht Teil der Gehörlosenkultur sind und daher ihr Kind auch nicht als Teil dieser Gehörlosenkultur erziehen können oder nur unter großen Erschwernissen.67 5 Cochlea-Implantate im Rahmen einer ethischen Analyse 5.1 Ist das kurative Ziel rechtfertigungsfähig Die Unterscheidung zwischen Betroffenen, die vor ihrem Spracherwerb gehörlos geworden sind, und jenen, die nach dem Spracherwerb unter der Behinderung zu leiden haben, soll hier beibehalten werden. Wie in den Abschnitten 2 und 4 gezeigt, handelt es sich bei der aufgrund eines krankhaften Prozesses oder eines Unfalls erlittenen Gehörlosigkeit nach dem Spracherwerb um einen Einschnitt, der das Leben der Person zweifelsfrei grundlegend verändert. Der Person ist es in der Regel nicht mehr möglich, ihr bisheriges Leben in der gewohnten Form fortzusetzen. Ihr Wunsch nach Wiedereingliederung durch eine Therapie, ist durchaus rechtfertigungsfähig. Die Therapie fordert nichts von der Gesellschaft, das nicht im Rahmen ihrer Leistungen nicht 65 Ebenda S.2 von 4 Vergl. Dena S. Davis: Genetic Dilemmas and the Child s ‘ight to a Ope Future, Cleveland State University http://engagedscholarship.csuohio.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1402& context=fac_articles 1997, S. 570 ff. behandelt die Frage dieser Beziehung gehörlose Eltern, hörende Kinder und umgekehrt. 67 Verl. Ebenda S. 573f. 66 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 20 vorgesehen ist. Im Gegenteil, die Maßnahme ist eine der beiden Möglichkeiten, die die Gesellschaft dem Betroffenen anbietet: Therapeutische Maßnahmen durch ein neurotechnologisches Implantat in Verbindung mit lebenslanger rehabilitierender und technischer Betreuung stehen den Kompensationen und Unterstützungen gegenüber, die Gehörlosen im Rahmen der Behindertengesetze zustehen. Das Ziel ist aber nur dann rechtfertigungsfähig, wenn es vom Betroffenen ausgeht: Und zwar nicht als logisch notwendige Folgerung aus dem Tatbestand der Gehörlosigkeit heraus, sondern aus dem Wunsch und Bedürfnis der Person heraus, das seiner Persönlichkeit entsprechende Leben eines Hörenden weiterhin zu führen, wenn ihm dies im Rahmen zulässiger Eingriffe möglich ist. Etwas schwieriger stellt sich die Frage bei Säuglingen und Kleinkindern dar, die noch vor dem Spracherwerb stehen. Das Problem, ob das gehörlose Kind durch den Wunsch der Eltern nicht von seiner eigentlich ethnischen Gruppe getrennt werde, kann sich zu der Frage, ob die Therapie mithilfe eines Cochlea-Implantats nicht den Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind unterstütze und damit das Kind über die gewählte Therapie zu einem Mittel zum Zweck werde, zuspitzen. Die oben beschriebene Einschränkung, dass ein Kind, das ein Colchea-Implantat hat, die Gehörlosen-GebärdenSprache nicht erlernen darf, scheint diesen Gedanken zu unterstützen.68 Hier kommt die Tatsache zum Tragen, dass das Cochlea-Implantat zwar eine therapeutische Maßnahme ist, aber keine kurative Maßnahme im engsten Sinne: Sie überbrückt die Gehörlosigkeit, aber sie macht aus einem gehörlosen Kind kein nicht-gehörloses Kind. Somit ist der Entscheidung des zukünftigen Erwachsenen, welcher Kultur er sich als Person zugehörig fühlen möchte, nicht letztgültig vorzugreifen69. Die Zielsetzung wäre demnach unter dem Aspekt der Autonomie des zukünftigen Erwachsenen nur dann rechtfertigungsfähig, wenn der Zugang zur Gehörlosenkultur nicht abgeschnitten sondern zeitgleich mit der therapeutischen Maßnahme des Cochlea-Implantats geebnet 68 Eine Einschränkung,deren therapeutische Zielsetzung nicht so ganz einleuchten kann, da hörende Kinder von gehörlosen Eltern mit beiden Sprachen keinerlei Probleme haben. Sie wachsen mit entsprechendem Kontakt zu hörenden Menschen bilingual auf. Vergl. u. a. http://www.progs-ev.de/mogis/index.php/coda-was-ist-das Es scheint sogar so zu sein, dass Kleinkinder schneller in der Gebärdensprache ko u iziere kö e , als i der „Lautspra he , ei U sta d, der u therapeutisch auch bei geistigen Behinderungen, z. B. Trisomie 21, genutzt wird. Vergl. u.a. http://www.kinderaerzte-im-netz.de/krankheiten/downsyndrom-trisomie-21/fruehfoerderung/ 69 Auf diese Problematik weist auch die Tatsache hin, dass sich Teenager oftmals plötzlich der anderen Kultur zuwenden möchten. Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 21 würde. Ein solches Ebnen wäre das Erlernen der Gehörlosengebärdensprache und ein möglicher Kontakt zu Gehörlosen, zur Gehörlosenkultur. Dies wäre ein Plädoyer für eine andere Form der Mehrsprachigkeit. 70 Unter diesen Prämissen wäre eine Therapie mithilfe eines Cochlea-Implantats rechtfertigungsfähig. Voraussetzung dafür ist eine Argumentation und Abwägung der Argumente im Hinblick auf den zukünftigen Erwachsenen und nicht im Hinblick auf die Wünsche der Eltern. 71 Hier gilt das „“orge-für-das Wohlergehen-des-Kindes-Trage i Hinblick auf den zukünftigen Erwachsenen. Gerät dies bei den Entscheidungen der Eltern aus dem Blick, laufen sie Gefahr, das Kind und den zukünftigen Erwachsenen in seiner Autonomie einzuschränken. Wird dem entsprochen, kann der Betroffene als Erwachsener frei darüber entscheiden, welcher Kultur er sich letztlich zugehörig fühlt bzw. ob er sich in beiden Kulturen bewegen möchte. 5.2 Ist das gewählte Mittel rechtfertigungsfähig Artikuliert eine Person den Wunsch, die Behinderung der Gehörlosigkeit nach erfolgtem Spracherwerb zu überbrücken, kommen der Betroffene und die behandelnden Ärzte daraufhin zu dem Schluss, dass ein Cochlea-Implantat eine gute Lösung sei und verpflichtet sich der Betroffene darüber hinaus, sich sein weiteres Leben lang den vorgeschriebenen Nachsorgen zu unterwerfen, dann spricht nichts gegen diese Maßnahme. Folgt die medizinische Maßnahme den Voraussetzungen, die ein aufgeklärter Patient mit seiner Zustimmung und die Befolgung eines medizinischen Qualitätsleitfadens sind, dann spricht nichts gegen die Verwendung eines Cochlea-Implantats. Dem Betroffenen muss deutlich gemacht worden sein, dass es sich beim Cochlea-Implantat um ein neurotechnologisches Produkt handelt, das zumindest zum Teil in seinen Körper eingebaut wird. Kann sich eine Person dies für sich nicht vorstellen, ist auf diese Form der Therapie zu verzichten. 70 Da hörende Kinder von gehörlosen Eltern schon mit einigen Monaten die Gehörlosengebärdensprache erlernen können und ohne Problem die gesprochene Sprache, spricht kein Argument dagegen, warum es nicht auch mit Kindern möglich wäre, die ein Cochlea-Implantat tragen. 71 Die Forderung von Gehörlosenverbänden, dass jedes gehörlos geborene Kind ein Mitglied ihrer Gemeinschaft wäre und – in extremen Positionen gefordert – sogar von seiner hörenden Familie getrennt und in der Gemeinschaft der Gehörlosenkultur erzogen werden müsste, verletzt ebenfalls die Forderung, dass ein anderer Mensch nicht bloß zum Mittel zum Zweck werden dürfe. Die Gehörlosenkultur muss sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sie möglicherweise verschwinden, sich auflösen wird, wenn die neurologische Technik so weit fortentwickelt, dass jeder ein „Höre der erde ka . Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 22 Ob die Therapieform für gehörlose Säuglinge und Kleinkinder rechtfertigungsfähig ist, stellt andere Anforderungen an die Untersuchung und lässt sich vielleicht gar nicht eindeutig und abschließend beantworten. Die Notwendigkeit einer lebenslang andauernden Nachsorge und Rehabilitation ist auch ein Aspekt, der einem nicht einwilligungsfähigen Patienten möglicherweise nicht zugemutet werden kann. Dem zukünftigen Erwachsenen wird diese lebenslange Therapie zunächst einmal auferlegt, auch wenn er sie als Erwachsener natürlich abbrechen kann. Wird die Gehörlosigkeit aber nicht überbrückt, steht dem zukünftigen Erwachsenen die Kultur der Hörenden nicht mehr offen: Eine Therapie durch ein Cochlea-Implantat ist dann nicht mehr möglich. Man sollte deshalb in den Gesprächen zur Entscheidungsfindung die Optionen, die es für ein gehörloses Kind neben dem Cochlea-Implantat gibt, offen einbeziehen und sehen, wie und in welcher Form man zweigleisig verfahren kann: Sollte sich der zukünftige Erwachsene gegen das Implantat entscheiden, müssen ihm nicht nur therapeutisch, das heißt, eine bezahlte Entfernung des Implantats, sondern auch eine Eingliederung in die Gehörlosenkultur geebnet werden, auch wenn die Vorbereitung dazu neben dem Cochlea-Implantat und intensive therapeutische Nachsorge weitere Kosten mit sich bringt. Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt bei der Entscheidung in Sorge für das Kind im Hinblick auf den späteren Erwachsenen, ist, dass die Hörenden davon ausgehen, dass die Überbrückung gelungen ist, wenn die Kommunikation mit dem Kind und damit die Sozialisation des Kindes einen z. B. in der Schule problemlosen Verlauf nimmt. Das Kind sich also sozialisieren lässt, wie ein hörendes Kind. «Wenn alle tauben Kinder rechtzeitig ein Implantat eingesetzt bekämen, müsste es in Zukunft keine tauben Kinder mehr geben.» Janek war anderthalb Jahre alt, als er von Lenarz operiert wurde. Jährlich setzt der Mediziner rund 140 Kindern das Gerät ein. «Je eher man die Kinder operiert, desto größer sind ihre Chancen hören und sprechen zu lernen.» Janek hörte das erste Mal nach zwei Monaten auf seinen Namen. «Als er anfing, die ersten Worte zu sprechen, da waren wir einfach nur noch glücklich», erinnert sich seine Mutter. Heute ist Janek 8 Jahre alt und besucht die 2. Klasse einer ganz normalen Schule. Er spricht vollkommen normal, hat viele Freunde und singt gerne. Ein Leben ohne das Implantat ist für ihn nicht mehr vorstellbar: «Ich trag' das fast immer. Auch nachts.»72 Nichtsdestotrotz bleibt die Frage bestehen, ob oder wie sich die Frage der sich gegenüberstehenden Kulturen darstellt. 72 http://www.wissenschaft.de/home//journal_content/56/12054/1185542/ Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 23 5.3 Folgen im Spannungsfeld zweier Kulturen Geht man davon aus, dass es die Kultur der Hörenden gibt 73 und die Kultur der Gehörlosen, so gilt für beide, dass sich aus der Situation ihrer Kulturen heraus kei „“olle des “ei s e t i kel darf. Spricht man von der Rechtfertigungsfähigkeit des CochleaImplantats sowohl in der Zielsetzung als auch der gewählten Therapie, darf diese Möglichkeit nicht zu einem Muss werden. Für jeden Gehörlosen, auf den es zutrifft, dass seine Gehörlosigkeit durch ein Cochlea-Implantat überbrückt werden kann, gilt das Recht, diese Therapie ohne Rechtfertigungspflicht abzulehnen. Es gehört zu seiner Manifestation von Selbstbestimmung, sich zu entscheiden, ob er eine Überbrückung seiner Gehörlosigkeit durch ein Cochlea-Implantat wünscht oder nicht. Seine Entscheidung fällt der Betroffene im Rahmen seiner eigenen Werte und seiner Vorstellungen von einem erfüllten Leben. Es ist seine Entscheidung, welcher der beiden Kulturen er sich zugehörig fühlen möchte. Eine Bewertung durch Dritte, selbst unter dem Aspekt, dass das CochleaImplantat der Gesellschaft möglicherweise weniger Kosten aufbürdet als die Teilhabe in der Gehörlosenkultur, ist nicht zulässig. Die medizinische Indikation darf nicht zu einer Forderung an den Betroffenen werden.74 Zumal berechtigterweise auch kritisiert wird, dass Testverfahren an Gehörlosen und gehörlosen Kindern immer unter der Prämisse des Hören-Könnens als Standard ausgeführt werden.75 Genauso wenig darf von Seiten der Gehörlosenverbände die Forderung kommen, dass wer gehörlos geboren wurde, der Gehörlosenkultur zugehörig ist und das Ebnen eines Weges zum Eintritt in die andere Kultur nicht zulässig sei. Selbst unter der Gefahr, dass die Gehörlosenkultur vom „Ausster e edroht sei, darf i ht i Hinblick auf den Erhalt der 73 In den USA geht man davon aus, dass dies 99,9965% der Bevölkerung ausmacht, demgegenüber gibt es 700 000 Gehörlose vergl. Glenn Hladek (University of Montana): Cochlear implants, The Deaf Culture, And Ethics, Ohio University, The Institute of Applied and Pressional Ethics, posted on July 27, 2009, http://www.ohio.edu/ethics/2001-conferences/cochlearimplants-the-deaf-culture-and-ethics/index.html , S. 3 von 4; vergl. Auch http://www.dallasear.com/cochlear-implant-testimonials.html 74 Vergl. Argumente, warum eine Person ein Cochlea-Implanat ablehnt, trotz guter Prognose https://notquitelikebeethoven.wordpress.com/2009/11/02/warum-ichkein-cochlea-implantat-haben-will/ 75 Vegl. Anja Gutjahr: Qualitative Interviews von Menschen mit einer (Hör)Behinderung, PH Heidelberg SS 2007, http://www01.phheidelberg.de/wp/hinterma/seminare/LA_Anja_Gutjahr/BlockJuli07.pdf, S. 14 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 24 Kultur ein Sollen ausgehen. 76 „The Deaf Cultu e s o e ega di g ethnocide appears particularly morally problematic: each deaf child is o side ed a ea s to the ultu e s e ds, the su i al of the ultu e, a d ot the hild s own end. Thus, the deaf child exists to fulfill the ultu e s hopes a d d ea s, ot e essa ily the hild s hopes and dreams. If all deaf-born infants are implanted and choose the hearing world, then it will be the demise of a culture. However, the autonomy of the individual ethically trumps the autonomy of the group. 77 Dem Kind, dem ein Cochlea-Implantat den Zugang zur Welt der Hörenden ermöglicht und dem auch die Kultur der Gehörlosen nahegebracht wurde, durch Kontakt mit der Kultur und durch Erlernen der Gehörlosen-Gebärdensprache, dem steht es frei, zwischen den beiden Kulturen zu wählen oder sich zwischen beiden Kulturen zu bewegen. Diese Freiheit der Wahl steht den Kindern, die nur Teil der Gehörlosenkultur sind, nicht offen. In diesem Sinne ist die Option eines Cochlea-Implantats immer rechtfertigungsfähig, auch wenn die Anwendung des Implantats langfristig zum Verschwinden der Gehörlosenkultur führen könnte. Zudem werden die von außen sichtbaren Teile eines CochleaImplantat-Systems immer kleiner, sodass ihre Träger in der Gesellschaft nicht mehr als solche erkannt werden: Eine Tatsache, die von Gehörlosenverbänden kritisch gesehen wird.78 Diese I pla tate a he die Gehörlose zu zu Teil „kü stli he Me s he , die si h or al u ter i ht „kü stli he e ege . 5.4 Folgen im Spannungsfeld zwischen „künstlichem normalen Hören“ und Transhumanismus Eine Erweiterung des Hörens durch ein Cochlea-Implantat wie in der erüh te a erika is he Fer sehserie „The Bionic Wo a beschrieben ist nicht möglich, die dort beschriebene Erweiterung des Hörens gehört der Utopie von Science-Fiction-Filmen an. 76 Glenn Hladek (University of Montana): Cochlear implants, The Deaf Culture, And Ethics, Ohio University, The Institute of Applied and Pressional Ethics, posted on July 27, 2009, http://www.ohio.edu/ethics/2001conferences/cochlear-implants-the-deaf-culture-and-ethics/index.html , S. 4 von 4 77 Ebenda 78 Verg. http://www.academia.edu/5216049/Das_Cochlear_Implantat_zwischen_N europrothetik_und_Human_Enhancement._Vortrag_gehalten_auf_der_Ko nferenz_%C3%9Cberwindung_der_K%C3%B6rperlichkeit._Historische_Pers pektiven_auf_den_k%C3%BCnstlichen_K%C3%B6rper._7._Aachener_Tag_d er_Wissenschaftsgeschichte_15.11.2013 Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 25 Aber, und das ist eine Tatsache, das Cochlea-Implantat hat die reine Funktion einer Hörprothese in zweierlei Hinsicht schon ü ers hritte : „So werden diverse Accessoires angeboten, die das Cochlea-Implantat kabellos mit einer Reihe von digitalen Geräten wie MP3-Playern, TV, Tablets etc. verbinden können. Insofern ist das Cochlea-Implantat – in ähnlicher Weise wie auch Hörgeräte – nicht mehr nur als ‚P othese zu e stehe , so de fügt si h als Life-StyleP odukt i de Disku s u das „hu a -e ha e e t ei . 79 Der Implantierte hat direkte Verbindung zu Hörinhalten, den ein NichtImplantierter durch Hilfsmittel erstellen muss.80 Mit diesem Schritt bietet das Cochlea-Implantat nicht nur eine Überbrückung vom Nicht-Hören zum Hören, sondern mithilfe der Programmierung und der entsprechenden Fernbedienung eine Erweiterung der Hörfunktionen. So berichtet der Betroffene Enno Park81 – Vorsitzender des Cyborg e. V.s –, dass zum Beispiel sein „Hörvermögen in der Nacht, wenn es für Hörende eigentlich still ist, mittels seines Cochlea-Implantats über das Hörvermögen eines gesunden nicht behinderten Menschen hinausgeht. Er kann bei entsprechender Einstellung seines Implantats Geräusche oder sogar auch Gespräche hören, mithören, die Nicht-Implantierten unzugänglich sind. Somit befindet sich der Implantierte auch heute schon in der Situation, nicht genauso und vielleicht nicht genauso gut zu hören, wie nicht hörbehinderte Menschen, auf der anderen Seite aber Dinge zu hören, die so für den hörenden nicht behinderten Menschen ohne Cochlea-Implantat nicht zugänglich si d. Dies ezügli h ü s ht er si h die Mögli hkeit, sei „Co hleaI pla tat so zu progra iere , ie er es möchte und mit den Funktionen, die er sich vorstellt, und nicht auf die Umsetzungen seiner Wünsche durch einen Techniker eingeschränkt zu sein. Er hält es zu Beispiel dur haus für ögli h, sei „Hörge iet auf Hörareale zu erweitern, die über die menschliche „ atürli he Gegebenheiten weit hinausgehen und zum Beispiel in den Hörbereich bestimmter Tiere reichen. Dass die Geräte nur von den Herstellern programmiert werden können, betrachtet Enno Park als 79 http://www.academia.edu/5216049/Das_Cochlear_Implantat_zwischen_N europrothetik_und_Human_Enhancement._Vortrag_gehalten_auf_der_Ko nferenz_%C3%9Cberwindung_der_K%C3%B6rperlichkeit._Historische_Pers pektiven_auf_den_k%C3%BCnstlichen_K%C3%B6rper._7._Aachener_Tag_d er_Wissenschaftsgeschichte_15.11.2013 80 Darauf verweist auch der 2010 das erste Mal vergebene Red dot award an ein Cochlea-Implantat-System: ein medizinisches Hilfsmittel wird zu einem modernen Design-Produkt. Vergl. http://www.devicemed.de/szene/articles/348012/ 81 Enno Park siehe http://cyborgs.cc/ und in der optimierte Mensch in Planet Wissen am 16.Januar und 26. Januar 2015 http://www.planetwissen.de/sendungen/2015/01/16_optimiertermensch.jsp Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 26 eine nicht tolerierbare Fremdbestimmung seitens der Industrie.82 Enno Park sieht sich als Cyborg, als erweiterter Mensch (enhanced human), und möchte sich in diesem Sinne auch selbstbestimmt verwalten und seine Grenzen der Erweiterung selbst ziehen. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus stellt sich die Frage, wo die Grenzen zu ziehen sind. Ist es für einen Menschen zulässig, seine „gege e e atürli he Fähigkeite i ht ur erhalte zu olle , so der zu „ü er atürli he Fähigkeite zu er eiter ? Vielleicht sogar dahingehend, dass das Tragen eines Cochlea-Implantats in Folge, um eine Gleichheit und Gleichberechtigung zu gewährleisten, allen Menschen offensteht oder sogar offenstehen muss? Die ethische Diskussion ist überfällig. Zumal, wie in der Einleitung angedeutet, die Frage nach militärischer, kriegsführender Einführung dieser Technologien nicht mehr als Science Fiction angesehen werden darf. 6 Schlussbetrachtung In der Einleitung wurde dargestellt, dass der medizinische Einsatz von Implantaten ein weites Netz an Fragen aufwirft. Anhand der ethischen Analyse der Rechtfertigungsfähigkeit der Verwendung von Cochlea-Implantaten lässt sich eindeutig nachweisen, dass eine generelle Betrachtung der Rechtfertigungsfähigkeit von medizinisch technischen Implantaten nicht möglich ist. Verschiedene Gruppen von Implantaten lassen sich wahrscheinlich nur durch unterschiedliche ethisch relevante Fragestellungen charakterisieren um dann als Mittel und abschließend in der Folgenanalyse im Hinblick auf ihre Legitimität kritisch betrachtet zu werden. In Zusammenhang mit dem Cochlea-Implantat lässt sich nachweisen, dass selbst die Rechtfertigungsfähigkeit der Verwendung des Implantats bei Kindern, die vor dem Spracherwerb von Gehörlosigkeit betroffen sind (3.1–3, 4.2, 3, 5.1, 2), sich in Einzelfragen anders darstellt, als bei Personen, die nach dem Spracherwerb von Gehörlosigkeit betroffen sind (2.1–4, 4.1– 3, 5.1, 2) Daraus folgt auch eine starke Abweichung in der Folgenanalyse im Spannungsverhältnis zwischen Krankheit/Behinderung und Norm. (5.3) Nicht leugnen lässt sich in Zusammenhang mit der Folgenanalyse die Tatsache, dass sich die Frage des Nor erstä d isses au h dahi gehe d stellt, ie it „hu a e ha e e t ithilfe eines medizinischen Einsatzes von Implantaten umgegangen werden muss. (5.4) Das Leben mit Implantaten _ Das Cochlea-Implantat _ Eine ethische Betrachtung © 2017 Nora Tahy Seite 27