Schockeffekte
Ulrich Koch
Schockeffekte
Eine historische Epistemologie
des Traumas
diaphanes
Die vorliegende Studie wurde im Frühjahrssemester 2012 auf Antrag
von Prof. Michael Hampe, Prof. Michael Hagner und Prof. Andreas Maercker
an der ETH Zürich als Dissertation angenommen.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur
Förderung der Wissenschaft (SNF) und der Professur für Philosophie der ETH Zürich
1. Auflage
ISBN 978-3-03734-660-0
© diaphanes, Zürich-Berlin 2014
www.diaphanes.net
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Nikolai Franke
Satz und Layout: 2edit, Zürich
Druck: Pustet, Regensburg
Inhalt
Einleitung
7
Teil I: Körper und Seele unter Schock
Einleitung in den ersten Teil
33
Kapitel 1: Trauma- und Schockmetaphorik
Metapher und Epistemologie
Metapher und Sinnkonstitution
41
45
54
Kapitel 2: Der Schock als Auslöser und akzidentelle Ursache
»There is no accident in madness«: Schock und Wahnsinn
Unfallpathologien: Der Schock des Eisenbahnunfalls
Innere und äußere Ursachen: Erlebnis und Ereignis
61
64
70
82
Kapitel 3: Der Schock als Medium der Beeinflussung
Actio et reactio
Überreizung und Reaktion
Der Schock als Therapeutikum
Der Schock und die Experimentalisierung der Hysterie
Der Schock als Grenzerfahrung
95
96
98
101
108
119
Kapitel 4: Der Schock als innere Verletzung
Verletzte Bewegungsvorstellungen
Verletzte Wortvorstellungen
Abgespaltene Erinnerungen
131
132
136
139
Teil II: Integration und Spaltung
Einleitung in den zweiten Teil
149
Kapitel 5: Hysterische Reaktionen
Protonormalistische Normalisierung der Hysterie
Flexibilisierungstendenzen
Hemmung, Symptom und geistige Verarbeitung
Optische Bewältigung
157
159
162
165
167
Kapitel 6: Beschädigung a priori
»Das Traumatische ist das Abstrakte«
179
179
Der undarstellbare Schock
Ästhetische Schocks
Fortschritt und Normalisierung
186
190
199
Kapitel 7: Experimentelle Neurosen
Traumatisierte Hunde
Von der Wahrnehmungs- zur Motivationskrise
205
205
217
Kapitel 8: Traumatischer Stress
Schock und Stress
Trauma und stress response
Schockbilder im Labor
Dynamisierte Adaptation und flexibilisierter Normalismus
235
235
246
251
258
Schluss
263
Literatur
283
Danksagung
301
Einleitung
Zu lange entzogen sich die Folgen traumatischer Erlebnisse auf die
menschliche Psyche unserer Kenntnis, unserem Blick – so will es die
verbreitete Geschichte der verspäteten Entdeckung posttraumatischer
Leiden durch die Psychiatrie und klinische Psychologie.1 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die verheerenden psychischen
Folgen von Gewalterlebnissen immer nur sporadisch und für zu kurze
Zeit überhaupt als solche wahrgenommen. Anders als die überwältigende Mehrheit ihrer Fachkollegen waren nur wenige engagierte Therapeuten gewillt, den Opfern von Gewalt Gehör und ihren Geschichten
Glauben zu schenken. Zu den Wegbereitern zählen Größen des Fachs
wie Jean-Martin Charcot, Sigmund Freud, Josef Breuer und Pierre
Janet sowie weniger bekannte Psychiater und Psychotherapeuten
wie W. H. R. Rivers, Abram Kardiner, Roy Grinker, John Spiegel und
Robert Jay Lifton. Ihre isolierten Vorstöße auf dem Gebiet der Traumatheorie und -behandlung – so die Geschichte weiter – fanden jedoch
kaum Gehör und waren, weil sie sich nicht auf eine soziale oder politische Bewegung stützen konnten, die ihren Forderungen Nachdruck
verlieh, letztlich zum Scheitern verurteilt. Das angesammelte Wissen
um die destruktive Potenz traumatischer Erlebnisse sei somit in regelmäßigen Abständen dem Vergessen, einer kollektiven Amnesie gewissermaßen, anheimgefallen. Nur mit ständigen Rückschlägen und über
Umwege – kommt diese Erzählung zum Schluss – habe sich daher eine
Erkenntnis durchgesetzt, die von Anfang an von der öffentlichen Meinung bekämpft und vom wissenschaftlichen Establishment in Zweifel
gezogen wurde.
Die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zu beobachtende Proliferation posttraumatischer Pathologien und traumatisierter Individuen verlangt nach einer anderen Geschichte, die eine andere Auseinandersetzung ermöglicht: der zurückgedrängten Geschichte des
Nichtverdrängten. Der Ausgangspunkt meiner Untersuchungen und
Antrieb für die vorliegende Arbeit war, die historischen Quellen, in
denen sich die Konturen eines Traumabegriffs abzeichnen, der Trauma
als ein überwältigendes Ereignis, als exzitatorischen Vorgang vorstellt –
im Gegensatz zu einem unverfügbaren Zwitterwesen aus Verdrängtem und Erinnertem –, in Hinblick auf die aktuelle, mancherorts bereits beklagte Trauma-Konjunktur neu zu befragen. Nicht die Quellen
eines verborgenen Traumas, jenes »pathogenen Geheimnisses«,2 sollen
1 Vgl. etwa Herman 1997, S. 7–32, sowie van der Kolk u.a. 1996.
2 Ellenberger 1966.
7
aufgestöbert werden, sondern diejenigen Modelle werden untersucht,
die ein traumatisches Ereignis als ein überwältigendes zur Darstellung
gebracht haben.
Das psychische Trauma gedacht als ein Zuviel an Reiz, ein Zuviel
an Erfahrung oder Realität, rückt somit ins Zentrum der hier erzählten
Geschichte und der daran anknüpfenden philosophischen Überlegungen; mehr als eine Geschichte des traumatischen Gedächtnisses behandelt sie eine Geschichte der traumatischen Wahrnehmung. Gerade weil
die traumatische Einwirkung auf Psyche und Körper als singulärer,
überwältigender Stoß oder Schlag, als Schock gedacht werden kann, so
die in den folgenden Kapiteln verfolgte These, wurde sie zu einer wiederkehrenden Modellvorstellung für eine an den Naturwissenschaften
und ihren experimentellen Methoden der Wissensproduktion orientierte Psychiatrie und klinische Psychologie. Der Schock, der mit einem
isolierbaren, experimentell reproduzierbaren Schlag assoziiert werden
kann, unterliegt mit den sich transformierenden medizinischen und
psychologischen Vorstellungen über Schockwirkungen zugleich einem
historischen Wandel. Dabei ist dessen metaphorische Übertragung von
physiologischen in psychiatrische Diskurse, die Loslösung des Schocks
vom Körperlichen, nur eine, wenn auch besonders folgenreiche Episode in dieser Entwicklung. Wie ich zeigen werde, ließ sich durch
den Rückgriff auf Metaphern wie diejenige des Schocks zum einen
eine »innere«, nicht materielle Verletzung innerhalb medizinischer Diskurse denken, zum anderen wurde damit zugleich ein äußerer Zugang
und therapeutischer Zugriff auf die »innere Bühne des Bewusstseins«
imaginiert. Der Schockbegriff war zu einem Zeitpunkt, als die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit persönlichen Schicksalen ihren
Anfang nahm, ein wichtiges Scharnier zwischen medizinischen und
psychologischen Denkgewohnheiten und Behandlungspraktiken. Als
solches verlieh er dem psychischen Trauma die Reputation einer
objektivierbaren Krankheitsursache, rückte es aber zugleich in anrüchige Nähe zu suggestiven Behandlungspraktiken. Mit der Herausbildung eigenständiger Methodologien geriet die Schockmetapher bei der
sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit erschütternden Lebensereignissen zusehends in den Hintergrund. Aufgegriffen und explizit
mit der Idee psychischer Traumatisierung in Verbindung gebracht
wurde die Schockmetapher nun von der Philosophie. Insofern sie für
deren sozial-, erkenntniskritische und ästhetische Projekte produktiv
gemacht wurde, nimmt die Schockmetapher das Schicksal des Traumabegriffs in einem wichtigen, häufig übergangenen Punkt vorweg: Ihrer
bedienten sich eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Psychiatrie
und deren Kritiker. – Der Schock war sowohl Medium der Beeinflussung als auch objektivierbares Zeichen einer inneren Beschädigung;
8
er stand sowohl für eine Diskontinuität im Lebensvollzug als auch für
die alltäglich gewordenen Erschütterungen in »beschleunigten«, spätkapitalistischen Gesellschaften. Viele der konzeptuellen Spannungen
und Widersprüche, mit denen der Begriff des Traumas heute behaftet
ist, lassen sich vor dem Hintergrund der Geschichte der Verwendungsweisen der Schockmetapher rekonstruieren und erhellen.
Die Wiederkehr des Verdrängten?
Im Mittelpunkt des zu Anfang zitierten Ursprungsmythos stehen die
sozialen Kämpfe um die Anerkennung einer nicht von der Hand zu
weisenden Einsicht – und nicht etwa die heroische Enthüllung einer
allgemeingültigen Erkenntnis. Mit ihrer Beförderung in den Rang wissenschaftlicher Tatsachen stand mehr auf dem Spiel als die richtige
Betrachtungsweise des Phänomens psychischer Traumatisierung,
ging es doch in vielerlei Hinsicht um die Frage, wie Traumatisierten
angemessen zu begegnen sei: Im Bereich der Klinik wurde eine nicht
stigmatisierende, von Mitgefühl geleitete Wahrnehmung und Behandlung von Traumaopfern durch die Vertreter des psychiatrischen Versorgungssystems gefordert;3 auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wurde
die Schaffung eines kollektiven Bewusstseins für die auf ein Trauma
zurückführbaren psychischen Leiden und deren soziale Ursachen
angestrebt. Mit anderen Worten: Auf dem Spiel stand die Anerkennung der Betroffenen, ihrer Leiden und ihres Status als Opfer durch
eine Gesellschaft, welche die Schicksale der Geschädigten nicht wahrhaben, ihren Leidensgeschichten kein Gehör schenken wollte, ihnen
jegliche Form der Wiedergutmachung verwehrte und damit die Täter
allzu häufig in Schutz nahm.
Die Existenz posttraumatischen Leidens entzog sich somit in mehr
als einer Hinsicht ihrer Bewusstwerdung: Gemäß einer psychotherapeutischen Lehrmeinung widersetzt sich ein traumatisches Erlebnis der aktiven Aneignung durch den Betroffenen und somit seinem
Bewusstsein, auf der anderen Seite wird das Trauma vom kollektiven
Bewusstsein verbannt, weil es in Widerspruch zum Selbstbild einer
sozialen Gemeinschaft gerät: Was nicht sein darf, wird in der Erinnerung ungeschehen gemacht, muss unbewusst bleiben. Doch das
ins traumatische Gedächtnis Verbannte kehrt unablässig wieder – so
die Moral dieser Geschichte –, sucht das Opfer in seinen Ängsten und
Träumen heim oder tritt in den Beschädigungen, die es im sozialen
3 Yehuda und McFarlane 1995.
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Gewebe »posttraumatischer Gesellschaften« hinterlässt, als unauslöschliche Spur zutage. Allein der Versuch, sich zu erinnern, erlaube,
aus dem destruktiven Kreislauf auszubrechen.
Was Judith Herman in ihrem Buch Trauma and Recovery als die »Dialektik« posttraumatischen Leidens bezeichnet,4 nämlich das Paradox,
dass sich Erinnerungen an widerfahrene Gewalt und lebensbedrohliche Situationen der vollständigen Erinnerung widersetzen, gleichzeitig
aber bruchstückhafte, unwillkürliche Reminiszenzen an traumatische
Erlebnisse sich unaufhörlich ins Bewusstsein der Betroffenen drängen,
scheint auch den Verlauf der Geschichte des kollektiven Umgangs mit
Gewalt und deren psychischen und sozialen Folgen zu bestimmen. Die
Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Psychotrauma soll uns dies auf frappierende Weise vor Augen führen. Das
individuelle Trauma-Gedächtnis und die »forgotten history« (Herman)
der wissenschaftlichen und therapeutischen Beschäftigung mit dem
Psychotrauma lassen sich leicht in eine, wie es scheint, theoretisch
produktive Analogie bringen.
Beseelt und durchdrungen von den zahlreichen Analogien, die sich
zwischen dem Vergessen individueller und kollektiver Geschichte herbeiführen lassen, ist auch die Beschäftigung mit den Traumata erschütternder historischer Ereignisse in den Kultur- und Geisteswissenschaften.5 Dem Unverfügbarkeitsdogma gehorchend bleibt es jedoch häufig
bei der verklärenden Analogisierung von kollektiver und individueller
Geschichte. Als nicht intendierte Wirkung dieser in Disziplinen wie
Philosophie, Literatur-, Geschichts- und Filmwissenschaft geführten
Diskurse stellte sich daher die theoretische wie empirische Vernachlässigung der konkreten Verflechtungen individueller und kollektiver
Geschichten heraus, zwischen den Schicksalen Einzelner und Ereignissen von gesellschaftlicher Tragweite.
Seine aporetische Zuspitzung erfuhr das Verhältnis zwischen traumatischem Erinnern und Vergessen, Gegenwärtigem und Vergangenem
schließlich durch die Inanspruchnahme des Freud’schen Traumabegriffs für die Erkenntniskritik. In ihrem Kontext wandelte sich »Trauma«
zu einer feststehenden Chiffre für Ereignisse respektive Erlebnisse, die
vom Subjekt zwar aufgezeichnet werden, sich ihrer Repräsentation
oder Symbolisierung aber zugleich widersetzen. So wurde die Erinnerung an den Holocaust zum Fluchtpunkt der geisteswissenschaftlichen
Traumatheorie der 1990er-Jahre. Einerseits getragen vom Gedanken
4 Herman 1997, S. 47.
5 Zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses und zur Anwendung des Traumabegriffs im Kontext der Erinnerungskulturdebatte vgl. etwa die um Begriffsklärungen
bemühte Arbeit von Aleida Assmann 2006.
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der Singularität der Naziverbrechen, bricht sich in ihr andererseits die
Tendenz Bahn, im Hinblick auf Fragen der Repräsentation und Darstellbarkeit den Traumabegriff inhaltlich auszuweiten und in seiner
Anwendung zu universalisieren.6 Entgegen den humanistischen Zielen
der Traumatherapie wandelte sich das so gedachte »Traumatische«,
die »Urverdrängung«, wie es bei Jean-François Lyotard in Anlehnung
an Freud heißt, zum Nichtdarstellbaren schlechthin, das am Grund
aller repräsentationalen Systeme als »traumatischer Kern« (Žižek) liegt
und folglich einer Bewusstwerdung unzugänglich bleiben muss.7
Kurz und zusammenfassend gesagt: In posttraumatischen Gesellschaften steht der kollektiven wie der individuellen Verdrängung, dem
Nichtwahrhabenwollen von Gewalt und seinen Folgen die unnachgiebige, nur schwer fassbare Präsenz des Traumatischen gegenüber. Die
Dialektik posttraumatischen Leidens macht sich unweigerlich bemerkbar, und weil sie sich zu einem integrativen, verschiedene Wissensbereiche miteinander verbindenden Narrativ entfalten lässt, bildet
sie für gewöhnlich den bequem unbequemen Ausgangspunkt für die
Beschäftigung mit dem Begriff des Traumas und der Geschichte des
Traumakonzepts.
Die Präsenz des Traumas
Die Geschichte von der aktiv verdrängten Wahrheit psychischer
Traumatisierung, vom Sieg über individuelle und kollektive Abwehrmechanismen als der Voraussetzung für Einblicke in die Abgründe der
verwundeten Seele wirft jedoch im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Erforschung und Behandlung der heute
so genannten Traumafolgestörungen unweigerlich Fragen auf. Aus
mindestens zwei miteinander zusammenhängenden Gründen muss
sie als problematisch erscheinen: Angesichts der fast beispiellosen
Konjunktur des Traumakonzepts in der zeitgenössischen Psychiatrie
und klinischen Psychologie verliert einerseits das von ihr heraufbeschworene Bedrohungsszenario, in dem das akkumulierte Wissen
über die Mechanismen, Folgen und Behandlungsformen psychischer
6 Eine Fortsetzung findet diese Tendenz in den vor allem in Nordamerika einflussreichen Arbeiten der Literaturtheoretikerin Cathy Caruth; Caruth 1995 sowie 1996.
Eine detaillierte, kritische Auseinandersetzung mit ihren Beiträgen ist nachzulesen
in Trauma: A Genealogy von Ruth Leys; Leys 2000, S. 266–297. Zur Geschichte der
kulturwissenschaftlichen Traumatheorie und für eine pointierte kritische Stellungnahme hierzu vgl. Kansteiner 2004 und Weilnböck 2005 sowie 2007.
7 Vgl. etwa Lyotard 2005, S. 22f., S. 31–36, sowie Žižek 1998.
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Traumatisierung prekär bleiben muss, an Plausibilität; andererseits
entspricht das eingeschliffene Narrativ der »forgotten history« nicht
mehr dem Selbstverständnis der psychiatrischen Spezialdisziplin »Psychotraumatologie«, wie sie sich im Laufe der 1990er-Jahre etabliert
hat.8 Das traumatisierte Subjekt entzieht sich heute nicht länger dem
medizinischen und psychotherapeutischen Blick. Die Entwicklung
der letzten Jahrzehnte rückt vielmehr die Frage nach den Quellen der
unüberhörbar gewordenen Präsenz des Psychotraumas in den Mittelpunkt. Das alte, psychoanalytisch inspirierte Narrativ, angetrieben
vom Konflikt zwischen psychischer Abwehr und der Wiederkehr des
Verdrängten, versetzt nicht in die Lage, die Allgegenwart des Traumas:
die Proliferation potenziell traumatischer Ereignisse, traumatisierter
Subjekte und Trauma-Narrative, den ungeheuren Zuwachs an wissenschaftlichen Studien, Forschungsergebnissen und spezialisierten Therapieverfahren überhaupt in den Blick zu bekommen.
Nimmt man den sprunghaften Anstieg der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen, die das Störungsbild der posttraumatischen
Belastungsstörung zum Gegenstand haben, nach 1980 als Indikator,
so stellt sich die Psychotraumatologie als florierendes Forschungsfeld
dar.9 Auch wenn diese Entwicklung von schwelenden Kontroversen
und kritischen Zwischenrufen begleitet wird – welche junge Disziplin
wird nicht in Grundsatzdebatten immer wieder in Frage gestellt? –, so
erweckt sie von außen betrachtet immerhin den Anschein, als handle
es sich um den glücklichen Ausgang einer einst bewegten Geschichte
und nicht um deren turbulente Fortsetzung.
Von der Herstellung eines Stigmas …
Wohl am greifbarsten wird der durchschlagende Erfolg des Traumakonzepts angesichts des Wandels der vorherrschenden Einstellung
gegenüber traumatisierten Personen. In der Tat begegnete man den
8 Geprägt wurde die Bezeichnung Psychotraumatologie durch die Arbeitsgruppe
um Peter Fischer in Deutschland und, ungefähr zeitgleich, von einigen US-amerikanischen Klinikerinnen und Klinikern, die ihr Tätigkeitsgebiet von der somatischen
Unfallmedizin, der Traumatologie, abzugrenzen versuchten; vgl. Seidler 2009, S. 4.
9 Eine Abfrage der Literaturdatenbank Web of Science ergibt bspw. folgendes Bild:
Die Anzahl der zu den Stichwörtern »Trauma« und »PTSD« veröffentlichten Arbeiten, die nach 1980 publiziert wurden (n: 12.412) hat gegenüber der Anzahl der zwischen 1889 und 1980 erschienenen Titel (n: 34) um den Faktor 365 zugenommen.
Die Anzahl der Arbeiten mit den Schlagwörtern »psychosis« oder »schizophrenia«
hat für die gleichen Zeiträume lediglich um den Faktor 7 zugenommen (1889 bis
1980: 12.963; 1980 bis 2012: 112.679).
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